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202
Essayistin aus München – Woran schreibt eigentlich Ulrike Draesner?
Wie sehen Schuhe für 14-Jährige im Winter 1945 in Schlesien aus? Was war der Boxeraufstand, welche Sprache sprechen Affen und warum, gibt es den freien Willen, und wenn ja, zu welchem Zweck, beschreibe den Breslauer Bahnhof in der Nacht vom 20. auf den 21. Januar 1945, wieviele Tollkirschen muss man essen, um daran zu sterben, ich arbeite an acht Stimmen, die einen Lebensweg erzählen, wie rutscht Erinnerung im Kopf, was bedeutet Verwurzelung, was „Heimat“, Flucht und Vertreibung, 1944/45 in Deutschland, seit 1939 in Polen, wie brennt Phosphor, was sind Luftwurzeln, auch Schimpansen bringen einander um, von zwei Seiten erzählt, einziehen in die noch warmen Häuser der Fremden, was heißt Schnakala? „Gut, dass Hitler nicht Kräuter heißt, sonst müssten wir Heilkräuter rufen“, Panzerschokolade, wie wirken Zwangsmigration und Gewalt über Generationen hinweg, der weltbeste Dschungel, „Deutschland hat den Krieg gewonnen“, Parentifizierung und postgenerationelle Traumatisierung, „alles ist jetzt“, kaum liege ich im Bett träume ich davon, neuer Roman, im Deutschen heißt der Straßenrand „Bankett“, als esse man dort, der die das Koppel, er hatte einen Klumpfuß und wollte doch „liebendig“ sein, bewunderte die SS, wurde freigekauft, was hieß es, Kind in der Nazizeit zu sein? Sie sind die VERZOGENEN: sein Inneres war weiß, bis auf ein paar nackte Flecken Erde, weiß wie beschneit, sanft gewellt, aber auch versteckt, ein Puppenland, nicht ausgebildet, nicht richtig gediehen. Dabei hätte er daraus wachsen sollen, ein Gebirge sich erheben, in Zacken und sanften Flanken, Schatten und Licht, ein ganzer innerer, in seine Höhen und Tiefen ausgebildeter Mensch aus Nordwänden und lieblichen Südhängen, voller Erinnerungen, Wünsche, Träume, Verbindungen, meine Hauptfigur, 83 ¾, renommierter Affenforscher, wach, agil, genial, Betrüger, wie schwer ist ein neunjähriger Bonobo, wie tief sind die Dellen, die er hinterlässt, wenn er auf ein Auto springt Streeeeesla, I am about to do oder was es heißt, eine Absicht zu haben, der abgebissene Finger des Gendarms, sie versteckte ihn im Inneren des Körpers, in der Erinnerung, vier Generationen hindurch, wie erinnere ich mich an meine Großeltern, wie befrage ich meinen Vater zum Thema, im Sommer fahre ich nach Polen, um zu recherchieren, Großmutter war Fluchtgewinnlerin, Chili con Carne, Empfänger unbekannt verzogen, für den Aufsatz „Stukas über Moskau“ bekam er Bestnote, der Holzvergaser verreckte mitten im Wald, doch dann saßen sie auf der Flucht immer wieder herum.
Ulrike Draesner lebt in Berlin. Als Lyrikerin, Erzählerin und Essayistin ist sie vielfach preisgekrönt. Zuletzt erschien „Richtig liegen. Geschichten in Paaren“
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kultur
2012-04-09T09:12:33+0200
2012-04-09T09:12:33+0200
https://www.cicero.de//kultur/woran-schreibt-eigentlich-ulrike-draesner/49247
Euro-Krise – Der nächste Juncker sollte ein Este sein
Vor kurzem traf sich Angela Merkel mit elf Regierungschefs der Ostsee-Anrainer-Staaten in ihrem Wahlkreis in Stralsund. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso war auch dabei. Im öffentlichen Bewusstsein geblieben ist von diesem Treffen vor allem ein stimmungsvolles Foto der Herrschaften beim Umtrunk in einer urigen Hafenkneipe. Die Bundeskanzlerin hat aber noch mehr als dieses beschauliche Foto mit nach Hause genommen: die erfreuliche Erkenntnis, dass es unter den jüngeren Mitgliedern der Europäischen Union, speziell der Euro-Gruppe, nicht nur Griechen gibt. Sondern auch richtige Musterschüler. Das Baltikum hat sich nach dem Untergang der Sowjetunion früh und ambitioniert Richtung Europa orientiert. Und unter den drei baltischen Ländern Litauen, Lettland und Estland hat sich das letztgenannte besonders zielstrebig und reformfreudig gezeigt. Der Lohn: Seit dem 1. Januar 2011 verfügt Estland über den Euro als Währung. Warum dieser kleine Exkurs in baltischer Länderkunde? Weil die Euro-Gruppe einen neuen Chef braucht. Weil Mr. Euro, Jean-Claude Juncker, beschlossen hat, sich das nach acht Jahren im Amt und fast vier Jahren Euro-Existenzkrise nicht mehr anzutun. Und weil sich immer mehr abzeichnet, dass der deutsche Finanzminister, Wolfgang Schäuble, Junckers Nachfolger nicht werden kann, jedenfalls nicht ohne seinen deutschen Ministerposten aufzugeben, und das wird Schäuble nicht tun. Über diese Schlüssel-Personalie werden die Staats- und Regierungschefs bei ihrem nächsten Gipfel kommende Woche reden müssen. Juncker hat gesagt, er wolle Mitte Juli aufhören. Ein Zurück hinter seinen Beschluss gibt es nicht. Die Zeit drängt also. Woraus bezog oder bezieht Juncker seine besondere Stärke? Aus dem Umstand, dass er ein leidenschaftlicher Europäer ist, sachkundig und zugleich aus einem sehr kleinen Land kommt. Die letzte Eigenschaft bewahrt ihn persönlich vor dem Vorwurf, dass in Europa die Großen die Kleinen am Nasenring durch die Manege ziehen. Juncker genießt das Vertrauen und die Wertschätzung der Großen wie Frankreich und Deutschland, als Luxemburger aber eben auch das Vertrauen der Kleinen. Das ist wichtig beim Chef der Euro-Gruppe. Der Widerstand gegen Schäuble geht darauf zurück, dass dann Deutschland noch mehr als bisher den Ton angibt. Der nächste Luxemburger sollte deshalb ein Este sein. Es gibt diesen Juncker von Tallinn auch. Er heißt Jürgen Ligi und ist seit Juni 2008 Finanzminister Estlands, 52 Jahre alt, Triathlet. In seinem Heimatland gilt er bereits als Mr Euro. Ein Mann von einiger  politischer Willenskraft: Als die Krise im Jahre 2009 Estland Wirtschaft um 14 Prozent schrumpfen ließ, legte Ligi ein Sparprogramm von acht Prozent des Bruttoinlandprodukts auf – und bescherte Estland so eine Rückkehr auf den Wachstumskurs. Auf die Frage, wie er es in der Krise dennoch geschafft habe die Maastricht-Kriterien für den Euro zu erfüllen, hat Ligi einmal geantwortet: „Man nehme ein sehr einfaches Rezept: Wenn du weniger Einkommen hast, musst du deine Ausgaben senken.“ Einen Mann dieses Geistes wünschte sich die schwäbische Hausfrau Merkel mit einiger Sicherheit derzeit auch in Griechenland. Ein Mann dieses Geistes macht sich aber in jedem Falle auch gut als Nachfolger von Jean-Claude Juncker. Ligi als Euro-Gruppenchef wäre Vorbild und Fingerzeig zugleich: Ein Fingerzeig an Griechen und andere Wackelkandidaten, dass man es von weit hinten bis an die Spitze des Euro schaffen kann.
Der nächste Luxemburger könnte ein Este sein: Warum Jürgen Ligi ein guter Kandidat für die Nachfolge von Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker wäre
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wirtschaft
2012-06-20T10:24:58+0200
2012-06-20T10:24:58+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/euro-krise-jean-claude-junckers-nachfolge-este-juergen-ligi/49781
Bundeshaushalt 2025 - Neue Ampel-Einigung
Die Spitzen der Ampel-Koalition haben erneut einen Kompromiss zum Bundeshaushalt für das kommende Jahr gefunden. Das teilte ein Regierungssprecher mit. „Die Vorgaben der Schuldenbremse des Grundgesetzes werden weiterhin eingehalten, eine Umgehung findet nicht statt.“ Die Einigung sieht im Kern Umschichtungen von Geldern für die bundeseigene Deutsche Bahn vor. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Die Bundesregierung wird heute, wie im Juli verabredet, nach Abschluss aller Prüfungen den Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2025 an den Deutschen Bundestag und den Bundesrat offiziell zuleiten. Dabei haben wir im Vergleich zum Juli-Beschluss Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur mit zusätzlichem Kapital und Darlehen für die Deutsche Bahn beschlossen und weitere allgemeine Einsparungen vorgenommen.“ Der Haushalts-Gesetzgeber könne nun pünktlich nach der parlamentarischen Sommerpause mit den Beratungen über den Haushalt des nächsten Jahres beginnen. Nach Angaben der Bundesregierung wird durch den Kompromiss die sogenannte globale Minderausgabe um 4,5 Milliarden Euro auf dann noch 12 Milliarden Euro verringert. Das ist faktisch eine Lücke im Haushalt. Die Regierung geht davon aus, dass sich diese durch die wirtschaftliche Entwicklung noch verringern wird. Dem Parlament steht nun aber eine vergleichsweise große Aufgabe bevor in den Beratungen zum Haushalt, weil die globale Mehrausgabe deutlich größer ist als üblich. Anfang Juli hatten Bundeskanzler Scholz, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) bereits einmal eine Einigung über den Etat für 2025 verkündet. Wochenlang hatten sie zuvor darum gerungen, eine Lücke von mindestens 30 Milliarden Euro zu stopfen. Dann sollte das ohne allzu harte Sparmaßnahmen gelungen sein. Die Bundesregierung hatte in ihrem im Juli vorgestellten Entwurf mit einer sogenannten Minderausgabe von 17 Milliarden Euro geplant. Dabei geht die Bundesregierung davon aus, dass die Ministerien ohnehin nicht das gesamte Geld in dem Jahr ausgeben werden –  zum Beispiel, weil sich Projekte verzögern. Das Vorgehen ist durchaus üblich, die Summe aber sehr hoch. Deswegen sollte diese Lücke geschlossen werden, und zwar um eigentlich rund acht Milliarden Euro. Dazu gab es Prüfaufträge, ob die Bahn und die Autobahngesellschaft kreditfinanzierte Darlehen statt direkte Zuschüsse aus dem Haushalt bekommen sollen. Daneben ging es um Gelder bei der staatlichen Förderbank KfW. Lindner hatte bereits nach der Einigung deutlich gemacht, es gebe rechtliche und wirtschaftliche Bedenken, ob alle für eine Lösung ins Auge gefassten Vorhaben auch umsetzbar seien Nachdem zwei Gutachten die Zweifel in Teilen bestätigt hatten, verwarfen die Koalitionäre die Idee, 4,9 Milliarden Euro der KfW statt für die Gaspreisbremse im Haushalt zu anderen Zwecken einzusetzen. Umstritten war auch, ob Bahn und Autobahngesellschaft unterstützt werden können, ohne dass dies auf die Schuldenbremse angerechnet werden muss. Hier waren Lindner und Scholz unterschiedlicher Meinung – deswegen kam es nun zu Nachverhandlungen. Konkret ist laut Regierung geplant, dass die Infrastruktursparte der Deutschen Bahn AG zusätzliches Eigenkapital im Umfang von 4,5 Milliarden Euro bekommt – das soll die im bisherigen Entwurf des Bundeshaushalts 2025 vorgesehenen Zuschüsse ersetzen. Außerdem soll die Bahn ein Darlehen des Bundes in Höhe von drei Milliarden Euro bekommen. Die Schuldenbremse bleibe davon unberührt. Bisher ist 2025 eine Eigenkapitalerhöhung von rund 5,9 Milliarden Euro vorgesehen, damit soll die Bahn Investitionen zur Sanierung des maroden Schienennetzes vornehmen. dpa
Cicero-Redaktion
Es gibt weißen Rauch aus dem Kanzleramt. Haushaltslücken konnten nach Verhandlungen der Koalitionäre geschlossen werden – aber das Ziel wurde noch nicht erreicht. Nun ist der Bundestag am Zug.
[ "Haushalt", "Ampelkoalition" ]
innenpolitik
2024-08-16T16:20:43+0200
2024-08-16T16:20:43+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/bundeshaushalt-2025-neue-ampel-einigung
Joachim Gauck – Auf schmalem Grat schnurstracks Richtung Zukunft
Es ist vollbracht. Joachim Gauck heißt der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Und auch wenn seine Wahl in der Bundesversammlung am Sonntag in Berlin wenig spektakulär und wenig spannend verlief, ist an der Wahl Gaucks eigentlich nichts normal. Dass der ehemalige DDR-Bürger, Ex-Pfarrer und Ex-Leiter der Stasiunterlagenbehörde in das höchste deutsche Staatsamt gewählt wurde, ist vielmehr eine politische Sensation, eine Ohrfeige für die Parteien und eine Chance für die Gesellschaft. So groß die Vorschusslorbeeren sind, die seine Wahl begleiten, so sehr werden sich die Deutschen an ihren neuen Bundespräsidenten gewöhnen müssen. Vieles an Joachim Gauck ist anders als bei seinen zehn Vorgängern. Er ist ein Außenseiter, der sich in den letzten Jahren demonstrativ von der politischen Klasse ferngehalten hat. Er ist ein redegewandter, aber gelegentlich grantelnder Intellektueller. Gauck ist selbstbewusst, eigenwillig und unbequem, aber auch ziemlich selbstverliebt. Während die meisten Politiker nur noch in abgeschliffenen Allgemeinplätzen reden, um möglichst niemandem wehzutun, redet Gauck in geschliffenen Worten gerne Klartext. [gallery:Joachim Gauck, der Bürgerpräsident] Auf den jüngsten Bundespräsidenten folgt nun also der mit 72 Jahren älteste. Und nachdem die Wahl seines Vorgängers Christian Wulff so offensichtlich von parteitaktischem Kalkül bestimmt wurde, erfrischt Joachim Gauck  das Amt nach 63 Jahren als erster Präsident, der keiner Partei angehört. Damit nicht genug. Noch nie wurde ein Bundespräsident bei seiner ersten Wahl im überparteilichen Konsens von so vielen Wahlmännern und Wahlfrauen gewählt. Noch nie wurden ein Bundespräsident und seine politischen Positionen vor seiner Wahl zudem von Journalisten und vor allem von Internetnutzern so intensiv durchleuchtet. Nicht nur auf begeisterte Zustimmung ist er dabei gestoßen. Vielmehr ist ihm zugleich schroffe Anlehnung entgegengeschlagen. Etwa wegen seines Lobes für den Mut von Thilo Sarrazin oder seines Spottes über die Occupy-Bewegung. Klare Worte provozieren auch Widerspruch. Doch die Hoffnungen, die die Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten begleiten, überwiegen. 80 Prozent der Deutschen halten diese Umfragen zufolge für eine gute und glaubwürdige Wahl. Die Erwartungen an ihn sind hoch und vor allem widersprüchlich. So soll Gauck nicht mehr nur über die Vergangenheit reden, sondern über Zukunftsthemen, nicht nur über Freiheit, sondern auch über Gerechtigkeit. Er soll den Migranten eine Stimme geben, das Land versöhnen, aber zugleich unbequeme Wahrheiten aussprechen. Vor allem jedoch erwarten viele seiner Anhänger, dass er als erster Bürger im Staate der abgehobenen Politikerkaste von Zeit zu Zeit die Leviten liest. Wohingegen die Politiker, die ihm ins Amt verholfen haben, hoffen, Gauck könne ihnen den anstrengenden politischen Alltag durch bedeutungsschwere Reden erleichtert. Bei den Wählern soll er zugleich um Verständnis für die Herausforderungen der Politik im Zeitalter der Globalisierung werben, etwa bei der Energiewende oder der Eurorettung. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Parteien mit Joachim Gauck ein falsches Spiel spielen und welche Chancen sich den neuen Bundespräsidenten bieten Kann ein Bundespräsident diesem Druck überhaupt standhalten? Wie groß ist die Gefahr, dass die Begeisterung schon bald in Enttäuschung umschlägt? Wie kann Gauck den widerstrebenden Erwartungen gerecht werden? Wie kann er dem Amt die Würde wiedergeben, die sein Vorgänger beschädigt hat? Kann er dem Amt des Bundespräsidenten zu neuer Ausstrahlung verleihen? Ohne Zweifel war Gauck der Kandidat der Bürger, nicht der Parteien. Er wird ein Bürgerpräsident sein und kein Staatsoberhaupt von Politikers Gnaden. Durchsetzen konnte er sich nur deshalb, weil sich der Parteienstaat nach den Rücktrittem seiner beiden Vorgänger Horst Köhler und Christian Wulff insgesamt in einer tiefen Legitimationskrise befindet. [gallery:Joachim Gauck, der Bürgerpräsident] Die Parteien haben mit Gauck in den letzten Wochen zugleich ein falsches Spiel gespielt. Keine der Parteien, die diesem ins Amt hob, wollte ihn eigentlich. Angela Merkel hat dies unmissverständlich zu Protokoll gegeben. SPD und Grüne reden intern ganz anders über ihren Kandidaten als öffentlich. Sie haben Gauck nominiert, um die schwarz-gelbe Regierung zu ärgern, aber nie und nimmer damit gerechnet, dass sie sich mit diesem Personalvorschlag durchsetzen könnten. Der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler hat die Präsidentenkür nur für seine persönliche Profilierung und für Machtspiele in der schwarz-gelben Koalition benutzt. Erst als Rösler merkte, wie breit die Unterstützung für Gauck in der Öffentlichkeit war, sprang der Oberliberalen auf den Kandidatenzug auf. Zuvor hatten ihn die Freiheitsreden des Ostdeutschen wenig interessiert. Am Ende hatten die Parteien keine andere Wahl mehr. Nach der Amtsflucht von Horst Köhler und dem Wulff-Desaster hätten Union und FDP, SPD und Grüne nicht noch einmal einen Kandidaten mit parteipolitischem Kalkül präsentieren können, ohne eine nachhaltige politische Vertrauenskrise heraufzubeschwören und ohne das Amt des Bundespräsidenten in seiner Substanz zu beschädigen. Der überparteiliche Konsens bei seiner Wahl war kein Ausdruck von Stärke, sondern von Schwäche der Parteiendemokratie. Die Herausforderungen und Erwartungen an Gauck sind groß. Der Grat, auf dem er wandelt, ist schmal. Doch das ist zugleich seine Chance. Wenn es Joachim Gauck gelingt, dem Amt des Bürgerpräsidenten wieder eine Bedeutung zu geben, wenn er den Bürgern in der Demokratie eine neue Stimme gibt, ohne ihnen populistisch nach dem Mund zu reden, dann kann Joachim Gauck nicht nur großer Präsident werden, sondern dem Amt zu neue Ausstrahlung verhelfen und es so auf Dauer dem machttaktischen Zugriff der Parteien entziehen. Themen, über die es sich zu reden lohnt, gibt es genug. Nutzt er diese Chance, dann war die Bundespräsidentenwahl am 18. März 2012 eine historische Zäsur. Nutzt er sie nicht, dann werden sich die Deutschen schon bald fragen, ob die Institution Bundespräsident nicht insgesamt überflüssig geworden ist.
Nichts an der Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten ist normal und der Erwartungsdruck, der auf ihm lastet, ist gewaltig. Wenn Gauck diesem Stand hält, kann er ein großer Präsident werden, der die Schmach des Amtes vielleicht vergessen lässt. Ein Kommentar
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innenpolitik
2012-03-18T08:47:23+0100
2012-03-18T08:47:23+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/auf-schmalem-grat-schnurstracks-richtung-zukunft/48677
Paradise Papers - Ein Steuergebirge ist auch keine Lösung
Ist Gerhard Schröder, der sich angeblich so skrupellos vor Putins Propaganda-Karren spannen lässt, auch noch ein übler Steuerhinterzieher? Der Name des ehemaligen SPD-Kanzlers ist jedenfalls in den 13,4 Millionen Dokumenten zu finden, die das Journalisten-Netzwerk ICIJ ausgewertet hat und nun mit viel medialer Wucht in die Welt schleudert. In seiner Funktion als Aufsichtsrat des russisch-britischen Energieunternehmens TNK-BP soll der „Genosse der Bosse“ 2009 die Kanzlei Appleby um Rat gebeten haben. Appleby gilt als Marktführer bei windigen Offshore-Geschäften und residiert auf den Bermudas. Das britische Überseegebiet zählt zu den berüchtigten Steueroasen mit vielen Briefkastenfirmen. Neben US-Handelsminister Wilbur Ross soll auch Queen Elizabeth II in dubiose Finanzgeschäfte verstrickt sein, ebenso ein Vertrauter des kanadischen Premiers Justin Trudeau. 120 Politiker aus 50 Ländern tauchen namentlich auf diesen Listen auf. Zusammen mit vielen „prominenten Privatpersonen“ sowie zahlreichen Unternehmen. Von Apple über Facebook bis zu Sixt und Siemens reichen die großen Namen der Firmenwelt, die von Süddeutscher Zeitung und ARD genannt werden, als sei man einen Welt umspannenden Netzwerk krimineller Steuertrickser auf die Spur gekommen. Prompt apportieren Finanz- und Justizministerium in Berlin, dass der Kampf gegen Steuerflucht und Schlupflöcher nun noch entschiedener geführt werden muss. Und wie vor einem Jahr, als dasselbe Datenleck die „Panama Papers“ publik gemacht hat, rufen Steuergewerkschafter auch jetzt wieder nach mehr Personal und schärferen Prüfmöglichkeiten. Dabei offenbart die regelmäßige Empörung über die bekannten 19 „Steueroasen“ doch gerade, wie beschränkt die nationalen Möglichkeiten sind. Allen internationalen Absprachen zum Trotz sind diese bis heute nicht ausgetrocknet. Über die Bermudas oder die Jungferninseln mit ihren 200 000 Offshore-Firmen halten die Briten ihre schützende Hand. In den USA gilt Delaware, unweit vom Uno-Sitz New York gelegen, als Bundesstaat mit auffallend vielen Briefkastenfirmen. Auf gerade mal eine Million Einwohner kamen dort 2016 fast 300 000 Unternehmenssitze. Für die Hilfsorganisation Oxfam wiederum gehören Niederlande, Schweiz und Singapur zu den „schlimmsten Steueroasen der Welt“, die den Armen allesamt jährlich rund 100 Milliarden Dollar vorenthalten. Andere Kalkulationen kommen gar auf den fünffachen Betrag. Doch wer so rechnet, verkennt, dass man nicht jedem, der in einer dieser Listen auftaucht, „automatisch rechtliches oder moralisches Fehlverhalten unterstellen kann“, wie selbst die Süddeutsche Zeitung im Kleingedruckten ihre marktschreierisch verkündete Enthüllung relativiert. Auch für Briefkastenfirmen gebe es viele legale Zwecke, schreibt die FAZ. In manchen Branchen gehörten sie zum Alltag, etwa bei international agierenden Unternehmen. Oder sie „helfen Prominenten beim anonymen Kauf von Grundstücken und schützen sogar bisweilen vor Verbrechen“. Und nicht jedem, der große Summen in Fonds investiert, wie etwa die britische Königin, dürften die verschlungenen Wege der Steueroptimierung bewusst sein. Doch diese sind eben Teil der Renditen, die über der europäischen Nullmarke liegen. Die Neue Zürcher Zeitung warnt daher vor einer generellen Kriminalisierung: Offshore-Geschäfte seien nicht Ursache, sondern Ausdruck von Missständen wie Rechtsunsicherheit und Bürokratie in vielen Ländern. Die Debatte verkennt vor allem, dass sich auch Deutschland im internationalen Steuerwettbewerb befindet. Entgegen allen Bekenntnissen, Steuerschlupflöcher zu stopfen und Abgabensätze zu harmonisieren, kämpft letztlich doch jedes Land darum, möglichst attraktiv für Unternehmen zu sein. London droht der EU mit Steuerdumping, sollte Brüssel die Brexit-Folgen nicht mit großzügigen Handelsabkommen abmildern. Für US-Unternehmen und Superreiche setzt Präsident Donald Trump in den USA gerade deutlich geringere Steuersätze durch. Und selbst Frankreich reduziert unter Präsident Emmanuel Marcon, der vielen Deutschen als Retter Europas gilt, seine hohen Belastungen für Unternehmen und kippt die Vermögenssteuer. Irland und die Staaten Osteuropas lehnen wiederum Mindeststeuersätze, wie von Berlin gefordert, vehement ab. So gesehen erfüllen tatsächliche und vermeintliche Steueroasen sogar einen guten Zweck: Sie fördern den Wettbewerb und bremsen die Gier der Finanzminister. In Deutschland ist diese Einsicht noch nicht angekommen. Hier droht das Gegenteil einer Steueroase, nämlich ein Steuergebirge. Rechnet man Körperschaftssteuer, Gewerbesteuer, Abgeltungssteuer und Solidarzuschlag zusammen, unterliegen Unternehmensgewinne schon jetzt bei rund 50 Prozent, was als Grenze zur Enteignung gilt, vor der doch eigentlich Grundgesetz-Artikel 14.1 schützen soll. Gutverdienende Singles müssen insgesamt 62,3 Prozent ihres Einkommens an Staat und Sozialkassen abtreten, rechnet der Bund der Steuerzahler vor. Bei Familien (Ehepaar mit zwei Kindern), die alle Parteien angeblich fördern wollen, sind in der Spitze 48,7 Prozent abzuführen. Damit nimmt Deutschland im internationalen Schröpf-Ranking hinter Belgien den unrühmlichen zweiten Platz ein. Eine ähnlich traurige Spitzenposition haben wir mittlerweile bei den Stromkosten erreicht. Doch darüber verlieren die möglichen Jamaika-Koalitionäre kaum ein Wort. Lieber profiliert man sich mit neuen Ausgabenprogrammen. Für Bildung, Digitales, Soziales und natürlich für den Kampf gegen den Klimawandel, den wir uns mittlerweile rund 30 Milliarden Euro kosten lassen. Mindestens ebenso viel kosten die mittlerweile 1,6 Millionen Flüchtlinge den deutschen Steuerzahler im Jahr. Den politischen Jamaikanern kommt daher die Debatte über reiche Drückeberger und halblegale Steueroasen nicht ungelegen. Lenkt sie doch davon ab, dass Bund, Länder und Kommunen mit Rekordeinnahmen von bald 750 Milliarden Euro allein in diesem Jahr reichlich Spielraum für Steuersenkungen hätten. So aber kann man das Sparen zum Tabu erklären und behaupten: Nicht schlechtes Wirtschaften ist Schuld, wenn die Abgabenlast leider nicht wirklich gesenkt werden kann, sondern die gierigen Steuervermeider, die dreist ihren Obolus verweigern. Dabei sitzen die wenigsten von ihnen in Deutschland. Auffallend viele hingegen in Kalifornien. Vor allem die Tech-Unternehmen Apple, Facebook, Amazon und Google sind wahre Meister in der Kunst, der Progression ein Schnippchen zu schlagen: Die wertvollsten und reichsten Unternehmen der Welt zahlen am wenigsten Steuern. Und wenn, dann schon gar nicht in Deutschland oder Europa. Gleichwohl werden die amerikanischen Digitalkonzerne auch bei uns hoch angesehen. Trotz Höchstpreisen ist Apple Kult und kann für sein neues iPhone X weit über Tausend Euro verlangen. Der Name Schröder wird in diesem Zusammenhang übrigens ebenso rasch in der Versenkung verschwinden wie so viele Namen, die vor einem Jahr in den „Panama Papers“ vorschnell der Schurkerei bezichtigt wurden. Aber Hauptsache, die Anklagen sind prominent unterfüttert.
Wolfgang Bok
Die Empörung über die Enthüllungen der Paradise Papers ist groß. Dabei kämpft letztlich jedes Land darum, möglichst attraktiv für Unternehmen zu sein. In Deutschland hingegen steigen die Belastungen stetig. Das wird gegen dreiste Steuervermeider kaum helfen
[ "Paradise Papers", "Steuern", "Steuersenkung", "Steueroasen", "Gerhard Schröder" ]
wirtschaft
2017-11-07T10:58:44+0100
2017-11-07T10:58:44+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/paradise-papers-ein-steuergebirge-ist-auch-keine-loesung
SPD - Der neue Generalsekretär muss Erklärer und Ökonom sein
In der SPD läuft Politik im Moment so: Der Parteivorstand oder die Bundesregierung verabschieden etwas, und die Mehrheit der Funktionsträger preist dann öffentlich die ach so tollen Ergebnisse, Papiere und Errungenschaften. SPD-Funktionsträger wirken heute oft wie Pressesprecher ihrer Partei, die selbst keine Meinung zu haben scheinen, sondern offenbar nur ein Verlautbarungsorgan von Ergebnissen sind, die irgendwo von Referenten, der Fraktion und der Regierung zusammengeschustert wurden. Aus dem Vorstand und der Fraktion dringt selten etwas nach außen, und es sind wenige Sozialdemokraten, die konkrete eigene Positionen beziehen – sei es auf Twitter, Facebook oder in den Medien selbst. Weltbildpolitik und Haltung werden vielfach in den Sozialen Medien rausgeblasen. Aber anhand konkreter Sachfragen findet öffentlich kaum eigene Positionierung statt. Was Sozialdemokraten in Ausschüssen und im Plenum des Bundestages so treiben, kriegt kaum jemand mehr mit. Das kann man den Medien vorwerfen oder man kann es lassen. Das Wirken von Arbeitsparlamentariern strahlt jedenfalls kaum noch in die Öffentlichkeit aus. Korrespondierend dazu meinen Journalisten, bei Twitter nach politischen Talenten suchen zu müssen. Jeder Journalist sollte sich aber viel eher fragen, wie oft er in Ausschüssen ist oder Plenardebatten anschaut. So bleiben in der Regel die Politiker und Jusos auf dem Rader der SPD-Beobachter, die als Kommunikationslinke eher an ihrer Social-Media-Präsenz statt an ihrer inhaltlichen Qualifikation arbeiten. Dabei bräuchte man gute Arbeitsparlamentarier, die auch kommunikative Fähigkeiten haben, um deutlich machen zu können, was sie tun und wofür sie stehen. Das gelingt reichlich wenigen. Übrig bleibt der Eindruck einer Kommunikationsindustrie. Dabei lebt die Demokratie insbesondere von Demokraten, die ihre eigene Meinung und politische Urteilskraft haben. Politik ist keine Maschinerie. Aber sie wirkt heute oft wie eine aalglatte Kommunikationsindustrie. Viele Sozialdemokraten haben sich da nahtlos eingefügt. Aus Angst vor innerparteilichen Sanktionen, vor öffentlichen Shitstorms und Kontroversen, sehen heute viele von politischem Eigensinn ab und werden so in letzter Wendung zu Pressesprechern einer SPD-Inhalte-Fabrik. Man ist selbst nicht mehr der Facharbeiter, der Inhalt produziert, sondern eben oft nur noch der „Kommunikationsmanager“ des Produzierten. Eigene Thesen? Selten. Eigene Ideen? Selten. Eigene Gastbeiträge? Selten. Auf der konkreten Politikebene gibt es nur wenige Abgeordnete und Funktionsträger, von denen man weiß, dass sie dort eine eigene Meinung und Agenda haben. Aber es ist nicht nur die sichtbare realpolitische Arbeit an konkreten Policy-Fragen, an der es in der SPD mangelt, sondern es fehlt auch der Elan zu einer sozialdemokratischen Metapolitik und „großen Gesellschaftspolitik“. Sigmar Gabriel war der letzte, der selbst aktiv danach suchte. Andrea Nahles war eine Strippenzieherin und eher technokratisch, was sie mit Olaf Scholz gemeinsam hat. Olaf Scholz will gern gut regieren, der oberste Manager der Nation sein, als SPD-CEO Zuspruch bekommen. Gewiss, auch Scholz hat ein Bild für seine sozialdemokratische Metapolitik, nämlich „Verantwortung“. Wenn das aber mehr sein soll als verkapptes Preußentum in neuartigen sozialdemokratisch-technokratischen Gewand, dann müsste Scholz eigentlich monatlich mit Intellektuellen diskutieren und die Politik-Ressorts der deutschen Medienlandschaft regelmäßig mit klugen Aufsätzen bombardieren und selbst den feuilletonistischen Ehrgeiz ausstrahlen, für seine sozialdemokratische Idee eine eigene Deutungshoheit zu gewinnen und überhaupt eine Linie zu zeichnen. Doch genau das tut er nicht. Einzig sein Staatssekretär Wolfgang Schmidt übernimmt diese Aufgabe für ihn. Olaf Scholz hat Sigmar Gabriel wohl immer heimlich vorgeworfen, nur ein guter Leitartikler zu sein und bei der Führung der Partei zu versagen. Das wolle er nun anders machen und lieber Ergebnisse liefern und durch Output überzeugen. Sigmar Gabriel lag mit seinem Leitartikel-Fokus aber eigentlich alles andere als falsch. Ihm war klar, dass der oberste Sozialdemokrat im Lande selbst ein umtriebiger Denker und Linienmaler sein muss. Zu führen bedeutet auch, Orientierung zu geben. Führung heißt immer auch, den Weg zu weisen. Der Kapitän hält nicht nur das Steuer, er benutzt auch seinen Kompass zur Fahrt. Der Kompass ist es, den man der Schiffsmannschaft zeigen muss. Sie will geführt werden. Sigmar Gabriel hatte das begriffen, war immer wieder in die mediale Manege gestiegen und musste sich dort zuweilen auch den diskursiven Gegenwind hart ins Gesicht blasen lassen – nicht zuletzt von den eigenen Leuten. Sigmar Gabriel ist ein Erklärer, ein Zweifler, ein Denker. Er kann mit Jürgen Habermas diskutieren und mit der Bäckereiverkäuferin. Wenn so jemand aber nicht zur Verfügung steht, braucht man zumindest einen auf diesem Gebiet kompetenten Generalsekretär. Der SPD-Generalsekretär muss Politik erklären, er muss selbst denken können, er muss über strategische Kompetenz verfügen und die Parteizentrale, das Willy-Brandt-Haus, führen. In Cicero wurde die Parteizentrale der SPD übrigens einmal als „Hort des Schreckens“ bezeichnet. Das war im Jahr 2013. Der Text könnte allerdings auch von heute sein. Denn niemand, der etwas erreichen, der politisch etwas bewegen will, möchte dort arbeiten. Junge, motivierte, kluge Leute, die es immer braucht, um Impulse zu setzen und vor allem um einen Wahlkampf zu bestreiten, meiden die Parteizentrale der SPD. Sie streben stattdessen, wenn überhaupt, in die Ministerien oder in die SPD-Fraktion. Auch Typen vom Schlage des legendären einstigen SPD-Bundesgeschäftsführers Matthias Machnig finden sich im Willy-Brandt-Haus kaum mehr. Da fehlt eine ganze Kampftruppe. Und es liegt am Generalsekretär, die Parteizentrale zu einem Ort zu machen, wo Spitzenleute hin wollen, wo ein Geist des Aufbruchs und der intellektuellen Lust herrscht. Das Willy-Brandt-Haus muss endlich wieder mehr strategische Kompetenz bekommen. Momentan ist es nur eine Art Werbeagentur, in der stets neue Kommunikationsstrategien aus der Taufe gehoben werden. Als Kommunikationslinke ohne Substanz hat die SPD aber einfach keine Chance. It’s the Inhalte, stupid! In dieser verunsicherten, gespaltenen und intellektuell heruntergerockten SPD muss es wieder um Inhalte und kluge Ideen gehen. Und da hat die Parteizentrale die Führung zu übernehmen – politisch wie intellektuell. Generell muss man zur Besetzung des Generalsekretärs sagen: Die SPD kann es sich nicht mehr leisten, immer wieder Leute zu berufen, von denen man schon vorher weiß, dass dieses Amt eine Nummer zu groß für sie ist. Die SPD hat nicht mehr viele Chancen, um sich aus der Rolle des Juniorpartners und Mehrheitsbeschaffers zu befreien. Irgendwann hat man einen Stempel, und da steht dann drauf: Für das Kanzleramt nicht mehr geeignet. An diesem Punkt befindet die SPD eigentlich schon fast. Das Bild einer kanzlerfähigen SPD ist in etwa genauso zerschreddert wie das sich selbst geschreddert habende Bild des Künstlers Banksy. Viele Gelegenheiten bleiben nicht, um die SPD aus dem tiefen Tal, in dem sie heute auch aus Selbstverschulden und Strategielosigkeit steht, wieder herauszuhelfen. Vor allem bei der Wirtschaftskompetenz muss die SPD wieder etwas aufbauen, und auch da sollte die Parteizentrale eine Führungsrolle übernehmen. Ich halte es deshalb für entscheidend, dass der neue Generalsekretär oder die neue Generalsekretärin über eigene Wirtschaftskompetenz verfügt. Diese Befähigung wird in erheblichem Maß über die nächste Wahl entscheiden. Die SPD schafft es erst dann wieder auf Schlagdistanz zur Union, wenn die Wähler ihr auf diesem Gebiet etwas zutrauen. Laut aktuellem ZDF-Politbarometer hat die SPD beim Thema Wirtschaft aber nur noch eine Kompetenzzuschreibung von zehn Prozent; die Union kommt auf 40 Prozent. Diese Wirtschaftskompetenz tangiert dabei viele andere Debatten: Die Zukunft der Autoindustrie und der Zulieferer Die Digitalisierung und Industrie 4.0 Die Energiewende und Umweltpolitik, Stichwort „Ökologische Industriepolitik“   Die Arbeitsmarktpolitik (Stichworte sind hier: Qualifizierung und neue Ideen für eine Weiterbildung der Beschäftigten, Arbeitslosengeld 1, aber auch Themen der Konsumstabilisierung und Arbeitsplatzsicherheit im Abschwung: Stichworte sind hier: Arbeitslosengeld 1 und Kurzarbeitergeld) Die Geopolitik  Eine neue G2-Welt ist am Entstehen, und vor allem die deutsche Industrie könnte im neuen weltpolitischen Zweikampf zwischen den USA und China ins Hintertreffen geraten Die Forschungspolitik Es fehlt ein klarer Ansatz für Technologieforschung und den entsprechenden Milliardenmitteln dafür. Das Willy-Brandt-Haus wird jemanden an seiner Spitze haben müssen, der auf allen genannten Feldern inhaltlich etwas anschieben kann. Was die SPD nicht braucht, ist die Fortführung einer SPD-Werbeagentur namens Willy-Brandt-Haus.
Nils Heisterhagen
An diesem Samstag wird sich endlich zeigen, wer die künftigen SPD-Vorsitzenden sind. Es müssen aber noch andere Personalfragen geklärt werden. An erster Stelle: Wer bringt Wirtschaftskompetenz ins Willy-Brandt-Haus?
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innenpolitik
2019-11-29T12:25:50+0100
2019-11-29T12:25:50+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/spd-personal-generalsekretaer-erklaerer-oekonom-sigmar-gabriel-olaf-scholz
Notstand in den Pflegeheimen - Der Pflegenotstand hat zu mehr Toten geführt
Die Pflegeheime sind die neuralgischen Punkte der Pandemie. Das ist keine neue Erkenntnis, und dennoch scheint der Schutz der Alten und Schwachen auch im zwölften Monat nach dem erstmaligem Ausbruch einer Covid-19-Erkrankung in Deutschland auf beschämendem Niveau zu verlaufen. Zahlen, die etwa am Dienstag in Berlin vorgelegt wurden, belegen, dass in der deutschen Hauptstadt mehr als jeder zweite Corona-Tote ein Pflegeheim-Bewohner war. Ja schlimmer, Anfang dieses Monats verzeichnete man 224 Pflegeheim-Tote seit dem Frühjahr, mittlerweile sind es 492. Mit anderen Worten: In nur wenigen Tagen hat sich die Zahl der Toten in den Einrichtungen verdoppelt. Und in anderen Bundesländern sind die Zahlen nicht besser. Hessen etwa meldete bereits im November, dass zwei Drittel der Todesfälle Altenheime beträfen. Mitten in all diese bedrückenden Meldungen hinein fällt nun ein Interview, das auch und gerade für die Weihnachtstage nichts Gutes hoffen lässt: Ulrike Döring, im Berufsverband Deutscher Pflegerat (DPR) zuständig für die Altenbetreuung, erklärt auf Nachfrage gegenüber dem Deutschlandfunk, dass es „überhaupt nicht vorstellbar“ sei, dass am Heiligen Abend die ohnehin überlasteten Pflegekräfte in den Alten- und Pflegeheimen Schnelltests für die Besucherinnen und Besucher durchführen könnten. Mit einem derartigen Mehraufwand für die längst am Limit arbeitenden Pflegerinnen und Pfleger könne die Bewohnerversorgung nicht mehr gesichert werden, es müsse daher dringend Lösungen von außen geben. Ist also der Wunsch, den Bundeskanzlerin Angela Merkel noch am 26.11. vor dem Deutschen Bundestag geäußert hat, nachdem Weihnachten „kein Weihnachten der Einsamkeit“ werden solle, von Beginn an als fromm, keinesfalls aber als realistisch gedacht gewesen? Was Ulrike Döring in dem weiteren Verlauf des Interviews schildert, offenbart jedenfalls eine politische Trägheit, die allenfalls noch mit dem Wort „fahrlässig“ zu bezeichnen ist. Der Deutsche Pflegerat nämlich habe demnach schon länger darauf hingewiesen, dass man an Weihnachten für die nun endlich zur Verfügung stehenden Schnelltests Hilfskräfte der Bundeswehr oder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen benötige. Es müssten in dieser Angelegenheit dringend Regellungen der Bundesländer geben. Man benötige für die Einrichtungen ein Register, in dem aufgeführt sei, wo man derlei Hilfskräfte bekommen könne. Das Wort, das Döring an diesem Morgen am häufigsten über die Lippen kommt, ist „dringend“. Schon ein Blick auf den Kalender offenbart schließlich, dass Weihnachten bereits in sechs Tagen stattfinden dürfte. Und aller Voraussicht nach hört auch nach dem Fest der Alptraum in den deutschen Pflegeeinrichtungen nicht auf. Ähnlich nämlich werde sich der Personalmangel laut Döring auch bei den nach Weihnachten anstehenden Impfungen niederschlagen. Auch hier benötige man Hilfe von außen: „Wir können nicht die Fachkräfte noch zusätzlich zum Impfen anleiten und dann auch noch selber impfen. Da müssen Impfteams kommen.“ Die Mitarbeiter seien schon jetzt am Limit, müsstn dauernd Überstunden machen und könnten sich überhaupt nicht mehr erholen. „Da kann etwas zusammenbrechen“, so Döring. Wer diesem fast apokalyptischen Warnruf lauscht, der will es kaum glauben: Corona legt schonungslos offen, wo seit Jahren bereits die Schatten und Toten Winkel unserer Gesellschaft liegen: Im Sommer blickten wir auf das Inferno in den Schlachthöfen, auf Billigfleisch und die erbärmlichen Bedingungen, unter denen besonders ausländische Leiharbeiter hierzulande leben und arbeiten. Jetzt sind es, wie schon im Frühjahr, erneut die Alten und Schwächsten. Dabei ist der Zustand in den Pflegeheimen seit Jahren bekannt. 2019 etwa meldete die Kaufmännische Krankenkasse in Mecklenburg-Vorpommern, dass Personalmangel und Überstunden in Verbindung mit geringer Vergütung massive gesundheitliche und psychische Folgen für die Pflegekräfte haben. Ein Fünftel aller Krankschreibungen in dem nördlichen Bundesland erfolgte damals bei Arbeitnehmern in Pflegeberufen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch die Techniker Krankenkasse: Der Tenor beider Versicherungen: Pflegekräfte sind häufiger und länger krank als andere Berufsgruppen, die Belastungen in den Pflegeberufen gehen besonders auf die Psyche. Pflegenotstand ist somit kein Begriff, an den sich die Gesellschaft erst im Corona-Jahr 2020 gewöhnen musste. Fast scheint er zu einer Art traurigen Brauchtumspflege im deutschen Gesundheitswesen geworden zu sein. „Wir haben eine vollkommen unzureichende Stellenbemessung, mithin zu wenig besetzte Stellen“, so Ulrike Döring, die gegenüber dem Deutschlandfunk bestätigt, dass Corona in eine ohnehin überlastete Situation hineingebrochen sei. Und dann offenbart Ulrike Döring das eigentliche Dilemma: Auf die Frage nämlich, ob durch eine bessere personelle Ausstattung der Pflegeheime Corona-Tote hätten verhindert werden können, folgt zunächst nur eine kurze Pause. Man kann regelrecht hören, wie die Verbandsvertreterin der Pflegeberufe ihren ganzen Mut zusammennimmt. Und dann sagt sie ein einziges Wort: „Ja“. Es folgt wieder eine längere Pause. Eine Pause, in der Zeit ist, sich zu sortieren: Man denkt plötzlich an die 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung, die laut Gesundheitsminister Jens Spahn zur Corona-Risikogruppe gehörten. Eine Zahl, die es der Bundesregierung angeblich unmöglich gemacht habe, ausreichend Schutzmaßnahmen während der Sommermonate zu treffen. Man denkt an die "lediglich" sechsstellige Zahl derjenigen Deutschen, die in Pflegeheimen untergebracht sind und die mehr als 50 Prozent der Corona-Toten stellen. Zum Glück unterbricht Döring irgendwann das beklemmende Schweigen. Der Personalmangel, sagt sie jetzt mit fast bedauerndem Unterton, habe dazu geführt, dass man besonders am Anfang oft gar nicht mitbekommen habe, wenn Menschen infiziert waren. Vielleicht, so die Hoffnung, wird man nach der Pandemie einmal darüber reden, wie viel Leid auf das Konto des Schicksals und wie viel auf das einer jahrelang zusammengesparten Nachlässigkeit geht. Bis dahin sollten wir darüber nachdenken, wie wir besonders die Alten und Schwachen auch weiterhin nicht in Gefahr bringen. Das Interview können Sie hier nachhören.
Ralf Hanselle
Zu Weihnachten werden viele Menschen ihre Verwandten in Alten- und Pflegeeinrichtungen besuchen. Ein Deutschlandfunk-Interview mit einer Vertreterin des Deutschen Pflegerats bringt jetzt ans Licht, wie schlecht die Politik die Pflegeeinrichtungen bei dieser Herausforderung unterstützt.
[ "Pflegeheime", "Pflegenotstand", "Weihnachten", "Corona" ]
wirtschaft
2020-12-18T14:24:06+0100
2020-12-18T14:24:06+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/corona-pflegeheime-weihnachten-schnelltests
Essay – Wie das Internet den Menschen enteignet
Die Aussichten klingen beeindruckend. Marissa Mayer, Vizepräsidentin bei Google, hat gerade dem Menschen des 21. Jahrhunderts mitgeteilt, demnächst von der Maschine gedacht zu werden. Aufgrund seines bisherigen Verhaltens werde sein zukünftiges von Computern vorhergesagt. Vor kurzem noch kam sich die Hirnforschung besonders schlau durch den Nachweis vor, dass im Gehirn schon abläuft, was erst Sekunden später dem Bewusstsein erscheint. Damit, hieß es, sei die Vorstellung widerlegt, dass der Mensch einen freien Willen habe. Darüber dürfte Marissa Mayer nur lächeln, denn Google hat seinerseits vor, die Hirne zu belehren, was sie wollen. Welche Personen kennenzulernen für jemanden sinnvoll sein könnte. Wo in fremden Städten die Restaurants liegen, die einem Google-Nutzer gefallen müssten. Was ihre Bedürfnisse sind, was in ihrem Kühlschrank fehlt und dass ein Laden dafür gerade in der Nähe liegt. Man kann gar nicht so schnell denken, wie einem etwas vorgeschlagen wird. Er denke nicht, ließ im selben Sinne schon vor zwei Jahren der damalige Google-Vorstand Eric Schmidt verlauten, dass die Leute von der Suchmaschine Antworten auf Fragen bekommen wollten, sondern vielmehr, dass ihnen Google sagt, was sie als Nächstes tun sollen. Das wird seit einiger Zeit auch auf das Suchen selber angewendet. Die Funktion „Google Instant“ vervollständigt eingetippte Suchworte und zeigt den Wikipedia-Artikel zu Proust schon bei „Prou“ an, bevor der Benutzer noch klargemacht hat, dass er auf der Suche nach dem Kloster Proussos ist. Einerseits führt das zu Zeitersparnis, andererseits handelt es sich um die Vorwegnahme von Entscheidungen, die dadurch wahrscheinlicher werden. Demselben Prinzip folgen die Beliebtheitslisten und „Gefällt mir“-Zahlen, die dem Leser einer Internetseite sofort mitteilen, welche Texte, Videos oder Lieder auf ihr am häufigsten angetippt wurden oder von Teilsegmenten der 850-Millionen-Nutzergemeinde bei Facebook empfohlen werden. Hier ist man auf Zustimmungen spezialisiert. Die Absatzwirtschaft, der die entsprechenden Datenmengen verkauft werden, spricht von „Sentimentanalyse“, wenn sie aus ihnen herauszufiltern sucht, wem was wie sehr gefallen könnte. Sie wollen also, kurz gesagt, den Zufall abschaffen. Es soll keinen Konsum und eigentlich keinen Gedanken geben, der nicht entweder eigens auf das Individuum zugeschnitten wurde, das ihn vollzieht. Oder der nicht dem folgt, was zunächst „Weisheit der vielen“ hieß, sich inzwischen aber unter dem Titel „Schwarmintelligenz“ dem annähert, was früher unter „Mode“ bekannt war. „Das Ziel“, schreibt der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Mark Andrejevic, „ist die Erschaffung einer interaktiven Medienlandschaft mit dreifacher Funktion – Unterhaltung, Werbung und Sonde“. Seite 2: Wie unser Kaufverhalten manipuliert wird… Die Werbung bezahlt die Unterhaltung. Die Nutzer fungieren als Sonde, weil in den Servern der Anbieter mitgeschrieben wird, wer sich wann wie und wodurch unterhalten fühlte. So entstehen die Daten für Prognosen, wie auf Werbung reagiert werden wird. Die Zukunft wäre eine vollkommene Extrapolation der Vergangenheit. Oder genauer und in den Worten des Google-Chefökonomen Hal Varian: Die Datenbanken der Firma würden es erlauben, „die Gegenwart vorherzusagen“. Voraussetzung dafür soll nur sein, dass Google und Konsorten möglichst viel über die Vergangenheit wissen. So die Ankündigung. Noch heißt es allerdings bei Amazon, einem anderen großen Spieler auf dem Markt für Verhaltensvorschläge, „Kunden, die sich für Band 1 interessierten, interessierten sich auch für Band 2“. Wer einen Dampfgarer gekauft hat, kommt als Käufer für Bücher über Dampfgaren besonders infrage. Darauf wäre selbst ein normales Gehirn gerade noch gekommen. Soeben wurde uns allerdings von Amazon „Thinking, Fast and Slow“ des Psychologen Daniel Kahneman empfohlen, weil wir „Thinking the Twentieth Century“ des Historikers Tony Judt gekauft hatten. Nicht ganz so beeindruckend. So wenig wie beispielsweise der „Google-Indikator“ für Arbeitslosigkeit. Durch ihn soll sich aus der Häufigkeit bestimmter Schlagworte (zum Beispiel „Arbeitsagentur“ oder „Personalberatung“) unter den 100 Millionen täglicher Suchanfragen die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt herauslesen lassen. Seitdem das 2009 einmal versucht wurde, war nicht mehr viel von den Prognosen zu hören. Oder nehmen wir die Behauptung von Facebook, Internetbenutzer, die auf den „Gefällt mir“-Knopf drücken, seien überdurchschnittlich vernetzt, weswegen zu erwarten sei, dass sie durch Zustimmungen ihren Freundeskreis stärker beeinflussen als Experten oder die Ergebnisse von Suchmaschinen. Sollen Leute mit solchen Vorstellungen – „wenn meinen Freunden der Dampfgarer gefällt, glaube ich ihnen eher als der Stiftung Warentest“ – wirklich im Besitz sozialer und soziologischer Intelligenz sein? Oder halten sie nur einfach ihre Kunden für dumm? Womöglich haben sie damit recht. Das Internet ist neben dem vielen Hilfreichen, Großartigen, Anregenden, das es anbietet, zu einer fixen Idee geworden, die den Verstand vernebelt. Es scheint nicht zu genügen, dass man es als merkwürdige Bibliothek, Spielwiese, Post oder Warenhaus benutzen kann, es muss offenbar die Zukunft selbst enthalten und alles, alles revolutionieren: die Wirtschaft und die Demokratie, das Recht und die Bildung, die Liebe und den Sinn von Individualität. Seite3: Warum Schulen und Universitäten als Orte überflüssig geworden sind… So hat der amerikanische Informatiker David Gelernter beispielsweise behauptet, Schulen und Universitäten seien als Orte überflüssig. Denn wozu sollten viele Schüler von einem Lehrer in einer Klasse unterrichtet werden, wenn auch Einzelfernunterricht möglich ist? Wozu sollte man sich einem vorgegebenen Curriculum beugen, wenn Lernstoffe und -geschwindigkeiten frei wählbar sind? So denkt ein Technologe. In der soziokulturellen Evolution hat sich seit mehr als 2000 Jahren der Unterricht in Gruppen bewährt, aber jetzt haben wir Maschinen, die ihn entbehrlich machen? Entweder ist diese Medienrevolution dann, wie in diesem Beispiel, die reine Verheißung: von Partizipation, lokaler Selbstbestimmung, Effizienz, Wachstum, Aufwertung der Minderheiten und politischer Transparenz. Oder sie führt zu einem neuen „Kontrollregime“, zur vollendeten Kommerzialisierung jedweder Lebensbezüge oder einer Art sozialem Nervenzusammenbruch. Das gilt seit langem in der Geschichte der Medien. Vor 50 Jahren diagnostizierte Jürgen Habermas für unsere Epoche einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, und zwar einen fragwürdigen. Sah er doch die normativen Erwartungen an eine öffentlich über das Gemeinwohl diskutierende Bürgerschaft, wie sie um 1800 formuliert worden waren, im Verlauf der nachfolgenden Politik- und Mediengeschichte enttäuscht. An die Stelle der parlamentarischen Debatte mit offenem Ausgang traten der Fraktionszwang, der Primat der Exekutive und der Lobbyismus im Hinterzimmer. An die Stelle der kritischen Journale traten die Boulevardpresse und das Unterhaltungsfernsehen. Die Pressefreiheit, einst als Mittel der Wahrheitssuche durchgesetzt, diene inzwischen der Werbung. Aus Lesern waren Zuschauer geworden. Die Willensbildung im Volk werde durch die Medien nicht befördert, sondern propagandistisch bearbeitet. Habermas konstatierte einen „Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit“, den Antiliberale wie der Rechtswissenschaftler Carl Schmitt 40 Jahre zuvor schon mit grimmiger Befriedigung festgehalten hatten. Die hohen gesellschaftlichen Erwartungen, die an das Zeitschriften- und Zeitungswesen der Aufklärung gerichtet waren, sind kein Einzelfall. Bislang ist noch jedes neue Massenmedium von solchen Hochstimmungen begleitet worden. Der Buchdruck entzündete zuerst die Reformation, die ihm das durch Lektüre vermittelte Gespräch mit seinem Gott zu bringen versprach. Dann ermöglichten Bücher und Zeitungen im 18. und 19. Jahrhundert die „Erfindung der Nation“ und ihrer „Kultur“. Mit der Fotografie und dem Kino wurde ein neuer Realismus angekündigt, eine ganz über Wahrnehmung laufende Alphabetisierung der Massen und damit zugleich die Zerstörung eines nur wenigen vorbehaltenen Zugangs zur Kunst. Seite 4: Mc Luhan, Enzensberger und die Mediale Entwicklung… Vom Radio, mit dem die mediale Eroberung der Allgegenwart begann, erhoffte sich Bertolt Brecht 1932, „den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen“. Im Fernsehen wiederum erkannte einer seiner Propheten, der kanadische Technikphilosoph Marshall McLuhan, die Möglichkeit zu einer Kommunion der Weltgemeinschaft, die sich durch Schauen derselben Sendungen vereint. Hans Magnus Enzensberger hat 1970 in seinem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ diese Erwartungen noch einmal zusammengefasst. In diesem Aufsatz wird bereits von einem Zusammenschluss aller elektronischen Kommunikationsmittel gesprochen, die technisch keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger kennen. Das „Senderkartell“ erschien Enzensberger so überflüssig wie „das politische Angebot eines Machtkartells von autoritär verfassten Parteien“, die passive Entscheidung, dem gesendeten Programm zu folgen, verglich er mit dem Wahlverhalten. Ihrer Struktur nach seien die neuen Medien egalitär und inklusiv. Sie lösten geistiges Eigentum auf, erlaubten augenblickshaften Zugriff und seien in der Lage, auch Beiträge von Laien, dezentralisierte Programme und „Feedback“ leicht zu integrieren. Damit entsprächen sie dem Bedürfnis nach direkter Demokratie und Selbstorganisation der Gesellschaft. Einzulösen wären diese Möglichkeiten allerdings nur, so Enzensberger damals, durch eine sozialistische Politik. Heute, 20 Jahre nach der massenwirksamen Einführung des Internets – 1994 überstieg die Zahl der kommerziellen Nutzer erstmals die der wissenschaftlichen –, liegt es nahe, danach zu fragen, welche Erfahrungen wir mit den entsprechenden Erwartungen gemacht haben, die in dieses Medium gesetzt wurden. Dies umso mehr, als es sich ja um das Medium aller Medien handelt, die technologische Erfüllung des Enzensberger’schen Baukastens, die zugleich Buch, Zeitung und Radio, Fernsehen, Kino und Musikbox sowie Einkaufsmeile, Post, Bildtelefon und Datenbank ist. Seite 5: Die paradoxen Versprechen der digitalen Kommunikation… Ganz materielle Erwartungen wie die, der Computer führe zum papierlosen Büro, sind dabei am schnellsten und am trivialsten enttäuscht worden: Es ist einfach immer mehr Papier geworden. Der Energie- und Chemikalienbedarf der „neuen Ökonomie“, die sich angeblich von der ökologisch zweifelhaften alten absetzte, sprengt inzwischen jede Vorstellung. Die elektronische Post, die alles beschleunigen sollte, tat es eine Zeit lang, inzwischen aber werden E-Mails zugleich viel schneller und viel langsamer beantwortet als alle früheren Sendungen. Es sind zu viele geworden, und die Smartphones ermöglichen dort, wo sie nicht der Unterhaltung dienen, vor allem das E-Mail-Löschen außerhalb der Kernarbeitszeit. Die zahlreichen Ergänzungstechnologien des Chattens und Skypens und Postens und Twitterns mit ihren eigenen folgenreichen Festlegungen (nur Unwichtiges; mit Bild; vorwiegend Unverbindliches; an alle, aber ohne Erwartung einer Antwort) verschärfen gerade durch ihre Nützlichkeit dieses Problem. Als mögliche Reaktion darauf wird „Twitter Zen“ genannt: Wo das „Ich“ war und Information oder Mitteilungen suchte, soll nun ein „Es“ werden, das Sich-Treiben-Lassen durch die Marktnischen und Netzwerksegmente – in der Hoffnung, das Wichtige schon irgendwie mitzubekommen. Und was ist mit dem „Long tail-Argument“, das behauptete, das Internet begünstige die Präferenzen von Minderheiten, weil sie weltweit als Kunden einzusammeln sich nun lohne? Die Gegenthese von der „The winner takes it all“-Ökonomie, wonach das Gros der Aufmerksamkeit sich auf immer weniger Produkte richtet, ist aber mindestens so plausibel – die Beliebtheitslisten jedenfalls haben nachweislich diese Wirkung, das Interesse durch das Interesse der anderen führen zu lassen. Angeklickt werden auf „Youtube“ vor allem jene Filmchen, die schon von Millionen anderen angeschaut worden sind: Der Herdentrieb funktioniert wie eh und je. Von den artverwandten Erwartungen, das Internet sei ein Instrument der Vielfalt dezentraler und von Autoritäten freier Kommunikation, gilt dasselbe. Es stimmt und ist falsch zugleich, denn neben der Vielfalt hat es nicht nur die Einfalt derer gebracht, die glauben, Facebook sei ein Hilfsmittel von Demokratiebewegungen, ohne damit zugleich auch eines von Geheimdiensten sein zu können. Oder die sich vorstellen können, dass durch Livestreams von Parteitagen die Demokratie liquider würde, anstatt die Funktion von Hinterbühnen für die Gesichtswahrung in Entscheidungsprozessen zu erkennen. Die Vielfalt des Internets wird auch von einem beispiellosen Monopolisierungsgrad auf seinen ausschlaggebenden Märkten begleitet: Google, Facebook, Twitter, Amazon. Daran ändert das angestrengte Bemühen mancher dieser Firmen nichts, sich als die Guten und Netten, die etwas verschenken, oder als Animateure und Teil von sozialen Bewegungen darzustellen. Wenn sie es nicht sind, ist das nur vor dem Hintergrund kindlicher Erwartungen ein „Verrat“ an der Idee des Internets. Technik hat keine Idee – was nicht gegen sie spricht. Es ist auch kein Verrat an der Idee des Personenkraftwagens, wenn man ihn nicht mehr selber reparieren kann, mit ihm im Stau steht oder wenn die Idyllen, in die er einen bringen soll, durch die Straßen, über die er einen dahin bringt, zerstört werden. Um es mit Melvin Kranzbergs treffender Formel zu sagen: Technologien sind weder gut noch böse noch neutral. Seite 6: Das Ende des Geheimnisses  … Doch was das Internet angeht, sind sie vor allem in Fragen der Privatheit nicht neutral. Wer immer sich auf einer Internetseite befindet, auf der sich der Facebook-Schalter „Gefällt mir“ befindet, sendet diese Information an Facebook, ganz gleich, ob der Schalter gedrückt wird oder die betreffende Person überhaupt Facebook-Mitglied ist. Dieser umfassende Bewegungsmelder umgeht damit sogar die ellenlangen „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“, die Facebook für die Nutzung seines Netzwerks geschrieben hat und ständig ändert. Man hat noch mit niemandem einen Vertrag über irgendetwas abgeschlossen, aber schon werden Daten über einen an Facebook übermittelt. Jede Überwachungskamera auf öffentlichen Plätzen erscheint harmloser. Darum reagieren Funktionäre von Facebook und Google auch so gereizt auf anonyme Nutzer. Wer nicht wolle, dass alle etwas davon erfahren, solle es vielleicht auch nicht tun – so Eric Schmidt von Google. Marshall McLuhan hat schon 1974 das Ende des Geheimnisses als einen Effekt elektronischer Umwelten behauptet. „Das Ende der Geheimhaltung ist das Ende der Wissensmonopole.“ Etwas später hat einer seiner Schüler, Joshua Meyrowitz, dem Fernsehen die Eigenschaft zugeschrieben, soziale Hinterbühnen für das Publikum zu öffnen: Die Kinder erfahren im Fernsehen, was die Erwachsenen tagsüber und nachts so machen; die Wähler sehen, wie die Politiker schwitzen; Männer und Frauen bekommen mit, wie in der anderen Gruppe über sie geredet wird. Es ist, mit anderen Worten, nicht mehr nötig, den Zugang zu bestimmten Orten zu haben, um zu erfahren, wie es an ihnen zugeht. Jetzt aber soll es gar keine Hinterbühnen mehr geben, und nicht einmal soziale Situationen sollen sich mehr voneinander isolieren lassen. „Die Zeit, in der man seinen Kollegen ein anderes Bild von sich geben konnte als anderen Leuten, kommt vermutlich recht bald an ihr Ende“, lässt Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook, dessen Nutzer wissen und ergänzt: „Wer zwei Identitäten hat, dem mangelt es an Integrität.“ Das sind Phrasen – Zuckerberg hält nicht einmal Identität und Rolle auseinander –, deren Verwirklichung weder er noch sonst jemand erträglich finden würde. Der Begriff „totalitär“ würde auf sie passen. Dass sie als unabwendbare Konsequenz des Internets präsentiert und mit einer Moral der Aufrichtigkeit drapiert werden, hängt mit Geschäftsinteressen zusammen. Denn natürlich könnte man die Allgemeinen Geschäftsbedingungen für soziale Medien anders normieren. Seite7: Digitaler Exhibitionismus und die Sehnsucht nach dem „Microruhm“… Der Fall „Google books“, in dem der Versuch juristisch abgewiesen wurde, unausgenutzte Texte zu herrenlosem Gut zu erklären, zeigt, dass sich nicht alle Rechtsbegriffe ändern müssen, nur um einer neuen Technologie zu allen Möglichkeiten zu verhelfen. Und doch haben jene Phrasen Folgen diesseits der Geschäftemacherei von Leuten, die Datenwolken über das Verhalten anderer Leute verkaufen. Denn sie tragen zu einem Weltbild bei, das sich teils aus Freude am Kommunizieren, teils aus Resignation vor undurchschauten Strukturen fatalistisch zu den Medien verhält. Im Internet sei es eben vorbei mit den alten Eigentumsbegriffen, im Internet sei Privatsphäre eben nicht durchzuhalten, heißt es. Doch aus der Tatsache, dass es technisch ebenfalls ziemlich schwierig ist, einen Einbruch zu verhindern, schließt noch niemand, dass die Privatsphäre in Wohnsiedlungen nicht durchzuhalten sei. Die Begeisterung am transparenten Leben läuft darauf hinaus, dass die Öffentlichkeit mit Privatem überflutet wird. David Riesman hatte in seinem Buch „Die einsame Masse“ einst das Bild vom „Radargerät“ verwendet, mit dem der moderne Mensch ständig seine soziale Umwelt daraufhin abtaste, was von ihm erwartet werde. Das Internet sorgt mittels Facebook und Twitter, aber auch durch die Blogs dafür, dass diese Art von sozial empfindlicher Subjektivität nicht mehr nur empfangen, sondern auch senden kann. Daraus ergibt sich eine gewisse Hemmungslosigkeit der „Mikroberühmtheiten“, auf deren Texte kein zweiter Blick fällt, bevor sie öffentlich gemacht werden, und die dem Rest der Menschheit Gelegenheit bieten, sich an ihren Privatheiten zu interessieren, so als wären sie Stars. „Für eine Konzentration auf unpersönliche Sachverhalte“, notiert der Soziologe Rudolf Stichweh, „die man nach längerem Studium in eine weltfähige Kommunikation umsetzt, bleibt möglicherweise keine Zeit.“Das Internet legt es nahe, den Abstand von Erleben und Mitteilen sozial wie psychologisch immer kürzer werden zu lassen. Die neue elektronische Öffentlichkeit kennt bisher keine Antwort auf die Frage, wie gesellschaftlich der Sinn für Unpersönliches anstatt für Geschmacksfragen, für Reserven anstatt für Engagements, für stabile Begriffe anstatt für fluktuierende Informationen und für gute Fragen anstatt für treffende Suchergebnisse wach gehalten werden kann. Verwegen ist jedenfalls die Hoffnung, dass jene Antwort irgendwo im weltweiten Netz darauf wartet, mit einem Klick aufgerufen zu werden.
Google und Konsorten verkörpern die tollste Geschäftsidee aller Zeiten: Jeder Nutzer wird – ob er will oder nicht – zum Datenpaket der Konsumwirtschaft. Ein Essay zum elektronischen Kulturbruch  
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kultur
2012-06-02T08:51:59+0200
2012-06-02T08:51:59+0200
https://www.cicero.de/kultur/wie-das-internet-den-menschen-enteignet/49509
Streitgespräch - „Es gibt das Recht auf freie Niederlassung“ - „Die Auffassung haben Sie wohl exklusiv“
Müller-Vogg: Martin Schulz will im Wahlkampf über Flüchtlinge reden. Gut so. Wann, wenn nicht jetzt, soll über die wirklich wichtigen Themen diskutiert und gestritten werden? Was mir aber auffällt: Die meines Erachtens falsche Flüchtlingspolitik Angela Merkels im September 2015 war mit Außenminister Steinmeier und dem damaligen SPD-Vorsitzenden und Wirtschaftsminister Gabriel abgestimmt. Hofft Schulz darauf, dass die Wähler vergessen haben, wie berauscht auch die SPD von der Willkommens-Euphorie war? Marquardt: Martin Schulz hat rein faktisch Recht. Auch wenn es eine Abstimmung mit der SPD gab, war es Angela Merkel, die gehandelt hat – und in diesem Fall richtig. Von einem plumpen Flüchtlingswahlkampf kann nur sprechen, wem es auf den Unterschied zwischen 890.000 oder einer Million ankommt. Aber das ist meines Erachtens nicht entscheidend. Es kommen Menschen in Not. Dass die sicheren Herkunftsländer problematisch sind, wissen wir beide. Ob jedoch das Abkommen mit der Türkei, angesichts von Erdogans Agieren, so klug ist, ist eine andere Frage. Warum reden wir nicht einfach mal über die Chancen, die mit der Zuwanderung verbunden sind? Müller-Vogg: Dass wir eine humanitäre Verpflichtung haben, den „echten“ Flüchtlingen zu helfen, hat mit der Frage, ob der Zuzug auch uns nützt, gar nichts zu tun. Die allermeisten Neuankömmlinge aus fremden Kulturen verfügen – leider – nicht über die entsprechenden Qualifikationen, um in überschaubarer Zeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dass vielen auch die innere Bereitschaft zur kulturellen Integration fehlt, macht die Sache nicht einfacher. Ich halte die vor allem von Wirtschaftsbossen verbreitete These, die Flüchtlinge bildeten die Basis für das nächste Wirtschaftswunder, für zynisch. Die Wirtschaft will sich aus den Flüchtlingen die Besten herauspicken; die große Zahl der Nicht-Qualifizierten ist dann ein Fall für den Staat. Damit Sie mich nicht missverstehen: Wir müssen alles tun, damit Menschen mit Bleiberecht sich hier in jeder Beziehung gut und möglichst schnell integrieren können. Das gilt ganz besonders für deren Kinder. Aber dass Deutschland dank der Flüchtlinge bessere Zukunftschancen hat als ohne, hat mit der Wirklichkeit ebenso wenig zu tun wie die Schwärmereien von Martin Schulz: „Was die Flüchtlinge uns bringen, ist wertvoller als Gold.“ Wenn dem so wäre, würden sich doch alle europäischen Länder um eine möglichst große Zahl von Flüchtlingen reißen. Marquardt: Ich weigere mich, zwischen „echten“ und „unechten“Flüchtlingen zu unterscheiden. Wer gibt uns, denen es gut geht, das Recht, Menschen vorzuschreiben, wann sie in Not sind? Und Sie haben mir was in den Mund gelegt, was ich gar nicht gesagt habe: Ich wollte mit ihnen über Chancen reden. Sie tun jetzt so, als hätte ich gesagt, Deutschland hätte mit Flüchtlingen bessere Chancen als ohne. Sie reduzieren Geflüchtete auf ihre Verwertung am Arbeitsmarkt. Mir scheint das zu eng. Ich fände es als Bereicherung, wenn Flüchtlinge zum Beispiel in Schulen über ihre Fluchtgeschichte und die Konflikte in ihrer Heimat berichten. Dann vermitteln wir bereits in der Schule, dass wir mit unserem Wohlstand und unserer Lebensweise sowie Politik teilweise Fluchtursachen verursachen. Aber selbst wenn Sie sich auf den Arbeitsmarkt konzentrieren – was spricht gegen eine Ausbildung? Das Problem ist doch eher, dass selbst aus der Ausbildung heraus abgeschoben wird. Müller-Vogg: Es gibt kein universelles Menschenrecht, sich im Land seiner Wahl niederzulassen. Deshalb muss man schon unterscheiden, ob Menschen bei uns Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, oder ob sie – was nachvollziehbar ist – in ein Land wollen, in dem es ihnen selbst ohne Arbeit besser geht als in ihrer Heimat. Auch SPD-regierte Länder unterscheiden zwischen „echten“ und „unechten“ Flüchtlingen; sonst würde ja von diesen überhaupt niemand abgeschoben. Im Übrigen hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck den Zwiespalt zwischen dem moralisch Wünschenswerten und dem tatsächlichen Möglichen auf die treffende Formel gebracht: „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich." Diese begrenzten Mittel müssen wir auf Asylsuchende im Sinne des Grundgesetzes und auf Schutzsuchende nach der Genfer Konvention konzentrieren. Für die fehlenden Fachkräfte öffnet die „Blue Card“ den Weg nach Deutschland. Marquardt: Es gibt das Recht auf Freizügigkeit. Ob dieses lediglich die Ausreise schützt, ist bis heute umstritten. Für mich ist das auch nicht entscheidend. Ich mag nicht so zynisch werden, dass ich einerseits weiß, auf Kosten des globalen Südens zu leben, und andererseits, wenn die Folgen dieses Lebens an meine Tür klopfen, verrammle ich selbige. Die SPD hat ein konkretes Einwanderungskonzept, in dem klar geregelt ist, wie Einwanderung stattfinden soll. Was finden Sie daran eigentlich falsch? Was Abschiebungen anbetrifft, unterliegen Sie im Übrigen einem Irrglauben. Es gibt unterschiedliche Gründe für Abschiebungen. Sie erinnern sich sicher daran, dass auch in dieser Legislaturperiode für straffällig gewordene Flüchtlinge die Kriterien für eine Abschiebung gesenkt wurden. Ich persönlich finde das ja falsch. Aber es ist eben nicht so, dass Abschiebungen jeweils nur davon abhängig sind, wo jemand herkommt. Und lassen Sie mich noch was zu den angeblich endlichen Möglichkeiten sagen: Welche sollen das eigentlich sein? Wenn angeblich und nach Wunsch der Union 2 Prozent mehr für Rüstung ausgegeben werden kann, sind wir noch lange nicht am Ende der Möglichkeiten. Müller-Vogg: Die Auffassung, jeder Mensch könne sich überall auf der Welt niederlassen, haben Sie wohl exklusiv. Das zeigt ja auch das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach Flüchtlinge sich innerhalb der EU nicht aussuchen können, wo sie Asyl beantragen. Warum fordert denn die SPD in ihrem Regierungsprogramm die Außengrenzen Europas zu sichern? Und warum fordert die SPD die „konsequentere Rückführung“ nicht anerkannter Asylbewerber? Ihr Kanzlerkandidat hat die Flüchtlingsdiskussion doch gestartet, weil er keine unkontrollierte Zuwanderung will. Offenbar bin ich da näher bei Schulz als Sie (lacht). Die SPD will „den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte“ steuern, Deutschland soll „im weltweiten Wettbewerb um die klügsten und innovativsten Köpfe an der Spitze“ stehen. Aber der Großteil derer, die 2015/16 unkontrolliert zu uns gekommen sind, fällt sicher nicht in Kategorie der „innovativsten Köpfe“. Und was die „endlichen Möglichkeiten“ angeht: Da geht es auch, aber nicht nur um Geld. Da geht es nicht zuletzt um die Fähigkeit, Zuwanderer aus ganz anderen Kulturkreisen zu integrieren. Denn mit dem Zuzug zahlreicher, nicht integrationswilliger Menschen wachsen die ohnehin vorhandenen Parallelgesellschaften an. Zugleich steigt die Zahl der Mitbürger, die unsere Lebensweise, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat fundamental ablehnen, ja verachten und bekämpfen. Das alles soll „wertvoller als Gold“ sein? Das glaubt Martin Schulz wohl selbst nicht mehr. Marquardt: Ich habe gerne exklusive Meinungen (lacht), aber ganz so exklusiv ist sie nicht. Sie kennen ja sicherlich die Initiative „Kein Mensch ist illegal“. Und in Frankreich wurden vor einiger Zeit Menschen ohne Papiere legalisiert. Martin Schulz hat die Diskussion gestartet, damit wir über die Konzepte für Einwanderung reden können. An das Asylrecht will ja außer der AfD zum Glück niemand ran, zumindest was weitere Einschränkungen angeht. Ich wäre ja dafür, es in seiner Fassung von 1993 wieder herzustellen. Ein Großteil derer, die 2015/16 zu uns gekommen sind, würde dann darunter fallen. Natürlich ist Integration nicht allein eine Frage des Geldes. Ich teile jedoch Ihre Einschätzung nicht, dass es ab einer bestimmten Anzahl neuer Mitmenschen, auch aus anderen Kulturkreisen, unmöglich ist, diese zu integrieren. Ich sehe vor allem nicht den Unwillen zur Integration der meisten Zugezogenen. Wenn wir hier ausreichend Angebote jenseits von Massenunterkünften ohne Privatsphäre schaffen, bin ich ganz optimistisch, dass wir sagen können: Wir schaffen das. Dies ist der sechste Teil unserer Serie von Streitgesprächen zwischen der linken SPD-Politikerin Angela Marquardt und dem konservativen Publizisten Hugo Müller-Vogg. Trotz der politischen Unterschiede verbindet beide eine Freundschaft. Bis zur Bundestagswahl werden sie regelmäßig das Politgeschehen kommentieren.
Hugo Müller-Vogg, Angela Marquardt
Kolumne: Lechts und Rinks. Schaffen wir das? Angela Marquardt sieht die Flüchtlinge als Chance an und ist für eine freie Zuwanderung. Hugo Müller-Vogg widerspricht. Er sieht einen Unwillen zur Integration und ein Wachsen von Parallelgesellschaften
[ "Flüchtlingskrise", "SPD", "CDU", "Angela Merkel", "Flüchtlingspolitik" ]
innenpolitik
2017-07-27T13:29:00+0200
2017-07-27T13:29:00+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/streitgespraech-es-gibt-das-recht-auf-freie-niederlassung-die-auffassung-haben-sie-wohl-exklusiv
Merkels Spardiktat - „Der Euro spaltet Europa“
Herr Müller, mit welchem Mickey-Maus-Helden können Sie sich am ehesten identifizieren?Am sympathischsten ist mir Donald, der ist so schön menschlich. Ich frage deshalb, weil es eine Mickey-Maus-Heft-Sonderausgabe mit Ihnen gibt, in der vernehmlich junge Leser mit allerhand monetärem Jargon konfrontiert werden. Muss Kindern das wirklich schon so früh vorgekaut werden?Damit kann man sich nicht früh genug auseinandersetzen. Kinder werden ja auch schon ganz früh mit dem Geldausgeben konfrontiert, beispielweise wenn über Werbung versucht wird, Kindern das Geld aus den Taschen zu ziehen. Kinder sollten deshalb bereits früh den Zusammenhang kennen. Um im Bild zu bleiben: Angela Merkel gibt in Europa zur Zeit den knausrigen Dagobert. Bräuchten wir aber nicht vielleicht ein bisschen mehr Panzerknackermentalität?Weder das eine noch das andere. Bei Europa ist eine Dimension erreicht, in der wir den Comicstrip auch wieder verlassen sollten. Hier geht es um zu viel. Hier geht es um die Gefährdung demokratischer Strukturen. Wir wenden zurzeit eine Strategie an, nämlich extreme Sparmaßnahmen in der Krise, die wir selbst als fehlerhaft erleben mussten. Als es uns 2008/2009 an den wirtschaftlichen Kragen ging, haben wir das Gegenteil von dem getan, was wir heute propagieren. Deshalb ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, warum wir wider besseren Wissens und Erfahrung von unseren Nachbarn das genau andere erwarten und verlangen. Merkel spielte zuhause die Keyensianerin, um dann in Europa das große Sparen zu verkünden.Absolut. Ich denke an die Abwrackprämie, die wir in Deutschland umgesetzt haben in einer Phase, in der es hier wirtschaftlich problematisch zuging. Auch wir waren sehr stark verschuldet. Es ist ja nicht so, als ob Deutschland das Land der Glückseligen wäre. Auch wir haben in die Krise hineininvestiert und völlig fragwürdige Programme wie die Abwrackprämie aufgelegt. Und jetzt verlangen wir von den Nachbarn, das Gegenteilige zu tun. Noch dazu: Die ganze Welt sagt, es sei der falsche Weg, bis auf den IWF und die Bundesregierung. Wenn mir auf der Autobahn Hunderte entgegen kommen, dann muss ich doch irgendwann einmal überlegen, ob ich nicht irgendwo falsch abgebogen bin. Mir fehlt vollkommen das Verständnis dafür, warum wir dieses Programm in dieser Aggressivität fahren. Nach dem Tabubruch der Teil­enteignung für zypriotische Sparer geht eine neue Art der Angst in Europa um. Ist damit eine neue Dimension in der Krise erreicht? Es ist nur eine weitere Steigerung. Offen gestanden konnte ich die Aufregung um die zypriotischen Entwicklungen nur bedingt nachvollziehen. Was ich nachvollziehen konnte, war der Tabubruch mit den 100.000 Euro. Man macht die abenteuerlichsten Verrenkungen, um das Vertrauen der Banken nicht zu erschüttern, aber mit dem Vertrauen der Bürger wird gespielt. Dass grundsätzlich aber die Bankkontoinhaber beteiligt werden, hat mich überhaupt nicht überrascht. Wenn ich mein Geld zur Bank trage, dann leihe ich es der Bank. Das ist wie wenn ich meinen Nachbarn Geld leihe. Wenn der Pleite ist, ist die Kohle weg. Das ist bei der Bank nichts anderes. Aber wir haben den Bürger bewusst im Irrglauben gelassen, es wäre anders. Sie sagen, „der Euro ist der Spaltpilz für Europa.“ So formuliert es auch die neue Euro-Kritiker-Partei Alternative für Deutschland. Denken Sie über einen Beitritt nach?Ganz sicher nicht. Ich bin und bleibe unabhängig. Ich stelle lediglich meine Gedanken, meine Ideen vor, bin aber auch demütig genug, zu sagen, dass ich die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen habe. Und: Ich sage, ja, wir brauchen das gemeinsame Europa. Ich bin von klein auf ein großer Freund und glühender Anhänger eines gemeinsamen Europas. Die Unterschiedlichkeit in Europa ist ein großer Segen. Wir brauchen Mischwald und keine Monokultur. Es entstehen immer gegenseitige Synergien, wenn man unterschiedliche Stärken hat und diese auch zulässt. Die gemeinsame Währung zwingt aber alle, im Gleichschritt zu marschieren und Ungleichheiten auszumerzen. Das ist ein großer Fehler. Jeder soll sich nach seinen Stärken orientieren, damit letztlich alle profitieren. Nächste Seite: Warum Deutschland nicht vom Euro profitiert hat Sie sagen also, Deutschland habe nicht vom Euro profitiert?Die Argumente der Eurobefürworter habe ich in meinem Buch widerlegt: Nehmen Sie das Friedensargument. Wir haben in Polen den Sloty und mir ist nicht aufgefallen, dass wir gegen Polen Krieg führen, oder vor der Euroeinführung irgendwo der Frieden gefährdet war. Der Euro führt dazu, dass wir bürgerkriegsähnliche Zustände in Griechenland haben. Das ist die Folge einer falschen Währung und einer falschen Politik damit umzugehen. Deshalb ist der Euro zurzeit der Spaltpilz. Ich nehme aber auch die Sorgen derer ernst, die sagen, dass wir den Euro brauchen. Es heißt, wir brauchen diese übergeordnete Abrechnungswährung, die geringere Schwankungen hat, als Einzelwährungen, die man dann im internationalen Handel einsetzen kann. Dann sage ich, OK, lasst uns einen Kompromiss finden. Lasst uns den Euro behalten, alle Eurokonten, alle Eurodarlehen und die Staatseinleihen. Gleichzeitig aber führen wir in allen Ländern die eigene nationale Währung als alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel ein. Wir wären dann praktisch genau dort, wo wir schon einmal waren. Beim Ecu. Der wurde ja nicht von Idioten entworfen, sondern überlegt eingesetzt. Warum also nicht dahin zurückgehen? Eine gemeinsame Währung als übergeordneten Abrechnungskorb, bei gleichzeitiger Beibehaltung der nationalen Währungen. So könnte sich jedes Land gemäß der eigenen Geschwindigkeit entwickeln. Aber der Ecu war als Übergangslösung gedacht. Warum immer zurück, warum nicht vorwärts, in eine tatsächliche politische Union?Natürlich, wir brauchen diese Union definitiv. Mit dem Euro kann es nur funktionieren, wenn wir zu riesigen Transferzahlungen bereit sind. Wir werden aber niemals in der Lage sein, die unterschiedlichen Regionen in Europa wirtschaftlich in ein Gleichgewicht zu bringen. Das funktioniert ja nicht einmal in der Bundesrepublik. Hier haben wir eine Währungsunion und politische Union, also das, was wir für Europa wollen. Wir haben es aber bis heute nicht geschafft, die Saarländer auf ein ähnliches Niveau wie Baden-Württemberg zu heben. Nicht, weil wir es mit faulen Pleitesaarländer zu tun haben, sondern weil dort historisch bedingt etwas ganz anderes gewachsenen ist. Aber genau an diesem Beispiel sieht man doch, dass eine Währungsunion auch eine Verantwortungsgemeinschaft ist, die man nicht bei der ersten Krise verlässt.Richtig, aber ich sehe die Verantwortungsgemeinschaft in Europa längst noch nicht hergestellt. Die Unterschiede zwischen Saarland und Baden-Württemberg sind das eine, die Unterschiede zwischen Ländern in Nord und Südeuropa dagegen XXL. Wir können doch nicht sagen, alle müssen so sein wie wir. Wir müssen akzeptieren, dass andere Länder andere Lebensmodelle haben. Eine gemeinsame Währung aber zwingt die Menschen in Bedingungen, die sie nicht haben wollen und auch nicht haben können. Der Wirtschaftswissenschaftler Gustav Horn ist der Ansicht, dass bei einer Wiedereinführung der D-Mark massive Verluste an Auslandsvermögen zu erwarten seien, inklusive einer dramatischen Aufwertung der Neo-D-Mark, die die deutsche Exportindustrie in eine tiefe Krise stürzen würde.Dem muss ich widersprechen. Wenn wir tatsächlich zu einer nationalen Währung zurückgingen, würden vielleicht unsere Exporte etwas teurer, sie blieben aber noch immer wettbewerbsfähig. Am Ende verkaufen wir unsere Produkte nicht über den Preis, sondern über Qualität. Wer einen Mercedes kaufen will, der kauft ihn nicht wegen des Preises, sonder wegen der Qualität, der Innovation, dem Know-how. Eine positive Folge wäre eine deutliche Anhebung der Kaufkraft der Bürger. Wir hätten vielleicht im Export ein paar Prozent weniger, aber die Binnennachfrage würde steigen. Das wäre der Effekt einer stärkeren Währung. Das halte ich für den wesentlich besseren Weg. Aber wir reden nicht über einen Zusammenbruch der deutschen Exportindustrie. Als wir die DM hatten, eine Währung die jederzeit zu unserer Leistungsfähigkeit passte, waren wir Exportweltmeister. Deutschland hat es überhaupt nicht nötig, sich diese Exportfähigkeit zu ergaunern. Wann fangen wir an, der Krise auch etwas Positives abzugewinnen? Nie war die EU so präsent, wie in dieser Krise. Wann hat sich die deutsche Öffentlichkeit denn schon einmal für Zypern interessiert? Zum ersten Mal erleben wir so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit.Das stimmt. Ich bin großer Fan Europas und ich freue mich, wenn wir darüber diskutieren. Ich wünsche mir, das Europa in Zukunft eine Rolle spielt, nicht mit flammendem Schwert, nicht mit der sechsten Flotte, sondern als friedlicher Riese. Wir haben diese Möglichkeit. Wir sind mit 500 Millionen Menschen der größte Zusammenschluss dieser Art. Wir haben die besten Ingenieure, einen moralischen Fundus, das begeistert, ein humanistisches Weltbild, Werte auf die wir Europäer stolz sein dürfen. Ich glaube, Europa hat eine große Chance, wir müssen es nur richtig machen. Gibt es also doch noch Hoffnung, von den „Vereinigten Schulden von Europa“, wie Sie sie in Ihrem Buch nennen, vielleicht irgendwann einmal zu den Vereinigten Staaten von Europa zu gelangen?Ich würde mir die Konföderierten Staaten von Europa wünschen. Oder ein Europa der Regionen. Ein Europa von unten, das die Bürger mitnimmt. Weg von einer zentralistischen Gesellschaft hin zu einer dezentralisierten. Zurzeit erleben wir das im Informations- und Energiebereich. Das gleiche werden wir auch im Bereich der Politik erleben. Die Menschen haben keine Lust mehr auf die alten Strukturen, haben keine Lust mehr, nur alle vier Jahre die Hand zu heben. Sie sind politisch und wollen sich zielgerichtet einsetzen, haben aber keine Lust auf eine lange Parteikarriere. Die Menschen wollen sich mit Ihren Ideen und Gedanken einbringen. Das sollten wir in einem dezentralen System Europas nutzen. Am 30. April 2013 erscheint Dirk Müllers neues Buch "Showdown - Der Kampf um Europa und unser Geld" Das Interview führte Timo Stein
Timo Stein
Der Euro und eine falsche Politik sind Schuld – an den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Griechenland und der Spaltung Europas, erklärt Börsenmakler und Buchautor Dirk Müller
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wirtschaft
2013-04-30T11:30:51+0200
2013-04-30T11:30:51+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/dirk-mueller-euro-merkel-verlangt-von-den-nachbarn-das-gegenteil-ihrer-politik/54316
Populismus - Eine Stimmung ist noch keine Stimme
Viel wurde in den vergangenen Monaten über „Rechtspopulismus“ diskutiert – rasant und unaufhaltsam erschien sein Aufstieg in der westlichen Welt. Angefangen beim britischen Referendum zum EU-Austritt, den Präsidentschaftswahlen in den USA und der italienischen Volksabstimmung über die Verfassungsänderung. Dann die Wahlen in den Niederlanden, kürzlich die im Saarland, demnächst in Nordrhein-Westfalen, und nicht zu vergessen die anstehenden Urnengänge in Frankreich und schließlich die Bundestagswahlen. Und das alles zusätzlich angeheizt von polarisierendem Sperrfeuer aus Ankara und Moskau und dem islamistischen Terror. Vieles schien darauf hinzudeuten, dass das europäische Superwahljahr 2017 zu einem Siegeszug rechter und nationalistischer Parteien werden würde. Doch schauen wir uns im Frühjahr 2017 in Europa um, so fällt die Analyse ein wenig anders aus. Der Siegeszug der Protestparteien ist ebenso ins Stocken geraten wie der „Schulz-Zug“. Dieser soll die SPD aus dem Stimmungstief ohne Zwischenstopp in die Regierungsverantwortung bringen mitsamt ihrem aus Europa nach Berlin beorderten Kanzlerkandidaten. Weder Verkünder einer rosigen Zukunft noch Warner vor dem unmittelbar bevorstehenden Untergang schaffen es derzeit, Wähler in großer Zahl für sich zu gewinnen. So geschieht etwas, was man lange Zeit nicht mehr hatte: Es gehen mehr Menschen zur Wahl, aber sie tendieren vergleichsweise selten zu Protestwahlen. Tatsächlich wählen sie zumeist etablierte Parteien, allerdings ohne dass sich hieraus eine neu erwachsene Begeisterung ablesen lassen könnte. In den Niederlanden war dies sehr deutlich sichtbar. Alle beteiligten politischen Kräfte stilisierten die Parlamentswahlen Mitte März zu einem zukunftsentscheidenden Kampf zwischen dem Guten – dem amtierenden rechtsliberalen Premierminister Mark Rutte – und dem Bösen – Geert Wilders von der „Partij voor de Vrijheid“. Doch die niederländischen Wähler entzogen sich dieser Zuspitzung und fügten beiden Seiten eine empfindliche Niederlage zu: Die regierende Koalition aus Rechtsliberalen und Sozialdemokraten verlor die Hälfte ihrer Parlamentssitze. Doch selbst davon konnte die Wilders-Partei kaum profitieren. Schon dieses Wahlergebnis macht deutlich: Die Unzufriedenheit mit dem Status quo führt nicht automatisch dazu, dass die Menschen scharenweise nationalistischen oder fremdenfeindlichen Parteien die Bude einrennen. Die Landtagswahl im Saarland bestätigt diesen Trend offenbar. Auch hier konnten weder vollmundige Hoffnungsmacher noch schwarzmalende Angstmacher groß auftrumpfen. Der von der Bundes-SPD „Schulz-Effekt“ fiel dem eilig „Kramp-Karrenbauer-Effekt“ zum Opfer, benannt nach der amtierenden und bestätigten Ministerpräsidentin. Und auch der „Alternative für Deutschland“ blieb nichts anderes übrig, als ihr maues Abschneiden an der Saar als nicht repräsentativ für die ganze Nation zu relativieren. Vom „rechtspopulistischen Aufbruch“ war jedenfalls nichts zu spüren. Seit den Bundestagswahlen im Jahr 2013, bei denen die AfD im Saarland mit 5,2 Prozent noch überdurchschnittlich punktete, hat sie gerade einmal einen einzigen Prozentpunkt hinzugewonnen – trotz einer stark polarisierten gesellschaftlichen Stimmung und einer großen Verdrossenheit gegenüber den etablierten Parteien im Bundestag und insbesondere gegenüber der Großen Koalition in Berlin. Was die derzeitigen Umfragen wie auch das Ergebnis im Saarland zudem offenbaren: Auch den Grünen gelingt es derzeit nur sehr schwer, Menschen für sich zu begeistern. Mit ihrer altbekannten Mischung aus grün-misanthropischem Alarmismus und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Umsteuerns, bis in das Privatleben hinein, kommen sie momentan kaum von der Stelle – im Saarland sogar nicht einmal mehr in den Landtag. Ganz offensichtlich steckt auch die grüne Variante des Alarmismus in einer Popularitätskrise. Wie ist diese doch recht gering ausfallende Zustimmung zu Protest- und Anti-Parteien zu erklären? Erleben wir eine neue Hinwendung zum politischen Mainstream? Zumindest kann man feststellen, dass die Wähler auf künstliche Zuspitzungen recht gelassen reagieren. Sie lassen sich nicht so einfach provozieren: Parteien, die offen alarmistisch und rigoros argumentieren, erhalten ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl weniger Zuspruch als erwartet. Gleichzeitig bleiben die Bürger aber auch skeptisch gegenüber Heilsversprechen. Zwar kann die SPD mit einem frisch gekürten und als „neu“ und „authentisch“ geltenden Kanzlerkandidaten mehr Sympathiepunkte auf sich vereinen als ohne einen solchen – es wäre aber auch seltsam, wenn nicht. Hier werden die nächsten Monate zeigen, ob die schon jetzt ohrenbetäubende inhaltliche Stille der bisherigen Auftritte von Martin Schulz ein Dauerzustand bleibt oder ob noch politischer Proviant aufgeladen wird. Ist das Ausbleiben der befürchteten populistisch geprägten Wählerrevolte ein Anzeichen einer schon wieder einsetzenden Politikverdrossenheit? Wohl kaum, denn die Wahlbeteiligung bleibt hoch. Dies deutet eher darauf hin, dass die Wähler sehr viel reifer sind und sehr viel gründlicher über ihre Wahlentscheidungen nachdenken, als so mancher Experte oder Politiker annimmt. Sie sind eben nicht durch ein paar flotte, freche und kecke Sprüche zu verführen und zu radikalisieren, wie angenommen. Dies wäre eine Schlussfolgerung, die der Politik nicht nur Deutschland angesichts der Bundestagswahl, sondern auch Europa gut zu Gesicht stünde. Die Menschen sind nicht nur wenig anfällig für politische Clowns und Scharfmacher, sie reagieren auch empfindlich darauf, wenn man ihnen genau das vorwirft. Besonders empfindlich reagieren die Wähler beim Thema „EU“. Viele wählen gegen die als überbordend empfundene EU-Regulierungswut und die Beschimpfungen aus Brüssel. Die werden immer dann laut, wenn mal wieder eine Volksabstimmung zu einer kleinen Abrechnung mit den EU-Bürokraten geraten ist. Die Bereitschaft, den Stimmzettel zum Denkzettel zu machen, ist weiterhin groß. Aber, und das ist die gute Nachricht, es braucht mehr, um in Europa im Jahr 2017 große Teile der Wählerschaft hinter sich zu vereinen. Die Offenheit für Alternativen ist zweifellos gestiegen, diese müssen aber auch fundiert sein, wenn sie Stimmungen in Stimmen umwandeln wollen. Derzeit gelingt das nicht. Auch die Demoskopen müssen lernen, die derzeitige Situation neu einzuschätzen. Umfragen erfahren zunehmend Beachtung und die Befragten nutzen sie bewusst, um ein Zeichen zu setzen. Ein Denkzettel per Umfrageergebnis hat auf die Politik einen größeren Einfluss als jedes andere bürgerschaftliche Handeln. Dass die Wahlergebnisse die Demoskopen zuletzt häufiger überraschten, zeigt, dass die erfragte Stimmungslage nicht unbedingt in der Wahlkabine obsiegt. Vor allem dann nicht, wenn keine überzeugende Alternative am Start ist. Als Entwarnung sollten Merkel & Co. die vergangenen Wahlen also eher nicht sehen. Die Menschen wählen allein deshalb weiterhin vorrangig Etablierte, weil sie die inhaltliche Leere der angebotenen Alternativen durchschauen. Eine neu entfachte Liebe ist das nicht.
Matthias Heitmann
Kolumne: Schöne Aussicht. Die vergangenen Wahlen zeigen: Weder Verkünder einer rosigen Zukunft noch Warner vor dem bevorstehenden Untergang schaffen es, Wähler in großer Zahl für sich zu gewinnen – sind die Etablierten zu stark oder die Alternativen zu schwach?
[ "wahlen", "rechtspopulismus", "Wähler", "Umfragen" ]
außenpolitik
2017-03-31T12:20:17+0200
2017-03-31T12:20:17+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/populismus-Eine-Stimmung-ist-noch-keine-Stimme
Interview mit Park Chan-Wook - „Regimewechsel reicht nicht“
Eigentlich lief es von Anfang an nicht so richtig gut. Das Interview sollte in einem so genannten Penthouse-Studio am Potsdamer Platz stattfinden. Unten in der Lobby stehen drei sehr kleine Asiaten, und warten auf irgendetwas. Als sich die Aufzugtüre mit einem „Ping“ öffnet, beeilt sich der Reporter einzusteigen, um rasch in den 8. Stock zu gelangen, pünktlich zum Gespräch mit Park Chan-Wook. Quentin Tarantino zählt den südkoreanischen Filmemacher zu seinen Lieblingsregisseuren, in Cannes bekam er 2004 den Jurypreis für sein Racheopus „Oldboy“ und 2009 noch einmal für den Vampirfilm „Durst“. Auf der Berlinale stellt er jetzt als Produzent die tolle Science-Fiction Dystopie „Snowpiercer“ vor. Also nichts wie hoch. Durch die sich schließenden Aufzugtüre sieht man die davor stehengebliebenen Asiaten, sie waren zu langsam, nun winken sie. Ein paar Minuten später sind sie wieder da. Sie kommen durch die Penthouse-Türe. „Director Park“ sagt der eine mit vorwurfsvoller Miene, und weist betrübt auf den kleinsten von ihnen. Der deutet eine Verbeugung an. Verdammt noch mal. Ich freue mich Sie kennenzulernen.Der Regisseur sagt nichts, er lächelt nur. Stattdessen redet der nun neben ihm sitzende Mann plötzlich auf Koreanisch auf ihn ein. Park Chan-Wook - das hatte man gar nicht erwartet - spricht offenbar kein Englisch, das Interview wird gedolmetscht. Was dabei heraus kommt, ist eher kein Gespräch, es sind mehr haarscharf am Thema der Fragen vorbeigehende Monologe des Regisseurs, sehr leise vorgetragen, mit aneinandergelegten Fingerspitzen und weitestgehend ausdruckslosem Gesicht. Eigentlich sollte es ein Gespräch über Blut, Sterben und Gott im asiatischen Kino werden. Irgendwie ging es stattdessen auf einmal über Revolution und Propaganda. Und dann war plötzlich die Zeit um. „Snowpiercer“ wurde nicht von Ihnen, sondern von ihrem Freund Bong Joon-ho gedreht. Wieviel Park Chan Wook steckt in dem Film?Während der Skriptentwicklung haben wir viel diskutiert, und ich bin viele Ideen losgeworden. Vielleicht hat Bong Joon-Ho sich hie und da inspirieren lassen. Aber eigentlich bestand meine Aufgabe darin, das Geld aufzutreiben und die Dreharbeiten zu organisieren. Spezifische Szenen wollte ich gar nicht beeinflussen. Es gibt in „Snowpiercer“ ja diese Szene, in der Schergen der Ministerin mit Äxten auf die Revolutionäre losgehen. In Korea wurde viel darüber diskutiert, dass diese Szene stark an die Szene in Oldboy erinnert, in der ein Mann sich mit einem Hammer durch einen ganzen Flur von Typen kämpft. Aber glauben sie mir, das ist reiner Zufall. Jedenfalls ist „Snowpiercer“ – wie Ihre früheren Filme - wieder ein Rachefilm, zumindest im weiteren Sinne. Eine unterdrückte Mehrheit will Gerechtigkeit und Vergeltung von der Oberschicht und holt sich beides mit Gewalt. Was macht das Motiv der Rache eigentlich so wichtig für sie?Wir kommen aus der selben Generation, Bong Joon-ho und ich. Aus einer Zeit, in der die politische Studentenbewegung in Südkorea auf dem Höhepunkt war. In den 80er Jahren haben wir gemeinsam gegen die Militärdiktatur gekämpft, das macht uns zu Gesinnungsgenossen. „Snowpiercer“ ist der direkteste Ausdruck unserer gemeinsamen Erfahrung: Eine herrschende, autoritäre Klasse, und die revolutionäre Bewegung, die gegen sie kämpft. Das Ziel der Rebellion ist die Quelle der Macht, der Maschinenraum. Sie glauben, sie könnten ihre Probleme durch einen simplen Machtwechsel lösen. Aber wir erleben im Film, dass ein Regimewechsel alleine nicht reicht. Das System muss gesprengt werden! Das alles reflektiert die jüngere, südkoreanische Geschichte. Obwohl die Militärdiktatur durch eine demokratische Regierung abgelöst wurde, hat sich die Schere zwischen arm und reich noch weiter geöffnet, ganz wesentliche Probleme sind weiterhin ungelöst. Eine wirkliche Revolution erfordert eben radikales Umdenken. Und sie planen jetzt den Systemsturz in Südkorea?Ich möchte keine Methoden zur Systemzerstörung vorschlagen, auch wenn man mich nach „Snowpiercer“ für einen Anarchisten halten könnten. Aber ist es nicht das Privileg von Künstlern, mit progressiven Ideen herumzuspielen? Nur weil ich etwas zeige, heißt das noch lange nicht, dass ich es auch propagiere. Sie selber sind ja nicht nur Künstler, sie machen auch Politik, als aktives Mitglied der Demokratischen Arbeitspartei in Südkorea. Lassen sich diese Rollen überhaupt trennen, Filmemacher und Politaktivist? Und wenn sie sich vermischen, ist das gut oder schlecht?Ja, ich bin Mitglied einer progressiven Partei, genau wie Bong Joon-ho. Aber unser Engagement geht nicht weiter, als hier und da mal eine Petition zu unterschreiben, und unsere Namen für Kampagnen zur Verfügung zu stellen. Ich würde mich also nicht wirklich einen Aktivisten nennen. Würden Sie sich denn als Sozialisten bezeichnen?Der Dirigent Claudio Abbado hat einmal gesagt: „Ich wähle die Kommunisten nicht, weil ich selber Kommunist bin, sondern weil sie die Einzigen sind, die eine Chance gegen die Faschisten haben.“ Ich bin Künstler, und darf politische Ideen haben. Aber ein Künstler muss mit seiner politischen Vision eben über den gewöhnlichen Rahmen praktischer Politik hinausgehen. Genau wie sie als Künstler immer in der Lage sein müssen, die Partei oder Strömung zu kritisieren, der sie politisch selber angehören. Und ein Künstler darf keine Angst davor haben, den eigenen Kopf für seine Ideen hinzuhalten, ganz egal für wie gefährlich diese gehalten werden. Nur so kann ein Künstler die Politik inspirieren und stimulieren. Wo zieht man als Künstler denn die Linie zwischen politischer Inspiration und politischer Manipulation? Wo endet die Stimulation, wo beginnt die Propaganda?Wenn Kunst als manipulativ wahrgenommen wird, hat sie ihr Ziel verfehlt. Und der künstlerische Ausdruck von dem ich spreche, würde nicht als manipulativ wahrgenommen werden, sondern eben wie gesagt als inspirierend. Kunst muss über Politik hinausgehen. Was genau meinen sie denn damit?Um ihnen ein Beispiel zu geben: Nehmen sie zwei Filme von Oliver Stone, „JFK“ und „Nixon“. In „JFK“ säht der Regisseur Ideen im Publikum, und steuert es schließlich in eine ganz bestimmte, politische Richtung. „Nixon“ dagegen ist einfach nur die Studie eines bemitleidenswerten, erbärmlichen Menschen. Er behält sich eine ganz objektive, nüchterne Sicht bei, er verzichtet völlig darauf dem Publikum irgendwelche Meinungen überzustülpen. „Nixon“ hat viel mehr Tiefe, gibt dem Zuschauer viel mehr zu denken auf den Weg als „JFK“, er ist eben inspirierender. Aber wie schützt man sich als Filmemacher denn vor der Versuchung, das Publikum von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen? Letztes Jahr beispielsweise, zeigte der chinesische Regisseur Zhang Yimou den Film „Flowers of War“ mit Christian Bale auf der Berlinale, und hat sich dabei so angestrengt, uns von seiner politisch-historischen Sicht der Dinge zu überzeugen, dass es schwer zu ertragen war. Passiert einem so etwas als politisch engagierter Künstler nicht früher oder später zwangsläufig?Naja, als Koreaner ist mir die Geschichte des Japanischen Imperialismus wohlbekannt, wir haben unter der Hand der Japaner gelitten, genau wie die Chinesen. Ich wusste, dass mich das Thema wütend und traurig machen würde, bevor ich in den Film ging. Aber irgendwas hat mich im Kino dann blockiert, da ging es mir wie ihnen. Am Ende ist es als Filmemacher glaube ich entscheidend, ob man mit einer Agenda in ein Projekt geht, oder nicht. Ob man das Publikum zu etwas drängen will, oder nicht. Ob man ein Statement loswerden will, oder nicht. Alles hängt von dieser ersten Einstellung ab. Sind sie eigentlich religiös?Ich bin katholisch aufgewachsen. Heute bin ich Atheist. Danke sehr für das Gespräch!
Constantin Magnis
Der koreanische Kultregisseur Park Chan-Wook sollte über Rache, Blut und Gott sprechen. Stattdessen sprach er über Pläne für die nächste Revolution. Ein gedolmetschtes Interview mit Tücken
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kultur
2014-02-12T12:02:53+0100
2014-02-12T12:02:53+0100
https://www.cicero.de//kultur/berlinale-regimewechsel-reicht-nicht/57028
Vertrauensfrage erst im Januar? - Olaf Scholz nimmt Deutschland als Geisel – und die Ukraine
Das hat es noch nicht gegeben in der Geschichte der Bundesrepublik: Ein Bundeskanzler wirft effektiv eine Partei aus seiner Koalition, ohne alternative Mehrheitsoptionen gesichert zu haben – und weigert sich zugleich, umgehend die Vertrauensfrage zu stellen. Doch was wie irrationales Handeln im Affekt wirken mag, hat offenkundig Methode: Wir erleben eine politische Geiselnahme mit sorgfältigem Kalkül. Schon lange wird über einen Bruch der Ampel oder eine Vertrauensfrage des Kanzlers spekuliert. Doch bisher kam nichts davon. Dass dies ausgerechnet diesen Mittwoch der Fall war, kann man kaum als Zufall verbuchen. Die Grünen haben diesen Schritt offenkundig nicht herbeigesehnt. Die FDP hingegen wollte ein vorzeitiges Ende der Regierung. Doch die Liberalen hatten es dabei auf eine geordnete Abwicklung nach den üblichen demokratischen Gepflogenheiten angelegt, mit zuvor beschlossenem Haushalt und Regierungsmehrheit bis zur Neuwahl. Es war Olaf Scholz und – so muss man vermuten – seine SPD, die den großen Knall genau so und genau zu diesem Zeitpunkt wollten. Genau so heißt: Dem Land eine Minderheitsregierung aufzuzwingen, die so niemand wollte und für die sich auch in den beteiligten Parteien kein Gremium entschieden hat. Eine Minderheitsregierung des Chaos somit, die kaum handlungsfähig ist. Genau zu diesem Zeitpunkt heißt: Scholz wartete für diesen Schritt eine sehr spezifische Konstellation ab, obschon es an Anlässen auch vorher nicht gemangelt hätte. Die deutsche Wirtschaft rutscht tiefer in die Rezession. Die Ukraine ist auf dem Weg, den Krieg zu verlieren. Die Sondierungen von CDU, SPD und BSW sind in Sachsen geplatzt und stehen in Thüringen auf der Kippe. Und Donald Trump hat die Wahl gewonnen und wird wohl in beiden Kammern durchregieren können – was weniger US-Unterstützung für die Ukraine und weitere, zollbedingte Rückschläge für die deutsche Wirtschaft bedeutet. Eben diese Konstellation bietet dem Kanzler das maximale Potenzial bietet, die Union zu erpressen: Ohne handlungsfähige Regierung und vor allem ohne Haushalt gibt es einerseits keine Erleichterungen für die deutsche Wirtschaft, die somit regelrecht abzustürzen droht – und andererseits keine Hilfen für die Ukraine, die somit keinerlei Chance mehr hätte, wenn sie nach ihrem wichtigsten auch ihren zweiwichtigsten Geldgeber verliert. Und somit erkennen wir den Grund, weshalb Olaf Scholz weder aus einer Regierungsmehrheit heraus Neuwahlen vorbereiten wollte, noch bereit ist, direkt nach dem selbstgewählten Verlust seiner Mehrheit die Vertrauensfrage zu stellen: Der Kanzler legt es ganz bewusst darauf an, das Land zu einem der verwundbarsten Zeitpunkte der Nachkriegsgeschichte mindestens 5 Monate als Minderheitsregierung zu führen. Sein Ziel dabei: Ohne Mehrheit und Debatte möglichst viele Eckpunkte für seine SPD einrammen und der Union bis zu Neuwahlen maximalen Schaden zufügen. Von nun an werden wir folgendes erleben: Scholzens „Regierung ohne Land“ legt dem Parlament Gesetzespakete vor, die lebensnotwendige Hilfen für die deutsche Wirtschaft und für die Ukraine untrennbar verbinden mit für alle Parteien außer den Grünen untragbaren SPD-Wunschprojekten. Dann lehnt er sich zurück und orchestriert großes mediales Theater, wie nach dem Verrat der treulosen FDP ohne die Union nun einmal nichts ginge und es einzig und allein an Friedrich Merz läge, ob die deutsche Wirtschaft abstürze und die Ukraine an Russland falle. Wollen Merz und seine Union nicht monatelang gerade bei zwei ihrer wichtigsten Anliegen vom Kanzler als egoistische Bremser und Blockierer vorgeführt werden, bleiben ihnen nur zwei Möglichkeiten – bei denen die CDU nur verlieren und die SPD nur gewinnen kann: Möglichkeit eins ist, die für die Union toxischen Gesetzespakete mitzutragen, um aus staatspolitsicher Verantwortung die Wirtschaft und die Ukraine zu stützen. Dann steht Merz als politischer Kastrat da und könnte sogar innerhalb der Union den Rückhalt verlieren. Die SPD würde wohl kaum noch weiter verlieren, weil sie zumindest Handlungsfähigkeit simuliert, die CDU würde dagegen abschmieren. Die FDP wäre ohnehin raus und die Grünen würden nun nicht mehr benötigt. Einer geschwächten Union bliebe nur schwarz-rot. Möglichkeit zwei ist, Scholz kurzfristig mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zu stürzen und sich selbst zum Kanzler küren zu lassen. Hierfür müsste sich Merz neben der FDP von der AfD und mehreren fraktionslosen Abgeordneten oder dem BSW wählen lassen. Damit hätten SPD und Grüne ein Wahlkampf- und Mobilisierungsthema zum Träumen: Millionen Demonstranten auf der Straße, geeint unter #niewiederistjetzt-Bannern gegen Merz als Zerrbild eines deutschen Boris Johnson, der sich mit Radikalen an die Macht putscht. Das wäre das vermutlich Einzige, das die miserablen Werte von SPD und Grünen zur Neuwahl deutlich nach oben bringen könnte. Unsere Institutionen kennen auf dieses Maß an Skrupellosigkeit keine Antwort: Dass ein Bundeskanzler unter völliger Missachtung seines Amtseids das Land (und die Ukraine) als Geisel nehmen könnte für den eigenen Wahlkampf haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes offenbar für undenkbar gehalten. Sonst hätten sie dem Parlament die Möglichkeit zur Selbstauflösung gegeben oder dem Bundespräsidenten die Befugnis, eine Regierung, die keine Mehrheiten organisieren kann, nach gesetzter Frist zu entlassen und Neuwahlen anzuordnen. Diese Regelungslücke – und natürlich den Fakt, dass mit Steinmeier ein höchst parteiischer SPD-Kumpel Schloss Bellevue bewohnt – nutzt Olaf Scholz ohne Zögern aus. Wie man es vielleicht erwarten muss von jemandem, der bereits den größten Akt von Finanzkriminalität der deutschen Geschichte decken konnte, ohne Schaden zu nehmen … so tapsig, wie er meist dargestellt wird, war Scholz nie. Wie gehen wir nun mit einer solchen Situation um? Die einzige Handhabe, die Wirtschaft und Bevölkerung aktuell haben, ist der SPD auf allen Ebenen unmissverständlich klarzumachen, dass sie politisch in Rekordzeit in den Orkus geschickt wird, wenn sie diese Geiselnahme auch nur einen Monat weiter deckt. Nur ein Aufbegehren der Wähler, Parteimitglieder und Abgeordneten – letztere mit Aussicht auf das endgültige Ende ihrer politischen Karriere – kann wohl ein Umlenken bewirken. Zugleich ist zu erwarten, dass die AfD als „unbelastete“ (vermeintliche) Alternative zu diesem Irrsinn in neue Rekordhöhen katapultiert wird und womöglich sogar einen Weg zu Regierungsbeteiligungen finden kann. Womit Scholz in die Geschichte der Sozialdemokratie einen echten Sargnagel eingeschlagen hätte.
Jan Schoenmakers
Olaf Scholz setzt gezielt die deutsche Wirtschaft und das Überleben der Ukraine aufs Spiel, um für die SPD die Schäfchen ins Trockene zu bringen und der Union so viel Schaden wie möglich zuzufügen. Die Vertrauensfrage darf nicht erst im Januar gestellt werden.
[ "Ampelkoalition", "Olaf Scholz", "Friedrich Merz", "CDU/CSU" ]
innenpolitik
2024-11-08T13:55:13+0100
2024-11-08T13:55:13+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/vertrauensfrage-olaf-scholz-deutschland-als-geisel-und-die-ukraine
Energie-Union gegen Russland - Europas größtes Friedensprojekt
Energiepolitik und Sicherheitspolitik gehören eng zusammen. Das merken wir seit Ausbruch der Ukraine-Krise. Und es sagt sich leicht, diese Erkenntnis wäre neu. Weil uns wegen der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas die Bedrohung durch Russland erst richtig klar geworden sei. Doch genau diese Einsicht von einseitiger Bedrohung ist der Urgedanke der Europäischen Union. Fast auf den Tag genau vor 65 Jahren entstand sozusagen die Keimzelle der heutigen EU. Der Westen hatte begriffen, dass sich der vormalige Partner, mit dem man gemeinsam den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte, zu einer bedrohlichen Imperialmacht gegen die einstigen Alliierten wandelte: Die Sowjetunion wollte eben nicht zulassen, dass sich Staaten in ihrer Einflusssphäre freiwillig für ein Wertesystem entscheiden. Der „Kalte Krieg“ herrschte nun unübersehbar. Nach der Berlin-Krise, also der versuchten Landnahme ganz Berlins durch den Kreml, war es der UdSSR im Herbst 1949 erstmals gelungen, erfolgreich eine Atombombe zu testen. In Moskau herrschte von da an auch eine Atommacht, wie sie die USA bereits seit Hiroshima war. Die Bundesrepublik Deutschland war gerade gegründet – und galt den Amerikanern als „Frontstaat“. Frankreich machte einen Schritt, der als sehr wagemutig galt, aber reinste Realpolitik war. Am 9. Mai 1950 gab der französische Außenminister Robert Schuman eine Regierungserklärung, die sein Planungschef Jean Monnet ganz wesentlich formuliert hat: „Es geht nicht mehr um leere Worte, sondern um eine mutige Tat“, hieß es darin schon einleitend sehr eindeutig. Die Rede kündigte an, wohin die Reise gehen soll: „Damit der Frieden eine echte Chance hat, muss es zuerst ein Europa geben.“ Es folgte die Ankündigung, dass die bis dahin bis aufs Blut verfeindeten Nachbarn Frankreich und West-Deutschland fortan ihre Kohle- und Stahlproduktion unter gemeinsame Aufsicht stellen. Das war der Schuman-Plan, aus dem die Montanunion entstand, also die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, aus der wiederum am Ende die Europäische Union gewachsen ist mit ihren nunmehr 28 Staaten. Die Keimzelle der EU war also eine Ressourcen-Gemeinschaft, es ging um Energie. Und genau diese Notwendigkeit wird nun wieder gesehen, mehr noch: Eine Energie-Union ist beschlossene Sache. Der Titel des Energie-Kommissars ist inzwischen Energie-Unions-Kommissar. So wird der Slowake Maroš Šefčovič, der den Posten von Günther Oettinger übernahm, korrekt bezeichnet. Begeistert stellt Šefčovič seine Pläne vor wie jüngst in Berlin auf dem Energy Security Summit 2015 der Münchner Sicherheitskonferenz und des Frankfurter Allgemeine Forum. Der Kommissar warb dort für einen Zusammenschluss des europäischen Energiemarkts. Im Kern geht es darum, dass es keine Geheimverhandlungen über Gasverträge mehr geben solle mit dem Hauptlieferanten Russland. Im Extremfall sollte der Gaseinkauf dort gebündelt werden. Damit Gazprom seine europäischen Kunden aber nicht mehr so unterschiedlich behandeln könne wie bisher. Die EU bezieht ein Drittel ihres Gases aus Russland. Die Hälfte davon fließt durch die Ukraine. Deshalb ist der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine für die ganze EU wesentlich. Denn liefert Russland kein Gas mehr, weil die Ukraine nicht zahlt, oder weil sie sich am Gas bedient, kann es auch bei den EU-Kunden kalt bleiben. „Eine sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energieversorgung lässt sich mit einem europäischen grenzübergreifenden Ansatz einfacher, schneller und billiger erreichen als rein national“, preist Šefčovič die Zukunft einer Energie-Union. Die Idee dazu hatte allerdings ein anderer Osteuropäer. Vor einem Jahr hat Polens damaliger Regierungschef Donald Tusk den Vorschlag einer Energie-Union nach dem Vorbild einer Banken-Union gemacht. Denn der Gaspreis an Russland differiere um 400 Prozent in den verschiedenen Staaten der EU; Polen bezahle besonders viel. In einer Energie-Union sollte der Preis, so Tusks Überlegung, einheitlich sein, weil die EU eben dann als ein gemeinsamer Kunde aufträte. Inzwischen ist Tusk EU-Ratspräsident und sein Vorschlag nimmt Gestalt an. Bis zum Ende dieser EU-Legislaturperiode 2019 sollen alle Gesetze dazu beschlossen sein und spätestens 2030 eine Energie-Union laufen. Anfangs war vor allem Deutschland wenig begeistert: Bislang wird es preislich vergleichsweise milde vom großen Gas-Verkäufer Russland behandelt. Im Konflikt mit der Ukraine gibt es jedoch eine Arbeitsteilung, was erklärt, warum Berlin Tusks Vorhaben akzeptiert: Um die langfristige Ausrichtung der europäischen Energiepolitik kümmert sich die EU als Ganzes – siehe Energie-Union. Deutschland verlangt hier nur, dass diese Union auf Freiwilligkeit fuße – so war es übrigens auch bei der Montanunion. Um möglichst bald Frieden in der Ostukraine zu erlangen, kümmert sich eine weitaus kleinere Gruppe: das sogenannte Normandie-Format. Die heißt so, weil sich in der französischen Normandie zum Weltkriegs-Gedenken vor einem Jahr die Staatslenker aus Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland erstmals seit Ausbruch der Ukraine-Krise wieder getroffen haben. Für die anderen in der EU ist es nicht immer einfach zu erklären, dass dieses Quartett hauptsächlich allein verhandelt, maßgeblich unter deutscher Führung. Aber EU-Ratspräsident Tusk selbst rechtfertigte das kürzlich so: „Wir brauchen eine effektive Diplomatie, um zwei Risiken zu vermeiden: Krieg oder Kapitulation.“ Der Aufbau einer Energie-Union könnte Ähnliches leisten. Am Ende könnte sie sogar das gegenwärtige Blockdenken und damit den neuen „Kalten Krieg“ überwinden. Denn russische Energiepolitiker sprechen bereits von etwas weit größerem: einem Pan-Eurasischen Energie-Bündnis. Also eines nicht gegen, sondern mit Russland. Denn Energie sei die wichtigste Ressource Russlands, sagt Iwan Gratschow, der Vorsitzende des russischen Staatsduma-Energieausschusses. Und wörtlich: „Wir müssen ein attraktiver Staat sein, der seiner Partnern Energie-Sicherheit garantiert.“ Insofern könnte diese nun geplante künftige Energie-Union – um Robert Schumanns Worte zu wiederholen – „dem Frieden eine echte Chance geben“.
Wulf Schmiese
Die EU will weiter zusammenwachsen gegen Russland: Eine Energie-Union soll entstehen. Dieses Vorhaben ist keineswegs neu, sondern stand ganz am Anfang der europäischen Idee – genau vor 65 Jahren. Am Ende könnte ausgerechnet die Energie-Union den neuen „Kalten Krieg“ überwinden
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außenpolitik
2015-05-13T14:04:47+0200
2015-05-13T14:04:47+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/europas-energie-union-ein-friedensprojekt/59254
„Der Bruder” von David Albahari - Die Welt ist eine Falle
Auf einmal ist nichts mehr so, wie es einmal war: Die Vergangenheit erscheint in neuem Licht, die Gegenwart verrätselt sich, und die Zukunft – das ist spätestens am Ende des Buches klar – wird für immer von den Ereignissen dieser Tage überschattet sein. Zunächst ist es nur ein Brief, der einem serbischen Schriftsteller in Belgrad zugestellt wird. Er lebt in einer mit alten Möbeln zugestellten, düsteren Wohnung, in der er sich nach der Trennung von seiner Frau, einer Frauenärztin, vergraben hat. Als Buchautor hat er es mit dem autobiografischen Roman „Das Leben eines Verlierers” zu einigem Ansehen gebracht. Darin schilderte er den frühen Tod seiner Schwester, den Verlust der Eltern, seinen Alkoholismus und seine Einsamkeit. Der Brief ist unterzeichnet mit „Dein Bruder Robert”, doch von einem Bruder hat er bis dahin nichts gewusst. Es sieht so aus, als müsse er seine Autobiografie neu schreiben. Filip heißt dieser Schriftsteller, der für den 1994 nach Kanada emigrierten jüdischen Serben David Albahari vielleicht so etwas ist wie eine zurückgelassene, aufgegebene Existenzmöglichkeit. Die in sich selbst vergrabene Existenz eines Mannes, der sich nur als einen Gescheiterten wahrnehmen kann, wäre womöglich auch sein Schicksal gewesen, wenn er im Land geblieben wäre. Doch die zunehmende Zwangspolitisierung seiner Arbeit und seines Lebens, die nationalistischen Frontstellungen, die ihm keinen Freiraum mehr ließen, haben ihn gezwungen, Serbien zu verlassen. Dessen Geschichte wie diejenige des Balkan hat ihn dennoch nicht losgelassen. In seinen Büchern setzt der Schriftsteller sich weiterhin mit dem Krieg und dessen Folgen, aber auch mit dem Leben im Exil auseinander. So wird der in Belgrad zurückgebliebene Filip im neuen Roman nun mit einem Bruder konfrontiert, der im Ausland lebt. David Albahari erzählt die Geschichte dieser Brüder allerdings merkwürdig umwegig und stockend. Filip berichtet sie einem befreundeten und offenbar erfolgreicheren Schriftsteller, und der wiederum ist es, der Filips verstörten Monolog in indirekter Rede wiedergibt, mit allen Abschweifungen, Brüchen und Verzögerungen. Es dauert schon recht lange, bis Filip den Brief des Bruders überhaupt einmal öffnet, bis er die richtige Sitzposition gefunden hat und die wenigen Sätze zu lesen beginnt. Sofort schieben sich Erinnerungen an die Familie dazwischen und damit auch der Schmerz über eigene Versäumnisse. „Wenn er gut überlege, sagte er, habe er die Eltern nach fast nichts gefragt, denn wir lebten so, als würden wir ewig leben und bedächten nicht, dass die Welt eine große Falle ist, die danach trachtet, uns das Leben auf jede erdenkliche Weise zu verkürzen, aber wenn das geschähe, sei es bereits zu spät.” Wie wahr diese Worte sind, zeigt sich erst im weiteren, dramatischen Verlauf, in dem der Bruder tatsächlich in Erscheinung tritt. Das „Brioni”, in dem die Begegnung stattfindet, war früher eine finstere Absturzkneipe, in der Filip seine Alkoholexzesse durchlebte. Jetzt ist es zu seinem Erstaunen zu einem hell ausgeleuchteten Edelrestaurant geworden. Schubweise, stockend, das eigene Entsetzen mit minutiösen Schilderungen überspielend, setzt Filip seinen Bericht fort. Der Bruder, der zunächst mit dem Hinweis auf eine Arbeit über Phantasie und Fakten bei Jorge Luis Borges sowie weiteren recht dicken Büchern Eindruck schindet, offenbart sich dabei mehr und mehr als ein höchst eigenartiges Wesen, das mit schrillem Gelächter, trommelnden Fäusten, manischen Ausbrüchen und auf die Tischplatte gelegter Stirn die Gäste im Restaurant gegen sich aufbringt. Seine Verstörung resultiert, wie könnte es anders sein, aus der Familiengeschichte, glaubt er doch, als Säugling von den Eltern verkauft worden zu sein. Trotzdem ist es nicht nur für Filip ein Schock, als der Bruder nach längerer Abwesenheit in Frauenkleidern, grell geschminkt, zurückkehrt. Familienverhältnisse sind bei Albahari immer Spiegelbilder der gesellschaftlichen Zustände. Auch die beiden Brüder, die nicht zueinander finden können, sind Hälften einer zerbrochenen Identität, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Der in der Heimat Gebliebene hat andere Traumatisierungen und Verstrickungen zu verarbeiten als der, der sich in der Fremde behaupten musste. Ins Gespräch können sie noch kommen, doch gegenseitiges Verständnis ist unmöglich. Als Filip seinen Bericht schließlich abgeschlossen und die Wohnung des Ich-Erzählers verlassen hat, notiert dieser als letzte Einsicht: „Erst da erkannte ich, dass er sich wirklich verändert hatte. Solange er sprach, merkte ich das nicht, weil man sich hinter Wörtern verstecken kann wie hinter einer Spanischen Wand, wenn man hingegen schweigt, ist man ohne jeden Schutz.” So ist dieser bittere, unversöhnliche Roman ein Vorhang aus Worten, der zu verhüllen sucht, was sich nicht verbergen lässt. David Albahari: Der Bruder. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling, Frankfurt am Main 2012. 170 S., 19,95 €
Jörg Magenau
David Albahari erzählt vom Balkan der Gegenwart
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kultur
2013-02-07T10:02:07+0100
2013-02-07T10:02:07+0100
https://www.cicero.de//kultur/der-bruder-von-david-albahari-die-welt-ist-eine-falle/53372
Steven Pinker - „Ich bin kein Optimist“
Steven Pinker ist Experimentalpsychologe und hat sich auf die Forschung in den Bereichen visuelle Kognition, Psycholinguistik und Sozialbeziehungen spezialisiert. Derzeit hat er die Johnstone-Family-Professur des Fachbereichs Psychologie in Harvard inne. Zuvor lehrte er in Stanford und am MIT. Pinker hat für seine Forschungsarbeit zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Er wird in der Liste der „World’s Top 100 Public Intellectuals“ des US-Magazins Foreign Policy sowie in der Liste der „100 Most Influential People in the World Today“ des Magazins Time geführt. Woran liegt es, dass die meisten Menschen die positiven Entwicklungen unterschätzen und die negativen Entwicklungen so dramatisch überschätzen? Ein Grund dafür ist das Zusammenspiel zwischen der Natur der Kognition und der Natur des Journalismus. Menschen schätzen Risiko und Wahrscheinlichkeit anhand von Einzelberichten, Erzählungen und Bildern, die ihnen in den Sinn kommen, ein – jenem geistigen Vorgang, den Daniel Kahneman und Amos Tversky als Verfügbarkeitsheuristik bezeichnen. Im Fokus des Journalismus stehen plötzliche Ereignisse, insbesondere solche, die eher negativ als positiv sind, zum Beispiel eine Schießerei, ein Terroranschlag, eine Kampfhandlung oder eine Epidemie. Positives entfaltet sich nach und nach, in kleinen Schritten und kann die Welt verändern, ohne jemals Schlagzeilen zu machen. Dieser inhärenten Voreingenommenheit hat der Journalismus noch zwei bewusste Vorentscheidungen hinzugefügt: zum einem die programmatische Devise „Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“. Damit wird Profit aus unserem Interesse an Unglücken geschlagen. Zum anderen ein moralistisches Bekenntnis von Journalisten zur Aufgabe, Schmutz, Skandale und Korruption aufzudecken, weil dies angeblich der einzige Weg zum sozialen Fortschritt sei. Das reicht, um die verzerrte Wahrnehmung des Positiven zu erklären? Es gibt noch einen weiteren Grund, den Wettbewerb unter sozialen Gruppen, insbesondere zwischen verschiedenen Eliten. Fortschritt anzuerkennen heißt, einige Institutionen des Status quo zu befürworten – demokratische Regierung, Wissenschaft, Experten, internationale Organisationen. Mitglieder anderer Eliten hingegen prangern den Zustand der Welt an, um ihre Rivalen zu attackieren. So ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, Rivalen zu diskreditieren: Diskreditierung des Staates oder der Regierungen durch die Geschäftswelt, von der Geschäftswelt durch die Wissenschaft, von säkularen Organisationen durch Vertreter von Religionen und so weiter. In Ihrem Buch „Aufklärung jetzt“ schauen Sie oft 200 oder 250 Jahre zurück in die Geschichte. Offenbar begann damals eine sehr positive Entwicklung. Aber das sind auch genau die Jahre, in denen der Kapitalismus seinen Anfang nahm. Muss man nicht sagen, dass der Großteil der positiven Entwicklungen, die Sie beschreiben, ein Ergebnis des Kapitalismus ist? Das wäre weit hergeholt. Sicherlich gebührt dem Kapitalismus Anerkennung für die spektakuläre Zunahme des Wohlstands, den die Welt seit dem 18. Jahrhundert erlebt, was in den vergangenen 40 Jahren auch den Osten und Süden der Welt einschließt. Wohlstand bringt in der Regel auch andere positive Lebensbedingungen mit sich. Demokratie, Frieden, Bildung, Frauenrechte, Sicherheit, Umweltschutz sind nur einige Beispiele. Auch der Handel trägt dazu bei, den Frieden zwischen den Nationen zu bewahren. Die eigenen Kunden oder Schuldner zu töten ist schlecht fürs Geschäft. Wenn es billiger ist, Sachen zu kaufen, als sie zu stehlen, kommen Länder nicht in Versuchung, blutige Eroberungsfeldzüge zu führen. Und so moralisch korrumpierend das Streben nach Reichtum auch sein kann, so ist es doch oft weniger blutig als das Streben nach Ruhm für eine Nation, ein Volk oder eine Religion. Das spricht alles für den Kapitalismus. Aber der Kapitalismus kann auch an der Seite vieler Übel existieren, wie wir in autoritären Ländern sehen. Und Fortschritt war ebenso abhängig von der Wissenschaft, insbesondere von den Fortschritten im Gesundheitswesen und in der Medizin, und von den Idealen der Menschenrechte und der Gleichberechtigung, die die Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen und Menschenrechtserklärungen beflügelten. Nicht zu vergessen sind auch die Bewegungen, die zu Gesetzen zum Schutz von Arbeiternehmern und Umwelt führten, oder die staatliche Bereitstellung öffentlicher Güter wie Bildung und Infrastruktur, ferner die Sozialhilfeprogramme zum Schutz von Menschen, die keinen Beitrag für die Wirtschaft leisten können, und die internationalen Organisationen, die Zusammenarbeit zwischen den Staaten förderten und vor Krieg abschreckten. Sie kritisieren in „Aufklärung jetzt“ den Nullsummenglauben, wonach Reichtum eine begrenzte Ressource sei und die Reichen nur dadurch reich würden, dass sie den Armen etwas wegnehmen. Warum ist diese Theorie falsch und warum glauben trotzdem so viele Menschen daran? Einer der Gründe ist theoretischer Natur: Wohlstand entsteht vor allem durch Ideen, Methoden, Rezepte, Algorithmen und andere Formen von Wissen, die zu geringen oder Nullkosten reproduzierbar sind: Wenn ich jemanden lehre zu fischen, habe ich selbst nicht vergessen, wie man fischt. Der andere Grund ist empirisch: Seit der Industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts, mit der der Aufstieg des Wohlstands seinen Anfang nahm, ist die Rate der extremen Armut von 90 Prozent der Weltbevölkerung auf unter neun Prozent gesunken. Das kann jeder mit eigenen Augen erkennen. Ein verhältnismäßig armer Mensch kommt heute im Westen (und zunehmend auch anderswo) in den Genuss von Antibiotika, Streaming-Diensten zur Unterhaltung, Klimaanlagen, einem Dutzend internationaler Spezialitäten und anderen Luxusgütern, die vor 120 Jahren selbst den Vanderbilts und Rockefellers nicht zur Verfügung standen. Sie plädieren für Kernenergie als einzig realistische Alternative im Kampf gegen den Klimawandel. Deutschland will bekanntlich alle Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke abschalten und hofft darauf, dass sich der Klimawandel ausschließlich mit regenerativer Energie lösen lasse. Das Wall Street Journal nannte dies „World's Dumbest Energy Policy“. Wie ist Ihre Meinung? Ich stimme mit dem Wall Street Journal nicht immer überein, doch in diesem Fall schon. In meinen eigenen Meinungskommentaren in der New York Times und dem Boston Globe habe ich ähnliche Argumente angeführt. Sie sagen, dass sich – abgesehen vom Thema Klimawandel – die Situation der Umwelt in den vergangenen Jahrzehnten massiv verbessert habe. Für welche Länder und für welche Bereiche gilt das vor allem? Laut dem Environmental Performance Index, der Noten für den Umweltschutz erteilt, hat fast jedes Land in den letzten zehn Jahren Verbesserungen erzielt, wobei die wohlhabenderen Länder die sauberste Umwelt haben. Dazu zählen die gefährlichsten Formen von Verschmutzung, also Rauch aus Küchen und die Wasserverschmutzung. Seit dem Erscheinen meines Buches „Aufklärung jetzt“ mehren sich Berichte, dass das Artensterben zunimmt. Das würde ich in die Liste der Sorgen aufnehmen, obwohl wir auch die erfolgreichen Bemühungen um den Schutz vieler gefährdeter oder bedrohter Arten anerkennen sollten. Sie haben ein sehr optimistisches Menschenbild. Die meisten Dinge werden demnach besser. Andererseits scheinen weltweit Irrationalität und Hysterie zuzunehmen. Sind die Menschen wirklich vernünftiger als vor 200 oder 2000 Jahren? Nein, nein, ich bin kein Optimist. In meinem vorherigen Buch “Das unbeschriebene Blatt: Die moderne Verleugnung der menschlichen Natur“ habe ich sogar argumentiert, dass die Evolution unserer Spezies dauerhaft viele irrationale und destruktive psychologische Züge aufgebürdet hat, darunter Rache, Dominanz, Nepotismus, Stammesdenken, Wollust sowie magisches und anekdotisches Denken. Fortschritt ist nur möglich, weil es Institutionen und Normen gelingt, die besseren Seiten unserer Natur hervorzubringen. Und sie müssen ständig Sisyphusarbeit im Kampf gegen unsere hässlicheren Instinkte leisten. Was wir „Optimismus“ nennen, ist nur ein Beweis dafür, dass diese Institutionen und Normen einen gewissen Erfolg hatten. Sie zeichnen ein optimistisches Bild von der Ausbreitung der liberalen Demokratie auf der ganzen Welt. Aber stimmt das? Ist die Demokratie nicht derzeit weltweit in einer Krise? In den USA hat man den Eindruck, dass Populisten, ob nun Trump oder Bernie Sanders, das Geschehen bestimmen. Noch einmal: Ich zeichne kein optimistisches Bild, sondern halte mich an Fakten. Es stimmt, die liberale Demokratie steht in vielen Ländern unter Beschuss. Aber sie hat auch Fortschritte gemacht in anderen Ländern, über die wir nichts zu lesen bekommen, zum Beispiel in Georgien, Sri Lanka, Nigeria, Armenien, Angola, Malaysia, Tunesien und Äthiopien. Insgesamt stagniert die Demokratisierung, und vielleicht erfährt sie sogar einen leichten Rückschlag. Aber es ist noch lange kein massiver Umkehrtrend zu erkennen. Laut dem Demokratiebarometer „Varieties of Democracy“ hat sich die Zahl der demokratischen Staaten in der Welt im vergangenen Jahrzehnt auf Rekordhöhe bewegt: 2018 gab es 99 Demokratien im Vergleich zu 87 im Jahr 1998, 51 im Jahr 1988, 40 im Jahr 1978, 36 im Jahr 1968 und 10 im Jahr 1918.
Rainer Zitelmann
Kapitalismus, Demokratie und Klimawandel – den Experimentalpsychologen Steven Pinker beschäftigen diese Themen nicht erst seit seinem Werk „Aufklärung jetzt". Im Interview mit dem Historiker und Soziologen Rainer Zitelmann sprach er über die Anziehungskraft von negativen Nachrichten.
[ "Steven Pinker", "Psychologie", "Havard" ]
kultur
2020-03-06T14:55:11+0100
2020-03-06T14:55:11+0100
https://www.cicero.de//kultur/steven-pinker-optimist-kapitalismus-demokratie-klimawandel
Die Erfinder des Jahres: Flüssigholz statt Erdöl
Die Luft in der Werkhalle der Tecnaro GmbH ist staubig. An der großen Maschine werden Säcke mit Granulat befüllt, cremeweiß, sandfarben, beige. Arboform oder Flüssigholz heißt der Biokunststoff, der hier in Ilsfeld-Auenstein in der Nähe von Stuttgart entsteht. Die beiden Geschäftsführer Jürgen Pfitzer und Helmut Nägele stehen in der Halle und lassen das Granulat prüfend durch die Hände rieseln. Der Name ihres 1998 gegründeten Unternehmens steht für Technologie nachwachsender Rohstoffe. Das Thema beschäftigt die beiden Ingenieure schon länger. 1996, angetrieben von der Frage „Was könnte unser Beitrag zur CO2-Einsparung sein?“, begannen Pfitzer und Nägele, damals noch am Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT), nachwachsende Rohstoffe zu suchen, um die synthetischen, aus Erdöl produzierten Kunststoffe zu ersetzen. Fündig wurden sie bei einem Abfallprodukt der Papierindustrie, dem Lignin. 14 Jahre später zeichnete sie das Europäische Patentamt für ihr Flüssigholz als „Erfinder des Jahres 2010“ aus. „Mit Lignin kann man alles machen, was auch mit aus Erdöl produzierten Kunststoffen möglich ist“, erklärt Jürgen Pfitzer. In Verbindung mit Naturfasern wie Harz und Flachs kann es beliebig geformt und in Spritzgussmaschinen verwendet werden. Der große Vorteil des Flüssigholzes ist, dass es vollständig kompostierbar ist. Hinzu kommt, dass Lignin beinahe grenzenlos zur Verfügung steht. Es kommt in jeder Pflanze vor und ist neben der Zellulose der häufigste organische Stoff der Erde. Allein bei der Papierherstellung bleiben jährlich weltweit 60 Millionen Tonnen übrig. An Lignin wird bereits seit über hundert Jahren geforscht. Umso überraschter waren Pfitzer und Nägele, dass niemand vor ihnen das thermoplastische Potenzial des Werkstoffs erkannt hatte. Nachdem sie ihre Tests abgeschlossen hatten, schrieben sie ihre Erkenntnisse nieder, gemütlich bei Grillfleisch und Bier. Am nächsten Tag meldeten sie 15 Patente an. Doch so einfach sollte es für die beiden Jungunternehmer nicht weitergehen. In den ersten sechs Monaten nach der Gründung machte Tecnaro nicht einen Euro Umsatz. Das Unternehmen war 1998 eines der ersten Spin-offs, das aus dem ICT ausgegründet wurde. Rückblickend sagen Nägele und Pfitzer über ihre Firmengründung: „So etwas kann man nur machen, wenn man nicht weiß, was vor einem liegt.“ Sie mussten viele Widerstände überwinden. Um die Kompostierbarkeit belegen zu können, wurde ihr Flüssigholz vier Jahre in einem Labor in Spezialerde vergraben. Umweltschützer warfen ihnen vor, dass für die Ligningewinnung Bäume gefällt werden müssten. Pfitzer und Nägele regt dieses „falsche und vorschnelle Urteil“ immer noch auf: Die Ligninquellen seien zahlreich und vielfältig, Rinde, Getreidestroh, Sägemehl. Eine Karriere als Unternehmer hatten ursprünglich weder Nägele noch Pfitzer geplant. Dabei hatte Nägeles Mutter ihrem Sohn schon früh prophezeit, dass er mal etwas produzieren werde, weil er schon als Kind in seinem Zimmer Zinnfiguren in Hunderterserien goss. Später studierte er Chemieingenieurwesen an der Technischen Hochschule in Karlsruhe und wechselte 1996 zum ICT. Pfitzer, ausgebildeter Mechaniker und studierter Maschinenbautechniker aus Ellwangen, war in der Kunstofftechnik und im Holzbau tätig, bevor auch er 1996 zum ICT kam. Heute können sie über die Anfangsjahre schmunzeln, in denen es nur langsam voranging. 2001 lag der Umsatz bei 40.000 Euro, „mit Bratwürstchen hätten wir mehr verdient“, sagt Pfitzer. Aktuelle Zahlen verraten sie nicht, nur so viel: Zwischen 2005 und 2009 verfünffachte sich der Umsatz, 2010 verdoppelte er sich und liegt im siebenstelligen Bereich. Ihre Werkstoffe verkaufen sie mittlerweile nach Neuseeland, Brasilien, in die USA, in Europa von Spanien bis Skandinavien. Die wenigen Mitbewerber, die Tecnaro heute hat, bezeichnen die beiden Chefs eher als Mitstreiter: „Bei uns geht es gemeinsam gegen Erdöl.“ Aus den Geschäftspartnern Pfitzer und Nägele sind Freunde geworden, im Gespräch ergänzen sie einander, ohne sich ins Wort zu fallen. In ihrer Arbeit sind sie von spielerischer Entdeckungsfreude. Fast täglich stehen sie in ihrer Werkhalle, füllen Granulat ab und entwickeln neues mit ihren 15 Angestellten: „Wir stehen genauso im Staub wie die anderen.“ Sie sind nach wie vor begeistert von der Vielseitigkeit ihres Produkts. Im Konferenzraum unter dem Dach der Tecnaro-Zentrale lagern Krippenfiguren, Gugelhupfformen, Lautsprecher, Sonnenbrillen, Zahnputzbecher und Seifenschalen, Shampooflaschen, Blockflöten und Bodenplatten – alles aus Arboform. Das erste Serienprodukt war die Armbanduhr „Woodwatch“, die skurrilsten sind Särge für Kleintiere und Absätze an Highheels von Gucci. Auch die Autoindustrie gehört zu ihren Kunden. Audi, Porsche oder Mercedes nutzen Arboform als Trägermaterial für teure Holzfurniere oder als präzise 3-D-Schablonen für die Kühlkanäle der Bremsen. Der Kern aus Flüssigholz wird aus den fertigen Bremsen herausgebrannt, die Kanäle bleiben. Auch preislich kann das Flüssigholz mithalten. Mit 2,50 Euro pro Kilo ist es zwar etwas teurer als Massen-, aber günstiger als hochwertiger Kunststoff. Das ist Pfitzer und Nägele wichtig, denn auch wenn sie sich über die Auszeichnung zum Erfinder des Jahres gefreut haben, die entscheidende Währung für die beiden ist die Serieneignung: „Was nicht in den Markt geht, ist wertlos.“
Evelyn Runge
Blockflöten, Absätze für Highheels, Lautsprecher – Arboform, der Biokunststoff aus Flüssigholz ist vielseitig einsetzbar. Dafür zeichnete das Europäische Patentamt Jürgen Pfitzer und Helmut Nägele als „Erfinder des Jahres 2010“ aus. Ein Doppelporträt.
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wirtschaft
2010-10-28T00:00:00+0200
2010-10-28T00:00:00+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/die-erfinder-des-jahres-flussigholz-statt-erdol/41300
Truppen-Abzug – Wie sieht die Zukunft Afghanistans aus?
In Tokio haben am Sonntag Vertreter von mehr als 80 Staaten und internationalen Organisationen Afghanistan neue Hilfszusagen in Höhe von rund 13 Milliarden Euro gemacht. Dabei ging es vor allem um die Zeit nach 2014, wenn die internationalen Truppen das Land verlassen haben. Denn ohne finanzielle Unterstützung wird Afghanistan noch lange nicht auskommen. Wie ist die Ausgangssituation? Lange stand die Sicherheitslage in Afghanistan im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit. Der Krieg gegen die Taliban, an dem sich die Bundeswehr derzeit noch mit knapp 5000 Soldaten beteiligt, konnte militärisch nicht gewonnen werden. Durch die Aufstockung der internationalen Truppen und verstärkte Anstrengungen, den afghanischen Streitkräften mehr Verantwortung zu übertragen, hat sich die Situation insgesamt aber stabilisiert. [gallery:10 Jahre Afghanistan: Bilder eines Krieges] Das gilt besonders für den Norden des Landes, in dem die Bundeswehr stationiert ist. In diesem Jahr ist noch kein deutscher Soldat in Afghanistan gefallen. Insgesamt starben dort bisher 53 Bundeswehrsoldaten bei Unfällen, Anschlägen und Gefechten. Aus dem Süden wurden allerdings in den vergangenen Wochen wieder vermehrt Kämpfe und Anschläge gemeldet. Die große Frage lautet daher: Können die in Tokio zugesagten Hilfsgelder überhaupt sinnvoll eingesetzt werden, wenn die internationale Schutztruppe als Stabilitätsfaktor wegfällt? Darauf hat bisher niemand eine Antwort. Die großen Hilfsorganisationen wollen zunächst abwarten, wie es nach 2014 konkret weitergeht. Wenn ihre Mitarbeiter nicht mehr sicher seien, so der allgemeine Tenor, würden diese zurückgeholt. Allerdings ist längst klar, dass auch nach 2014 noch ausländische Soldaten in Afghanistan bleiben. Die USA haben eine strategische Partnerschaft vereinbart, die militärische Unterstützung ausdrücklich einschließt. Auch in Tokio wurde die künftige Hilfe wieder an Bedingungen geknüpft. Werden die überhaupt erfüllt? Afghanistan-Konferenzen erinnern seit Jahren an „Und täglich grüßt das Murmeltier“, jener amerikanischen Filmkomödie, in der ein Fernsehreporter immer wieder denselben Tag erlebt. Die Ermahnungen an den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai, endlich gegen Korruption und Misswirtschaft in Regierung und Behörden vorzugehen, wiederholen sich ebenso wie dessen Beteuerungen, die Hausaufgaben gewissenhaft zu erledigen. Und am Ende wird wie immer viel Geld versprochen. Allein: Es passiert nichts. Im jüngsten Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Afghanistan heißt es: „Die Zusagen der afghanischen Regierung zur Korruptionsbekämpfung werden nur schleppend umgesetzt; greifbare Erfolge sind begrenzt.“ Deutschland immerhin hat daraus erste Konsequenzen gezogen. Die Zahlungen des Entwicklungsministeriums „erfolgen in an konkrete Reformschritte geknüpften Tranchen“, heißt es in einer Erklärung. 2012 wurden aus dem Entwicklungsetat demnach erst 65 Millionen der für das Jahr veranschlagten 240 Millionen Euro ausgegeben. Weitere Mittel steuert vor allem das Auswärtige Amt bei, so dass insgesamt für Afghanistan jährlich 430 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Seite 2: Wie steht es um die politische Zukunft des Landes? Doch nicht nur Deutschland befindet sich Karsai gegenüber in einem Dilemma. Würde die Hilfe für Afghanistan komplett eingestellt, wäre dies gleichzeitig ein Eingeständnis, dass der Aufbau Afghanistans gescheitert ist. Dass die massive militärische und finanzielle Hilfe der vergangenen zehn Jahre umsonst war, und die in Afghanistan getöteten ausländischen Soldaten letztlich sinnlos geopfert wurden. Ein solches Eingeständnis will und kann sich keiner der beteiligten Staaten – und kein Politiker, der wiedergewählt werden will – leisten. Deshalb wird Afghanistan weiter unterstützt. Wie steht es um die politische Zukunft Afghanistans? Präsident Karsai weiß natürlich, dass der Westen letztlich kaum Druckmittel hat, weshalb er seine Versprechen wohl auch diesmal nicht halten wird. Ohnehin scheint sein Familienclan tief in korrupte Geschäfte verstrickt. Bestes Beispiel ist der Skandal um die private Kabul-Bank, die vor zwei Jahren vor der Pleite stand. Sie gehört zum Teil Karsais Bruder Mahmud und verwaltet die Gehaltskonten der meisten Regierungsangestellten. Mahmud Karsai und andere Anteilseigner sollen sich Kredite bei der Bank verschafft haben, ohne Sicherheiten zu hinterlegen, beziehungsweise sogar bis zu 630 Millionen Euro veruntreut haben. Eine Aufklärung der Vorwürfe steht aus. Karsais herausragende Stellung ist aber auch eine Art Geburtsfehler der neuen afghanischen Verfassung. Das Parlament ist in den vergangenen Jahren zwar selbstbewusster geworden, doch seine Macht hat Grenzen. Die politische Zukunft des Landes wird daher ganz entscheidend von der Persönlichkeit seiner künftigen Präsidenten oder Präsidentinnen abhängen. Und von den Taliban. Es gilt als beschlossene Sache, dass sie wieder mehr politischen Einfluss in Afghanistan erhalten sollen, um das Land zu befrieden. Doch alle Bemühungen, einen politischen Dialog mit ihnen zu beginnen, sind bisher im Sande verlaufen. Deshalb ist auch eine „Somalisierung“ des Landes nicht ausgeschlossen: Ein neuer Bürgerkrieg zwischen der Zentralregierung, den Taliban und alten wie neuen Warlords, die zum Teil mit den Taliban kooperieren oder in Lauerstellung auf ihre Zeit warten. Wird Afghanistan jemals ohne fremde Hilfe auskommen? Theoretisch ist Afghanistan ein reiches Land. Öl, Gas, Eisen, Kohle, Kupfer, Gold, Seltene Erden – Rohstoffe im Wert von optimistisch geschätzt drei Billionen Dollar sollen in Afghanistans Boden schlummern. Schon ist ein Wettstreit um die besten Konzessionen zwischen amerikanischen und chinesischen Firmen ausgebrochen. Kurzfristige Gewinne können aber weder sie noch die Afghanen erwarten, denn die Erschließung wird lange dauern und viel Geld kosten. Beispiele anderer Entwicklungsländer wie Nigeria zeigen außerdem, dass sich Rohstoffreichtum für arme Staaten langfristig eher als Fluch denn als Segen erweist. An den Einnahmen bereichern sich meist die korrupten Eliten, während die Bevölkerung vor allem unter massiven Umweltzerstörungen leidet. Währenddessen starben am Sonntag sechs NATO-Soldaten in Ost-Afghanistan. Eine Explosion hat sie das Leben gekostet, das teilte das Militärbündnis am Sonntag in Kabul mit. Ausgelöst habe die Explosion ein Sprengsatz, hieß es weiter. Die NATO machte keine weiteren Angaben zu dem Anschlag noch zur Nationalität der getöteten Soldaten. (mit dapd)
Auf der Afghanistan-Konferenz wurde über die Situation nach dem Abzug der internationalen Truppen 2014 diskutiert. Währenddessen starben NATO-Soldaten bei Anschlägen in Ost-Afghanistan. Die Zukunft des Landes bleibt weiter unklar
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außenpolitik
2012-07-09T09:05:26+0200
2012-07-09T09:05:26+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/wie-sieht-die-zukunft-afghanistans-aus/51164
schreiben: Porträt – Alles Leuchtet
Zuerst sind wir einander in Paris begegnet. Es war im November 1992, die Tage hell und sonnig, in einer sehr stillen Stadt: In Paris herrschte Generalstreik. Keine U-Bahn, kein Bus, alles musste erwandert werden. Und während auf der Straße in mächtigen Chören nach der Revolution gerufen wurde, während Demonstrantenmassen umherwogten, Transparente und Fahnen schwenkend, stritten in einem holzgetäfelten Hörsaal der Sorbonne deutsche und französische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller über das Ende der DDR: ob es denn zu recht dahin gekommen sei, und welchen Anteil wohl die Literatur daran gehabt haben mochte. Nur eine beteiligte sich an dieser Auseinandersetzung nicht. Sie genoss Paris, kam mir vor. Im Hörsaal las sie ein Stück aus ihrer 1990 erschienenen Erzählung «Der Dienst» – mit einem Auszug daraus hatte sie zwei Jahre zuvor, noch zu Lebzeiten der DDR, in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Angela Krauß las, und der System-Hader kam zum Stillstand. An diesem litera­rischen Text, der in unverkennbarer Verbindung mit seinem Herkunftsland DDR stand und ebenso erkennbar in nichts mit dessen konkreter Erscheinung zur Deckung zu bringen war: an der Sprache, Fabulierlust und einer Denkweise aus eigenem Recht versagten die politischen Schrotmühlen. Es stellten sich andere Fragen: Wie es der Autorin gelang, eine überwache Wahr­nehmung in die Form eines fein gesponnenen literarischen Gewebes zu bringen und dabei mit schwebender Leichtigkeit auf den Kern der Dinge zuzuhalten. Und weshalb es kaum ein genaueres Bild dessen gab, was das Leben im halben Deutschland in einem bestimmten Zeitraum unter bestimmten Bedingungen gewesen war. Plötzlich war Ästhetik das Thema. Seitdem hatte ich jedes Buch von Angela Krauß gelesen, immer mit Beglückung und staunend, oft hingerissen, nur selten stirnrunzelnd und niemals gelangweilt – mein Lieblingsbuch: «Milliarden neuer Sterne», eine Erzählung aus der neuen Welt, im Jahr 1999 er­schienen, auf der Favoritenliste dicht gefolgt von «Weggeküßt» (2002). Mit der herrlichen Parole «Ich brauche Fett, ich brauche Süßes» erzählt es von sinnlichen Gelüsten, vom schwierigen Gebrauch der Freiheit und von Tieren im Zoo. Danach oder daneben «Wie weiter» (2006), ein mit glühender Intensität und hohem Tempo vorangetriebener Orientierungsversuch zwischen Zeiten, Lebewesen und Kontinenten, kurzum: in der jetzigen Welt. In der Zwischenzeit waren wir einander hie und da begegnet, nie lange und ausführlich, und doch war es immer so, als habe keine lange Zeit zwischen den Treffen gelegen. Bis ich im vergangenen Dezember auf die Ankündigung eines neuen Angela-Krauß-Buches stieß. Auf dem Umschlag zeigte sich ein filigranes, einwärts oder auswärts gedrehtes Muschelskelett (je nachdem, welcher Richtung der Blick folgt) und im Zentrum das dunkle Herz der Muschel, ebenso gut könnte es aber auch ein Auge sein, das den Betrachter fixiert. Der Titel des Buches: «Im schönsten Fall», ein Prosa-Text von 101 Seiten Länge. Niemals waren die Bücher von Angela Krauß besonders dick; doch wie konnte dieser neue Text noch komprimierter, noch dichter, mit reflektierter Wahrnehmung zugleich noch höher aufgeladen sein als seine Vorgänger? Nach den ersten Seiten schon war es dann entschieden: Das neue Lieblingsbuch heißt «Im schönsten Fall». Und nun musste wahr werden, was ich lange schon geplant hatte: ein Gespräch mit Angela Krauß. Von ihr wissen wollte ich, wie sie es vermag, auf engstem Raum ein bewegtes Bild unserer gegenwärtigen Lebenslage zu entwerfen, hin und her springend zwischen Indien und, sagen wir, Leipzig, zwischen computergenerierten Darstellungen von Lebewesen, an denen die Ich-Erzählerin zu Hause arbeitet, und einem Bild von Jan Vermeer, all dies unter den Augen eines präparierten tropischen Riesenfalters in betörendem, zugleich beängstigendem Blau. Der Schauplatz ist ein Gründerzeithaus, dessen Fun­damente ein Bodybuilder mit seinem morgendlichen Hanteltraining zum Erzittern bringt. In der «unteren WG» hält ein junger Mann unablässig ratternde Drucker, Scanner und PCs in Betrieb und rappt von Zeit zu Zeit Botschaften über seinen und deren Zustand zum Fenster hinaus; in der «oberen WG» wird eine junge Frau schwanger, während die Ich-Erzählerin ihr Leben durchmisst von der Kinderzeit bis zu ihren Zukunfts-Erwartungen. Dazwischen eingestreut: Berichte eines «Weltgipfels», die die Weltlage erfassen, dazu kleine Slapstick-Szenen. Außen und Innen gleiten ineinander wie bei der Muschel auf dem Titelbild. Wie im Mobile bewegen sich die fein gegeneinander austarierten Erzähl-Elemente, und jedes Einzelne erzählt von einer Entwicklung – im Haus, in der Außenwelt und vor allem in den Unternehmungen einer in Unruhe geratenen Frau. «Das Weltgebäude will errichtet werden! Man muß ja irgendwo wohnen», lautet ihr Motto. Nein, um Kleinigkeiten geht es hier wahrhaftig nicht. Schön ist die Idee, miteinander darüber zu sprechen, wie dieses Erzählen zustande kommt. Die Ausführung dagegen stellt sich als nicht ganz so einfach heraus. Angela Krauß redet nicht gern über ihre Literatur, eine Mitwirkung an der Interpretation ihrer Bücher kommt nicht infrage. Ein Gespräch per E-Mail wäre ihr, wenn überhaupt, das Liebste. Das könnte dann von ihren beiden «Ichs» handeln – dem realen und dem literarischen, das seit 1990 die Rolle der Erzählerin innehat. Einen möglichen Titel für diese Ich-und-Ich-Geschichte gibt es auch schon: «Wir beide». Doch schließlich lässt sich Angela Krauß von einer Begegnung in der Wirklichkeit überzeugen. Wann, steht bald fest, wo, muss sie noch überlegen. Und eines Tages trifft eine E-Mail mit einer Wegbeschreibung ein, in der ich erfahre, dass ich auf dem Weg vom Hauptbahnhof die neue Tropenhalle des Zoos passieren werde, «deren zukünftige Bewohnerin das heutige Playmate der FAZ ist: die schielende Heidi» – ein Opossum, dessen Fettleibigkeit ihm wahrscheinlich den Sehfehler eingetragen hat, und das dazu ausersehen ist, Leipzigs Zoo als Publikumsliebling zu dienen. Schöne Aussichten! Doch zeigt sich das gegenwärtige Leipzig an diesem Januartag vor allem nass und kalt. Unablässig herabströmender Regen sammelt sich auf den Straßen, zischt an den Flanken des Taxis hoch, und plötzlich taucht im Nässeschleier ein Ufo-artiges Gebäude auf: eine gigantische durchscheinende Schale, überzogen mit einem metallenen Netz, von innen her leuchtend. Ein neues Stadion für «Lokomotive Leipzig»? «Nää», sagt der Fahrer in knautschigem Sächsisch. «Do ghommd do’ die Heidi rein!» Ein Gelass von den Ausmaßen eines Weltgebäudes für ein meerschweingroßes Tier? Der Fahrer schweigt. Schwungvoll biegt er in die Straße jenseits der Arena ein, bringt das Fahrzeug zum Stehen und konstatiert befriedigt: «Do ghommd die Heidi rein!» Ich schaue mich um. Ist hier von den Tieren des Zoos, die im Werk von Angela Krauß eine so prominente Rolle spielen, etwas zu sehen, vom Literatur gewordenen Brillenbär etwa oder vom Elcheber, «trocken, rissig, ledern, ein altes, zu fest verschnürtes Gepäckstück»? Nein, da ist nichts, und so trete ich den Weg in die Dachwohnung an. Oben rasch noch ein Blick hinüber zur Wohnung des Nachbarn, vor dessen Tür sich womöglich eine Batterie leerer Wasserflaschen finden könnte oder ein Paar Damenschuhe kleiner Größe – in «Im schönsten Fall» zeigt dieses den einmal wöchentlich stattfindenden Damenbesuch beim Bodybuilder an. Doch auch hier natürlich nichts dergleichen. Drinnen dafür ein trotz aller Winter-Trübnis heller, lang gestreckter Raum, auf einem Tischchen zwischen zwei Sofas dick mit Sahne gefüllte Windbeutel: «Ich brauche Fett, ich brauche Süßes!» Wer manierlich bleiben will, wird ihnen, wie wir, mit Messer und Gabel zu Leibe rücken müssen. In den nächsten Stunden wird das Tageslicht allmählich schwinden, in einer Höhle voller Überlegungen, Heiterkeit und Behagen findet das Gespräch über Literatur statt – bis das angejahrte Aufnahmegerät schließlich mit einem zarten Japser seinen Dienst quittiert. «Wir sind doch auf der Suche nach Neuem, das ist doch der Grund des Lebens und Schreibens überhaupt», sagt Angela Krauß in der Erinnerung an ihren ersten Paris-Aufenthalt. Eine Frau, zum ersten Mal in der Stadt, wird beim Anblick eines Frühstückstabletts vor der benachbarten Hotelzimmertür von der Idee gestreift, in Paris nehme man das Frühstück im Bett ein; nur, wie empfängt man den Kellner: im Negligé oder im angekleideten Zustand? Was nun als kuriose Episode im neuen Buch steht, bezieht sich auf eine reale Szene im November vor fast zwan­zig Jahren. Den Polit-Streit­hälsen von damals hätte die 1950 in Chemnitz geborene Tochter eines hohen Offiziers, der sich 1968 nach dem Einmarsch der so­w­jetischen «Bruderarmeen» in Prag erschoss, durchaus einiges zu sagen gehabt; doch sah sie dies nicht als ihre Aufgabe an. Was sie zu sagen hatte, stand, viel eindrücklicher und genauer, in ihrer Literatur. Ausgebildet zur Werbe-Fachfrau in Ost-Berlin, in den frühen achtziger Jahren Absolventin des Literatur-Instituts «Johannes R. Becher» in Leipzig, hatte sie im Prosa-Band «Der Dienst» die Geschichte des Vaters erkundet – der Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises war ein für sie einschneidendes Erlebnis, eine Art Erleuchtung sogar. «Ich habe beim Klagenfurter Wettbewerb damals auf einmalige Weise erfahren, was Literatur kann», erzählt sie. «Was sie nämlich für den, der sie geschrieben hat, bedeutet. Ich hatte gedacht, ich müsse den Fall meines Vaters, der unter diesem Text liegt, aber auch meinen Schmerz beschützen – und dann erlebte ich: Der Text beschützt mich! Er hatte eine Form angenommen. Er war ein Kunstwerk geworden, das lebt und agiert, etwas vollkommen Selbständiges. Das hatte ich vorher nicht gewusst. Und hätte ich damals einen für mich weniger wesentlichen Text geschrieben, wäre es sicher auch anders gewesen.» Zwanzig Jahre lang, über zwei Vorgänger-Bücher hinweg, hatte sie auf eine Ich-Erzählung hingeschrieben, in der ein anderes als das reale Angela-Krauß-Ich imstande sein musste, alles Erfahrene zu bündeln: eine «Komposition von Erlebtem und Erdachtem, Vermutetem, Wahrgenommenem, Gefühlen, Sehnsüchten, Äng­s­ten und Visionen, die in der Gesellschaft vorhanden sind». Dieses «Ich» ist seither die alles zentrierende Hauptfigur ihrer Prosa, und es entwickelt sich von Buch zu Buch, wie ja auch die Realität um die wirkliche Angela Krauß sich weiterentwickelt. Nicht zufällig bewegt sich ihre Ich-Erzählerin nun im Internet so selbstverständlich wie in ihrem konkreten Alltag und ihren Erinnerungen. Und schließlich wirkt das Geschriebene auch auf dessen Autorin zurück: «Jedes Buch ist ein Persönlichkeits-Schub. Jedes ist immer das nächste größtmögliche Wagnis. Es beschützt mich – und es bringt mich zugleich hervor. Nach jedem Buch habe ich das Gefühl, dass ich mich verändert habe: dichter geworden bin, bewusster.» Für diese poetische, musikalische Prosa gibt es kein Genre. Gegen Ende des jüngsten Bandes bleibt zwischen den Erzähl-Abschnitten eine Seite leer, wortloses Zeichen, dass der Leser hier einhalten, die bisherigen Eindrücke auffassen und vor dem nächs­ten Schritt noch einmal tief durchatmen möge. Auf anderen Seiten wieder steht der Text im Gedicht-Format – es braucht die verschiedensten Formen, um die Entwicklung des alles um sich her wahrnehmenden, es zusammentragenden und kondensierenden Ich zu erfassen, nicht zuletzt dessen Bewegungen in einer sich rasant in noch unabsehbare Richtungen, mit unabsehbaren Konsequenzen entwickelnden Welt. «Ich fühlte», heißt es am Anfang des Buches, «etwas war im Gange. In manchen Dingen ging es schlechter und schlechter mit mir. Das Multiplizieren fiel mir schwerer, gleichzeitig beunruhigte mich zunehmend alles, was sich nicht berechnen ließ: die Liebe, das Weltall, die Zukunft.» So macht sich die Frau an die Errichtung ihres «Weltgebäudes», um eine Antwort auf die zentrale Frage zu finden: «Wo bin ich hingeraten?» Es ist zugleich die Frage der Autorin selbst, an ihr arbeitet sie sich schreibend ab: «Am Anfang steht immer die Wahrnehmung, dass sich etwas in unserem Leben verändert», sagt Angela Krauß. «Um es erkennen zu können, muss sich zunächst die Kruste lösen, mit der wir Menschen und Dinge umgeben haben. Sie besteht aus unseren Zuschreibungen und führt zu dem enttäuschten Gefühl: Das kenne ich schon, das alles habe ich schon gesehen. Die Dinge müssen aus ihrer Versteinerung erlöst werden. Wenn das geschieht, tritt eine Art von Verliebtheit ein, ein subtiler Verzückungszustand, voller Vorfreude und Neugier, ein Gefühl, dass alles neu beginnt. Diese Verfassung bedingt, innerlich von allem zurückzutreten, sie verlangt Alleinsein. Aber darin bin ich ja nie allein», sie lacht, «sondern immer zu zweit: mit der Anderen in mir selbst, derjenigen, die mir bei allem zuschaut und mit der ich in einem inneren Gespräch stehe. So bildet sich das literarische Ich, das kein autobiografisches ist, sondern eines, das in sich aufgenommen hat, was das der Welt hingegebene Ich wahrnimmt – letztlich ist es weniger eine Figur, sondern ein Ton, ein Klang. Um den zu finden und zu halten, um gestimmt zu bleiben wie eine Saite, auch auf dem Bahnhof, in der Kaufmeile oder am Telefon, braucht es in unserer dissonant orchestrierten Welt schon einen kraftvollen Eigensinn. Dieser Ton ist es, der die Sprache trägt, der erst ein Ganzes schafft, das als Ganzes zu fühlen ist. Das Fühlen ist untrüglich, auch beim Lesen. Das wird dann zum Herzensabenteuer. Denn Dichtung verwandelt die uns geläufige Sprache in ein ganz anderes Medium. Sie ist dann ein Medium wie Musik oder wie Farbe. Mein Schreiben», beschließt sie die Überlegung, «ist eigentlich ein Instrument, die Leuchtkraft der Welt zu erhalten oder wiederherzustellen.» Und daher passt in diese innerlich leuchtende Welt auch alles hinein, was uns täglich umgibt: das Internet und der Körperkult, eine Vergangenheit, in der die Dinge noch berechenbar schienen, und die Liebe der Erzählerin zu einem Mann, der mit der Verdichtung von Materie in Information befasst ist. Diese Liebe entmaterialisiert sich, weil das Leben der beiden sich aus beruflichen Gründen zwischen zwei Kontinenten abspielt, weil in regelmäßigen Abständen enorme Entfernungen zurückgelegt werden müssen, um die Liebe zu konkretisieren; so löst sie sich auf. Am Ende wird die Frau ihre Wohnung ordnen und die Stadt mit ratterndem Rollköfferchen durch einen schmalen Gang verlassen. Was sich hinter dem Tor mit dem goldenen Schloss befindet, das sie durchschreitet, wer könnte das sagen: das neue Jerusalem? Eine endgültige Leere? Hier könnte sich etwas Neues entfalten, es könnte sich aber ebenso um einen symbolischen Rückweg durch den Geburtskanal handeln, in eine Zeit vor dem Geworden-Sein, ins Nichts. So, wie der «schönste Fall» zugleich das höchste Glück und einen lustvollen unaufhaltsamen Absturz bedeuten kann. In jedem Fall, sagt Angela Krauss, soll auch dieses Buch das Gefühl atmen, das ihr eigenes Leben bestimmt: «Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.» Und ich sage: «Der nächste und letzte Satz in dem Rilke-Gedicht lautet aber: ‹Du musst dein Leben ändern.›» Genau das jedoch, denke ich, während ich meine Siebensachen wieder in die Tasche räume, tut ja das Buch: Es verändert den Leser, indem es ihn sein eigenes Leben noch einmal neu anschauen lässt. So tritt er ein, der «schönste Fall».
Ein Treffen mit Angela Krauß, deren Prosa den Blick auf die Welt verzaubert – tauchende Zoo-Elefanten sind da noch das Mindeste. Von Frauke Meyer-Gosau
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kultur
2011-02-17T12:26:56+0100
2011-02-17T12:26:56+0100
https://www.cicero.de//kultur/alles-leuchtet/47294
Aktenvernichtung – Wie reagieren die NSU-Opfer auf Fromms Rücktritt?
Fünf Tage waren vergangen, seitdem Semiya Simsek über die Medien erfahren hatte, dass mutmaßlich Rechtsextremisten die Mörder ihres Vaters Enver waren. Dann klingelte am 16. November 2011 ein Mann vom BKA bei ihr zu Hause. Sie kannte ihn, er gehörte zu den Ermittlern der bayerischen Sondereinheit „Bosporus“, die jahrelang versucht hatten, die Familie dazu zu drängen, einen familiären Hintergrund als Tatmotiv zuzugeben. Nun saß der Beamte kleinlaut auf der Couch und sagte: „Wenn das stimmt, was jetzt bekannt wird, dann haben die uns doch auch verarscht.“ Mit „die“ meinte der Mann den Verfassungsschutz. Semiya Simsek erinnerte sich am Montag an diese Episode und ihre Stimme wird laut. Gerade ist sie wieder ein paar Wochen in der Türkei, aber die Sache mit dem zurückgetretenen Verfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm und den geschredderten Akten hat sie mitbekommen. Sie sagt: „Der Rücktritt von Herrn Fromm ist ehrenwert, aber er beantwortet keine einzige Frage. Es macht mich wütend, dass eine rückhaltlose Aufklärung durch das Vernichten der Akten vereitelt worden ist. Ich habe immer gedacht, eine Verschwörung könne es nicht sein, aber was sollen wir Opfer denn nun denken?“ Ihr Anwalt Jens Rabe findet: „Den Opfern wird wieder ein Stück Gewissheit gestohlen, weil ein Teil der Aufklärung unmöglich geworden ist. Dabei wurde ihnen vor allem Aufklärung versprochen. Das führt bei den Hinterbliebenen dazu, dass das Vertrauen in die Behörden immer mehr schwindet.“ Auch ein anderer Opferanwalt ist fassungslos. Mehmet Daimagüler, der eine der betroffenen Familien vertritt, sagt: „Ich glaube auch nicht an Verschwörungstheorien, und ich habe gedacht, am Ende eines Prozesses werde ich noch viel weniger daran glauben. Nun bin ich nicht mehr so davon überzeugt.“ Das liegt für den Anwalt auch daran, dass sich etwa die Landesinnenminister geweigert hätten, mit dem Bundestags-Untersuchungsausschuss zusammenzuarbeiten, so dass zum Beispiel die Opposition in Sachsen einen eigenen Ausschuss auf Landesebene durchsetzen musste, in dem die NPD sitzt. Daimagüler sagt: „Nun bin ich gezwungen, denen zu schreiben, ob ich sichergehen kann, dass persönliche Daten meiner Mandantin nicht in deren Hände gelangen. Darauf bekomme ich die Antwort, vermutlich sei das gewährleistet. Vermutlich!“ Er nennt noch ein anderes Beispiel dafür, warum das Vertrauen in den Aufklärungswillen der Behörden bei ihm nicht sehr ausgeprägt sei: das Verhalten von Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Bis heute weigere sich der ehemalige Innenminister, dazu beizutragen, die Frage zu klären, „was ein Verfassungsschützer zur Tatzeit in dem Internetcafé zu suchen hatte, in dem der Besitzer Halil Yozgat ermordet wurde“. [gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert Deutschland] Daimagüler denkt bereits in die Zukunft und findet: „Wenn es zu einer Reform der Geheimdienste kommen sollte, brauchen wir nicht nur Effizienz, sondern vor allem Kontrolle. Zurzeit weiß die Politik nicht, was der Verfassungsschutz macht, und die Spitze der Behörde weiß es anscheinend auch nicht.“ Die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer der rechtsextremistischen Mordserie, Barbara John, sieht keinen Grund, dem zurückgetretenen Verfassungsschutzpräsidenten Respekt zu zollen. Sie sagte auf Nachfrage: „Das ist ein komfortabler Rücktritt, weil er keinen Respekt erzeugt. Achtung für Herrn Fromm wäre nur angebracht gewesen, wenn der Präsident in seinem letzten Amtsjahr mit absoluter Schonungslosigkeit die Schwächen der Versagertruppe aufgearbeitet hätte.“ John merkte zu den geschredderten Akten an: „Nun ist alles denkbar, was eine mögliche Mitwisserschaft des Verfassungsschutzes angeht. Vor diesem Abgrund muss uns allen schaudern.“
Die Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors sind in besonderer Weise an rückhaltloser Aufklärung über die Pannen bei der Fahndung interessiert. Wie reagieren sie auf den Rückzug des Verfassungsschutz-Chefs?
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innenpolitik
2012-07-03T08:58:34+0200
2012-07-03T08:58:34+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/gestohlene-gewissheit/49901
Was gesagt werden muss – Henryk M. Broder über Günter Grass' Israeldichtung
Hier geht es zum Blogeintrag.
Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben. Es heißt: "Was gesagt werden muss". Der Nobelpreisträger will nicht mehr schweigen. Was ist der Anlass der logorrhoeischen Explosion? Ein Gastbeitrag von Henryk M. Broder
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kultur
2012-04-11T10:38:19+0200
2012-04-11T10:38:19+0200
https://www.cicero.de//kultur/henryk-m-broder-ueber-guenter-grass-israeldichtung/48911
Meyers Blick auf...unsere alternde Gesellschaft
Schon der Begriff Überalterung sei eine Perversion, sagt Frank A. Meyer im Interview mit Cicero-Redakteur Alexander Kissler über die alternde Gesellschaft. Länger zu leben sei vor allem ein Grund zur Freude. Daraus ein Problem zu kreieren, sei absurd. Natürlich sei es auch problematisch, bezüglich etwa der Rentenzahlungen. Meyers Idee: Die Kinder länger Kinder sein lassen und dafür im Alter länger zu arbeiten. Zumindest sollten Menschen darüber selbst entscheiden zu können. Alter sei ein Reichtum. die Erfahrung der Älteren ein Schatz, der kulturell entdeckt werden müsste. Stattdessen würde das Altern aber nur durchökonomisiert bertrachtet. Das sei der eigentliche Skandal und nicht das lange Leben.
Alexander Kissler
Der Schweizer Journalist, Medienberater und Cicero-Kolumnist Frank A. Meyer spricht mit Cicero-Redakteur Alexander Kissler über die alternde Gesellschaft. Sie ist ein Glück für die Menschen, aber wir müssen uns umstellen, sagt er
[ "Bildung", "Arbeit", "Rentensystem", "Frank A. Meyer", "Medizin" ]
innenpolitik
2018-04-05T18:50:17+0200
2018-04-05T18:50:17+0200
https://www.cicero.de//meyers-blick-alternde-gesellschaft-demographie-arbeit-bildung-
Re:publica - Lobo gibt Ratschläge, der Rest steht sich im Weg
Es gibt Tage, an denen alles zusammenkommt: Man will nach Berlin, muss mit der Bahn fahren und das dann auch noch quer durch Ostdeutschland. Wenn solche Tage zusammentreffen, sollte man sich besser auf einiges gefasst machen. Bei der Bahn sitzt man plötzlich statt in einem angekündigten neuen ICE in einem Vorkriegs-Intercity – und dass in Berlin irgendwas so funktioniert wie man sich das vorstellen würde, ist ohnehin ein absurder Gedanke, den man schon lange nicht mehr gehabt hat. Zumindest nicht im Ernst. Denn daran, dass man mit halbwegs ernsthaften Netzgeschwindigkeiten operieren kann, sollte man auch erst besser gar nicht glauben. In der Weltmetropole Berlin nicht und schon gar nicht, wenn man dann mit dem Steinzeit-Intercity inklusive defekter Toilette durch Ostdeutschland gondelt.  An Bahn und Berlin hat man sich inzwischen schulterzuckend gewöhnt – und das Netz? Das ist den meisten immer noch egal, weil das Internet so eine Art Zugabe zum Handy ist. Schön, wenn es geht, wenn nicht, dann ist es auch nicht schlimm. Kurz gesagt: Weder im Alltag der Menschen noch in der Politik noch in Berlin und geschweige denn bei der Bahn spielt das Netz die Rolle, die es eigentlich spielen sollte, würde man es ernst nehmen. Bei der heute zu Ende gehenden Re:publica sieht man das naturgemäß anders. Und die nackten Zahlen geben dieser Anders-Einschätzung auch erst einmal Recht. Über 5000 Besucher waren es in diesem Jahr, schon lange gehört es zum guten digitalen Ton, sich dort sehen zu lassen. Konzerne wie Microsoft sponsern die Veranstaltung und selbst Industriekapitäne wie Dieter Zetsche lassen sich dort gerne auf den Panels sehen.  Und schließlich kommt einmal pro Jahr auch noch Sascha Lobo vorbei und gibt die Parolen für die kommenden 12 Monate aus. Dieses Jahr, es war leider etwas diffus, deswegen die unklaren Formulierungen, meinte Lobo, man solle jetzt dringend mal was machen, mit viel Wut und etwas Pathos und am besten so, dass am Ende auch Angela Merkel überzeugt ist; von was auch immer. Ach ja, mit dem Machen haben sie es ja nicht so in der nichtexistenten Netzgemeinde. Lobo machte sich während seinen Vortrags einen mittelguten Running Gag daraus, den Piraten ihren kläglichen Zustand unter die Nase zu reiben, was kein wirklich großes Kunststück ist, wenn man jemandem, der eh schon zertrümmert und zur Lachplatte gemacht am Boden liegt, noch ein paar Tritte gibt. Generell meinte Lobo deshalb, man solle einfach mehr (mit Hashtag!) #machen und weniger streiten und palavern, was an sich ein brillanter Rat ist, der aber offensichtlich nicht so ganz einfach umzusetzen ist, betrachtet man das, was von den Piraten noch übrig ist. Wenigstens haben die Piraten den beeindruckenden Beweis angetreten, dass es manchmal nicht ganz verkehrt ist, ein paar althergebrachte Regeln zu beachten, wenn man was #machen will. Das eigentliche Problem, das diese Netzgemeinde, die es ja in Wirklichkeit gar nicht gibt, am großen Durchbruch hindert, ist weniger das fehlende Machergen. Machen können sie schon ganz gut, wenn sie wollen. Anders würde man eine Veranstaltung mit über 5000 Teilnehmern, die inzwischen auch dpa-Meldungen und Geschichten in den großen Medien produziert, gar nicht gestemmt bekommen. Das Problem ist immer noch die fehlende Massenkompatibilität . Oder anders gesagt: Man müsste, wenn man dem Netz zu mehr Breite in der (Band)Breite verhelfen will, nicht nur Angela Merkel überzeugen, sondern auch die, die Angela Merkel wählen. Davon ist die Re:publica-geprägte Netzgemeinde ungefähr so weit entfernt wie Sascha Lobo von einer anständigen Frisur. Und wenn sie ehrlich ist zu sich selbst, diese digitale Generalversammlung, dann räumt sie ein: Massenkompatibel wollen wir ja auch gar nicht sein. Das ist so ein bisschen das lafontainehafte daran: dass Wahlen und Mehrheiten in der Mitte gewonnen werden, wusste am Ende dann doch Schröder besser als der Saarländer. Das Problem also, das in der von Klassensprecher Lobo gemachten Forderung nach mehr machen und nach mehr Wut und nach mehr Pathos steckt, ist also weniger eines von wohlmöglichem Phlegma der Gemeinde. Sie befindet sich vielmehr im klassischen Dilemma, das ungefähr jedes Wirtschaftsunternehmen und vermutlich auch jede Partei kennt: Innovation und Veränderung entsteht immer an den Rändern, die gesellschaftliche, politische und ökonomische Mitte ist dafür der denkbar ungeeignetste Platz. So lange sich die digitale Elite darin gefällt, die digitale Elite zu bleiben,  bleibt Sascha Lobo noch lange der Schröder unter den Lafontaines. Und Frau Merkel wird sich freuen, sich nicht überzeugen lassen zu müssen.
Christian Jakubetz
„Von der Massenkompatibilität ist die Re:publica-geprägte Netzgemeinde ungefähr so weit entfernt wie Sascha Lobo von einer anständigen Frisur.“ Christian Jakubetz über  die Ergebnisse der wichtigsten Internetmesse des Jahres
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wirtschaft
2013-05-08T09:21:31+0200
2013-05-08T09:21:31+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/re-publica-wie-sich-die-netzgemeinde-selbst-im-weg-herumsteht/54388
Journal – Chats und Drugs und Rock ’n’ Roll
Beate Teresa Hanika und Tobias Elsäßer sind Mitte, Ende dreißig, sie schreiben Bücher für jugendliche Leser und sie haben dafür aus ihren eigenen Erfahrungen mit pubertären Erfolgs-Phantasien geschöpft: Hanika arbeitete Ende der neunziger Jahre als Model, Elsäßer gehörte für einige Zeit einer Boygroup an. Und beide legen in diesem Frühjahr neue Romane für Leser ab 14 Jahren vor. Beate Teresa Hanikas preisgekröntes Debüt «Rotkäppchen muss weinen» thematisierte den sexuellen Missbrauch, es folgte ein Buch über ihre Einblicke ins Model-Leben. Nun schickt sie in ihrem neuen Roman «Nirgendwo in Berlin» abermals ein Land­ei nach Berlin und lässt es dort auf generations- und ortstypische Gefahren treffen: Gretas Mutter hat die Fünfzehnjährige aus ihrer Clique in der bayerischen Provinz gerissen und auf unausgepackten Umzugskartons in der neuen Wohnung am Mauerpark sitzen gelassen, um sich in ihre neue Arbeit als Boulevardjournalistin und in ihr neues Leben nach der Trennung zu stürzen. Es ist Hochsommer, es sind Ferien, in der Wohnung unter Greta nervt die dreizehnjährige Cindy, über ihr der schwererziehbare Punk Konrad, der dort mit seinem attraktiven Betreuer Mikesch lebt. Erst rettet Cindy Greta nebst Boxer Buster vor dem hundehassenden Hausmeister und zeigt ihr die Welt der Internet-Chats. Dann legt sich Greta mit Konrad an und verguckt sich in Mikesch. Und schließlich verschwindet eine Gleichaltrige im richtigen Leben, die Greta beim Chat kennengelernt hat. Mit Cindys Hilfe macht sich Greta auf die Suche, gerät natürlich selbst in große Gefahr und kann sich daraus befreien, weil auch Konrad eigentlich ein guter Kerl ist. Nur der charismatische Mikesch eben nicht. Hanika will hart am wahren Leben schreiben und bleibt mitunter hart am Klischee. Stark sind die Passagen, in denen Greta mit ihrer Mutter Moa über gegenseitige Zumutungen streitet, neunmalklug dagegen wirken manche ihrer Einsichten: «Wenn ich nur ein bisschen vernünftig wäre, würde ich auf Moa warten, aber ich möchte den Karton jetzt entsorgen, als ob ich damit auch diesen Nachmittag in den Müll werfen könnte und meine ganzen Gedanken, die sich seitdem in meinem Kopf breitmachen.» Einfach unsäglich sind die Kapitel, in denen Hanika die Psychogenese eines Mannes entwirft, der im Chat nach einem Mädchen sucht, um sich und sie gemeinsam umzubringen. Die drei Jugendlichen, die sich in Tobias Elsäßers neuem Roman «Für niemand» im Chat treffen, wollen sich gemeinsam das Leben nehmen. Nidal kann die Spannungen zwischen seiner ärmlichen Herkunft und der guten Schule, die er aufgrund eines Stipendiums besucht, zwischen seiner homophoben Gang und der wachsenden Gewissheit, dass er selbst schwul ist, nicht ertragen. Marie ist nach einer Vergewaltigung unter Drogen schwanger und trägt das Kind aus, ohne sich den Eltern anzuvertrauen. Sammy leidet unter der Teilnahms­losigkeit ihres reichen Vaters und an ihren Ängsten als Sängerin und Texterin einer Rockband. Alle drei fühlen sich unverstanden und allein. Dabei spüren sie in ihrem Chat immer wieder Verständnis und Gemeinschaftsgefühl – wenn sie nicht aufpassen, werden sie noch Freunde, keine Selbstmörder. Zumal die Lichtgestalt Yoshua, die das gesamte Buch penetrant erleuchtet, ihnen auf den Fersen ist. Er wird nur eine retten können. Wo sich Beate Teresa Hanika in der Erklärung ihrer Figuren verrennt, lässt Tobias Elsäßer zu viele Fragen offen: Wie hackt man eigentlich ein Chat-Protokoll? Wie entdeckt Yoshua, dass Sammy aus dem Internet-Café eine der drei Lebensmüden ist? Wie schafft es Marie, Schwangerschaft und Geburt ihres Kindes zu verheimlichen? Wie gesteht Nidal sich ein, dass er schwul ist? In den Chats bleibt die Seelen­lage der Figuren unklar: Was ist es für ein Gefühl, sich das Leben nehmen zu müssen, um sich selbst treu zu bleiben? Warum schwin­det das Misstrauen der Figuren zueinander so schnell? Immerhin: Wo es um Sammys Musik geht, um diese seltsame Mischung aus Intimität und Exhibitionismus auf der Bühne, zeigt Elsäßer, was er weiß. Die Musik rettet letztlich auch das Buch. Lucy hingegen hat das Bühnenleben satt. Sie ist die neue Jugendbuch-Heldin der einstigen Pop-Autorin Alexa Hennig von Lange, hat in ihrem ersten Abenteuer die Stradivari zertreten, die Lacksandalen mit den Chucks getauscht und ist mit vier seltsamen, aber süßen Jungs in ein besetztes Haus gezogen. Jetzt hat sie ihrem Vater, der einmal Rockstar war, für sein Comeback den Songtext geschrieben, die Musik dazu kommt vom siebenjährigen Bruder. Ach ja: Die Mutter des einstigen Geigenwunderkinds stand übrigens als Pianistin vor einer Weltkarriere, der älteste Bruder ist Spitzenanwalt und der mittlere jüngster Breakdance-Lehrer aller Zeiten, an der Tanz­akademie in Den Haag. Mit dieser zu Beginn des zweiten Lucy-Bandes «Herzverrückt» rasch referierten Familienaufstellung katapultiert die Autorin ihre Heldin so weit aus jeder Lebenswirklichkeit heraus, dass wir der Geschichte gleich auch die unglaubwürdige Ausstattung der WG mit elektronischen Finessen, Finanzen und elterlichem Vertrauen verzeihen können. So gelassen sich die Autorin hier über alles Nachvollziehbare hinwegsetzt, so unverstellt und genau schreibt sie ihrer Heldin aus dem Herzen. Lucy macht sich mit ihrem Freund Jeremy auf die Suche nach dessen Mutter, die ihn als Baby in den Armen des desolaten Vaters zurückgelassen hat. Sie kommen einem Freundeskreis auf die Spur, der sich damals ausgerechnet in dem Haus getroffen hat, in dem sie jetzt wohnen, und einem Selbstmord, der bis in den Wortlaut des Abschiedsbriefs dem rätselhaften Verschwinden Davids ähnelt, jenes Jungen, der vor Lucy unterm Dach gewohnt hatte. Mit Feingefühl erzählt Hennig von Lange, wie Lucy ihren Jeremy in die Klemme bringt, wenn sie von ihm wissen will, was mit diesem David passiert ist, obwohl er den anderen doch versprochen hatte, niemandem davon zu erzählen. Mit einigem Witz berichtet sie auch vom Besuch bei seinem verwahrlosten Vater. Und mit ergreifendem Schwung davon, wie klein diese Jugendlichen innerlich noch sind und wie groß zugleich. Oder umgekehrt. Hier jedenfalls ist Authentizität keine Frage von Ausstattung oder eigener Erfahrung, sondern von Einfühlungsvermögen und sprach­licher Genauigkeit.   Tobias Elsäßer Für niemand Sauerländer, Mannheim 2011. 154 S., 12,95 € (Erscheint am 10. März) Beate Teresa Hanika Nirgendwo in Berlin Fischer Schatzinsel, Frankfurt a.M. 2011. 272 S., 13,95 € (Erscheint am 10. März) Alexa Hennig von Lange Lucy und die Jungs – Herzverrückt cbt, München 2011. 256 S., 14,99 € (Erscheint am 21. März)
Früher einmal standen sie im Rampenlicht, jetzt schreiben sie Jugendbücher: Neues von Beate Teresa Hanika, Tobias Elsäßer und Alexa Hennig von Lange
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kultur
2011-02-17T12:58:25+0100
2011-02-17T12:58:25+0100
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Heike Hennig im Porträt - Beweglicher Geist
Es war bei einem Elternabend in einem Leipziger Gymnasium, und da hieß es nicht, „Frau Müller muss weg“ (wie in der Komödie von Lutz Hübner), sondern „Crystal Meth muss weg“. Heike Hennig, Tänzerin, Choreografin, Regisseurin und außerdem Mutter dreier Söhne, wovon einer besagte Schule besuchte, notierte sich den Namen der in der Stadt gerade kursierenden Modedroge auf einem Notizzettel. Und dann gleich noch einmal und noch einmal, weil die anwesenden Eltern ihre Sorgen fast panisch wiederholten. Am Ende der Sitzung war das Blatt voll mit diesem Begriff, und sie wusste: Darum wird sich mein nächstes Projekt drehen! „Ja, die Themen fliegen mir meist einfach zu“, beschreibt Heike Hennig ihre Methode, die Welt künstlerisch auszu­loten. Und so kam „Crystal“ als Sprech- und Tanz-Theaterstück 2014 auf die Bühne des Theaters der Jungen Welt Leipzig, dessen Programm sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet. Als exemplarische Produktion für genreübergreifendes Theater erhielt es 2015 den mit 80 000 Euro dotierten Theaterpreis des Bundes, ein Jahr später den Preis des Sächsischen Theatertreffens. Offen für die Zeit und die Menschen sowie für Einflüsse jeder Art entwickelt Heike Hennig ihre Stücke und überlegt von Fall zu Fall, wie sie diese am besten umsetzen kann. Grenzüberschreitungen scheinen ihr im Blut zu liegen, seit sie mit ihrem damaligen Ehemann 1989 aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik flüchtete. Er wollte nicht zur Armee, und sie wollte „endlich Pistazien riechen“, denn sie war damals Stammgast in der Stadtbibliothek und las, was ihr dort in die Finger geriet. Die Romane von Gabriel García Márquez etwa zauberten ihr die Gerüche Südamerikas in die Nase und ins Gehirn. Diese Fantasien wollte sie irgendwann real werden lassen. Also entschloss sich das junge Paar zu einem neuen Leben im Westen. Hennig studierte in Köln Germanistik, modernen Tanz und Choreografie, ehe sie nach San Francisco zog, wo das Fach Performing Arts folgte. Sie reiste – „endlich!“ – durch die Welt, arbeitete in Brasilien und Portugal. Den Kontakt nach Leipzig, wo sie 1966 geboren wurde, ließ sie nie ab­reißen. 1998 kehrte sie in ihre geliebte Heimatstadt zurück und gründete das Forum Zeitgenössischer Tanz und ­Musik, in dem sie, zusammen mit Künstlern aus anderen Bereichen, Bühnenwerke und interdisziplinäre Kunstprojekte kreierte, die dann andernorts aufgeführt wurden. „Tanz allein ist mir zu wenig“, hatte sie schon früh erkannt, „ich bin ein Freigeist und brauche viele verschiedene Anregungen, Impulse und Ausdrucksmöglichkeiten.“ In ihren Stücken robben die Musiker schon mal bäuchlings auf die Bühne, weil es in „Kriech“ (2017) um Krieg geht – und dem kann sich eben keiner entziehen. Angeregt durch den Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ von Arundhati Roy schuf sie 2004 das „Estha“-Ballett für vier Tänzer, das den Codes der Macht und der Architektonik von Hierarchien nachspürte. Dafür recherchierte sie eine Woche lang in der Leipziger IBM-Niederlassung und ­beobachtete die Arbeiter, wie sie ihren Büroalltag bewältigten. In „Zeit – tanzen seit 1927“ konn­te sie 2006 vier zwischen 1927 und 1943 geborene ehemalige Tänzer der Oper Leipzig aus dem Ruhestand locken und motivieren, sich trotz Alter und mangelnder Übung erneut in ihrem Beruf zu betätigen. Betagte Körper mit ein­geschränktem Aktionsradius sieht man sonst nicht im Tanztheater, doch der Mut der Akteure lohnte sich. Das ­Publikum war begeistert, und Arte dreht einen Film über die Aufführung. Was ist das Wichtigste bei derartigen Produktionen? „Unbedingt und vor allem bewegliche Geister“, so Hennig, und die sucht sie sich überall zusammen, steckt sie mit ihrer Leidenschaft an. Bei den Proben wird nicht nur Yoga zum Aufwärmen gemacht, sondern stets viel gelacht. Obwohl ihr die Weltlage mitunter auf die Laune schlägt, will sie sich nicht unterkriegen lassen: „Wir können nicht alle trüb werden, gerade jetzt nicht! Wir müssen aufstehen und etwas tun!“ Dabei schlägt sie auf den Tisch und hat schon wieder dieses Funkeln in den Augen, das sie begleitet, wenn sie von ihrer Arbeit spricht – dem kommenden Stück „Angela, Ursula, Monika“ zum Beispiel, in dem sie drei Politikerinnen in den Mittelpunkt rücken wird. Was soll's denn werden, ein Dokudrama, eine Staatsanalyse, eine Frauenlegende? „Eine Mischung aus all dem wahrscheinlich“, das kann sie bereits verraten, obgleich das Konzept noch nicht fertig ist. Wie bezeichnet sie selbst eigentlich das, was sie veranstaltet? Da rutscht die Sächsin sprachlich kokett ein bisschen ins Sächsische hinüber, das auch der Leipziger Richard Wagner nie ganz abgelegt haben soll, und sagt ­unbescheiden humorvoll: „Gesamtkunstwerke, was sonst.“
Christoph Busse
Bloß keine Grenzen: Heike Hennig vereint in ihren Stücken Tanz, Sprache, Musik, Artistik und Humor
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kultur
2017-10-19T13:33:20+0200
2017-10-19T13:33:20+0200
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Laschet und Olympia 2036 - Vergangenheit ist kein Ausschlusskriterium
Wer Hoffnungen hatte, die Olympischen Spiele könnten in absehbarer Zeit wieder nach Deutschland kommen, sieht sich getäuscht. Für das IOC ist das australische Brisbane als Spielstätte 2032 gesetzt. Verstimmt zeigte sich NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der eine Privatinitiative zur Bewerbung des Rhein- und Ruhrgebiets unterstützt. Er halte an den Planungen fest, sagte Laschet. Wenn es mit dem Jahr 2032 nichts werde, stünde man auch für 2036 bereit – das wäre 100 Jahre nach den Spielen, die das nationalsozialistische Deutschland ausrichtete. Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Laschet, das kommt hinzu, hatte es anscheinend frei von Sorgen vorgetragen: Die Botschaft der Olympischen Spiele sei eine inhaltliche, die Welt eine andere als 1936. Genau diese Veränderung sichtbar zu machen, so Laschet, passe zu jeder Austragung der 30er Jahre. Anders gesagt: 100 Jahre nach den Nazi-Spielen scheint Olympia auch in Deutschland gut aufgehoben. Man mag diese Nonchalance befremdlich finden, aber so falsch ist der Gedanke nicht. Fangen wir mit der Vorgeschichte an: Berlin war eigentlich schon 1916 als Austragungsort vorgesehen gewesen. Der Erste Weltkrieg hatte das Feuer des Friedens jäh erstickt. Danach stand außer Frage, dass ein Land, dem im Versailler Friedensvertrag die Hauptkriegsschuld angelastet wurde, keine würdige Spielstätte war. Erst als sich die Republik in den 1920er Jahren den Weg zurück auf das internationale Parkett und in die Sportwelt erarbeitete, kam Berlin als Austragungsort wieder infrage. Am 13. Mai 1931 – nach dem Durchbruch der NSDAP bei der Reichstagswahl im Jahr zuvor – fiel die Entscheidung zugunsten Berlins, das sich in der Abstimmung gegen Barcelona behauptete. Keine zwei Jahre später wurde den Nationalsozialisten die Macht in Deutschland in die Hände gegeben. Die Grundfesten der Demokratie: rasch mit Gewalt zerschlagen. Die Opposition: verhaftet, ausgeschaltet, ermordet. Die Judenverfolgung: früh Alltag und bald durch rassistische Gesetze legitimiert. International formierte sich Protest. Die linke Regierung in Spanien nutzte die Gunst der Stunde, zimmerte das Dach für eine Alternative. Kommunistische und sozialdemokratische Parteien, Gewerkschaften, internationale Hilfsorganisationen und jüdische Emigranten organisierten eine „Volksolympiade“, die in Barcelona stattfinden sollte. Bevor die alternativen Sommerspiele 1936 Realität werden konnten, putschte das Militär unter General Franco gegen die spanische Republik. Das Land versank für rund drei Jahre im blutigen Bürgerkrieg. Hitler, Mussolini und Stalin mischten gehörig mit. „Nach der Olympiade werden wir rabiat. Dann wird geschossen“, notierte Propagandaminister Joseph Goebbels im August 1936. Unterdessen waren Sportler und Journalisten fast aus aller Welt nach Berlin gereist. Im Februar hatte das Regime in Garmisch-Partenkirchen mit der Ausrichtung der Winterspiele – noch nicht so aufmerksam verfolgt wie heute – gute Erfahrungen gemacht. Der internationale Protest gegen Deutschland als Gastgeber war Mitte der 1930er Jahre fast von Erfolg gekrönt. Avery Brundage, der Präsident des Amerikanischen Olympischen Komitees, erteilte jedoch Boykott-Forderungen eine Absage: Deutschland, befand er nach einer Inspektionsreise 1934, werde Regeln akzeptieren und gemachte Zusicherungen einhalten. Im US-amerikanischen Leichtathletik-Verband fiel Ende 1935, obgleich denkbar knapp, die Entscheidung zugunsten der Teilnahme. Danach zogen viele Verbände auch aus anderen Ländern nach; Palästina sagte wegen der Judenverfolgung in Deutschland ab. Ernest L. Jahncke, IOC-Mitglied aus den USA, der auf eine Verlegung der Austragungsorte gedrängt hatte, wurde im Juli 1936 abserviert. Der einflussreiche Deutschland-Befürworter Brundage rückte nach; 1952 wurde er IOC-Präsident. Schlecht erforscht oder gar unterbelichtet sind Winter- und Sommerolympiade 1936 nicht. Die Nationalsozialisten nutzen die Spiele zur Stabilisierung im Innern, als ästhetischen Ideologieverstärker in Sachen Körperkult und Rasseheroismus sowie als weltpolitische Werbetafel. Von der olympischen Idee und Bewegung, die eine internationale und dem Anspruch nach friedensstiftend ist, hielten sie nichts. Zu Beginn hatte Hitler die Spiele nicht einmal durchführen wollen. Wie das Regime ihnen dann doch etwas abgewinnen konnte, hat Leni Riefenstahl im bekannten Propaganda- und Dokumentarfilm „Olympia“ effektvoll in Szene gesetzt. Nicht zu Unrecht darf man Olympia in Deutschland zu den größten propagandistischen Erfolgen Hitlers in den 1930er Jahren zählen. Nicht deshalb, weil deutsche Sportler Mitte August 1936 die meisten Goldmedaillen geholt und so dem Regime großen Zuspruch beschert hatten, sondern weil sich die westlichen Gesellschaften leichtgläubig von Lügen, schönen Fassaden und Beschwichtigungsoffensiven einlullen ließen. Das Regime hatte sich widerwillig verpflichten lassen, allen Sportlern unabhängig von Nationalität und Herkunft freien Zugang zu gewähren. Die anti-jüdische Hetze wurde 1936 zumindest zwischenzeitlich auf Eis gelegt, die Plakate wurden abgehangen, Schilder abmontiert. Die Stätten des Folterns und Mordens betrieben die Nazis zwar weiter, unweit von Berlin bauten sie das neue Konzentrationslager Sachsenhausen, aber schirmten sie wohlweislich ab. Die Zulassung zweier „halbjüdischer“ Sportler – der Eishockeyspieler Rudi Ball und die Fechterin Helene Mayer – sollte die Weltöffentlichkeit zufriedenstellen. Sogenannte „Volljuden“ blieben außen vor. Abgesehen vom Fahnenprotz in Straßen und der Zurschaustellung nationaler Größe im Berliner Olympiastadion hielt sich die NSDAP im Hintergrund. Die SA bekam vorsichtshalber mitgeteilt: „Wir wollen […] beweisen, dass es Lüge ist, wenn […] immer wieder behauptet wird, dass in Deutschland Judenverfolgung an der Tagesordnung ist.“ Zeitungen waren auf Harmlosigkeit verpflichtet, Wörter wie „Exoten“ sollten nicht gedruckt werden. Spielzeughändlern ging die Anweisung zu, kein militärisches Getümmel im Schaufenster zu zeigen. Kritische internationale Presse gab es zwar. Dennoch ließen sich viele Gäste von der Melange aus Prunk, Großereignis und Friedensgesten blenden. Als sie abgereist waren, schlug das Regime gegen politische Gegner und Juden noch brutaler zu als zuvor. Das ist lange her, wird mancher müde sagen. Doch zu glauben, man könne hierzulande 100 Jahre später Spiele veranstalten, ohne dass das Thema mit aller Macht auf den Tisch kommt, wäre naiv. Das hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer im Blick, als er im letzten Jahr erklärte, Olympia 2036 sei nicht vorstellbar: „Wir bekämen eine unsägliche internationale Diskussion und würden damit auch die olympische Idee beschädigen.“ Eine Warnung, die man nicht in den Wind schlagen darf: Der Vorwurf wird kommen, Deutschland wolle sich von seiner Vergangenheit reinwaschen. Fraglich außerdem, ob eine Erinnerung an Berlin 1936 im Interesse des IOC wäre. Manches, was in Berlin der Welt vorgeführt wurde, hat Bestand: Die Idee, eine Fackel aus Griechenland ins Stadion tragen zu lassen, hatte der deutsche Sportfunktionär Carl Diem zum ersten Mal realisiert. Olympia 1936 käme unweigerlich in den Blick, wenn Deutschland 100 Jahre später Gastgeber wäre. Blühende Fantasie braucht es nicht, um sich vorzustellen, wer die Linie von 1936 zu 2036 ziehen könnte. Staaten, deren Spiele im demokratischen Westen besonders kritisch beäugt worden sind, dürften sich revanchieren wollen – man denke an die Sommerspiele in Peking 2008 oder die Winterspiele 2014 im russischen Sotschi. Der Eindruck, Deutschland wolle Vergangenheit und Verbrechen vergessen lassen, darf gar nicht erst entstehen. Und die westlichen Demokratien sollten sich nicht den Vorwurf einhandeln, mit doppelten Standards zu messen. Freilich: Vergangenheit sollte nicht per se ein Ausschlusskriterium sein. Dass es hierzulande um erinnerungskulturelle Infrastruktur schlecht bestellt ist, kann man nicht behaupten: Gedenkstätten, Dokumentationszentren, Museen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler außer- und innerhalb der Universitäten mit internationalen Kontakten. Genug Sachverstand und praktische Erfahrung, sollte man meinen, um etwaige Spiele in Deutschland erinnerungspolitisch zu flankieren. Schon die Sommerspiele 1972 in München waren als lebensfroher, bewusst minimalistischer Gegenentwurf zu Berlin 1936 konzipiert worden. Das Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft und der misslungene Befreiungsversuch, der mit dem Tod aller 11 Geiseln endete, überschattete den bis dahin gelungenen Versuch. Kaum auszudenken, könnte man sagen, wenn auch auf die dritte Olympiade in Deutschland ein Schatten fiele – 100 Jahre nach Garmisch-Partenkirchen und Berlin. Rhein und Ruhr mögen als Kontrapunkt zum Nazi-Protz 1936 ihren Charme haben. Indes müssten diese Olympischen Spiele weit mehr bieten als den leicht daher gesagten Gemeinplatz, dass die Welt nach 100 Jahren eine andere und bessere sei. Ein Engagement, das fröhliche Feierlichkeiten mit geschichtlichem Bewusstsein und Ernst zu verbinden vermag, erscheint zwar gar nicht so abwegig. Aber es verlangt allen Beteiligten viel, möglicherweise zu viel ab.
André Postert
Mit seinem Vorstoß einer Bewerbung für Olympia 2036 erzeugte Armin Laschet schnell Widerspruch. Sommerspiele 100 Jahre nach denen der Nazis, das mag zunächst befremden. Doch mit einem geschichtsbewussten Konzept wären sie nicht ganz abwegig.
[ "Olympische Sommerspiele", "Olympia", "Armin Laschet", "CDU", "Nationalsozialismus", "Adolf Hitler" ]
innenpolitik
2021-03-04T15:07:38+0100
2021-03-04T15:07:38+0100
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Politiker-Bashing – Europa gegen seine Politiker
Politikverdrossenheit äußert sich in Frankreich vor allem als Präsidentenverdrossenheit. In der Geschichte der Fünften Republik hat es noch keinen Präsidenten gegeben, der dauerhaft über so schlechte Umfragewerte verfügte wie Nicolas Sarkozy. Seit über einem Jahr liegt der Anteil der Franzosen, die mit seiner Amtsführung zufrieden sind, weit unter 30 Prozent. Interessanterweise kommt Premierminister François Fillon auf deutlich bessere Werte, obwohl er für dieselbe Politik steht – ein Indiz dafür, dass die fehlende Popularität des Präsidenten weniger dem Inhalt seiner Entscheidungen geschuldet ist als seinem Stil und seiner Persönlichkeit. Trotz des weit verbreiteten „Anti-Sarkozysme“ lassen sich wenige Belege dafür finden, dass die Verachtung gegenüber der Politik in Frankreich in jüngster Zeit stark zugenommen hätte. Die „Ras le bol“(„Schnauze voll“)-Stimmung ist vielmehr eine Art Mentalitätskonstante, die beinahe unabhängig zu sein scheint von der Frage, wer gerade für die Politik verantwortlich ist. Sich endlos hinziehende politische Affären bestätigen regelmäßig das feststehende Vorurteil über die politische Klasse. Echte Empörung rufen sie kaum hervor. Die aktuellen Probleme des deutschen Bundespräsidenten etwa würden beim französischen Publikum bestenfalls Achselzucken auslösen. Man ist Deftigeres gewohnt, von einem Präsidenten, der zu Beginn seinen Antrittsurlaub auf der Jacht eines Milliardärs verbrachte und unbotmäßige Journalisten auch gerne mal mit Pädophilen vergleicht. Die Franzosen sind politisch seit langem desillusioniert. Dass sie ihren Präsidenten nicht leiden können, ist deshalb noch nicht einmal eine Garantie dafür, dass sie ihn nicht wiederwählen. von Sascha Lehnartz Als Polens Außenminister Radosaw Sikorski eine europapolitische Grundsatzrede in Berlin hielt, brandete dem Heimkehrenden eine Welle der Empörung entgegen. Er sei ein Verräter, schrien Polen mit wutverzerrten Gesichtern, müsse vor das Staatstribunal gestellt und abgeurteilt werden. Sikorski ließ die Welle der Wut und Verachtung über sich hinwegspülen, überstand auch den Misstrauensantrag im Parlament, erklärt aber seitdem ohne Unterlass, warum Polen auch in einer stärker integrierten EU seine Souveränität nicht verlieren würde. Traditionell halten Polen nicht viel vom Staat, seinen Ämtern, Beamten und Politikern. Die Nationalhymne „Noch ist Polen nicht verloren“ stammt aus einer Zeit, in der Polen zwischen dem Habsburger Reich, Russland und Preußen aufgeteilt war. Im Zweiten Weltkrieg war das Land an der Weichsel erneut besetzt, diesmal vom Deutschen Reich und der Sowjetunion. Die „Befreiung“ 1945 endete für Polen hinter dem Eisernen Vorhang. Dass die jeweiligen Machthaber im Land sowie die polnischen Kollaborateure verachtet wurden, verstand sich von selbst. Stolz hingegen sind die Polen bis heute auf ihre Aufständischen und Helden, auch wenn alle Aufstände niedergeschlagen wurden. Ein einziger Aufstand war siegreich: der der Freiheits- und Gewerkschaftsbewegung Solidarno. Doch auch in der Demokratie ist die Politik für die meisten Polen ein „schmutziges Geschäft“ geblieben, von dem man sich besser fernhält. So gehört die Beteiligung der Polen an den Wahlen mit rund 50 Prozent zu den niedrigsten in ganz Europa. von Gabriele Lesser Lesen Sie weiter über die Lage in Italien und Belgien Im Deutschen sagt man: „Ich bin Metzger.“ In Italien sagt man: „Ich mache den Metzger.“ Und auch: „Ich mache den Politiker.“ Das passt sehr gut. Denn die meisten Italiener sind ohnehin der Meinung, dass die „Onorevoli“ genannten Abgeordneten mehr einen „auf Politiker machen“, als wirklich an das Gemeinwohl zu denken. Das Missfallen drückt sich immer drastischer aus: Als der Komiker Beppe Grillo im Jahr 2008 zum „Vaffanculo-Day“, zum „Leck-mich-am-A.-Tag“ gegen die Politiker aufrief, gingen in ganz Italien Zehntausende Menschen auf die Straßen. Und auch die trotz aller Antipathie bislang traditionell hohe Wahlbeteiligung wird von Wahl zu Wahl deutlich geringer – als Ausdruck des Missfallens gelten vor allem die „schede bianchi“, die „weißen Stimmzettel“, auf denen gar kein Kreuz gemacht wurde: Bei den Parlamentswahlen 2008 gaben knapp 4 Prozent der Wähler ihre Stimmzettel aus Protest bewusst leer ab. Um neues Vertrauen zu schaffen, will der neue Ministerpräsident Mario Monti jetzt die Diäten der Parlamentarier drastisch kürzen. Über deren Privilegien sind die Italiener bestens informiert, denn einer der größten Sachbucherfolge der vergangenen Jahre hat die den Politikern eh schon entgegengebrachte Verachtung vieler Menschen noch gesteigert. Der Titel des 1,2 Millionen Mal verkauften Buches: „Die Kaste – wie die Politiker Italiens sich unangreifbar gemacht haben.“ von Martin Zöller Das Land, das den Surrealismus erfunden hat, pflegt auch ein spezielles Verhältnis zu seinen Politikern. Solange die Parteigranden aus Flandern und der Wallonie im Streit liegen, was in Belgien meist der Fall ist, nehmen es die Bürger mit Humor: Die mit 540 Tagen längste Regierungskrise der Welt wurde mit Oben-ohne-Protest, Frittenparade und Volkswandertag fröhlich auf die Schippe genommen. Doch kaum dass die neue Regierung stand, setzte es Massenproteste gegen geplante Rentenkürzungen. Ob es wohl daran lag, dass das Kabinett um Premier Elio Di Rupo erst nach massivem Druck der Rating­agentur Standard & Poor’s zustande kam? Oder daran, dass auch Di Rupo auf die immer gleichen, „altbewährten“ Minister vertraut? Wie dem auch sei: Neun von zehn Belgiern haben kein Vertrauen mehr in die Politik, die schon in den siebziger Jahren in einen flämischen und einen wallonischen Teil zerfallen ist und von Clans beherrscht wird. Nur die katholische Kirche ist nach ungezählten Missbrauchsskandalen ähnlich tief im Ansehen der Belgier gesunken. von Eric Bonse Lesen Sie weiter über die Lage in Großbritannien Dass Politiker eigentlich allesamt Schurken und nur auf den eigenen Vorteil aus sind, kann man in Großbritannien fast täglich in den Boulevardzeitungen lesen. Abgeordnete beim Ehebruch oder sonstigen Eskapaden zu ertappen, zuletzt beim Junggesellenabschied mit SS-Uniform, gehört bei den „tabloids“ zur Tradition. Man kann diese Haltung aber auch aus dem drohenden Unterton von den des Boulevardjournalismus’ unverdächtigen BBC-Interviewern heraushören. Teil einer lärmenden, respektlosen politisch-medialen Kultur, die man nicht so ernst nehmen sollte, könnte man meinen. Doch bestätigten Unter- und Oberhaus das Bild im Jahr 2009 im „Spesenskandal“ auf das Trefflichste. Über Jahre hatten viele Parlamentarier das Vergütungssystem oft weit über die Grenze des Statthaften ausgereizt, sich Tausende Pfund an Wohngeldzulagen ertrickst oder der Allgemeinheit Erotikfilme und in einem Fall ein Entenhaus in Rechnung gestellt. Der damalige Premierminister Gordon Brown entschuldigte sich „im Namen aller Politiker“. Einziger Trost für die politische Klasse: Derzeit sind es die Boulevardmedien, die nach dem Abhörskandal bei der im Sommer geschlossenen News of the World auf der öffentlichen Anklagebank sitzen. von Henning Hoff
Das Ansehen der Politiker könnte kaum schlechter sein – und das nicht erst seit der Wulff-Affäre. Korruption, Lüge, Sittenlosigkeit – alle Schlechtigkeiten traut man ihnen zu. Keineswegs nur in Deutschland, wie ein Blick ins benachbarte Ausland zeigt
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außenpolitik
2012-02-16T12:48:23+0100
2012-02-16T12:48:23+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/europa-gegen-seine-politiker/48328
Klage gegen Paritätsgesetz in Brandenburg - Das Geschlecht, die Verfassung und wir
Laura Schieritz ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen und Beisitzerin im Landesvorstand der FDP. Sie trat als jüngste aller brandenburgischen Kandidaten 2017 zur Bundestagswahl an und klagt nun gemeinsam mit Matti Karstedt gegen das dortige Paritätsgesetz. Matti Karstedt ist Landesvorsitzender der Jungen Liberalen in Brandenburg und Beisitzer im Präsidium des Landesvorstandes der FDP. Er studiert Rechtswissenschaft an der Universität Potsdam und kandidierte bereits zwei mal zur Landtagswahl in Brandenburg. Unsere Parlamente sollen die Gesellschaft abbilden. Eine hehre Zielsetzung, an der sie seit jeher scheitern: Zu viele Männer, zu viele Studierte, zu viele Alte – die Liste könnte man um eine ganze Reihe von Kategorien ergänzen. Die Lösung des Problems liegt auf der Hand: Wir überlassen die Wahl nicht mehr den Bürgerinnen und Bürgern, sondern quotieren die Abgeordneten anhand von persönlichen Eigenschaften vor. Das sichert Repräsentation – und ist der Ausgangsgedanke für die Paritätsgesetze. Brandenburg hat es, Thüringen hat es für kurze Zeit gehabt und der Bund soll es noch bekommen. Doch was gut gemeint ist, ist zugleich brandgefährlich. Wer die Wählbarkeit seiner Mitmenschen von ihrem Geschlecht abhängig macht, legt damit die Axt an historisch errungene Prinzipien. Das in unserer Verfassung garantierte Recht auf freie und gleiche Wahl wird unter dem Banner der Gleichstellung ausgehebelt. Wir jedenfalls wollen nicht primär aufgrund von Eigenschaften gewählt und bewertet werden, auf die wir keinen Einfluss haben. Das Geschlecht, das Alter und die Ethnie gehören dazu. Das unserer Verfassung zugrunde liegende Verständnis von Repräsentation geht auch gar nicht davon aus, dass Männer nur von Männern und Frauen nur von Frauen vertreten werden können. Genauso, wie im Übrigen nicht nur eine weibliche Richterin über eine weibliche Angeklagte entscheiden darf oder vice versa. Das Individuum ist der Ausgangspunkt, der einzelne Mensch ist Grund und Grenze der Politik. Nicht die Gruppe, nicht das Kollektiv. Eine Auffassung, die der Thüringische Verfassungsgerichtshof bestätigt hat, als er am vergangenen Mittwoch das dortige Paritätsgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärte. Nun sind Streitigkeiten vor Verfassungsgerichten selten unpolitisch. Die Bewertung der Urteile kann am Essenstisch wie im Parlament durchaus entzweien. Während wir das thüringische Urteil begrüßen, mögen andere es als Skandal empfinden. In unserer offenen Gesellschaft ist das legitim. Doch so stark man auch inhaltliche und sachbezogene Kritik äußern kann und muss, so darf man niemals dem Reflex unterliegen, die Verfassung oder das Verfassungsgericht zu delegitimieren. Wer das tut, legt ohne jede Not die Axt an den Minimalkonsens unseres Rechtsstaats. Eine fatale Entwicklung, die uns allen auf die Füße fallen kann. Wenn Verfechterinnen und Verfechter des Paritätsgesetzes also öffentlich bedauern, dass der Verfassungsgerichtshof das Gesetz nicht gegen „Angriffe“ der AfD verteidigt habe, so offenbaren sie ein erschreckendes Verständnis von Gewaltenteilung. Verfassungsgerichte sind nicht der verlängerte Arm einer Regierung. Es ist nicht ihre Aufgabe, Gesetze und Regierungsprojekte zu verteidigen. Dabei wollen wir gar nicht verhehlen: Ja, auch für uns als Liberale ist es unerträglich, dass in Thüringen nur die AfD den Rechtsweg gegen ein verfassungswidriges Gesetz bestritten hat. In unserer Heimat Brandenburg machen wir es anders; dort sind Junge Liberale, Piratenpartei und auch einzelne Bürgerinnen und Bürger gegen das Paritätsgesetz aktiv. Welche politische Gruppierung klagt, darf rechtlich jedoch keine Rolle spielen. Justitia ist schließlich blind. Gerichte bewerten auf Basis des Rechts, nicht nach Ansehen der Person. Und das muss auch so bleiben. Wenn der Verfassungsgerichtshof also ein Gesetz für nichtig erklärt, weil es Grundrechte verletzt, so spielt nicht er das Spiel der Populisten, sondern all jene, die überhaupt erst – gegen alle Warnungen und Bedenken der unabhängigen wissenschaftlichen Dienste der Parlamente – verfassungswidrige Gesetze auf den Weg bringen. Jeder Mensch bringt durch seinen individuellen Hintergrund wertvolle Perspektiven in die politische Debatte ein. Repräsentationsdefizite muss man daher auch hinterfragen, wenn man Paritätsgesetze ablehnt. Viele Strukturen in Parlamenten und Parteien haben sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert und schrecken Frauen, aber auch junge Menschen, Nichtakademiker oder Menschen mit Migrationshintergrund ab. Die Parteien sollten die Mitgliederermutigung und -entwicklung, eine respektvolle und partizipative Atmosphäre sowie Kampagnen mit Vorbildern aus der gesamten Gesellschaft stärker als Chance begreifen und vorantreiben. Gleichberechtigung braucht echtes Empowerment statt starr vorgegebener 50/50-Schablonen.
Matti Karstedt, Laura Schieritz
In Thüringen ist das Paritätsgesetz vom Landesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden. In Brandenburg ist es noch in Kraft, doch die Jungliberalen Matti Karstedt und Laura Schieritz klagen dagegen. Hier erläutern sie, warum sie es für gefährlich halten.
[ "Paritätsgesetz", "Parität", "Frauenquote", "Brandenburg", "Thüringen", "FDP" ]
innenpolitik
2020-07-19T14:30:26+0200
2020-07-19T14:30:26+0200
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Tambrea als Ludwig II - Vom Schloss aufs Arbeitsamt
Der „kini“ ist sein Schicksal: Sabin Tambrea sieht dem legendären König Ludwig II von Bayern selbst ohne Maske und Kostüm verblüffend ähnlich, ist genauso groß und leicht wie jener bei seinem Amtsantritt 1864. Und den schönen Künsten ist er ebenfalls kompromisslos ergeben. Kein Wunder, dass man in den Besetzungsbüros auf ihn aufmerksam wurde, als das Regie-Duo Peter Sehr und Marie Noëlle den Film „Ludwig II“ plante (Kinostart 26. Dezember). Aufgeregt war er bei den Castings schon, sagt Tambrea beim Gespräch in einem Berliner Lokal, „doch durch das, was ich zu diesem Zeitpunkt vom König wusste, vor allem über seine unendliche Liebe zur Kunst und sein Streben nach dem Unerreichbaren, hatte ich so ein stilles Einverständnis mit ihm. Dadurch fiel es mir nicht schwer, die Probeszenen einfach instinktiv aus mir heraus zu spielen. Da war nichts, was von mir sehr weit entfernt gewesen wäre.“ Das merkt man dem fertigen Film auch fulminant an, den Tambrea in unglaublich souveräner Weise nahezu im Alleingang zwei Stunden lang trägt. Ein Jahr hat er sich auf diese Rolle vorbereitet, vier Monate Reitunterricht genommen und an Sekundärliteratur gelesen, was möglich war. In Konkurrenz zu O. W. Fischer (bei Helmut Käutner, 1955) und Helmut Berger (bei Luchino Visconti, 1972) begreift er sich allerdings nicht: „Wir haben uns auf andere Aspekte der Figur konzentriert und wollten – durch den Schnitt, die Art der Sprache und der Bewegungen – einen modernen Ludwig für neue Generationen kreieren.“ Sabin Tambrea nimmt es gelassen, dass er in den nächsten Monaten, vielleicht sogar Jahren, mit dieser Rolle identifiziert werden wird. Er wirkt zurückhaltend, fast scheu, dabei aber sicher in dem, was er will. So musste er am Anfang die Absagen von mehreren Schauspielschulen verkraften – und ließ sich nicht beirren: „Ich dachte mir, dann hat die Prüfungskommission halt noch nicht gesehen, was in mir drinsteckt.“ Voll Euphorie schaffte er es an die renommierte Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, von wo ihn Claus Peymann 2009 gleich an sein Berliner Ensemble engagierte. Dass sich hierzulande nur rund 3 Prozent aller Darsteller von ihrem Beruf ernähren können, hat der hoch begabte Aufsteiger nicht vergessen. Einen Vorgeschmack auf die prekären Bedingungen in seinem Metier erfuhr er direkt im Anschluss an die Drehzeit zu „Ludwig II“. Nach der letzten Klappe musste er aufs Arbeitsamt, denn am Berliner Ensemble, wo er wegen des Filmes gekündigt hatte, war eine Weile nichts für ihn frei. Die Umstellung von den königlichen Märchenschlössern, in denen nachts gedreht wurde, wenn der letzte Tourist abgezogen und die erste Putzkolonne noch nicht eingetroffen war, zurück in Sabin Tambreas Berliner Leben, „in dem ich meinen Kühlschrank füllen und die anderen Dinge des Alltags bewältigen muss“, war nicht leicht. Auch psychisch traf ihn ein veritabler Schmerz, „schließlich lässt man die Figur, die man spielt, äußerst nahe an sich heran. Und dann muss man sie gehen lassen, und das tut schon weh.“ Jetzt gehört er wieder zum Berliner Ensemble und kann unter der Regie von Katharina Thalbach in Shakespeares „Was ihr wollt“ selbst auf der Geige glänzen. Früher beherrschte er dieses Instrument respektive die Bratsche dermaßen gut, dass er diverse Preise beim Wettbewerb „Jugend musiziert“ gewann. Aber irgendwann musste er aufgeben, weil er aus Angst vor den öffentlichen Auftritten in der Garderobe oft ohnmächtig wurde. Hingegen geigen seine Schwester und Eltern in verschiedenen deutschen Orchestern. Die Familie stammt aus Rumänien, wo Tambrea 1984 geboren wurde. Während einer Konzertreise blieb der Vater in Österreich, weshalb bei seinen Angehörigen daheim der Geheimdienst klingelte und Einzelheiten wissen wollte. Der Vater holte über das Familienzusammenführungsprogramm Frau und Kinder 1986 nach, Tambrea wuchs in Marl und Hagen auf. Die Musik ist die „Grundessenz meines schauspielerischen Berufs“, sagt er, sie hilft ihm, jede Rolle jenseits der sprachlichen Bedeutungsebene wie eine Partitur zu lesen, ihre Pausen, Rhythmen, Spannungsbögen zu erforschen. Neben Deutsch und Rumänisch nennt er die Musik seine dritte Sprache. Doch wie auch immer er sich ausdrückt, bisher ist ihm eigentlich alles gelungen – was natürlich seinen Preis hat. Als er etwa die Zusage für den Part des Königs Ludwig erhalten hatte, war das „einer der traurigsten Momente“ in seinem Leben: weil der Traum in Erfüllung gegangen und damit verloren war. Jetzt tut er sich nach neuen Träumen um und hofft, „im ständigen Wechselbad zwischen Sehnsucht und Erfüllung“, das ihn emotional charakterisiert, bald wieder ein Glück zu finden. Vielleicht ja in der Inszenierung von Robert Wilson im April am Berliner Ensemble mit der nächsten Aufgabe, die ihm wie auf den zartgliedrigen Leib geschneidert scheint: Peter Pan, der ewige Träumer. Angst? Nein, lächelt Sabin Tambrea, es wird wie stets bei ihm sein: „Ich steige einfach aufs Seil und gucke, wie weit ich komme.“ ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
Irene Bazinger
Fast im Alleingang: Sabin Tambrea spielt die Hauptrolle in der Neuverfilmung des Lebens von Ludwig II. Doch auch ein König ist gegen die Unwägbarkeiten des Schauspielerlebens nicht gefeit
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kultur
2013-01-19T13:25:32+0100
2013-01-19T13:25:32+0100
https://www.cicero.de//kultur/tambrea-als-ludwig-II-vom-schloss-aufs-arbeitsamt/53183
Eurokritiker - Die AfD könnte schon wieder Geschichte sein
Unter Winston Churchill und Mahatma Gandhi macht es der Moderator der Wahlparty der Alternative für Deutschland (AfD) in Berlin am Wahlabend nicht. „Blut, Schweiß und Tränen“ müssen hier offenbar fließen und um neben martialischen Durchhalteparolen auch noch friedlich anmutenden Optimismus zu verbreiten, fügt er hinzu: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“ Im Publikum befinden sich auch zahlreiche Menschen, die alt genug sind, dass sie diese Zitate schon live gehört haben könnten. Aber insgesamt ist die Stimmung im Berliner Maritim-Hotel eher durchwachsen angesichts der Hochrechnungen, nach denen die AfD mit 4,9 Prozent den Einzug in den Bundestag nicht schafft. Wenn man den eigenen Sieg nicht feiern kann, weidet man sich lieber an den Niederlagen der anderen, heißt das Motto des Abends. Am lautesten ist bei jeder neuen Hochrechnung immer der Jubel über die Verluste der FDP, immer verzweifelter klingt aber auch das kollektive Stöhnen, wenn der eigene blaue AfD-Balken stets bei 4,9 Prozent stehen bleibt. [gallery:20 Gründe, die D-Mark wieder einzuführen] Sowohl die einfachen Mitglieder im Saal als auch die Parteispitze haben mehr erwartet, den sicheren Einzug in den Bundestag. Viele haben gar von einem zweistelligen Ergebnis geträumt und schütteln jetzt fassungslos die Köpfe. Bernd Lucke, das prominenteste Gesicht der Partei, beschwört das Prinzip Hoffnung und sagt in jede Kamera: „Nun warten wir erst mal das endgültige Ergebnis des Abends ab.“ Irgendwo müssen die paar Stimmen doch noch herkommen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und diese Hoffnung ist momentan Ostdeutschland. Einer Hochrechnung des MDR zufolge kam die AfD nämlich in den ostdeutschen Bundesländern auf 5,9 Prozent. Im Westen erreichte sie dagegen nur 4,6 Prozent. Anders die FDP: Die Liberalen holten im Westen 5,0 Prozent der Stimmen, im Osten dagegen nur 2,6 Prozent. Eigene Fehler können die Parteispitze und ihre versammelten Mitglieder nicht erkennen: weder die nationalistischen Untertöne im Wahlkampf, noch die fast ausschließliche Beschränkung auf das Thema Euro noch das Fischen nach Stimmen am rechten Rand. Im Gegenteil, ihr Berliner Spitzenkandidat Joachim Starbatty, der ewige Anti-Euro-Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, analysiert das Ergebnis frei nach Gandhi: „Erst versuchen sie dich finanziell auszugrenzen, dann streichen sie dich braun an und dann schweigen sie dich tot.“ Ob die AfD die Demokratie tatsächlich „reicher und stärker“ gemacht hat, wie ihr Häuptling Lucke behauptet, darf man bezweifeln. Nun steht es fest: Die AfD hat es mit 4,7% nicht in den Bundestag geschafft. Doch selbst wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde genommen hätten, wäre die Bedeutung der Blauen mit ihrer rückwärtsgewandten Fundamentalopposition eher gering gewesen. Sollte die Eurozone durch die Einrichtung einer Bankenunion, die erfolgreiche Geldpolitik der EZB und eine entschlossene Politik der neuen Bundesregierung, die Krise weiter hinter sich lassen, ist die AfD vielleicht schon nach der Europawahl im kommenden Jahr Geschichte. Die endgültigen Wahlergebnisse wurden am 23.09. in den Artikel eingepflegt. Nach der Wahl - Analysen, Kommentare, Reportagen – Was der 22. September für Deutschland bedeutet. Das Wahl-Spezial von Cicero liegt der Oktober-Ausgabe des Magazins bei und ist ab Donnerstag am Kiosk und in unserem Online-Shop erhältlich
Til Knipper
4,7 Prozent – mit diesem Ergebnis schafft es die eurokritische „Alternative für Deutschland“ nicht in den Bundestag . Bernd Luckes AfD könnte schneller aus der politischen Landschaft verschwinden als sie auf der Bildfläche erschienen ist
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innenpolitik
2013-09-22T21:33:40+0200
2013-09-22T21:33:40+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/eurokritiker-bernd-lucke-ostdeutschland-bernd-lucke-alternative-fuer-deutschland-afd-koennte-schon-wieder-geschichte-sein/55883
Cicero im Oktober - Elf Prominente kritisieren die WM in Katar und Russland
Die Kritik an der Fußballweltmeisterschaft in Katar wird lauter. Elf prominente Gastautoren forderten im Magazin Cicero (Oktoberausgabe), die Austragung des Turniers 2022 in dem Emirat zu überdenken. „Sagt die Fußballweltmeisterschaft in Katar ab!“, rief der Trainer des VfL Bochum, Peter Neururer. „Alles, was ich mit dieser Weltmeisterschaft in Verbindung bringen kann, hat bisher nicht viel mit Sport zu tun. Der Fußball darf sich an so einem Foulspiel nicht beteiligen“. Jörg Schmadtke, Sportdirektor des 1. FC Köln, erklärte, man müsse „das Vergabeverfahren kritisch prüfen“. Auch Werder-Bremen-Aufsichtsrat Marco Bode findet, „dass die Vergabe der Weltmeisterschaft nach Katar ein großer Fehler war und korrigiert werden sollte.“ Wie Bode kritisierte der frühere Nationalspieler Thomas Strunz nicht nur die Vergabe der WM an Katar, sondern auch die Austragung der WM 2018 in Russland. Strunz forderte bis zum Sommer 2015 einen „Alternativplan für die Neuvergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022“. Unter den elf Gastautoren sind auch Schriftsteller wie Axel Hacke oder Sibylle Berg. Berg schreibt, die Spieler müssten Turniere „in Kackländern“ bestreiken. Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, kritisierte: „Die Fifa macht sich zum Komplizen von Menschenrechtsverletzungen, wenn etwa auf den Stadionbaustellen unmenschliche Bedingungen herrschen und sogar Arbeiter wegen dieser Bedingungen sterben.“ Mit Blick auf die WM in Russland forderte die Amnesty-Chefin Meinungs- und Versammlungsfreiheit am Rande der Sportveranstaltung. Diese Woche berät der Fifa-Vorstand in Zürich. Tagesordnungspunkte sind der Bericht des FIFA-Generalsekretärs Jérôme Valcke über die Vorbereitung der WM in Katar 2022 und der Bericht des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe internationaler Spielkalender 2018 bis 2024. Zu den umstrittenen Austragungsorten der Fußball-WM schreiben in der neuen Ausgabe von Cicero: - Marco Bode, Fußballeuropameister 1996, heute Aufsichtsratsmitglied des SV Werder Bremen. - Peter Neururer, Trainer beim Zweitligisten VfL Bochum - Jörg Schmadtke, ehemaliger Fußballtorhüter, heute Sportdirektor des 1. FC Köln - Thomas Strunz, Fußballeuropameister 1996 und Sport1-Experte - Sibylle Berg, Autorin und Dramatikerin - Marcel Reif, Fußballexperte und Sky-Chefkommentator - Moritz Rinke, Dramatiker, Romanautor und Stürmer der Autorennationalmannschaft - Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland - Uli Hannemann, Schriftsteller und Mitglied der Autorennationalmannschaft, dort Innenverteidiger - Yves Eigenrauch, früher Fußballprofi. Gewann mit Schalke 1997 den Uefa-Cup. - Axel Hacke, Journalist und Schriftsteller. Sein jüngstes Buch: „Fußballgefühle“ Schließen Sie sich der Cicero-Elf an und zeigen auch Sie der Fifa die rote Karte. Schreiben Sie uns Ihre Stellungnahme unter [email protected]! Die Stellungnahmen der Cicero-Elf und die Geschichte hinter dem Fifa-Korruptionsskandal lesen Sie in der Oktober-Ausgabe des Cicero. Die digitale Ausgabe des Magazins für politische Kultur erhalten Sie im Online-Kiosk. Das gedruckte Heft erhalten Sie am Kiosk.
Cicero-Redaktion
Rote Karte für die Fifa: In der Oktober-Ausgabe des Magazins Cicero fordern prominente Fußballer und Autoren, die Weltmeisterschaft in Katar zu überdenken. „Der Fußball darf sich an so einem Foulspiel nicht beteiligen“, warnt etwa der Trainer des VfL Bochum, Peter Neururer. Die Kritiker nehmen auch Russland ins Visier
[ "Katar", "Fußball", "WM", "Russland" ]
innenpolitik
2014-09-24T10:20:02+0200
2014-09-24T10:20:02+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-im-oktober-elf-prominente-kritisieren-die-wm-katar/58256
Freundschaft in der Literatur – Facebook und der Alte Fritz
„Keine Freundschaft kongruiert völlig mit der Idee der Freundschaft.“ Immanuel Kant verstieg sich einst auf diese Freundes-Formel und beschrieb einen Zustand, wie sie die Social-Media-Moderne, da wir via sozialer Netzwerke „Freunde“ wie schlechte Gewohnheiten sammeln, nicht trefflicher hätte beschreiben können. [gallery:20 Gründe, warum man eine Freundschaft beenden sollte] Kant beschrieb eine seit ewigen Zeiten andauernde Diskrepanz von angestrebter und tatsächlicher Freundschaft. Denn Freundschaft ist nie oder selten mit dem Ideal der Freundschaft in Deckung zu bringen. Und heute, da der Freundschaftsbegriff – nicht zuletzt Dank Facebook – inflationär in Haftung steht, hat sich das, was wir Freundschaft nennen, wohl weiter von seinem Ideal entfernt denn je. Zwar lässt sich beklagen, dass mittels Facebook der Freundschaftsbegriff die ständige Überdehnung erfährt. Wir können unsere Freunde katalogisieren, per Mausklick „Freundschaften“ schließen und ebenso beenden; wir können abonnieren, unseren Freundeskreis nach Kriterien systematisieren. Und wir wissen, dass da eine ganze Industrie lauert, die dem narzisstischen Netzmenschen via Mausklick Hormonausschüttung garantiert. Doch hat Facebook wirklich die Qualität von Freundschaft verändert? Wohl kaum. Die Netzfreunde sind Teil eines Spiels­. Es sind systematisierte, virtuelle Kommunikationsriten. Ein Spiel also, das wir ernst nehmen, aber nicht als Wurzel allen Übels kulturpessimistisch diffamieren sollten. Bleiben wir nüchtern und stellen fest: Facebookfreundschaften sind in der Regel keine. Sie dienen der schnellen, beiläufigen Kommunikation mit Bekannten, klassischem Networking und nicht zuletzt dem eigenen Sendebewusstsein. Wir projizieren unser Ich auf viele kleine Ichs, in der Hoffnung, gespiegelt zu werden. Es ist das Spiel mit dem digitalen Ego, an dessen Ende eine rote 1 leuchtet, die uns im besten Fall in unserem virtuellen Sein bestätigt. Und überhaupt. Irgendwie war die Qualität einer Facebook-Freundschaft bereits vor Hunderten von Jahren vorhanden. So gesehen waren Voltaire und Friedrich die ersten Facebookfreunde. Denn auch hier ging es zunächst um klassische Lobhudelei. So schrieb Voltaire an Friedrich im September 1736: „In welchem Winkel der Welt ich auch mein Leben beenden werde, seien Sie versichert, daß Ihnen, d. h. dem Glück eines ganzen Volkes, meine beständigen Wünsche gelten. Ich werde mich stets wie Ihr Untertan fühlen, Ihr Ruhm wird mir immer teuer sein. (…) Mit tiefster Hochachtung bin ich Eurer kgl. Hoheit untertänigster Voltaire.“ Viel hat sich nicht geändert. Denn das, zumindest für den Beginn der Beziehung, charakteristische gegenseitige Anbiedern zwischen Friedrich und Voltaire ähnelt einem einfachen Like, einer permanent an der Oberfläche stehenden Umschmeichelei. Es war nicht mehr und nicht weniger als eine wechselseitige Belobigung einer, auf narzisstischer Basis stehenden (vor allem männlichen) Gefühlswelt. Es bedeute eben noch keine Freundschaft, sondern wie die meisten zwischenmenschlichen Beziehungen, Bekanntschaften, die über den Grad des eigenen Ichs, über den egoistischen Tellerrand, nicht hinausreichen. Die ungleiche Machtbeziehung zwischen Voltaire und Friedrich ging schief. Ihr Ende – unwürdig. Fast wie ein Verbrecher floh Voltaire 1753 aus Berlin, wurde in Frankfurt am Main verhaftet und von Friedrichs Mannen über Wochen gedemütigt. Hätte es in Zeiten Voltaires Facebook gegeben, Friedrich hätte Voltaire einfach die Freundschaft kündigen können, statt ihn letzten Endes maßlos zu gängeln. Überhöhung der Freundschaft in der Literatur In der Literatur wurde der Freundschaftsbegriff ähnlich verzerrt, wie dies bei Facebook heute der Fall ist – ein Extrem, nur in die andere Richtung. Die Literatur schuf ein Ideal, dass sich von tatsächlicher Freundschaft gleichermaßen entfernt hatte. Diese literarische Überhöhung von Freundschaft findet sich exemplarisch bei Michel de Montaigne. Er schrieb wohl den berühmtesten Essay über die Freundschaft. So verfasste er„Von der Freundschaft“ angeregt durch die Beziehung zu seinem viel zu früh verstorbenen Freunde Etienne de la Boetie. Freundschaft wird bei Montaigne zu einer vollkommenen Utopie. Wohl auch deshalb, da er sein Freundschaftsbild an einer Beziehung spiegelt, die durch den Tod des Freundes ein frühes Ende findet. Montaigne idealisiert also posthum. So gesehen nähert sich eine Freundschaft wohl erst retrospektiv dem Ideal. „Ein wahrer Freund ist ein Geschenk, kostbar und unersetzlich“, schrieb Montaigne. „In der Freundschaft dagegen herrscht eine allgemeine Wärme, die den ganzen Menschen erfüllt und die außerdem immer gleich wohlig bleibt; eine dauernde , stille, ganz süße und ganz feine Wärme, die einen nicht verbrennt und nicht verletzt.“ Seite 2: Die Freundschaft - ein männliches Ideal? Eine echte Freundschaft, das bedeutet nach Montaigne „die vollständige Verschmelzung zweier Seelen“. Und in Anlehnung an Aristoteles (der in der Nikomachischen Ethik Freundschaft als den „höchste(n) Grad gerechten Wesens“ ausweist) spricht Montaigne von einer „Seele in zwei Körpern“. Die Freundschaft als Seelenverwandtschaft, als doppeltes, ja verdoppeltes Ich. So sah es auch Marcus Tullius Cicero, der schrieb, der Freund sei das Spiegelbild unseres Selbst. Doch die Literatur überhöhte nicht nur, sondern sie vermännlichte auch. Freundschaft, ein männliches Ideal? Denn das Ideal der Freundschaft war zuallererst ein männliches. Auch und gerade bei Montaigne. Frauen hätten für ihn gewöhnlicherweise weder genug Gesprächsstoff, noch intelligente Ideen zu bieten und sowieso seien ihre Seelen nicht fest genug. Freundschaften waren fortan in Literatur und Philosophie durch und durch männlich geprägt. Freundschaften zwischen Frauen fanden auf dem Papier nicht statt. Bis dato galt: Frauenfreundschaften existierten nur so lange, bis ein Mann den Raum betrat. Sodann erschöpfte sich die freundschaftliche Beziehung zwischen Frauen alsbald in reiner Konkurrenz. Friedrich Nietzsche formulierte dies wohl am schärfsten: „Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig: Katzen sind immer noch die Weiber und Vögel. Oder, besten Falles, Kühe.“ Eine solche Abwertung von Frauenfreundschaften hatte System in einem System, das bekanntlich Männer dominierten. Freundschaft, ein Ort der Stille Heute lässt sich weder mit dem mit Gefälligkeits-Pathos befüllten Freundschaftsbegriff der Literatur etwas abgewinnen, noch fällt es schwer, der Fokussierung der Freundschaft auf das Männliche zu folgen. Klar ist: Freundschaft ist und bleibt etwas Diffuses. Sie hat stets etwas Unstetiges, entspringt demselben egoistischen Motiv, das sie gleichfalls verneinen will. Allenfalls geht es darum„sich selbst im andern zu finden“, wie es Susan Sontag formulierte. Gerade heute, da Freundschaft mehr und mehr ins Zentrum des gesellschaftlichen Miteinanders rückt, da Freundschaftsmodelle klassische Familienstrukturen abzulösen beginnen, ist es unabdingbar, sich von Zeit zu Zeit im anderen zu finden. Und selbst Montaigne war sich dessen sicher und schuf die wohl versöhnlichste Definition von Freundschaft: „Wenn man in mich dringt, zu sagen, warum ich Etienne de la Boetie liebte, fühle ich, dass nur eine Antwort dies ausdrücken kann: Weil er er war; weil ich ich war." Das ist tatsächlich die Essenz von Freundschaft: Die Eigenständigkeit in der Zweisamkeit. Nicht das Verschmelzen, nicht die Suche nach dem passenden Gegenstück heißt Freundschaft. Was macht eine große Freundschaft aus? Zuallererst: Freiheit im Selbstbestimmten. Die freie Entscheidung für einen Menschen zu sein. Freundschaft bedeutet da sein und bleiben. Nüchtern, aber verlässlich. Denn ein wahrer Freund ist und bleibt jemand, mit dem man schweigen kann. Ein Freund ist nicht weniger als ein liebenswerter Mensch, mit dem es keine schamvolle Stille gibt.
Freundschaft. Was ist das eigentlich? Die Literatur wusste den Begriff der Freundschaft wunderbar zu überhöhen, erschuf eine Utopie der Freundschaft, in der das weibliche Geschlecht allerdings nicht stattfand
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kultur
2012-08-27T11:54:45+0200
2012-08-27T11:54:45+0200
https://www.cicero.de//kultur/facebook-und-der-alte-fritz/51638
Neuer Kurs der FDP - „Es isch die Wirtschaft, Du Hutsimpel“
Die FDP will wieder die Partei der Wirtschaft sein. Dieser schlichte Satz klingt so absurd, weil es gleichzeitig so selbstverständlich erscheint, dass die Freien Demokraten immer schon die naheliegendste Wahl für Unternehmer, Selbständige und Freiberufler waren. Trotzdem ist Parteichef Christian Lindner mächtig stolz darauf, dass sich pünktlich zum Dreikönigstreffen der Liberalen in Stuttgart eine Reihe namhafter Wirtschaftsvertreter öffentlich zur FDP bekennt. Zu den neuen Unterstützern gehören BASF-Aufsichtsratschef Jürgen Hambrecht, 69, Berthold Leibinger, Gesellschafter des Maschinenbauers Trumpf, 85, der Motorsägenhersteller Hans-Peter Stihl, 83, Eckhard Cordes, einst Vorstandschef der Metro, 65, und der ehemalige Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger, 66. Auffällig ist, dass es sich bei den neuen FDP-Fans samt und sonders um ältere Herren handelt, die im operativen Geschäft nicht mehr tätig sind und nun offenbar die Lücken in ihren Terminkalendern mit ein bisschen politischem Engagement füllen wollen. Für Aufbruch und Zukunft steht dieser Old-Men’s-Club aber ganz und gar nicht. Lindners Stolz zeigt vor allem, dass er für ein bisschen Aufmerksamkeit fast alles macht und belegt, aus welchen Tiefen er die FDP nach dem krachenden Scheitern bei der Bundestagswahl 2013 heraufholen muss. Auch als Posterboys für Lindners Lieblingsthema Digitalisierung taugen Hambrecht, Leibinger und Co. nur bedingt. Das heißt aber nicht, dass Lindners Strategie falsch ist, mit der FDP verstärkt auf eine marktwirtschaftliche Programmatik zu setzen. Das hat er sich vorsichtshalber von der Unternehmensberatung Boston Consulting Group in einer politischen Marktanalyse bestätigen lassen. Das ist die offene Flanke der Großen Koalition. Die ist bisher vor allem durch eine wirtschafts- und arbeitsmarktfeindliche Politik aufgefallen, die Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit schadet: Rente mit 63 wurde eingeführt, bei der Energiewende tritt sie auf der Stelle, das neue Gesetz über Werkverträge und Zeitarbeit wurde gerade noch rechtzeitig vom Kanzleramt gestoppt, mit der Reform der Erbschaftssteuer droht schon die nächste Gefahr für deutsche Unternehmen und bei der digitalen Infrastruktur hinkt Deutschland hinterher. Wenn Lindner aus der außerparlamentarischen Opposition heraus die Bundesregierung bei diesen Themen vor sich hertreibt, mag das für das Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde bei den für die FDP extrem wichtigen anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt reichen. Für mehr aber auch nicht. Nur auf die wirtschaftsfreundliche Politik zu setzen, bleibt eine riskante Strategie für Lindners FDP. Trotz wohlklingender Worthülsen wie dem „mitfühlenden Liberalismus“ sind die Freien Demokraten dann schnell wieder auf dem Weg zur Steuersenkungspartei für Besserverdienende. Gerade das Thema Digitalisierung zeigt aber, dass sich die FDP auch auf ihre sozialliberalen Wurzeln besinnen muss. Hier muss sie sich entscheiden: Will sie die Freiheit des einzelnen Bürgers schützen oder doch nur die Interessen global agierender Konzerne, die mit Daten ihr Geld verdienen wollen? Sinnvolle Regelungen für Daten- und Verbraucherschutz im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung zu definieren, wäre ein Bereich, in dem sich die FDP als Bürgerrechtspartei neu profilieren könnte. Sie könnte damit auch eine Nische besetzen, die die Piratenpartei bei ihrem Untergang hinterlassen hat. Dann sind auch wieder Wahlergebnisse von 10 Prozent und mehr denkbar und die FDP wäre zurück im Rennen um die Regierungsverantwortung in Bund und Ländern. Ob diese Botschaft in der Parteispitze schon angekommen ist, darf bezweifelt werden. „Es isch die Wirtschaft, Du Hutsimpel“, hat Michael Theurer, der FDP-Vorsitzende in Baden-Württemberg, beim Landesparteitag gesagt. Mit dem ins Schwäbische übersetzten Wahlkampfslogan von Bill Clinton („It's the economy, stupid“) wird es für die FDP aber nur für die Oppositionsbank reichen, wenn überhaupt.
Til Knipper
Die FDP forciert auf dem heutigen Dreikönigstreffen ihr bundespolitisches Comeback. Christian Lindners neue Strategie folgt dabei einer alten – verstärkt auf eine marktwirtschaftliche Programmatik zu setzen. Das allein wird nicht reichen
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wirtschaft
2016-01-06T11:13:15+0100
2016-01-06T11:13:15+0100
https://www.cicero.de//wirtschaft/neuer-kurs-der-fdp-es-isch-die-wirtschaft-du-hutsimpel/60326
Plan zur Euro-Reform - Macrons Eigentor und Schäubles später Sieg
Die ganze Nacht hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) in Brüssel durchverhandelt. Es war eine Nacht voller Hindernisse: Erst musste sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire zu einer Krisensitzung nach Paris abreisen, dann legten sich Niederländer und Italiener quer. Noch um zwei Uhr Morgens sah es nach Scheitern aus. Doch nun, am Morgen danach, steht Scholz im deutschen Pressesaal im Keller des Brüsseler EU-Ratsgebäudes und strahlt. „Wir haben uns geeinigt, das zählt zu den guten Sternstunden der EU“, berichtet der Finanzminister. „Das ist ein Aufbruch für Europa“, verkündet er stolz. Die Eurozone sei nun besser für künftige Krisen gerüstet. So weit die gute Nachricht. Es ist die erste Erfolgsmeldung aus Brüssel für Scholz. Doch sobald es um die Details geht, verschwimmt das schöne Bild. Sehr schnell wird deutlich, dass von den hoch fliegenden Visionen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nicht viel übrig geblieben ist. Umso mehr scheint die Handschrift von Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) durch. Schäuble hat gewonnen, Macron hat verloren, und Scholz hat höchstens noch ein paar kleine sozialdemokratische  Akzente setzen können – so der Eindruck nach den 16-stündigen Beratungen, die an die schlimmsten Zeiten der Eurokrise erinnert haben. Die meisten Reformen kommen, wenn überhaupt, erst 2021 - und sie fallen bescheiden aus. Das gilt vor allem für das Eurozonen-Budget. Es wird nicht, wie von Macron ursprünglich gefordert, ein neues, unabhängiges Budget sein, sondern soll im regulären EU-Haushalt verankert werden. Wie hoch dieses neue Budget wird, steht ebenso wenig fest wie seine Finanzierung. Und selbst die Stabilisierungs-Funktion für den Euro, die Macron so wichtig war, ist fraglich geworden. Der Kompromiss zwischen Scholz und Le Maire sieht zunächst einmal nur vor, dass das Euro-Budget „Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz“ fördert - also die schon von Schäuble bekannten Strukturreformen. Über „mögliche Features einer Stabilisierungs-Funktion“ sei nur diskutiert worden, heißt es im Beschlusspapier der Eurogruppe. Auch Scholz’ Lieblingsidee einer Arbeitslosen-Rückversicherung hat es nicht in die Vorlage für den kommenden EU-Gipfel geschafft. Auf dem Gipfeltreffen am 13. und 14. Dezember in Brüssel könnte das Euro-Budget sogar noch einmal gekippt werden - denn die Niederlande und andere Nordländer leisten hinhaltenden Widerstand. Die liberale Gegenwehr ist sogar verständlich - denn wo der ökonomische Mehrwert dieser geschrumpften Budgetlinie liegen soll, bleibt im Unklaren. Am Ende ging es wohl nur noch ums Symbol. Dasselbe lässt sich über die Digitalsteuer sagen, die Scholz besonders stolz präsentiert. Denn auch sie soll erst 2021 kommen, auch sie muss vorläufig ohne Zahlen auskommen. Die Details sollen erst im kommenden Jahr ausgearbeitet werden. Und eingeführt wird die neue Steuer auch nur dann, wenn sich die in der OECD vertretenen Industriestaaten nicht auf eine globale Lösung einigen. „Es geht um ein Stück Gerechtigkeit“, rechtfertigt Scholz sein Vorgehen. Es sei nicht hinnehmbar, dass große Digitalkonzerne keine Steuern zahlen. Wie viel Google & Co. am Ende in die Staatskasse berappen, sei hingegen nicht so wichtig. Er rechne mit Einnahmen „in überschaubaren Dimensionen“, so der oberste deutsche Kassenwart. So richtig fix scheint nach dieser Nacht nur die Reform des Euro-Rettungsfonds ESM zu sein. Die von dem Deutschen Klaus Regling geführte Einrichtung in Luxemburg soll schlagkräftiger werden und künftig auch vorsorgliche Finanzhilfen auszahlen können. Doch von einem Ausbau zum „Europäischen Währungsfonds“ ist keine Rede mehr. Im Falle einer Finanzkrise solle der ESM auch künftig gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds helfen, so Scholz. Das werde „der Regelfall“ bleiben. Im Einzelfall kann der ESM in Zukunft jedoch auch Länder stützen, die einem „asymmetrischen Schock“ unterliegen. Dafür gibt es allerdings zahlreiche Auflagen, die eine schnelle, unbürokratische Hilfe unwahrscheinlich erscheinen lassen. Viel wichtiger als die präventive Rolle, die die Franzosen stärken wollten, war den Deutschen wohl die Disziplinierung der Eurozone. Und so wird der ESM nun noch mehr zu einem Kontrollgremium der Gläubigerländer ausgebaut. Künftig soll er nicht nur Krisenländer überwachen, sonder alle Eurostaaten - auch Frankreich. Dafür muss die Brüsseler EU-Kommission einige Befugnisse abgeben. Genau das hatte Schäuble immer wieder gefordert. Und der für den Euro zuständige französische EU-Kommissar Pierre Moscovici hat mitgespielt. Es fällt schwer, da nicht von einem Eigentor für Macron und für Frankreich zu sprechen. Doch in Brüssel will man nur Gewinner sehen. So sprach Le Maire nach dem Verhandlungs-Marathon von einem „wichtigen Schritt, der die Eurozone erheblich stärken wird“. Mit der Einigung werde der Euro-Rettungsfonds „ein echtes, noch wirksameres Kriseninstrument“. Zudem hätten die Minister „zum ersten Mal eine echte Perspektive auf einen Haushalt der Eurozone“ eröffnet. Und was ist aus dem Finanzminister geworden, den Macron gefordert hatte, was aus der parlamentarischen Kontrolle? Wo bleibt die Demokratie in der Eurozone? Le Maire erwähnt das nicht einmal mehr. Der Franzose ist offenbar des Kämpfens müde. Ein Jahr nach der großen Europa-Rede von Präsident Macron ist sein Land in die Krise gerutscht. Le Maire und Macron müssen nun erst einmal ihre eigene Regierung retten. Das Reförmchen der Eurozone dürfte ihnen dabei nicht helfen, eher im Gegenteil. Denn Schäubles Handschrift ist unübersehbar, die französischen Rückzieher und Eigentore sind es auch.
Eric Bonse
Bundesfinanzminister Olaf Scholz verkündet einen Durchbruch bei der Euro-Reform. Doch viele Details sind weiterhin unklar, bis zur Umsetzung dürften noch Jahre vergehen. Nur sein konservativer Amtsvorgänger darf sich freuen, Emmanuel Macron hingegen muss eine weitere Niederlage hinnehmen
[ "Olaf Scholz", "Euro-Reform", "Emmanuel Macron", "Wolfgang Schäuble", "EU", "Finanzminister" ]
außenpolitik
2018-12-04T13:48:08+0100
2018-12-04T13:48:08+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/olaf-scholz-euro-reform-emmanuel-macron-wolfgang-schaeuble-eu-finanzminister
Cicero im Oktober - Nicht noch mal
Es bedürfte gar nicht mehr unbedingt solch eindeutiger Belege. Aber wenn Sigmar Gabriel, der vor einem Jahr mit dem „Refugees welcome“-Button am Revers neben Kanzlerin Merkel auf der Regierungsbank saß, plötzlich die Obergrenze entdeckt, spätestens dann weiß ein jeder und eine jede im Land: Diese Legislaturperiode ist faktisch beendet. Die Zeit des Regierens ist vorbei. Von jetzt an ist Wahlkampf. Der richtige Zeitpunkt also für ein Resümee. Zum zweiten Mal in elf Jahren ist diese Große Koalition in personell identischer Besetzung an der Spitze für die Geschicke des Landes zuständig gewesen. Wie erfolgreich hat sie diese Rolle treuhänderisch wahrgenommen? Bringen Große Koalitionen mit ihren großen Mehrheiten große Dinge zustande? Die Redaktion von Cicero kommt in der Titelgeschichte zu einer nüchternen, ernüchternden Bilanz. Es erweist sich: Wenn sich die beiden bislang großen Volksparteien zusammentun, dann addiert sich das nicht im Regierungshandeln. Sondern die beiden starken Kräfte heben sich in erster Linie gegenseitig auf. Übrig bleiben unsinnige Konzessionen an die jeweilige Klientel wie die Rente mit 63 hier und die Mütterrente da. Darüber hinaus richtet die Große Koalition als Dauerzustand einen beträchtlichen Schaden an der Demokratie an. Dieser Schaden tritt inzwischen offen zutage. Die Wahlerfolge der AfD speisen sich nicht in erster Linie aus Rassismus und dumpfem Rechtsradikalismus. Sondern aus einem Gefühl der Ohnmacht, wenn in großen politischen Fragen alle derzeit im Parlament vertretenen Parteien einer Meinung sind. Deshalb ist die Lehre aus den Merkel-Jahren der Großen Koalition: Bitte nicht noch mal. Alles, nur keine Große Koalition mehr. Sondern eine handlungsfähige Regierung hier und eine starke Opposition da. Wahl und Wechsel – mit diesem politischen Gezeitenspiel ist die parlamentarisch-repräsentative Demokratie in diesem Land ein halbes Jahrhundert im Großen und Ganzen gut gefahren. Es muss wieder die Regel werden. Mit den fünf Landtagswahlen dieses Jahres hat der Souverän begonnen, diesen Zustand wiederherzustellen. Die Oktober-Ausgabe des Cicero erhalten Sie ab sofort am Kiosk oder in unserem Online-Shop. Werfen Sie hier einen Blick in das Inhaltsverzeichnis.
Christoph Schwennicke
Die Bilanz der Großen Koalition ein Jahr vor der Bundestagswahl ist ernüchternd. Wenn sich die beiden Volksparteien zusammentun, dann addiert sich das nicht im Regierungshandeln. Und es schadet der Demokratie, wenn in den großen Fragen alle Parteien einer Meinung sind
[ "große Koalition", "Angela Merkel", "CDU/CSU", "SPD" ]
innenpolitik
2016-09-29T10:16:59+0200
2016-09-29T10:16:59+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/cicero-im-oktober-nicht-noch-mal
Neuwahl in NRW – Was hat Hannelore Kraft bislang geleistet?
Am Tag zwei nach der überraschenden Neuwahlentscheidung blicken in Nordrhein-Westfalen alle schon nach vorn – ein kurzer, intensiver Wahlkampf ist zu organisieren. Was hat Hannelore Kraft in den vergangenen zwei Jahren für das Land erreicht? Sie hat etliche Projekte ihres Vorgängers Jürgen Rüttgers (CDU) rückabgewickelt: Sie hat die Studiengebühren gestrichen, das dritte Kindergartenjahr kostenfrei gestellt und die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst wieder so verbessert, dass die Gewerkschaften die Wahlauseinandersetzung mindestens freundlich begleiten werden. „Das ist gut angelegtes Geld für den Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen“, heißt das in ihren Worten, wo ihr Herausforderer Norbert Röttgen (CDU) mit abstrakten Schuldenzahlen argumentiert. Treibt man die Ministerpräsidentin ganz in diese Ecke, zitiert sie am Ende die Freidemokraten, mit denen sie in aussichtsreichen Gesprächen über eine Zustimmung war: „Lesen Sie doch mal die Interviews des freidemokratischen Fraktionschefs Papke nach, der hat uns das doch bestätigt.“ [gallery:Tod einer Minderheitsregierung: zwei Jahre Rot-Grün in NRW] Neben dem Haushaltsthema bleiben der Opposition nur noch wenige Angriffsflächen. Der historische Schulkompromiss hat das über Jahrzehnte schwelende Streitthema zwischen SPD und CDU aus den Schlagzeilen gedrängt, die Union wird damit kaum mehr punkten können. Auf der anderen Seite kann Hannelore Kraft auch nur begrenzt harte Erfolge präsentieren, und sie weiß es. „Es gibt noch viel zu tun“, dreht sie dieses Argument allerdings um und macht das auf genau die Art, die ihr in den zurückliegenden zwei Jahren Respekt und Anerkennung eingebracht hat. Welches Ansehen hat sie? Anfangs wurde sie sowohl in Berlin, aber auch in mancher Führungsetage der großen Unternehmen eher belächelt. Diesen Fehler macht heute niemand mehr. Sie hat sich in dieser Männerwelt mit jener Härte durchgesetzt, die engere Mitarbeiter längst kennen und wissen, was die „Chefin“ will. Dass sie nach außen herzlich und offen auf normale Menschen zugehen kann und die das nicht als Anbiederung verstehen, hat ihr öffentliches Bild maßgeblich geprägt. „Ich steh für klare Kante“, heißt das in ihren Worten, nicht selten fällt sie dabei in den typischen Tonfall des Ruhrgebiets. Seite 2: Welche Probleme machen ihr die Schulden NRWs? Können die Schulden Nordrhein-Westfalens die SPD-Spitzenkandidatin noch in Bedrängnis bringen? Norbert Röttgen hatte am Tag der Entscheidung in Düsseldorf einen netten Coup gelandet, der für einige Stunden unter den zahlreichen Verschwörungstheoretikern für Gesprächsstoff sorgte. Noch bevor im Landtag die Auflösung formal beschlossen war, hatte der christdemokratische Parteivorsitzende ein großflächiges Wahlplakat vor das Parlament geschoben und sich werbewirksam in Szene gesetzt. „Sie haben die Wahl – Schuldenstaat oder Zukunft für unsere Kinder“, prangte dort in großen Lettern und sollte als Hauptbotschaft für die kommenden Wochen gesetzt werden. Weil der Jurist im Landtag, der mit seinem Vermerk den Sturz der Minderheitsregierung verursacht hat, der CDU angehört, munkelten nicht wenige, die Partei Röttgens habe vorzeitig davon gewusst und sich entsprechend mit dem Plakat vorbereitet. Oliver Wittke, Röttgens Generalsekretär mit der schönen Selbstbeschreibung „ich bin schnell“, nahm entsprechenden Gerüchten aber schnell den Wind aus den Segeln. Die Düsseldorfer Christdemokraten haben das entsprechende Plakat schlicht aus dem Keller der Parteizentrale geholt, wo es noch immer lag, weil sie es im vergangenen Jahr schon einmal benutzt haben. [gallery:Norbert Röttgen: Kanzler im Wartestand] Mit dem Slogan haben sie freilich den inhaltlichen Takt vorgegeben, nach dem sie Hannelore Kraft in Schwierigkeiten bringen wollen. „Sie ist und bleibt die Schuldenkönigin Deutschlands, die als Einzige aus Griechenland nichts gelernt hat“, ruft Norbert Röttgen in jedes Mikrofon, das ihm in den Weg gehalten wird. Er gibt sich überzeugt, dass dieses Thema beim Publikum verfängt und seine eher bescheidene Ausgangsposition verbessern hilft, denn auch die jüngsten demoskopischen Ergebnisse sehen erstens die Sozialdemokraten vor der CDU und zweitens eine stabile Mehrheit für rot-grün. Ob das Schuldenthema am Ende wirklich so ziehen wird, wie sich das christdemokratische Strategen fix ausgedacht haben, bezweifeln viele in Düsseldorf. Hannelore Kraft reagierte betont gelassen auf die entsprechenden Anwürfe. „Schauen Sie sich doch die Neuverschuldung im Bund und in NRW an: Hier sinkt sie, in Berlin legen CDU und FDP noch zu“, rechnet sie vor und hat gleich weitere Zahlen parat, die belegen sollen, dass im größten Bundesland pro Kopf so wenig wie nirgendwo sonst ausgegeben wird. Wem das noch nicht reicht, den erinnert sie daran, dass Schwarz-Gelb trotz sprudelnder Steuereinnahmen zwischen 2005 und 2010 deutlich mehr als 20 Milliarden an neuen Schulden angehäuft und sie eine Last von 130 Milliarden an Verbindlichkeiten übernommen hat. Seite 3: Wird Kraft die erste SPD-Kanzlerin? Weil sie inzwischen weiß, dass man das Publikum nicht mit zu vielen Zahlen langweilen darf, schaltet sie bei dem Thema ohnehin schnell um und versucht die offensive Variante. „Wir brauchen den Dreiklang aus Sparen, Investieren und sozialer Gerechtigkeit“, um anschließend lange darüber zu reden, dass sie „kein Kind mehr verloren geben will“. Wird Kraft die erste SPD-Kanzlerin? Dass ihr der eine oder andere in der eigenen Partei selbst die Kanzlerkandidatur zutraut, hat Kraft mit einer Mischung aus Eitelkeit und Kopfschütteln beobachtet. Natürlich hat es ihr, der früher innerparteilich eher belächelten „Halbtagskraft“ gutgetan, für dieses Amt gehandelt zu werden; die fast hundertprozentige Zustimmung als Stellvertreterin von Sigmar Gabriel hat sie auch erfreut. Aber jenseits der Koketterie hat sie das nicht wirklich ernst genommen. „Mein Platz ist hier in Nordrhein-Westfalen, da gibt es keine Hintertür“, sagt sie eindeutig und fügt dann noch hinzu: „Wir haben einige Projekte auf den Weg gebracht, da hänge ich mit Herzblut dran, die möchte ich fertig machen.“ [gallery:Die SPD sucht einen Kanzlerkandidaten – das Casting in Bildern] Dass sie freilich im Falle eines fulminanten Abschneidens in NRW ein gewichtiges Wort mitreden wird bei der Kandidatensuche in ihrer Partei, ist klar. Wie sehr sie inzwischen politischer Profi ist, erkennt man daran, wie sich sich über die bohrenden Fragen an ihren Herausforderer amüsiert. Röttgen hat alle Mühe, die Frage zu beantworten, warum er bei einer Wahlniederlage in Berlin bleiben wird. Wie geht es jetzt in NRW weiter? Im Moment telefonieren alle Parteimanager viel, sie müssen jeweils die geeignete Halle für die Parteikonvente organisieren und dann auch noch den Gliederungen dabei helfen, die Kandidaten für die Wahl formal korrekt aufzustellen, ohne gegen Fristen zu verstoßen. „Das ist ein enger Zeitplan“, sagt Hannelore Kraft, und darin stimmt Herausforderer Norbert Röttgen der Ministerpräsidentin ausnahmsweise sogar zu.
Der Düsseldorfer Landtag ist aufgelöst. Mit der Rückschau gibt man sich kaum noch ab. Dabei ist doch gerade Bilanz der rot-grünen Minderheitsregierung wesentlich dafür, wem die Bürger ihre Stimme geben werden
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innenpolitik
2012-03-16T08:42:12+0100
2012-03-16T08:42:12+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/was-hat-hannelore-kraft-bislang-geleistet/48662
Silvester 2017 - Eine Zeit zwischen den Meeren
Über Silvester füllt sich die Küste mit Touristen. Es sind Heimkehrende, Erschöpfte, Urlaubsbedürftige, die ihr Jahr am Meer beenden und beginnen wollen. Nichts geht über einen frühmorgendlichen Neujahrsspaziergang an einem fast leeren Meeresstrand. Nichts Schöneres als ein Jahresende mit Feuerwerk über dem Meer. Das Meer ist wie eine Zäsur. Willkommen und Abschied lassen sich an der Brechung jeder Welle ablesen. Ins Meer kann man alle Gedanken fahren lassen, vor sich hin brabbeln und rufen oder einfach nur schweigen und viele Kubikmeter Luft in die Lungen lassen. Warum beenden und beginnen wir das Jahr so gerne am Meer? Ist das Meer nicht der einzige wirkliche Ort der Heimkehr? Könnten wir nicht sagen – ich gehöre zur Nordsee, zur Ostsee oder gleich an den Atlantik? Ein Jahr wäre dann in der neuen Jahresrechnung eine Zeit zwischen Meer und Meer. Und wir wären Heimkehrende der Wellen.Leider sind wir landgebunden. Religionsfragen mutieren überwiegend zu Territorialfragen. Gott ist wasserscheu. In Zeiten, in denen wieder einmal um Hauptstädte und Grundmauern des Glaubens gekämpft wird, wäre es äußerst erholsam, alle Wahnsinnigen und Prediger ans Meer zu verfrachten. Auch die Große Koalition sollte vielleicht nicht im Kanzleramt, sondern am Meer tagen. Als Helmut Kohl Michail Gorbatschow für sich gewann, blickten beide auf den Rhein. Das Wasser hat bei der Wende mitgeholfen. Am Wasser entspannen die Gedanken, öffnen sich Horizonte, Positionen lockern sich, Visionen werden möglich. Ist das Meer nicht das beste Schmerzmittel gegen Politik und Religion? Ein Stück Freiheit und Unbeschwertheit lässt sich am Meer immer finden. Von dieser Unbeschwertheit zehren wir dann ein ganzes Jahr lang, als Kraftreserve. In Meeresfragen lässt sich niemand bekehren. Meine Versuche,Ostdeutsche Richtung Nordsee zu lotsen, liefen regelmäßig ins Leere. Die Nordsee, die sei ja ständig weg, hieß es dann. Ja, dachte ich im Gegenzug, dafür ist die Ostsee zwar landschaftlich angenehm, vom Wellengang her aber fade. Die Ostsee gibt den Gedanken keine Gegenkraft. Dafür türmt sie hohe Wolkenformationen auf, als wollte der Himmel die Bewegung der Wellen ersetzen. Es gibt kein besseres Meer. Am Meer brechen sich Überlegenheitsmythen. Es schrumpft uns auf das zusammen, was wir sind: kleine magere oder dickliche Menschenwesen mit unterschiedlichen gedanklichen Horizonten und Ansprüchen, Schattenschnitte mit einem Glas Sekt in der Hand. Im dänischen Skagen stehen Menschen regelmäßig im Meer, genau an der Stelle, an der Ost- und Nordsee aufeinander treffen, und halten sich die Hand. Vielleicht ist die Zeit zwischen den Jahren der einzige Möglichkeitshorizont, den wir haben,um aufzuatmen, loszulassen und von Allem und Allen, einschließlich uns selbst, zu entspannen. Vom Wasser haben wir‘s gelernt.
Sabine Bergk
Zwischen den Jahren fahren viele Menschen ans Meer. Wohin kehren wir jedes Jahr zurück und was sagt das Ritual der Meereswahl über unser Begehren aus?
[ "Silvester", "Meer", "Nordsee", "Ostsee", "Politik", "Religion" ]
kultur
2017-12-30T15:50:57+0100
2017-12-30T15:50:57+0100
https://www.cicero.de//silvester-2017-jahreswechsel-meer-nordsee-ostsee
Der Tag... - ...an dem Angela Merkel ohne FDP dasteht
An Schlaf ist nicht zu denken. Die Nachwahlumfragen hatten ebenso wie die Hochrechnungen die größten Umwälzungen seit den achtziger Jahren angekündigt. Das vorläufige amtliche Endergebnis hat sie bestätigt. Für die Bevölkerung und die Theoretiker ist der Unterschied zu vorgestern geringfügig, für die Berufspolitiker hingegen umwerfend. Das Fünf-Fraktionen-Sechs-Parteien- Parlament ist im Grundsatz erhalten geblieben, an die Stelle der FDP sind die Piraten getreten, die wegen ihrer Unübersichtlichkeit ebenfalls als freiheitliche Demokraten gelten. Das haben die Liberalen sich selbst zuzuschreiben. Röslers oder doch Brüderles, Westerwelles, letztlich Genschers Partei ist mangels einiger Hundert Zweitstimmen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, die Piraten – kein Name außer dem Parteinamen selbst bedeutet da etwas – haben die Hürde mit derselben Anzahl von Stimmen übersprungen: Einige besonders Weitsichtige haben ihre Zukunft auf die neue Karte gesetzt. Angela Merkel steht mitten im Kanzleramt vor den Trümmern ihrer amtlich verkündeten Politik, der erst beschworenen und dann viel zu lange gepriesenen Wunschkoalition mit der FDP. Dabei war der Wunsch der CDU, erst recht der CSU, mit der FDP zu koalieren, in den ersten Sekunden nach deren unverschämtem – Merkels columbushafter Entdecker hätte treffender gesagt: ganz und gar unerträglichem – Wahlerfolg von damals 14,6 Prozent im Herbst 2009 verflogen. Von da an war es die Pflicht der CDU-Vorsitzenden, die FDP nie mehr die Hälfte der Stimmenzahl der CDU erreichen zu lassen. Nun ist die CDU wieder um ein Vielfaches stärker als die FDP, aber die Kanzlerkandidatin steht ohne „natürlichen“ Koalitionspartner da. „Ihr Wunschpartner, verehrte Frau Bundeskanzlerin, hat sich in nichts aufgelöst.“ So hatte es die Linke-Vorsitzende Kipping in der Elefantenrunde und vor wenigen Minuten auch der Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks gesagt. „Anstatt dass der mich dafür loben würde“, spottet sie, „mir ist doch gelungen, was Strauß gewollt, aber weder er noch seine Erben geschafft haben.“ Merkels Strategie ist nicht das Kämpfen für Erfolge, sondern das Beseitigen von Gegnern, dann stellen sich ihre Erfolge von selber ein. Ein Anflug von Stolz huscht im Kreis der Getreuen über ihr Gesicht. Für den Moment wirkt sie wieder so mädchenhaft wie auf dem Foto im Jubiläumsband des Aachener Karlspreises. Doch nun ist nicht nur die FDP einstweilen erledigt, ihre eigene Zukunft steht auf dem Spiel. Während Pofalla, Gröhe, de Maizière und Kauder auf sie einreden und Beate Baumann wie Eva Christiansen ganz im Sinne der Chefin sich ein Mona-Lisahaftes Lächeln gönnen nach dem Motto „Wie mitleidheischend sind doch die Männer, wenn sie sich auf ihre eigene Potenz nicht verlassen können“, macht sich Angela Merkel daran, sich neu zu erfinden oder sich von neuem in die Rolle der Retterin aus eigener wie fremder Not hineinzufinden. Seite 2: Merkel schweigt zur K-Frage Ohne den alten Koalitionspartner ist das Fundament ihrer dritten Kanzlerschaft dahin, ihr Anspruch auf den Verbleib im Kanzleramt brennt umso mehr in ihr. Die Gedanken gehen zurück zu einem Artikel, der vor der Bundestagswahl 2009 beleuchtet hatte, wie verwegen ihr Entschluss war, aus der Koalition mit der SPD heraus nach der vermeintlich schwächeren FDP zu greifen. Noch nie hatte bis dahin ein Kanzler den Wechsel der eigenen Partei in eine andersfarbige Koalition politisch überlebt. Mehr noch: Seit 1963 hatte jedes neue Parteienbündnis seinen eigenen Kanzler, der spätestens mit dem Ende des Bündnisses selbst erledigt war. Dies galt auch für Ludwig Erhard, den sich das „Mädchen“ im Amt der Bundesjugendministerin einst zum Vorbild genommen hatte. 1991 antwortete sie auf die Frage, was sie später einmal sein wolle, mit Unschuldsmiene: „Wirtschaftsminister wie Ludwig Erhard.“ Als ihr entgegengehalten wurde, Erhard sei der einzige Wirtschaftsminister gewesen, der es zum Bundeskanzler gebracht hatte, schwieg sie. Dass selbst große Beliebtheit im Volk nicht weit genug trägt, um die eigene Kanzlerschaft in eine andere Koalition hinüberzuretten oder, etwas anders gesagt, die eigene Kanzlerschaft mit einer neuen Koalition zu retten, dafür war Erhard Beweis genug. Solange auch nur ein Einziger in der eigenen Partei als kanzleramtsfähig gilt, wie Kurt Georg Kiesinger zur Zeit Erhards, ist der Amtsinhaber Spielball in den Händen zweitrangiger Parteifreunde. Merkel lässt in sich gekehrt die Gefährdungen Revue passieren. Sie ist überzeugt, dass die SPD weder mit der Linken noch mit den Piraten regieren wolle. Also bleibt es an ihr, zwischen der SPD und den Grünen als Partner zu wählen. Den Joker Trittins, in Koalitionsverhandlungen die Macht der Grünen zu steigern, indem sie im Amt des Kanzlers den Wechsel zu Röttgen durchsetzen, hatte Merkel unter Mittun Seehofers aus dem Spiel genommen, sobald amtlich war, dass Röttgen nicht als Ministerpräsident an NRW gefesselt sein würde. Den Ehrgeiz der Sozialministerin von der Leyen, eine abermalige große Koalition für den eigenen Einzug ins Kanzleramt zu nutzen, hatte sie im Wahlkampf so unbarmherzig bloßgestellt, wie es einst Kohl mit den Kanzlerambitionen des Vaters Albrecht getan hatte. Wo bitte ist jetzt noch jemand in der Union, der als Regierungschef infrage käme? Merkel schließt die Augen, sogleich bangen die Herren rundum, die Chefin könnte doch amtsmüde sein. Sie hingegen zitiert jeden Einzelnen vor ihr geistiges Auge, ohne dass ihr Blick unwillkürlich verriete, an welchen der Herren sie gerade denkt. Von diesen droht keine Gefahr, nicht einmal von Schäuble, schon gar nicht von de Maizière! Sie wendet sich Christiansen zu. „Ich mach’s“, sagt sie, „aber lassen wir die anderen erst einmal zappeln. Es reicht, wenn ich darauf bestehe, dass eine Koalition gegen die CDU den Wählerwillen hintergehen würde.“ „Im Morgenmagazin“, schlägt Christiansen vor, „im Morgenmagazin“ bekräftigt Baumann. Merkel genügt es zu schweigen – wie 1991, als sie erstmals mit der K-Frage konfrontiert wurde. ____________________________________________________________ ____________________________________________________________
Georg Paul Hefty
Der Wettlauf um die Bundestagswahl im September 2013 geht los. Wer macht das Rennen? Und wer koaliert hinterher mit wem? Cicero greift den Dingen voraus und schildert die entscheidenden Stunden des Wahlsonntags aus der Sicht von Angela Merkel, Peer Steinbrück und Jürgen Trittin. Heute: Angela Merkel Kanzleramt, Wahlnacht, das Ergebnis liegt vor: Die FDP ist erledigt. Angela Merkel hat den Wunschpartner verloren. Abermals muss sie sich zur Retterin aus der eigenen Not machen
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innenpolitik
2013-01-15T12:22:26+0100
2013-01-15T12:22:26+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/dem-angela-merkel-ohne-fdp-dasteht/53085
Hochwasser-Bilanz - Soforthilfe, aber bitte ohne Renaturierung
Die Bilder der braunen Fluten sind erst wenige Wochen alt. Trotzdem herrscht in den meisten Hochwasserregionen in Deutschland schon wieder Aufbaustimmung. Häuser werden geschrubbt, Fundamente getrocknet. Erste belastbare Zahlen lassen das ganze Ausmaß der Flut 2013 erahnen. Und auch die finanziellen Hilfen sind längst angelaufen. Dennoch wird es Jahre dauern, bis die Folgen der Flut nicht mehr sichtbar sind. Wie hoch sind die Schäden? Geringer als befürchtet. Die von der Flut betroffenen Bundesländer haben erstmals Bilanz gezogen und vorläufige Schadensmeldungen an den Bund geschickt. Demnach beläuft sich der Gesamtschaden in Deutschland auf rund 6,68 Milliarden Euro. Der Hilfsfonds, den die Bundesregierung zusammen mit den Ländern auflegt, hätte sogar bis zu acht Milliarden Euro abdecken können. Der Bund streckt das Geld bisher vor und macht dafür neue Schulden. Bis 2020 haben die Länder dann Zeit, ihren Anteil von etwa drei Milliarden abzustottern. Momentan sieht es also so aus, als würde die Fluthilfe ausreichen. Es ist jedoch gut möglich, dass sich die Schadenssumme noch deutlich erhöht. [[nid:54687]] Zum einen kommen auch auf den Bund weitere Kosten zu – für Schäden an Bundesstraßen, Liegenschaften und für die Einsätze des Technischen Hilfswerks sind das etwa 1,48 Milliarden Euro. Zum anderen wies ein Sprecher des Innenministeriums in Sachsen-Anhalt darauf hin, dass in einigen Regionen das Wasser noch immer nicht vollständig zurückgegangen sei. „Dadurch können weitere Kosten entstehen, die sich jetzt noch gar nicht abschätzen lassen“, sagte der Sprecher. Auch die übrigen Bundesländer hatten die Bilanz in aller Eile gezogen, um pünktlich zum Stichtag am 9. Juli die Zahlen an das Bundesinnenministerium melden zu können. Von dort wird die Gesamtbilanz nach Brüssel weitergegeben, denn auch von der EU soll Hilfe kommen. Deutschland dürfte noch einigermaßen glimpflich davon gekommen sein. Die Ratingagentur Fitch hatte den Schaden auf rund zwölf Milliarden Euro geschätzt. Bei der letzten großen Flut im Jahr 2002 lag der Gesamtschaden in Deutschland bei rund 13 Milliarden Euro. Welche Bereiche sind von der Flut besonders betroffen? Die Zerstörung durch die Flut ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich stark und betrifft verschiedene Bereiche. Sachsen-Anhalt, das mit einem Schaden von 2,7 Milliarden Euro am stärksten betroffene Bundesland, meldet die größte Schadenssumme im Bereich der kommunalen Infrastruktur. Das Wasser hat hier Straßen, Brücken, Strom- und Wasserleitungen zerstört. Allein dieser Posten schlägt mit 1,25 Milliarden Euro zubuche. Doch auch Privathäuser und Geschäfte wurden in Mitleidenschaft gezogen. Etwa eine Milliarde Euro wird hier der Wiederaufbau kosten. Auch in Brandenburg sind Teile der Infrastruktur zerstört. Am stärksten ist aber die Landwirtschaft vom Hochwasser betroffen, wie eine Sprecherin des Finanzministeriums sagte. Angaben des brandenburgischen Landwirtschaftsministeriums zufolge wurden landesweit rund 38.000 Hektar Agrarfläche überschwemmt und ein Großteil der Ernte vernichtet. Allein in den sogenannten Havelpoldern, in denen zur Entlastung der Elbe bis zu 50 Millionen Kubikmeter Wasser gestaut wurden, sind 7600 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche betroffen. Der finanzielle Schaden der Bauern wird auf knapp 43 Millionen Euro geschätzt. Also etwa die Hälfte der 92 Millionen Euro Gesamtschaden in Brandenburg. Damit richtete das Hochwasser in ganz Brandenburg weniger Schaden an als in Sachsens Landeshauptstadt. Allein in Dresden entstanden Kosten von 137 Millionen Euro. In Sachsen meldeteten die Kommunen insgesamt 13.700 einzelne Schadensfälle. Der Wiederaufbau wird wohl fast zwei Milliarden Euro kosten. Bayern meldet 1,3 Milliarden, Thüringen 450 Millionen, Niedersachsen 76,4 Millionen, Baden-Württemberg 74 Millionen, Schleswig-Holstein 25 Millionen, Hessen 21 Millionen, Mecklenburg-Vorpommern 8 Millionen und Rheinland-Pfalz 4,4 Millionen. Wie funktioniert die Hilfe? Die Gelder aus dem Fluthilfefonds fließen nicht sofort, sondern werden in den kommenden Jahren in den Wiederaufbau der Infrastruktur gesteckt. Dasselbe gilt für Hilfen aus dem Solidaritätsfonds der Europäischen Union. Deutschland hat bereits einen Antrag gestellt und kann in etwa drei bis vier Monaten mit Geld rechnen. Die Hilfen des Fonds sind allerdings auf 500 Millionen Euro gedeckelt. Die Menschen, deren Hab und Gut von den Fluten zerstört wurde, können darauf allerdings nicht warten. Die meisten Länder haben deshalb Programme zur Soforthilfe aufgelegt. Niedersachsen etwa unterstützt Privatpersonen mit maximal 2500 Euro. Bei Härtefällen, die in eine soziale Notlage geraten, können bis zu 20.000 Euro pro Haushalt ausgezahlt werden. Schäden an Gebäuden werden ab einem Gesamtschaden von 10.000 Euro mit maximal 5000 Euro kompensiert. Es werden aber immer nur maximal 25 Prozent der Kosten abgedeckt. In Sachsen sind Zahlungen von bis zu 50 Prozent für Privatpersonen möglich. Härtefälle können bis zu 200.000 Euro Unterstützung beantragen. Die Kommunen sollen sich nur zu 10 Prozent an der Wiederherstellung der Infrastruktur beteiligen müssen. Welche Lehren werden gezogen? Dass die Rechnung für die Flut dieses Jahr im Vergleich zur Hochwasserkatastrophe 2002 so gering ausfällt, liegt vor allem daran, dass einige Gemeinden sich besser vorbereitet hatten. Die Vorwarnzeiten waren diesmal deutlich länger, so dass mehr Zeit blieb, die Gebiete geordnet zu evakuieren. Einige Bewohner konnten sogar noch Wertgegenstände in Sicherheit bringen. Das Krisenreaktionszentrum beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und die Krisenplattform Denis haben geholfen, die Helfer vom Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, den Feuerwehren und der Bundeswehr zu koordinieren. Auch die Länder stimmten sich besser ab. Sachsen-Anhalt und Sachsen hatten nach der Flut 2002 eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Ergebnis dieser Zusammenarbeit ist unter anderem ein gemeinsames Vorgehen bei der Sanierung der Deiche an der Landesgrenze und die Abstimmung zum Bau von Poldern. International arbeiten verschiedene Länder in der Kommission zum Schutz der Elbe (IKSE) zusammen, in der beispielsweise auch Tschechien organisiert ist. Der effektivste Schutz wäre aus Sicht des Bundesamts für Naturschutz eine flächendeckende Renaturierung entlang der Flüsse, um mehr natürliche Überflutungsflächen zu schaffen. Politisch lässt sich das aber kaum durchsetzen, da dies auf Kosten wertvollen Baulands gehen würde. Bewohnte Flächen aufzugeben, ist ebenfalls illusorisch. In Städten wie Dresden, wo der Fluss direkt durch urbanes Gebiet führt, ist eine Renaturierung völlig ausgeschlossen. Der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft forderte daher auch mehr Initiative von Privatpersonen. Sie sollten in Schutzmaßnahmen wie etwa Rückstauventile und Rückstauklappen investieren.
Sidney Gennies
Nach der Flut beginnt der Wiederaufbau. Milliarden von Euro stehen dafür bereit. Doch das ganze Ausmaß wird erst jetzt sichtbar. Wie schnell erholen sich die Katastrophengebiete?
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innenpolitik
2013-07-18T08:43:02+0200
2013-07-18T08:43:02+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/hochwasser-bilanz-soforthilfe-aber-bitte-ohne-renaturierung/55093
Castor-Proteste – Das Gorleben-Dilemma der Anti-AKW-Bewegung
Ein strahlender Geisterzug schiebt sich durch die Republik, breitschultrige Polizisten patrollieren an Bahngleisen, outdoor-gestählte Demonstranten wühlen im Gleisschotter – man kennt diese Bilder. Sie sind fester Bestandteil bundesrepublikanischer Protest- Kultur geworden. Szenen einer politischen Auseinandersetzung, die mit diesem Castor-Transport  ins niedersächsische Gorleben nun vorerst zu Ende geht. Der nunmehr 13. Zug, mit dem Deutschland die radioaktive Hinterlassenschaft seiner Atommeiler aus Frankreich heimholt, wird der letzte dieser Art sein. Aber die Proteste gegen das strahlende Erbe werden eine veränderte Neuauflage erfahren. Dann, wenn der bewährte Anti-AKW-Slogan „Gorleben ist überall!“ verdammt praktisch wird. Wenn nach einem Endlager für die strahlende Altlast auch in Bayern oder Schwaben gesucht wird. Wenn Gorleben plötzlich in Schwetzingen ist. Und wenn Politik und Atomkraftgegner weiter das falsch machen, was sich am Exempel Gorleben derzeit besichtigen lässt. Es werden an diesem Samstag kaum noch die 50.000 Demonstranten ins Wendland strömen, die vor einem Jahr gegen das Eintreffen des martialischen Zugs protestierten. Damals, im November 2010 hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung gerade den rot-grünen Atomausstieg ausgehebelt. Die Empörung darüber mobilisierte längst befriedet geglaubte Anti-Kernkraft-Kräfte zu Rekordleistung. Doch dann setzte Fukushima mit einer jähen schwarz-gelben Volte den deklamatorischen Schlussstrich unter die Atomkraft in Deutschland. Wie endgültig dieses Aus wirklich sein wird,  daran gibt es ein halbes Jahr später zwar wieder erste Zweifel. Doch die Vorzeichen der Anti-Castor-Proteste haben sich damit verändert. Vor allem auch weil ein historischer Schritt gelang. Erstmals haben sich Bund und Länder sich parteiübergreifend auf eine „ergebnisoffene“ Suche nach einem Endlager für den hochradioaktiven Abfall verständigt. 35 Jahre lang war Gorleben von der Politik zum Atomklo der Nation verdammt . Nun soll alles auf Anfang gestellt werden. Die Suche, so erklärte Bundesumweltminister Norbert Röttgen diesen „Endlagerkonsens“, werde künftig anhand einer „weißen Landkarte“ stattfinden, ohne „Tabus“. Das war vor zwei Wochen. Doch was die Chance zur Übernahme kollektiver Verantwortung für das Endlagerproblem hätte sein können, zeigt jetzt vor allem, wie man durch mangelnde Glaubwürdigkeit vieles falsch machen kann. Da ist einerseits die Politik, die jetzt mit dem Castor-Transport ins Gorlebener Zwischenlager unnötig Misstrauen schürt statt Vertrauen zu schaffen. Sie verspricht eine ergebnisoffene Suche nach dem sichersten Endlagerstandort und lässt zur gleichen Zeit den Gorlebener Salzstock weiter erkunden. So aber sieht keine weiße Landkarte aus, sondern eine mit einem häßlichen roten Fleck. Diese Trickserei weckt berechtigten Argwohn – und liefert damit der Anti-AKW-Bewegung einen willkommenen Vorwand, sich um eine überfällige Auseinandersetzung zu mogeln. Denn solange die Arbeiten im Gorlebener Salzstock den Verdacht auf eine heimliche Vorfestlegung nähren, solange ist auch der Protest gegen den Castor-Zug nicht so überflüssig und unsinnig, wie Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann meint. Wer – wie die Gorleben Aktivisten – lernen musste, der Politik zu misstrauen, hat auch gelernt, den politischen Druck nicht voreilig sinken zu lassen. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die Anti-AKW-Bewegung auch Gorleben als möglichen Endlagerstandort in Erwägung ziehen sollte, wenn sie verantwortlich sein will. Und doch wirken diese letzten Castor-Proteste wie ein starres Ritual in veränderter politischer Landschaft. Denn hinter dem Widerstand in Gorleben steht auch die Botschaft: neue Endlagersuche ja – aber nicht bei uns. Die geographische Logik heißt: Gorleben ist überall! – nur nicht in Gorleben. Dass die Bürger im seit Jahrzehnten vom Atommüllkonflikt gebeutelten Wendland  gegen den strahlenden „Schiet“ rebellieren, ist verständlich. Aber genauso verständlich wird irgendwann auch der zu erwartende Widerstand gegen ein Endlager in Schwaben oder Franken sein. Solange es auf der Atommülllandkarte einen sakrosankten Flecken namens Gorleben gibt, werden sie auch in Schwetzingen oder Bamberg einen für sich reklamieren. Anti-AKW-Bewegung und Grüne tun sich deshalb keinen Gefallen, wenn sie – wie Greenpeace – die Parole ausgeben: Wenn Gorleben mit im „Topf“ bliebe, sei das künftige Endlagersuchverfahren zum Scheitern verurteilt. Genau umgekehrt wird ein Schuh draus. Die Suche nach einem atomaren Endlager kann nur gelingen, wenn sich auch das Wendland dem ergebnisoffenen Eignungstest stellt. Statt empört mit dem Finger in alle andere Richtungen zu weisen, sollte sich die Wiege der Anti-AKW-Bewegung selbstbewusst dem Fakten-Check unterziehen und damit anderen den Weg zeigen. Wenn die Gorleben-Gegner  ihren eigenen Einwänden vertrauten,  dass der Standort gänzlich ungeeignet sei für radioaktiven Abfall, dann wäre die Region ohnehin ganz schnell aus dem Rennen. Und wenn bei der Endlagerauswahl dann noch das Kriterium gesellschaftliche Akzeptanz berücksichtigt wird, dann wäre die Widerstandshochburg Gorleben ohnehin obsolet. Was die Anti-Castor-Aktivisten jetzt als Verrat an ihrem langjährigen Widerstand sehen, würde deshalb eher ihre Glaubwürdigkeit stärken. Für die Anti-AKW-Bewegung und auch die Grünen wäre die Preisgabe eines langjährigen Symbols eine Art Sakrileg. Geballter Protest wäre anfangs sicher. Aber wer anrollenden Zügen und Polizeiknüppeln trotzt, sollte auch den Mut haben, die eigenen Argumente auf den Prüfstand zu stellen. So wie sich an diesem Wochenende die „Stuttgart 21“- Gegner dem Bürgervotum stellen müssen, muss auch die Anti-AKW-Bewegung akzeptieren, dass eine ergebnisoffene Endlagersuche nicht halb-offen sein kann. Wer „Gorleben ist überall“ ruft , kann den Ort selbst nicht von der Landkarte radieren. Sonst ist Gorleben irgendwann überall und nirgends. Willkommen im Land, das vor der Verantwortung für seinen Atommüll flüchtet!
Der Atommülltransport rollt – die Protestwelle auch. Beides gibt eine Vorahnung darauf, was passieren könnte, wenn demnächst bundesweit nach einem atomaren Endlagerstandort gesucht wird: die Politik trickst und die Anti-AKW-Bewegung mogelt sich aus der Verantwortung
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innenpolitik
2011-11-25T14:04:32+0100
2011-11-25T14:04:32+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/das-gorleben-dilemma-der-anti-akw-bewegung/46633
Inflation der Superlative - Die krass hyperbeste Sprachkultur
Alarm und Desaster, Crash und Katastrophe, alle mal herhören! Wer nicht materielle Ware verkauft, etwa Nachrichten, Appelle, Weckrufe, muss starkes Vokabular in der Auslage haben, sonst schlendern die Leute am Laden vorbei. An sich ist das noch kein Desaster und man muss deshalb weder Alarm schlagen noch eine Katastrophe heraufbeschwören. So funktioniert eben das, was Aufmerksamkeitsökonomie genannt wird. Nur die laut Rufenden lösen echtes Echo aus, und ohne starke Sprache würde manche Botschaft untergehen. „Lasst mal lieber die Wale in Frieden, es gibt nur noch ein paar davon.“ Was wäre das für eine Nachricht? Oder: „Irgendwas müsste in Europa wegen der Millionen arbeitslosen Jugendlichen unternommen werden.“ Oder: „Es wäre schon schön, wenn die Altenheime menschlicher werden.“ Nein, sicher, Alarm muss manchmal sein, vor allem, wo ein berechtigtes Anliegen Öffentlichkeit sucht. Dass sich mit dem routinemäßigen Alarmieren eine gewisse Gewöhnung einstellt, die wie beim Drogenkonsum auf immer höhere Dosen hinausläuft, ist allerdings das Alarmrisiko, das beim Risiko-Alarmieren bedacht werden sollte. Professionelle Akteure im Alarmbusiness wissen, dass sie haushalten müssen, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Doch das ist leichter gesagt als getan. In einem gesellschaftlichen Klima, das eine Inflation sprachlicher Superlative hervorbringt, ist das einfache Wort „gut“ schon oft nicht gut genug. Ein schlichtes „gut“ grenzt für viele schon fast an Kränkung. „Super!“ ist ein alltäglicher Ausdruck der Zustimmung geworden. Positive Kommentare, egal worüber, einen Erdbeerkuchen oder einen Kinofilm, kommen selten ohne „megageil“, „ultratoll“, „hammer“ oder supergut“ aus. Negative Äußerungen, ob über einen ungeduldigen Autofahrer oder einen Regenguss, wirken matt ohne Zusätze wie „total“ oder „voll“ („total krass“, „voll schlimm“). Neuerdings gibt es noch „über“, wie in „überkrass“. Auf die meisten Zeitgenossen hat diese epidemische Inflation (You see? Alarm!) Einfluss genommen, kaum einer von uns ist frei davon. Ursache des Phänomens scheint eine Ära der sozialen Unsicherheit, aber beides ausführlich zu analysieren bräuchte es ein Buch. Hier soll es jetzt um zwei Ausdrücke gehen, die in der Sprache der Nachrichten inflationär geworden sind, und deren Abschaffung lohnend wäre. Der erste lautet: „zutiefst gespalten“. Wo immer es Konflikte gibt, Meinungsunterschiede, uneinige Parteien sind die Medien so stereotyp wie schnell mit diesem Urteil bei der Hand. Als „zutiefst gespalten“ werden die USA im Wahlkampf bezeichnet, die Katholiken unter Reformdruck, die Palästinenser mit ihrer Haltung. „Zutiefst gespalten“ ist die arabische Welt an und für sich, ist die Ukraine, natürlich, im Streit zwischen Russen und Nichtrussen, sind die Gefühle der Deutschen gegenüber China – und so weiter, und so immer fort. Übliche, wichtige, in der Regel komplexe gesellschaftliche Prozesse der Transformation oder Konfrontation erhalten damit ein Etikett, das oft erst hervorruft, was es suggeriert, nämlich gedankliche Blockade, politische Fantasiearmut, starre Positionen. Risiken und Nebenwirkungen solcher Wortwahl sind den Nutzern nicht bewusst. Ähnlich auffällig ist die Formel: „versinkt im Chaos“. Wenn etwas im Chaos versinkt, sollte man meinen, ein Komet habe eingeschlagen und die letzten Tage der Menschheit seien gekommen. Doch was ist nicht schon alles im Chaos versunken und war Wochen später keines Medienblicks mehr wert? Erstaunlich viel. Allein in letzter Zeit ganze Länder wie Thailand, Kambodscha, die Türkei oder Venezuela. Österreich immerhin ist unlängst im Winterchaos versunken, Frankfurt im S-Bahn-Chaos, Kiew sowieso im generellen Chaos, und der ADAC erst recht im Chaos der Korruption. Eigentlich ist schon die ganze Welt im Chaos versunken, und da ist es ein Weltwunder, dass noch irgendwo ein Auto rollt, irgendjemand noch nicht erfroren ist, Leute am Morgen frühstücken und fast überall Kinder so einfach mir nichts dir nichts weiter zur Schule gehen. Ist ja nur figurativ, kann man einwenden, nicht direkt so gemeint, nur eine zugespitzte Beschreibung, eine Redewendung. Muss man sie redend verwenden? Sich das voll krass zu fragen, führt vielleicht zu einer Antwort – und zu mehr Verantwortung.
Caroline Fetscher
In einem gesellschaftlichen Klima, das eine Inflation sprachlicher Superlative hervorbringt, ist das einfache Wort „gut“ schon oft nicht gut genug. Ein schlichtes „gut“ grenzt für viele schon fast an Kränkung
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kultur
2014-04-24T09:19:44+0200
2014-04-24T09:19:44+0200
https://www.cicero.de//kultur/sprachkultur-gut-ist-der-kleine-bruder-von-scheisse/57457
Wutbauer wehrt sich - Verbraucher, es reicht!
Auf meinen gebeugten Rücken prasselt der Regen, ich wate durch eine Pfütze aus Schlamm und Pferdeäppeln. An der Weide, auf der ich meine Arbeit verrichte, fahren Autos vorbei, die Fahrer schauen nicht auf zu mir, der Frau, die da im Matsch steht. Schnell fahren sie durch die an diesem Morgen unwirtliche Landschaft, um Unterschlupf zu finden, vielleicht in gemütlich geheizten Büros, wo sie ihre Computer hochfahren und in ein mitgebrachtes Sandwich beißen. Mit den schmutzigen Äckern, an denen sie eben noch vorbeigefahren sind, hat ihr Leben nichts zu tun. Ich ziehe die Kapuze ins Gesicht und schaufle den nächsten Haufen feuchter Pferdeäppel in die Schubkarre. Kaum etwas stimmt einen verletzlicher als im Angesicht anderer, vermeintlich niedere Arbeiten zu erledigen. Gleichzeitig entwickeln Menschen aus solchen Situationen einen unbeugsamen Stolz. Zu beobachten ist das bei den deutschen Bauern. Sie haben es nicht leicht zur Zeit, gelten sie doch als Buhmänner der Nation. Antibiotika in der Tierhaltung, Pestizide im Grundwasser, geschredderte Hähnchenküken und genmanipulierter Mais – schuld an all dem Schlechten in der Ernährungsbranche ist der Landwirt. Der hat sich als dankbarer Sündenbock erwiesen, seine Widerworte finden in der Öffentlichkeit kaum statt. Die Bauern dagegen ziehen ihre Kapuzen seit Jahren immer tiefer ins Gesicht, bleiben unter sich, sind trotzig und wütend. Wer einmal auf einer Infoveranstaltung für Landwirte war, der bekommt den Eindruck, dass sich hier ein ganzer Berufszweig einer modernen Hexenjagd erwehren muss. Wenn ihnen in Entwicklungsprogrammen weisgemacht werden soll, was Nachhaltigkeit bedeutet, dann empfinden das viele Bauern so, als würde man einem IT-Fachmann erklären, wozu sein PC einen Akku hat. Aber einer von ihnen wählt einen anderen Weg und erzeugt damit überraschend große Resonanz: „Bauer Willi“, so sein Synonym, ist Rheinländer und so etwas wie die Jeanne d’Arc unter seinesgleichen. Seit einiger Zeit betreibt der promovierte Landwirt ein Blog über sein Berufsleben. Eine andere Bauerngemeinschaft bestückt die Webseite „Frag doch mal den Landwirt“. Willi und die Kollegen wollen erklären, wie Landwirtschaft heute funktioniert. Sie kämpfen um Respekt für ihre Zunft. Im Januar hat sich Willi mit einem Wutbrief an den Verbraucher gewandt. Auslöser war der Kartoffelpreis, der Anfang des Jahres auf einen unglaublichen Wert von 1 Cent pro Kilo gefallen war. Da wütete Willi: „Du, lieber Verbraucher, willst doch nur noch eines: billig. Deine Lebensmittel sollen genfrei, glutenfrei, laktosefrei, cholesterinfrei, kalorienarm [...] sein, möglichst nicht gedüngt und wenn, dann organisch[...]. Gespritzt werden darf es natürlich nicht, muss aber top aussehen, ohne Flecken. [...] Auch sonst behauptest du viel: dass du auf Qualität achtest, dir die Inhaltsstoffe auf der Packung jedes Mal durchliest, auf Nachhaltigkeit achtest und überwiegend fair einkaufst. Alles Quatsch. Was du liest, sind die Wurfzettel vom Discounter: 10 Eier für 1 Euro. Jetzt aber schnell los, bevor die weg sind. Freiland-Eier sind teurer? Egal, die billigen sind ja nur zum Backen.“ Das Echo war überraschend, mittlerweile hat sein Text mehrere Millionen Menschen erreicht. Auch die Bauern waren begeistert darüber, dass endlich einem von ihnen zugehört wird. Aber Willi hörte da nicht auf. Jetzt hat sein Ärger die eigene Klientel abbekommen. Er will die Landwirte aus ihrer Trotzphase rütteln und kritisiert in einem neuen Eintrag, sie hätten sich viel zu lange ruhig verhalten, hätten es genossen, dass Marketingabteilungen Illusionen einer bäuerlichen Idylle verkauften, die es schon lange nicht mehr gibt, anstatt die Kunden mitzunehmen in den Jahren als die Höfe größer und moderner wurden. Das habe man verpasst. Jetzt ist es an der Zeit für die Bauern, sich zu öffnen und die eigene Arbeit zu erklären. Die Verbraucher aber sind aufgefordert, hinzuschauen, auch wenn sie es sich in ihrer Welt fernab der landwirtschaftlichen Realitäten mit matschigen Wiesen, vollgeschissenen Verschlägen und getöteten Tieren bequem gemacht haben. Auf der Facebookseite „Frag doch mal den Landwirt“ hat das Team Bilder von totgeborenen Schweinebabys gepostet. Das ist die Realität. Und wer Fleisch ist, sollte sich trauen, hinzuschauen. Ein paar Tage nach meiner Mistarbeit im Regen ist der Frühling da. Wir haben die Schafe auf die Weide gebracht, die Sonne scheint, der Kuckuck ruft zum ersten Mal, der Nachbarsbauer ruckelt mit seinem Trecker vorbei, bleibt stehen und hat Zeit für ein Schwätzchen. Vorbei fahren Menschen mit offenen Fenstern, um ein wenig Frühlingsluft zu erhaschen. Es muss ihnen reichen für den Rest des Tages. Den verbringen sie im Büro.
Marie Amrhein
Kolumne: Stadt, Land, Flucht: Das Verhältnis von Landwirten und Verbrauchern ist zerrüttet. Ein Bauer ist die Rolle des Sündenbocks leid und schrieb einen Wutbrief. Er räumte überraschende Erkenntnisse ein
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außenpolitik
2015-04-26T11:01:50+0200
2015-04-26T11:01:50+0200
https://www.cicero.de//stil/lebensmittelindustrie-die-landwirte-sind-trotzig-die-verbraucher-anspruchsvoll/59172
NSU-Prozess - Das Unfassbare fassen
Nur selten dürfte ein Prozess so viel Aufmerksamkeit im In- und Ausland auf sich gezogen haben wie die am Mittwoch beginnende Hauptverhandlung am Oberlandesgericht München. Beate Zschäpe und vier Mitangeklagten wird vorgeworfen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß, an einer beispiellosen Serie rechtsextremer Terrorangriffe beteiligt gewesen zu sein. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) hat zehn Menschen ermordet, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübt. „Die NSU-Morde sind unser 11. September“, hat Generalbundesanwalt Harald Range gesagt. Entsprechend aufwendig sind die Ermittlungen, die auch während des Prozesses fortgesetzt werden. Bislang waren bis zu 400 Beamte von BKA und weiteren Polizeibehörden eingesetzt. Zusammen mit der Bundesanwaltschaft wurden mehr als 6800 Asservate ausgewertet. Die Verfahrensakten umfassen 280 000 Seiten. Das OLG hat den für die Hauptverhandlung vorgesehenen Saal A 101 für 1,25 Millionen Euro umbauen lassen. Den Prozess führen wird der 6. Strafsenat. Er steht in der Kritik, weil bei der Vergabe von Sitzen für die Medien türkische Journalisten keine festen Plätze bekamen. Das Bundesverfassungsgericht hat nun dem Strafsenat aufgegeben, mindestens drei Sitze für ausländische Medien zu reservieren, deren Landsleute unter den vom NSU Getöteten oder Verletzten sind. Die Richter können auch die Akkreditierung wiederholen, dann müsste der Prozess verschoben werden. Die Entscheidung des Strafsenats steht noch aus. Das Gericht Manfred Götzl gilt als humorfrei. Der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats faucht Verteidiger an, wenn ihm Äußerungen unpassend erscheinen, und er scheut sich nicht, Journalisten zu brüskieren. Götzl hat den Konflikt mit den Medien um die Platzvergabe zu verantworten. Der 59-Jährige will die Hauptverhandlung im  Eiltempo durchziehen. Für manche Zeugen ist weniger als eine Stunde Fragezeit vorgesehen. Wie das funktionieren soll, angesichts von fünf Angeklagten mit elf Verteidigern, vier Vertretern der Bundesanwaltschaft und 77 Nebenklägern mit 53 Anwälten, bleibt Götzls Geheimnis. Nächste Seite: Wie lange soll der Prozess dauern? Der Strafsenat hat 85 Verhandlungstage terminiert. Letzter Tag soll der 16. Januar 2014 sein. Der Präsident des OLG, Karl Huber, indes prophezeite, der Prozess werde mehr als zwei Jahre dauern. Dann geriete Götzls Zeitplan zur Ladung von Zeugen völlig durcheinander. Und damit die thematische Struktur des Prozesses. Zunächst geht es laut Plan um die Morde  an den neun Migranten, dann um die Tötung der Polizistin Michèle Kiesewetter. Es folgen die Verhandlungen zu den zwei Sprengstoffanschlägen in Köln und den 15 Raubüberfällen des NSU. Der seit 2010 den 6. Strafsenat führende Götzl hat allerdings demonstriert, dass er Prozesse forsch zu führen weiß. Vor zwei Jahren kanzelte er im Verfahren gegen acht Anhänger der „Globalen Islamischen Medienfront“ Verteidiger ab. Anwältin Anja Sturm fragte er, ob ihre Anträge als „Beschäftigungstherapie für den Senat“ gedacht seien. Die Juristin sitzt Götzl nun als Verteidigerin von Zschäpe gegenüber. Im Vorfeld des Prozesses beklagten sich Zschäpes Verteidiger bereits darüber, dass sie vor jedem Gerichtstag körperlich durchsucht werden sollen, während Richter oder Justizbeamte von dieser Regelung ausgenommen sind. Die Anklage Der Schriftsatz, den Generalbundesanwalt Harald Range im November 2012 präsentiert hat, ist die härteste Anklage, die in der Geschichte der Bundesrepublik gegen Neonazis erhoben wurde. In den knapp 500 Seiten wird die Blutspur des NSU nachgezeichnet. Jedes Delikt ist akribisch beschrieben. Vom Abtauchen der drei Thüringer Neonazis im Januar 1998 bis zum November 2011, als Uwe Mundlos in einem Wohnmobil in Eisenach Uwe Böhnhardt erschoss und sich selbst, als Zschäpe das Haus in Zwickau anzündete und sich vier Tage später in Jena stellte. Dennoch bleiben Fragen offen. Trotz der aufwendigen Ermittlungen ist bis heute unklar, wie die Terrorzelle sich ihre Opfer aussuchte. Was brachte Mundlos und Böhnhardt dazu, in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel und Heilbronn neun Migranten sowie eine Polizistin zu erschießen? Der Hass auf Migranten und Staat sind „nur“ das ideologische Motiv. Für die konkrete Auswahl der Opfer bietet die Anklage keine Erklärung. Das gilt auch für den Zeitplan des NSU. Der erste Mord wurde im September 2000 in Nürnberg verübt, der nächste im Juni 2001 in derselben Stadt – dann töteten Mundlos und Böhnhardt innerhalb von zwei Wochen wieder, einen Monat später erneut. Anschließend vergingen dreieinhalb Jahre, im Februar 2004 mordete die Terrorzelle wieder. Ob es ein zeitliches Schema gab, ist der Anklage nicht zu entnehmen. Rätselhaft bleibt auch, warum Mundlos und Böhnhardt nach dem letzten Mord, den Schüssen auf die Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007, ihren tödlichen Feldzug stoppten. Nächste Seite: Wer sind die Ankläger? Die Ankläger Für die Bundesanwaltschaft werden im Prozess vermutlich vier Juristen auftreten. Die Bundesanwälte Herbert Diemer und Jochen Weingarten sowie Oberstaatsanwältin Anette Greger haben federführend die Ermittlungen im NSU-Verfahren betrieben; in München wird ein weiterer Staatsanwalt die Ankläger verstärken. Zeitweilig waren bei den Ermittlungen sogar zehn Staatsanwälte eingebunden. Diemer, Weingarten und Greger haben schon vor vier Jahren die Anklage in einem Prozess gegen politisch motivierte Gewalttäter vertreten. In Berlin mussten sich drei Mitglieder der linksradikalen „Militanten Gruppe (MG)“ vor dem Kammergericht wegen eines versuchten Brandanschlags verantworten. Die Täter wurden zu Strafen zwischen drei und dreieinhalb Jahren verurteilt. Mit einem islamistischen Attentäter hatten es Diemer und Weingarten in einem Prozess am OLG Frankfurt/Main zu tun. Dort war der Kosovare Arid Uka angeklagt, der 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen hatte. Weingarten forderte eine besonders hohe Strafe – lebenslange Haft und Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Die Richter urteilten 2012 auch so. Uka muss weit länger als die bei „lebenslänglich“ üblichen 15 Jahre einsitzen. Das droht auch Zschäpe, sollte das OLG München sie für alle angeklagten Taten verurteilen. Die Angeklagten sind nicht nur mit der Bundesanwaltschaft konfrontiert. Im Prozess treten 77 Nebenkläger auf, sie werden von 53 Anwälten vertreten. Bis Ende vergangener Woche wollten noch weitere Personen als Nebenkläger eingetragen werden, ebenso wie zusätzliche Anwälte. Die Nebenkläger sind Angehörige der Ermordeten und Opfer, die Angriffe des NSU überlebt haben. Mehr als 20 wurden bei dem Nagelbombenanschlag verletzt, den Mundlos und Böhnhardt im Juni 2004 in Köln verübten. Der Anwalt Peer Stolle, der einen Sohn des in Dortmund erschossenen Mehmet Kubasik vertritt, nennt die Erwartungen an den Prozess: „Wir wollen wissen, wer außer dem Trio an den Taten beteiligt war, wer den NSU unterstützt hat und was die Behörden über die Verbrechen wussten. Und warum der NSU Mehmet Kubasik als Opfer ausgewählt hat.“
Frank Jansen
Zehn Morde, Sprengstoffanschläge, Raubüberfälle – am Mittwoch beginnt in München der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere mutmaßliche Unterstützer der Terrorgruppe NSU. Welche Dimension hat der Prozess?
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innenpolitik
2013-04-15T09:06:30+0200
2013-04-15T09:06:30+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/vor-nsu-prozess-das-unfassbare-fassen/54182
Populismus - Erst Migration, dann Sozialismus
Die Medien in Deutschland lieben Studien anerkannter Institutionen, die eine seriös-akademisch anmutende Grundlage für die eigene Weltanschauung liefern. Passen die Aussagen in das gewünschte Bild, können die Studienautoren sichergehen, dass ihnen höchste Aufmerksamkeit zuteil wird. Die Journalisten müssen sich dazu nicht einmal durch die Details dieser Studien arbeiten, werden doch Presserklärungen und knappe Zusammenfassungen gleich mitgeliefert. Doch damit nicht genug: Nicht selten geben die Autoren oder Auftraggeber der Studien in Zusammenfassung und Presseerklärung den Studien einen „Spin“, der sich aus der eigentlichen Studie gar nicht ergibt. Auch werden Studien oft dazu herangezogen, um bestimmte politische Entscheidungen herbeizuführen oder zu rechtfertigen. Vergangene Woche war es wieder so weit, als das von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebene Populismusbarometer veröffentlicht wurde: In den Medien – an dieser Stelle sei stellvertretend das Handelsblatt zitiert – wurde viel Wert darauf gelegt, die Schlussfolgerungen der Forscher besonders hervorzuheben, nach denen sich vor allem sozialpolitische Themen wie steuerpolitische Umverteilung und Wohnungsbau als Brückenthemen einer kulturell und sozial immer tiefer gespaltenen Gesellschaft eignen: „Allein die Forderung nach ‚viel höheren Investitionen in den sozialen Wohnungsbau‘ erhöht aus Sicht der Forscher die Zustimmung bei Populisten und Nicht-Populisten um jeweils 15 Prozentpunkte.“ Die Diskussion zur vermeintlichen Ungerechtigkeit wird damit von einer neuen Seite befeuert, denn die Schlussfolgerung scheint klar: Die Antwort auf die populistische Gefahr ist mehr Sozialpolitik und Umverteilung. Betrachtet man die Studie jedoch genauer, erscheint ein ganz anderes Thema Ursprung der Spaltung zwischen „populistischem“ und „unpopulistischem“ Lager zu sein: Migration und Flucht. Doch dieses Thema passt nicht zu der gewünschten Nachricht. Besser ist es doch, statt sich dem eigentlichen Thema zu widmen, die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile dazu zu nutzen, um auf anderen politischen Gebieten aus der Angst vor der AfD Kapital zu schlagen. Höhere Steuern, mehr Umverteilung und immer stärkere staatliche Eingriffe stehen auf dem Programm. Dabei zeigen Zahlen der OECD, dass Deutschland nicht nur eines der Länder mit der geringsten Einkommensungleichheit ist, sondern auch das Land mit dem geringsten Armutsrisiko. Die verfügbaren Einkommen der ärmsten zehn Prozent sind außerdem zwischen 2007 und 2014 schneller gewachsen als das sogenannte Mittlere Einkommen. Aus dieser Perspektive hat die Ungleichheit also abgenommen, was angesichts des Aufschwungs am Arbeitsmarkt kaum verwundert. Aufgrund dieser Verbesserung in den vergangenen Jahren wird von den Medien gerne ein längerer Zeitraum in den Vordergrund gestellt, um dann doch zu dem gewünschten medialen Spin zu kommen – eben dem Problem der Ungleichheit. Dabei ist von der steigenden Einkommensungleichheit nach einer Umverteilung durch den Staat ohnehin nichts mehr zu sehen. Das Problem ist also schon bereinigt, so man der Auffassung ist, dass eine solche Bereinigung wirklich erforderlich ist. Ein genauerer Blick auf die Entwicklung des Armutsrisikos in unserem Land zeigt, dass Migration und Armutsrisiko in einem engen Zusammenhang stehen: – Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund liegt das Armutsrisiko bei 11,3 Prozent. – Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist das Risiko deutlich höher: Menschen mit „direktem Migrationshintergrund“ haben ein Risiko von 22,2 Prozent, jene mit „indirektem“ (also Nachkommen von nach Deutschland eingewanderten Menschen) ein Risiko von 16,1 Prozent. In den Jahren 2012 und 2016 waren rund 6,8 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund vom Armutsrisiko betroffen; bei den Menschen mit direktem Migrationshintergrund betrug der Anteil 2,35 Millionen, bei einem indirektem Migrationshintergrund 1,65 Millionen. Da der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bekanntlich steigt, besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen statischer Armut und der Zusammensetzung der Bevölkerung. Dies veranschaulicht auch folgende Rechnung: Bei Annahme gleicher Armutsquoten der wie im Jahre 2014 genügt ein Anstieg des Anteils der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 22 auf den heutigen Wert von 25,6 Prozent, um den Anstieg der Gesamtarmutsquote seit 2005 zu erklären. Einkommensungleichheit und Armutsrisiko werden folglich durch unsere Art der Migrationspolitik verstärkt. Kein Wunder, dass dies gerade in den ärmeren Gesellschaftsschichten zu „populistischen“ Tendenzen führt. Die Lösung des Problems liegt daher  in einer Anpassung unserer Migrationspolitik als in einer Ausweitung der Umverteilung. Bereits heute trägt die Mittelschicht die finanzielle Hauptlast dieser verfehlten Politik; denn immer, wenn die Politik von „den Reichen“ spricht, meint sie eigentlich diejenigen, die gut verdienen. Doch Reichtum und ein hohes Einkommen sind zwei verschiedene Sachverhalte. Der Spitzensteuersatz (also der Höchstsatz vor der „Reichensteuer“) wird bereits ab einem Einkommen von knapp über 54.000 Euro fällig  – das entspricht rund dem 1,3-fachen des Durchschnittseinkommens. Zum Vergleich: 1965 musste man noch das 15-fache des Durchschnittseinkommens verdienen, um den Spitzensteuersatz zu bezahlen. Auf heute übertragen wären das mehr als 620.000 Euro. Hohe Steuern auf Einkommen vermindern die Möglichkeit der Vermögensbildung aus eigener Arbeit und reduzieren so die soziale Mobilität. Während Vermögen tiefer besteuert werden, schlägt der Staat bei den Gutverdienern gnadenlos zu. Diese werden sich nach Steuern und Sozialabgaben beim Gang durch die besseren Viertel unserer Metropolen und mit Blick auf die Immobilienpreise keineswegs „reich“ fühlen, sondern merken, dass ihnen von ihrem hart erarbeiteten Geld herzlich wenig bleibt. Bei den Vermögen dagegen liegen die Dinge anders, denn hier hat auch in Deutschland die Ungleichheit zugenommen. Es lohnt sich aber, auf die Ursache dieser Entwicklung zu schauen: Der Großteil der Bevölkerung verfügt über kaum Ersparnisse und hält diese hauptsächlich in Form von Geldvermögen. Im Gegensatz zu den Besitzern von Sachvermögen (Immobilien und Unternehmensbeteiligungen) profitieren sie damit nur wenig von der Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank. Um der Ungleichheit entgegenzuwirken musst die Politik den Bürgern also helfen, Vermögen zu bilden. Dies beginnt bei einer Entlastung der Mittelschicht, die dann mehr von ihren Einkommen behalten und damit für das Alter vorsorgen könnte. Außerdem müsste die Politik dringend die Rahmenbedingungen für die private Vermögensbildung ändern. Statt Anlagen in Geldvermögen zu fördern (Riester-Rente, Lebensversicherung, Pensionsfonds) sollten Anlagen in Produktivvermögen und Immobilien gefördert werden. In Betracht gezogen werden sollte auch ein staatlich organisierter (nicht verwalteter!) Fonds, wie ihn die Ökonomen Thomas Mayer und Daniel Gros schon 2013 in die Diskussion gebracht haben. Das Programm gegen Populismus liegt damit auf der Hand: Abgabenentlastung, Förderung der Vermögensbildung in produktiven Anlageformen und Begrenzung der Zuwanderung in das Sozialsystem. Alle drei Punkte passen jedoch nicht in die ideologischen Vorstellungen jener, die mit Hilfe mehr oder weniger fundierter Studien und daraus abgeleiteten politischen Empfehlungen (mit Erfolg!) versuchen, die öffentliche Meinung und damit die Politik des Landes zu beeinflussen. So versuchen sie beispielsweise zu erreichen, dass die Sozialleistungen weiter ausgeweitet werden. Auch die Renten sollen weiter erhöht werden, trotz dessen, dass die verdeckten Schulden des Staates für Renten und Pensionszusagen schon heute unfinanzierbar sind. Zugleich nehmen die Eingriffe in die freie Wirtschaft zu. Jedem angehenden Ökonomen ist schon nach zwei Semestern klar, dass durch eine Verknappung des Angebots keine Preissenkung zu erreichen ist. Trotzdem wird versucht, über Mietpreisbremsen und die Kürzung der Modernisierungsumlage die Mietsteigerung zu begrenzen. Dies kann nicht gelingen, vielmehr ist zu erwarten, dass die Investitionen in den Wohnungsbau zurück gehen. Richtig wäre, das Wohnungsangebot durch erleichterten Dachausbau und vor allem durch das Mobilisieren von Flächen zu vergrößern. In Berlin beispielsweise gibt es viele Freiflächen, auch das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof ließe sich sofort bebauen. Dies aber ist von staatlicher Seite nicht gewollt. Nun könnte man die Schultern zucken und sagen, fein, dann bewegen wir uns eben immer mehr in Richtung einer „DDR light“: Hohe Abgaben, immer mehr Empfänger von Transferleistungen und Immobilien, die mangels Investitionen langsam verrotten. Hauptsache es bleibt uns eine weitere Radikalisierung und Polarisierung der Gesellschaft erspart. Doch das ideologisch motivierte Verdrängen der eigentlichen Ursache hinter der Zunahme populistischer Tendenzen in unserer Gesellschaft wird dazu führen, dass diese nicht schwinden, sondern zunehmen. Wer in einer solchen Situation wider besseres Wissen eine Kampagne für noch mehr Umverteilung lanciert, läuft man Gefahr, den Populisten ein weiteres Thema zu liefern. Er legt die  Basis für eine wahrhaft national-sozialistische Bewegung. Der Front National in Frankreich ist schon auf diesem Kurs. Die AfD bewegt sich rasch in diese Richtung. Ein hoher Preis für das Leugnen der wahren Ursachen des zunehmenden Populismus.
Daniel Stelter
Glaubt man Studien, so steckt die zunehmende Ungleichheit hinter dem Aufschwung der Populisten in Deutschland. Doch wer genauer hinsieht, stellt fest: In Wahrheit dient diese These nur als Rechtfertigung für immer mehr Umverteilung.
[ "Populismus", "Sozialpolitik", "Umverteilung", "Migration", "Bertelsmann" ]
innenpolitik
2018-10-08T14:37:24+0200
2018-10-08T14:37:24+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/populismus-bertelsmann-stiftung-sozialpolitik-migration
Am Wahlkampfstand: Die Grünen - Der Spielplatz-Marathon
„Jaaaaa, Seifenblasen“, ruft ein Mädchen um die vier Jahre glücklich aus. Sie läuft auf das Fahrrad zu und pikst mit ihrem Finger die Blasen kaputt. Die kommen aus Hannah Neumanns Seifenblasenkanone, welche vorne auf einer Box im Lastenfahrrad steht. Mit ihrem Team ist die Direktkandidatin der Grünen in Hohenschönhausen, einem Teil ihres Wahlbezirks Berlin-Lichtenberg unterwegs. Es ist vier Uhr nachmittags. In der Sonne herrschen gefühlte 30 Grad. Die Mutter des kleinen Mädchens sitzt mit einem kleinen Jungen auf einer Picknickdecke. Neumann tritt auf sie zu und überreicht ihr Aufklebe-Tattoos für die Kinder und ein Wahlprogramm. Die Tochter kommt zurückgelaufen: „Mama, wer ist das?“ – „Das sind die Grünen. Das ist eine Partei.“ – „Warum hast du was von denen genommen?“ Genau das ist Neumanns Ansatz. Über die Kinder möchte die 32-Jährige ins Gespräch mit den Eltern kommen. Bei einem festen Wahlstand kämen immer nur zwei Sorten Menschen, sagt Neumann: die Pöbler und jene, die eh schon grün wählen, aber jemandem ihr Leid klagen wollen. Durch ihren Spielplatzwahlkampf treffe sie mehr unterschiedliche Menschen. Mit Hohenschönhausen hat sich Neumann dafür kein leichtes Gebiet ausgesucht. Der Bezirk gilt über die Stadtgrenzen hinaus als sozialer Brennpunkt. 40 Prozent der jungen Leute ziehen von hier weg, 60 Prozent der Kinder wachsen in Familien unter der Armutsgrenze auf. Bei der Berlinwahl 2016 holte die AfD hier mit 26 Prozent die meisten Stimmen. Die Grünen gewannen lediglich 7,7 Prozent. Das will Neumann ändern: „Ich bin zuerst Demokratin und dann Grüne. Wenn die AfD hier so stark ist, dann muss ich mich fragen, warum.“ Nur wollen die AfD-Wähler ihr das nicht verraten. Ein Mann sagt mit aggressivem Unterton: „Wenn es nicht von der AfD ist, musst du damit gar nicht erst ankommen.“ Sein Freund beschimpft Neumanns Partei mit: „Ihr Kinderficker, ich will nichts von eurer Pädophilenpartei.“ Die kleine, zierliche Frau entfernt sich bei solchen Kommentaren rasch und mit eingezogenem Kopf. Trotzdem möchte Neumann damit gelassen umgehen. Solche Sprüche nehme sie nicht persönlich, wolle die Menschen aber trotzdem ernst nehmen. Auch Fahrrad- und Autofahrern hält sie lächelnd das Wahlprogramm entgegen. Gummibärchen gibt es für die Kinder nur nach Rücksprache mit den Eltern – obendrein sind sie vegan. Genauso wie das Papier recycelt ist und die Seifenblasen umweltverträglich. Man könne sich ja nicht für eine Sache einsetzen und sie dann selbst nicht einhalten. „Die CDU lacht uns schon manchmal aus. Die haben einfach einen Bratwurststand, und das wars“, erzählt sie. Neben der Ökologie sind ihre persönlichen Wahlkampfschwerpunkte Kinderarmut, Toleranz und Entwicklungspolitik. Auf der Straße reichen die Reaktionen auf dieses Selbstverständnis von „Komm, hau ab“ bis zu „Viel Glück und schönen Tag noch“. Immerhin beim nächsten Spielplatz können sich Neumann und ihre drei Helfer vor Kindern kaum retten. Alle wollen ein Pinguin-Tattoo auf dem Arm haben.  Die Eltern sitzen abseits auf dem Rasen im Schatten der Plattenbauten. Von den Hochhäusern blättert der Putz ab. Der Spielplatz ist sauber, im Sand sind keine Zigarettenstummel oder Plastikmüll und auch die angrenzenden Grünflächen sind gepflegt. In der Mitte des Platzes steht ein großes Klettergerüst aus Holz. Eine Mutter ruft dem Wahlkampf-Team zu: „Also für Gummibärchen dürfen sie mit mir reden.“ Sie ist übergewichtig, trägt kurze, enge Radlerhosen und ein gelbes, locker sitzendes T-Shirt, ihre Augenbrauen sind auftätowiert. Um sie herum spielen Leyla, Jacqueline und Jeremia Fangen. Neumann antwortet ihr: „Dann gehe ich eben welche holen.“ Als sie mit den Süßigkeiten zurückkommt, bildet sich eine Kindertraube um sie herum. Zwei Schwestern laufen vorsichtshalber zurück zu ihren Eltern, um zu fragen, ob sie etwas von den Gummibärchen nehmen dürfen. Aber alle möchten etwas zum Naschen haben. So kommt Neumann nicht zur Unterhaltung mit der Mutter. Dabei liest jene im Programm und deutet im Gespräch mit einer Freundin auf einzelne Punkte. Es ist zwanzig nach fünf. Auf dem Weg zum nächsten Spielplatz liegt ein Supermarkt. Davor sitzen sechs Männer und eine Frau und trinken Berliner Kindl. Neumann bereitet ihr Team auf „harte Gespräche“ vor. Die Gruppe fordert im Spaß aber „erstmal einen Kasten Bier“, dann wären alle froh. Schnell geht es um grüne Kernthemen. Ein Vater von acht Kindern beklagt, dass die Grünflächen immer weiter verschwinden würden und auch der Naturschutz zu kurz käme. Mit einer ausholenden Armbewegung deutet er auf sein Umfeld: „Guckt euch doch mal an, wie verkommen hier alles ist.“ Außerdem käme es in den Wohnblocks häufig zu Bränden und Wasserrohrbrüchen. Alles stamme noch aus DDR-Zeiten. Dagegen werde aber nichts unternommen, nur die Hausverwaltung wechsele ständig. Neumann nickt, ja, da seien sie dran. Was sie konkret machen, sagt sie nicht. Doch nach anderthalb Stunden war das immerhin das erste Gespräch. Mit beiden Händen greifen die Helfer zu den Merchandise-Artikeln und Programmen, packen sie in ihre grünen Jutebeutel, schmeißen die Seifenblasenkanone an und betreten den letzten Spielplatz für heute. Die Anwesenden wenden sich mit irritierten Blicken dem Team zu. Eine Mutter verlässt mit ihrem Sohn und ihrer Tochter an den Händen sofort den Platz. Fünf Frauen unterhalten sich auf Russisch, erst langsam trauen sich ihre Kinder zum Lastenrad. Die Eltern fächeln sich mit den Wahlkampfzetteln Luft zu und beäugen kritisch, was ihr Nachwuchs von den Fremden annimmt. Neumanns Lächeln wirkt immer angespannter. Jedem Kind klebt sie persönlich die Tattoos auf und verpasst darüber erneut das Gespräch mit den Eltern. Ein junger Mann mit Hafermilch unter dem Arm lehnt die Süßigkeiten ab, weil er keinen Zucker esse. Neumann schmunzelt und kommentiert das mit: „Man merkt die Unterschiede im Bezirk. Dabei hat Lichtenberg was Ehrliches.“ Bei Podiumsdiskussionen falle ihr auch schon mal die Präsenz der ehemaligen DDR-Vergangenheit auf. Die sei im Kiez aufgrund der ehemaligen Stasi-Zentrale und des Stasi-Gefängnises besonders ausgeprägt. In diesen Diskussionen forderten die Bürger oft, dass die Parteien sich nicht streiten, sondern einfach nur die Probleme lösen sollten. Dass es im Wahlkampf aber darum geht, die Unterschiede aufzuzeigen, sei vielen nicht immer ganz klar, sagt Neumann. „Alle Parteien auf der Bühne nehmen diese Sorgen ernst, aber jede hat einen eigenen Ansatz, sie zu lösen.“ Manchmal helfe es, das zu erklären. Deswegen sollte es beim Spielplatzwahlkampf auch mehr ums Gespräch gehen als darum, neue Wähler zu akquirieren. Heute ist ihr das nur ein Mal gelungen. Dieser Text ist Teil einer Serie, für die Cicero sich bis zur Bundestagswahl an Berliner Wahlkampfständen verschiedener Parteien umsehen wird. Hier finden Sie die vergangenen Teile zur SPD und zur AfD.
Chiara Thies
Hannah Neumann ist grüne Direktkandidatin für den Wahlkreis Berlin-Lichtenberg. Sie tourt durch den Brennpunkt-Bezirk Hohenschönhausen und wagt sich damit in AfD-Kerngebiet vor. Ein Wahlkampf zwischen den Extremen
[ "Grüne", "Wahlkampf", "Lichtenberg", "Berlin", "AfD", "Sozialer Brennpunkt" ]
innenpolitik
2017-08-30T18:06:20+0200
2017-08-30T18:06:20+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/am-wahlkampfstand-die-gruenen-der-spielplatz-marathon
Seehofer, Gabriel und Co. – Das Comeback der Populisten
Der Populismus-Vorwurf ließ nicht lange auf sich warten. Kaum hatte Sigmar Gabriel vergangene Woche seine Thesen über die Schuld der Banken an der Eurokrise veröffentlicht, kaum hatte der SPD-Chef Erpressungen und kriminellen Machenschaften der Finanzindustrie angeprangert, schallte das böse Wort entgegen, das immer noch als Schmähkritik gilt. Doch gleichzeitig wurde einmal mehr deutlich, der Populismus ist nicht mehr nur ein Protestphänomen, der an den Rändern des Parteiensystems kultiviert wird. Er ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, als Populismus der Mitte oder auch als Regierungspopulismus. Sigmar Gabriel steht nicht alleine. Auch Angela Merkel, Jürgen Trittin oder Philipp Rösler setzen gerne auf Ängste und Emotionen, auf einfache Antworten und Scheinlösungen, auf die Gunst der Massen. Angesichts des Bedeutungsverlustes der Parteien in der Gesellschaft und angesichts des Verlusts ihrer Integrationskraft bleibt den Politikern häufig gar nichts anderes übrig, vor allem im Wahlkampf. In diesen Tagen geht es wieder los. In den kommenden Monaten werden den Wählern wieder Steuersenkungen oder Rentenerhöhungen versprochen, das Klima um die Wette gerettet und Sozialschmarotzer, kriminelle Ausländer, geldgierige Banker oder korrupte Politiker als Sündenböcke vorgeführt, der Euro wahlweise mit Wunderfonds oder dem Rausschmiss von Krisenländern gerettet. Der Atomausstieg wird innerhalb kürzester Zeit ohne gesellschaftliche Kosten umgesetzt, saubere Energie inklusive. Komplexe Probleme werden so auf einfache Lösungen reduziert, Versprechen gemacht, von denen die Politiker von Anfang an wissen, dass sie völlig unrealistisch oder unbezahlbar sind. Natürlich ist Populismus auch für die etablierten Parteien nichts Neues. Deutliche Worte gehörten schon bei Konrad Adenauer oder Helmut Kohl, bei Willy Brandt oder Helmut Schmidt zu einem ordentlichen Wahlkampf. Andererseits wird populistische Wähleransprache für die Parteien immer wahlentscheidender. Der richtige populistische Ton, die passende volksnahe Kampagne, der charismatische Kandidat entscheiden über politische Karrieren, über Sieg und Niederlage. Der FDP-Politiker Guido Westerwelle etwa versprach im Bundestagswahlkampf 2009 Steuersenkungen für alle, verkündete das Motto „mehr Netto vom Brutto“, obwohl ihm klar gewesen sein musste, dass sich die Regierung solche Geschenke angesichts der Wirtschaftskrise und der Überschuldung des Staates nicht würde leisten können. Das Rekordergebnis gab ihm einerseits Recht, andererseits erschwerten die falschen Versprechen der FDP das Regieren. Auch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer ist ein Meister des Populismus. Mal lädt er zur Facebook-Party, immer wieder zieht er bei der Euro-Retttung neue rote Linien. Und dann wischt er im Handstreich ein Meldegesetz vom Tisch, das nur die gängige Praxis fortschreibt, weil sich im Internet eine Empörungswelle aufgebaut hat. [gallery:Horst Seehofer – Elf Freunde müsst ihr sein!] Seehofer ist ein Grenzgänger, die Ein-Mann-Opposition in der schwarz-gelben Bundesregierung. Er muss im kommenden Jahr die bayerische Landtagswahl gewinnen und setzt sich deshalb demonstrativ von Berlin ab. Doch Populismus ist mittlerweile mehr als eine Oppositionsstrategie. Die immer größer werdende Komplexität von politischen Entscheidungen zwingt Parteien dazu, auch dann auf populistische Kampagnen zurückzugreifen, wenn sie die Macht erobert haben. Der Politikwissenschaftler Uwe Jun spricht deshalb vom „Populismus als Regierungsstil“. Auf der folgenden Seite: Wie viel Populismus ist gut? Natürlich kommt der Populismus anders daher, wenn er in den Regierungszentralen geplant wird, dosierter, verträglicher und vermeintlich überparteilich. Vier Aspekte des modernen Regierens weisen nach Ansicht von Uwe Jun dennoch eine „mehr oder weniger starke Affinität zum Populismus auf“. So orientieren sich Regierungen immer häufiger an der Stimmung in der Bevölkerung, Meinungsumfragen werden dabei zu einem unverzichtbaren Helfer. Sie wenden sich regelmäßig direkt an die Wähler, sie versuchen ihre Verbundenheit mit der Mehrheit der Bevölkerung zu demonstrieren, favorisieren einen präsidialen Regierungsstil. Gleichzeitig treten die Parteiprogramme und die Parteimitglieder in den Hintergrund. Regierungen agieren personenzentriert, nicht das Regierungshandeln steht im Mittelpunkt, sondern das Regierungspersonal. Hinzu kommt, Regierungen müssen ihre Politik permanent über die Medien kommunizieren, müssen permanent zuspitzen und vereinfachen,  weil der direkte Kontakt zu den Wählern abgerissen ist. Die Inszenierung von Politik als Dauerkampagne wird für sie zur Überlebensfrage. Die Grenzen zum Populismus werden oftmals fließend. Gerhard Schröder war ein Meister des Regierungspopulismus. Der SPD-Kanzler hatte ein untrügliches Gespür für Stimmungen in der Bevölkerung und für Timing, etwa bei seinem „Nein“ zum Irak-Krieg. Unvergessen ist auch sein Einsatz für die Holzmann-Arbeiter. Immer wieder wählte Schröder dabei die direkte Ansprache seiner Wähler über die Medien. Vor allem dann berief er sich auf Volkes Stimme, wenn er sich gegen Widerstände in der eigenen Partei behaupten musste. Etwa bei der Umsetzung der Agenda 2010. Doch auch Angela Merkel beherrscht das Spiel mit den Instrumenten der populistischen Mobilisierung. Zwar ist die Kanzlerin dabei nicht so marktschreierisch wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder, nicht kumpelhaft, sondern distanziert, nicht aufbrausend, sondern kühl kalkulierend. Auch die ansonsten so beherrschte Angela Merkel schimpft schon mal über „unverantwortliche Geschäfte“ der Banken, Mitten in der Eurokrise klagte sie wider besseres Wissen darüber, dass die Menschen in Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal „früher in Rente gehen“ als in Deutschland. Nach der Reaktor-Katastrophe in Fukushima war sie sogar bereit, über Nacht ihre bisherige Politik auf den Kopf zu stellen, weil nun die Mehrheit der Deutschen die Atomkraft ablehnten. [gallery:Merkel, ihre Männer und die Macht] Je umstrittener ihre Politik ist und je schwerer sie zu vermitteln scheint, desto leichter geraten Regierungen in diese populistische Versuchung. In der Eurokrise diktiert längst Kanzlerin Angela Merkel ganz alleine die Politik. Ihr Credo lautet „Scheiter der Euro, scheitert Europa“, dazu werden immer neue Horrorszenarien kommuniziert. Die Öffentlichkeit überblickt die zahllosen Rettungspakete längst nicht mehr, den Bundestagsabgeordneten bleibt nichts anders übrig, als die ihnen vorgelegten Gesetze abzunicken. Für ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren ist angeblich keine Zeit. Einerseits spricht also nichts dagegen, dass sich Politiker an der Stimmung in der Bevölkerung orientieren, auf Meinungsumfragen Rücksicht nehmen und möglichst umfassend die Interessen der Wähler berücksichtigen wollen. Auf die Unterstützung der Wähler kommt es in der Demokratie schließlich an. Ein deutlicher Ton, eine ideologische Einordnung oder eine gezielte Übertreibung können auch helfen, die Fronten in einem politischen Konflikt zu verdeutlichen und den Wählern Orientierung zu geben. Populismus kann für die Demokratie somit eine Chance sein. Doch zwischen notwendiger Ansprache der Wähler und Anbiederung an Stimmungen, zwischen professioneller Kommunikation und inszenierter Symbolpolitik sowie zwischen Appellen an die Mehrheit und dem Schüren von Ressentiments ist es nur ein schmaler Grat. Wenn ein Ministerpräsident „Kriminelle Ausländer raus, aber schnell“ fordert, ein Oppositionspolitiker eine Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft initiiert oder ein Bundeskanzler Sexualstraftäter einfach wegschließen will „und zwar für immer", dann ist die Grenze überschritten. Spätestens dann, wenn Regierungen in der Bevölkerung irrationale Ängste schüren, den Rechtsstaat in Frage stellen, oder wenn sie die Diskussion über politische Alternativen behindern und das Parlament faktisch zum Erfüllungsgehilfen der Exekutive machen, gerät die demokratische Willensbildung jedoch insgesamt in Gefahr.
Die Politik beherrscht das Spiel mit dem Populismus. Der Bedeutungsverlust der Parteien und die schwindende Bindekraft in die Gesellschaft tragen ihren Anteil dazu bei. Gefährlich wird es aber dann, wenn populistische Äußerungen Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen
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innenpolitik
2012-07-30T09:51:11+0200
2012-07-30T09:51:11+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/das-comeback-der-populisten/51362
Weitere Impfrisiken - Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie die Zukunft!
Immer Ärger mit dem Impfstoff. Während es bei der Lieferung von Covid-Impfstoffen weiterhin zu Engpässen kommt – zuletzt hat etwa der US-Hersteller Johnson & Johnson weniger Impfstoffdosen geliefert als erwartet –, senden auch Mediziner und Geimpfte noch immer beunruhigenden Nachrichten in die Welt. Waren zunächst nur Bedenken gegenüber dem Impfstoff von AstraZeneca laut geworden, bei dem es immer wieder zu gefährlichen Blutgerinnsel-Bildungen im Zusammenhang mit der Impfung gekommen ist, so scheint nun auch das Vakzin von Biontech/Pfizer vermehrt Probleme zu bereiten. Wie u.a. das Deutsche Ärzteblatt berichtet, sei es in Israel besonders in Folge der zweiten Impfgabe mit dem Vakzin des deutschen Herstellers zu „Dutzenden Fällen von Myokarditis“, also zu gefährlichen Herzmuskelentzündungen gekommen. Ähnliches wird laut einer Meldung des ORF nun auch aus Österreich berichtet. Und auch in Baden-Württemberg soll es einen ersten Fall geben. Betroffen sei ein 18-jähriger Schüler, der laut Informationen des Redaktionsnetzwerks Deutschland intensivmedizinisch behandelt werden musste. Wie das Deutsche Ärzteblatt weiterhin berichtet, sei es einem geleakten israelischen Regierungsbericht zu verdanken, dass das erhöhte Risiko zur Myokarditis besonders bei jungen Männern bekannt geworden sei. Für die gesamte israelische Bevölkerung könnte demnach das Myokarditisrisiko 1:100.000 betragen, für junge Männer aber könnte es bei 1:20.000 liegen. Bis dato seien 62 Fälle im Zusammenhang mit einer Impfung bekannt geworden. „Es ist wahrscheinlich, dass das Auftreten einer Myokarditis mit der Impfung zusammenhängt, auch wenn die Befunde noch vorläufig sind und näher untersucht werden müssen“, zitiert das Ärzteblatt aus dem Bericht. Währenddessen gibt es auch neues Ungemacht bei AstraZeneca. Denn ebenfalls im Deutschen Ärzteblatt wird nun davon berichtet, dass es allein in Großbritannien mittlerweile 168 Fälle von Blutgerinnseln im Zusammenhang mit der Impfung gäbe. 32 davon seien bisher tödlich verlaufen. AstraZeneca selbst hat mittlerweile den Wissensstand zu seinem Vakzin „Vaxzevria“ angepasst. In einem sogenannten „Rote-Hand-Brief“, einer Aussendung, die Pharmaunternehmen an Ärzte und Apotheker verschicken, schätzt das Unternehmen, dass es bei seinem Covid-Impfstoff zu einer Zunahme immuninduzierte Thrombozytopenie gekommen sei. Diese würde laut Angaben des Herstellers bei 1 bis 10 Prozent der Geimpften auftreten. Da alle derzeit verfügbaren Corona-Impfstoffe noch nicht die dritte Phase ihrer Erprobung durchlaufen haben, sind weitere Anpassungen in der Risikoeinschätzung wahrscheinlich. Lesen Sie den ganzen Artikel hier.
Ralf Hanselle
Das Licht am Ende des Tunnels hat sich eingetrübt. Laut eines Berichts im „Deutschen Ärzteblatt“ kommt es bei dem Impfstoff von Biontech/Pfizer zu vermehrten Herzmuskelentzündungen. Nach ersten Meldungen aus Israel sind nun auch in Deutschland und Österreich Fälle aufgetreten.
[ "Corona", "Pfizer", "Nebenwirkungen" ]
wirtschaft
2021-04-29T15:42:57+0200
2021-04-29T15:42:57+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/corona-impfung-pfizer-biontech-herzmuskelentzundung-risiko
handeln: Satzspiegel – Keinesfalls kariert
Dieses Mal geht es um Bücher, die sich gestreift kleiden. Warum tun sie das? Oder warum tut man ihnen das an? Ist es kleidsam? Erhoffen wir Antwort, indem wir erkunden, was Streifen sind? Sogleich verdächtigt man sie ja doch des Banalen und der Plausibilität und tut sie leichthin ab, aber sie sind durchaus bedeutungsvoll und vieldeutig. Der wohl hinreißendste Streifen war mir stets das Möbius’sche Band; es ist so einfach und doch ganz verwirrend, je länger man darauf hingleitet. Und leicht anzufertigen: Man klebt einen länge­ren Streifen Papier mit beiden Enden – das eine belassen, das ande­re gedreht – zum Ring. Ein ganz tautologisches, repetitives, litaneienes Spiel- und Denkzeug. Darum jetzt noch ganz verstiegen gestreift und gertrude-steinisch (seit ich las, dass unsere Tripelrose und oberfortschrittliche Schriftstellerin Gertrude Stein den ehedem deutschen Reichskanzler und Führer Adolf Hitler noch Ende der dreißiger Jahre zum – halten wir uns fest: Friedensnobelpreis! vorschlug, verwende ich sie nur noch adjektivisch, kleinattributiv) – gertrudesteinisch eben, also: Ein Streifen ist ein langer, schmaler, farblich abgesetzter Abschnitt auf einer Fläche, ist ein langes, schmales Stück Papier, ist ein langes, schmales Stück Land, ist ein schmaler Acker, ist ein Pa­pierstreifen, ist ein «geziemender Streifen», ein ordentlicher Schluck unter Burschenschaftlern also, ist ein Film, ist ein Ortsteil von Bad Grönenbach im Unterallgäu und ist etwas, das gleich bei allen ein Zebra ins Bild hebt. Zum Zweck der Zebrastreifen gibt es einige Annahmen: Zuvorderst wird vermutet, sie dienten der Tarnung, Umrisse lösten sich auf, und so sei die Stärke einer Herde für Raubtiere schlecht einzuschätzen. (Diese Tarnthese setzt sich aber so gut wie auf jedes Fell und jede Haut und kommt mir darum immer etwas an den gestreiften Haaren herbei-camouflagiert vor.) Einer forscheren Vermutung zufolge verwirren die Streifen die Tsetse-Fliege; diese trägt Übel auf das Zebra und kann – aber wer weiß so was und von ihnen gar? – mit ihren Facettenaugen Gestreiftes nicht erkennen. Vielleicht aber erkennen sich die Zebras am Fell untereinander sofort und ausgezeichnet!? Und überhaupt ist ja das Fell des Zebras sehr auffällig, und im Straßenverkehr soll es der Zebrastreifen auch: ins Auge fallen. In der Mode ist der Streifen ein altbewährter Blickfänger und Blender (soll schlanker machen und dergleichen)! Und auch die Kunst bedient sich des Streifens als Blickfang: Im Jahre 1967 – klar doch! – kam es zu abermals radikalen Vereinfachungen und Verweigerungen durch die Künstlergruppe BMPT – aus den Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Künstler gesetzt. Die Revolutionäre traten als Gleiche unter Gleichen auf und erkühnten sich zu behaupten, sie wollten NICHTS – keinen Erfolg, keine Absichten, kein Aufsehen. Aber wie es so ist, ist es NICHT so gekommen, sondern so: Olivier «M» Mosset versuchte es ganz erfolglos mit Kreisen. Niele «T» Toroni setzte ohne Erfolg auf kleine Quadrate und malt ausschließlich Karrees, die er empreintes (frz.: Abdrücke) nannte, mit dem immergleichen Pinselmodell Nr. 50 in ewiggleichen Abständen (30 cm) auf weiße Leinwand oder Ewiggleichschlichtes. Michel «P» Parmentier heischte mit waagerechten Streifen und angelegentlich wildem (verzweifeltem?) Gezacke wiederum recht wirkungslos um Gunst, Geld und Ruhm. Augenmerk und Ruhm und Hauptgewinn fielen allein an Daniel «B» Buren, der ausschließlich 8,7 cm breite Streifen, schiere Markisenstoffe, zur Kunst erkor. Buren ist seiner Streifen wegen einer der wenigen in der Kunst, die ein jeder sofort erkennt, und einer, der überall dabei ist. Mithin fischen Streifen den Blick und buhlen um Gunst und werden gemocht. Das macht sich auch die Buchgestaltung urbar. Im Streifenmeere der Buchgesichter spähen wir zufällig drei: Ganz bunt treibt es Wagenbach und treibt es gleichwohl nicht zu weit. Der Einband bleibt gefällig wie ein frühlingshafter Buntrock. Reclam schießt fehl, ja falliert! Oben Fotodramatik und unten dann progressive Regression in die Zweistreifigkeit. Entweder – oder, Mensch! Und zuviel ist zuviel! (Ich schickte sogar mal Drohpost an Reclam, sie mögen doch auf ihren gelben Bändchen bitte den blöden Stummelstreifen wieder zugunsten des vornehm durchgehenden Striches – des schmalsten aller Streifen! – tilgen und Abbildungen fürderhin meiden wie die Pest. Man hörte nicht auf mich.) Grandios bewerkstelligt es wieder Suhrkamp mit dem einen einzigen noblen Streifen, der den Goldenen Schnitt hütet und schlicht bezaubert (hierzu meine Ausführungen in Literaturen 5/2010). So schmeichelt der Streifen dem Auge, lässt aufblicken und schmückt – und bleibt das Vertrauteste und Altbekannte. Eben: res, ens, verum, bonum, aeternam, unum – gegenständlich, seiend, wahr, gut, ewig und einzig. Und keinesfalls kariert.
In der Kunst und anderswo: Streifen werden gemocht. Sie finden auch in der Gestaltung von Buchumschlägen häufig Verwendung – aber nicht immer überzeugt das Resultat. Von Thomas Kapielski
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kultur
2010-12-10T12:40:55+0100
2010-12-10T12:40:55+0100
https://www.cicero.de//kultur/keinesfalls-kariert/47255
GTA V - Ballern zum Chillen
[[{"fid":"60231","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":871,"width":638,"style":"width: 140px; height: 191px; margin: 4px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Dezember-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen. Stellen Sie sich vor: Sie sitzen vor dem Fernseher und lauschen den Dialogen von John Travolta und Samuel L. Jack­son in Quentin Tarantinos Film „Pulp Fiction“. Auf einmal bleibt das Bild stehen. Verärgert greifen Sie zur Fernbedienung – und plötzlich sind Sie mitten im Film, den Sie als Ihr eigener Regisseur mit einem Eingabegerät steuern. Sie werfen Jackson aus dem Auto, der Ihnen einen Fluch hinterherschickt. Sie steigen ein, lassen den Motor aufheulen, machen einen U-Turn und reißen dabei einen Hydranten aus der Verankerung. Wasser prasselt auf die Windschutzscheibe. Eine Polizeisirene heult auf. Die Stadt gleitet fotorealistisch an Ihnen vorüber. Auf nassem Asphalt spiegelt sich die Neonbeleuchtung eines Nachtclubs. Sie stellen den Wagen ab, erholen sich. Danach klauen Sie einen bulligen Ford und rasen stundenlang durch die Metropole, über der die Sonne versinkt. Die Welt gehört Ihnen. Tarantino kann in Rente gehen. So ähnlich fühlt sich das Video­spiel Grand Theft Auto an. Wild, unberechenbar, grell. Hinter dem Kürzel GTA verbergen sich ein amerikanischer Straftatbestand, „schwerer Kraftfahrzeugdiebstahl“, und das erfolgreichste Videospiel aller Zeiten. Die Serie wurde 1997 gestartet und ging soeben mit GTA V in die fünfte Runde. Dan und Sam Houser, die Gründer des produzierenden Rockstar-Studios, sind die Wunderkinder der Videospielindustrie.Die gesamte Branche hat im vergangenen Jahr mit einem Umsatzvolumen von weltweit 31 Milliarden Dollar die 28 Milliarden der Filmbranche hinter sich gelassen. Allein in Deutschland wurden gewaltige 73 Millionen Videospiele verkauft. Die meisten Spiele, so auch GTA, werden auf Konsolen gespielt, auf Sonys „Play Station“ und der „X-Box“ von Microsoft. Die grafischen Anforderungen der neuen Games sind handelsüblichen Computern längst über den Kopf gewachsen. Diese Konsolen, zwischen 400 und 500 Euro teuer, werden direkt an den Fernseher angeschlossen und über sogenannte Controller, wuchtige Fernbedienungen mit vielen Knöpfen und Schaltern, gesteuert.Um die Figuren und Fahrzeuge durch die rasanten Szenerien zu bewegen, benötigt man viel Übung. Bestimmte Bewegungen und Manöver lassen sich nur ausführen, wenn mehrere Knöpfe gleichzeitig gedrückt werden. Selbst erfahrene Computerspieler haben oft Mühe, ein Fadenkreuz bei einem Konsolenspiel präzise zu justieren. Vor allem dann, wenn neben ihnen gerade ein Öltank explodiert und die Figur durch ein trümmer­übersätes Schlachtfeld sprinten muss.Die grafische Perfektion der Spiele hat ihren Preis: GTA kostet derzeit im Handel rund 60 Euro. Die Produktionskosten liegen mit 265 Millionen Dollar deutlich über denen eines Hollywoodfilms. Auch der Umsatz der Spiele bewegt sich in anderen Regionen. GTA V spielte allein am ersten Verkaufswochenende weltweit annähernd eine Milliarde US-Dollar ein. Zum Vergleich: Der Erfolgsfilm „Gravity“ mit George Clooney und Sandra Bullock liegt nach mehreren Wochen Präsenz auf den Kinoleinwänden des Globus bei gerade einmal 365 Millionen Dollar. Wo das Geld bei GTA V hinfloss, sieht man sofort: Das Spiel ist eine Orgie an visueller Präzision. Alles fühlt sich real an, hautnah, brutal sinnlich. Man kann sich in dieser Welt frei bewegen. „Open World“ heißt das Konzept in der Sprache der Videospiele.In der fiktiven Stadt Los Santos, die unverkennbar Los Angeles nachempfunden ist, stimmt alles – das kleinste Architekturdetail, das Wetter, die urbane Geräuschkulisse. Gesprächsfetzen von Handytelefonaten schwirren vorbei, das Autoradio dudelt lokale Werbespots, nasse Joggingschuhe quietschen wie Plastikenten, im Ghetto wächst schmutziges Gras aus dem Asphalt. Fast meint man, das verbrannte Gummi der Autoreifen und den Urin der Hinterhöfe riechen zu können. Die Kulisse von „Pulp Fiction“ ist angesichts dieses Realitätssogs kaum mehr als ein barockes Guckkastentheater.Der Pixelirrsinn von GTA ist kein Selbstzweck. Er formuliert einen neuen Stil. Man könnte ihn „Hardcore-Realismus“ nennen. Über die Bilderrampe gleitet man in ein Universum aus Gewalt, Drogen und Pornografie. Die offizielle Altersfreigabe „ab 18“ ist angemessen. Das Spiel hat keinerlei pädagogischen Nutzen. Es erfüllt eine ganz andere Funktion: Es befreit den Spieler aus der Überregulierung einer nicht nur in politischer Hinsicht manisch korrekten Welt.Indem GTA nicht auf einem fernen Planeten oder einem Schlachtfeld in der arabischen Wüste spielt, sondern in den Schluchten der Urbanität, macht es die Grenzüberschreitung, den Regelbruch erlebbar. Das ist der Kunstgriff, der GTA zum neuen medialen Paradigma formt: Dieses Universum ist real genug, um Identifikation zu ermöglichen, aber ausreichend fiktiv, um als Ausbruch aus dem engen Alltag großer Koalitionen mit minimalen Ideen empfunden zu werden. GTA V hat eine fundamental deregulierende Funktion. Es bietet ein Format für antizivilisatorische Hypnose, bei der schon das bloße Autofahren zur Therapie wird. Lohnsteuerkarten, Dispokredite und Krankenkassen wirken aus der GTA-Optik wie Relikte eines früheren Lebens.Unsere oftmals moraldiktatorische Gesellschaft hat diese Form animalischer Befreiung offenbar nötig. Anders ist der Erfolg der GTA-Serie nicht zu erklären. Das Videospiel übernimmt dabei die Rolle des Kinos. Diesen Trend bestätigt Christian Schiffer, Spieleexperte und Gründer der ambitionierten deutschen Games-Zeitschrift WASD. Texte über Games: „Dass Hollywoodstars in Games auftauchen wie zuletzt Ellen Page und Willem Dafoe in ‚Beyond: Two Souls‘ für die ‚Play Station‘, wird bald schon völlig normal werden. Zugleich werden Spiele sich in ein Mittel verwandeln, durch das die Entwickler persönliche Statements zu gesellschaftlichen Problemen abgeben können. Autoren-Games werden eine ähnliche Funktion einnehmen wie heute noch die Autorenfilme.“Früher war das Kino der Ort der Freiheit. Filme waren ein Medium der Entgrenzung und des Stressabbaus. Doch je stärker die Digitalisierung des Kinos voranschreitet und je ähnlicher die Oberflächen von Filmen und Spielen einander werden, desto anziehender werden Games. Ein durchanimierter Film unterscheidet sich von einem Spiel nur noch dadurch, dass der Betrachter nicht in ihn einsteigen kann. Ein interaktives Game ist da für viele die bessere Alternative. Mit GTA sind Games zum gesellschaftlichen Leitmedium geworden, auch wenn sie der bildungsbürgerliche Kanon unter „Trash“ einreiht.Man könnte GTA ein „Super- oder Metamedium“ nennen, sagt Christian Schiffer: In der Welt von GTA kann man ins Kino gehen, fernsehen, Zeitung lesen, Radio hören. In Zukunft könnte sich ein Großteil des Medienkonsums in Welten wie Los Santos abspielen. „Ingame-Marketing“ nennt sich das künftige Geschäftsmodell, bei dem virtuelle Werbeflächen in Spielestädten ebenso real vermarktet werden wie Downloadportale wie Spotify. So hermetisch, wie sie aussieht, ist die digitale Welt also nicht.Spiele definieren nicht nur die Art und Weise, wie zukünftig Geld verdient wird, sondern auch, wie Geschichten erzählt und erlebt werden: crossmedial, interaktiv, offen. GTA V hat ein faszinierendes narratives Muster, das dieser Welt ohne Richtung Orientierung verleiht und sie damit von gescheiterten virtuellen Räumen in der Art von „Second Life“ unterscheidet. Es wirkt wie eine blutgetränkte Antwort auf Richard David Prechts so harmlose Frage nach dem Ich und den vielen. Der Spieler hat hier die Freiheit, ständig zwischen drei verschiedenen Figuren hin- und herzuwechseln, deren Wege sich kreuzen: Franklin ist ein kleiner Autodieb aus dem Ghetto, Michael ein pensionierter Gangster, den „Sopranos“ entsprungen, der sich in einer Villa über der Stadt verschanzt, und Trevor ein psychopathischer Drogendealer, der auch mit Waffen handelt. Zwischen diesen Figuren entspinnt sich eine gut choreografierte Geschichte mit überraschenden Wendungen. Am Ende kann man sich entscheiden, einen der Protagonisten ins Jenseits zu befördern, ehe nach mindestens 30 Stunden Spieldauer wie anno dazumal im Lichtspielhaus der Abspann über den Flatscreen läuft. Der Spieler kann zwischendurch aber auch das skurrile Universum der Nebenfiguren erkunden.Zum Beispiel lässt sich mit dem am Hals tätowierten und strohdummen Gangster Lamar und seinem fetten Rottweiler Chop das Ghetto aufmischen. Mehr darf über den Gang der Geschichte nicht verraten werden. Das gebietet ein ungeschriebenes Gesetz der Gamingwelt, die das „Spoilern“, das Verraten von zentralen Handlungselementen, unter Höchststrafe stellt. Das Schreiben über neue Spiele ist eine eigene journalistische Disziplin geworden, bei der es darum geht, viel zu sagen, ohne zum Spielverderber zu werden.Man verrät allerdings kein Geheimnis, wenn man darauf hinweist, dass die Dialoge von GTA urkomisch und filmreif sind. Wenn sich Lamar und Franklin im derbsten Jargon darüber unterhalten, wessen Bild nun in den „Mitarbeiter des Monats“-Rahmen gehört, dann ist das eine würdige Replik auf das philosophische Gequassel in „Pulp Fiction“. Die Figuren selbst sind dagegen vollkommen ironielos. Sonst könnten sie nicht deregulierend funktionieren. Ein Gangster, der sich selbst bewitzelt, ist eine schlechte Projektionsfigur für Ausbruchsfantasien. Diese distanzlose Hermetik der Gewalt macht Videospiele für viele so unerträglich und ausweglos.GTA ist ein extremes Beispiel für diese Ausweglosigkeit. Will man die Geschichte Trevors zu Ende spielen, muss man einen vermeintlichen Terroristen mit Faustschlägen, Elektroschocks oder heftigeren Methoden wie Waterboarding und Zähneziehen foltern, um an Informationen zu gelangen, die für das Weiterspielen notwendig sind. Versagt dabei das Herz des Opfers, wird es mit Adre­nalin belebt. Für eine neue Folterrunde. Diese Szene hat dem Spiel viel Kritik eingebracht. In einigen Ländern, unter anderem in Japan, wurde sie geschnitten, in der deutschen Version ist sie spielbar. Die entscheidende Frage lautet: Ist die Sequenz ausreichend als Satire markiert?Während Human-Rights-Organisationen wie „Freedom from Torture“ Menschenrechte für Spielefiguren einfordern, beharren Spieleexperten wie Michael Graf, stellvertretender Chefredakteur der deutschen Spielezeitschrift Gamestar, auf der Doppelbödigkeit der Szene: „Die GTA-Serie war schon immer bissiger Spott, satirische Abrechnung mit den Schattenseiten des amerikanischen Traumes. In diesen Kontext passt auch die Folterszene von GTA V. Sie führt den Spielern brutal, aber auch brutal ehrlich die Abgründe des ‚Kampfes gegen den Terror‘ vor Augen: Man muss einen Mann misshandeln, um eine letztlich sinnlose Mission zu erfüllen.“Graf gesteht ein, dass der satirische Unterton nicht für jeden Spieler klar erkennbar ist. Andererseits seien die brutalen Szenen „ein mutiges Statement gegen Untaten, die tatsächlich begangen werden – und sogar, wie es heißt, zu unserem Schutz, in unserem Namen. GTA V hält uns den Spiegel vor, zwingt uns zur Konfrontation mit Tatsachen, mit denen wir uns lieber nicht beschäftigen wollen. Das Medium Spiel wird erwachsen.“Dennoch kann die bewusste Sequenz nicht ohne Weiteres als ethische Reflexion über die Legitimation von Folter gelesen werden wie vergleichbare Szenen in Kathryn Bigelows Film „Zero Dark Thirty“ oder jüngst in Denis Villeneuves „Prisoners“. Auch die Tatsache, dass im Spiel die Regierung persönlich den Folterbefehl erteilt, macht die Sequenz nicht umstandslos zur Satire. Will man GTA V zu Ende spielen, gibt es keine Alternative, als in die Rolle des Folterknechts zu schlüpfen.Damit positioniert sich das Spiel außerhalb des moralischen Diskurses. Moralisch relevant wäre das Spiel, wenn der Spieler die Freiheit zur Entscheidung hätte. Das würde bedeuten, mehrere Handlungsfäden anzubieten und dem Spieler die Wahl zu lassen, welchen Weg er gehen will. Ein solches Szenario könnte zu einem Instrument ethischer Reflexion werden, zu einer Simulation moralischen Handelns, die die Missstände der realen Welt kritisch spiegelt.Das Spiel greift zwar immer wieder gesellschaftliche Probleme auf: Rassismus, Drogen, Frauenfeindlichkeit, den Diebstahl sozialer Daten. Facebook heißt im GTA-Slang Life Invader. Aber daraus folgt nichts. Es gibt keine Botschaft. Der Hyperrealismus verdichtet sich nie zur Sozialkritik. Für die Probleme dieser Welt gibt es genau zwei Lösungen: den Abzug und das Gaspedal.Weil jede kritische Distanz zum eigenen Ich fehlt, sind GTA und Konsorten für die andere Hälfte der Weltbevölkerung uninteressant: für die Frauen. Stolze 85 Prozent der Gamer sind Männer. Los Santos ist eine maskuline Architektur, in der man auch ein Bordell aufstöbern kann. Entsprechend schaut das weibliche GTA-Personal aus: Es ist vollbusig, willig, extrem verdorben und gerne blond. Christian Schiffer von der Zeitschrift WASD. Texte über Games sieht aber eine Umkehr voraus: „Die Zielgruppe für Spiele ist in den letzten Jahren größer, älter und vor allem weiblicher geworden. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Die Zielgruppe wird anspruchsvoller, insbesondere, was den Inhalt und die Handlung anbelangt.“Da stellt sich unweigerlich die Frage: Welche Form postindustrieller Meditation müssen Videogames bieten, um künftig auch von Frauen als Ventil für ihren Alltagsdruck erkannt zu werden? Braucht es Küchenzerstörungssequenzen? Kinderzimmerapokalypsen? Kastrationsfantasien?Vielleicht sieht die Zukunft der Games aber auch ganz anders aus. Derzeit sind mehr als 88 Prozent der Spieleentwickler männlich. Doch immer mehr Frauen drängen in den Markt. Spiele, die von Frauen mitentwickelt werden, sind anders. Bestes Beispiel ist die erfolgreiche Familiensimulation „Die Sims“. Vielleicht kann man ja demnächst in Grand Theft Auto VI einfach Brombeeren pflücken und mit Freunden ums Lagerfeuer sitzen, statt wehrlosen Menschen mit der Kombizange Backenzähne aus dem Kiefer zu drehen.
Alexander Pschera
Videospiele wie Grand Theft Auto bieten eine perfekte Flucht aus der Wirklichkeit. In ihrer zynischen Machowelt soll die Moral schweigen
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kultur
2014-01-08T12:51:11+0100
2014-01-08T12:51:11+0100
https://www.cicero.de//kultur/grand-theft-auto-ballern-zum-chillen/56791
Reform der Krankenhausfinanzierung - Exklusiv für Xing-Leser: Lauterbach geht „all in“
Nicht weniger als eine „Revolution“ kündigte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) heute bei der Vorstellung von Empfehlungen einer Regierungskommission zur Reform der Krankenhausfinanzierung an. Der Zustand der deutschen Krankenhauslandschaft sei dramatisch und fordere daher tiefgreifende Reformen. Das Problem beschrieb der Bundesminister in düsteren Worten: Überall dominiere nur noch die Ökonomie. Es gebe eine „Tendenz zu billiger Medizin“ und zugleich dazu, immer mehr Behandlungsfälle zu produzieren. Lauterbach sprach daher von einem „Hamsterrad“, in dem sich Deutschlands Krankenhausärzte und Pfleger befänden. Als Ursache des Übels wurde dabei vor allem das Fallpauschalensystem ausgemacht. Das soll nun zwar nicht ganz abgeschafft, aber doch deutlich in seine Schranken verwiesen werden. Dass es künftig wieder verstärkt um den Patienten und die medizinische Behandlungsqualität gehen solle – genau darin besteht nach Lauterbach die „Revolution“. Eigentlich ist das aber keine Revolution, sondern eine Konterrevolution – und eine sozialdemokratische noch dazu. Es war nämlich die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), die das System einführte und damit die Ökonomisierung des Gesundheitssystems in Gang setzte. Kurz danach zog der heutige Bundesgesundheitsminister für die SPD in den Bundestag ein. Die Grundidee der Fallpauschalen erschien dabei bestechend einfach und logisch: Erst werden die möglichen Erkrankungen nebst Behandlungspfaden nach Schweregraden bewertet und anschließend mit den durchschnittlichen regionalen Behandlungskosten multipliziert. Eine Lebertransplantation mit Beatmung trägt so zum Beispiel den Namen „A01A“, ist in der Behandlung 20,023 mal aufwändiger als eine durchschnittliche Krankenhausbehandlung und bringt einem Krankenhaus in Bayern bei einem Landesbasisfallwert von 3.825,44 Euro somit Einnahmen in Höhe von rund 76.600 Euro. Dass dieses System aber an Grenzen stoßen musste, war von Anfang an klar. Es hätte nämlich nur dann funktionieren können, wenn alle Krankenhäuser in Deutschland etwa gleich groß, gleich ausgelastet gewesen und dasselbe Profil gehabt hätten. Ein System mit der Erstattung von Durchschnittskosten kann logischerweise nur dann funktionieren, wenn alle Krankenhäuser auch durchschnittliche Kosten aufweisen. Diese Anforderung allerdings kollidierte schon bei der Einführung der Fallpauschalen mit der Realität – und auch mit den medizinischen Erfordernissen. Nicht nur, dass Deutschlands Krankenhäuser sehr unterschiedlich groß sind. Sie sind auch ganz verschieden profiliert. Auf der einen Seite stehen eher kleine Krankenhäuser im ländlichen Raum, die die Grundversorgung sichern. Am anderen Ende der Perlenkette finden sich Deutschlands Universitätsmedizinen und andere Maximalversorger als Krankenhäuser der Spitzenmedizin. Sie sollen sich vor allem um die kompliziertesten Erkrankungen kümmern. Dazwischen gibt es solche mittlerer Größe – und ausgewiesene Spezialkliniken, die sich ganz bewusst nur auf bestimmte Erkrankungen konzentrieren. Das Dilemma des deutschen Krankenhauswesens ist unter diesen Bedingungen schnell erklärt. Mit der Erstattung von Durchschnittskosten kommen nur Durchschnittskrankenhäuser mit mindestens durchschnittlicher Auslastung über die Runden. Leidtragende sind dabei sowohl die kleinen Krankenhäuser im ländlichen Raum wie die Großkliniken der Spitzenmedizin. Allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Während die kleinen Krankenhäuser unter zu wenigen Patienten trotz hoher Vorhaltekosten für Geräte und Personal ächzen, sind in den Einrichtungen der Spitzenmedizin häufig die Kosten innovativer Behandlungsmethoden nicht abgedeckt. Das „Hamsterrad“ der Billigmedizin, wie Lauterbach es nennt, ergibt sich aus dieser Konstruktion wie folgt: Weil für jeden Behandlungsfall nur Durchschnittskosten erstattet werden, gibt es einen Anreiz, die therapeutischen Möglichkeiten nicht auszuschöpfen und so Überschüsse zu erwirtschaften. Da wiederum jedes Krankenhaus je Fall bezahlt wird, gibt es außerdem einen Anreiz, immer mehr Fälle zu produzieren. Das allerdings führt nachträglich zur Absenkung der Fallpauschalen, damit die Kosten des Systems nicht explodieren. Man muss also viele Behandlungsfälle produzieren, damit die Kosten gedeckt werden. Aber dadurch sinkt der Erlös je Behandlungsfall – und man muss noch mehr Fälle produzieren. Der Leiter der Regierungskommission, Prof. Tom Bschor, wies denn auch darauf hin, dass Deutschland über 50 Prozent mehr Krankenhausbetten verfüge als seine europäischen Nachbarn – und über 50 Prozent mehr Krankenhausbehandlungen. Aber diese Probleme waren von der Politik sogar gewollt bzw. sie wurden zumindest von Anfang an billigend in Kauf genommen. Unter Experten ist seit langem unbestritten, dass das Gesundheitssystem ein multiples Strukturproblem hat. Krankenhäuser dürfen bspw. kaum im ambulanten Bereich tätig werden. Dagegen wehren sich aus wirtschaftlichen Interessen die niedergelassenen Ärzte. Das Ergebnis: Allzu oft werden in Krankenhäusern stationäre Aufenthalte selbst dort verordnet, wo eine ambulante Behandlung völlig ausreichend wäre. Nur so können diese die Fallpauschale einkassieren und einen Beitrag zur Deckung ihrer Vorhaltekosten aufwändiger Strukturen leisten. Hinzu kommt außerdem, dass es im internationalen Vergleich eigentlich zu viele Krankenhäuser in Deutschland gibt, darauf deutet schon die hohe Bettenanzahl hin – und zu viele dasselbe machen. Das Ergebnis: Zu geringe Auslastung der Krankenhäuser und damit Kostendruck, geringere medizinische Qualität als möglich und ein ruinöser Wettbewerb um selten gewordene Fachkräfte. In Wahrheit würden eine Bereinigung der Krankenhauslandschaft und vor allem konsequent ordnungspolitisch ausgerichtete Versorgungsstufen Geld sparen, die medizinische Behandlungsqualität verbessern und ein wirksamer Beitrag gegen den Fachkräftemangel in medizinischen und Pflegeberufen sein. Aber die Politik hat schon seit Jahrzehnten nicht den Mut dazu, diese Probleme anzugehen. Weitere Artikel von Mathias Brodkorb: Insgeheim war die Einführung des Fallpauschalensystems daher von der Idee getragen, die erforderlichen Strukturbereinigungen einfach dem „Markt“ zu überlassen. Durch die schrittweise Anpassung an Durchschnittskosten, so das eigentliche Kalkül, würden unwirtschaftliche Krankenhäuser peu à peu von selbst vom Markt verschwinden, ohne dass sich die Politik die Finger schmutzig machen müsste. Allerdings gerieten damit insbesondere auch Universitätskliniken in schweres Fahrwasser und damit ausgerechnet die Flaggschiffe und Letztversorger der deutschen Krankenhauslandschaft, Deutschlands Spitzenmedizin also. Sie sind die wesentlichen Opfer des fehlenden politischen Mutes zu konsequenten Strukturentscheidungen. Allein in den letzten Jahren türmten Deutschlands Universitätskliniken ein Defizit von etwa 500 Mio. Euro auf. Ohne zusätzliche Zuschüsse der Länder wären es sogar mehr als 800 Mio. Euro. Im Jahr 2021 hatten mehr als 70 Prozent aller deutschen Unikliniken ein negatives Jahresergebnis. Zehn Jahre zuvor waren es noch 25. Einer Revolution kommen die Vorschläge der Kommission dennoch gleich. Sie schlagen nicht nur eine deutliche Begrenzung der Fallpauschalen vor. Künftig sollen 40 Prozent, in besonderen Fällen wie der Notfallmedizin auch 60 Prozent der Mittel als „Vorhaltepauschalen“ ausgereicht, und nur der Rest anhand der Fallzahlen abgerechnet werden. Das dürfte den ökonomischen Druck in den Krankenhäusern tatsächlich deutlich reduzieren. Viel einschneidender aber ist, dass die Regierungskommission die Finanzierung der Krankenhäuser künftig an eine klare Zuordnung von Versorgungsstufen koppeln will, nämlich auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene. Was hübsch klingt, hätte beinharte Konsequenzen. Denn für die kleinen Krankenhäuser im ländlichen Raum sollen die Vorgaben für Personal und Geräteausstattung in den medizinischen Fächern nicht nur vereinheitlicht, sondern auch qualitativ angehoben werden. Da das wirtschaftlich nicht alle Häuser überstehen können, soll es künftig zwei Arten von Krankenhäusern im ländlichen Raum geben: die echten kleinen Krankenhäuser, die noch über eine eigene Notaufnahme verfügen, und Grundversorger des so genannten „Level Ii“. Oder auf Deutsch: Eigentlich sind das keine richtigen Krankenhäuser mehr, sondern eher medizinisch-pflegerische Versorgungszentren. Sie müssen nicht von Ärzten, sondern können auch von qualifizierten Pflegern geleitet werden. Und sie arbeiten am besten mit niedergelassenen Ärzten zur ärztlichen Versorgung zusammen, können aber auch eigene Ärzte anstellen. Die Kommission nennt das „integrierte ambulant/stationäre Versorgung“. In Wahrheit ist dieser fachlich überzeugende Vorschlag die eigentliche Revolution in den Empfehlungen der Regierungskommission. Dahinter verbirgt sich de facto nicht nur im Grunde eine trickreiche Welle von Krankenhausschließungen durch Umwandlungen, sondern es wird zudem eine Neuverteilung der Behandlungsleistungen zwischen lokalen Krankenhäusern und ihren Trägern provoziert. Nicht ohne Grund spricht die Kommission vom „Anreiz zur engeren Kooperation (…) bis hin zum Austausch von Leistungsgruppen“. Bei Umsetzung dieses Vorschlages käme es tatsächlich zu einer „revolutionären“ Neuordnung der Krankenhauslandschaft. Und nicht nur das. Erstmals würde ernst gemacht mit dem ebenso sinnvollen Vorschlag, ambulante und stationäre Leistungen jenseits der Spitzenmedizin miteinander zu verzahnen. Der Verband der Universitätskliniken Deutschlands ist daher voll des Lobes über die Empfehlungen der Gutachter. Sein Chef ist Jens Scholz und zugleich Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holsteins und seit einiger Zeit auch der Chef des Verbandes der Deutschen Universitätsklinika. Er hält das alles für einen „vielversprechenden Ansatz“ und betont, dass erstmals die besondere Rolle der Uniklinika auch mit finanziellen Konsequenzen von der Regierung anerkannt worden sei. Aber Jens Scholz wird auch deutlich: „Wenn einige Krankenhäuser mehr Geld erhalten sollen, müssen bei gegebenem Budget manche weniger erhalten. Deutschland hat in Wahrheit auch nicht zu wenig medizinisches und Pflegepersonal, sondern ineffiziente Strukturen. Werden diese bereinigt, kann die Versorgung besser und zugleich preiswerter werden.“ Scholz deutet damit an, was in den nächsten Wochen und Monaten auf Lauterbach zukommen wird. Die Vorschläge der Regierungskommission schneiden tief ein in seit Jahrzehnten unangetastete Interessen mächtiger Gruppen: von Krankenhausträgern, niedergelassenen Ärzten, Ländern und Gemeinden. Bisher traute sich niemand, sich mit allen Interessengruppen auf einmal anzulegen. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß, schlägt daher erwartbar andere Töne an als Scholz. Er forderte von Lauterbach zunächst die Anhebung der Krankenhausfinanzierung um 15 Mrd. Euro pro Jahr. Andernfalls sei die Reform von Beginn an „zum Scheitern verurteilt.“ Es hatte daher seinen guten Grund, dass Kommissionsmitglied Prof. Christian Karagiannidis zum Abschluss seines Statements einen Appell an seine eigene Zunft richtete. „Wir haben in den letzten 20 Jahren alle Fehler gemacht“, „auch Mediziner“, gestand er ein. Es müsse nun eine „Zäsur“ geben: Alle müssten „extrem runter von den Partikularinteressen“. Karl Lauterbach jedenfalls hat sich schon heute festgelegt. Er betrachtet die Arbeit der unabhängigen Kommission als „Grundlage“ seiner weiteren Arbeit – offenbar ganz ohne weitere Rückversicherung im politischen Raum. Der Bundesgesundheitsminister, dem dieser Tage von Wolfgang Kubicki (FDP) vorgeworfen worden war, seinem Amt nicht gewachsen zu sein, geht damit „all in“. Das tut er wahrscheinlich auch deshalb, weil er schon immer der Meinung war, dass Deutschland in Wahrheit über zu viele Krankenhäuser verfüge. Eigentlich müsse man jede dritte oder zweite Klinik schließen, um das System besser zu machen. Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten. Dann hätten wir anderen Kliniken genug Personal, geringere Kosten, bessere Qualität, und nicht so viel Überflüssiges. Länder und Städte blockieren https://t.co/Ffyf8Ue5ZX Damals, als er das 2019 twitterte, war er noch kein Gesundheitsminister. Und ab dem heutigen Tage hat er einen Vorschlag auf dem Tisch, ein ähnliches Ziel ganz ohne das hässliche Wort „Krankenhausschließung“ zu erreichen. Sollte er damit erfolgreich sein, handelte es sich am Ende um weit mehr als bloß eine gelungene Konterrevolution.
Mathias Brodkorb
Karl Lauterbach kündigt bei der Vorstellung von Empfehlungen zur Reform der Krankenhausfinanzierung eine „Revolution“ an. Tatsächlich handelt es sich bei der deutlichen Begrenzung der Fallpauschalen um eine sozialdemokratische Konterrevolution.
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2022-12-07T14:13:15+0100
2022-12-07T14:13:15+0100
https://www.cicero.de//reform-der-krankenhausfinanzierung-exklusiv-fur-xing-leser-lauterbach-geht-all-in
Altersarmut - Existenznot am Lebensabend
Das Beunruhigende ist nicht die absolute Zahl, sondern der stetige Zuwachs. Ende 2012 konnten 465.000 Menschen in Deutschland nicht von ihrer Altersrente leben und mussten zusätzlich Leistungen aus der Grundsicherung beantragen. Das ist eine Steigerung der Altersarmut um 6,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Vergleich zu 2005 liegt der Anstieg bei 35,6 Prozent. Aktuell sind demnach 2,7 Prozent der über 65-Jährigen aufs Sozialamt angewiesen, vor acht Jahren waren es 2,2 Prozent. Wenn man die dauerhaft Erwerbsgeminderten hinzunimmt, denen die Erwerbsunfähigkeitsrente ebenfalls nicht zum Leben reicht, erhalten derzeit knapp 900.000 Menschen in Deutschland Grundsicherung – so viele wie niemals zuvor. Seit Einführung dieser Leistung im Jahr 2003 hat sich die Zahl der Empfänger mehr als verdoppelt. Auffällig ist an dieser Entwicklung zweierlei. Zum einen sind von der Zunahme der Altersarmut im Ost-West-Vergleich vor allem Rentner der alten Bundesländer betroffen. Während in Ostdeutschland lediglich zwei Prozent der über 65-Jährigen auf Grundsicherung angewiesen sind, liegt die Quote im früheren Bundesgebiet bei drei Prozent. Und am stärksten trifft es westdeutsche Frauen im Rentenalter. Ihr Anteil beträgt 3,3 Prozent – von den Männern im Westen müssen nur 2,5 Prozent zum Sozialamt. In Ostdeutschland sind die Frauen mit 2,1 Prozent zwar auch überrepräsentiert, die Spanne ist gegenüber 1,8 Prozent bei den Männern aber nicht so weit auseinander. Der Grund dürfte darin zu finden sein, dass im Osten zu DDR-Zeiten schlicht mehr Frauen berufstätig waren und dadurch auch höhere Rentenansprüche erwerben konnten. Dazu passt das Koalitionsthema Mütterrente. Das Problem der Altersarmut, das zeigen die Zahlen, trifft zunehmend Frauen, die Kinder erzogen, dadurch länger im Job pausiert und wenig in die Rentenkasse eingezahlt haben. Obwohl es früher im Westen kaum Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder gab, wird für die Erziehung jedes vor 1992 geborenen Kindes aber bisher nur ein Renten-Entgeltpunkt angerechnet. Das sind derzeit grade mal 28 Euro monatlich im Westen und 25 im Osten. Jüngere Mütter bekommen dreimal so viel. Aus Gerechtigkeitsgründen drängt die Union nun auf eine Angleichung, sie will den Älteren wenigstens einen weiteren Entgeltpunkt zuschreiben – was die Renten von immerhin rund acht Millionen Betroffenen erhöhen und etwa 6,5 Milliarden Euro kosten würde. Allerdings warnen Experten, sich dafür, wie geplant, einfach aus der Rentenkasse zu bedienen. Die Grundsicherung wird schließlich auch aus gutem Grund aus Steuern finanziert. Dass die Erwerbsunfähigkeitsrenten den Betroffenen hinten und vorne nicht reichen, haben die Rentenversicherer wiederholt beklagt. Eine bereits eingetütete Reform scheiterte in der vergangenen Legislatur aber am Bestreben von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), das Ganze im Paket mit ihrer umstrittenen Zuschussrente realisiert zu bekommen. Ende 2012 lag die Durchschnittsrente West für Männer im Schnitt bei 1005 und für Frauen bei 508 Euro im Monat. Im Osten waren es 1073 beziehungsweise 730 Euro. Bei der Grundsicherung geht es jedoch ums Gesamteinkommen – bei vielen Älteren, insbesondere im Westen, ist die gesetzliche Rente nur ein Teil davon. Anspruchsberechtigt auf zusätzliche Hilfe sind Menschen, die im Schnitt weniger als 700 Euro haben. Die genaue Summe ist abhängig vom jeweiligen Bedarf, also auch vom Wohnort und den dortigen Lebenshaltungskosten. Das erklärt womöglich den Umstand, dass der Anteil der Hilfsempfänger unter den über 65-Jährigen im reichen Hamburg am höchsten ist. Die Quote liegt dort bei 6,2 Prozent. Es folgen Bremen (5,5 Prozent) und Berlin (5,3 Prozent). Am seltensten bezogen Rentner in Sachsen und Thüringen Grundsicherung, hier lag der Anteil bei nur jeweils einem Prozent. Auch in Berlin sind die Kosten für die Grundsicherung enorm gestiegen. 2005 musste die öffentliche Hand dafür noch 58 Euro je Einwohner ausgeben. Im vergangenen Jahr waren es 116 Euro. Weil der Bund die Finanzierung ab 2014 komplett übernimmt, um die Kommunen zu entlasten, muss Berlin die Kosten von etwa 400 Millionen Euro jährlich künftig nicht mehr selber tragen. Ausgezahlt wurde die Grundsicherung 2012 an fast 67.000 Berliner, davon rund 35.000 im Rentenalter und 32.000 mit voller Erwerbsminderung, vorwiegend im Alter von 35 bis 50 Jahren. Die hohe Zahl von Leistungsempfängern spiegelt die schwierige Alters- und Sozialstruktur der Hauptstadt wider. Dort leben überdurchschnittlich viele Menschen mit kurzer oder unregelmäßiger Erwerbsbiografie. Seit dem Mauerfall vor 24 Jahren gehören dazu auch zunehmend mehr Berliner im Ostteil der Stadt. Besonders betroffen sind Bezirke mit überalterter beziehungsweise sozial schwacher Bevölkerung. Und die statistische Zunahme ist es nicht allein. Bei alledem gilt es auch noch eine Dunkelziffer zu berücksichtigen, die aus Expertensicht beträchtlich sein dürfte. Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat im vergangenen Jahr einmal den Anteil derer hochgerechnet, die im Alter aus Unkenntnis oder Scham auf die ihnen zustehende Grundsicherung verzichten. Ihr erschreckender Befund: Es handelt sich um gut zwei Drittel der Anspruchsberechtigten. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“ betrage, fußend auf den Daten des Sozio-Ökonomischen Panels für das Jahr 2007, etwa 68 Prozent. Von gut einer Million Menschen über 65, denen Grundsicherung zustand, hätten nur 340.000 das Geld tatsächlich bezogen.
Rainer Woratschka
Immer mehr Menschen in Deutschland sind von Altersarmut betroffen. Sie müssen die Grundsicherung in Anspruch nehmen. Vor allem Frauen in Westdeutschland sind betroffen. Wie ist das zu erklären?
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innenpolitik
2013-10-23T08:55:11+0200
2013-10-23T08:55:11+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/altersarmut-immer-mehr-arme-alte/56189
Politische Kunst - Der Kampf gegen Rechts ist keine Kunst
Ein schönes Wort ist es einmal gewesen, das Wort Respekt, ehe es zum Megafon für Halbstarke verkam. Respekt wird heute eingeklagt für diese oder jene Besonderheit, als verdiente alles, was existiert, den Beifall der Gesellschaft. Gemeint ist in der Regel Akzeptanz, stattdessen sagt man Respekt und will also Zustimmung, Lob, Wertschätzung für allen Eigensinn und alle Rücksichtslosigkeit. Bald wird der Handtaschendieb Respekt von seinem Opfer verlangen, der Beleidiger vom Beleidigten. Insofern ist es Floskeldeutsch im Stil der Zeit, wenn Künstler in München auf Initiative der Stadtregierung zu einem Bündnis namens „Kunst und Kultur für Respekt“ aufrufen. Löblich und ehrenwert klingt, was sich die steuerfinanzierte Elite vorgenommen hat. Man will „Rassismus, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus“ die Stirn bieten. So beruhigend es auch ist, dass München mit Linksextremismus und Linkspopulismus kein Problem hat: Dahinter lauert Leere, nichts als Leere. Hier trommeln Künstler, die ihrer Kunst nicht trauen. Hier schlagen Kulturproduzenten Alarm, die Kultur für defizitär halten. Traurig ist diese Totalkapitulation der Kunst vor dem Künstlerischen. In eher raunender denn benennender Sprache und mit vielen Zeichensetzungsfehlern plädieren die Kammerspiele, das Residenztheater, das Stadtmuseum und fast alle anderen wichtigen Kultureinrichtungen für ein „demokratisches, weltoffenes und multikulturelles München, in dem respektvoll miteinander umgegangen wird.“ Dieser Satz wäre 1935 in der „Hauptstadt der Bewegung“ eine Sensation gewesen und eine heroische Tat. Heute ist er gratismutig, banal und selbstgefällig. Vermutlich war das auslösende Moment eine Unterschriftenaktion gegen den Bau eines umstrittenen islamischen Zentrums rund um den umstritteneren Imam Idriz, einen Vielredner mit zweifelhaften Vorbildern. Vermutlich wird diese Unterschriftenaktion den Gang der Ereignisse höchstens verzögern, nicht verhindern. So geht es zu in demokratischen Gesellschaften: Wem etwas nicht passt, der kann für seine Position werben. Wenn die Mehrheit es anders sieht, hat der Unterlegene die Demokratie gestärkt. Die Kulturelite aber träumt von einer Demokratie nur für Demokraten mit Gesinnungs-TÜV. Anders ist die kuriose Formulierung nicht zu erklären, „demokratische Instrumente – beispielsweise die Unterschriftensammlung für ein Bürgerbegehren“ dürften nicht „missbraucht“ werden, „um demokratische Grundrechte wie die Religionsfreiheit zu untergraben.“ Halten zu Gnaden: Nicht jedes Bauvorhaben einer Glaubensgemeinschaft ist ein Fall für die Europäische Menschenrechtskonvention. Davon abgesehen ist der grassierende Pamphletismus in Künstlerkreisen Ausdruck einer Kunstkrise. Kunst allein soll nicht mehr genügen, es muss Zweckkunst sein, Funktionskunst, Staatskunst. Das Bekenntnis zum richtigen Bewusstsein ersetzt die richtige Kunst. Weil Künstler nicht mehr glauben, dass sie mit ihrer Kunst durchdringen, weichen sie kompensatorisch auf die Felder des Politischen aus und dilettieren dort. Das fing mit Walter Sittlers Einsatz gegen „Stuttgart 21“ nicht an und hörte mit Hannes Jaenickes „Großer Volksverarsche“ nicht auf. Künstler wollen die Erderwärmung stoppen, den Waffenhandel abschaffen, die Kinderarbeit und die Prostitution, die Datenüberwachung und die Massentierhaltung. Natürlich ist jeder Künstler Zeitgenosse und Teil der Zivilgesellschaft und darf sich zu Wort melden. Mittlerweile aber ist Kunst zum Pausenfüller geworden zwischen Unterschriftenaktionen. Zugleich wird der Kunstkonsument entmündigt, wenn nicht erpresst. Wisse, du Theatergänger und Konzertbesucher, wisse, was du allein nie gedacht hättest: Wir, die Kunstschaffenden, denken das Richtige, lerne von uns, höre zu. Agitprop aber ist ebenso wenig eine Kunst wie der „Kampf gegen Rechts“. Was nämlich ist Kunst, bei Lichte betrachtet? Der Ernstfall einer Beziehung von Mensch zu Mensch und darum der denkbar schärfste Einspruch gegen Extremismen von links wie von rechts. Kunst ist das Veto der Fantasie gegen das Regiment der Nützlichkeit. Kunst ist Weltoffenheit an sich. Wer seiner eigenen Kunst nicht über den Weg traut und ihr durch Pamphlete und Gewissensdruck auf die Beine helfen will, der scheitert doppelt. Als Künstler wie als Politiker.
Alexander Kissler
Kisslers Konter: Künstler wollen die Erderwärmung stoppen, den Waffenhandel abschaffen, die Prostitution und die Massentierhaltung. Kunst ist längst zum Pausenfüller geworden zwischen Unterschriftenaktionen
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kultur
2014-01-21T11:37:05+0100
2014-01-21T11:37:05+0100
https://www.cicero.de//kultur/politische-kunst-der-kampf-gegen-rechts-ist-keine-kunst/56877
Nach Stadion-Blutbad in Ägypten – Die schleichende Konterrevolution
Emad Sayed steht im Clubhaus seines Lieblingsvereins, er trägt ein schwarzes Jackett und weiße Turnschuhe. Seit 20 Jahren ist Sayed Mitglied des größten Fußballvereins Kairos, dem Ahly SC. Die Einrichtung spricht vom Ruhm des Vereins: Holzvertäfelung, Marmor, Kronleuchter. 35-mal war Ahly ägyptischer Meister. Eine Bildergalerie zeigt die früheren Manager des Vereins. Die ersten Fußballherren trugen noch den Fez, die traditionelle  Kopfbedeckung im Nahen Osten des frühen 20. Jahrhunderts. Der Verein war damals so etwas wie eine Zelle des Widerstands gegen die britische Kolonialbesatzung. Seiner rebellischen Tradition ist er noch immer treu geblieben: Es waren die „Ahly Ultras“, die sogenannten Hardcore-Fans des SC, die in der Revolution eine entscheidende Rolle spielten. Sie stellten sich den vorrückenden Sicherheitskräften entgegen – und überwanden somit die Angst der anderen Demonstranten. Auch in den Auseinandersetzungen im November und Dezember standen die Ahly Ultras an vorderster Front. Die Militärführung hätte also durchaus einige Rechnungen zu begleichen. Der jüngste Coup: die brutalen Ausschreitungen im Stadion von Port Said. Nach dem Abpfiff des Spiels am Mittwochabend waren die Anhänger des Vereins Al-Masry aufs Spielfeld gestürmt. Sie machten Jagd auf Spieler und Fans des Fußballclubs Ahly. Die anwesenden Sicherheitskräfte gingen nicht dazwischen. 74 Menschen kamen ums Leben. Emad Sayed vermutet noch mehr dahinter. „Das Regime will Instabilität in Ägypten erzeugen, um den Ruf der Revolution zu schädigen“, sagt der 36-Jährige. „Wer Ahly angreift, der greift ganz Ägypten an.“ Viele Beobachter sagen, dass das Militär die Auseinandersetzungen in Port Said provoziert oder zumindest zugelassen hat, um in der Bevölkerung Ängste vor weiterer Gewalt zu schüren. Dadurch könnten die Generäle rechtfertigen, länger an der Macht zu bleiben und gegen die Ultras und die Revolutionäre vorzugehen. „Das war eine geplante Sache“, sagt der 24-jährige Mohammed, einer der Ahly-Ultras SC. „Die Fans von Al-Masry bewarfen unseren Zug schon auf dem Hinweg mit Steinen.“ Mohammed ist nur knapp mit dem Leben davon gekommen. „Vor dem Spiel gab es keine Sicherheitskontrollen wie sonst. Die Al-Masry-Fans waren mit Stöcken, Böllern und Messern bewaffnet“, sagt Mohammed. Videoaufnahmen des Spiels zeigen, wie tausende Al-Masry-Fans einfach auf die Tribünen der Gastmannschaft gelangen konnten. Diese konnten jedoch nicht vor den Angreifern fliehen. Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie das Militär die Demonstranten als Kriminelle darstellt. „Alle Fluchttüren waren abgeschlossen worden. Also stellte ich mich auf die Schultern eines Freundes und versuchte über einen Zaun zu klettern. Doch ein Al-Masry-Fan riss mich zu Boden, stach mit einem Messer auf mich ein und trat mich“, sagt Mohammed, und zeigt auf seinen Arm, der mit breiten Messerschnitten übersät ist. Sein rechtes Bein ist gebrochen. „Viele meiner Freunde sind an diesem Tag gestorben.“ Bereits in der Vergangenheit waren Ultras wiederholt in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt. Doch dann ging es für gewöhnlich gegen die Polizei, mit der sich die Fans innerhalb und außerhalb des Stadions Schlachten lieferten. Der Demokratiefahrplan sieht vor, dass sich das Militär nach den Präsidentschaftswahlen im Juni 2012 aus der Politik zurückziehen soll. Das fordert die Muslimbruderschaft, die die kürzlichen Parlamentswahlen gewonnen hat – genau wie die Revolutionäre vom Tahrir-Platz. Die jungen Liberalen misstrauen der Bruderschaft und dem Militär jedoch. Sie sagen, dass die beiden einen Deal haben, um die Macht unter sich aufzuteilen. Eine Eskalation der Gewalt würde dem Militär in die Hände spielen: Denn Ausschreitungen böten einen Vorwand, die Präsidentschaftswahlen und damit den Rückzug aus der Politik aufzuschieben. Große Teile der ägyptischen Bevölkerung sind der ständigen Ausschreitungen und Demonstrationen müde. Sie wünschen sich vor allem Sicherheit – und, dass sich die Wirtschaft wieder erholt. Auf die stumme Zustimmung dieser Menschen baut das Militär. Das Militär kontrolliert das Staatsfernsehen. Damit ist es ein Leichtes, die Ultras und andere Demonstranten als Unruhestifter und Kriminelle darzustellen. Die blutigen Auseinandersetzungen in Kairo und anderen Städten am Donnerstagabend, bei denen zwei Menschen von der Polizei erschossen wurden, waren das zu erwartende Nachspiel der Geschehnisse in Port Said. Die Revolutionäre, die dem Wahlsieg der Muslimbruderschaft genauso misstrauen wie dem Militär, hoffen, dass die Ahly-Ultras einen Sieg davontragen. Sie wollen mit anhaltendem Protest dem Militär Zugeständnisse abringen. Doch der Rest der Bevölkerung will Ruhe. Deshalb werden die Ultras, selbst falls sie diese Straßenschlacht gewinnen sollten, den Krieg wahrscheinlich verlieren.
Das Ancien Regime schlägt zurück: Die blutigen Ausschreitungen zwischen zwei Fangruppen in Ägypten richten sich vermutlich gegen die jungen Revolutionäre, die im vergangenen Jahr Hosni Mubarak stürzten. Der Militärrat könnte aus der Gewalt Profit schlagen
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außenpolitik
2012-02-03T12:56:33+0100
2012-02-03T12:56:33+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/die-schleichende-konterrevolution/48190
Frans Timmermans - Die rechte Hand von Jean-Claude Juncker
Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April 2013). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Frans Timmermans kennt die Bundesrepublik und bewundert das Land wegen seiner politischen Kultur und Wirtschaftskraft. Jüngst hat der Sozialdemokrat und überzeugte Europäer seine Landsleute sogar dazu aufgerufen, mehr und vor allem besser Deutsch zu sprechen. Timmermans selbst spricht sieben Sprachen fließend, Deutsch ist eine davon. Dass ausgerechnet ein bekennender Europäer und Deutschland-Fan zum Außenminister der Niederlande ernannt wurde, mag manch einen überrascht haben, ist doch das Königreich unter dem Einfluss des Populisten Geert Wilders in den vergangenen Jahren immer euroskeptischer geworden. Timmermans verkörpert das genaue Gegenteil. Der 51-Jährige wuchs in Limburg an der Grenze zu Deutschland und Belgien auf. Dort, wo die Den Haager Elite ganz fern zu sein scheint. Noch immer geht der vierfache Vater, soweit es sein neuer Terminkalender zulässt, jedes Wochenende mit seiner Familie in Aachen Kaffee trinken und Kuchen essen. Als junger Beamter im Haager Außenministerium musste Timmermans am 9. November 1989 nicht lange überlegen, was er tun sollte. Gemeinsam mit einigen Freunden fuhr er in seinem alten Toyota Starlet nach Ostberlin, wo sein Vater im Konsulat arbeitete. „Es war und ist das wichtigste Ereignis in meinem Leben als Politiker“, sagt er heute noch. Das Bild der geteilten Stadt mit ihren Checkpoints und den stinkenden Trabis hat sich seinem Gedächtnis eingeprägt. „Die Frauen aus Ostberlin waren alle blondiert, die Männer trugen komische Lederjacken, und alle fragten mich nach Geld für Bier.“ Ein Jahr später, 1990, war der Westler wieder im Osten, bekam eine Stelle an der Botschaft in Moskau. Dort erlebte der Diplomatensohn die Krämpfe und Kämpfe um die untergehende Sowjetunion. Bei Heimweh setzte er sich einfach in seinen Wagen und fuhr quer durch Europa – durch Weißrussland, Polen, die DDR und Westdeutschland – ohne Pause nach Hause. Heute ist es wieder so, dass er mehrere Länder am Tag besucht. Timmermans freut sich sichtbar über seinen „Traumjob“. Pflichtbewusst betont er die Kontinuität, stellt aber gleichzeitig die Weichen der niederländischen Außenpolitik neu. Es ist kein Geheimnis, dass er die traditionell angelsächsische Ausrichtung seines Landes ändern möchte. Während Regierungschef Mark Rutte Sir Winston Churchill und Ronald Reagan bewundert, schlägt Timmermans Herz schneller bei Willy Brandt und Helmut Schmidt. Daher lautet sein Rat: „Die Niederlande sollten sich mehr auf Europa und vor allem auf Deutschland konzentrieren.“ Diese Aussage war gewagt angesichts der schweren Last der deutsch-holländischen Vergangenheit, die zu einem distanzierten Verhältnis zu den Deutschen geführt hatte. Timmermans weiß jedoch, dass dies für die heutige Generation keine so große Bedeutung mehr hat. Sichtbarstes Zeichen dafür: Niederländer sind die größte Touristengruppe zwischen Aachen und Zittau, sie machen inzwischen lieber Urlaub im Sauerland und tanzen in Berliner Klubs als an der Côte d’Azur. Der Blick auf die Bundesrepublik soll nicht nur richtungweisend für die Krisenpolitik in der Eurozone sein, sondern auch für die schwächelnde Wirtschaft der Niederlande. Das Land führt ein Viertel seiner Produkte nach Deutschland aus und ist eines der wohlhabendsten Staaten des Kontinents. Timmermans, der Holland wirtschaftlich als 17. Bundesland betrachtet, bleibt optimistisch. Der Enkel zweier Tagebauarbeiter ist überzeugt, dass die Haager Regierung ihre Probleme mit der Rezession, mit der Integration der Minderheiten und der stärker werdenden gesellschaftlichen Zweiteilung in Zeiten der Globalisierung lösen kann. Insbesondere zwei Bereiche der niederländischen Außenpolitik will Timmermans neu ausrichten. Im Nahostkonflikt steht der Außenminister nicht so bedingungslos an der Seite Israels wie sein Amtsvorgänger. Er versucht verstärkt, einen Ausgleich mit den Palästinensern zu erreichen. Auch will er, dass die Niederlande aufhören, sich in ihrer Außenpolitik hauptsächlich von wirtschaftlichen Erwägungen leiten zu lassen. Menschenrechte und Demokratiebestrebungen müssten wieder einen höheren Stellenwert bekommen. So zeigt sich auch heute, dass sich die internationale Politik der Niederlande, wie seit ihrer Blütezeit im 17. Jahrhundert üblich, zwischen dem Kaufmann und dem Pfarrer abspielt.
Rob Savelberg
Als niederländischer Außenminister schickte sich Frans Timmermans an, die Außenpolitik seines Landes neu auszurichten. Nun ist er Erster Vize-Präsident der EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker. Ein Porträt
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außenpolitik
2013-05-15T11:36:45+0200
2013-05-15T11:36:45+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/niederlands-aussenminister-frans-timmermans-das-17-bundesland/54232
Selbstbild der Deutschen - Die Stress-Lüge
Man halte ein Mikrofon unter eine Nase und frage: Finden Sie, dass Sie genug verdienen? Oder aber: Haben Sie den Eindruck, dass es in Deutschland gerecht zugeht? Die Antworten sind vorhersehbarer und zuverlässiger als der nächste Triebwerkschaden bei der Deutschen Bahn AG. Nein, natürlich nicht. Wer wird schon einem Dritten gegenüber zugeben, dass er eigentlich, gemessen an den Fertigkeiten, fair bezahlt werde, und dass es Länder gebe mit einem echten Gerechtigkeitsproblem? Umfragen sind Nörgelinstrumente. Sie fragen nach Selbsteinschätzungen, nicht nach Fakten. Sie geben Zeitgeist und sanktioniertes Selbstbild wieder, keine Realitäten. Gerade so verhält es sich mit den immer beliebter werdenden Erhebungen zur Stress-Republik Deutschland. Neulich war zu lesen, sieben von zehn Berufstätigen seien „manchmal“ (44 Prozent) oder „häufig“ (26 Prozent) gestresst. Sieben von zehn Berufstätigen können sich mit der Aussage „Ich bin gestresst“ anfreunden. Daraus folgt nun aber nicht zwingend, was gefolgert wurde – dass der Stress am Arbeitsplatz steige und steige und steige; obwohl 67 Prozent auch dem Satz „Ich habe heute mehr Stress als noch vor drei Jahren“ beipflichteten. Daraus folgt lediglich: In Deutschland jammert man gerne über zu viel Stress. Stress ist ein Statussymbol, Stress ist eine gesellschaftlich erwünschte Eigenschaft, Stress muss sein. Nur wer Stress reklamiert, hat Anrecht auf den ach so beliebten Sitz in der Mitte der Gesellschaft. Das komplizierte Verhältnis zwischen Selbstbild und sozialer Erwartung zeigt sich an vielen Stellen. Wer von unbekannter Seite nach einem persönlichen Verhalten, nach persönlichen Vorlieben gefragt wird, antwortet in der Regel passgenau nach dem gängigen Muster, exekutiert die vermutete Mehrheitsmeinung. In Fragebogen für Prominente etwa lautet die normierte Antwort auf die Frage nach der größten Schwäche: Ungeduld. Dahinter verbirgt sich keineswegs Selbstkritik, sondern Selbstlob. Der Ungeduldige gibt zu erkennen, dass er die Maßstäbe dieser spätkapitalistischen Mittelstandsgesellschaft verinnerlicht hat. Das öffentliche Bekenntnis zur Ungeduld ist ein Bekenntnis zum Leistungsprinzip, zum Wettbewerb, zur Pose des Machens und Malochens. Kein Filmstar, kein Spitzenpolitiker, kein Topmanager kann es sich leisten, öffentlich für Geduld zu votieren. Eine solche Confessio würde sofort in Zögern und Zaudern und mangelnde Entschlusskraft, fehlendes Feuer übersetzt. Wer etwas kann und etwas will, der hat ungeduldig zu sein. Dem Geduldigen traut diese Gesellschaft nichts zu. Arbeitnehmer, die ihr Arbeiten als stressfrei bezeichneten, stünden vor der sozialen Ächtung. Der Charismatiker, der Geniale, der Kreative und Spontane hat allerschlechteste Karten. Darum ist selbst im Schutzraum des Anonymen die Zahl der Stressbehaupter von vorneherein größer als die Zahl der Stressverneiner. Stress gehört zum guten Ton in einem Land, das – wenn überhaupt – nur durch den Stolz auf seine Tüchtigkeit zusammengehalten wird. Quantität schlägt hier alleweil Qualität, die Masse den einzelnen. Das wohlige Statement zum Stress ist darum in erster Linie ein patriotisches Zeugnis. Es besagt nichts weiter als: Ja, ich will ein guter Deutscher sein. Ich lasse mich stressen.
Alexander Kissler
Kisslers Konter: Umfragen stellen fest, die Deutschen sind gestresst. Eine Lüge, denn der deutsche Stress ist kein realer Belastungszustand. Sondern ein Statussymbol, das unsere spätkapitalistische Mittelstandsgesellschaft kittet
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kultur
2013-11-12T12:16:09+0100
2013-11-12T12:16:09+0100
https://www.cicero.de//kultur/die-deutsche-stress-luege/56375
Whistleblowing – Gegen pöbelnde Chefs und Leben gefährdende Arbeit
Ich tauge zur Zeit nicht zum schlagzeilengenerierenden Whistleblower. Ich gehe gerne zur Arbeit. Das liegt zum einen daran, dass zu Hause ein zwar bezauberndes aber eben doch naturgemäß anstrengendes Kind auf mich wartet. Zum anderen aber auch, dass die berühmte Arbeitsatmosphäre in unserem Büro ganz großartig ist. Wir leben hier in einer wenn auch prekären so doch meist glücklichen Redaktions-WG. Das geht auch anders. Ich selbst habe es erlebt: Pöbelnde Chefredakteure oder Geschäftsführer, von Überstunden gezeichnete Journalisten, Frühschichten, die ohne die vorgeschriebenen Ruhezeiten auf Spätschichten folgten. Ich hörte von Unternehmen, die einen Großteil ihrer Arbeit von Praktikanten, unterbezahlten Volontären oder Berufseinsteigern in prekären Arbeitsverhältnissen machen lassen. Von Lobby-Firmen in der Politikberatung, die ihre Trainees mit einem Monatsgehalt von 1000 Euro monatliche thematische Medienberichte zusammenstellen ließen, um diese dann an die Kunden weiter zu verkaufen – für 30.000 Euro. Da erfordert es zunächst einmal Courage, die Mängel bei der Arbeit anzuprangern. Denn mit der Angst vor Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen im Rücken gehen die Angestellten nicht leichtfertig mit ihren Chefs ins Gericht. Anders als die Altenpflegerin Brigitte Heinisch, die ihr tägliches Brot mit dem Wickeln, Füttern und Umsorgen von Menschen im Berliner Stadtteil Reinickendorf verdiente, bis sie es eines Tages nicht mehr aushielt, wie der Job sie und andere zermürbte. Sie zeigte ihren Arbeitgeber, das Vivantes-Klinikum an. Das Ergebnis: Frau Heinisch erhielt im Jahr 2005 die fristlose Kündigung. Nachdem sie vor dem deutschen Bundesarbeitsgericht und dem Bundesverfassungsgericht mit ihrer Klage gescheitert war, erhielt sie nun Jahre später Rückendeckung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das allein ist eigentlich schon ein Skandal in einer Gesellschaft, in der monatlich zu mehr Zivilcourage aufgerufen wird, wenn wieder einmal ein alter Mann in der U-Bahn verprügelt wurde. An alle geht dann die lautstarke Forderung einzugreifen, wenn testosterongeladene Prügelknaben auf schwache Mitbürger losgehen. Wenn sich aber eine Altenpflegerin zwischen ihren Arbeitgeber und ihre Schutzbefohlenen stellt, muss sie mit einem Leben als Hartz-IV-Empfängerin rechnen. Das ist abschreckend und dem Whistleblowing nicht gerade zuträglich. Dabei sollte vielleicht den Unternehmen ein mutiger Mahner unter den Arbeitern lieber sein als jener, der die Klappe hält. Der skandalumwitterten News of the World zum Beispiel hätte ein Whistleblower zu früher Stunde möglicherweise gut getan. Frühes Überprüfen und öffentliches Diskutieren der eigenen Arbeitsweise schärfen den Blick. Sie hätten auch dem Murdoch-Clan eine Chance gegeben, ihre Probleme in kleinerem Kreis vorab zu diskutieren und die Etablierung ihrer skrupellosen Abhörmethoden zu verhindern. Damit es so weit kommt, müssen Whistleblower aber auf den Schutz der Öffentlichkeit vertrauen können. Sie müssen auf Kollegen und eine Gesellschaft zählen, die jemanden, der Probleme anprangert nicht als Netzbeschmutzer beschimpft. Dass der Fall von Frau Heinisch für sie so glimpflich ausgegangen ist, liegt auch daran, dass die Verfehlungen in deutschen Pflegeheimen in allen Talkshows und Tatorts bereits hoch und runter thematisiert wurden. Und dass die Folgen derselben auf einen jeden früher oder später zukommen könnten. So entstand ein öffentliches Interesse und ein Verständnis, das Frau Heinischs Sache dienlich war. Abgesehen von der Triumphparade der Gerechtigkeit, die nun zu Ehren der mutigen Altenpflegerin in den Medien auf und ab des Landes veranstaltet wird, ist zu bedenken, dass eines noch viel wichtiger ist als das Whistleblowing: Es gehört sicherlich viel zu der Entscheidung, seinen Arbeitgeber an einen Anwalt oder Journalisten auszuliefern – wenn dies auch zu Recht geschieht. Dabei aber muss der Beschwerdeführer dem Angeklagten nicht ins Gesicht sehen. Und genau das sollte ein jeder wagen, bevor er zur Presse oder vor die Gerichte zieht. Brigitte Heinisch hat diese Courage bewiesen. Nicht erst, als sie das Vivantes-Klinikum anzeigte sondern in dem Moment, als sie anfing, auf die katastrophalen Zustände in ihrem Heim hinzuweisen. Heinisch hatte, lange bevor der Streit eskalierte und für die Öffentlichkeit sichtbar wurde, mit ihren Vorgesetzten gesprochen. Sie hatte versucht, andere mit ins Boot zu holen. Sie kämpfte mit offenem Visier. Vergeblich. Und das ist es auch, was man aus dieser Geschichten lernen muss: Nehmt allen Mut zusammen und – wenn es geht – Kollegen an die Hand, um Euch Gehör zu verschaffen. Redet miteinander, solange ihr Euch noch gegenseitig zuhört.
Eine Altenpflegerin lehrt die Deutschen das Whistleblowing. Das ist gut, denn es erfordert Mut, sich gegen den Chef aufzulehnen. Lernen muss unsere Gesellschaft aber noch etwas anderes.
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innenpolitik
2011-07-24T09:41:25+0200
2011-07-24T09:41:25+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/gegen-poebelnde-chefs-und-leben-gefaehrdende-arbeit/42439
Parteitag der Republikaner - Wer braucht Inhalt, wenn er Trump hat?
Wenn einem in den vergangenen Tage jemand leid tun musste, dann waren das wohl die Faktenchecker. Vier Nächte lang Zahlen, Daten, Aussagen überprüfen und (in sehr vielen Fällen) richtigstellen. Manchmal waren es Kleinigkeiten, manchmal größere Falschaussagen. Es gab genug zu tun. Alles aufzuzählen soll an dieser Stelle gar nicht das Thema sein. Dass der Präsident und die Wahrheit ein eher loses Verhältnis pflegen, ist inzwischen bekannt. Vielmehr wollen wir ein paar Schlüsse aus dem Parteitag der Republikaner ziehen, der am Donnerstag, eine Woche nach dem der Demokraten, mit Donald Trumps Abschlussrede im Garten des Weißen Hauses zu Ende ging. Die erste Lehre, die am Montag zum Auftakt herausstach, war die inhaltliche Leere: Anstatt politische Programmpunkte zu erarbeiten, gab die GOP vor dem Nominierungsparteitag bekannt, dass „die Republikanische Partei wie in der Vergangenheit auch in Zukunft weiterhin begeistert die America-first-Agenda des Präsidenten unterstützt”. Mit anderen Worten: Die Delegierten sparten es sich, darüber nachzudenken, für welche Werte und Prinzipien die Partei im Jahr 2020 einsteht. Von einem Personenkult um Donald Trump war auch deshalb in den Kommentarspalten in dieser Woche viel die Rede; von einem Präsidenten, der den Zerfall der Republikanischen Partei zu verantworten hat. Naturgemäß war vier Tage lang alles auf Trump ausgerichtet, es geht vornehmlich um seine Wiederwahl. Aber auch andersherum hat die Aussage Bestand: Den Zerfall der Republikanischen Partei hat Donald Trump zu verantworten. Von Reagans sonnigem Kalifornien-Konservativismus oder George W. Bushs religiösem Wertekanon ist aktuell nicht mehr viel übrig innerhalb der Partei. Sie hat Trump eine Bühne geboten, und der hat daraus sein eigenes Theater gezimmert. Und das eine Drama, das bis mindestens November darauf aufgeführt wird, geht laut Parteitag so: Amerikas Freiheit steht auf dem Spiel, das Land läuft Gefahr, von Sozialismus und Cancel Culture unterwandert zu werden; Einfühlungsvermögen ist für Schwächlinge, und für den ganzen Rest ist China verantwortlich. Das größte Problem der vier Parteitagsabende war das thematische Durcheinander und die konträre Botschaft der verschiedenen Redner. Mal steckt das Land im Chaos, mal ist es dank Trump auf dem Weg zu neuem, ungeahntem Wohlstand. Mal ist der Zentrist Biden das trojanische Pferd für die sozialistischen Kräfte innerhalb der Partei, mal wird er als inkompetent und unwirksam abgestempelt. So oder so, die angstschürenden Leitmotive machten noch einmal deutlich, dass es nicht Trumps ernsthaftes Ziel ist, seine Stammwählerschaft zu vergrößern. „Niemand wird sicher sein in Bidens Amerika”, sagte Trump in seiner Abschlussrede, was der in einem Interview gleich auffing. Die Gewalt, die das Land in diesem Sommer heimgesucht habe, sagte der Demokratische Präsidentschaftskandidat, finde immerhin in Trumps Amerika statt. Bidens virtueller Parteitag vor einer Woche war relativ reibungslos abgelaufen. Die geladenen Redner hatten ihm nach und nach den Mantel des „netten Joe” umgelegt, der, wie er selbst in seiner Abschlussrede sagte, für alle da sein will. Inhaltlich positionierte die Partei ihn auf dem Parteitag so, dass ehemalige und unentschlossene Republikaner-Wähler sich mit ihm anfreunden könnten. Dort, wo bei ihm die linke Flanke offen scheint, weil sich Bernie-Sanders-Anhänger immer noch enttäuscht über einen Mangel an echter linker Politik zeigen, soll die Vorstellung „noch einmal vier Jahre Trump” die Lücke stopfen. Wobei es um zwei Dinge geht: persuasion und turnout – Überzeugung und Teilnahme. Wenn die Demokraten Donald Trump im November aus dem Weißen Haus jagen wollen, müssen sie Wähler an die Wahlurnen bringen (Teilnahme) und gleichzeitig ehemalige Obama-Wähler zurückgewinnen, die sie 2016 an Trump verloren haben (Überzeugung). Michelle Obama trug das Dilemma, im wahrsten Sinne, vor sich her. Die Halskette, die die ehemalige First Lady vergangene Woche während ihrer Parteitagsrede trug, bestand aus vier einfachen Buchstaben: vote – wählen. Auch ohne maßgebliche Auseinandersetzung mit Programmatik konnte man bei den Republikanern diese Woche zumindest einen Plan erkennen: Der Rahmen der Veranstaltung, die Themen, sowie die ausgewählten Redner (sehr viele Familienmitglieder) waren für sich genommen ein offensichtliches Mobilisierungsbemühen um die Republikanische Wählerschaft. Die alte GOP fehlte, wie erwähnt; dafür gab es auch einen Ausblick auf das, was in vier Jahren kommen könnte. Donald Trump jr., der 2016 im Wahlkampf noch ein überraschendes Gespür für die von seinem Vater so umgarnte Arbeiterseele hatte, ist inzwischen auch analog online: Seine Rede auf dem Parteitag wirkte wie ein etwas zu langer Twitter-Thread mit ein paar eingebauten Gemeinheiten und ausformulierten Memes, um die Liberalen da draußen zu ärgern. Ein Troll, wie er im Buche steht. Für das traditionellere Publikum bot Nikki Haley sich an, die ehemalige Gouverneurin von South Carolina und Botschafterin bei der UN unter Trump. Auch sie verfiel zwischendurch in Trumpismen („das kommunistische China hat uns das Coronavirus eingebockt”), legte den Fokus ansonsten größtenteils auf ein anderes Gesicht der Partei: weltoffener, positiver und der Zukunft zugewandter. „Amerika ist eine Geschichte des ständigen Fortschritts. Jetzt ist es an der Zeit, auf diesen Fortschritt aufzubauen und Amerika noch freier, fairer und besser für jeden Bürger zu machen”, sagte sie. Später fügte sie hinzu: „Ich bin die stolze Tochter von indischen Einwanderern.” Ob sich dieser Ton oder der grelle eines Trump jr. durchsetzt, wird am Ende davon abhängen, ob Donald Trump im November noch einmal gewinnt oder wie hoch er gegen Biden verliert. Am letzten Abend des Parteitags hatte man jedenfalls den Eindruck bekommen können, dass es gut läuft. Präsident Trump hielt seine Rede auf der Südseite des Weißen Hauses, im Freien vor etwa 1500 Gästen, die dicht beieinander auf der Rasenfläche vor der Bühne Platz genommen hatten. „Wir werden einen sicheren und effektiven Impfstoff in diesem Jahr haben”, sagte Trump. „Zusammen werden wir das Virus zermalmen.” Wenn man die Menschen dort sitzen sah, größtenteils ohne Maske, konnte man beinah denken, das Virus sei unter Kontrolle. Dabei starben zwischen Montag und Donnerstagnachmittag mehr als 3600 Amerikaner an Folgen von Covid-19. Das sind mehr Opfer, als der 11. September 2001 gefordert hat. Wahrscheinlich kommt es auf den Blickwinkel an. Wer denkt, dass in einem riesigen Land wie Amerika eine solche Zahl kaum zu Buche schlägt oder die Zahl anzweifelt, wird sich an den Bildern vom Weißen Haus erfreut haben – ein Präsident, der sich nicht einschüchtern lässt. Wer hingegen glaubt, dass das Virus immer noch unkontrolliert durch das Land wütet, wird sich bei den Szene rund um die Abschlussrede bestätigt gefühlt haben, dass Trump bislang unverantwortlich mit dieser Pandemie umgegangen ist. Diese zwei Perspektiven sind sinnbildlich für die alternativen Realitäten, in denen Amerika zurzeit lebt. Eine von beiden dürfte den Ausgang der Wahl entscheiden.
Daniel C. Schmidt
Die Republikaner verzichten offenbar darauf, darüber nachzudenken, für welche Werte und Prinzipien die Partei im Jahr 2020 einsteht. Die Grand Old Party hat Trump eine Bühne geboten, und der hat daraus sein eigenes Theater gezimmert, wie der Parteitag gezeigt hat.
[ "USA", "Präsidentschaftswahl", "Donald Trump", "Republikaner" ]
außenpolitik
2020-08-28T12:45:58+0200
2020-08-28T12:45:58+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/us-praesidentschaftswahlen-republikaner-parteitag-donald-trump/plus
Kindergrundsicherung - Lisa Paus’ Füllhorn
Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat eine Einschätzung abgegeben, wie hoch die geplante Kindergrundsicherung für armutsgefährdete Kinder ausfallen könnte. Es könnten sich 2025 Leistungen von 530 Euro für die Kleinsten bis 636 Euro für die ältesten Kinder ergeben, sagte die Grünen-Politikerin dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Berücksichtigt sei dabei die angekündigte Regelsatzerhöhung beim Bürgergeld um etwa zwölf Prozent für 2024 und eine angenommene weitere „moderate“ Erhöhung um drei Prozent im Folgejahr. „Das ist ein guter Betrag, um Kindern ein Stück weit mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit zu verschaffen“, sagte Paus. Bei den Beträgen handelt es sich demnach um die Summe aus dem zukünftigen Kindergarantiebetrag und dem Kinderzusatzbetrag. Die Ampel-Koalition will in der Kindergrundsicherung bisherige Leistungen wie das Kindergeld, Leistungen aus dem Bürgergeld für Kinder und den Kinderzuschlag bündeln. Durch mehr Übersichtlichkeit und mithilfe einer zentralen Plattform sollen auch viele Familien erreicht werden, die bisher wegen Unkenntnis oder bürokratischer Hürden ihnen zustehendes Geld nicht abrufen. Ab 2025 soll es für alle Kinder einen sogenannten Garantiebetrag geben. Dieser löst das heutige Kindergeld (250 Euro pro Monat) ab. Obendrauf kommt je nach Bedürftigkeit ein Zusatzbetrag, gestaffelt nach Alter des Kindes und nach Einkommenssituation der Eltern. Je weniger sie verdienen, desto höher soll er ausfallen. Der bisherige Bürgergeld-Anteil für Kinder soll darin aufgehen. Beim Bürgergeld, dem Nachfolger von Hartz IV, fließen aktuell für Kinder unter sechs Jahren 318 Euro im Monat. Dieser Betrag steigt mit dem Alter, für 14- bis 17-Jährige gibt es 420 Euro. Sozialminister Hubertus Heil (SPD) hatte am Dienstag angekündigt, dass die Sätze 2024 auf 357 Euro für Unter-Sechsjährige und 471 Euro für 14- bis 17-Jährige steigen sollen. Mehr zum Thema: Die Einführung einer Kindergrundsicherung hatte die Ampel schon in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Zwischen Grünen und FDP entwickelte sich allerdings ein Dauerstreit darüber, ob Leistungen erhöht werden sollen oder nicht und wie viel Geld der Staat nun dafür ausgeben soll. Erst in der Nacht zum Montag gab es eine Einigung. Im Jahr ihrer Einführung 2025 werden von der Ampel nun zunächst rund 2,4 Milliarden Euro Mehrkosten veranschlagt. Aus Regierungskreisen hatte es zudem geheißen, dass bei steigender Inanspruchnahme der Leistungen der Kindergrundsicherung die Kosten in den Folgejahren auch auf bis zu sechs Milliarden Euro ansteigen könnten. Dies hob nun auch Paus hervor, die ursprünglich zwölf Milliarden Euro pro Jahr für das Vorhaben gefordert hatte und sich damit nicht durchsetzen konnte. „Wenn wir unser erklärtes Ziel erreichen, in den kommenden Jahren so viele Familien wie möglich zu erreichen, wird die Kindergrundsicherung sechs Milliarden Euro und mehr kosten“, sagte die Ministerin dem RND. „Wenn wir dann noch die weiteren Kosten für die bereits erfolgten Kindergelderhöhungen, den höheren Kinderzuschlag und zukünftige Kindergelderhöhungen dazu nehmen, sind wir schon bei deutlich über zehn Milliarden Euro“, argumentierte sie. Unionsfraktionschef Friedrich Merz kritisierte die Koalitionspläne. „Bei der Kindergrundsicherung wird der bürokratische Aufwand so hoch sein, dass am Ende des Tages bei den Kindern kaum etwas ankommt“, sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Das Land ersticke in Bürokratie. Das zeige auch „die angebliche Einigung der Ampel zur Kindergrundsicherung: 2,4 Milliarden sollen ausgegeben werden – 500 Millionen davon für zusätzlichen Verwaltungsaufwand“, so Merz. „Das zeigt den ganzen Irrsinn!“ Er betonte zudem, nicht mehr Transferleistungen für die Eltern, sondern mehr Bildung für die Kinder sei der richtige Weg. „Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung für Bildung und Integration für Kinder.“ Quelle: dpa
Cicero-Redaktion
Ab 2025 soll die neue Kindergrundsicherung greifen. Familienministerin Lisa Paus nennt nun Zahlen, wie viel Geld für armutsgefährdete Kinder fließen könnte: Sehr viel mehr, als von Finanzminister Lindner vorgesehen.
[ "Lisa Paus", "Kinder", "Sozialpolitik", "Ampelkoalition", "SPD" ]
innenpolitik
2023-08-31T12:24:57+0200
2023-08-31T12:24:57+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/kindergrundsicherung-lisa-paus-fullhorn
Unis nach Guttenberg – Lektion verpennt, setzen, sechs
Früh übt sich, wer ein Plagiator werden will. Wissensnot bei der Erdkundearbeit, siebte Klasse: Ein dezenter Blick auf das Papier des Nachbarn zur Rechten. Zwei Wochen später der Triumph: Der Lehrer hat nichts bemerkt, die Note ist gut, Risiko und Nervenkitzel haben sich ausgezahlt. Das einmal erfolgreiche Prinzip bietet sich zur Wiederholung an. Spätestens mit dem Schulabschluss sollte der richtige Umgang mit geistigem Eigentum in Fleisch und Blut übergegangen sein. Doch an deutschen Universitäten ist das Thema Betrug in der Wissenschaft nach wie vor aktuell. Ein Jahr ist es her, dass der damalige Verteidigungsminister und hochgehandelte Hoffnungskandidat der Politik Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) über seine Dissertation gestolpert ist. Internetaktivisten hatten ihm massenhaft Plagiate nachgewiesen. Ein Aufschrei ging durch die Republik, die Ehre der Wissenschaft stand auf dem Spiel. Nach zu Guttenberg verloren auch Silvana Koch-Mehrin und Jorgo Chatzimarkakis wegen massenhafter Übernahme des geistigen Eigentums anderer nicht nur ihren Doktortitel, sondern auch politische Positionen. Cicero Online hat bei 14 großen deutschen Universitäten nach dem Guttenberg-Effekt gefragt. Von acht dieser Universitäten kommen einhellige Antworten: Es seien Untersuchungskommissionen und Arbeitsgruppen einberufen, Leitlinien entwickelt, Vorschläge eingereicht, Verbesserungen diskutiert, Standards erhöht, neue Programme und Promotionsordnungen verabschiedet worden, so zusammengefasst die Reaktionen aus Freiburg, Göttingen, Berlin, Kiel und Bayreuth. Es gehe um die „Verpflichtung zur Redlichkeit“ (Freiburg), die „Grundsätze guter wissenschaftlicher Arbeit“ (HU Berlin) und die „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“ (Bayreuth und München) und die „Ethik der Wissenschaft“ (Heidelberg). Viele gewichtige Worte, doch welche Taten stehen dahinter? [gallery:Karl-Theodor zu Guttenberg – Aufstieg und Fall eines Überfliegers] Informatikprofessorin und Plagiatsexpertin Dr. Debora Weber-Wulff von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin ist damit unzufrieden und besteht weiterhin darauf: „Es ist dringend notwendig, dass die Universitäten handeln. Punktuell tun sich kleine Schritte auf, aber das Problem brennt außer Kontrolle.“ Außer den Plagiatsjägern im Internet auf Seiten wie Vroniplag hat niemand wirklich gehandelt. An den Universitäten in Deutschland scheinen die Segel mittlerweile geglättet. Längst hat die Republik ihre Aufmerksamkeit anderen Skandalen gewidmet. Für Weber-Wulff ist es auf jeden Fall zu wenig: „Es muss durch das Curriculum klar gemacht werden, was gute wissenschaftliche Praxis ist. Es darf nicht akzeptabel sein, irgendeine Form der Täuschung zu begehen. Daten dürfen nicht gefälscht werden, es dürfen keine Ghostwriter-Werke akzeptiert werden.“ Darüber hinaus hält es die Plagiatsexpertin für wichtig, Abschlussarbeiten und Promotionen als Open–Access-Dokumente im Internet verfügbar zu machen, um Vergleiche zu ermöglichen. Untersuchungen sollten stichprobenartig von einer unabhängigen Stelle durchgeführt werden, so Weber-Wulff. Sogar im Bundestag habe sie gefordert, eine Bundesberatungsstelle für Plagiate einzurichten – bisher ohne Erfolg. Auch nach weiteren Plagiatsfällen seit der Affäre um Karl-Theodor zu Guttenberg hat sich Cicero Online bei den Universitäten erkundigt. Erstaunlicher Weise scheint es kaum weitere Fälle zu geben. So berichten die Universitäten Freiburg, Göttingen, Frankfurt am Main, Kiel, Bayreuth, Heidelberg, Berlin (HU und FU) und München neben den medienwirksam bereits bekannt gewordenen Fällen nur von drei weiteren Verdachtsfällen. Ein Bild der Realität kann das nicht sein, urteilt auch Expertin Weber-Wulff: „Es ist ein Wunschdenken, dass VroniPlag zufällig alle Plagiate gefunden haben sollte. Im Gegenteil - je genauer man schaut, um so klarer wird es, dass sich eine sehr laxe Zitierungskultur eingeschlichen hat. Es sind auch nicht nur die Studenten, die ihre Hausarbeiten von Wikipedia übernehmen. Es gibt auch sehr viele Fälle, wo Professoren Texte als eigene veröffentlichen, die sie nicht selber verfasst haben.“ Jeder fünfte Student plagiiert... Die Zahlen, die Frau Weber-Wulff zitiert, erklären ihr Engagement: Laut der Studien von Donald L. McCabe von der Rutgers Universität sehen mehr als ein Drittel der Studenten im ersten Semester kein Problem darin, Texte aus dem Internet zu übernehmen. Plagiatsforscher Sebastian Sattler von der Universität Bielefeld konkretisiert: „Man kann davon ausgesehen, dass etwa jeder fünfte Studierende plagiiert oder plagiiert hat.“ Doch warum bleibt so Vieles davon unentdeckt? Scheint das aufmerksame und kritische Lesen einer Dissertation durch den Doktorvater bei fünf bis sechs Promovenden noch möglich, ist die Überprüfung von 50 Hausarbeiten pro Seminar in niedrigeren Semestern unrealistisch. Doch an den überfüllten Seminaren tragen die Universitäten Mitschuld, hält Weber-Wulff fest: „Solche großen Klassen dürfen überhaupt nicht mehr zugelassen werden! Wie will man kritisch diskutieren lernen in so einer großen Gruppe? Dieser Politik von ‚einer geht noch rein‘ und dann sitzen 200 Leute in einer Veranstaltung, das ist nicht okay!“ Im Ausland herrschen andere Sitten, dort werden Studentenmassen durch Technik kontrolliert: Hans-Lorenz Reiff-Schoenfeld von iParadigms Europe berichtet vom hauseigenen Marktführer in Sachen Plagiatssoftware „turnitin“, der an 97 Prozent der Universitäten in Großbritannien zum Einsatz komme. Dort, so Reiff-Schoenfeld, werde allerdings auch mehr auf Prävention gesetzt und bereits in der Schule, bzw. dem College mit den Lernenden richtiges Zitieren und sauberes wissenschaftliches Arbeiten geübt. An deutschen Universitäten wird der flächendeckende Einsatz von Plagiatssoftware weiterhin durchweg abgelehnt. Zu gravierend sei der Eindruck, alle Studenten würden damit unter einen Generalverdacht gestellt. Harald Scholl, Pressesprecher der von zu Guttenberg in Verruf geratenen Universität Bayreuth, meint trotz der Erfahrung des vergangenen Jahres: „Wir wollen keine Überwachung aller Studenten, denn das ist auch eine Frage von Vertrauen und Freiheit in der Wissenschaft.“ Die genannten Statistiken lassen Zweifeln, ob die Studenten dieses Vertrauen verdienen. [gallery:Karl-Theodor zu Guttenberg – Aufstieg und Fall eines Überfliegers] Häufig wird deshalb nur in Verdachtsmomenten auf Plagiatssoftware zurückgegriffen, manchmal passiert dies auch ausschließlich auf Eigeninitiative einzelner Professoren oder Fachbereiche. Dennoch rechnet iParadigms Europe mit einem verdreifachten Umsatz von „turnitin“ im Jahr 2012. Und auch der Konkurrent Docoloc verzeichnet ein gestiegenes Interesse an Plagiatssoftware. Neben dem Hinzugewinn neuer Kunden lasse sich das vor allem an der stärkeren Nutzung des Programms durch bereits bestehende Kunden erkennen, so Geschäftsführer Jens Brandt. Doch Experten sind sich einig, dass Plagiatssoftware kein Allheilmittel ist. Noch funktioniert sie zu unzuverlässig, so erkennt sie beispielsweise Übersetzungen fremder Texte meistens nicht, außerdem sind bisher zu wenig Bücher und Zeitschriften zum Abgleich digitalisiert. Als Abschreckung taugt sie folglich nicht. Für zu viele Studenten an deutschen Universitäten bleibt Eigenverantwortlichkeit deshalb auch weiterhin ein Fremdwort. So erzählt auch Frau Weber-Wulff: „Ich ging am Sonntag durch die Straße einer Universitätsstadt in Schweden, dort unterhielten sich drei Leute auf Deutsch. Sie glaubten, keiner verstehe sie. Einer suchte einen Ghostwriter für eine Arbeit und sie haben darüber diskutiert, wie man zu so jemandem kommt. Ich war erschüttert, bevor ich Worte fassen konnte, waren sie abgebogen.“ Der Schreck über die Realität einer falschen Doktorarbeit eines Bundesministers scheint nicht tief genug zu sitzen: Weil wirkliche Maßnahmen lästig und aufwendig sind, drücken sich die Verantwortlichen darum. Dabei ist der plagiierende Umgang mit dem Gedankengut anderer ein Problem, dem sich nicht nur Universitäten, sondern auch Politiker und Schullehrer verstärkt widmen sollten. Dazu gehört es, in jeder Hinsicht in Wissenschaft zu investieren, denn, wie Weber-Wulff zusammenfasst: „Wer zum Nulltarif Bildung haben will, bekommt Plagiate serviert.“
Zwölf Monate ist es her, da wurde durch Plagiate aus dem Doktor wieder ein einfacher Freiherr zu Guttenberg. Wie steht es heute um das Plagiat in Deutschland? Experten sind mit der Entwicklung unzufrieden und fordern Hilfe aus dem Bundestag
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kultur
2012-02-22T16:35:28+0100
2012-02-22T16:35:28+0100
https://www.cicero.de//kultur/lektion-verpennt-setzen-sechs/48410
Grünen-Sportpolitiker Mutlu: - „Ich würde Sepp Blatter definitiv die Rote Karte zeigen“
Der Grünen-Sportpolitiker Özcan Mutlu hat sich der Cicero-Kritik an der Fifa angeschlossen. „Ich würde Sepp Blatter und Michel Platini zum jetzigen Zeitpunkt definitiv die Rote Karte zeigen“, sagte er dem Magazin für politische Kultur. Die Präsidenten von Fifa und Uefa hätten das angesichts der Vorfälle der vergangenen Jahre „längst verdient“. Der Fraktionssprecher für Bildung und Sport prangerte „Korruption, Intransparenz, Gigantomanie“ sowie „seltsame Finanzgebaren“ bei der Fifa an. Man müsse sich fragen: „Wohin steuert das? Geht es überhaupt noch um Sport oder nur noch um Geld und Macht?“ Mutlu forderte die Fifa auf, den Ermittlungsbericht der Ethikkommission zu den Korruptionsvorwürfen zu veröffentlichen. „Da kommen sie nicht drum herum.“ In der Oktober-Ausgabe des Magazins Cicero schildert der Fifa-Kenner Jens Weinreich das korrupte Gebaren des Weltfußballverbands, insbesondere bei der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften an Russland und Katar. Elf Prominente aus Sport und Kultur kritisieren die Austragung dieser Spiele. Hinsichtlich der WM 2018 und 2022 regte Mutlu eine zügige Entscheidung an, „sei es Neuvergabe oder die Verlegung“. Mit Blick auf den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland sagte er: „Was machen wir denn, wenn in ein, zwei Jahren die politische Situation dermaßen eskaliert ist, dass wir es mit einem ausgewachsenen Krieg zu tun haben? Feiern wir dann hier ein Fußballfest? Das geht nicht. Deshalb müssen wir das jetzt artikulieren.“ Ein Boykott der beiden Turniere lehnte Mutlu allerdings ab, da dieser Zuschauern und Sportlern schade. Bei der Korruptionsbekämpfung sieht der Grünen-Politiker jetzt den DFB in der Pflicht: „Diese Reform muss von innen angestoßen werden. Wir Politiker können Druck machen, aber Veränderung muss in erster Linie gewollt sein, sonst klappt das nicht.“ Aber auch Zuschauer und Sponsoren müssten signalisieren, dass sie den Missbrauch des Sports ablehnten. „Wenn all diese Ebenen deutlich sagen: So geht es nicht, wird sich früher oder später auch ein Herr Blatter bewegen müssen.“ Als Vorbild nannte er die Reformbemühungen des Internationalen Olympischen Komitees: Die Agenda 2020 sei ein kleiner erster Schritt in die richtige Richtung. Bei der Fifa glaubt Mutlu allerdings nicht an einen kurzfristigen Erfolg: „Das sind jetzt viele dicke Bretter, durch die wir bohren müssen.“ Sepp Blatter, der seit 1998 Fifa-Chef ist, hatte am Freitag seine Kandidatur für eine fünfte Amtsperiode verkündet. Die Wahlen sind Ende Mai. Cicero sammelt weitere Stimmen gegen die Fifa und die WM in Russland und Katar. Wenn Sie sich den Kritikern anschließen möchten, schreiben Sie uns unter [email protected]. Die Redaktion behält sich eine Veröffentlichung vor. Die Zitate wurden aufgezeichnet von Sarah Maria Deckert. Die Stellungnahmen der Cicero-Elf und die Geschichte hinter dem Fifa-Korruptionsskandal lesen Sie in der Oktober-Ausgabe des Cicero. Die digitale Ausgabe des Magazins für politische Kultur erhalten Sie ab sofort bei iTunes (iPad-App) oder im Online-Kiosk. Das gedruckte Heft erhalten Sie am Kiosk.
Cicero-Redaktion
Korruption, Intransparenz, Gigantomanie: Der Grünen-Sportpolitiker Özcan Mutlu findet scharfe Worte gegen den Weltfußballverband Fifa. Er fordert den DFB zu Reformen auf und regt an, die WM in Russland und Katar neu zu vergeben
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innenpolitik
2014-09-29T16:00:59+0200
2014-09-29T16:00:59+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/gruenen-sportpolitiker-mutlu-ich-wuerde-sepp-blatter-definitiv-die-rote-karte
Arabischer Frühling 2012 – Keine Panik, die Bärtigen kommen
Der weltweite Jubel war groß, als sein Tod verkündet wurde. Zehn Jahre lang war Osama bin Laden des Westens schlimmster Alptraum. Nicht ein amerikanisches Einsatzkommando hat ihn jedoch getötet, er starb schon im Januar von Händen der Freiheitskämpfer des Arabischen Frühlings. Sein Gerede vom Kampf gegen Ungläubige und den Westen wurde irgendwo zwischen Sidi Bouzid und dem Tahrir-Platz irrelevant. Bin Ladens Beerdigung findet 2012 statt. Dann nämlich, wenn in Tunis, Tripoli und Kairo islamistische Parteien Regierungsverantwortung übernehmen und endlich diskutieren müssen, was Islamismus in modernen, globalisierten Staaten bedeutet. Vieles spricht zugleich dafür, dass der Westen 2012 sein Bild vom bärtigen, gewaltbereiten Islamisten überdenken muss. Denn Koran und Kopftuch füllen keine Mägen, es geht den Menschen um Brot und Butter. Für Jihad-Rhetorik bleibt da wenig Platz, es macht sich schlecht im Gespräch mit westlichen Investoren und in Urlaubsprospekten. Im Jemen, dem unterentwickeltsten Land der Region, hat zum Beispiel eine Frau den Friedensnobelpreis erhalten und dafür auch im eigenen Land viel Beifall erhalten. Tawakkul Karman ist das Gesicht der jemenitischen Protestbewegung, Frauenrechtlerin und eine Führungspersönlichkeit der jemenitischen Oppositionspartei Islah. In den vergangenen Jahren haben sie und ihre Mitstreiterinnen in der Islah-Partei, zu der auch die Muslimbruderschaft gehört, erkämpft, dass es für jedes Parteigremium ein weibliches Pendant gibt. Ihre Verhaftung am 22. Januar 2011 durch Präsident Ali Abdullah Salihs Regime war der Auslöser der Protestbewegung. Für Menschen wie Karman sind Demokratie und Islam keine Widersprüche. Ihre Entscheidung, den Niqab, einen Schleier, der nur die Augen freilässt, gegen ein einfaches Kopftuch zu tauschen, löste im Jemen heftige Kontroversen aus. Vor allem konservative Strömungen wie die Salafisten bekämpfen sie ganz offen. Unter Salih und seinen autoritären Kollegen in der Region wurden solche gesellschaftlichen Diskussionen nicht geduldet. Die Unterdrückung ließ nur den Weg in die Sektiererei und Radikalisierung offen. Die in den letzten Monaten gewonnene Freiheit hingegen hat eine nie gekannte Pluralität geboren. Tawakkul Karman ist Teil dieser neuen Pluralität. Die ägyptische Muslimbruderschaft macht gerade ähnliche Erfahrungen. Ihr radikalster Prediger, Sayyid Qutb, schrieb 1964 sein bekanntestes Pamphlet in den Foltergefängnissen Gamal Abdel Nassers. Auch unter Nassers Nachfolgern war strikte Parteidisziplin überlebenswichtig. Im Jahre 2011 hingegen ist in der Partei ein lautstarker Streit entbrannt. Junge und alte, moderate und radikale Muslimbrüder streiten darüber, was Islamismus heute bedeutet. Die junge Generation, aufgewachsen mit Twitter und Facebook, pocht auf Entkrustung. Die Organisation modernisiert sich, sucht nach Kompromissen. Bei den laufenden Wahlen in Ägypten wird die Partei der Muslimbruderschaft voraussichtlich 40 Prozent erreichen. Die salafistische Nour-Partei wird auf ein Viertel der Stimmen kommen. Die Salafisten eifern in ihren religiösen und gesellschaftlichen Vorstellungen Saudi-Arabien nach. Die Muslimbrüder lehnen diese strikte Auslegung des Korans ab. Insgesamt haben die Wahlen gezeigt, dass die Menschen wollen, dass der Islam in ihrem Leben eine Rolle spielt. Vollverschleierung und Fahrverbot für Frauen sind in den Ländern des Arabischen Frühlings jedoch schwer vorstellbar. Seite 2: Die Revolutionen haben die Armut in vielen Regionen noch verschärft. Solche ideologischen Diskussionen dürften in den kommenden Monaten jedoch insgesamt zweitrangig sein. Die Revolutionen haben die Armut vieler Menschen in der Region noch verschärft. In Ägypten und Tunesien bleiben die Touristen aus, ausländische Investoren in Libyen haben während der Kämpfe ihre Gelder abgezogen. Die Muslimbrüder haben darauf schon reagiert. Fast ein Zehntel der ägyptischen Bevölkerung hängt vom Fremdenverkehr ab. Als die Islamisten dies öffentlich kritisierten, gingen rund 1.000 Arbeiter der Tourismusbranche in Kairo auf die Straße. Bruderschaftschef Mohamed Badi ruderte daraufhin zurück – und besuchte demonstrativ das antike Luxor. Rashid Ghannouchi, der Chef der islamistischen Nahda-Partei, die in Tunesien 40 Prozent der Sitze im Parlament errungen hat, denkt ähnlich. In Teilen des Landes hängt jeder zweite Job von ausländischen Touristen ab. Die Revolution hat jedoch viele Urlauber abgeschreckt. Die liberalen, frankophonen Bevölkerungsschichten haben ebenfalls Angst vor einer Islamisierung. Ghanouchi weiß um diese Ängste. Er weiß auch, dass er das Land beruhigen muss, will er die Touristen zurück an die tunesische Mittelmeerküste bringen. Trotz des Wahlerfolgs hat die Nahda-Partei deshalb nur den Posten des Premierministers für sich beansprucht. Präsident ist der säkular-liberale Menschenrechtler Moncef Marzouki. Auch der neue Parlamentssprecher Mustapha Ben Jafar entspringt einer links-liberalen Partei. Rashid Ghanouchi selbst hat auf einen Posten verzichtet, hält im Hintergrund jedoch die Fäden. Als inhaltliches Vorbild nennt er immer wieder die türkische Regierungspartei AKP und ihren Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Dieser ist in der Region ungemein beliebt. Doch nicht auf Grund seiner Islamisierungstendenzen, sondern weil er die Türkei mit Wachstumsraten um die zehn Prozent zu einer der am stärksten boomenden Volkswirtschaften der Welt gemacht hat. Erdogan hat keine weiße Weste, wenn es um Menschenrechte geht – und auch die verschiedenen islamistischen Strömungen in der Region haben eine Vergangenheit. In Ägypten fürchten sich Kopten und andere Minderheiten zu Recht vor zunehmender Diskriminierung. Tunesische Frauenrechtlerinnen sehen ihre Freiheit in Gefahr. Doch zum ersten Mal nach Jahrzehnten der Unterdrückung haben alle Bevölkerungsgruppen in den Ländern der Region die Möglichkeit mitzubestimmen, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. Im demokratischen Für und Wider bleibt da für Extrempositionen wenig Raum.
CICERO ONLINE schaut in einer Reihe auf die wichtigsten Themen 2012. Heute: Die Islamisten übernehmen den Nahen Osten. Ob in Ägypten, Libyen, Tunesien oder im Jemen, überall werden 2012 islamistische Parteien die höchsten Staatsämter besetzen. Das ist kein Grund zur Panik, im Gegenteil, das ist längst überfällig. Aus Kairo berichtet Raphael Thelen
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außenpolitik
2012-01-02T12:56:41+0100
2012-01-02T12:56:41+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/keine-panik-die-baertigen-kommen/47792
Kapitalismuskritik - Jakob Augsteins Flirt mit der Gewalt
Ist Jakob Augstein Politnostalgiker? Sein soeben erschienenes Buch „Sabotage – Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen“ könnte man so lesen. Die Augsteinsche Kapitalismuskritik ist nämlich überhaupt keine, sondern lediglich ein Update der Diskussion des Gewaltbegriffs, dieser an RAF, Brockdorf, Startbahn West und zuletzt Stuttgart 21 ausgeleierten Diskussion auf Marcuses Spuren um Gegengewalt und Widerstand. Um Gewalt gegen Menschen, gegen Unterdrücker, gegen Sachen. Um Sabotage. Das Buch „Sabotage“ versucht im Schatten der Finanzkrise noch einmal eine moralische Legitimation des elend überstrapazierten Slogans „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“. Augstein braucht 250 Seiten seines 300-seitigen Werkes, um mit sich, uns und irgendeinem eignen Standpunkt zu ringen, ob nun Gewalt gegen Ungerechtigkeit, gegen Ungerechte legitim sei, überhaupt legitim sein könnte oder eben doch nicht sein darf, was nicht gesetzeskonform ist. Also heißt Augsteins Losung „Nur die Knarre löst die Starre“? Ja und Nein. Denn er befindet, dass man sich „auf die Politik als treibende Kraft einer zivilgesellschaftlichen Rückeroberung“ nicht mehr verlassen sollte. „Wir müssen unsere Sache selber in die Hand nehmen. (…) Wir müssen den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit finden. Aber ohne Mut zur Radikalität wird das schwer.“ Die „Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft gegen die Partikularinteressen der Habenden“ gibt es für Augstein nicht zum gewaltfreien Nulltarif. „Kants ‚sapere aude‘“ schreibt er, „setzt Mut voraus. Und zwar den Mut, nicht nur zu denken, sondern zu handeln.“ Der Marsch durch die Institutionen war also aus Augsteins Sicht erfolglos. [gallery:20 Gründe, warum sich Reichtum lohnt] Halten wir zunächst fest: Wenn der Staat die demokratisch legitimierte und durch die Verfassung abgesicherte Definitionsmacht über Recht und Gesetz innehat und ausübt, dann bewegt sich jeder Widerstand dagegen außerhalb dieser gesetzlichen Ordnung, ist ungesetzlich. So simpel ist das und bleibt das. Nun hat aber die Erfahrung aus dem Nationalsozialismus ein Widerstandsrecht in die Verfassung geschrieben, das diese schützen soll, wenn der Staat sich anschickt, durch politische Entscheidungen die gegebene Verfassungsordnung außer Kraft zu setzen: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Ein Zitat übrigens, das in abgewandelter Form drei Jahrzehnte lang fast so häufig an den Pinnwänden linker Wohngemeinschaftsküchen zu finden war wie diese Indianerhäuptlingsweisheit, die besagt, dass wir die Erde nur von unseren Kindern geborgt hätten. Nach drei solchen Kindern, einem erfolgreich abgewehrten Antisemitismus-Vorwurf und einem Indianerbuch übers Gärtnern scheint es für Augstein nun an der Zeit gewesen, sein großes Ding zu schreiben oder aus Kolumnen zusammenzustellen und klar zustellen: Ich, Jakob Augstein, bin kein zaudernder Liberaler, kein zweifelnder Linker mehr, sondern ein harter Junge. Ein Kämpfer für das Gute, für Gerechtigkeit, für Freiheit. Augstein will nachweisen, dass Widerstand dort zur Pflicht wird, wo der deutsche Staat auf dem Weg ist, die Verfassungsordnung außer Kraft zu setzen. Er sieht die Republik in Gefahr: „In der Finanzkrise haben wir, auch in Deutschland, den moralischen Meltdown des Systems erlebt. (…) Darum ist es an der Zeit, wieder zu kämpfen: für Gerechtigkeit, Gesetz, Gleichheit, Demokratie, Freiheit. Der Finanzkapitalismus hat uns diese Begriffe geraubt. Jetzt gilt es, sie zurückzuerobern. Bei der Bundestagswahl die Stimme abzugeben und danach zu schweigen – das ist zu wenig.“ Überschrieben sind Augsteins Kapitel alliterativ mit „Regime“, „Reflex“ und „Reaktion“. Als „Zwischenspiel“ hat er sich Oskar Negt und Wolfgang Kraushaar als Kronzeugen für seinen Aufruf zum Widerstand ausgesucht. Und da er nun aber Zeile für Zeile mehr über die Tollkühnheit seines Vorhabens erschrocken scheint, wird seine Beweisführung hin zum ersten Pistolenschuss beziehungsweise Farbbeutelabwurf – eine ziemlich seltsame Anleitung zur Herstellung solcher Wurfgeschosse ist dem Text vorangestellt – immer zäher. Ein Ringen um Worte. Verweigerte Klarheit. Und ersatzweise ein großes Abschweifen in die Niederungen gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse in Deutschland. Der Mann hat ja ein respektables Anliegen, aber er ist leider ein denkbar schlechter Dramaturg. Eliten sind bei Augstein wieder die „herrschende Klasse“. Er sieht in Deutschland einen Ständestaat herangewachsen, in dem Ungleichheit nicht mehr auf dem Prinzip Leistung beruht, welches er für tolerabel hält. Leistung sei heute als starkes Prinzip der Gerechtigkeit entwertet. Ja, Werte, deutsche Werte – der Mann hätte wahrscheinlich nach seinem Gartenbuch viel lieber mit Thea Dorn an „Deutsche Seele“ geschrieben – spielen bei ihm eine wichtige Rolle, wenn er feststellt: „Fleiß, Eigeninitiative, Ehrgeiz – das genügt alles nicht, das garantiert alles gar nichts, das bedeutet im Zweifelsfall alles nichts. Leistung und Fairness sind nicht mehr die prägenden Prinzipien unseres Systems.“ Augstein ist ein Kind der alten Bundesrepublik. Mitten hineingeboren in ein kapitalistisches Wirtschaftswunderland mit sozialer Marktwirtschaft, in das die US-amerikanische Kultur der 1970er Jahre tief eingesickert ist. Die großen politischen US-Liedermacher, die Dylan und Baez mit ihren simplifiziert-sozialkritischen, bisweilen apokalyptischen Texten und diesem unwiderstehlichen Hang zum Sozial-Pathos, sind Augsteins Souffleure. Nostalgie pur herrscht immer dann, wenn der gebürtige Hamburger den ominösen Rheinischen Kapitalismus samt sozialer Marktwirtschaft und starken Gewerkschaften wie den Garten Eden beschreibt. Die große Geste, die Internationale – spielt alles keine Rolle. Bei Augstein werden der deutsche Mensch und seine Leiden am Neoliberalismus, an der „herrschenden Klasse“, lediglich zwischen Flensburg und Konstanz verhandelt. [gallery:20 Gründe, warum sich Reichtum lohnt] Zum Ende hin fragt man sich, wo denn dieses Deutschland-Plauderstündchen hinführen soll. Wann der Autor wenigstens diese eine Gewaltfrage verbindlich beantwortet wird. Versandet das nun alles in Gebrauchslyrik? Einmal blitzt es dann doch auf. Dann nämlich, wenn Augstein, dieser beeindruckend körperliche Mensch, der Gärtner, der Medienpräsente, der Gestiker, der Mime und Frauenschwarm, der Piratenpartei „die Abwesenheit des Körpers“ als „Bestandteil eines grundlegenden Piraten-Konzepts, der „Plattformneutralität“, zum Vorwurf macht. „Aber ohne den Körper fehlt der Politik etwas. Das letzte Argument. Der höchste Einsatz. Der Körper ist gleichzeitig das stärkste Symbol und die stärkste Realität. Und der Körper ist das einzige Kapital, das auch den Kapitallosen zur Verfügung steht.“ Sieht Augstein sich nun auf Augenhöhe mit debattenstarken Bestsellerjournalisten wie Frank Schirrmacher? Oder hofft er, mit „Sabotage“ sogar auf eine Wahrnehmung, wie sie Klaus Wagenbach in seiner denkwürdigen Grabrede für Ulrike Meinhof formulierte? „Ulrike Meinhof wurde innerhalb weniger Jahre zur bedeutendsten linken Journalistin der Bundesrepublik. Sie nahm damit sehr früh etwas wahr, was wir heute erst zu begreifen beginnen: die psychischen Kosten des Kapitalismus, die innere Verelendung.“ Ulrike Meinhof? Nein, das wäre zu viel der Ehre. Jakob Augstein ist Joan Baez. Alexander Wallasch ist Schriftsteller. Demnächst erscheint „Pferdefleisch und Plastikblumen: Geschichten und Kolumnen aus der Schattenwirtschaft“.
Alexander Wallasch
In seinem Buch „Sabotage“ gibt Jakob Augstein den beinharten Kapitalismuskritiker und stellt die Systemfrage. Doch seine eigentlichen Souffleure sind Bob Dylan und Joan Baez
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kultur
2013-08-14T12:58:12+0200
2013-08-14T12:58:12+0200
https://www.cicero.de//kultur/kapitalismuskritik-jakob-augsteins-flirt-mit-der-gewalt/55380
Frauentag - Wo kommt die Gleichstellung voran?
Das Jahr 1957 war zweifellos eins der wichtigsten Jahre für Frauen im Westen Deutschlands. Es war das Jahr, in dem das bürgerliche Gesetzbuch in Gleichstellungsfragen endlich der zu diesem Zeitpunkt schon acht Jahre geltenden Verfassung angeglichen wurde. Seither dürfen Frauen ihr eigenes Vermögen selbst verwalten und Ehemänner die Jobs ihrer Frauen nicht mehr kündigen. Man muss sich als Frau nur einen Augenblick vorstellen, was in heutiger Zeit ein Mann zu hören bekäme, der beim Chef seiner Frau auftauchen und ihre Stellung kündigen würde – dann kann man ahnen, welchen Wert das Jahr 1957 hatte. Das zurückliegende Jahr 2012 kann mit solchen Wegmarken zur Gleichstellung nicht aufwarten. Und doch wird man es auch als ein frauenpolitisch wichtiges Jahr bezeichnen können. Denn in beinahe allen Fragen, die sich mit den Interessen vor allem der Frauen befassen, entbrannten intensive öffentliche Diskussionen. Und wenn es richtig ist, dass man mit Öffentlichkeit etwas bewegen kann, dann sollte sich nach 2012 etwas mehr bewegen, als in davorliegenden Jahren. Die wohl weitreichendste Diskussion befasste sich mit der Einführung einer Frauenquote in den Führungsetagen der Wirtschaft. Warum das wichtig ist, obwohl es doch „nur Führungspositionen“ und damit zahlenmäßig so wenige Frauen betrifft? Eine Statistik der Antidiskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung zeigt: Obwohl es in Europa kein Land gibt, in dem die Erwerbstätigenquote der Frauen (68 Prozent) so hoch ist wie in Deutschland, gibt es gleichzeitig kein Land, in dem Frauen in Führungsetagen (30 Prozent) so wenig vertreten sind, so viele Frauen in Teilzeit arbeiten (45 Prozent) und damit die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen (22 Prozent) so groß ist. Kurz gesagt: Deutschland ist das Land der schlecht bezahlten Servicekräfte, Sekretärinnen und Assistentinnen. Lediglich im öffentlichen Dienst können Frauen damit rechnen, im Durchschnitt beinahe so gut bezahlt zu werden wie ihre männlichen Kollegen und in etwa die gleichen Chancen auf eine Führungsposition haben. In allen anderen Branchen ist von Gleichberechtigung kaum eine Spur. Mit dem Aufflammen der Quotendiskussion ist dieser Missstand wieder zum Thema geworden. Ausgerechnet die CDU, in Fragen der Gleichstellung bis dato nicht gerade Vorreiter, hat die Debatte befeuert – durch die unterschiedlichen Positionen der Familienministerin Kristina Schröder und der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Während es Erstere den Unternehmen mit einer „Flexiquote“ selbst überlassen will, in welchem Umfang sie sich zur Besetzung von Führungspositionen mit Frauen verpflichten wollen, sieht Leyen die Zeit einer festen Quote gekommen, nachdem alle Appelle zur Freiwilligkeit in den letzten Jahren nicht viel gebracht haben. Selten wurde die Diskussion in Politik und Unternehmen so heftig geführt wie in diesem Jahr. Vorstände und Aufsichtsräte befassten sich damit, in Medienunternehmen gaben Chefs Selbstverpflichtungen zur Erhöhung des Frauenanteils ab und selbst in der FDP, der diesem Thema wohl abgeneigtesten Partei im Bundestag, wurde heftig debattiert. Die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding hat jetzt eine Initiative zur europaweiten Einführung einer Quote für Aufsichtsräte auf den Weg gebracht, die, so ist zu hören, die deutsche Bundesregierung stoppen will. Es kann sein, dass das Schwarz-Gelb jetzt noch einmal gelingt. Aber die Quote wird kommen, das scheint sicher zu sein. Weil Frauen im Vergleich mit Männern häufiger in Teilzeit arbeiten und weniger verdienen, sind sie die größte Gruppe der Nutznießerinnen der Debatte um Kinderbetreuung und Mindestlohn. Schließlich ist es in den häufigsten Fällen die fehlende Betreuung für Kinder, die Frauen in kleine Jobs zwingt. Auch beim Mindestlohn für Branchen, die keine oder kaum Tarifbindung haben und in denen meist Frauen arbeiten, ist Deutschland in diesem Jahr vorangekommen. Bei SPD, Grünen und Linken ist das Thema ohnehin unumstritten. Auch in der Union hat sich etwas bewegt, und selbst in der FDP setzt sich mittlerweile die Erkenntnis durch, dass eine Partei, die sich als Verfechter der sozialen Marktwirtschaft bezeichnet, Stundenlöhne von 3,50 Euro nicht mehr begründen kann. Gelingt es, in der nächsten Legislaturperiode Frauen ein Rückkehrrecht in Vollzeit zu sichern, wenn sie wegen der Kinderbetreuung Teilzeit arbeiten, dann wäre auch das ein Erfolg. Noch im Stadium der Ideen- und Geldfindung, aber für betroffene Frauen immens wichtig: die Frage, wie sie im Alter auskömmliche Renten erhalten, wenn sie Kinder erzogen und nur in geringem Maße gearbeitet haben. Armutsrenten und die Anerkennung von Kindererziehungszeit sind topaktuelle Frauenthemen für dieses Jahr. Den wohl wichtigsten Schritt – das Recht auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder in Kitas – wird Deutschland in diesem Sommer gehen. Parallel übrigens zum Betreuungsgeld, um das heftigst gestritten wurde – und zwar nicht aus der Sicht der betroffenen Kinder, sondern aus der Sicht der Frauen. Wird es eine „Herdprämie“, die Frauen wieder an Haus und Hof fesselt, oder eine Hilfe für Mütter, die ihre kleinen Kinder selbst betreuen wollen? Am 8. März 2014 wird man schon bilanzieren können.
Antje Sirleschtov
Für Sonntagsreden ist das Wort Gleichstellung unentbehrlich. Im Alltag tut sich die Gesellschaft damit noch schwer. Wo bewegt sich etwas?
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innenpolitik
2013-03-08T07:29:48+0100
2013-03-08T07:29:48+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/wo-kommt-die-gleichstellung-voran/53775
Elke Heidenreich – Leonard Cohen und die Ruhe vor dem Sturm
Elke Heidenreich, Autorin Hingucker: Ralf Bell/Peter Kraut: A House full of Music. Strategien in Musik und Kunst (Hatje Cantz) Heimliches Vergnügen: Sylvie Simmons: I'm your Man - Das Leben des Leonard Cohen (btb) Klassiker: Albert Cohen: Die Schöne des Herrn (Klett Cotta) Vorlesebuch: Axel Hacke: Oberst von Huhn bittet zu Tisch (Kunstmann) Ärgernis: Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung (Hoffmann und Campe) Buch des Jahres: Florian Illies: 1913 (S. Fischer) Ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg passiert Revue, vor allem durch die Kunst- und Theaterszene. Wie aufregend neu und unbeschwert schien alles, und dann wurde das, was gerade entstand, zu Tode marschiert und gebombt. Klug, unterhaltsam, komisch und wehmütig zugleich. Zum Weiterlesen: „Der Leser denkt, jetzt spinnt er wieder” - Wolf Haas im Interview An der Literaturen-Weihnachtsumfrage beteiligten sich: Ursula März Roger Willemsen Patrick Bahners Jens Bisky Elke Heidenreich Gert Scobel Christoph Schwennicke  Ina Hartwig Literaturen, die Zeitschrift für Leser, erscheint viermal im Jahr als „Magazin im Magazin“ gemeinsam mit Cicero.
Die Literaturen Weihnachtsumfrage: Welche waren die Bücher des Jahres 2012? Pünktlich zum Fest treffen acht Kritiker und Journalisten eine persönliche Auswahl
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kultur
2012-12-14T10:50:37+0100
2012-12-14T10:50:37+0100
https://www.cicero.de//elke-heidenreich-leonard-cohen-und-die-ruhe-vor-dem-sturm/52884
Peer Steinbrück - „Ein breites Publikum entzieht uns das Vertrauen“
Es sind wahrlich prophetische Worte. Peer Steinbrücks Analyse zum Zustand der SPD ist zwar schon zehn Jahre alt, dennoch liest sie sich wie eine aktuelle Bestandsaufnahme: „In einer Zeit, in der breite Teile der Bevölkerung Augenmaß, Balance, Maß und Mitte anmahnen und dementsprechend sozialdemokratische Antworten eigentlich willkommen sein müssten, entzieht uns ein breites Publikum Vertrauen.“ So sprach Steinbrück, der kurze Zeit vorher noch Bundesfinanzminister in einer Koalition von SPD und Union gewesen war, am 5. Oktober des Jahres 2009. Also wenige Tage nach der Bundestagswahl, bei der die SPD unter ihrem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier mit 23 Prozent ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren hatte – und darauf in der Regierung Platz machen musste für die FDP. Es handelt sich um eine Rede, die Steinbrück damals vor dem Parteivorstand hielt und mit der er sich als stellvertretender Bundesvorsitzender aus dem Führungsgremium der SPD verabschiedete. Die Abschrift liegt Cicero vor, und sie zeigt in aller Deutlichkeit, dass einigen Sozialdemokraten schon vor zehn Jahren klar war, warum sich die Partei auf einem abschüssigen Weg befindet. „Unter dem Strich müssen wir feststellen, dass die stärkere Identifizierung der CDU/CSU mit der sozialen Marktwirtschaft und vor allem auch die Beständigkeit ihrer Bekenntnisse zu diesem Wirtschafts- und Ordnungssystem erfolgreicher wirkt, als eine nach neuen Ufern (und Partnern?) suchende Politik der SPD.“ Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Peer Steinbrück selbst vier Jahre später als Kanzlerkandidat für seine Partei in die Bundestagswahl ging. Er hatte sich zuvor „Beinfreiheit“ im Wahlkampf erbeten, was wohl so zu verstehen war, die SPD dürfe ihn nicht mit einer explizit linken Agenda ins Rennen schicken. Ob die Partei ihrem Kandidaten diese Beinfreiheit in ausreichendem Maß gewährt hatte oder nicht, war hinterher umstritten. Steinbrück jedenfalls dürfte es nicht so empfunden haben. Immerhin kam die SPD unter seiner Kanzlerkandidatur im September 2013 auf 25,7 Prozent, das entsprach einem Zugewinn von 2,7 Prozentpunkten im Vergleich zu 2009. Von solchen Ergebnissen ist die SPD heute weiter entfernt denn je. Nachfolgend dokumentieren wir die wichtigsten Passagen aus Steinbrücks Rede im Wortlaut. Vier Schlussfolgerungen gehen mir durch den Kopf, die natürlich den Charakter des Vorläufigen haben: Die sozialpolitische Kompetenz der SPD ist eine notwendige Bedin­gung um eine Wahl zu gewinnen, aber keineswegs eine hinreichende. Die Kompetenzdefizite im Bereich Wirtschaft und Finanzen, die uns die Demoskopie ungeschminkt bestätigt, waren von ausschlaggeben­ der Bedeutung. Ich habe Andrea Nahles sehr genau zugehört, als sie dieses Kompetenzdefizit vorhin ansprach. Und sie hatte Recht. Aber ich für meinen Teil nehme in Anspruch, dass ich mir darüber in den letzten vier Jahren bereits den Mund fusselig geredet habe. Es geht hier um eine inhaltliche und personelle Kompetenz. Und es reicht nicht, eine Person ins Schaufenster zu stellen, wenn diese in der Breite von Fraktion und Partei nicht begleitet wird oder sogar gele­gentlich für Ausflüge gemaßregelt wird, die angeblich einer partei­politischen Raison (wer definiert die eigentlich?) widersprechen. Die entscheidende Frage für die nächsten Jahre lautet deshalb: „Wo sind die Personen, die dieses Defizit abbauen können?" Sind die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der SPD nicht erst jüngst bei der Aufstellung von Landeslisten zur Bundestagswahl eher bestraft worden bzw. aus Frustration vorzeitig aus der Fraktion ausgeschieden? Es mag sein, dass sich die SPD nach links öffnen muss - ich würde eher davon sprechen, dass sich die SPD in alle gesellschaftlichen Richtungen öffnen sollte. Aber wie dem auch sei, sie darf dabei um keinen Preis inhaltlich die Mitte aufgeben. Ich weiß, dass die Mitte der Gesellschaft ein sehr diffuser Begriff ist, über den man trefflich streiten kann. Aber dies ändert nichts an der nach wie vor richtigen Einschätzung, dass genau in dieser Mitte unserer Gesellschaft Wahlen gewonnen oder auch verloren werden. Die Addition von Minderheitsinteressen führt keineswegs arithmetisch zu einer politischen Mehrheit in Deutschland. Und bei der Annäherung an die Linkspartei ist nicht einmal ein Nullsummspiel, sondern eher ein Verlust für die SPD wahrscheinlich, weil immer um einen Faktor höher Wählerinnen und Wähler in der Mitte zu den konservativ-bürgerlichen Parteien überlaufen. Das hat etwas mit der ausgeprägten Sehnsucht der Deutschen nach Stabilität, Sicherheit und Beständig­keit zu tun. Diese in meinen Augen tief verankerte Sehnsucht in der deutschen Gesellschaft geht auf die Brüche und traumatischen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Diese Trau­matisierungen sind nach wie vor mentalitätsprägend und lassen die Wählerinnen und Wähler in Deutschland in der Mitte zusammen­rücken. Jede Annäherung an die politischen Ränder trifft daher auf eine verbreitete Skepsis, mehr noch Ablehnung in der Bevölkerung. Die SPD muss die Kraft sein, die den Fortschrittsbegriff ausfüllt. Sie muss so wie in den früheren Jahrzehnten mit Fortschritt identifiziert werden. Natürlich nicht alleine in einem platten ökonomischen Verständnis, sondern auch in einem technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Sinn. Jedoch ist uns in den letzten 20 / 25 Jahren die Definitionshoheit über den Fortschritt verloren gegangen. Dementsprechend sind unsere Zukunftsangebote gerade für eine jüngere Wählerschaft unzureichend. Meine persönlich schärfsten Kritiker, die viel näher als ihr glaubt in meinem unmittelbaren Familien- und Freundeskreis sind, werfen mir vor, dass ich zwar eine einigermaßen stichhaltige Gegenwartsanalyse vortragen kann, aber wenig faszinierende Angebote zur Zukunftsgestaltung vorlege. Das mag an unsicheren und unübersichtlichen Zeiten und Verhältnissen liegen, aber der Kern der Kritik trifft nicht nur auf mich, sondern unsere gesamte Partei zu: Worin liegt das Zukunftsversprechen und die Aufstiegsperspektive, welche die SPD insbesondere auchjüngeren Generationen machen kann? Welche Kommunikationsplattformen und Veranstaltungsformate bieten wir dafür an? Die SPD erlebt ohne Zweifel eine Glaubwürdigkeitskrise. Das hat nach meiner Auffassung viel mit dem Bild der Zerstrittenheit zu tun, mit dem was der Journalist Prantl als Verfall der Führungskultur in der SPD bezeichnet hat, mit dem Verschleiß von Führungspersön­lichkeiten, mit dem mangelnden Stolz auf Leistungen und Errungenschaften und damit zusammenhängend die häufig schnelle Relati­ vierung von Positionen und Entscheidungen. Das liefert der Bevölkerung kein Bild der Verlässlichkeit und Beständigkeit. Wer glaubt, dass die SPD ein feil an Glaubwürdigkeit dadurch zurückgewinnt, dass die meisten Schilder unserer Regierungspolitik der vergangenen Jahre flugs abmontiert werden, der irrt. Die eigene Politik der vergangen Regierungsjahre quasi zu dementieren, würde das Bild mangelnder Beständigkeit und Kalkulierbarkeil der SPD noch viel stärker prägen. Getreu der Aufforderung tabulos zu diskutieren, füge ich - auch auf die Gefahr hin, jetzt in manche Beete von Empfindlich­keit zu treten - die Entwicklung in Hessen hinzu. Wer will nach den Erfahrungen aus vielen Gesprächen und Veranstaltungen stillschwei­gend darüber hinweg gehen, dass die Vorgänge in Hessen einen Anteil an der Glaubwürdigkeitskrise der SPD haben? Die Krise der SPD ist nach meiner Einschätzung weil weniger pro­grammatischer oder inhaltlicher Art. Mit dem Hamburger Grundsatz­programm, mit dem Regierungsprogramm und mit dem Deutschlandplan von Frank-Walter Steinmeier ist etwas erarbeitet worden, dass gute Grundlagen bietet - Nachjustierungen im Einzelfall nicht ausge­schlossen. Ich sehe deshalb keine Notwendigkeit, jetzt in einen neuen programmatischen Entwurf einzusteigen. Die Krise der SPD ist zuallererst in meinen Augen eine Führungskrise und eine Krise der Organisation. Die Führung der SPD ist in den vergangenen Jahren einem permanenten Autoritätsverfall ausgesetzt worden. Dieser Prozess ist dringend aufzu­halten. Die neue Führung bedarf daher der uneingeschränkten Unterstüt­zung, aber sie wird sich auch selber bewusst machen müssen, dass ihre Zusammenarbeit eine der letzten Chancen ist. Wenn einige der neuen Führungsmitglieder und die sie tragenden innerparteilichen Kräfte bereits im Kopf haben, dass mit dieser neuen Aufstellung bereits die Claims bis Mitte der Legislatur in Vorbereitung auf 2013 abgesteckt werden, dann wird der Absturz der SPD noch weiter gehen. Wenn irgendjemand von euch in diesen politischen Kategorien denkt und danach handelt, dann wird das eine Reise, bei der keiner ankommt. Die ehrliche Bestandsaufnahme zur Parteiorganisation lautet, dass von den Landes- und Bezirks-verbänden wahrscheinlich nur drei oder vier als intakt und schlagkräftig beurteilt werden können. Hubertus Heil hat darauf mehrfach und in begrüßenswerter Offenheit hingewiesen. Ich habe die gelegentlichen Hinweise von einigen von euch nach wie vor im Ohr, nach denen man wieder stärker eine „Kultur der innerparteilichen Demokratie" pflegen müsste. Dem widerspreche ich nicht. Aber ein ungetrübter Blick weist aus, dass die Absender dieses kritischen Hinweises an die Bundesebene diese Kultur in ihrer eigenen Verantwortung auf Landes- oder Bezirksebene keineswegs in allen Fällen selbst befolgen. Von einer erheblichen Bedeutung ist ferner, dass die SPD massiv an Einfluss in den so genannten gesellschaftlichen Vorfeldorganisationen verloren hat. Es gab vor einigen Jahrzehnten kaum Sportvereine, karitative Einrichtungen, freiwillige Feuerwehren, Nachbarschaftszirkel etc., in denen nicht auch Frauen und Männer der Sozialdemokratie ver­ankert waren und als Multiplikatoren wirkten. Dies ist weitgehend verloren gegangen. Ich stimme Sigmar Gabriel vollständig zu, dass die SPD mehr denn je darauf angewiesen ist, in allen gesellschaftlichen Bereichen Verbündete zu suchen, ohne sich gleich zu instrumentalisieren. Im Präsidium und in der Parteivorstandssitzung am letzten Montag haben einige von euch mit großem Nachdruck davon gesprochen, dass es kein „Weiter so!” geben dürfe. Das will ich nicht widerlegen - und habe gerade für meine Person daraus ja auch eine Konsequenz gezogen. Ich weiß zwar nicht so ganz, was darunter im Einzelnen verstanden wird, aber nach einer solchen Niederlage keine - und seien es auch schmerz­liche - Konsequenzen zu ziehen, wäre wohl falsch. Ich frage mich allerdings, ob diese Aufforderung, dass es kein „Weiter so!” geben dürfe, auch für die Personen selbst gilt. Zum Bespiel für den Vorsitzenden des Landesverbands Schleswig-Holstein, der mit minus 13 % gerade eine krachende Niederlage erfahren hat. Ich habe deiner Analyse, Ralf Stegner, am letzten Montag genau zugehört. Dabei war der exkulpierende Fingerzeig von Kiel nach Berlin ja unübersehbar. Zwei wesentliche Faktoren für diese Niederlage kamen allerdings dabei nicht vor: Deine Verkürzung der Analyse passt nicht zu deinen Aufforderungen hier in Berlin und deinen Einlassungen, man müsse „hart in der Analyse sein". Und dann ist da ein Landesverband Berlin, der bei dieser Bundestags­wahl 300.000 Stimmen gegenüber 2005 verloren hat. Nur noch jeder fünfte Wahlberechtigte wählt in Berlin die SPD. Dieser Landesverband und seine Spitzen Vertreter haben noch am Freitag, den 25. September 2009, in der Abschlussveranstaltung vor dem Brandenburger Tor Frank-Walter Steinmeier zugejubelt. Drei Tage später, am Montag, 28. September 2009, war es dieser Landesverband, der als erster das Revolutionstribunal einrichtete- über die drei Namen, die nun zur Verantwortung zu ziehen seien. Nämlich Franz Müntefering, der kürzlich noch bejubelte Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück. Das ist alles andere als stilsicher, eigentlich beschämend. Ich kann nur darum bitten, dass Frank-Walter Steinmeier als neuer Fraktionsvorsitzender gestützt und vor solchen anwidernden Abrechnungen geschützt wird und der Umgang mit ihm nicht jene bestätigt, die zwischen unserem Appell zur Solidarität und der Behandlung unseres eigenen Führungspersonals einen nicht aufzulösenden Widerspruch sehen. Der Ruf danach, dass es „Kein weiter so!“ geben könne erstreckt sich auch auf die Zusammensetzungen des Parteirates als wichtigstem Gremium zwischen Parteitagen und Sitzungen des Parteivorstandes. Dieser Parteirat ist ein Altherrenrat, in den von den Landesverbänden 60-70jährige Honoratioren entsendet werden, weil sie aufgrund von früheren Verdiensten noch eine Parteifunktion haben sollen. Mehr denn je gehören in diesen Parteirat Kommunalpolitiker der SPD und junge Leute. Ich sprach vorhin von der eilfertigen Abrechnung mit Müntefering, Steinmeier und mir in der Sitzung des Berliner Landesverbandes. Ich kann mir nicht ganz verkneifen - wohl wissend um das Risiko, als eitel missverstanden zu werden - darauf hinzuweisen, dass es exakt diese drei Personen sind, die bei Umfragen zur Wertschätzung von Politikern die führenden Positionen für die SPD einnehmen. Das berührt einen schon merkwürdig, wenn man selbst in Umfragen für die SPD offensichtlich eine gewisse Wirkungsmöglichkeit oder Anerkennung findet, und dies in den eigenen Gremien offenbar völlig irrelevant für eine erfolgreiche Aufstellung der SPD ist. Dies war und bleibt mir ein Rätsel. Das verbindet sich mit einer nicht durchgängigen, aber bei manchen Parteifreunden festzustellenden Neigung, möglichst im Fernsehen darüber eine Definitionshoheit zu beanspruchen, was parteipolitisch in der SPD korrekt ist und was nicht, welche Aussagen es sind und welche es nicht sind. Ich fühle mich gelegentlich an eine Art Glaubenskongregation erinnert. Dies alles wirft Schlaglichter darauf, wie stark die SPD mit sich selber beschäftigt ist. Die innerparteiliche Sicht - und auch innerparteiliche Legitimationsbeschaffung in unseren Gremien - spielt eine unverhältnismäßig große Rolle gegenüber der viel wichtigeren Frage, wie uns die Wählerschaft sieht und wie wir durch den Wähler in der Wahlkabine legitimiert werden können. Den Hinweis von klugen Beobachtern, dass sich Parteien zu selbstreferenziellen Systemen entwickeln können, würde ich in der Lage, in der wir jetzt sind, sehr ernst nehmen. Mein vorzeitiges Fazit lässt sich im Telegrammstil wie folgt fassen:
Cicero-Redaktion
Vor fast exakt zehn Jahren analysierte Peer Steinbrück in einer internen Rede die Schwäche der SPD. Cicero liegen seine Worte vor. Sie klingen wie ein Lehrstück zur aktuellen Lage. Und sind ein Dokument der Zeitgeschichte
[ "SPD", "Peer Steinbrück", "Rede", "Sozialdemokraten", "Sozialdemokratie" ]
innenpolitik
2019-12-12T15:44:58+0100
2019-12-12T15:44:58+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/peer-steinbrueck-spd-rede-intern
Haiyan - Ist der Klimawandel schuld am Taifun?
Zum zweiten Mal in Folge beginnt ein Weltklimagipfel mit der Nachricht, dass ein verheerender Taifun über die Philippinen gefegt ist. Vor einem Jahr war es „Bopha“, der am 4. Dezember 2012 den Süden der südostasiatischen Inselgruppe traf. Mehr als 1000 Menschen starben, 800 Menschen werden bis heute vermisst, rund 200.000 leben noch immer in Provisorien oder bei Verwandten. In diesem Jahr ist es „Haiyan“, der noch schlimmer gewütet hat. Mindestens 10.000 Menschen sind tot, Zehntausende haben alles verloren. Das Ausmaß der Schäden ist noch nicht absehbar. Zum zweiten Mal in Folge reist der philippinische Chef-Klimaverhandler Naderev Madla Sano mit Nachrichten zum Weltklimagipfel, die klingen wie ein Blick in die Wetterküche des Klimawandels. Von Montag an werden in Warschau zwei Wochen lang die Verhandler und am Ende auch die zuständigen Minister darüber beraten, wie sie bis 2015 etwas gegen den Klimawandel unternehmen und zu einem neuen Weltklimavertrag kommen wollen. Der Supertaifun „Haiyan“ war schon der zweite tropische Wirbelsturm der höchsten Kategorie fünf, der die Philippinen in diesem Jahr getroffen hat. Im September hat der Taifun „Usagi“ bereits eine Schneise der Verwüstung auf einigen Inseln hinterlassen. Es war in diesem Jahr der 24. tropische Wirbelsturm, der die Inselgruppe im Pazifik getroffen hat. Im Durchschnitt sind es jedes Jahr 20 schwere Stürme, die den Inselstaat treffen. Vor fast genau einem Jahr hat der Taifun „Bopha“ verheerende Schäden angerichtet. Die Philippinen sind aber nicht nur mit Taifunen, sondern auch mit schweren Erdbeben und Vulkanausbrüchen geschlagen. Der Inselstaat gehört zu den verwundbarsten Ländern der Welt. Tropische Wirbelstürme entstehen, wenn warme feuchte Luft nach oben steigt, sich Wolken bilden, die Wolken wachsen und zu Gewitterwolken werden. Darin entsteht ein Sog, der noch mehr feuchte Luft aufnimmt, bis das Störungszentrum wegen der Erdbewegung zu rotieren beginnt. Viele Stürme lösen sich über den Ozeanen wieder auf. Doch einige treffen auch auf Land, wo sie je nach Intensität des Sturms katastrophale Schäden hinterlassen. Es sind nicht nur direkte Sturmschäden. Die Stürme bringen auch gewaltige Regenfälle, Überschwemmungen und Erdrutsche mit sich. „Haiyan“ hat nach Einschätzung der amerikanischen Ozean- und Atmosphärenbehörde (NOAA) auf dem Weg zu den Philippinen „ideale Bedingungen“ gehabt, um an Intensität zu gewinnen: „wenig Schwerwinde und warme Meerestemperaturen“. Schwerwinde wehen von verschiedenen Seiten in das Sturmsystem und können es so auflösen. Die Oberflächentemperaturen des Ozeans sind im Westpazifik seit 1968 zwar nicht kontinuierlich, aber doch deutlich gestiegen. Das gilt übrigens für alle Ozeane. Das bedeutet, das Meer enthält mehr Energie, vor allem aber steigt der Temperaturunterschied zwischen der Meeresoberfläche und den höheren Luftschichten – und genau so entstehen starke Winde. In diesem Jahr war „Haiyan“ erst der fünfte Sturm weltweit, der in die höchste Kategorie fünf eingestuft worden ist. „Man kann natürlich nicht sagen, dass ,Sandy’ durch den Klimawandel ausgelöst wurde“, sagt Peter Höppe, Leiter der Georisikoforschung des weltgrößten Rückversicherungskonzerns Munich Re (früher Münchener Rückversicherung). „Da ist viel zusammengekommen.“ Und dann zählt er auf: Als der Sturm das Land erreichte, war gerade Flut. Zudem war Vollmond, da fällt die Flut noch etwa einen halben Meter höher aus. „Das war ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen“, sagt Höppe. Als „Haiyan“ aufs Land traf, war ebenfalls Flut. „Sandy“ gilt mit einer Ausbreitung von 1500 Kilometern als das bislang größte tropische Sturmsystem im Atlantik. Die Temperaturen des Atlantiks entlang der Ostküste der Vereinigten Staaten waren vor einem Jahr „ungewöhnlich hoch“ für die Jahreszeit. „Das waren ideale Bedingungen für den Sturm“, sagt Höppe, und auch das verbindet beide Stürme. „Sandy“ zog vor der Ostküste der USA Richtung Nordosten, traf dann aber auf ein stabiles Hochdruckgebiet. Die normale Zugbahn weiter in nordöstlicher Richtung und damit auf das offene Meer war blockiert. Deshalb bog das Sturmsystem in Richtung Westen zum Land hin ab, traf fast im rechten Winkel auf die Küste und drückte große Mengen Wasser an Land. „Diese Wetterlage war ungewöhnlich“, sagt Höppe. Gesteuert werden solche Wetterlagen vom sogenannten Jetstream, der die arktischen Luftmassen von den tropischen Luftmassen trennt. Der Jetstream verläuft nicht in einer geraden Linie von West nach Ost über die Erde, sondern hat Ausbuchtungen nach Norden und Süden. „Als Sandy vom Atlantik heranbrauste, hatte der Jetstream extreme Ausbuchtungen“, erklärt Höppe. In den Datenbanken von Munich Re ließ sich ein solcher Sturmverlauf, bei dem ein Tropensturm an der Nordostküste seine Zugbahn plötzlich komplett in Richtung Westen verändert, in den vergangenen 100 Jahren nicht finden. Höppe verweist auf wissenschaftliche Studien verschiedener Forscher, wonach sich ausgelöst durch das schmelzende Meereis rund um den Nordpol die Drucksysteme ändern. „Erste wissenschaftliche Untersuchungen verschiedener Institute weisen darauf hin, dass größere Amplituden im Jetstream und sehr stabile Hochdrucksysteme häufiger werden könnten“, sagte Höppe. Das sei aber noch nicht endgültig wissenschaftlich geklärt. „Sandy“ war „für uns dennoch nicht überraschend“, sagt Höppe. Tatsächlich hatte Munich Re einen Monat vor „Sandy“ ein Buch veröffentlicht, in dem es um die Gefahren durch Extremwetter für Nordamerika ging. Das Buch enthielt die Beschreibung eines Hurrikanszenarios für die US-Ostküste mit Aussagen darüber, welche Teile New Yorks in Manhattan, Brooklyn und Queens sowie im angrenzenden New Jersey beim Auftreffen eines Hurrikans besonders überschwemmungsgefährdet sind. „Sandy hat uns dann einen Monat später bestätigt.“ Die nächste Studie über wachsende Gefahren von Extremwetterlagen in Asien ist gerade in Arbeit. Darin werden die Philippinen eine Hauptrolle spielen. Der Weltklimarat (IPCC) ist wie immer sehr zurückhaltend in seinen Bewertungen. An der Zahl der Wirbelstürme, vermutet der IPCC in seinem fünften Bericht über den Stand der Klimawissenschaft, der Ende September veröffentlicht worden ist, werde sich wohl kaum etwas ändern. Aber höhere Windgeschwindigkeiten und mehr Regenfälle seien „wahrscheinlich“, allein deshalb, weil mehr Energie im System gespeichert ist. Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung schreibt in seinem aktuellen Klimablog, dass die Zahl der Wirbelstürme mit hoher Intensität, also der Kategorie vier und fünf zugenommen hat, jedoch nicht die Zahl der Stürme an sich. Von diesem Montag an bis zum 22. November werden mehr als 190 Verhandler aus aller Welt die Beratungen über ein neues Weltklimaabkommen fortsetzen. Der 19. Weltklimagipfel in Warschau ist dabei eine Zwischenstation, die im kommenden Jahr über Lima in Peru bis nach Paris in zwei Jahren führen soll. Beim Pariser Gipfel 2015 soll der Weltklimavertrag dann endgültig stehen und verabschiedet werden, fünf Jahre später soll er wirksam werden. So weit steht der Zeitplan. Doch welche Themen in welcher Reihenfolge und zu welchem Zeitpunkt wie verhandelt werden, ist teilweise noch schwer umstritten. Die Chancen auf einen neuen Weltklimavertrag bis 2015 stehen besser als 2009 in Kopenhagen. Die starre Konfrontation zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern löst sich langsam. Auch Schwellenländer sind inzwischen bereit, Klimaverantwortung zu übernehmen, auch wenn sie an dem Problem weniger „Schuld“ haben als die alten Industrienationen. Die deutsche Klimaverhandlerin Nicole Wilke sagte vor kurzem bei einer Tagung im Auswärtigen Amt: „Wir reden heute über Themen, die vor ein paar Jahren noch undenkbar waren.“
Dagmar Dehmer
Auf den Philippinen hat der Taifun „Haiyan“ riesige Zerstörung angerichtet. Es war der schlimmste Tropensturm seit Jahrzehnten. Unterdessen passiert nur wenig in der Umweltpolitik. Was hat die Katastrophe mit dem Klimawandel zu tun?
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außenpolitik
2013-11-11T08:35:19+0100
2013-11-11T08:35:19+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/philippinen-ist-der-klimawandel-schuld-am-taifun-haiyan/56352
Benotet - Brittens unfreiwilliges Geschenk
Sobald die Tage kürzer werden, beginnt man sich über eine der großen Menschheitsfragen Gedanken zu machen: Was schenkt man bloß zu Weihnachten? Es gibt natürlich auch noch andere Welträtsel, die dringend gelöst werden müssten – „Wie war das mit dem Urknall?“ zum Beispiel. Aber kaum eine, die einen so beschäftigt. Erledigt man die Einkäufe bereits im Herbst und lässt sie gemütlich im Schrank verstauben? Oder gönnt man sich den Last-Minute-Stress am 24. Dezember? Spätestens Anfang des neuen Jahres, nachdem man die Festivitäten glimpflich überstanden hat, fragt man sich trotzdem, ob das eine oder andere Geschenk tatsächlich das richtige gewesen ist. Eine der schönsten Geschichten über das beinahe perfekte (Weihnachts-)Geschenk wurde mir vor Jahren vom legendären Cellisten Mstislaw Rostropowitsch gebeichtet. „Slava“, wie ihn fast die halbe Welt liebevoll nannte, gehörte nicht nur dank seines fulminaten Spiels, sondern auch aufgrund seiner ebenso fulminanten Persönlichkeit zu den inspirierendsten Menschen des 20. Jahrhunderts. Bei seinem viel zu frühen Tod im Jahr 2007 hinterließ er eine riesige Lücke in der Musikwelt, die bisher niemand füllen konnte. Er war eng befreundet mit den größten Komponisten seiner Zeit, von Prokofjew und Schostakowitsch bis hin zu Leonard Bernstein und Witold Lutosławski, die allesamt Werke für ihn geschrieben haben. Fast jeder Musiker, mich eingeschlossen, hat ihn bewundert und geliebt. 1971 wurde vom sowjetischen Regime ein Ausreiseverbot über ihn verhängt, weil er den Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn bei sich zu Hause aufnahm. 1974 kehrte er der Sowjetunion den Rücken und setzte sich auf bewundenswerte Art und Weise für die Demokratie und die Menschenrechte ein. Seine Gagen ließ sich Rostropowitsch gern in bar auszahlen, und er hat des Öfteren eine Brieftasche dafür verlangt. Wenn er in Italien spielte, wurde er in Lire bezahlt – und eine Brieftasche reichte nicht aus. Ich habe mich oft gefragt, was er wohl mit den ganzen Brieftaschen gemacht hat. Einmal kam Slava spontan zu uns zu Besuch. Er konnte die tollsten Geschichten erzählen, und ich liebe es, solchen grandiosen Persönlichkeiten Anekdoten zu entlocken. Also öffnete ich eine Flasche Wodka und bat ihn, uns eine Geschichte zu erzählen. „Mein geliebter Danuschka“, sagte er, „du brauchst nie zu fragen. Slawitschka sagt doch immer Ja!“ „Dann“, sagte ich, „erzähle uns bitte etwas über den Komponisten Benjamin Britten.“ „Oh, mein Freund Ben“, antwortete Slava mit breitem Grinsen. „Ich erzähle dir, wie ich das beste Weihnachtsgeschenk meines Lebens bekam. Wir waren in Aldeburgh, Brittens Festival. Britten kam zu mir und sagte: Slava, wir haben gerade eine Nachricht vom Buckingham Palace bekommen. Lady Mary Frances Bowes-Lyon, die Schwester der Königinmutter, wird übermorgen hier sein. Sie kommt ins Konzert, und danach gibt es einen Empfang. Ich war ein einfacher russischer Junge, hatte noch nie ein Mitglied eines Königshauses kennengelernt und war sehr aufgeregt. Für mich, da sie die Schwester der Königinmutter war, war sie eine Prinzessin. Eine Prinzessin wie Tschaikowskis Dornröschen! Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und überlegte, wie ich mich verhalten sollte, wenn ich sie kennenlernen würde. Sollte ich mich verbeugen, wenn ich vor sie trat? Ich kam auf eine fantastische Idee. Ich würde eine Pirouette machen! Ich übte es in meinem Zimmer. Am nächsten Tag kam ich wieder mit Britten zusammen und sagte: Ben, ich habe mir etwas überlegt. Ich werde der Prinzessin meine Hand geben und einen Ehrentanz machen. Darauf Britten: Was meinst du mit Ehrentanz? Ich: Ich werde es dir vorführen. Und ich führte es vor. Britten war entsetzt: Bist du wahnsinnig, das geht nicht! Ich: Doch, das mache ich. Ich werde zum ersten Mal eine richtige Prinzessin kennenlernen, und ich werde das machen. Britten: Nein, Slava, das geht nicht. Das wird ein Skandal. Britten sah, dass es mir ernst war und fragte: Was kann ich tun, damit du es nicht machst? Ich: Du kannst mir eine Suite für Solocello komponieren! Britten: Das ist doch lächerlich. Ich bin schließlich nicht Bach. Ich: Eine Suite für Solocello – oder ich mache diese Pirouette. Am nächsten Tag erschien Prinzessin Mary in Aldeburgh. Die Hofdamen stellten mich vor: Your Royal Highness, das ist Mstislaw Rostropowitsch. Ich sank fast auf die Knie, sah noch einmal zu Britten und flüsterte: Ben, eine Suite für Solocello!“ Weihnachten 1964 hat Rostropowitsch sie bekommen.
Daniel Hope
Auch unser Kolumnist kennt Geschenkestress. Und erinnert sich an eine Anekdote des Jahrhundert-Cellisten Mstislaw Rostropowitsch
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kultur
2013-02-04T14:29:38+0100
2013-02-04T14:29:38+0100
https://www.cicero.de//kultur/brittens-unfreiwilliges-geschenk/53369
Doku über Leonard Cohen - Das heilig-gebrochene Halleluja
Leonard Cohens „Hallelujah“ ist ein großes Lied. Mein Lieblingslied ist es nicht, mir geht es da wie den meisten Musikfans: Das eine Lieblingslied ist schwer zu benennen. Eine andere Superlativ-Frage kann ich dafür umso leichter beantworten: Leonard Cohen 2010 in Hannover war das schönste Konzert, auf dem ich jemals war. Das war im Rahmen seiner 2008 gestarteten Comeback-Konzerte, für die es einen profanen Grund gab: Er brauchte Geld. Cohens Managerin hatte ihn um sein Vermögen betrogen, während er in einem Kloster meditierte. Das Konzert in Hannover war nicht ausverkauft; was für grandiose Abende Cohen seinen Zuschauern bereitete, hatte sich 2010 in Deutschland noch nicht ganz herumgesprochen. Drei Stunden lang kniete, tänzelte, scherzte der damals 76-Jährige, immer wieder zog er seinen Hut, drückte ihn an seine Brust, verbeugte sich tief vor seiner Band und seinem Publikum. „Leise, weise, würdevoll“, schrieb eine lokale Tageszeitung anschließend. Ja, auf dieser mit Perserteppichen bedeckten Bühne stand ein weiser alter Mann, das ahnte auch der gefühlt einzige Teenager im Publikum. Cohens sonorer Gesang war inbrünstig, aber weit entfernt von dem penetranten Pathos, mit denen Castingshow-Teilnehmer und Hochzeitssänger sein dauergecovertes „Hallelujah“ überladen. Die französische Fotografin Dominique Issermann – laut Cohen angeblich die erste Frau, in die er sich wirklich verliebt hat –, sagt über ihn: „Er ist sehr intensiv, zeigt aber diese Intensität nicht.“ Issermann sagt diesen Satz in der sehenswerten Doku „Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song“ von Dan Geller und Dayna Goldfine, die derzeit im Kino läuft. Der Film beginnt mit einem Blick auf Cohens Spätphase: Auf einem jener Comeback-Konzerte singt er „Hallelujah“, sein wohl bekanntestes Lied, anschließend springen die Regisseure in der Zeit zurück und erzählen die Biographie des Liedes, das gleichzeitig der rote Faden ist, mit dem die Regisseure Cohens Biographie beleuchten. Dafür konnten sie auf reichlich vorhandenes Videomaterial zurückgreifen, das sie offensichtlich mühsam (und gelungen) verdichtet haben, zudem sprachen sie mit zahlreichen Weggefährten und kurz vor dessen Tod im Jahr 2016 mit Cohen selbst. Leonard Cohen wurde 1934 in Kanada geboren, sein Großvater mütterlicherseits war Rabbiner und Talmudkommentator, sein Großvater väterlicherseits Gründungspräsident des Canadian Jewish Congress – die jüdische Tradition wird in seinen Liedern eine wichtige Rolle einnehmen. Zur Musik kam er erst spät. In den 1960ern ließ er sich mit der Norwegerin Marianne Ihlen („So long, Marianne“) auf Hydra, Griechenland, nieder, schrieb zwei Romane und mehrere Gedichtbände. Als Cohen anfing, seine Gedichte zu vertonen, war er bereits in seinen 30ern. Sein Leben „an der Seitenlinie des Musikbusiness“ begann, wie er selbst im Film sagt. Er ist ein Solitär, mit melancholischen, geheimnisvollen Liedern, in denen er die Grenze zwischen Sakralem und Profanem verschwimmen lässt. Wie kam Cohen, der sein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen hatte, im hohen Alter schließlich zu jener Gelassenheit? Im Film sagt er an einer Stelle, es gebe zwei Arten, um der Sinnlosigkeit dieser Welt zu begegnen: Man könne entweder beten oder die Faust erheben – er versuche, beides zu tun. „Hallelujah“ ist natürlich auch Ausdruck seiner Sinnsuche, seiner religiösen Sehnsucht, die er in seinen Liedern immer wieder mit der erotischen Liebe verwob. Sieben Jahre lang hat er an dem Lied gefeilt, zwischen 100 und 200 Strophen hat er geschrieben. Unter denen finden sich welche mit Verweisen auf das Alte Testament. Wollte man eine griffige Bezeichnung für die rätselhaften Lyrics finden, könnte man vielleicht sagen, es sind Strophen über den Atheismus im Glauben, was Cohen „the broken Hallelujah“ nennt. In späteren Strophen adressiert er eine zerflossene Liebe, beschwört das einstige Glück erotischer Liebe herauf und besingt die Unmöglichkeit der romantischen Liebe. Es kommt nicht von ungefähr, dass Cohen im Film einmal als Minnesänger bezeichnet wird, also ein die unerreichbare Liebe Besingender. Dass das Lied heute auf Trauerfeiern und auf Hochzeiten gespielt wird, könnte damit zu tun haben, dass es einem das Herz zugleich bricht und heilt, es also auch ein romantisches Lied ist. Als Cohen den Song 1984 veröffentlichen wollte, weigerte sich seine Plattenfirma, das dazugehörige Album „Various Positions“ (auf dem auch sein bekanntes „Dance me to the End of Love“ ist) zu veröffentlichen. Nicht gut genug, sagte der CEO. Das Album erschien in Europa und später in den USA auf einem kleinen Label. Bob Dylan war der erste, der „Hallelujah“ mit einer Coverversion einer breiteren Öffentlichkeit nahebrachte. Bekannt wurde es durch John Cales Coverversion, die schon emotional zugänglicher – massentauglicher – ist als Cohens Original. Berühmt wurde Mitte der 1990er Jeff Buckleys großartige Version, die heute mehr Menschen bekannt ist als Cohens. Er hoffe, Cohen werde seine Version nie hören, sagte Buckley einmal, denn er habe das Gefühl, da singe ein Junge. Buckleys Version ist in der Tat die eines Jugendlichen mit gebrochenem Herzen, er sang sie, von seinem unvergesslichen Gitarrenspiel begleitet, mit Engelsstimme und machte Cohens „Hallelujah“ zur schwelgenden Jugendhymne. Nachdem John Cales Version 2001 im Trickfilm „Shrek“ zu hören war, wurde „Hallelujah“ Kommerz (was nicht als Bewertung gemeint ist). Unzählige Coverversionen folgten; läuft man in Großstädten durch die Straßen, hört man Straßenmusiker „Hallelujah“ singen. Junge Menschen in Castingshows singen „Hallelujah“, was dazu führt, dass 13-Jährige in Talentshows inbrünstig über „all I’ve ever learned from love“ singen. Oft ist es ein Halleluja so glatt wie ein Smartphone. Vielleicht sollte man aber nicht zu harsch darüber urteilen, auch wenn all diese Bombast-Versionen, die nicht der inneren Intensität des Liedes zu trauen scheinen, sondern es mit castingshowhaft kalkuliertem Gefühlsbombast „aufpeppen“ müssen, schwer zu ertragen sind. Leonard Cohen sagte über den unerwarteten Hype zwar schmunzelnd, er fühle sich geschmeichelt, aber die Leute sollten doch besser für eine Weile aufhören, das Lied zu singen. Doch man bekommt den Eindruck, dass er auch auf solche Versionen sanftmütig als Teil der „Various Positions“ blickt. Um auf Cohens Konzerte zum Ende seines Lebens zurückzukommen: Cohen hat das Eigenleben, das sein Lied durch die Coverversionen von John Cale und Jeff Buckley bekommen hat, fruchtbar gemacht – übernahm er doch erkennbar Aspekte der Versionen, in denen die religiösen und die irdischen Strophen noch enger verknüpft werden. Man sollte Buckleys große Jugend-Version nicht in einem Ranking mit Cohens Version vergleichen. Man kann aber festhalten: Cohens Live-Versionen haben nicht das zugängliche Pathos, sind verspielter, haben mehr Brechungen, sind heiliger Ernst und heiterer Witz. Vermutlich muss man alt und weise werden, um dahin zu kommen. Ein berühmter und gern zitierter Vers von Cohen lautet: „There’s a crack in everything, that’s how the light gets in“. Cohens gebrochenes „Hallelujah” ist also ein sehr helles.
Ulrich Thiele
Die Doku „Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song“ verknüpft die Biografie des Songwriters mit der Geschichte eines seiner größten Lieder. Sie läuft nun im Kino. Die Doku zeigt, was Cohens „Hallelujah“ den zahlreichen Coverversionen voraus hat.
[ "Leonard Cohen", "Musik", "Film", "Judentum" ]
kultur
2022-11-22T15:09:39+0100
2022-11-22T15:09:39+0100
https://www.cicero.de//kultur/doku-uber-leonard-cohen-hallelujah
Islamverbände - Großrazzia gegen Islamisten in sieben Bundesländern
Die Polizei hat im Zuge von Ermittlungen gegen das „Islamische Zentrum Hamburg“ (IZH) Objekte in sieben Bundesländern durchsucht. Das IZH stehe im Verdacht, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung zu richten, teilte das Bundesinnenministerium am Donnerstag mit. Außerdem gingen die Sicherheitsbehörden dem Verdacht nach, dass der Verein Aktivitäten der proiranischen schiitischen Terrororganisation Hisbollah aus dem Libanon unterstützt. Das Ermittlungsverfahren könnte in einem Vereinsverbot münden. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte, das IZH werde seit langem vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet und als islamistisch eingestuft. Sie betonte: „Gerade jetzt, in einer Zeit, in der sich viele Jüdinnen und Juden besonders bedroht fühlen, gilt: Wir dulden generell keine islamistische Propaganda und keine antisemitische und israelfeindliche Hetze.“ Das Zentrum gilt als verlängerter Arm des iranischen Regimes, das der islamistischen Hamas zu ihrem Angriff auf Israel gratuliert und diesen als „Wendepunkt in der Fortsetzung des bewaffneten Widerstands“ bezeichnet hatte. Durchsucht wurden am frühen Morgen den Angaben zufolge Objekte in Hamburg, Niedersachsen, Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen. In einer Mitteilung des Ministerium hieß es, die Aktivitäten des IZH, das Träger der Hamburger Imam-Ali-Moschee ist, seien „darauf ausgerichtet, das Revolutionskonzept der Obersten (iranischen) Führer zu verbreiten, das im Verdacht steht, gegen die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland und den Gedanken der Völkerverständigung zu verstoßen“. Die Ermittler schauen sich dem Vernehmen nach auch Konten an. Da es bislang kein Vereinsverbot gibt, wurde aber kein Geld beschlagnahmt. Der Verfassungsschutz hat laut Ministerium nicht nur die Aktivitäten in der auch als Blaue Moschee bekannten Hamburger Einrichtung im Blick, sondern geht davon aus, dass das IZH „auf bestimmte Moscheen und Vereine großen Einfluss bis hin zur vollständigen Kontrolle ausübt“. Innerhalb dieser Kreise sei häufig eine antisemitische und antiisraelische Grundeinstellung feststellbar, hieß es in der Mitteilung. Mehr als 30 Mannschaftswagen seien noch bei Dunkelheit am frühen Donnerstagmorgen vor der Blauen Moschee an der Alster vorgefahren, sagte ein Augenzeuge. In Frankfurt am Main wurde die Polizei beim „Zentrum der Islamischen Kultur Frankfurt“ vorstellig. Das American Jewish Committee Berlin begrüßte die Maßnahmen gegen das IZH und sein Umfeld. „Das Mullah-Regime verbreitet über seine Propaganda-Institutionen und Strukturen in Deutschland seine antisemitische, islamistische, homophobe und misogyne Ideologie und stellt eine reale Gefahr für die jüdische Gemeinschaft sowie Oppositionelle, Kurdinnen und Kurden und andere Minderheiten hierzulande dar“, hieß es in einer Mitteilung. Faeser hatte vor einer Woche im Bundestag gesagt, vor kurzem seien Betätigungsverbote für die islamistische Hamas-Bewegung und das Netzwerk Samidoun in Kraft getreten. Den deutschen Ableger von Samidoun habe sie aufgelöst. Sie fügte dann hinzu: „Wir arbeiten schon an weiteren Verboten“. Einige Innenpolitiker der Opposition hatten kritisiert, dass es bei mutmaßlichen Anhängern dieser Vereinigungen parallel zu dem Verbot keine Durchsuchungen gab. dpa
Cicero-Redaktion
Ein Verbot des Trägervereins der Blauen Moschee in Hamburg wird von vielen gefordert. Heute wurde sie zeitgleich mit anderen Einrichtungen von der Polizei durchsucht.
[ "Islam", "Moschee", "Islamverband", "Razzia", "Polizei" ]
innenpolitik
2023-11-16T12:11:14+0100
2023-11-16T12:11:14+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/islamverbande-grossrazzia-gegen-islamisten-in-sieben-bundeslandern
Am besten gedämpft - Jetzt geht‘s los: Die Muschelsaison ist eröffnet
Hurra, wir dürfen wieder Miesmuscheln essen. Denn deren Verzehr wird nur für die kältere Jahreshälfte empfohlen. Das sind alle Monate mir einen „R“ im Namen, also die Periode von September bis April. Nun ist zwar bisher noch niemand bisher auf die Idee gekommen, den Muschelverzehr in den verbleibenden Monaten zu verbieten, nicht mal die Grünen. Doch einen gewissen Sinn hat diese freiwillige Restriktion durchaus, da Miesmuscheln in den wärmeren Monaten aufgrund der Algenblüte Giftstoffe aufnehmen können. Bei den heute üblichen Zuchtmuscheln ist eine Vergiftung aber so gut wie ausgeschlossen, da diese nach dem Fang eine Zeitlang in sauberem Wasser aufbewahrt werden. Eventuell vorhandene Algengifte werden dabei ausgeschieden, und das wird auch kontrolliert. Es gibt jedoch noch einen weiteren, gesundheitlich unbedenklichen Grund, warum Muscheln in den Monaten ohne „R“ seltener verzehrt werden: Von Mai bis August haben die Meeresfrüchte Laichzeit. Das Muschelfleisch ist in diesen Monaten von minderer Qualität. In verarbeiteter oder gefrorener Form werden die Schalentiere ohnehin rund um die Uhr angeboten. Das ist durch die Bank rausgeworfenes Geld und vom wunderbaren Geschmack frisch zubereiteter Muscheln meilenweit entfernt. Zu den absurdesten Tiefkühlgerichten überhaupt gehören „Frutti di mare“, eine komplett sinnfreie Mischung aus Meeresbewohnern, die nun wirklich überhaupt nichts miteinander zu tun haben, außer dass sie mal im Meer waren. Tintenfisch meets Garnelen und Miesmuscheln, alles aufgrund des Schockgefrierens ziemlich geschmacklos und mit zweifelhafter Konsistenz. Schönen Dank auch! Natürlich stehen „Frutti die mare“ längst auf der schwarzen Liste der Geschmackspolizei. Was soll‘s. Freuen wir uns also auf die Muschelsaison. Rezepte gibt es wie Sand am Meer oder – wie Muscheln vor den Küsten. Mit Wurzelgemüse gegart („rheinische Art“), mediterran, in der Pasta oder im Risotto, überbacken, als Salat, als Suppe und so weiter. Kann man alles machen. Aber mein Muschel-Erweckungserlebnis kam – wie so häufig – aus der puristischen Abteilung. Womit ich jene Art von Zubereitungen meine, die den Eigengeschmack des jeweiligen Ausgangsproduktes zur Geltung bringen und nicht überdecken. Es war auf dem Markt in einer katalanischen Küstenstadt, nicht weit von Barcelona. Der Geruch von Knoblauch, Wein und Meeresgetier lockte uns an einen Imbiss. Er entströmte einem dampfenden Kessel, in den ein großes Sieb eingehängt war. Bestellte jemand Muscheln, wurde eine ordentliche Portion in das Sieb gefüllt, und einige Minuten später hatte man sie auf dem Teller. Dazu gab‘s Weißbrot. Es waren die leckersten Miesmuscheln, die ich bis dahin gegessen hatte. Aber das können wir natürlich auch, und es ist ganz einfach. Man braucht eine Flasche trockenen Weißwein, einen Liter Wasser, einige fein gehackte Knoblauchzehen, eine gehackte Chilischote, geriebene Zitronenschale und Meersalz. Sonst nix. Ein paar Minuten kräftig aufkochen und dann nur noch köcheln lassen. In den Topf hängt man einen Dämpfeinsatz oder ein großes Sieb. Da füllt man die zuvor etwas geputzten Muscheln rein, aber so, dass sie nicht im Sud schwimmen, sondern im Dampf garen. Sie müssen geschlossen sein, sonst sind sie möglicherweise verdorben. Deckel rauf und ein paar Minuten warten. Aber nicht zu lange, sonst wird das Muschelfleisch zäh. Wenn sich die Muscheln geöffnet und ein wenig Farbe angenommen haben, sind sie fertig. Vor dem Servieren ruhig eine Testmuschel essen, sie sollte noch weich, aber nicht mehr glibbrig sein. Dazu natürlich Weißbrot und genau den Wein, der auch für den Sud verwendet wurde. Mehr brauchen Miesmuscheln nicht, um zu einem unvergesslichen Geschmackserlebnis zu werden. Gedämpfte Miesmuscheln Zutaten für vier Personen 1 Kilo frische Miesmuscheln 1 Flasche sehr trockener Weißwein 1 Liter Wasser 4 Knoblauchzehen 1 große, scharfe  Chilischote 1 Esslöffel geriebene Zitronenschale Meersalz
Rainer Balcerowiak
Warum kompliziert, wenn es einfach viel besser ist, lautet eines der Küchendogmen von Genuss-Autor Rainer Balcerowiak. Er empfiehlt eine nahezu puristische Variante der Zubereitung von Miesmuscheln: Gedämpft, in einem würzigen Weißweinsud.
[ "Rezept", "Kulinarisches" ]
kultur
2020-09-01T12:27:23+0200
2020-09-01T12:27:23+0200
https://www.cicero.de//kultur/Muschelsaison-Miesmuscheln-Rezept-gedampft-Zubereitung-Weisswein
Tempelhofer Feld - Bigotter Kulturkampf gegen die Flüchtlingsunterkunft
Sollte die erfahrungsgemäß leider wenig belastbare Planung der zuständigen Behörden tatsächlich Realität werden, dann könnte Berlin in einigen Monaten mit einem weiteren Superlativ aufwarten. Auf dem Areal des 2008 geschlossenen Flughafens Tempelhof soll die größte Flüchtlingsunterkunft der Republik entstehen, mit bis zu 7.000 Plätzen. Außer den bereits jetzt teilweise belegten Hangars sollen dafür auch temporäre Bauten am Rand des Flugfelds genutzt werden. Neben den eigentlichen Unterkünften sind auch Anlagen zur Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge geplant, unter anderem Sportplätze, Turnhallen, eine Großküche, ein medizinischer Stützpunkt und ein Jugendklub. Es verwundert kaum, dass dieses Vorhaben heftig umstritten ist. Auf der einen Seite steht der Senat, der die intensive Nutzung der Hangars und des Vorfelds als Not- beziehungsweise Erstaufnahmeeinrichtung angesichts des großen Zustroms von Flüchtlingen als alternativlos ansieht. Im vergangenen Jahr sind rund 80.000 Flüchtlinge in der Hauptstadt eingetroffen und täglich werden es mehr. Die kurzfristigen Möglichkeiten für dezentrale Unterbringung scheinen weitgehend ausgereizt zu sein, bereits jetzt werden 60 Turnhallen genutzt, was zu erheblichen Einschränkungen des Schul- und Vereinssports und entsprechenden Protesten geführt hat. Auf der anderen Seite warnen Institutionen wie der Berliner Flüchtlingsrat vor menschenunwürdigen Zuständen in dieser Massenunterkunft, wo Flüchtlinge ohne jegliche Privatsphäre zusammengepfercht werden. Auch vor einer „Ghettobildung“ wird gewarnt, die eine Integration der Flüchtlinge verhindern würde. Diese zweifellos Ernst zu nehmenden Argumente macht sich die Initiative „100% Tempelhofer Feld“ gerne zu eigen. Sie sind willkommenes Futter für einen Kulturkampf, der die Hauptstadt seit Jahren beschäftigt. Im Oktober 2008 wurde der 1923 eröffnete Flughafen Tempelhof endgültig stillgelegt, ein Volksbegehren für die Weiterführung des Flugbetriebs war zuvor gescheitert. Auf einmal verfügte die Stadt über eine riesige Freifläche (größer als der Berliner Tiergarten oder der Central Park in New York) nebst einem zusammenhängenden Gebäudekomplex mit einer Nutzfläche von knapp 300.000 Quadratmetern. Die Idee der „Tempelhofer Freiheit“ entstand, ein Freizeit- und Erholungsareal mitten in der Stadt, gesäumt von stark verdichteten Wohngebieten. Das Angebot wurde dankbar angenommen. Das 280 Hektar umfassende Flugfeld entwickelte sich besonders im Sommer zum Eldorado für Spaziergänger, Jogger, Fahrradfahrer, Skateboarder, Kitesurfer, Hobbygärtner, Veranstalter esoterischer Workshops, grillende Familien und Drachenfreunde. Auf der anderen Seite suchten die verantwortlichen Politiker der boomenden und wachsenden Stadt dringlich nach geeigneten Flächen für dringend benötigten Wohnungsneubau, besonders im innerstädtischen Bereich. So reiften die Pläne, an den Rändern des Tempelhofer Feldes insgesamt 4.700 Wohnungen und einige Büroimmobilien zu errichten. Im Gegenzug sollten der Innenbereich des Feldes, immerhin 230 Hektar, dauerhaft von jeglicher Wohn- und Gewerbebebauung ausgeschlossen werden und als allgemein zugängliche Erholungsfläche erhalten bleiben. Dagegen machte ein äußerst heterogenes Bündnis mobil. Neben erwähnten Nutzergruppen verlangten auch Luftbrücken-sozialisierte Flughafennostalgiker, linksradikale „Gentrifizierungsgegner“, Umweltbewegte, angrenzende Kleingärtner und Politikverdrossene aller Couleur, das alles so bleibt, wie es ist und fanden Unterstützung bei den drei Berliner Oppositionsparteien (Grüne, Linke und Piraten). Beschworen wurden nicht nur freie Sichtachsen, Kaltluftschneisen und Biodiversität, sondern auch der Erhalt von Freiräumen und die vermeintlichen Pläne finsterer Grundstücksspekulanten. Die Zukunft des Flughafens wurde zu einer Art Glaubensfrage und kulminierte schließlich im Mai 2014 in einem Volksentscheid, bei dem der Gesetzentwurf der Initiative „100% Tempelhofer Feld“, der jegliche Bebauung ausschließt, eine deutliche Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielt. Das Gesetz wurde einige Monate später vom Abgeordnetenhaus verabschiedet. Dies wurde zur Initialzündung für Initiativen in allen Teilen der Stadt, die sich die Verhinderung von Wohnungsbau in „ihren“ Stadtteilen auf die Fahnen schreiben. Verwiesen wird neben den bekannten Argumenten stets auf Alternativen für den Wohnungsbau irgendwo anders, auf angebliche Leerstände und natürlich auf „gewachsene Kiezstrukturen“. Die vielen Zuzügler (Berlin verzeichnet seit einigen Jahren einen Nettozuwachs von 40.000 Menschen pro Jahr) könnten sich schließlich auch im Umland Wohnungen suchen, war ebenfalls zu hören, z.B. bei einem „Stadtteilplenum“ in Berlin-Moabit. Das klang dann schon sehr stark nach „Das Boot ist voll“. In Tempelhof schien derweil Ruhe eingekehrt zu sein, doch angesichts des Flüchtlingsstroms werden in der Stadt viele scheinbar abgeschlossene Kapitel wieder aufgemacht. Das gilt auch für die Randnutzung des Tempelhofer Feldes für eine große Sammelunterkunft für Flüchtlinge. Und prompt steht sie wieder auf der Matte, die Koalition der Besitzstandswahrer, Kiezchauvinisten und „Gegen die da oben“-Bürger. Auf Versammlungen, in Blogs und sozialen Netzwerken machen sie sich Luft. Neben berechtigten Zweifeln an derartigen Massenunterkünften stehen drei Argumentationslinien im Mittelpunkt. 1.) Wir haben nichts gegen Flüchtlinge, aber bitte nicht hier bei uns. 2.) Ein vom Volk durchgesetztes Gesetz darf niemals geändert werden, egal was passiert. 3.) Dem Senat geht es gar nicht um die Flüchtlinge, sondern nur um „Rache“ für den verlorenen Volksentscheid. Dass es angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge derzeit schlicht um die Vermeidung von Obdachlosigkeit geht, wird dabei geflissentlich ignoriert. Das Ganze zieht mittlerweile wieder stadtweite Kreise. Denn dieselbe Klientel, die jetzt gegen die Unterkünfte in Tempelhof wettert, auf „vorhandene Alternativen“ hinweist und vom Senat fordert, genügend Wohnungen auch für Flüchtlinge zu bauen, läuft sich bereits warm, um eben jene Wohnungen, die der Senat an 60 Standorten für Flüchtlinge in Modulbauweise errichten will, zu verhindern. Es sind viele Aktivisten dabei, die „Refugees welcome“- Aufkleber verbreiten und die Forderung nach „offenen Grenzen und Bleiberecht für Alle“ unterstützen. Viel bigotter geht es nicht.
Rainer Balcerowiak
Auf dem Tempelhofer Feld in Berlin soll die größte Flüchtlingsunterkunft bundesweit entstehen. Dagegen protestieren dieselben Leute, deren Gesetzentwurf gegen jegliche Bebauung 2014 den Volksentscheid gewann. Doch die Argumente der Initiative „100% Tempelhofer Feld“ sind fragwürdig
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innenpolitik
2016-02-09T16:00:55+0100
2016-02-09T16:00:55+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/kulturkampf-um-das-tempelhofer-feld-viel-bigotter-geht-es-nicht/60475
Tobias Meyer – Der Händler der Begierde
Mit 48 Jahren hatte Scipione Caffarelli-Borghese alles gesehen: Armut und Reichtum, Machtfülle und Machtlosigkeit, Gesundheit und Verfall. Einst als Kardinalnepot und Kunstmäzen Mittelpunkt der römischen Gesellschaft, wurde er nach dem Papstwechsel Zeuge seines eigenen Niedergangs. Wenn er in seine prachtvolle Villa heimkehrte, fiel sein Blick auf den fliehenden Fuß des Apollon. Das schlanke Bein des jungen Lichtgottes jagt mit aller Kraft der Daphne hinterher, die ihre Freiheit verteidigt, um unter seiner Umschlingung zum Lorbeerbaum zu werden. Dieses marmorne Meisterwerk des Barock-Großmeisters Gian Lorenzo Bernini stellte sich der machthungrige Neffe von Papst Paul V 1625 an den Treppenaufgang der heutigen Galleria Borghese in Rom. Ein paar Hundert Jahre später schwelgt ein Mann selben Alters in der Betrachtung dieser poetischen Warnung, dieser formvollendeten, ewig wahren Geschichte von Besitzbegierde und Kontrollverlust. „Das ist ein Film aus Marmor“, sagt der heute 49-jährige Tobias Meyer, unter dessen Hammer das Auktionshaus Sotheby’s fast alle spektakulären Preisrekorde des vergangenen Jahrzehnts geholt hat. Schweigend versinkt er in den Anblick der Skulptur, betrachtet den hinreißenden Raum zwischen Apollon und Daphne, destilliert die Botschaft des Werkes mit seiner sonoren Stimme. [gallery:Edvard Munchs Kultbild "Der Schrei"] Wer einmal die Spannung im siebten Stock des Auktionshauses am New Yorker East River erlebt hat, wenn der Chefauktionator mit lässiger Nachdringlichkeit den Kunstjetset zum Zahlen obszöner Preise treibt, weiß: Meyer verkauft Kunst, oft das Beste, was auf dem Markt zu haben ist. Doch in Wahrheit handelt er mit Begierde. Tobias Meyer, in Frankfurt und Wien aufgewachsen und heute einer der einflussreichsten Männer der Kunstwelt, tritt dabei mit seiner ansehnlichen Gestalt als Projektionsfläche auf. Der Sohn Hamburger Eltern spielt mit dem Zwischenraum, der auch die Figuren Berninis trennt: mit der Lust und der Gefahr, die Freiheit zu verlieren. Seine Auktionen gleichen einem öffentlichen Liebesakt. „Ich nehme den Menschen die Angst vor der Begierde“, sagt er. „Are you sure?“, quält er die Kunden mit einem feinen Lächeln und heftet seine tief liegenden Augen auf einen Bieter, während er am Rostrum lehnend den Hammer zwischen seinen Fingern dreht. Noch hat sich kein Käufer bei ihm post coitum über den saftigen Kaufpreis beschwert. „Meine Aufgabe ist, Kunst teuer zu machen“, gab er mitten in der globalen Finanzkrise zu Protokoll. Wer zu ihm kommt, weiß, dass es teuer wird. Im vergangenen November hagelte es Rekorde für Clyfford Still und Gerhard Richter, während unten auf der Straße Gewerkschafter und Occupy-Wall-Street-Anhänger so lautstark „Shame on you“ brüllten, dass es ein einmalig absurdes Konzert aus sozialen Protestrufen und 500?000-Dollarsprüngen gab. „I love this rhythm“, raunte Meyer unter dem Gelächter des Publikums cool ins Mikrofon. „It’s so smooth!“ Welches Talent in dem eleganten Deutschen steckt, erkannte der langjährige MoMA-Chef Richard E. Oldenburg sofort, als er mit Meyer 1992 ein Vorstellungsgespräch für Sotheby’s führte. „Er weiß, wie man mit dem Raum spielt und ist ungeheuer gebildet“, nickt Oldenburg anerkennend. Sein enzyklopädisches Wissen und ein nahezu fotografisches Gedächtnis helfen Meyer auch bei der diskreten Vermittlung von Privatverkäufen. So gelang es ihm etwa beim Verkauf von Jackson Pollocks Gemälde „No. 5“ den bislang nicht übertroffenen Rekordpreis von 156,8 Millionen Dollar zu erzielen. „Wer als Liebender den Freuden flüchtiger Form nachjagt, der füllt seine Hand mit Laub und erntet bittere Beeren“, meißelte Bernini in den Sockel unter Ovids Mythos. Tobias Meyer wird noch viele Jahre auf die Jagd gehen, Rekordpreise erzielen und seine eigene Kunstsammlung erweitern. Aber er weiß, dass diese Jagdfreuden kein privates Glück ersetzen. Als er spürte, dass sein langjähriger Lebenspartner Mark Fletcher trotz ihrer spektakulären Wohnung im 66. Stock des Time Warner Centers und einem Haus in Los Angeles von einem selbst entworfenen Haus auf dem Land träumte, suchten sie gemeinsam einen Architekten. Gebaut hat es einer der großen Stars. Arbeitstitel des Projekts: „Make it extreme!“ „Dieses Haus ist dein Porträt“, sagte sein Mann, als es fertig war. Es hat eine kühle Hülle aus dunklem Metall, unerwartete Sichtachsen und viele Ebenen, die einen leichten Schwindel auslösen. Ob er dort zur Ruhe kommt? „Ich glaube, ich komme nie so wirklich runter“, meint Meyer lächelnd. „Aber ich komme dort auf neue Fragen.“
Mitten in der globalen Finanzkrise sagt Sotheby's-Direktor Tobias Meyer Sätze wie "Meine Aufgabe ist, Kunst teuer zu machen". Der elegante Deutsche holte beim Auktionshaus fast alle Preisrekorde des vergangenen Jahrzehnts. Er brachte den "Schrei" unter den Hammer - und machte aus dem Bild das teuerste jemals versteigerte Kunstwerk
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kultur
2012-05-13T09:54:28+0200
2012-05-13T09:54:28+0200
https://www.cicero.de//kultur/tobias-meyer-sothebys-der-haendler-der-begierde/49259
Frauenquote im Journalismus - So kommt die Frau zum Chefsessel
Die Mehrzahl der Nachwuchsjournalisten ist weiblich. Seit fast 20 Jahren zeichnet sich dieser Trend ab. Bei allen großen Journalistenschulen bewerben sich mittlerweile mehr Frauen als Männer und vor allem besser qualifizierte Frauen. Bei der Henri-Nannen-Schule in Hamburg, eine der renommiertesten Ausbildungsstätten, zum Beispiel führte dies dazu, dass in den vergangenen zehn Jahren 79 Männer und 95 Frauen ausgebildet wurden. Doch während das weibliche Geschlecht beim Berufsstart dominiert, liefert ein Blick in die Reihen der Chefredaktionen und in die Ressortleiterrunden deutscher Medien ein ganz anderes Bild: Männer, soweit das Auge reicht. Katrin Elger, Gabi Ludwig und Christiane Florin bilden die Ausnahme. Sie leiten eine oder gleich mehrere Redaktionen, sind in den Führungsebenen angekommen. Wie ist ihnen das gelungen – und wieso bleiben so viele andere Journalistinnen auf der Strecke? Das ganze Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen, Katrin Elger lacht laut auf. Beim Wiederholen der Frage, dem Anlass für so viel Heiterkeit, zieht die 32-Jährige einzelne Silben in die Länge: „Ob ich mich mal unqualifiziert gefühlt habe oder den Eindruck hatte, dass andere das denken könnten?“ Sie schaut aus dem Fenster, blickt kurz an die Decke. „Nö. Ich bin qualifiziert, das weiß ich und das wusste ich bei einem neuen Job immer“, sagt sie. Es klingt selbstverständlich, ohne jeden Zweifel. Katrin Elger kam im Oktober 2012 als Leiterin einer neu gegründeten Redaktion zum Handelsblatt. Kurz zuvor hatte sich Gabor Steingart, Herausgeber der Wirtschaftszeitung, medienwirksam der Forderung von ProQuote angeschlossen und dem eigenen Haus einen 30 prozentigen Frauenanteil in Führungspositionen verordnet.  Gezielt hatte er nach einer Frau für den neuen Posten gesucht und die junge Journalistin vom Spiegel abgeworben. Dort arbeitete Elger vier Jahre lang im Wirtschaftsressort, war im Berliner Büro eine der wenigen Frauen. Als das Angebot der Konkurrenz kam, zögerte sie nicht lang: „Das war ein spannendes Projekt und zugleich ein Aufstieg.“ Ein Aufstieg, den sie bei ihrem alten Arbeitgeber wohl in der Form nicht gehabt hätte. „Beim Spiegel will man Frauen schon sehr lange in Führungspositionen bringen, besonders erfolgreich war man bisher aber noch nicht“, sagt Elger. Das Impressum offenbart: Mehr als Stellvertreterposten erreichen Frauen bislang nicht. Jedes Medienhaus hat seine eigene Philosophie, sein eigenes Konzept zur Frauenförderung.  Die einen halten an den bestehenden Strukturen fest, die anderen setzen auf Veränderung, auf ganz bewusste Förderung. Sie brechen die sogenannte gläserne Decke allmählich auf. Dieist ein komplizierter Schutzmechanismus, eine dicke Schicht, die Chefs eingezogen haben, um unter ihresgleichen zu bleiben. Dreifach abgeriegelt gilt sie ohne fremde Hilfe als kaum „kaum überwindbar“, meint der Soziologe Carsten Wippermann. Die gläserne Decke trennt das Oben vom Unten, die Führungsebene eines Unternehmens von der normalen Belegschaft und sie hält Frauen aus männlich dominierten Kreisen fern. Seit Jahren bekräftigen Unternehmen, Frauen fördern zu wollen, sie in die Chefredaktionen zu holen – ohne, dass sich etwas ändert. „Ein typisches Muster“, ist Carsten Wippermann überzeugt. Der Professor aus München hat 500 Manager per Fragebogen interviewt und anschließend mit 30 von ihnen anonyme Tiefeninterviews geführt. Drei Typen hat er dabei ausfindig gemacht, drei Muster, wieso Frauen keine Chefs werden. Der Konservative will Frauen einfach nicht in seinen Kreisen haben - zu fremd, zu anders sind sie ihm. Der Emanzipierte hält Kolleginnen zwar für qualifiziert, glaubt aber, sie könnten den harten Machtritualen nicht standhalten. Den dritten Typus bezeichnet Wippermanns Studie als „radikal individuell“, er kann sich zwar Frauen in leitender Position vorstellen, nur gibt es aus seiner Sicht nicht genug qualifizierte – und den wenigen fehlen Authentizität und Flexibilität. Nächste Seite: „Ich wollte nie Chef sein.“ „Im Zusammenwirken dieser Mentalitätsmuster haben Frauen fast keine Chance“, sagt Carsten Wippermann. Erschwerend kommt eine Art Handicap hinzu: „Die Mehrheit der Frauen bewirbt sich auf einen Job erst, wenn sie absolut sicher ist, dass sie die Anforderungen erfüllt.“ Gesunde Selbstzweifel, könnte man meinen, doch sie führten oft dazu, dass Männer rascher ihren Hut in den Ring werfen. Gabi Ludwig zweifelt aus Überzeugung. „Anfangs hat man mir das als Schwäche ausgelegt“, sagt die WDR-Chefredakteurin. Ihre Chefs waren damals polternd, verließen sich eher auf den eigenen Bauch als auf Experten. Deshalb hatten sie oft schneller eine Meinung zur Hand. „Ich höre mir erst alle Argumente an und rede mit Mitarbeitern.“Bis heute arbeite sie so, sagt die 50-Jährige. Irgendwann hörten die Kollegen auf, ihr mangelnde Entscheidungsfreude vorzuwerfen. Sie merkten, dass Ludwigs Beschlüsse von den Mitarbeitern stärker getragen wurden und vielleicht auch, dass sie oft Recht behielt. Ihre Karriere wirkt aus heutiger Sicht wie am Reißbrett entworfen. Nacheinander hat sie die öffentlich-rechtlichen Entscheidungsstrukturen durchschritten. Volontariat, kurzer Ausflug zum ZDF, Aufbau eines Lokalstudios in Wuppertal, Programmleitung, Aufstieg in die Chefredaktion und seit sechs Jahren Chefredakteurin, zuständig für die Landesprogramme des Senders. Beworben hat sich Ludwig auf keine der Stellen, einen Karriereplan gab es ebenso wenig - immer wurde sie gefragt. Fast kokett klingt es, wenn sie sagt: „Ich wollte nie Chef sein.“ Als sie 2006 trotzdem Chefredakteurin wurde, erklärte der WDR ihre Beförderung zum „Erfolg der Gleichstellungsoffensive.“ Darauf angesprochen verdreht Ludwig die Augen. Es klingt, als sei sie die Quotenfrau. Nach kurzem Zögern nickt Ludwig, so ganz falsch sei das nicht. Zumindest ihren ersten Führungsposten, die Leitung eines Studios im Bergischen Land, bekam sie, weil man bewusst eine qualifizierte junge Frau suchte. „Beim WDR gab es schon früh den Willen, Frauen zu fördern“, sagt Ludwig. Bei dem Sprung in die Hierarchien hat man ihr geholfen. Alles weitere, daran will die Journalistin keinen Zweifel aufkommen lassen, hat sie selbst geregelt. Nicht weil sie eine Frau ist, hat sie es so weit geschafft, „sondern weil ich kompetent bin.“ Ihr Sender, der WDR, hat den von ProQuote geforderten Frauenanteil längst erreicht. So ganz versteht Ludwig die Debatte auch nicht. „Entweder man will Gleichberechtigung oder nicht.“ Es sei eine einfache Entscheidung. „Aber sie muss in der Führungsebene eines Unternehmen getroffen werden. Von allein passiert nichts“, sagt Gabi Ludwig. Christiane Florin, Chefin der Zeit-Beilage Christ & Welt, kann sich ziemlich genau an die Zeit der männlichen Alleinherrschaft  in ihrer Redaktion erinnern. Als manche der männlichen Kollegen noch überzeugt waren, Frauen könnten keine Leitartikel schreiben. „Wenn ich als Volontärin beim Rheinischen Merkur ans Telefon gegangen bin, fragten die älteren Herren, die anriefen, fast immer nach einem Redakteur, nach einem Mann“, erzählt sie. Man hielt die junge Journalistin für die Sekretärin. Eine Frau an der Spitze der konservativen Wochenzeitung? „Es war immer klar, dass das ein Mann macht“, sagt Christiane Florin. Nächste Seite: Gabor Steingart und Giovanni di Lorenzo - die „spät Bekehrten“ Die 44-Jährige sitzt leicht zurück gelehnt in ihrem Büro in Bonn-Gronau, hat die Beine übereinander geschlagen. „Bei konservativen Vätern sind es oft erst die eigenen Töchter, die ein Umdenken herbeiführen“, meint sie. Diese jungen Frauen sind hochqualifiziert und haben den Willen zum Aufstieg, genau wie die Kolleginnen der Väter. „Das sensibilisiert“, sagt Florin. Ihr damaliger Chefredakteur Michael Rutz bot ihr den Posten der Feuilleton-Chefin an. Als erste Frau bei der kirchlichen Wochenzeitung wurde sie Ressortleiterin. 2010 erschien die letzte Ausgabe des Rheinischen Merkurs. Zu teuer war er den Besitzern, einigen katholischen Bistümern, geworden. Als Beilage in der Zeit sollte das Blatt weiterleben. Diesmal war es Giovanni di Lorenzo, Chef der Hamburger Wochenzeitung, der Christiane Florin die Leitung der Redaktion übertrug. Sie ist seitdem das Gesicht des Mediums, tritt im Presseclub auf und wird zur Papstwahl befragt. Ihre Redaktion sitzt zwar weiterhin in der alten Bundeshauptstadt, trotzdem zählt sie zu den Führungskräften des Hamburger Verlags und damit zu den 30 Prozent. Ähnlich wie Handelsblatt-Mann Gabor Steingart gehört Giovanni di Lorenzo zu den „spät Bekehrten“, wie der Verein ProQuote sie nannte. Beide führten in ihren Häusern einen weiblichen Mindestanteil für Führungspositionen ein. Zwar schwang in den Erklärungen immer noch die Sorge vor „positiver Diskriminierung“ mit, doch offenbar wog die Unzufriedenheit der vielen Journalistinnen mehr. 300 von ihnen hatten vor genau einem Jahr einen offenen Brief verfasst, der sich an Verlage und Rundfunkanstalten richtete. Nur zwei Prozent aller deutschen Tageszeitungen würden von einer Frau geleitet, führte ProQuote an. Auch wenn in der Rechnung alle Posten vom Chefredakteur bis zum stellvertretenden Ressortleiter berücksichtigt werden, bleiben die Anteile weiblicher Führungskräfte überschaubar. Besonders gering sind sie bei Süddeutscher Zeitung und FAZ mit 9 Prozent, sowie der Stuttgarter Zeitung mit 4,8 Prozent. „Es ist derzeit eine populäre Formel, einen kulturellen Wandel in den Unternehmen zu fordern“, sagt Soziologe Carsten Wippermann. Vereinzelte Chefs ändern ihre Personalpolitik, fangen an Kolleginnen bewusst zu fördern. „Es bleibt aber meistens bei Ausnahmen“, sagt er.Katrin Elger, Gabi Ludwig und Christiane Florin sind solche Ausnahmen. Sie haben Talent und Können, sie beherrschen ihren Job. Doch ganz ohne die Hilfe eines Mannes wären sie nicht auf ihrem jetzigen Posten.  Es gab einen männlichen Chef, der sie zur Führungsebene hochzog, ihnen da half, wo die Karriere der meisten Frauen ansonsten endet. Die Quote ist eine Art Brechstange. Sie hebelt die gläserne Decke auf, sie zwingt zur Veränderung.  Nur mit einem solchen „kraftvollen Anstoß“, meint Carsten Wippermann, könnte die Decke zerspringen. Nur so kann frische Luft in die Chefetagen gelangen.
Timo Steppat
An profilierten Journalistinnen mangelt es nicht, trotzdem sind fast alle Führungsposten in den Medien mit Männern besetzt. Drei Frauen berichten, wie sie es in der Branche trotzdem ganz nach oben geschafft haben.
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innenpolitik
2013-03-19T13:40:22+0100
2013-03-19T13:40:22+0100
https://www.cicero.de//innenpolitik/journalismus-frauenquote-so-kommt-die-frau-zum-chefsessel/53903
Barack Obama – Der ungeliebte Präsident
Dieses Interview ist eine Kostprobe aus der Dezember-Ausgabe des CICERO mit dem Schwerpunkt Familie. Jetzt am Kiosk - oder hier zum Bestellen im Shop. Die triumphierende E-Mail von Barack Obamas Wahlkampfteam an seine Unterstützer kam in der Nacht zum 4. November an, dem dritten Jahrestag seines Wahlsiegs von 2008. Die Betreffzeile „Erinnert ihr euch noch an Grant Park?“ weckte Erinnerungen an einen mitreißenden Wahlabend in Downtown Chicago, Erinnerungen an den unerwarteten Wahlerfolg eines jungen, idealistischen und eloquenten Schwarzen, der Amerika einen „Wandel, an den wir glauben können“, versprach. Dieser Abend war sicherlich ein Höhepunkt. In einer brillanten und inspirierenden Rede, die weltweit übertragen und seitdem unzählige Male wiederholt wurde, appellierte der damals über alle Maßen beliebte und frisch gewählte Präsident an die Menschenmassen, die sich am Ufer des Lake Michigan versammelt hatten: „Dieser Sieg allein ist noch nicht der Wandel, den wir anstreben. Er ist nur unsere Chance, diesen Wandel herbeizuführen. Das kann nicht geschehen, wenn wir zu dem zurückkehren, wie die Dinge waren. Das kann nicht ohne euch geschehen, ohne einen neuen Geist der Leistungs- und Opferbereitschaft. Während wir heute Abend feiern, wissen wir, dass die Herausforderungen, denen wir morgen gegenüberstehen, die größten unseres Lebens sein werden. Der Weg, der vor uns liegt, ist lang, der Aufstieg wird steil sein, wir werden es nicht in einem Jahr schaffen, vielleicht nicht einmal in einer Legislaturperiode. Aber Amerika, meine Hoffnung, dass wir es schaffen werden, war nie größer als heute Abend. Ich verspreche euch, wir als Volk werden es schaffen … aber es gibt noch so viel zu tun.“ Die aktuelle E-Mail-Kampagne lässt eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten aufkommen, eine Sehnsucht, die umso schmerzlicher ist, weil sich der Optimismus von damals kaum mehr herstellen lässt. Denn nach diesem Höhepunkt in Chicago ging es im Grunde nur noch bergab. Barack Obama ist isoliert und nicht in der Lage, seine Gesetzesvorhaben ohne größte Einschnitte durch den Kongress zu bekommen. Seinen Handlungsmöglichkeiten sind durch einen verheerenden nationalen und globalen wirtschaftlichen Abschwung Grenzen gesetzt; international muss er sich mit nahezu unlösbaren Problemen herumschlagen. Ein Jahr vor der Präsidentenwahl 2012 ist Obama der seit Jimmy Carter unbeliebteste Präsident. Inzwischen wird er gar mit dem ehemaligen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow verglichen, der im Ausland beliebter war als zu Hause. Einige derselben Menschen, die Obama einst so erfolgreich für seinen Wahlerfolg mobilisiert hatte, werfen ihm heute vor, nur noch eine billige Kopie seines verhassten Vorgängers George W. Bush zu sein. Die USA befinden sich in einer politischen und sozialen Krise, die sich immer weiter zuspitzt: Die Armen werden ärmer und immer mehr, die Reichen werden immer reicher und weniger. Weil die Arbeit im Kongress fast komplett gelähmt ist, findet ein Großteil der Debatte über die Zukunft des Landes nicht in den Korridoren der Macht, sondern im Umfeld der Proteste statt, die von der „Occupy-Wall-Street“-Bewegung inspiriert werden. Während seines Wahlkampfs 2008 mokierte sich Obama sehr elegant über die „Dinge, wie sie einst waren“, zu denen man nicht zurückkehren könne. Heute erscheinen sie als geradezu erstrebenswert. Wie konnte es so weit kommen? ­Obama war ein brillanter Präsidentschaftskandidat, der seinem republikanischen Gegner John McCain problemlos die Show stahl. Als „Praktiker“ jedoch zeigte er gleich nach seiner Wahl erstaunliche Schwächen. Die wichtigen Posten in seiner Regierung besetzte er langsamer als die meisten anderen seiner Vorgänger – nicht zuletzt, weil er zu glauben schien, dass er die wichtigen Dinge selbst regeln könne, statt sich mit einem starken Unterstützerteam zu umgeben. Zuweilen – wie im Fall seines hochmütigen Versprechens, das Militärgefängnis Guantánamo zu schließen – entzog er jenen die Unterstützung, die er selbst ernannt hatte. An Ratschlägen, die seine einmal getroffene Meinung infrage stellen, ist Obama nicht besonders interessiert; selbst dann nicht, wenn sie von engen Beratern stammen. Bereits zu Beginn seiner Amtszeit hat er viel Zeit auf den letztendlich erfolglosen Versuch verwandt, Unterstützung auch aus den Reihen der republikanischen Minderheit im Kongress zu gewinnen, anstatt auf die Stärke und Einheit der damals noch gefestigten demokratischen Mehrheit im Senat und im Repräsentantenhaus zu setzen. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Obama in der Außenpolitik völlig verloren wirkt. Obama scheint seine Überzeugungskraft bei der Opposition überschätzt zu haben. Diese wiederum interpretierte seine Avancen als Zeichen von Schwäche, die sie nutzen konnte: Bei den Zwischenwahlen im Jahr 2010 gewann sie die Mehrheit im Kongress und schwächte auch im Senat die demokratische Mehrheit empfindlich. Für jemanden, der Senator in Illinois und, wenn auch kurz, einer der beiden Senatoren des Staates in Washington war, schien er wenig zu wissen, wie man Gesetzesvorlagen entwickelt und auch durchbringt. Erst konnte er die Steuersenkungen für die reichsten Amerikaner, die sein Vorgänger George W. Bush durchgepaukt hatte, nicht rückgängig machen. Und dann ließ er auch noch zu, dass dieses Thema kurz vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr wieder aktuell wurde. Im unnötigen Kampf um die Anhebung der nationalen Schuldenobergrenze ging er viel zu früh einen zu großen Kompromiss ein. Wohl konnte er eine umfassende (wenn auch entschärfte) Gesundheitsreform durch den Kongress bringen, die schlussendlich dazu führen wird, dass jeder Bürger eine Krankenversicherung haben muss. Dafür aber kämpfen die Bundesstaaten vehement gegen „Obamacare“, und der Oberste Gerichtshof könnte die Reform bis zum nächsten Sommer bereits für verfassungswidrig erklären – lange bevor ein Großteil des Gesetzes überhaupt in Kraft getreten ist. Zu anderen wichtigen Themen, die das Land beschäftigen – wie Immigration und Geburtenkontrolle – hat der Präsident hingegen kaum einmal eindeutig Stellung genommen. Das Vakuum, das dieser Mangel an nationaler Führung hervorruft, ermöglicht nun eine ultrakonservative und extrem repressive Gesetzgebung in den Bundesstaaten. In der Außenpolitik wirkt Obama völlig verloren, besonders im Vergleich mit seiner einstigen demokratischen Widersacherin, Außenministerin Hillary Clinton. Er mag den Rückzug der US-Truppen aus dem Irak für das Ende des Jahres angekündigt haben; in Afghanistan jedoch, dem inzwischen längsten amerikanischen Krieg aller Zeiten, ist kein Ende in Sicht. Dort kann er sich nicht aus dem Dschungel der Zusagen befreien, die sein Amtsvorgänger George W. Bush gemacht hat. Im Nahen Osten hat er durch seinen anfänglichen harschen Ton im Umgang mit Israels Premier Benjamin Netanjahu die Israelis und amerikanische Juden befremdet. Jetzt sieht es so aus, als habe er Angst vor einer Konfrontation mit Netanjahu. In den Diskussionen über eine Lösung der Eurokrise während des G-20-Treffens in Cannes blieb er eine Randfigur, obwohl er die größte Volkswirtschaft der Welt vertrat. Obamas Auftritt in Cannes war eine Verkörperung der Tatsache, dass die USA an Einfluss verlieren. Ohne Frage: Obamas persönlicher Charme wirkt noch immer, besonders wenn er den Kontakt mit den Menschen auf der Straße sucht. 52 Prozent der Amerikaner sind laut Umfragen nicht mit seiner Arbeit als Präsident zufrieden. Aber 78 Prozent sind der Meinung, dass er ein „netter Kerl“ sei. Gleichzeitig kann er auch gefühlskalt wirken: Auf Naturkatastrophen reagiert er – wie auch George W. Bush – viel zu langsam. Anstatt sich wie ein emotionsloser Seminarleiter zu benehmen, sollte er sich ein Beispiel an Bill Clintons Herzenswärme nehmen. Unter den Angehörigen der zwischen 1981 und 2000 geborenen „Millenium Generation“, die 2008 noch die Kerngruppe seiner Unterstützer bildeten, ist es denn auch eher Bill Clinton, nach dem man sich zurücksehnt; und für die „Baby Boomer“ der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen gelten ebenfalls Clinton und Ronald Reagan als Vorbilder. Keine der beiden Gruppierungen zeigt übermäßige Sympathien für Obama. Lesen Sie auf der dritten Seite, wie die Schwarzen von Obama denken. Schwarze Amerikaner und Angehörige anderer Minderheiten halten (wenig überraschend) mehr von Obama als die Öffentlichkeit im Allgemeinen, und manche fragen sich, ob die härteste Kritik an ihm nicht einen rassistischen Hintergrund hat. Aber selbst hier wird spekuliert, ob er sich auf die Loyalität dieser Wählergruppe bei der Wahl im kommenden Jahr in dem Maße verlassen kann, wie es 2008 der Fall war. Als Martin Luther King Jr. 1968 erschossen wurde, war Barack Obama erst sechs Jahre alt. Er ist nie ganz als Teil der schwarzen politischen Bewegung akzeptiert worden, deren Mitglieder oft erst im Gefängnis saßen oder einen hohen Preis gezahlt haben, bevor sie auch nur annähernd an der politischen Macht teilhaben konnten. Obama wird in der Tat häufig dafür kritisiert, dass er der fortwährenden Ungleichbehandlung von Menschen mit anderer Hautfarbe und Herkunft wenig Aufmerksamkeit schenkt, und dass er es nicht schafft, sich für die Belange der Armen einzusetzen. (Auch wenn er in seinen Reden gerne die „Fatcats“ von der Wall Street angreift, zeigen aktuelle Statistiken, dass sich der Finanzsektor in seiner Amtszeit gut entwickelt hat – manche Firmen haben in den zweieinhalb Jahren unter Obama so viel verdient wie in der ganzen achtjährigen Amtszeit von George W. Bush.) All dem zum Trotz gibt es in seiner eigenen Partei niemanden, der ihn herausfordert. Vielleicht sind Obamas stärkste Verbündete in diesem Wahlkampf die republikanischen Kandidaten, die eine traditionelle Unart der Demokraten übernommen haben: Sie zerfleischen sich während ihres Vorwahlkampfs gegenseitig. Diese Kandidatengruppe ist nichts anderes als ein zusammengewürfelter Haufen, dem Vertreter des rechten Flügels, Tea-Party-Aktivisten und Leute angehören, die offensichtlich gerade nichts Besseres zu tun haben, als sich für das Präsidentenamt zu bewerben. Manchen, wie Michele Bachmann, der Kongressabgeordneten aus Minnesota, und dem texanischen Gouverneur Rick Perry, ist relativ schnell die Luft ausgegangen. Zeitweilig sah es so aus, als wäre Herman Cain, ein Afroamerikaner, mitreißender Redner und ehemaliger Chef eines Pizza-Imperiums, der künftige Star der Republikaner. Aber Cains völlig unverständliches Konzept für eine Steuerreform und die Tatsache, dass ehemalige Mitarbeiterinnen ihn der sexuellen Belästigung bezichtigen, haben seine Aussicht enorm geschwächt. Natürlich käme es Obama gelegen, wenn er gegen einen solchermaßen angeschlagenen Gegner anzutreten hätte. Im Moment aber sieht es so aus, als würde Mitt Romney, ehemaliger Gouverneur von Massachusetts, sein Herausforderer. Romney, der sich als Mormone ständig mit religiösen Vorurteilen auseinandersetzen muss, sieht immerhin deutlich ansprechender aus als die meisten seiner republikanischen Mitbewerber. Ihm wird allerdings nur begrenztes Vertrauen entgegengebracht, da er häufig seine Positionen ändert, um dem extrem konservativen Flügel seiner Partei zu gefallen. (Und das, obwohl jeder weiß, dass er in seiner Zeit als Gouverneur eines progressiven Bundesstaats eine „liberale“ Politik unterstützt hat.) Beobachter glauben, dass ein Wahlkampf zwischen Obama und Romney „brutal“ würde – auf jeden Fall würde das Rennen sehr viel knapper ausgehen als zwischen Obama und John ­McCain. Rhetorische Finesse mag dabei eine weniger wichtige und entscheidende Rolle spielen als harte Arbeit in den politischen Schützengräben, um sicherzugehen, dass die Gesetzgebung in von den Republikanern dominierten Staaten den traditionell den Demokraten zugeneigten Angehörigen der Arbeiterklasse die Lust nimmt, überhaupt zu wählen. Während die Aufmerksamkeit der Medien anderswo ist, haben Obamas Leute Hunderte, vielleicht Tausende kleine, lokale Veranstaltungen im ganzen Land abgehalten, um seine zögerlichen Stammwähler davon zu überzeugen, wieder für ihn zu stimmen. Einige hohe Hürden bleiben zu überwinden: Selbst jene, die Sympathien für Obama hegen, fragen sich, ob er wirklich das Zeug hat für eine zweite Legislaturperiode. Er muss einen Weg finden, die vernünftigen Forderungen der „Occupy-Wall-Street“-Bewegung aufzugreifen, ohne von deren radikaleren Elementen beschädigt zu werden. Und er muss auf die Anliegen von Umweltschutzgruppen eingehen, die verstärkt gegen einige Projekte zur Energiegewinnung protestieren (unter anderem eine neue Pipeline aus Kanada, über deren Zukunft der Präsident jüngst die Entscheidung vertagt hat). Obama ist ein Politiker, der versucht hat, in jedem Bereich einen Kompromiss zu finden. Im Wahljahr muss er eine skeptische Öffentlichkeit davon überzeugen, dass er Teil der Lösung ist, nicht des Problems. Sanford J. Ungar hat den Sender „Voice of America“ geleitet. Heute ist er Präsident des Goucher College in Baltimore, Maryland Übersetzung: Katharina Kehl
Er trat an, um den großen Wandel zu organisieren. Mittlerweile ist Barack Obama der unbeliebteste Präsident seit Jimmy Carter. Wie konnte das passieren? Und wie stehen Obamas Chancen vor der Präsidentschaftswahl 2012 wirklich? Ein Porträt
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außenpolitik
2011-11-25T15:59:26+0100
2011-11-25T15:59:26+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/der-ungeliebte-praesident/46637
Merkel, ESM und Fiskalpakt – Der Kaiserin neue Kleider
Die Geschichte von Merkel und dem EU-Krisengipfel, die lässt sich erzählen wie die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern. In dem Märchen von Hans-Christian Andersen lässt sich der Kaiser, stets süchtig nach neuer Robe, ein ganz wundersames Gewand nähen. Die Weber, die keine waren, erzählten ihm, dass die Kleider für jeden unsichtbar seien, der entweder nicht für sein Amt tauge oder unverzeihlich dumm sei. Der Kaiser fiel auf diesen Trick herein und ließ sich die scheinbar prächtigen Gewänder anlegen. Tatsächlich war er – nackt. Merkel, die als wichtigste Krisenmanagerin Europas gilt, erging es auf dem Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Brüssel kaum anders. Sie kam eigentlich dick mit Forderungen angezogen – bepanzert, könnte man sagen – nach Brüssel. Die kalte Kanzlerin hatte sich warm angezogen: Keine Zugeständnisse bei der Euro-Rettung, das war ihre Devise. Instrumente wie Eurobonds, Euro-Bills, Schuldentilgungsfonds, Vergemeinschaftung von Schulden – alles Teufelszeug, so hatte sie es noch am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung dargestellt. Und schon gar kein Geld an Banken, unkonditioniert. Ihr Credo lautete „Konsolidierung und Wachstum“ – Sparbemühungen, ergänzt um einen Wachstumspakt. In der Nacht in Brüssel ging es hoch her – und irgendwie vermochten es Spanien und Italien, diplomatisch am Kanzlerinnenkorsett zu zerren. Plötzlich machten sie ihr Ja zum Wachstumspakt von Bedingungen abhängig. Der italienische Regierungschef Mario Monti und sein spanischer Kollege Mariano Rajoy wollten noch einmal über ihre Forderungen sprechen. „Erpressung“, sollen viele Diplomaten geschimpft haben. Es grenzt geradezu an Absurdität, dass die Kanzlerin nun ausgerechnet mit dem Wachstumspakt erpresst werden sollte, den sie selbst so nie wollte. Es waren Frankreichs sozialistischer Staatspräsident François Hollande sowie die heimische SPD, die der CDU-Politikerin diese Maßnahme aufgenötigt hatten. Auch dieser Schachzug war bereits ein kleines Erpressungsspiel, Pardon, ein diplomatischer Kompromiss gewesen. Die SPD hatte ihr Ja zum Fiskalpakt im Bundestag von diesem wolkigen Wachstumspakt abhängig gemacht. Um im Bild zu bleiben, hatte man Merkel zunächst die Taschen geleert, bevor man ihr nun in Brüssel die Hosen auszog. Zugleich nähte man ihr ein Gewand, das sie sehr teuer bezahlen sollte, und versicherte ihr, sie sähe darin noch viel prächtiger aus. Merkel als Kompromisskanzlerin, als Krisenmanagerin. Denn Monti und Rajoy setzten nach 15 Stunden Verhandlungen einen leichteren Zugang zu den europäischen Rettungsgeldern durch. Strenge Anpassungsprogramme wie in Griechenland sind erstens künftig nicht mehr nötig, wenn angeschlagene Eurostaaten Mittel aus dem Fonds haben wollen. Zweitens soll es erstmals direkte Bankenhilfen geben. Marode Banken können sich also direkt aus dem ESM frisches Geld holen, ohne Gläubigerbeteiligung. Dadurch soll vermieden werden, dass die Staatsschulden der Krisenländer weiter in die Höhe schießen, wenn sie ihre Banken stützen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Deutschland haftet über den ESM nun auch für Banken, von denen sicher einige die Krise erst ausgelöst hatten. In einem dapd-Interview hielt das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut es für fragwürdig, Rettungsgelder an die Privatwirtschaft zu zahlen. „Das ist gewissermaßen ein Weg durch die Hintertür zur Vergemeinschaftung von Schulden“, sagte Währungsexperte Henning Völpel. Die Vergemeinschaftung von Schulden – wir erinnern uns – hatte Merkel erst drei Tage zuvor strikt abgelehnt. Das alles soll drittens von einer besseren Euro-Aufsicht überwacht werden, die bei der Europäischen Zentralbank (EZB) angesiedelt ist. Der dortige Chef ist übrigens auch ein Italiener – Mario Draghi. Wenig überraschend begrüßte er am Rande des Gipfels die Möglichkeit einer Banken-Rekapitalisierung. Die deutsche Kreditwirtschaft zeigte sich von dem Vorschlag, die Bankenaufsicht bei der EZB anzusiedeln, dagegen entsetzt. „Damit wird die Unabhängigkeit der EZB untergraben“, sagte Stephan Rabe, Pressesprecher des Bundesverbands Öffentlicher Banken Deutschlands, Cicero Online. „Diese Aufgabe hat mit ihrem ursprünglichen Auftrag nichts zu tun.“ Obendrein müsste die Aufseherfunktion dann ausgerechnet von der Bank, die angeschlagenen Staaten bereits mit rund einer Billion Euro zur Seite sprang (von denen Deutschland mit 400 Milliarden Euro haftet), erfüllt werden. Langfristig sollen all diese Pläne in einer Banken- und Fiskalunion münden. Kurz gesagt: Angela Merkel hatte sich den Sparkurs im Fiskalpakt mit dem Wachstumspakt erkauft, den sie wiederum nur über eine Aufweichung der Sparvorgaben an anderer Stelle erhielt. Das neue Gewand, das man ihr anlegte, ist mit leerer Nadel gewebt. Weder wird es die Krise lösen noch bringt es die wichtige und notwendige politische Union wesentlich voran. Man einigte sich zwar auf diesen Punkt, vertagte ihn aber auf Oktober. Die Brüsseler Zugeständnisse zeigen: Die deutsche Kanzlerin ist in Europa mittlerweile isoliert. Splitternackt steht sie auf dem europäischen Parkett. Seite 2: Alle Auflagen an ein Land, künftig nur noch Papiertiger? Doch so wie Andersens Kaiser lief Merkel umso stolzer und selbstbewusster ob ihres neuen prächtigen – und eigentlich unsichtbaren – Gewandes umher. Die Beschlüsse des Europarates entsprächen „vollkommen unserem bisherigen Schema“, verlautbarte sie am Freitagmorgen. Im Märchen trugen die Kammerherren des Kaisers die Schleppe, die gar nicht da war, umher. Im Eurokrisen-Spektakel tat es der Hofberichterstatter gleich: Regierungssprecher Steffen Seibert twitterte, Merkel sei ihrer „Philosophie treu geblieben – Leistung, Gegenleistung, Konditionalität, Kontrolle“. Und alle standen und schauten und nickten, denn Merkel trug ja herrliche Beschlüsse mit nach Hause. Auch die Presse applaudierte. Hier und da wurde ihr Handeln sogar als ausgesprochen kluger Schachzug verkauft. Es sei überfällig gewesen, Monti einen innenpolitischen Erfolg einzuräumen, der sich im kommenden Frühjahr einer Parlamentswahlkampf stellen muss. Zunächst äußerten sich nur die üblichen Eurokritiker. Diese EU-Ratsbeschlüsse führten zur „Schuldenunion“, klagte Klaus-Peter Willsch (CDU). „Das Kind ist noch nicht auf der Welt, da wird schon über die Schönheitsoperation gesprochen. Dabei wird das Kind nicht unbedingt schöner.“ Die Linke stimmte gesschlossen gegen ESM und Fiskalpakt. War es bei Andersen ein Kind, so war es bei den Gipfelbeschlüssen ein Querulant mit Sparkassen-Ausbildung, der schließlich offen mit dem Finger auf das Spektakel zeigte. „Wie bitte? Konditionen? Italien hat durchgesetzt, dass es Cash ohne Konditionen gibt. Das wird stilbildend werden für alle“, twitterte der SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider. Eine „krachende Niederlage für Merkel“ sei das, eine „180-Grad-Wende“ der Bundesregierung. Alle Auflagen an ein Land seien künftig „nur noch Papiertiger“. Schneider setzte eine Sondersitzung des Haushaltsausschusses durch – fast wäre sogar auch die Plenarsitzung des Deutschen Bundestags ausgefallen. Auch dort trug Merkel am Abend dann ihr neues, unsichtbares Gewand zur Schau. Brüssel, das sei ein „guter, vernünftiger Beschluss“ gewesen, der aber zu „sehr vielen Missverständnissen“ geführt habe. Die Finanzhilfen für Banken seien auch in Zukunft an harte Bedingungen gebunden, ergänzte Merkel. Doch sie forderte auch mehr parlamentarische Mitspracherechte (hatte ihr nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht auf die Finger geklopft): Für jeden weiteren Schritt brauche es künftig eine Abstimmung des Bundestages. Damit hatte Merkel die EU-Gipfelbeschlüsse geschickt von den Gesetzesvorlagen zum ESM und dem Fiskalpakt getrennt. Der Bundestag nahm das Gesetzespaket mit Zweidrittelmehrheit, mit 491 Ja- und 111Nein-Stimmen an. Und schon, nachdem der letzte Abgeordnete sein Stimmzettelchen in die Urne geworfen hatte, war das Votum eigentlich obsolet geworden. Über die Beschlüsse auf dem EU-Gipfel entscheidet das Parlament wohl erst in einer Woche. Außerdem wird sich das Bundesverfassungsgericht mit den Gesetzentwürfen befassen, gegen die mehr als 15.000 Bürger, der Verein Mehr Demokratie e.V. und die Ex-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin eine Klage einreichen. Dieser schlossen sich auch die FDP-Politiker Burkhard Hirsch und Frank Schäffler an. Und so kommt es, dass Merkel auch weiterhin ihr Nackedei-Kleidchen wird tragen müssen. So, wie der entblößte Kaiser sich vorm Volk, kaum, dass jenes den Trick durchschaut hatte, verlachen und verspotten lassen musste, so wird auch Merkel immer wieder vor den Volksvertretern ihre Runde drehen müssen. Vielleicht bekommt so der Begriff Transparenz eine ganz neue Bedeutung.
Auf dem EU-Gipfel in Brüssel warf Merkel erst viele ihrer Überzeugungen zur Eurorettung über Bord. Die Beschlüsse, die sie dann als ihre eigenen verkaufte, waren aber gar nicht Gegenstand der Bundestagsdebatte. ESM und Fiskalpakt sind zwar verabschiedet – aber jetzt schon wertlos. Ein Märchen nach Hans-Christian Andersen
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innenpolitik
2012-06-29T19:28:58+0200
2012-06-29T19:28:58+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/der-kaiserin-neue-kleider/49879
Menschenrechtler Koenigs: - „Rote Karte für Russland und Katar“
Der lauter werdenden Kritik an der WM-Vergabe für Russland und Katar hat sich der Menschenrechtsbeauftragte der Grünen-Fraktion, Tom Koenigs, angeschlossen. Die Rote Karte für beide Parteien sei wichtig, um Menschenrechtsverletzungen nicht länger mit ansehen zu müssen, „aber auch, um nicht zusätzlich noch welche zu provozieren“, sagte das Unicef-Vorstandsmitglied dem Magazin Cicero. Momentan wisse niemand so recht, wie sich die Situation in beiden Ländern entwickeln werde. Bei den Olympischen Spielen im russischen Sotschi habe man etwa beobachten können, wie Rechte beim Bau von Stadien oder das Umsiedeln von Anwohnern verletzt wurden. „Das ist nicht zumutbar und schon gar nicht akzeptabel“, betonte Koenigs, der zuvor auch UN-Sonderbeauftragter in Afghanistan war. „Wir müssen sicherstellen, dass das nicht mehr vorkommt.“ Tom Koenigs sieht die Präsidenten von Fifa und Uefa direkt in der Verantwortung: „Wenn ich könnte, würde ich Josef Blatter und Michel Platini deshalb raten, ganz scharfe Bedingungen an die Gastgeberländer zu stellen.“ Anschließend müsse man „das Beste daraus machen“. Wenn auch Sie der Fifa die Rote Karte zeigen möchten, schreiben Sie uns unter [email protected]. Die Redaktion behält sich eine Veröffentlichung vor. Die Zitate wurden aufgezeichnet von Sarah-Maria Deckert. Die Stellungnahmen der Cicero-Elf und die Geschichte hinter dem Fifa-Korruptionsskandal lesen Sie in der Oktober-Ausgabe des Cicero. Die digitale Ausgabe des Magazins für politische Kultur erhalten Sie ab sofort bei iTunes (iPad-App) oder im Online-Kiosk. Das gedruckte Heft erhalten Sie am Kiosk.
Cicero-Redaktion
Auch der Unicef-Vorstand Tom Koenigs zeigt der Fifa die Rote Karte. Den Verband fordert er auf, für die Weltmeisterschaften in Russland 2018 und Katar 2022 noch „ganz scharfe Bedingungen zu stellen“
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innenpolitik
2014-10-01T12:27:28+0200
2014-10-01T12:27:28+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/gruener-menschenrechtsbeauftragter-rote-karte-fuer-russland-und-katar/58286
Chaos im Weißen Haus - Hahnenkämpfe auf dem Misthaufen
John Kelly, der neue Stabschef des US-Präsidenten Donald Trump, ist ein ehemaliger Vier-Sterne-General mit langjähriger Erfahrung im Irak. Er weiß also, wie man mit einer Regierung umgehen muss, die aus einer wilden Mischung sich gegenseitig bekämpfender Fraktionen und schwer durchschaubaren Allianzen besteht. Eine solche Chaostruppe regiert aber zurzeit das mächtigste Land der Welt. Vielleicht zum ersten Mal hat Donald Trump mit Kelly den richtigen Mann für einen Job gefunden. Anthony Scaramucci war es sicher nicht. Zehn Tage nur war Scaramucci als Kommunikationschef im Amt, und doch reichte die Zeit, sich einen ewigen Platz in der Geschichte der USA zu ergattern. Keinen ruhmreichen. Der ehemalige Banker von der Wall Street kam wie ein Bulldozer ins Weiße Haus und fegte den Pressesprecher Sean Spicer und Kellys Vorgänger Reince Priebus hinaus. Alles, davon muss man ausgehen, auf ausdrücklichen Wunsch des Präsidenten. Unvergesslich bleibt aber vor allem der Anruf bei Ryan Lizza, dem erfahrenen Washington Korrespondenten des Magazins New Yorker. Scaramucci wollte Lizza dazu bringen, seine Quellen zu verraten, damit die zahlreichen Lecks des Weißen Hauses gestopft werden könnten. Als sich Lizza wenig überraschend weigerte, legte Scaramucci los: „Ich werde sie alle feuern, das gesamte Team“, sagte er Lizza. Warum er glaubte, dass das Schicksal von Mitarbeiten des Weißen Hauses einen Reporter schrecken sollte, wird sein Geheimnis bleiben. Aber Scaramucci machte einfach weiter. „Weißt du, was ich am liebsten tun werde? Ich würde alle Leaker verfickt noch mal töten. Damit wir die Agenda des Präsidenten wieder in die richtige Bahn bringen.“ Genug Obszönitäten? Nicht für Scaramucci: „Ich bin nicht Steve Bannon (Anm. der Red.: der Berater des Präsidenten). Ich versuche nicht, meinen eigenen Schwanz zu lutschen.“ Reince Preibus nannte er einen „paranoiden Schizophrenen dessen Ziel es gewesen wäre, ihn, Scaramucci, im Zaum zu halten. Das ist eine harmlose Übersetzung. Im Original klang das so: „Reince is a fucking paranoid schizophrenic, a paranoiac“, der sich gesagt hätte „let me leak the fucking thing and see if I can cock-block these people the way I cock-blocked Scaramucci for six months’’. Zur Erklärung: Weil Scaramucci im Wahlkampf viel Geld für Trump eintreiben konnte, hatte dieser ihm einen Job in der Regierung versprochen. Aber Priebus hatte das bisher verhindert. Nun wäre das alles nicht an die Öffentlichkeit gelangt und Scaramucci wohl im Amt geblieben, hätte er noch einen Satz mehr gesagt: „Off the record.“ An die mit diesen Worten getroffene Vereinbarung, das Gesagte nicht zu veröffentlichen, halten sich Journalisten in der Regel, da sie andernfalls in der gesamten Branche als nicht mehr vertrauenswürdig gelten würden. Ein elementarer Bestandteil der Politikberichterstattung, der dem Kommunikationschef des mächtigsten Landes der Welt offenbar nicht bekannt war. Doch entscheidend ist nicht die Inkompetenz Scarmuccis, sondern die Tatsache, dass Donald Trump ihn als hervorragend geeignet für das Amt gehalten hat. Überraschend ist das jedoch nicht. Denn, wie unzählige Tonbandaufnahmen, Interviews und Reden gezeigt haben, ist auch Trumps Sprache von Obszönität und Verachtung geprägt. Welcher vorherige Präsident hätte vor den ehrwürdigen Pfadfindern von Amerika eine mit solch politischer Galle angefüllte Rede abgeben können, dass die es danach für nötig hielten, sich bei jedem zu entschuldigen, der sich davon beleidigt fühlte? Außerdem scheint Trump Scaramucci vor allem deshalb eingestellt zu haben, um diejenigen Leute im Weißen Haus kalt zu stellen, die für seine Wahl mitentscheidend waren, aber nun, da er Präsident geworden ist, seinen Interessen und denen seiner Familie entgegenstehen. Das sind vor allem Steve Bannon, der als Chef der rechtslastigen Webseite breitbart.com kontinuierlich für Trump trommelte, und Reince Priebus, das Bindeglied zu den klassischen Republikanern. In der Regierung galten sie vor allem als Gegenspieler der Trump Tochter Ivanka und ihrem Ehemann Jared Kushner. Der 36-jährige Kushner, der bisher in New York mit mittelmäßigem Erfolg als Makler tätig war, ist unter Trump unter anderem für die Diplomatie mit China zuständig, soll das Justizsystem reformieren und den Nahost-Konflikt lösen. Wenn's weiter nichts ist. So verdeutlicht die kurze Scaramucci-Episode vor allem, wo der Fokus des Präsidenten liegt: bei sich und seiner Familie und deren Weiterleben im bekanntesten Haus der Welt. Alles andere – eine vernünftige Gesundheitspolitik; eine rationale Klimapolitik; eine Außenpolitik, die über militärische Machtdemonstrationen hinausgeht – steht hintenan. Und so mag die Ernennung des Ex-Generals Kelly ein richtiger Schritt sein, um den Hühnerstall im Weißen Haus, voll von politischen und persönlichen Konflikten, in den Griff zu bekommen. Und auch, dass ein Gockel wie Scaramucci vom Hof gejagt wurde, könnte vorerst für mehr Ruhe sorgen. Der oberste Hahn aber sitzt weiter oben auf dem von ihm selbst angerichteten Misthaufen. Und kräht.
Constantin Wißmann
Nur zehn Tage lang konnte sich Anthony Scaramucci als Kommunikationschef im Weißen Haus halten. Die kurze Episode verdeutlicht die chaotischen Zustände unter Donald Trump. Und sie zeigt, wo die wahren Interessen des Präsidenten liegen
[ "Donald Trump", "Anthony Scaramucci", "John Kelly", "Jared Kushner", "Weißes Haus", "USA" ]
außenpolitik
2017-08-01T14:06:29+0200
2017-08-01T14:06:29+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/chaos-im-weissen-haus-hahnenkaempfe-auf-dem-misthaufen
Meyers Blick auf... - ...das islamistische Attentat in Frankreich | Cicero Online
Frank A. Meyer
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video
https://www.cicero.de//aussenpolitik/meyers-blick-attentat-frankreich-samuel-paty-islamist
Bundesparteitag – Piraten suchen ihren Weg in die analoge Welt
„Wo geht’s denn hier zu den Piraten?“ Der Weißhaarige hat sich auf dem Parkplatz zwischen den Backsteinblöcken verlaufen. Hier, in den Holstenhallen in Neumünster, halten die Piraten an diesem Wochenende ihren Bundesparteitag ab. Der 54-Jährige hat auch seinen Sohn mitgebracht – und gesteht, dass er sich von ihm als Mitglied habe werben lassen, wegen des „neuen Politikstils“. Es ist ihr erster Parteitag. So, wie die beiden über den Parkplatz irren, so sucht auch die Netzpartei noch ihren Weg in die analoge Welt. Irgendwie sind sie ja auch schon angekommen, in der Realpolitik: Nach ihren Erfolgen in Berlin und im Saarland sehen Umfragen die Piraten auch in zwei weitere Landtage einziehen – Schleswig-Holstein am 6. Mai und Nordrhein-Westfalen bei den Neuwahlen am 13. Mai. Die Partei hat bald vier Landtage, über 150 Kommunalmandate, 27.000 Mitglieder – aber noch null Ahnung, wie die sich effizient organisieren soll. Äußerlich gibt man sich bei Vorstandswahlen sehr bürokratisch. Alles ist geregelt, Geschäftsordnungspunkte, Satzungsänderungsanträge, viele zusammengesetzte Wörter. Sogar die Toilettenfrage: Wegen des ungleichen Geschlechterverhältnisses dürfen die Männer bei den Frauen aufs Klo gehen. Das hat eine Arbeitsgemeinschaft zur Gleichstellung beschlossen. Aber wie löst man die wirklich wichtigen Fragen, die mit den Vorständen zusammenhängen? Wie wird der Streit zwischen Parteiführung und Fraktion gelöst? Wie sollen sich die Spitzenleute zu tagesaktuellen Fragen verhalten? Wie verwaltet man eine Organisation so groß wie eine Mercedes-Fabrik? Als das Wahlergebnis verkündet wird, erheben sich die 1.500 Piraten in der Holstenhalle. Bernd Schlömer, der bisherige stellvertretende Vorsitzende, wird neuer Parteichef der Piraten. 66,6 Prozent Zustimmung, stehende Ovationen. [gallery:Die Piratenpartei. Ein Landgang auf Bewährung] „Jetzt wird es 3.000 Prozent besser, mindestens.“ Christopher Lauer, Berliner Piraten-Abgeordneter in braun-kariertem Anzug, ist die Erleichterung anzusehen. Julia Schramm, die eigentlich selbst für den Spitzenposten kandidiert hatte, twittert, Schlömer sei „die richtige Wahl“. Auch der Berliner Fraktionschef Andreas Baum zeigt sich zufrieden. Zuvor tobte zwischen der Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und dem Parteivorstand ein regelrechter Kleinkrieg. Der Ex-Vorsitzende Sebastian Nerz, 29, hatte sich in einem persönlichen Brief über das brutale Mobbing beklagt. Der Fraktionschef reagierte gereizt, stellte das Schreiben ins Internet. Nerz war blamiert. Er wurde beschimpft und beleidigt, geriet in eine digitale Empörungswelle. Schlömer, 41, gilt als ruhiger. Viele Piraten hoffen nun, dass er mehr Beständigkeit in die Partei einbringt, vielleicht Lebenserfahrung. Wenngleich Piraten das mit der Kontinuität nicht ganz so wichtig nehmen: Ein Antrag, die Amtszeit des Vorstandes von einem auf zwei Jahre zu verlängern, scheitert. Zu den älteren Aufsteigern gehört neben Schlömer auch der nordrhein-westfälische Spitzenkandidat Joachim Paul. Auch der 54-jährige ist seinem Sohn in die Partei gefolgt. Seit Saarland sind rund 5.000 neue Mitglieder hinzugekommen, viele von ihnen sind älter als 40. „Die Menschen fragen uns, ob sie einen Internetanschluss brauchen, um bei uns mitzumachen“, erzählt Heiko Schulze, Generalsekretär der Piratenpartei Schleswig-Holstein. „Was natürlich schwierig ist, wenn sie kein E-Mail haben.“ Die Alten als junge Früchtchen, als politische Avantgarde, das hat es so auch noch nie gegeben. Die Piratenpartei, dieses neue politische Gemüse, erlebt einen ungebremsten Wachstumsschub wie manch stark zerrende Pflanze im Gartenbeet. Der Pflanzkörper und die Früchte wuchern schneller, als die Wurzeln nachwachsen können. Manche würden sagen: Wenn sie nicht gestutzt oder gestützt wird, droht sie das Gleichgewicht zu verlieren. Ein Bundestagsabgeordneter der etablierten Parteien formuliert es kürzlich so: „Entweder, die Piraten werden Teil des Systems, oder sie verschwinden.“ Der Berliner Fraktionsgeschäftsführer Martin Delius – der den Aufstieg der Piraten mit der NSDAP verglichen hatte und deswegen seine Kandidatur für den Parteivorstand zurückziehen musste – sieht das anders. Vielmehr würden die Piraten „das System“ verändern, es von „Hinterzimmer-Politik und mangelnder Transparenz“ befreien. Weil sie schon jetzt zu viele sind, erlegen sich die Piraten zu Beginn des Parteitags erstmals Hürden für die Vorstandswahlen auf. So muss jeder Bewerber 20 Unterstützerunterschriften sammeln, und die Fragen für das sogenannte „Kandidatengrillen“ werden gelost. Sonst wäre das straffe Programm kaum in zwei Tagen zu schaffen. Allein, das reicht noch nicht. „Wenn sie langfristig erfolgreich sein wollen, steht eine Professionalisierung dringend an“, sagt der Göttinger Piraten-Experte Alexander Hensel. „Aber sie haben bisher noch ein hohes Vertrauen in die Selbstorganisation.“ Was in Neumünster tatsächlich beim Thema Rechtsextremismus funktioniert. Mit überwältigender Mehrheit verabschieden die Piraten eine Erklärung gegen die Leugnung und Relativierung des Holocaust. Er sei „unbestreitbar Teil der Geschichte“. Unter den Vorstandskandidaten ist auch Dietmar Moews, der im Vorfeld des Parteitags das „Weltjudentum“ in einem YouTube-Video kritisiert hatte. Als er spricht, verlassen Hunderte Piraten den Raum, die rote „Nein“-Stimmkarte in der Hand. Einer hält einen weißen Zettel vor die Kamera. #keinfußbreit steht da, drunter ein Pfeil nach rechts. Es ist eine Anspielung auf die parteiinterne Anti-Nazi-Kampagne. Der Boykott läuft sehr gesittet ab, man marschiert schweigend. Und er funktioniert. Moews erhält gerade mal 0,9 Prozent der Stimmen. Kann sich das Piraten-Pflänzchen also von selbst stützen? Schützen gegen rechten Befall, ja. Aber was ist mit den täglichen Politikanforderungen, an denen es zerbrechen könnte? Während Nerz, der am späten Abend auf den Stellvertreterposten (73 Prozent) gewählt wird, von der Basis befragt wird, erklärt er, warum sich ein Vorstand nicht politisch äußern sollte. „Derzeit haben wir noch kein System, wie verbindlich Beschlüsse zwischen den Parteitagen herbeigeführt werden könnten.“ Jörg Nickel, der den Piratenparteitag für die Grünen beobachtet, schüttelt den Kopf. Damit seien die Piraten politisch „nicht handlungsfähig“, sagt der netzpolitische Sprecher der Fraktion im Landtag von Schleswig-Holstein. „Man wählt doch einen Vorstand, damit er die eigenen Positionen vertritt, auch bei tagesaktuellen Fragen.“ Die Grünen hätten diese Evolution durchgemacht. „Das steht den Piraten noch bevor. Sie werden da weniger transparenter werden.“ Nickel hält es aber dennoch für unsinnig, die Piraten mit den Grünen zu vergleichen. „Die versprechen, dass es Schokolade regnet, stellen dann aber alles unter Finanzierungsvorbehalt“, schimpft er und ergänzt: „Politik sollte keine Fragen stellen, sondern Antworten geben.“ Einige Piraten, die bereits Parteiämter oder Mandate innehatten, haben Antworten, zumindest, was die Organisation betrifft. Bislang können sie sich aber nicht gegen den Schwarm durchsetzen. Delius sagt: „Eine solch große Gruppe braucht eine bezahlte Verwaltung.“ Das sieht auch der Berliner Parteichef Hartmut Semken so: Für Buchhaltung und IT seien professionelle Kräfte nötig, da „die Freiwilligen an ihre Grenzen kommen“. Das musste etwa Marina Weisband erleben. Die politische Geschäftsführerin hatte angekündigt, sich aus „gesundheitlichen Gründen“ aus dem Vorstand zurückzuziehen – und gab in den vergangenen Wahlkampfwochen dennoch Vollgas. Bis es nicht mehr ging: Vor einer Talkshow mit Maybrit Illner brach sie zusammen, kam ins Krankenhaus. In einem Interview gestand sie einmal: „Durch den Erfolg der Piraten musste ich zuletzt 80 bis 90 anstatt 30 Stunden pro Woche arbeiten.“ Weisband, die zum Auftakt des Parteitags den Piraten „einen geilen Vorstand“ wünscht, entschuldigt sich später noch, nicht alles geschafft zu haben. Die repräsentativen Aufgaben hätten seit Oktober überhandgenommen. Der frühere Piratenchef Jens Seipenbusch hätte gern dabei geholfen, so etwas in Zukunft zu verhindern. Er schlug einen Beirat vor, „um den Vorstand personell und arbeitstechnisch zu entlasten“. Martin Haase, der in der parteieigenen Abstimmungssoftware „Liquid Feedback“ als Superdelegierter unterwegs ist, hielt dagegen. Ein Beirat sei nur „ein weiteres Parteiorgan“, sagte der mächtige Basispirat. Der Antrag wurde abgelehnt. Was macht das eigentlich mit Menschen, denen die Partei Meinungsäußerungen erschwert und sie permanenten Shitstorms aussetzt? Julia Schramm hat Wochen vor dem Parteitag jeglichen Fernsehauftritt abgesagt. Interviews gab sie nicht, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Der neue Parteichef wurde kurz vor seiner Wahl gefragt, ob er Auslandseinsätze deutscher Soldaten befürworte. Schlömer, der selbst im Verteidigungsministerium arbeitet, beantwortete diese Frage „positiv“. Er ergänzte: „Wenn die Piraten sagen, sie sind gegen Bundeswehreinsätze, dann vertrete ich das natürlich.“ In anderen Parteien würde man das wahrscheinlich „opportun“ nennen. Vielleicht ist das mit der Systemwerdung doch nicht so abwegig.
Die Piraten werden älter, gesitteter und opportuner. Auf dem Bundesparteitag gelingt ihnen zudem ein wichtiger Schlag gegen rechts. Sind das Anzeichen dafür, dass nicht sie das System verändern, sondern das System sie?
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innenpolitik
2012-04-29T08:06:56+0200
2012-04-29T08:06:56+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/piraten-suchen-ihren-weg-die-analoge-welt/49123
Instrumentenbauer - Wir brauchen Bass!
Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Wer Geigenbauer sagt, denkt Stradivari, aber wer ist der Meister für Kontrabässe? „Gerade deshalb liebe ich es, sie zu bauen“, sagt Björn Stoll. „Ich habe viel mehr Freiheit, bin mit meinen Modellen nicht an eine Form gekettet und muss nicht versuchen, einen bestimmten Klang zu kopieren.“ Wobei Letzteres ohnehin nicht gehe, meint Stoll. Jedes Stück Holz sei nun mal anders, Standort, Wuchs und Dichte verliehen selbst gleichen Holzarten verschiedene Eigenschaften. Deshalb könne auch der Klang zweier von ihm geschaffener Bässe zwar ähnlich, aber nie identisch sein. An vier Instrumenten bauen Stoll und seine zwei Mitarbeiter gerade, sie schleifen, feilen, sägen und schnitzen. Dicht unter der Decke der kleinen Hinterhofwerkstatt liegen Böden, Deckel und halbfertige Bassrümpfe, an den Wänden hängen Stechbeitel, Ziehklingen und Hobel in jeder Größe oder vielmehr Winzigkeit. Selbst daumenkleine Hobel führen sie mit einer Virtuosität über das Holz wie Bassisten im Konzertsaal den Bogen über ihr Instrument. Grobe, duftende Späne türmen sich am Boden, Maschinen gibt es keine, mal abgesehen von einem Bohrer und der Wärmplatte, auf der zwei Töpfe mit Knochenleim stehen. Der durch Auskochen tierischer Abfälle gewonnene Kleber lässt das Schwingungsverhalten des Holzes unverändert.Kein Schild weist auf Stolls Werkstatt hin, draußen an der Straße in Erlbach im tiefsten Südwestsachsen. „Meine Kunden finden mich auch so, häufig über Empfehlungen anderer Musiker“, sagt der 41-Jährige. Viele reisen extra aus dem Ausland an. So war es schon einmal hier im Vogtland. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Produkte aus dem „Musikwinkel“ 80 Prozent Marktanteil weltweit, die Gegend zählte zu einer der reichsten Deutschlands, und die USA unterhielten hier ein eigenes Generalkonsulat. Unter dem etwas bemühten Titel „Musicon Valley“ versucht die Region heute daran anzuknüpfen. Die Kombinate aus DDR-Zeiten sind verschwunden, stattdessen produzieren nun wieder Hunderte Familienbetriebe die Instrumente; gleich um die Ecke von Stoll gibt es zwei Geigen-, einen Gitarren- und einen Schallstückmacher für Blechbläser. Viele verkaufen den Großteil ihrer Produktion ins Ausland, Stoll selbst vor allem in die USA und nach Asien, wo Kunden auf europäische Handarbeit schwören. Sieben seiner Bässe gingen allein im vergangenen Jahr nach Japan. Nur Verbesserungsvorschläge erhält er auf seinen Reisen nach Tokio oder Yokohama selten. „Die Ehrfurcht vor unserer Arbeit ist dort riesengroß, manchmal fast zu groß“, sagt Stoll. Stoll hat erst vor knapp 20 Jahren begonnen, Instrumente zu fertigen, sich aber schnell einen hervorragenden Ruf erworben. Seine Vorfahren stellten bereits Anfang des 19. Jahrhunderts Saiten her, und sein Vater baute nicht nur im volkseigenen Betrieb, sondern auch nach Feierabend daheim Celli und Bässe, die er dann ungarischen Musikern mitgab, die sie nach Konzertreisen im Westen verkauften. „Ich kenne meinen Vater praktisch nur in der Werkstatt“, sagt Stoll. Er erwarb nach seiner Lehre auch noch den Meisterbrief und eröffnete kurze Zeit später seine eigene Werkstatt für Bässe und Celli. Seit vielen Jahren konzentriert sich Stoll jetzt aber schon auf das Geschäft mit Kontrabässen, entwickelt eigene Modelle, experimentiert viel mit Material, Lack und Design. Seine Geigenbauer-Kollegen bezeichnen ihn gern als „Möbeltischler“, weil man viel Kraft braucht, um aus massivem Holz einen Bassboden herauszuschälen. Der ist wie der Hals aus Ahorn, der Deckel besteht aus Fichte und das Griffbrett aus Ebenholz, rabenschwarz und extrem hart, damit sich die Saiten nicht ins Holz graben. Zwischen zehn und 30 Instrumente baut Stoll im Jahr. Gut 140 Arbeitsstunden stecken in einem Standardbass. Die Wartezeit beträgt drei Monate, der Preis 5000 Euro. Rund 18 000 Euro kostet die Exklusiv-Version. „Vor allem wohlhabende Chinesen verlangen High-End, immer das Teuerste“, sagt Stoll. Neulich habe ihn ein Kunde aus China begeistert angerufen und berichtet, er schlafe nachts neben seinem Bass. Reich wird Stoll als Bassbauer nicht. Wenn er Geld übrig hat, investiert er in Holz. Gute Ware ist knapp und teuer, Bassbauer brauchen große, alte Baumstämme, derzeit bekommt er die in Bosnien und Rumänien. Aber um Reichtum geht es Stoll in seinem Beruf auch nicht. Am schönsten findet er immer wieder, zum ersten Mal den Klang eines fertigen Basses zu hören. „Wenn ich dann merke, er ist mir richtig gut gelungen, das ist für mich Selbstverwirklichung.“ Stefan Locke lebt als freier Journalist in Dresden.
Stefan Locke
Björn Stolls Unstrumente aus dem „Musicon Valley” sind weltweit gefragt
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wirtschaft
2013-05-27T10:39:04+0200
2013-05-27T10:39:04+0200
https://www.cicero.de//wirtschaft/wir-brauchen-bass/54492
Neugestaltung des Berliner Olympiastadions - Sollten wir dann auch noch die Autobahnen beseitigen?
Der ehemalige Berliner Senator für Stadtentwicklung Peter Strieder (SPD) hat unlängst dafür plädiert, das unter den Nazis erbaute Olympiastadion-Gelände in Berlin kräftig umzugestalten: Die Nazi-Kunst gehöre beseitigt, das Maifeld samt Führertribüne abgeräumt und Straßen wie Gebäude umbenannt. Und vor allem sollten keine unnötigen Steuergelder mehr in den Erhalt dieses „Nazigeländes“ fließen. Und warum? Weil der Wind sich gedreht habe, wie man schließlich an den Morden von Halle und Hanau sowie den Wahlerfolgen der AfD ablesen könne. Was das mit dem Olympiastadion zu tun hat? Ganz einfach: „Der Geist des Rechtsextremismus und Nationalismus - wie er sich auf dem gesamten Olympiagelände manifestiert - ist fruchtbar noch!“ Dieses Argument ist freilich haltlos. Die Bedeutung, die in Stein gehauene Propaganda für eine Gesellschaft entfalten kann, wurzelt nicht in ihrem mineralischen Material, sondern in der Bedeutung, die Staatsbürger diesen Artefakten zuschreiben. Nicht die bloße Existenz dieser Zeitzeugen, sondern ihr Umgang mit ihnen entscheidet über die Wirkungen oder Nicht-Wirkungen der Schatten unserer Vergangenheit. Und zu dieser notwendigen Erinnerungskultur einer Gesellschaft leistet der Denkmalschutz einen unverzichtbaren Beitrag. Aber Strieders Vorschlag ist aus ganz anderen Gründen bemerkenswert. Zunächst hat bisher wohl selten jemand so offen bekannt, dass er zugunsten einer politischen Mission den Denkmalschutz am liebsten gleich ganz abschaffen würde, jedenfalls wenn es um „Nazi-Bauten“ geht. Die Experten sollen künftig schweigen und stattdessen die Politik entscheiden. Warum? Weil in Berlin sogar „mit Unterstützung des Denkmalschutzes die Propaganda der Nazis fortgesetzt“ werde. Die bodenlose Frechheit gegenüber den Denkmalschützern, die in dieser Behauptung schlummert, ist dabei nicht einmal das eigentliche Problem. Das wirkliche Problem ist, dass Strieder offenbar gar nicht merkt, wie er sich in seinem Eifer dem Gegner in einem Akt „mimetischer Rivalität“ (René Girard) ungewollt anverwandelt. Jedes totalitäre Regime zielt darauf ab, den öffentlichen Raum symbolisch zu beherrschen und die Kunst im weitesten Sinne ihrer Doktrin Untertan zu machen. Sie wird zu einem bloßen Moment der Herrschaftssicherung degradiert. Strieder will diese grundsätzliche Logik mit seinen Vorschlägen gar nicht verlassen, sondern den Spieß einfach umdrehen. Während die Nationalsozialisten Kunst und Architektur für ihre Weltanschauung instrumentalisierten, soll der Staat dies nun umgekehrt gegen die Nazis und ihre Hinterlassenschaften betreiben. Aber das glatte Gegenteil des Falschen ist nicht immer unbedingt das Richtige. Und es ist im Übrigen eine ziemliche Unmöglichkeit. Wofür hier plädiert wird, ist der aussichtslose Ausstieg aus der Geschichte. Denkt man ihn konsequent zu Ende, müssten wir Deutschen uns endlich zu einem radikalen Bruch bekennen, nämlich die Hinterlassenschaften der Nazis in einem kathartischen Kraftakt dem Erdboden gleichmachen - Gedenkstätten wie Konzentrationslager vielleicht ausgenommen. Aber was hätten wir da nicht alles zu beseitigen: Autobahnen, den 1. Mai als arbeitsfreien Feiertag, die Kilometer-Pauschale, das Ehegatten-Splitting (wobei sich ausgerechnet darüber aus anderen Gründen natürlich reden ließe), das Heilpraktikergesetz, die Verbesserungen des Mutterschutzes, den Bau von bis heute bewohnten, ehemaligen Werkswohnungen der Rüstungsindustrie und und und … Die Gegenwart hat es nun einmal an sich, dass sie im Wesentlichen geronnene Geschichte ist, modifiziert durch die Erwartungen und Ansprüche der jeweiligen Zeitgenossenschaft. Der Geschichte entfliehen zu wollen, ist folglich eine metaphysische Unmöglichkeit. Selbst in der radikalsten Ablehnung bleibt man auf sie, vielleicht sogar manisch, bezogen und durch sie beeinflusst. Die Aufgabe des Denkmalschutzes besteht darin, für die Geschichte eines Landes bedeutsame Bauten und Kulturgüter zu bewahren. Dabei geht es nicht um Heldenverehrung und die Errichtung einer „Straße der Gutmenschen“, sondern um die Pflege unseres kollektiven Gedächtnisses. So wie echte Kunst nur unter den Bedingungen der Freiheit und nicht ihrer politischen Instrumentalisierung gedeihen kann, hat der Denkmalschutz die Aufgabe, die historisch bedeutsamsten Hervorbringungen jedweder Art vor ihrem Verschwinden zu bewahren. Und es gehört nun einmal zum Schicksal der Menschheit, dass sie zu „Großtaten“ ganz verschiedener Güte in der Lage ist. Die Bewahrung und ggf. auch veränderte Wiederaneignung der Zeugnisse vergangener Schreckensepochen soll in diesem Sinne ständige Mahnung an die Gegenwart sein. Man möge sich einmal vorstellen, wie unsere Städte aussähen, wenn wir Entscheidungen des Denkmalschutzes nicht mehr in fachkundige Hände legten, sondern der durchaus volatilen und nicht immer von Sachgründen getriebenen Politik überließen. Nach jeder Wahl fegten neue politische Mehrheiten über den öffentlichen Raum hinweg, um ihn symbolisch zu reinigen, mit partikularer Deutungsmacht zu überfluten und auf diese Weise letztlich zu erobern. Der Denkmalschutz verkäme unter diesen Bedingungen zu einem Kampfplatz der Parteipolitik - und mit ihr letztlich die Freiheit der Kunst.
Mathias Brodkorb
Forderungen wie die von Peter Strieder, das Gelände des von den Nazis erbauten Olympiastadions aus politischen Gründen umzubauen, sind nicht nur eine Frechheit gegenüber Denkmalschützern. Es ist auch ein unmögliches Vorhaben, das dem der Nazis ungewollt ähnelt.
[ "Nationalsozialismus", "Nazis", "Olympiastadion", "Geschichte" ]
kultur
2020-05-22T16:50:47+0200
2020-05-22T16:50:47+0200
https://www.cicero.de//kultur/neugestaltung-berliner-olympiastadion-autobahnen-nationalsozialismus-geschichte-denkmalschutz
Der Kampf um Suhrkamp – Keine Absurditäten mehr ausgeschlossen
Eine feinere, klügere und philologisch besser ausgebildete publizistische Literaturkritik als in Deutschland gibt es nicht – sehen wir von Frankreich, Großbritannien und den wenigen Feuilleton-Nischen der USA ab. Mehr neue Bücher pro Kopf der Bevölkerung – rund 90.000 Exemplare jedes Jahr – gibt es wahrscheinlich nirgendwo. Von der 120-jährigen Tradition der Buchpreisbindung, den Vorteilen der Teilwertabschreibung oder der halbierten Mehrwertsteuer im Buchhandel ist in den tausendfachen Rezensionen der Zeitungen kaum die Rede. Dass es sich um einen wichtigen Wirtschaftszweig handelt, in dem eigene Gesetze gelten, interessiert die Kulturkritik nur am Rande. Für Leser und Kritiker sind Deutschlands Bücher wie das Wetter: Sie sind immer da. Aber jetzt ziehen Gewitterwolken über dem Verlagsbuchhandel auf. Denn in Wirklichkeit geht es dem Verlagsgewerbe immer schlechter. Der Umsatz sinkt seit Jahren. Buchhandlungen schließen. Der Handels-Leviathan „amazon“, e-Books und der Info-Müll des Internets zeigen erste Wirkung. Und jetzt soll sich der nationale publizistische Literaturbetrieb, so schwer es auch fällt, mit den Feinheiten des Gesellschafterrechts beschäftigen. Denn am 10. Dezember hat der Berliner Richter Hartmut Gieritz die Geschäftsführung des Suhrkamp-Verlags, an der Spitze die Witwe Siegfried Unselds, Ulla Unseld-Berkéwicz (immerhin mit 61 Prozent der Anteile im Besitz der Gesellschafts-Mehrheit) entlassen. Geklagt hatte der Hamburger Minderheitsgesellschafter im Suhrkamp Verlag, Hans Barlach (39 Prozent). Auf einen Vergleich wollte er sich nicht einlassen. Die Verlegerin hatte ihre private Berliner Villa zum Teil umgewidmet in eine literarische Begegnungsstätte (die inzwischen regelmäßig hunderte Gäste anlockt) und einige Räume mitsamt Einrichtung dem Verlag mit Euro 6000 im Monat in Rechnung gestellt, ohne Herrn Barlach zu fragen. Wären es nur 4000 Euro gewesen, hätte der Mitgesellschafter keinen rechtlichen Klagegrund besessen. Sie war, in einem Wort, juristisch schlecht beraten. Richter Gieritz verdonnerte die Geschäftsführung zur Rückzahlung von 282.486,40 Euro an den Verlag. Anders gesagt: Die Besitzerin des Suhrkamp-Verlags muss der Besitzerin des Suhrkamp-Verlags Geld von ihrem Privatkonto überweisen, wovon dann 39 Prozent Hans Barlach als Mitgesellschafter im Verlagssaldo zustehen. Unter allen Besonderheiten des Urteils ist dies aber die geringste. Zwar amtiert Ulla Unseld-Berkéwicz bis zur Rechtskräftigkeit des Urteils weiter, doch bereits im Februar nächsten Jahres droht die völlige Zerschlagung des Verlags – auf Begehr des Miteigentümers Hans Barlach. Der Investor, Enkel des Bildhauers Ernst Barlach, klagt vor dem Frankfurter Landgericht auf Liquidation des Traditionshauses. Über 100 Mitarbeiter säßen dann womöglich auf der Straße. Auch diese Möglichkeit räumt das Gesellschafterrecht einem Teilhaber ein, so er denn beweisen kann, dass die Verlegerin den Renditeerwartungen Barlachs nachweislich nicht nachkommen will. Zum Beispiel indem sie sich weigert, eine neue Rosamunde-Pilcher-Welle im Buchhandel in Gang zu setzen. Diesen Willen zu beweisen, wird dem Möchtegern-Verleger allerdings schwerfallen. Und dass ein Gericht dem Kohlhaas’schen Antrag Barlachs folgt, seine eigene Gesellschaft aufzulösen – nun, auch diese Absurdität ist nicht auszuschließen. Nächste Seite: Hans Barlach will Kohle machen Hans Barlach, in einem Wort, will Kohle machen. Er hält sich auch für einen besseren Verleger, nicht ahnend, dass zwischen satten Deckungsbeiträgen kraft Massenware und literarischer Qualität ein himmelhochweiter Unterschied existiert. Mehr noch, er nennt bekannte Verlegernamen, die er als Nachfolger von Ulla Unseld-Berkéwicz sieht. Keinen einzigen von ihnen hat er gefragt. Sie sind empört. Und kein einziger wäre so dumm, seinem Ruf zu folgen. Der Mann ist beleidigt, gekränkt, verärgert und einfach wütend – ein Racheengel mit einer Heerschar von Anwälten im Rücken. Seitdem er vor sechs Jahren die Anteile des stillen Gesellschafters neben Siegfried Unseld, der in der Schweiz ansässigen „Medienholding AG Winterthur“ übernommen hatte – in Höhe von geschätzt acht Millionen Euro – stieß er offenbar auf den eisernen Willen der Mehrheits-Erbin Berkéwicz, das Haus im Stil ihres Mannes zu führen: Eigenwillig und zugleich loyal gegenüber den Hausautoren, ob sie Peter Handke oder Durs Grünbein hießen. Einige von ihnen, wie zum Beispiel Martin Walser, hatten sich abgewandt – womöglich, weil sie sich selbst als Witwen fühlten. Ihr bisweilen herber Umgang mit dem Miterben, Joachim Unseld (der schließlich seine 20 Prozent-Anteile an Barlach und Berkéwicz zu je zehn Prozent verkaufte), aber auch mit älteren Mitarbeitern, ließ einen eigenen Macht- und Gestaltungswillen erkennen – der allerdings nicht unbegründet war: Das Haus hatte es sich auf seinen Lorbeeren der 60er bis 80er Jahre bequem gemacht. Das Siegfried Unseld geradezu persönlich ergebene Großfeuilleton hatte im Übrigen vergessen, dass der Herr des Hauses einst unter unrühmlichen Umständen seine besten Lektoren, Karl Markus Michel, Walter Boehlich und Günther Busch verstoßen oder verloren hatte. Als unter der Ägide seiner Frau ähnliche verlagsinterne Entfremdungen zu beobachten waren, als sie schließlich den Verlag aus Frankfurt nach Berlin verlegte, schäumten die Literaturkritiker in einem geradezu chauvinistischen Ton ob der angeblichen Traditionsvergessenheit dieser Frau. Vor allem aber – es war eine Frau. Auch wagte sie es, Romane zu schreiben. Dem Verlegersohn Joachim Unseld, auch er ein Verleger mit eigenem Stil und Geschmack, wäre derlei Häme nicht zugestoßen, hätte er sein Haus nach Idstein im Taunus verlegt (wo die Gewerbesteuer niedriger ist.) Was also will Hans Barlach eigentlich? Den Verlag beherrschen oder verkaufen? Verleger spielen oder Hedge-Fonds-Manager? Genauer noch: Wer ist Barlach eigentlich? Dass er aus eigener Tasche jene Suhrkamp-Anteile bezahlt hat – dies nachzuweisen, wäre ihm ein leichtes, um die Gerüchte zu vertreiben, dass hinter ihm einer jener Hedge Fonds stecke, die sich, wie einst der Londoner Finanzmakler Montgomery, ohne Kenntnis in das deutschen Medien-Business vorwagen. Sein Suhrkamp-Kompagnon der ersten Stunde, ein Hamburger Gesprächsanbahner (ein Beruf, der nur an der Alster floriert, der deutschen Hauptstadt des Kommissions-Geschäfts), stieg aus unbekannten Gründen aus dem Deal aus und sollte sich schließlich selbst töten. Barlach wiederum, der sich vor allem mit dem Verkauf von Reproduktionen der Skulpturen seines Großvaters den Namen desselben machte, wird noch viele der kleinen Halb-Kunstwerke verkaufen müssen, um seine Anwälte bei Laune zu halten. Dass dem Verlag und seinen Mitarbeitern, aber auch den Autorinnen und Autoren das Weihnachtsfest verhagelt wurde, dürfte seine geringste Sorge sein. Hätte er jedoch die Spur einer Ahnung vom Verlagsgeschäft, dann würden ihm spätestens beim erstrebten Machtantritt im Suhrkamp Verlag die Augen aufgehen: Jeder Autor kann sich mitsamt seinem Werk davon machen, falls ihm der Sinn danach steht. Denn neben dem Gesellschafterrecht gibt es auch noch das Urheberrecht. Ernst Barlach hätte das besser gewusst. Doch er kann sich gegen seinen Enkel nicht mehr wehren. Michael Naumann war Leiter der Rowohlt Verlage zwischen 1985 und 1995. Bis 1998 leitete er die amerikanischen Verlage Metropolitan Books und Henry Holt Inc. in New York.
Im Drama um den Suhrkamp-Verlag treten auf: die Witwe Siegfried Unselds, Ulla Unseld-Berkéwicz, ein Haufen chauvinistische Literaturkritiker und Hans Barlach als Racheengel, mit einer Heerschar von Anwälten im Rücken.
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kultur
2012-12-12T18:03:43+0100
2012-12-12T18:03:43+0100
https://www.cicero.de//kultur/keine-absurditaeten-mehr-ausgeschlossen/52869
Gender-Gedöns - Rücksichtslose City-Emanzen
Und nun also die „Mütterquote“! Ist die Idee so absonderlich, wie sie klingt? Durchaus nicht. Sie ist vielmehr äußerst reizvoll. Die Bremer Soziologieprofessorin Hilke Brockmann kann auch einleuchtend erklären, weshalb sie diese neueste Forderung im deutschen Emanzipations-Kanon lanciert hat: Mehr Mütter in Entscheidungspositionen, so Brockmann, würden „Unternehmen kinder- und familienfreundlicher gestalten, andere Karrierewege öffnen und ein anderes Zeitmanagement durchsetzen“. Und nicht nur dies. Frauen, die Kinder großziehen – und damit in der Regel auch den überforderten Gatten – verfügen über eine ausgereiftere Führungspraxis als die BWL-Bürschchen aus den universitären Legebatterien von St. Gallen oder Harvard. Mütter durchschauen beispielsweise rasch das infantile Gehabe und Gebalge um Macht und Moneten, das männliche Manager einander habituell zu liefern pflegen. So wäre es tatsächlich eine Wohltat, die kindischen Karriere-Krawalle in den Führungsetagen durch Erwachsene zu befrieden: durch Mütter! [video:Meyers Monolog: „Den Deutschen mangelt es an erotischer Kultur“] Die Mütterquote gesellt sich trefflich zur Frauenquote, mit welcher im Übrigen gar keine Quote eingeführt werden soll, sondern vielmehr die jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealte Männerquote von 99 Prozent endlich abgeschafft. Ja, die Frauen schreiten Seit’ an Seit’, wie einst die Vorhut der Arbeiterklasse – casual im Business-Outfit, für festliche Anlässe im Valentino-Fummel auf Louboutin-Stilettos. Die Gleichstellung der Haute-Volée-Damen macht Fortschritte. Immerhin ist Geschlechter-Gleichheit in der durchökonomisierten Luxusgesellschaft von Berlin bis Brüssel das angesagte Thema. Kann man dagegen sein? Nie und nimmer. Doch wie steht es mit den Rechten der Frauen jenseits der deutschen und europäischen Wohlfühlwelt? In Indien wurde eine 23-jährige Studentin von sechs Männern in einem Bus zu Tode vergewaltigt. Sie ist, wie wir inzwischen zur Kenntnis nehmen mussten, nur eine von täglich mehreren tausend Frauen in diesem aufstrebenden Entwicklungsland, denen sexuelle Gewalt durch Männer widerfährt. Erstmals allerdings wird nicht länger darüber geschwiegen, erstmals erheben sich die Bürgerinnen zu Abertausenden gegen das Selbstverständnis indischer Männer: gegen das herrschende System. Und was geschah im Zusammenhang mit diesem Schrecknis bei uns, beispielsweise in der Hauptstadt Berlin? Kam es zum Protest unserer Quoten-Kämpferinnen vor der indischen Botschaft? Eilten die Elite-Frauen zum Kanzleramt, um von Angela Merkel außenpolitische Solidarität mit den Schwestern in Asien zu fordern? Nichts geschah. Ja geschieht denn öffentlich und laut überhaupt etwas, was die Rechte der Frauen in der Dritten Welt betrifft? Man müsste es überhört haben. In jenen armen Ländern geht es allerdings auch nicht um die Quote in den  Führungszirkeln der Wirtschaft. In Bombay, Karatschi oder Kabul geht es um die nackte Existenz der Frauen; um ihre Befreiung aus dem Elend; um Lesen und Schreiben und Bildung allgemein; um das Recht, überhaupt geschriebenes Recht in Anspruch nehmen zu dürfen. Seite 2: Der wahre Freiheitskampf verblasst neben deutschem Gender-Gedöns Ein erhellendes Beispiel für die elitäre Gleichgültigkeit gegenüber fernem Frauenschicksal lieferte Claudia Roth, die Schutzheilige aller Dialog-Fetischisten: Sie bereiste, das rote Haar züchtig unter dem Kopftuch, Ahmadinedschads Gottesstaat – und zwar zur selben Zeit, als im Iran jede Stunde die Steinigung oder Erhängung der Iranerin Sakineh Mohammadi Ashtiani hätte vollstreckt werden können. Wieder zu Hause, plädierte die Grünen-Vorsitzende für den verstärkten Dialog mit der Diktatur – und enteilte zur Demo in Gorleben, gegen den Castor-Transport, also für das Gute, gegen das Böse. Genau so steht’s mit der internationalen Solidarität der Gala- Feministinnen: Ihr Gender-Gedöns übertönt das Weinen und die Schmerzensschreie der drangsalierten, gedemütigten Frauen in der Dritten Welt. Auch in der Sprache, mit der sie ihre Passivität bemänteln, sind die Elite-Rechtlerinnen findig. Zum Beispiel verklären sie Kopftuch und Tschador gern zum Ausdruck der Selbstbestimmung und Religionsfreiheit, von den betroffenen Frauen jeden Morgen freiwillig-fröhlich übergestülpt. Insbesondere in links-grünen Kreisen grassiert diese pervers-paradoxe Befreiungstheologie. Ganz so, als habe die westliche Emanzipationsbewegung nie mit der Selbstunterdrückung von Frauen mangels Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu ringen gehabt, vor allem in religiösen Milieus – in der konservativ‑katholischen Religionskultur ist sie sogar bis auf den heutigen Tag virulent. Doch seit die religiöse Szene der Migranten mitsamt ihrer Sozialarbeiter-Industrie den aggressiven Auftritt pflegt, darf nicht mehr gesagt werden, was Religion ist: eine Herrschaftsideologie von Männern für Männer – und gegen Frauen. Was immer Frauen im Zeichen des religiösen Obskurantismus angetan wird, darf man politisch korrekt – und neutralisierend – nur noch als archaisch bezeichnen. Das Abfackeln von Mädchenschulen in Pakistan ist archaisch; das Attentat auf die 14-jährige Schülerin, die im Norden Afghanistans zum Unterricht fahren wollte, ist archaisch; das Steinigen von Ehebrecherinnen in Saudi-Arabien ist archaisch; das Beschneiden von Mädchen im Sudan ist archaisch; das Schlagen und Töten freiheitshungriger Töchter in Berliner Migrantenfamilien ist archaisch. Ja, was vermag man denn auszurichten gegen archaische Bräuche? Steigen sie doch auf aus dem unergründlichen Brunnen unseliger Vergangenheit, also gewissermaßen aus dem Nichts. Deshalb haben sie natürlich auch rein gar nichts zu tun mit religiös gebotener Frauenverachtung. Der Emanzen-Neusprech spricht frei. Und unsere City-Emanzen dürfen sich wohlgemut wieder der Mütterquote zuwenden.
Frank A. Meyer
Deutsche Frauenrechtlerinnen propagieren die Mütterquote, während Inderinnen um ihre Grundrechte kämpfen. Ein Seit' an Seit' gibt es nicht, die Relation ist völlig aus den Fugen geraten.
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außenpolitik
2013-02-25T14:08:52+0100
2013-02-25T14:08:52+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/ruecksichtslose-city-emanzen/53558
Musikstile - Was heißt denn hier Klassik?
Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (April). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen. Es war eine dieser Veranstaltungen, auf denen Plattenfirmen ihre Neuerscheinungen zu präsentieren pflegen. Kostproben aus der Musik, Künstlerinterview und Gespräch mit dem Publikum. Ins Liverpooler Planetarium waren überwiegend ältere Herrschaften gekommen. Deshalb fielen mir zwei Mädchen auf, die sich nach der Veranstaltung etwas abseits hielten und mich dabei anlächelten. Vielleicht hatten sie sich nur verlaufen, den Eindruck von eingefleischten Klassikliebhabern machten sie jedenfalls nicht. Damit, dass ich auf sie zuging, hatten sie anscheinend nicht gerechnet. Verlegenes Lächeln, sie wussten nicht recht, was sie sagen sollten. Dann machte eine doch den Anfang. Na ja, meinte sie, ich hätte ja ganz schön Dampf gemacht mit meiner Geige, und diese Klassik habe einen ordentlichen Drive, das müsse sie schon zugeben. Aber irgendwie nicht unsere Musik, sagte die andere. Im Grunde tote Hose, Musik von gestern, nicht der Sound von heute. Ich sei doch selber noch kein alter Mann, wieso ich mich trotzdem so viel mit alter Musik abgebe. Ob ich nicht viel lieber Aktuelles anstatt „Klassik“ spielen würde. Ob ich eigene Songs schreibe. Und ob ich vielleicht Lust auf einen Kaffee hätte. So kamen wir auf diesen seltsamen Ausdruck „klassische Musik“ zu sprechen. Während dieser durchaus charmanten Begegnung musste ich an ein anderes, ungewöhnliches Zusammentreffen denken. In Norddeutschland hatte ich das Violinkonzert von Mendelssohn gespielt. Hinterher stand ich ziemlich verschwitzt an einem Tisch im Foyer, um Autogramme zu schreiben. Da wollte ein junger Mann von mir wissen, ob das, was ich gerade gespielt hatte, überhaupt klassische Musik sei. Ich sah ihn fassungslos an. Etwas umständlich holte er aus. Zum bestandenen Abitur hätten ihm seine Eltern ein Klassikabonnement geschenkt, aber über die Programm­auswahl sei er verwirrt. „Neben Sinfonien von Haydn, Mozart und Beethoven, bei denen es sich ja wohl eindeutig um Klassik handle, sind Stücke von Bach und Strawinski gespielt worden. Und heute Abend Mendelssohn, der doch schon zur Romantik gehört, soweit ich weiß“, sagte er. Jetzt verstand ich. Zum Zweck der besseren Übersichtlichkeit wird in Musikbüchern die viele Jahrhunderte lange Geschichte der Musik in verschiedene Epochen eingeteilt, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Je nachdem, wann die einzelnen Komponisten gelebt haben, werden sie einem dieser Zeitabschnitte zugeordnet. Bach also wandert in die Schublade mit der Aufschrift „Barock“, Mozart in die „Klassik“ und Mendelssohn in die „Romantik“. So kompetent diese Gliederung zweifellos auch sein mag, hat sie auch ihre Schwächen. Schließlich waren die Komponisten Individuen, jeder hatte neben den Gemeinsamkeiten auch seine persönlichen Eigenarten. War zum Beispiel Franz Schubert, der ein Jahr nach Beethoven gestorben ist, tatsächlich schon ein Romantiker oder doch noch ein Klassiker? Sieht man andererseits bei Beethoven nicht in vieler Hinsicht schon romantische Züge? Hört man dagegen bei Mendelssohn nicht oft eine sehr klassische Struktur? Zurück zu den jungen Damen in Liverpool, denen ich mühsam versuchte zu erklären, dass man erst die gesamte Musikvielfalt hören und erleben sollte, bevor man sie unter einem Begriff wie „Klassik“ ablehnt. Ich musste jedoch zugeben, dass ich es mir ebenfalls längst angewöhnt habe, einheitlich nur noch von „klassischer Musik“ zu sprechen. Korrekt ist es, streng genommen, nicht. Der Sammelbegriff, „Classical Music“, der anscheinend erstmals 1863 im „Oxford Dictionary“ aufgetaucht ist und der sich längst überall auf der Welt eingebürgert hat, hängt vermutlich eher mit den großen Veränderungen in der Musikwelt Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen. Damals begann die Zeit der Unterhaltungsmusik und des Jazz, gegen die sich die Musik, die im Konzertsaal und in der Oper gespielt wurde, behaupten und abgrenzen musste. Der Strom der Musik hatte sich geteilt. Welche Namen sollte man den beiden Flussarmen geben? Wichtig wurde diese Frage vor allem für die gerade geborene Schallplattenindustrie, die ihrer Kundschaft die Orientierung und damit die Kaufentscheidung erleichtern wollte. Dass sie die Kreationen der leichten Muse unter der Rubrik „populäre Musik“ oder kurz „Popmusik“ laufen ließ, verstand sich angesichts des Millionenpublikums, das dafür empfänglich war, von selbst. Das interessierte die beiden Mädels in Liverpool allerdings herzlich wenig. Also gab ich mich geschlagen und ging mit ihnen doch lieber Kaffee trinken. Klassisch versteht sich … Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband „Familien­stücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien
Daniel Hope
Musik sprengt alle Schubladen und kommt doch nicht ohne diese aus, meint Violinist Daniel Hope 
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kultur
2013-05-26T13:30:07+0200
2013-05-26T13:30:07+0200
https://www.cicero.de//kultur/daniel-hope-was-heisst-denn-hier-klassik/54447
Herfried Münkler – Europa steht zur Disposition
Herr Münkler, Homer etablierte den Mythos des Niedergangs als gängiges Motiv in der ideengeschichtlichen Kultur Europas. Mit Dante oder Machiavelli tauchte im späten Mittelalter der nostalgische Rückblick auf die Macht des Römischen Reiches auf. In jüngerer Zeit waren die Historiker Oswald Spengler und Arnold J. Toynbee der Meinung, das Abendland sei dem Untergang geweiht. Alle diese Autoren, von Homer bis Toynbee, rühmen untergegangene Größen und kündigen gleichzeitig Katastrophen an. Untergangsszenarien sind insofern philosophisch tief verankert in der europäischen Ideengeschichte. Daher verwundert es nicht, dass derzeit dem europäischen Projekt ähnliche Entwicklungen prophezeit werden. Inwieweit ist Europa tatsächlich dem Untergang geweiht? Dekadenztheorien und Niedergangsvorstellungen sind das Ergebnis eines grundsätzlich pessimistischen Blicks auf die Geschichte. Dafür gibt es in der europäischen Ideengeschichte eine Reihe von Beispielen und Vorbildern. Solche Negativ-Szenarien sind freilich zumeist nicht nur Beschreibungen des Niedergangs, sondern auch Aufforderungen, sich diesem Niedergang entgegenzustemmen, also im übertragenen Sinne das Peitschenknallen für die Pferde, die so noch mal in Bewegung gesetzt werden sollen. Das hat freilich immer auch etwas Gefährliches: Sobald sich nämlich die Vorstellung eines nahenden Endes in den Köpfen der politischen Akteure breit gemacht hat, neigen sie dazu Hasard zu spielen, also nicht mehr langfristig zu rechnen, sondern kurzfristig zu agieren. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges etwa haben solche Niedergangsängste die Politik bestimmt. Das ist in Europa zurzeit aber nicht der Fall. Die Europäer sehen ihren relativen Bedeutungsverlust gegenüber den USA, aber auch gegenüber China mit melancholischer Gelassenheit. Vergleichen wir die momentane Situation Europas mit anderen Großmächten in der Geschichte, an welchem Punkt befindet sich die EU gerade? Sind wir, wie die Römer der Spätantike, beim letzten Kapitel unserer Geschichte angelangt? Wir sollten davon Abstand nehmen, zu glauben, wir seien in der Lage, eine zuverlässige Kurve der Bewegung von politisch-ökonomischen Großräumen zu zeichnen und dann zu sagen, an welchem Punkt wir uns befinden. Die Geschichtsphilosophien unterschiedlichster Provenienz – von Polybius’ Zyklentheorie und Vergils Vorstellung vom ewigen Rom bis in unsere Zeit – haben uns immer wieder suggeriert, man könne so etwas mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit festlegen. Ich würde derlei Aussagen nicht treffen, zumal sich in letzter Zeit eine Reihe von Vorhersagen gar nicht bestätigen ließen. Der Aufstieg Chinas zum Beispiel ist nicht so unproblematisch verlaufen, wie es manche Ökonomen, die im Prinzip nur Zuwachszahlen des BIP extrapolierten, vorhergesagt haben. Entscheidende Faktoren, wie die Folgen der Ein-Kind-Politik und der demographische Wandel wurden kaum berücksichtigt. Ob die Europäer nur noch eine altersmüde Veranstaltung sind, die sich auf einer abschüssigen Bahn in den Orkus der Geschichte befinden, bleibt abzuwarten. Also gibt es gute Gründe für einen vorsichtigen Optimismus? Es gibt sicherlich Gründe für Zuversicht. Zuversicht als Grundlage für Tatkraft und Entschlossenheit. Der Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren ist ja auch ein Grund, jetzt nicht in einen hemmungslosen Pessimismus zu verfallen. Hilft es da nicht auch, sich einmal daran zu erinnern, warum die europäische Integration überhaupt auf den Weg gebracht wurde? Ein solches Zurückblicken könnte gleichzeitig bei der Einordnung der heutigen Krise helfen, denn krisenhafte Zustände sind doch fast schon ein Wesensmerkmal europäischer Integrationsgeschichte und insofern systemimmanent. Dass die europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg nie krisenfrei verlaufen ist, ist ein entscheidender Punkt. Aber man sollte sich angesichts der Tiefe der gegenwärtigen Krise darüber im Klaren sein, dass jetzt mehr gefordert ist als das, was die Politiker gerne als das Drehen an den Stellschrauben bezeichnen. Diese Krise ist keine des Stillstands, wie frühere Krisen, sondern eine, in der das gesamte Projekt zur Disposition steht. Was macht die neue Qualität aus? An zwei Punkten lässt sich die fundamentale Dimension der Krise erkennen: Erstens, die deutsche Politik, die nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Einigung maßgeblich befördert hat, war eine Kostenübernahme-Politik. Das Prinzip des sich Erkaufens von Freunden ist inzwischen sowohl an seine ökonomischen Grenzen als auch an die Akzeptanzgrenzen in der deutschen Bevölkerung gestoßen. Der zweite Punkt betrifft das Weiterführen Europas als reines Elitenprojekt. Wenn wir wirklich mehr Europa wollen, dann brauchen wir mehr europäische Demokratie. Aber in der gegenwärtigen Krise Europa zu demokratisieren, heißt die zentrifugalen Kräfte so sehr zu stärken, dass Europa scheitert. Es zeigt sich, dass die europäischen Institutionen, wie sie in den 1990er Jahren verabredet worden sind, ein Demokratiedefizit aufweisen, doch um dieses Demokratiedefizit abzubauen, müssen die europäischen Institutionen erst so umgebaut werden, dass sie demokratiekompatibel sind. Es sind also zunächst „one man, one vote“ Einflussverhältnisse herzustellen. Haben es die Architekten Europas von Anfang an bzw. spätestens nach Maastricht, Nizza oder Lissabon nicht versäumt, das Wort Krise bei der Gestaltung mitzudenken? Europa ist dummerweise nicht auf der Grundlage von worst-case-Szenarien gebaut worden. Über das Grundprinzip des „Nie wieder Krieg“ hinaus hatte man keine worst-case-Szenarien im Blick; wie etwa die momentane Entwicklung in Griechenland oder die Durchsetzung von Haushaltsdisziplin in Spanien und Italien. Letztlich sind die Verträge von Maastricht und Lissabon in der Erwartung formuliert worden, das schöne Wetter werde ein europäischer Dauerzustand sein. Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, warum Europa gar nicht auf kulturellen Identitäten, sondern auf ökonomischer Leistungsfähigkeit basiert. Foto: picture alliance Sie haben es angesprochen. Die europäische Integration war von Anfang an ein elitäres Projekt. Die Gründerväter der EU bzw. der EWG – von Monet bis Adenauer – glaubten, von oben auferlegte europäische Fakten würden letztendlich den Sinn für eine europäische politische Identität erzeugen. Doch all das bleibt eine schöne Vision, wenn die Bevölkerungen zunehmend euroskeptischer werden. Die EU wächst am Volk vorbei. Wie lässt sich dieses Dilemma auflösen? In der gegenwärtigen Situation lässt es sich sicherlich nicht so auflösen wie Jürgen Habermas das vorgeschlagen hat, indem die Institutionen Europas einfach in höherem Maße demokratisiert werden. Ein solches Vorgehen würde die zentrifugalen Kräfte zu sehr stärken und hätte vermutlich zerstörerische Effekte; zumal Europa so kompliziert ist, dass es der Bevölkerung nicht vernünftig erklärt werden kann. Mit anderen Worten: Die Eliten müssen erst einmal die Fehler und Versäumnisse korrigieren, die sie gemacht haben. Die große Herausforderung ist ein Umbau der europäischen Institutionen, der Europa demokratiefähig macht. Das ist nicht leicht und wird sicherlich auch zu einer Fülle von Widerständen führen. Aber da eröffnet die Krise auch die Chance zum Umbau Europas. Um Europa neu zu beleben, müssen jedoch zwei Grundvoraussetzungen erfüllt werden: Erstens, ein paar an der Peripherie gelegene Länder – wobei Peripherie nicht räumlich, sondern sozio-ökonomisch und politisch gemeint ist – müssen damit rechnen, aus dem engeren Verbund Europas auszuscheiden. Und zweitens müssen wir bereit sein, konzeptionell über ein Europa nachzudenken, das tatsächlich einen inneren Kern hat, an das sich ein System aus Kreisen und Ellipsen anlagert. Wir müssen uns freimachen von der Vorstellung, wir könnten Europa im Prinzip wie einen großen Nationalstaat planen, in dem überall dieselben Bedingungen hergestellt werden müssen. Das funktioniert nicht. Dafür sind die Konstellationen zu unterschiedlich. Ein Plädoyer für ein Europa nicht der zwei, sondern der drei Geschwindigkeiten? Ein Kerneuropa? In meinem Modell gibt es einen Kernbereich, einen mittleren und einen äußeren Bereich. Dazwischen kann es dann Auf- und Abstiegsmöglichkeiten geben. Vergleichbar mit einem Ligasystem wie im Fußball. Aber es muss von vornherein klar sein, dass nicht alle drei Bundesligen in einem Verbund spielen. Nur so ist zu gewährleisten, dass die Griechen eine höhere Flexibilität hinsichtlich ihrer Währung haben, um spezifische Probleme abzufedern. Das hieße, bleiben wir in der Fußballsprache, die Griechen müssten absteigen? Gleichzeitig aber auch die Briten, die ja quasi – dieser Logik folgend – aufgrund ihres mangelnden Integrationswillens in der politischen Peripherie Europas einzuordnen wären? Ja, der Eintritt Großbritanniens in die EU war in vielerlei Hinsicht wichtig, aber auch problematisch, weil die Briten immer wieder wichtige politische Schritte blockierten. De Gaulle hatte seinerzeit sicherlich einen klareren Blick auf das Doppelspiel Englands als so manche EUphoriker späterer Tage. In meinem Modell gibt es abgestufte Kreise in politischer und auch in sozio-ökonomischer Hinsicht. Die Briten müssen sich dann entscheiden, in welcher Intensität sie bestimmte europäische Integrationsprozesse mittragen. Für den Fall des Nichtmitmachens muss auch klar sein, dass sie dann nicht in der ersten Liga mitspielen. Insofern verdeutlich die Krise, dass wir nicht weniger, sondern mehr Europa brauchen, dass Probleme letztlich nur global – jenseits der Nationalstaaten – gelöst werden können. Eine solche Vertiefung, ein solches Mehr an Europa hieße aber auch, dass nationalstaatliche Souveränität zugunsten eines supranationalen Europas weiter abgegeben werden müsste, damit Europa dann tatsächlich auch mehr ist als die Summe seiner Mitglieder, mehr ist „als eine Momentaufnahme“, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle jüngst forderte. Dann muss man aber wirklich bereit sein für ein Mehr an Supranationalität. Dann müssten für die Gewichtung der Bundesrepublik in der EZB ihre Einlagen und ihre wirtschaftliche Beteiligung gelten und das hieße dann, dass Malta faktisch nicht vorkommen würde. Im Unterschied zu jetzt, wo Deutschland nur das doppelte Gewicht hat wie Malta. Das hieße auch, dass in Straßburg die Sitze in Relation zur jeweiligen Bevölkerungsgröße vergeben werden müssten. Solange das nicht der Fall ist, funktioniert Europa zwangsläufig intergouvernemental, weil nur in der Intergouvernementalität die unterschiedlichen Gewichte der Länder abgebildet werden. Aber ist ein supranationales Europa nicht noch anfälliger für Destabilisierungsprozesse? Ist die Gefahr dann nicht noch größer, sich weiter vom Bürger zu entfernen und so erst recht in eine Phase spätrömischer Dekadenzphase zu entgleiten? Und steigt dann nicht die Anfälligkeit für anfänglich erwähnte Untergangsszenarien? Wenn wir aus dem Untergang Roms etwas lernen wollen, dann sollten wir aufhören mit der Schelle durch die Welt zu ziehen und zu rufen: „Hallo wir sind Europa. Kommt doch und macht mit und wir geben euch alle gleiche Rechte.“ Das ist im Prinzip eine zum Scheitern verurteilte Politik. Der vorschnelle Beitritt von Rumänien und Bulgarien beispielsweise, der in vielen Ländern das Sinti-und-Roma-Problem verschärft hat, hat im Ergebnis zentrifugale Kräfte in Gang gesetzt, über die vorher keiner nachgedacht hat. Auch die 1945er Parole „Nie wieder Krieg“ hat letztlich zu dem Irrglauben geführt: Je mehr mitmachen, desto besser. Das hat den Blick zu sehr auf Erweiterung um jeden Preis verengt. Den Vorwurf des „imperial overstretch“, den die Europäer gerne in Bezug auf US-amerikanische Hegemonie verlautbarten, hätten sie vielleicht besser auf sich selbst bezogen. Auch das Gerede über die christlich-jüdischen Wurzeln Europas, die gemeinsame kulturelle Identität hat in die Irre geführt. Heute wären wir doch heilfroh, wenn wir statt Bulgarien, Griechenland und Rumänien die Türkei als einen boomenden Markt in Europa begrüßen dürften. Stattdessen wurde von Werten und Identität geredet. Dabei wurde völlig vergessen, dass Europa gar nicht auf kulturellen Identitäten, sondern auf ökonomischer Leistungsfähigkeit begründet ist. Man hat Europa von Anfang an als „gemeinsamen Markt“ konstruiert, und auf einem solchen Markt spielen bestimmte Kriterien eine Rolle. Herr Prof. Münkler, vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Timo Stein
Quo vadis, Europa? Wohin steuert Europa in Zeiten von Krise und Orientierungslosigkeit? Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler versucht sich im Interview mit CICERO ONLINE diesen großen Fragen zu nähern und erklärt, warum wir uns von alten naiven Europavorstellungen verabschieden sollten.
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außenpolitik
2011-10-10T13:41:09+0200
2011-10-10T13:41:09+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/europa-steht-zur-disposition/43302
Jenische - Das vergessene Volk
Zurzeit werden die Wahlprogramme der Parteien entwickelt und aufgeschrieben. Darin steht, was die jeweilige Partei regeln will: Steuern senken, Renten stärken, Polizei ausbauen und so weiter. In dem einen oder anderen Wahlprogramm steht auch etwas über das Verhältnis zu den Minderheiten im Land. Meist findet man das unter dem Stichwort „Kultur“. Anerkannte Minderheiten in Deutschland sind die Dänen, Friesen, Sinti und Roma sowie die Sorben. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD aus dem Herbst 2013 heißt es: „Wir verpflichten uns weiterhin zur Förderung der vier nationalen Minderheiten in Deutschland – Dänen, Sorben, Friesen sowie deutsche Sinti und Roma – und der deutschen Minderheit in Dänemark sowie den deutschen Minderheiten in Mittelost- und Südosteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.“ Eine Minderheit freilich fehlt: die Jenische. Obgleich wir in Deutschland mittlerweile ein hochentwickeltes Gespür für Diskriminierung entwickelt haben und der Deutsche Bundestag sich mit der Diskriminierung indigener Völker und ethnischer Gruppen weltweit beschäftigt, findet man zur Lage der Jenische in Deutschland fast nichts; obwohl sie eine klassische Minderheit sind. Ihre Angehörigen sprechen – zum Teil jedenfalls noch – eine eigene Sprache, also keinen regional verwurzelten Dialekt. Sie haben ihre eigene Musik, ihre eigene Handels- sowie eine Leidensgeschichte, die wenig von der der Sinti und Roma abweicht. Jenische gibt es praktisch in ganz Mittel- und Westeuropa, insgesamt sind es Hunderttausende, in Deutschland nach veralteten offiziellen Schätzungen weniger als 10.000. Aber so genau weiß man es eben nicht. Es gibt eine Schätzung, wonach etwa 400.000 Menschen in Deutschland von diesen Jenischen abstammen. Keine Kleinigkeit. Der Deutsche Bundestag hat sich zuletzt 2013 in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Links-Fraktion mit den Jenischen beschäftigt. Die Fraktion hatte gefragt: „Plant die Bundesregierung, wie in der Schweiz geschehen, dem Jenischen Rechte und Status als Minderheitensprache zuzugestehen?“ Die Regierung antwortete: „Die Bundesregierung kann Einrichtungen und Vorhaben nur dann fördern, wenn sie von gesamtstaatlicher Bedeutung sind. Die Stärkung der Rahmenbedingungen für das kulturelle Leben in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt sowie die Förderung von Einrichtungen und Vorhaben von gesamtstaatlicher Bedeutung tragen positiv zu der reichen Kulturlandschaft bei, von der auch der ländliche Raum profitiert.“ Die „reiche Kulturlandschaft“ präsentiert sich im Einzelfall so. Josef Kelnberger hat eine großartige Geschichte in der Süddeutschen Zeitung über einen Jenische geschrieben. Sie ist wert, nachgelesen zu werden. Er beschreibt Alexander Flügler aus Singen am Hohentwiel, 59 Jahre alt, Unternehmer mit rund 100 Angestellten, der sein Leben lang von anderen als „Dreckszigeuner“ beschimpft werde. Kelnberger nannte die Jenische „die Vergessenen“. Flügler kämpft und ackert, damit seine Heimat am Hohentwiel ein jenisches Kulturzentrum erhält. Das erste in Deutschland. Dem oder der einen wird nun etwas läuten, denn während des vergangenen Jahres war in den Kinos kurz die Verfilmung des Romans von Robert Domes „Nebel im August“ über einen jenischen Jungen zu sehen, Ernst Lossa, den Nazis umgebracht haben. Der Film war – weiß Gott – kein „Blockbuster“. Wer sind diese Jenische? Wo leben die? Was tun die? Warum wissen wir so wenig über sie? Was zeichnet sie aus? Ich schreibe über eine seit Jahrhunderten existierende Menschengruppe mit – wie erwähnt – eigener Sprache und Musik. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind sie entstanden, als sich im Ausklang des Mittelalters Besitzlose, Menschen ohne für die Städte nützliche Kenntnisse, Verarmte, Verfolgte mit jüdischen Gruppen zusammenfanden, mit ehemaligen Söldnern und Fremden. Sie trafen dabei auch auf nach Europa drängende Sinti oder Roma. Jenische waren den damaligen Mehrheitsgesellschaften verdächtig, weil sie keine Gebiete eroberten, weil sie anderen nicht ihre Religion und Lebensweise beziehungsweise keine Herrschaftsform aufzwangen. Friedliche Leute. Im Gegenzug haben die damals Herrschenden die Jenische mit Polizei, Justiz, mit Verboten geschurigelt, sie sogar zu Vogelfreien erklärt. Ihre Lebensweise wurde dadurch ebenso ideologisch umgekehrt wie die der Roma. Aus eigentlich friedfertigen Menschen wurden Diebe, Räuber gemacht, Leute, die man besser aus den städtischen Gemeinschaften heraushalten sollte. Diese Menschen haben Kenntnisse erworben, Kniffe gefunden, das Know-how entwickelt, um Handel über Land zu betreiben, mit Tuch, Geschirr, elektrische Leiter und Besteck; um kaputt geschlagene Gegenstände zu reparierenTöpfe zu flicken im Alltag Nötiges herzustellen – Körbe und anderes mehr. Dann wussten sie in der nachrichtenarmen Zeit auf dem Land, das Neueste zu berichten, Musik zu machen, Witze zu reißen, den „Paias“ zu geben, die als Strohpuppe heute noch in manchen Gegenden am Ende der Kirmes symbolisch verbrannt wird. Diese Jenische waren damals das, was wir heute innovativ, technologisch fortschrittlich nennen. Sie waren keine Verschwender, sondern Wiederverwender, schlaue Leute. Neroth heißt ein Ort in Rheinland-Pfalz, der einmal von der Drahtwarenindustrie lebte, speziell von Mausfallen aus Draht. Über die Jenische, die solche Spezialitäten herstellten, erfährt man auf der Nerother Homepage wenig, es heißt da lapidar: „Oft gingen sie zu zweit und unterhielten sich dann untereinander auf ‚Jenisch‘, einer Art Geheimsprache, die Fremde nicht verstanden. Jenisch wurde damals auch im Dorf gesprochen, heute kennen diesen Dialekt nur noch die Alten.“ Traditionell wurden die Jenische, die sich selber als Volk bezeichnen, fälschlich zu den Zigeunern gerechnet und mit Sinti oder Roma verwechselt. Der Spiegel schrieb über die Einwohner Neumühles, eines mehrheitlich von Jenischen bewohnten Orts in der Pfalz 1949: „Am Ausgang des 18. Jahrhunderts sollen sich an einer einsamen Mühle ein paar Zigeuner niedergelassen haben. Sie hielten sich von den Bewohnern der Gegend fern, hausten in Höhlen, ernährten sich von gefallenem Vieh, Hunden und Katzen und nahmen nur selten fremdes Blut auf. So entstand die Siedlung Neumühle. Ihre 420 Einwohner, von denen allein 100 Fleckinger heißen, sprechen noch heute untereinander ihre eigene Sprache. ‚Jänisch‘, ein ans Hebräische erinnerndes Zigeunerkauderwelsch. Fortgesetzte Inzucht garantierte, dass die Kinder nicht aus der Art schlugen. Sie wussten nie, wofür sie zur Kommunion gingen, ihre Eltern wussten es auch nicht. Sie hielten ihre Kinder von der Schule fern und lehrten sie Stehlen und Lügen, nahmen sie mit, wenn sie des Nachts die Kartoffelfelder abernten gingen oder wenn sie in die Stadt fuhren, dort ihre Beeren, Besen und Körbe absetzten und dabei mitnahmen, was sie gerade greifen konnten.“ Soweit der Spiegel das „Sturmgeschütz der Demokratie“. Jeder mag sich seinen Reim darauf machen, dass solche Sätze noch vier Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft geschrieben wurden. Die Sache mit dem „fremden Blut“, die hatten zuvor die Nazis wörtlich genommen, Jenische verfolgt, festgesetzt, zwangssterilisiert, in KZs transportieren und dort ermorden lassen. In ihrem Ethno-Wahn und ihrem wahnwitzigen Katalogisier-Gehabe hatten die Nazis Jenische zu „nach Zigeuner Art“ Lebenden umgedeutet. Jenische waren für die Herrenmenschen Asoziale, unnütze Esser, menschliches Ungeziefer. Wie viele Jenische ihnen zum Opfer fielen, weiß bis heute niemand. Bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wirkte dies nach. In die Historische Sammlung des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin ist eine Ausstellung über das „Reichsgesundheitsamt im Nationalsozialismus“ integriert. Da findet man die entsprechenden Hinweise des Nazi-Rassenforschers Robert Ritter: „Wie ich in meinen Berichten schon wiederholt hervorgehoben habe, ist außer den Zigeunern auch noch die asoziale jenische Landfahrergruppe, sowie die Bevölkerungsgruppe der zur Kriminalität neigenden umherziehenden Schausteller zu zählen. Im Rahmen unserer Arbeiten auf dem Gebiet der kriminalbiologischen Erbforschung, in dem die Zigeuneruntersuchungen nur eine Teilaufgabe darstellen, gelten unsere Forschungen stets auch diesen und anderen asozialen und kriminellen Gruppen.“ Dabei kennt kaum jemand den Gruppenbegriff. Das liegt auch daran, dass Jenische Allerwelts-Nachnamen tragen. Sie treten zudem, wenn sie das wollen, unerkannt von einem auf den anderen Tag aus ihrer Minderheitengeschichte hinaus, um in die Mehrheitsgeschichte einzutreten. Denn sie weisen keinerlei oberflächliche Merkmale auf. Zwar kennen die allermeisten von uns keine Jenische, aber deren Vettern aus anderen Ländern sind landläufig „berüchtigt“. „Irische Traveller sorgen für Wirbel in Bonn“, überschrieb der Bonner General-Anzeiger eine Geschichte am 11. August 2013. „Die Tinker fallen im Stadtbild schon optisch stark auf, vor allem die jungen Mädchen. Sie tragen meist sehr knappe, neonfarbene Kleider.“ Weiter im Text des General-Anzeiger: Durch ihren abweichenden Lebensstil und das Leben im großen Familienverbund sorgten die Traveller-Tinker immer dort für Aufsehen, wo sie auftauchten. Mit ihren von „Luxuswagen gezogenen Wohnwagen“ tauchten sie immer mal wieder im Rheinland auf. Derartige Berichte findet man in hessischen Zeitungen ebenso wie in denen des Rheinlandes, auch im Berliner Tagesspiegel obgleich sich keine Tinker-Clans nach Berlin aufgemacht hatten: Knappe, neonfarbene Kleider, abweichender Lebensstil, Leben im Familienverbund, Luxuswagen. Hinzu kommen nach Informationen des General Anzeiger hinterlassener Müll, Schlägereien, Raserei, besorgte Bürger. Im Februar vergangenen Jahres war es dann in Bonn so weit: Die Polizei – 40 Beamte – räumte einen Landfahrerplatz in der Nähe der Stadt. Anwesend waren außerdem die Feuerwehr und ein Schnellrichter. Begründung: Verdacht auf Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Diebstahl eines Fahrrads. Ich neige nicht zu Verschwörungstheorien und ich weiß, dass Tinker- oder Traveller-Clans nerven können, bis zur hellen Empörung. Aber ein böses Gefühl beschleicht mich dennoch, wenn ich lese, dass die Staatsmacht in großer Besetzung und unter Zuhilfenahme eines Schnellrichters – was keine Alltäglichkeit ist sowie der Feuerwehr anrückt, um Landfahrenden Beine zu machen. Vergessen ist im Falle der Jenische keine Nachlässigkeit, kein Aussetzen des Kurzzeitgedächtnisses, sondern Vergessen ist hier gleichbedeutend mit Totschweigen. Totschweigen im Sinne des Wortes, denn es wird nicht mehr lange dauern, bis die letzten Jenische gestorben sind, die von den Nazis in ein KZ verschleppt worden waren. Das Äußerste, was die Verfassungsorgane bisher für diese Deutschen getan haben, war, sie als eigenständige Opfergruppe auf dem Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin zu benennen. Das Schicksal der Jenische in Deutschland ist nach meiner Auffassung ein entsetzliches Indiz für vorhandene kulturelle Gräben und für soziale Zerrissenheit. Auf der einen Seite haben wir Gegenwärtigen eine große Sensibilität für Situationen der Benachteiligung, der Diskriminierung entwickelt; Auf der anderen Seite haben wir diese Gruppe unter uns einfach aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt. Welche kulturelle Leistung, welche Anpassungskraft steht hinter den Lebens- und Überlebenskämpfen der Jenische? Das ist nie erforscht worden. Heute sind manche Jenische, wie früher ihre Eltern und Großeltern, Altwarenhändler. Und selbst das wurde ihnen schwer gemacht, denn das Kreislaufwirtschaftsgesetz hat dieses Sammeln den lokalen Behörden übertragen, die nun entscheiden, wer Eisen, Lumpen und Papier sammeln darf und wer nicht. Die Jenische, die „Kleinsammler“, wie sie im Behördenjargon genannt werden, gerieten also unversehens in die Mühle der Modernisierung, der Zulassungsbeschaffung, der Nachweise und der Effizienz.. Und nun werden wieder die Wahlprogramme mit vielen Vorhaben zusammengestellt und dann beschlossen. Wird man dieses Mal an die Jenische denken? Was hindert den nächsten Deutschen Bundestag eigentlich daran, in vielen Fragen für Klarheit zu sorgen? Wird der neue Bundespräsident hier eine Initiative ergreifen? Warum starten die Städte und Gemeinden keine Aktion, mittels der ermittelt werden könnte, wann und wie viele Jenische im Dritten Reich von den Nazi-Bürokraten eingesammelt wurden, um deportiert, zwangssterilisiert und getötet zu werden? Warum gibt es keinen Ort, an dem zusammengetragen wird, was über die Jenische zu erfahren ist? Ein Ort wider das Vergessen? Die Minderheiten- und Diskriminierungsforschung in Deutschland  ist wach und rege. Warum eine so geringe Forschung über die Jenische? Wer geht voran? Die Zeit drängt.
Klaus Vater
Kaum jemand kennt die Volksgruppe der Jenische. Sie entwickelten sich im Mittelalter, besaßen handwerkliches Geschick und hatten eine eigene Sprache. Im Nationalsozialismus wurden sie als „Zigeuner“ verfolgt. Noch immer sind sie keine anerkannte Minderheit
[ "Jenische", "Minderheiten", "Minderheit", "Bundestagswahl", "Josef Kelnberger" ]
innenpolitik
2017-05-11T14:18:46+0200
2017-05-11T14:18:46+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/jenische-das-vergessene-volk
Westliche Unternehmenskultur - Stress, Schlafentzug und Burnout
Bevor sich die Blondine mit standhafter Föhnfrisur im New Yorker Büro der Huffington Post zum Skypen vor einem Bücherregal positioniert, stellt ein Assistent für sie die Verbindung her und prüft die Qualität von Ton und Bild. Dann richtet er die Kamera so aus, dass seine Chefin ideal eingerahmt wird. Der Hintergrund ist auf gemütlich gestylt: Bildbände, gerahmte Fotos und ein paar kleinere Gegenstände stehen im Regal – offensichtlich ist dies Huffingtons Skype-Ecke. Die 64 Jahre alte Unternehmerin, Online-Pionierin, ehemalige Republikanerin, Mutter und Autorin hat genau eine halbe Stunde Zeit, um über ihr neues Buch zu sprechen, das im Herbst unter dem deutschen Titel „Die Neuerfindung des Erfolgs“ im Fischer-Verlag erschienen ist. Huffington gilt in den USA als Erfolgsmensch par excellence. Die gebürtige Griechin ist im Alter von 18 Jahren nach England gezogen, wo sie ein Stipendium für ein Studium in Cambridge gewann. Sie arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern – zum Beispiel über Pablo Picasso und Maria Callas –, bevor sie in die USA ging und dort als politisch engagierte Ehefrau des republikanischen Senatskandidaten Michael Huffington Furore machte. Dieser outete sich als schwul, Arianna ließ sich scheiden und wurde Demokratin. 2003 kandidierte sie sogar gegen Schwarzenegger als Gouverneurin von Kalifornien. 2005 gründete sie die Online-Zeitung Huffington Post, eine Nachrichten- und Kommentarplattform, die von Anfang an umstritten war, da sie von Gastautoren lebt, die kein Honorar erhalten. Es entstanden internationale Ableger – der deutsche ging im vergangenen Jahr in Kooperation mit dem Burda-Verlag online, erzeugt aber weniger Geklapper als die amerikanische Plattform. Im New Yorker Büro ragt nun von rechts ein Assistent ins Bild, um Huffington ein dampfendes Glas Tee zu reichen, von links beugt sich jemand rüber, um sich eine Unterschrift zu holen. Huffington unterschreibt murmelnd, ohne das Interview zu unterbrechen, obwohl sie Multitasking neuerdings verabscheut, wie sie in ihrem Buch schreibt. Leider wirkt die Unternehmerin in diesem Moment wenig fokussiert. Sie beantwortet alle Fragen, mit denen sie gerechnet hat, kurz und druckreif, als würde sie per Teleprompter aus dem eigenen Buch zitieren. Fragen, mit denen sie eigentlich nicht gerechnet haben kann, beantwortet sie genauso perfekt, nur der erstaunlich starke griechische Akzent fällt etwas raus. Sie wirkt jünger als 64. Ihr Buch richtet sich an Karrieristen, die denken, dass Überstunden, wenig Schlaf, Multitasking und ständige Erreichbarkeit, auch außerhalb des Büros, ein Erfolgsrezept seien. „Mein Zusammenbruch im Jahr 2007 hat mich zum Umdenken gezwungen“, sagt Huffington. Sie ist inzwischen zu einer Art öffentliche Schlafbotschafterin geworden. Sie sitzt sogar im Verwaltungsrat der Abteilung Schlafmedizin der Harvard Medical School, wie sie im Kapitel „Schlafen Sie sich nach oben“ bekennt. Sie haben Einschlafstörungen? Zählen Sie einfach von 300 in Dreierschritten herunter. Wie viel permanenter Stress anrichten kann, wie sehr Gesundheit, Kreativität und selbst die Moral darunter leiden, das belegt Huffington mit einer Fülle an Forschungsergebnissen, die nicht nur die heilende Wirkung von Schlaf zelebrieren, sondern auch die Kraft von Meditation und Yoga oder den Vorteil des Gehens gegenüber dem Sitzen. „Um auch die letzten Skeptiker zu überzeugen“, wie sie sagt. Vielleicht auch, um nicht als New-Age-Tante abgestempelt zu werden. „Unsere Unternehmenskultur basiert auf Stress, Schlafentzug und Burnout“. Huffingtons Rezept: „Jemand, der Macht und Geld hat, gilt als erfolgreich. Wir brauchen dringend eine dritte Maßeinheit, wenn wir Erfolg definieren, die etwas über die Gesundheit und die Zufriedenheit der Person aussagt.“ Diese Maßeinheit nennt sie „3rd Metric“. Ihr Buch, das auch Bekenntnisse von Größen aus Wirtschaft, Politik und den Medien versammelt, liest sich teilweise wie das Manifest einer prominenten, erfolgreichen Selbsthilfegruppe, und das ist der interessante Teil. Wir erfahren, dass Bill Clinton die meisten Fehler wegen Übermüdung unterlaufen sind, dass Steve Jobs die besten Einfälle nach der Meditation hatte. Alles Erfolgsmenschen, mit denen man sich identifizieren soll. Und doch wendet sich Huffington mit ihrem Appell primär an das eigene Geschlecht: Weil Frauen gesundheitlich noch mehr unter Stress zu leiden haben, sollen sie dafür kämpfen, dass sich Strukturen in den Unternehmen ändern. Überstunden sollen stigmatisiert werden, die Firmen sollen Stressabbauprogramme installieren und die Projektarbeit fördern. Das komme insbesondere jungen Müttern zugute. „Männer werden von den Maßnahmen natürlich auch profitieren“, behauptet Huffington. „Ich beobachte, dass gerade ein Aufwachen im globalen Maßstab stattfindet“, sagt Huffington vor ihrer Bücherwand. Unter dem Make-up sind Spuren der Müdigkeit zu sehen.
Lena Bergmann
Arianna Huffington hatte 2007 einen Zusammenbruch. In ihrem neuen Buch empfiehlt die Unternehmerin erschöpften Karrieristen, auch mal zur Ruhe zu kommen. Und sie selbst? Zelebriert das Multitasking
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kultur
2014-12-16T09:51:46+0100
2014-12-16T09:51:46+0100
https://www.cicero.de//kultur/westliche-unternehmenskultur-stress-schlafentzug-und-burnout/58631
Portrait: Boris Pahor – Triest, das Meer und das Lager
Boris Pahors Haus liegt in einem steilen Garten am Hang, hoch über dem Golf von Triest. Es ist einfach und bietet dennoch den größtmöglichen Luxus: einen Schreibtisch, von dem aus man den vom Türkis ins Tintenblau reichenden Horizont des Meeres erblickt. «Waage des Nichts / pèse-néant» hat René Char die existenzielle Wirkung des schimmernden Mittelmeeres in einem Gedicht von 1947 genannt. Bei Char, dem Dichter der französischen Résistance, ist es das Meer, das die Erfahrung der dunkelsten Aspekte des 20. Jahrhunderts aufwiegt – ähnlich wie im Leben und Werk des 1913 in Triest geborenen slowenischen Schriftstellers Pahor. Denn der Rand von Europa ist scharfgezackt und reicht weit in Europas Mitte hinein. Oder zumindest dorthin, wo der Blick aus dem Norden und Westen endet. So liegt auch Triest für die meisten Deutschen in Italien, irgendwo zwischen Wien und Venedig, abseits der normalen Routen. Doch Triest ist der südlichste Brennpunkt jener kulturellen und politischen Bruchlinie, die Europa seit dem Aufkommen des Nationalismus durchzogen hat, der Linie zwischen Ost und West, zwischen Faschismus, Kommunismus und Demokratie und – ebenso archaisch wie aktuell – der Grenze zwischen romanischer und slawischer Welt. Keine Stadt, abgesehen von Berlin, war politisch und kulturell so umkämpft wie Triest, und es hat lange gedauert, bis die allmählich eingetretene Normalität in die Formel der zwei Seelen, ja der Doppelseele Triests gefasst werden konnte, die Angelo Ara und Claudio Magris dafür gefunden haben. Die Kehrseite der doppelten Seele, die tiefe Gespaltenheit der Stadt, können Besucher bloß erahnen. Dass Triest auch eine slowenische Stadt war und ist, muss man wissen, um es zu sehen. Lässt man den Blick allerdings nur ein wenig von unserem naiven Italienbild weggleiten, dann fallen vereinzelte zweisprachige Schilder auf, einzelne Geschäfte, die slowenische Buchhandlung in der Nähe der Synagoge, das slowenische Theater, die slowenische Tages­zeitung an den Zeitungsständen. Erst dann wird klar, was ein Straßen­stück am Kai bedeutet, das den «für die Italianità von Triest Gefallenen» gewidmet ist. Dahinter verbergen sich die Geschichte von Risorgimento und Irredentà, die Auseinandersetzungen nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie: der Faschismus und auch der Konflikt mit Jugoslawien um das nach 1945 unter internationaler Ver­waltung stehende Küstengebiet. Erst 1954 wurde es endgültig ge­teilt: Triest, die Zone A, fiel an Italien, das auf Istrien übergreifende Umland, die Zone B, an Jugoslawien. In Triest selbst ist die Geschichte nirgends so gegenwärtig wie an der Piazza Guillielmo Oberdan. Dieser Platz ist dem beim Atten­tat auf Kaiser Franz Joseph 1882 gefassten und hingerichteten offi­ziellen Märtyrer der Einigung Italiens geweiht – der eigentlich Oberdank hieß und von einem italienischen Offizier der österreichischen Armee und einem slowenischen Dienstmädchen abstammte. Von der Piazza Oberdan aus sieht man die Fassade des von den italienischen Faschisten 1920 in Brand gesteckten slowenischen Kulturhauses und den Platz des ehemaligen SS-Hauptquartiers, von wo aus die Opfer in das einzige Konzentrationslager in Italien, die Reismühle von San Sabba, oder in die deutschen Lager verschleppt wurden. Von der Piazza Oberdan fährt heute auch der Bus in den Stadt­teil Barcola/Barkovlje ab, in dem Boris Pahor wohnt, der diese Geschichte am eigenen Leib erfahren hat. «Nekropolis» heißt das Buch, in dem Pahor seine Irrfahrt durch die deutschen Lager erzählt – von Dachau und Natzweiler bis nach Bergen-Belsen. Vergangenheit und Gegenwart greifen in dieser Erzählung auf ungewöhnliche Weise ineinander. Pahor verbindet die Nahsicht des als Krankenpfleger im Lager wirkenden Mannes mit der Distanz desjenigen, der zwanzig Jahre später am selben Ort nach der Mitteilbarkeit der Erinnerungen sucht. Und dabei schildert er die Schrecken des Lagers so eindringlich, dass «Nekropolis» in Frankreich und den U.S.A. mittlerweile neben die Werke von Primo Levi und Robert Antelme gestellt wird. Seit den neunziger Jahren wird das Werk Pahors, der nach 1948 zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht hat, in die Sprachen der westlichen Welt übersetzt. Eine verspätete Entdeckung, doch zum Glück noch zu Lebzeiten des Autors. Pahor zu interviewen heißt auch, sich auf Triest einzulassen. Gerne zeigt er dem Besucher seine Stadt. * «Ich war sieben, als die Faschisten das Kulturhaus der Slowenen im Zentrum von Triest in Brand steckten. Dasselbe Ende fanden andere Einrichtungen dieser Art, öffentliche Büros, Druckereien. Unsere Sprache wurde verboten, unsere Vor- und Nachnamen wurden italianisiert. Es war eine Zeit von zwanzig Jahren, in der es hier die erste antifaschistische Untergrundbewegung Europas gab, die hunderte von Verhaftungen zur Folge hatte, Kerkerstrafen, Verbannungen, Hinrichtungen. Hitler war Mussolinis Schüler, wenn er ihn auch später in den Mitteln der Vernichtung übertraf. Aber die deutschen Lager waren nur die extreme Fortsetzung dessen, was wir seit 1918 erlebt hatten. Als 1930 im ‹Manchester Guardian› Kritik an den Hinrichtungen von Slowenen erschien, publizierte Mussolinis Zeitung ‹Il popolo d’Italia› eine Replik, die uns Slowenen als Wanzen bezeichnete, die sich in der Wohnung eingenistet hätten… Was mich betrifft, so hat mir dieses Trauma als Kind jegliches Bild der Zukunft genommen. Da war nichts mehr vor mir. Erst später, mit zwanzig, fand ich in mir den Wert der sprachlichen und nationalen Identität. Damals war es dann auch, dass ich mich im und mit dem Schreiben wiederfand. Was mich dann auch nach dem Konzentrationslager mit noch gewichtigeren Gründen zum Schreiben trieb: das Bedürfnis nach Bezeugung, aber mehr noch das Bedürfnis nach Befreiung, Entäußerung und Wiedergeburt. Die Alternative Semprúns, ‹Schreiben oder Leben›, hat sich mir nie gestellt, und auch er hat sie unterlaufen. Ich musste schreiben, um zu überleben.» Wann haben Sie denn wieder zu schreiben begonnen? «Gleich nach dem Krieg, auf dem Liegestuhl des Lungensanatoriums in Frankreich. Die Szene des Romans ‹Nekropolis›, in der der Krankenpfleger Janos das Begraben von 150 Toten leitete und dann sich den SS-Leuten mit dem selbstmörderischen Vorwurf entgegenstellte, wie sie einen hungrigen Fünfzehnjährigen wegen einer Kartoffel hatten umbringen können – das habe ich 1947 geschrieben und 1948 als Erzählung publiziert. Versucht habe ich dann auch etwas, was ich allerdings nie schreiben konnte. Als wir Ivo – Sie erinnern sich an die Stelle in ‹Nekropolis› – auf den Leichenhaufen unter dem Ofen legten, entwich aus einem der Toten noch Luft mit einem ächzenden Laut. Und da fragte ich mich: Was wäre, wenn er noch sprechen könnte, wenn alle noch sprechen könnten? Eigentlich wollte ich seitdem immer das Gespräch dieser Toten schreiben. Ich habe es versucht, aber das ist mir nie gelungen.» Wie konnten Sie als slowenischer Triestiner in Italien als Schriftsteller leben? «Als ich wieder zu schreiben anfing, musste ich mir alles neu er­ar­beiten. Ich hatte ja italienische Literatur studiert und daneben natürlich als Student in Padua auf sozusagen anarchische Weise die slowenischen Schriftsteller und Dichter gelesen: Preseren, Zupancic, Cankar, Kosovel, Kocbek. Aber eigentlich habe ich Dante und Leopardi vor Preseren und Cankar gelesen. Auch wenn mir das Italienische zunächst aufgezwungen wurde. So habe ich die alte wie die moderne italienische Literatur immer hoch geschätzt, denn schließlich habe ich sie ja auch jahrzehntelang am Gymnasium gelehrt. Sie ist und bleibt ein wichtiger Teil meines kulturellen Gepäcks. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich heute vor allem übersetzen – in beide Richtungen: aus dem Slowenischen ins Italienische und vom Italienischen ins Slowenische.» Von Proust habe ich eigentlich nichts gelernt Welche Bedeutung haben für Sie die Literaturen anderer Länder? «Natürlich habe ich meine Lieblingsautoren wie Dostojewski, Tschechow, Babel und Hemingway, Steinbeck, Saroyan und Lawrence. Aber das Französische ist ganz sicher meine bevorzugte Sprache, denn die Kette der Ereignisse wollte es eben, dass ich im Lager mit französischen Freunden zu tun hatte, im Sanatorium und schließlich auch in den letzten Jahren bei der Übersetzung meiner Bücher. Ich hatte schon im Studium intensiv Baudelaire gelesen, später vor allem Fournier, Flaubert, Maupassant, Vercors, Sartre, Camus … ja, vor allem Camus, der mein Lieblingsautor ist, nicht nur was die Auffassung der Welt und des Lebens, sondern auch die des Schreibens betrifft.» Und Proust? «Von Proust habe ich eigentlich nichts gelernt. Natürlich habe ich ihn gelesen, aber er hat mir nicht geholfen, mich zu erinnern. Gewiss, auch ich habe Szenen geschrieben, in denen junge Menschen am Strand spielen, und ich erinnere mich auf besondere Weise an das Dorf, in dem meine Mutter geboren wurde, aber wenn ich bei der Abfassung von ‹Nekropolis› an irgendeinen Autor dachte, dann war das Beckett, vor allem sein Roman ‹Molloy›. Dieser lange Monolog hat mich allerdings nicht im Sinn einer Hilfe weitergebracht, eher in technischer Hinsicht, ich habe ihn eingesetzt, um die Welt des Lagers so intensiv wie möglich zu beschreiben. Aber eigentlich erinnere ich mich sehr, sehr gut, und die Ereignisse der Deportation sind ebenso klar wie das Wichtigere: die Wiederentdeckung des Lebens danach, des Lebens nach den Lagern. Ich habe die Welt entdeckt, den Wert des Lebens und den der Liebe. Das hat mir auch manche Kritik für meine ersten Romane eingetragen. Die ‹Villa am See› (1955) sei zu heiter, zu lyrisch. Aber ich musste erst wieder das Leben zurückgewinnen, ehe ich ‹Nekropolis› schreiben konnte.» Haben dabei literarische Vorbilder für Sie eine Rolle gespielt? «Ich hatte keine unmittelbaren Vorbilder für mein Erinnern: Primo Levi habe ich erst nach der Fertigstellung von ‹Nekropolis› gelesen, Robert Antelme nach der Publikation von ‹Pèlerin parmis les ombres› in Frankreich, etwa 1992–93, als mir Freunde sagten, wie ähnlich sein Bericht sei.» Wie kommt es, dass Ihre Bücher bisher am meisten in Frankreich gelesen werden? «Ich wurde dort durch mehrere glückliche Zufälle bekannt. Bei der Ausstellung ‹Trouver Triest› in Paris lernte ich in den achtziger Jahren Evgen Bavcar kennen. Er, der in Slowenien geboren ist und jetzt, obwohl blind, als Schriftsteller und Photograph in Paris lebt, hat sich sehr für die Publikation von ‹Nekropolis› eingesetzt. Das Buch lag zwar seit zwanzig Jahren ins Italienische übersetzt vor, doch niemand hat sich dafür interessiert. Auch in Frankreich wurde es 1990 kaum wahrgenommen. Erst 1995, als ‹Kampf mit dem Frühling› auf Französisch erschien, fiel das Buch einem Redakteur des Magazins ‹Télérama› auf, und es kam zu einer zweiten, einer Taschenbuchausgabe von ‹Nekropolis›, die dann auch zur amerikanischen Übersetzung führte.» Haben Sie eine Vorstellung, warum das Interesse an Ihren Büchern seit ein paar Jahren auf einmal zunimmt? «Nach dem Krieg ist Europa sehr leicht über das Apokalyptische des Krieges hinweggegangen. Die jungen Generationen wollen stattdessen die Wahrheit über ihre Väter erfahren, die ihnen verborgen oder auf eine sehr selektive Weise dargeboten wurde. Aber auch die Ereignisse in Bosnien haben das Interesse für meine Bücher wieder geweckt. Grausamkeiten, die man nie für möglich gehalten hätte, ließen die jetzige Generation auf einmal entdecken, dass die Vergan­genheit Gegenwart werden kann. Das war für viele ein unerwarteter Schock. Und seitdem das Fernsehen unaufhörlich das Makabre zum Konsum anbietet, ziehen manche das, was einst vorgefallen ist, demjenigen vor, das man sich nur zu gut ausmalen kann. Bei den Nachrichten aus Bosnien, vor allem bei dem, was dort den Frauen angetan wurde, erfasste mich tiefe Verzweiflung, denn ich erinnere mich noch an das ‹Nie wieder›, das ‹Jamais plus ça› der Überlebenden von damals. Und dann kamen ja trotzdem wieder Vietnam, Pol Pot und jetzt eben Bosnien. Es gibt einen Pluralismus des Bösen, der einen daran zweifeln lässt, das je die edlen Seiten des Menschen überwiegen werden. Ich habe versucht, das, was ich erlebt habe, auszusprechen und habe protestiert, wann immer es sich ergab, obwohl ich um die Vergeblichkeit wusste. Und obwohl ich weiß, dass es naiv ist, sich wie ein Schmuggler die Schönheit der Natur und der Liebe anzueignen, habe ich es versucht. Aber wenn der Mensch einen schmalen Streifen Hoffnung braucht, worin sollte der bestehen als in der Liebe? Retten, was möglich ist.» Der schöne Kosmos und die schönen Frauen «Mein Überleben, das verdanke ich zum Teil meinen elterlichen Genen und dem Karst. Als jemand, der 1913 geboren wurde, musste ich mich schon früh an den Mangel an Essen gewöhnen. Ich überstand auch die Spanische Grippe. All das war eine Art von Impfung gegen das, was kommen sollte, denn alles Weitere verlief außerhalb jeder Ordnung. Als ich mich nach dem Terror des Faschismus allmählich wiederfand, musste ich mein eigener Psychotherapeut sein. So wie ich es bei Camus fand: Trotz allem müssen wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Es ist eine Illusion, gewiss, und es ist nicht leicht. Aber wenn man nicht Revolutionär ist, was gibt es sonst?» Das klingt jetzt sehr nach mediterranem Denken … «Ich bin mediterran geprägt. Ich liebe die Liebe, das Meer, Fischerdörfer mit Netzen und engen Gassen, aber auch den Karst mit dem von der Sonne verbrannten gelben Gras und der Bora, die einen mit 120 km/h verrückt macht. Sicher, in dieser Sicht steckt viel Camus, aber Camus war für mich immer die Bestätigung dessen, was ich schon immer gelebt hatte, die Verehrung für den Kosmos und die weibliche Schönheit, der Wunsch frei zu leben… Mein ganzes Werk war immer nur Widerstand gegen die Unfreiheit. Daher war ich auch nie in einer Partei. Ich bin Sozialdemokrat, aber ohne Bindungen. Na ja, einmal haben wir es auch mit einer Partei versucht, aber natürlich haben wir ein Fiasko erlebt, denn im Kalten Krieg wollte niemand eine sozialdemokratische Partei der Slowenen in Italien, und so sind wir zersplittert auf die vielen italienischen Parteien. Das wäre eine lange Geschichte.» Sie sprechen so oft über Ihre nationale Identität. In Westdeutschland und Österreich ist die Generation der heute Vierzigjährigen weitgehend ohne eine genaue Vorstellung von nationaler Identität aufgewachsen. Hat der Begriff der Nation im vereinigten Europa eine Zukunft? «Nationale Identität wird auch im künftigen Europa wichtig bleiben. Es gibt doch eine Schönheit der Tradition, gerade auch bei den kleinen Völkern. Warum muss man Italiener oder Franzose oder Spanier werden? Schauen Sie doch nur: Unter Franco wurden die Katalanen unterdrückt, nach seinem Tod erhielten sie die Autonomie und heute erleben wir die katalanische Renaissance. Katalonien hat einen enormen Aufschwung genommen und ist das wirtschaftliche Zentrum Spaniens, ja, in mancher Hinsicht ist Barcelona heute wichtiger als Paris. Und was hat die Welt dabei verloren? Nichts, gar nichts. Sie ist um Katalonien reicher geworden. Wenn ich also die nationale Identität betone, so meine ich ja keinen Nationalismus. Wir sind keine Nationalisten, die gegen etwas sind. Man muss seine eigene Art und die Eigenart des Anderen wollen, um zusammenleben zu können. Was die Erfahrung der jüngeren Generation angeht, kann ich nur sagen: Ihr seid eben nie gezwungen gewesen, jemand Anderer zu sein. Das ist der Unterschied.» Lesen Sie eigentlich deutschsprachige Autoren? «Ja, ich habe einiges an deutscher Literatur gelesen. Neben den obligaten Klassikern vor allem Joseph Roth, Musil, dann Böll, Wiechert, Celan, Bachmann, Handke, Bernhard. Das liegt ja nahe. – Handke hat sehr schöne Sachen geschrieben, er hat eine slowenische Mutter und kennt alles sehr genau; er hat auch ein wunderbares Buch über den Karst geschrieben, ‹Die Wiederholung›, aber in manchem ist er ein Kind. Er hat sich, wie ja auch die Linke in Italien, davon überzeugen lassen, für die Erhaltung Jugoslawiens einzutreten. Natürlich gab es die Republik Jugo­slawien, und es war schön, dass es keine Grenzen zwischen den Teilrepubliken gab, aber das existierte doch nur auf der Landkarte. Alles, was geschah, hing von Belgrad ab. Tito hatte als ehemaliger österreichischer Unteroffizier noch so etwas wie eine Idee von einem kleinen Österreich, aber was dann kam … Milosevic, ein kleiner Stalin, so ignorant wie meine Schuhe, hat alles ruiniert und verloren. Als Slowenien die Unabhängigkeit erklärte und als endlich die jugoslawische Armee abzog, die fünfzig Jahre lang nichts bei uns zu tun hatte, da täuschte sich die Linke in Italien ebenso wie Handke. Claudio Magris, der eigentlich nicht der Linken zuzurechnen ist, hat mir viel später gesagt, dass auch er sich damals getäuscht habe. Das finde ich ehrlich. Was aber Handke gemacht hat, der die Slowenen als ein verschlossenes Volk hingestellt hat, das keine ausländischen Bücher übersetzt und nur bei Gelegenheit seinen Dichter Preseren hervorholt, das kann man nicht machen. Man kann nicht ein ganzes Volk anschwärzen. Man kann eine Gegenposition beziehen, aber nicht auf so eine Weise.» Wie hat sich die Lage für die slowenischen Schriftsteller durch die Existenz eines slowenischen Staates verändert? «Der Austausch Triests mit Slowenien hat sich sehr gut entwickelt. Unsere Studenten können, wenn sie wollen, nach Slowenien gehen. Das Theater von Triest geht auf Tournee in Slowenien, und es gibt Gastspiele aus Slowenien in Triest und Gorizia/Gorica. Schriftsteller, die auf italienischem Gebiet leben, sind Mitglieder in den Organisationen in Ljubljana: Schriftstellerverband, PEN-Club, einige von uns sind Mitglieder der slowenischen Akademie… Es ist eine große Bestärkung, plötzlich eine Identität anerkannt zu sehen, die jahrhundertelang unterdrückt war, und es ist auch eine umso größere Bestätigung für uns Slowenen in Italien und Österreich: Wir sind einfach weniger allein als zu der Zeit, da Ljubljana von Belgrad abhängig war.» *  Fast hat es den Anschein, als sei in diesem umkämpften Winkel Europas die Normalität eingekehrt, wenn auch im römischen Parlament gerade wieder die hundertste Modifikation über die Autonomie zweisprachiger Gemeinden verhandelt wird. Die bürokratische Verschleppungstaktik gehört seit jeher – wie auch in Öster- reich – zu den effizientesten Mitteln der Volksgruppenpolitik. Irgendwann einmal wird es eine internationale Kommission geben, die die «Foibe» untersucht, die Höhlen im Karst, in denen Tausende Tote liegen, darunter die von den Alliierten entwaffneten und aus Österreich repatriierten 14.000 Domobranci, die slowenischen Quislinge. Dass sie von den Kommunisten ermordet wurden, ist von slowenischer Seite von Evgen Kocbek zum ersten Mal öffentlich in einem Interview thematisiert worden, das Pahor 1975 in der von ihm redigierten Zeitschrift «Zaliv» (Die Bucht) publizierte. Pahor durfte daraufhin jahrelang nicht nach Jugo­slawien einreisen und erfuhr so ein weiteres Mal, diesmal als Publizist, was die Wahrheit als Grundlage jeglicher Freiheit kostet. Er selbst stellt sein erzählerisches Werk, in dem die Übergänge zwischen Autobiographie und Roman fließend sind, unter ein Motiv Sartres: Es sei «Fiktion, die keine Fiktion ist» – seine gelebte Form der Wahrheit. Während wir reden und reden, sitzen wir auf slowenische Art in Pahors Küche und trinken Wein vom Karst. Tags darauf gehen wir durch die Straßen Triests, an deren Enden oft das Meer als blaues Rechteck leuchtet. Auch der Hauptplatz selbst, der natürlich der «Unità dell’Italia» gewidmet ist, öffnet sich zum Meer und geht direkt in eine Mole über. Von deren Ende aus sieht man die Stadt in ihrer Kalkmuschel mit einem dichten Straßennetz zum Karst aufsteigen. Von diesem Punkt, an dem Triest ins Meer ragt, gehen wir zurück ins Innere der Stadt, vorbei am Antiquariat Umberto Sabas, und kehren kurz bei der slowenischen Buchhandlung ein, ehe wir für einen langen Nachmittag im Café San Marco verbleiben, dem wohl schönsten Relikt österreichischer Lebensweise in Triest. Die Windfaust der Bora Am letzten Tag fahren wir noch einmal mit dem Bus nach Contovello/Kontovel, um mit Boris Pahor einen Blick auf die Bucht zu tun, deren erhebender Anblick dem Gewicht des gelebten Lebens die Waage hält. Leider hat die Bora alles grau zugezogen, so dass man die Schönheit der Stadtlandschaft nur ahnen kann. Um zum Bus zurückzugelangen, müssen wir eine Weile gegen den Wind marschieren. «Die richtige Bora weht viel stärker, fast doppelt so stark», sagt Pahor. «In meiner Kindheit spannte man Seile durch die Stadt, am Markt und neben dem Kanal, damit man sich daran festhalten konnte.» Eine einleuchtende Maßnahme für jeden, der die Windfaust auch nur mit halber Kraft zu spüren bekam. Erleichtert betreten wir eine unscheinbare Gaststätte. Unvermutet beginnt hinter deren Tür eine andere Welt. Ein Wirt wie aus einem Alpengasthof begrüßt uns und holt sofort die Zeitungsausschnitte hervor, die über das letzte Literaturgespräch berichten, das vor kurzem im nach hinten gelegenen, überraschend großen Saal stattgefunden hat und das Teil einer längeren Veranstaltungsreihe war. Für die Dauer eines Espressos zeigt sich das andere Gesicht Triests, zu dem das am Ecktisch plaudernde Frauen-Kränzchen ebenso gehört wie der literarische Blick nach Paris und Barcelona. Rasch schließt sich die Türe wieder hinter dieser unwirklich anmutenden Szene, und schon müssen wir im Bus Abschied nehmen. Boris Pahor tritt hinaus in den jähen, die graue Bucht mit weißen Wellenkämmen schraffierenden Wind und verschmilzt augenblicklich mit der Landschaft, der er Stimme und Gesicht gegeben hat. Wieder in Triest, verhindert der Nordwind weite Wege. So bleibt nur das mondän renovierte Café Tommaseo in der Nähe des Kais, um die Zeit bis zur Abfahrt totzuschlagen. Der Gegensatz könnte nicht größer sein: Die gehobene italienische Schicht trifft sich gerade am Sonntag zum Lunch. Kaschmir und Pelz, Tweedsakkos und Seidenkrawatten umgeben mich am Marmortisch, an dem ich meine Eindrücke zu notieren beginne. Triest ist nicht mehr dieselbe Stadt wie zuvor, sie hat nichts verloren, sie ist reicher geworden – wie auch Europa, wenn man es mit den Augen von Boris Pahor betrachtet. Das Leise, Feste und Freie seiner Person beginnt zu wirken: «Ich hoffe, mit meinem Werk einen Ausschnitt des Bösen im 20. Jahrhundert gezeigt, doch gleichzeitig auch ein wenig Anlass gegeben zu haben, das Leben zu lieben.» ||
Wiederentdeckung des slowenischen Schriftstellers Boris Pahor mit Fotos von Martin Vukovits
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kultur
2010-10-08T13:03:43+0200
2010-10-08T13:03:43+0200
https://www.cicero.de//kultur/triest-das-meer-und-das-lager/47182
Deutschlands Ansehen in der Welt - Sie hassen uns wieder
Die Idee schien gut, doch die Welt war nicht bereit: Wer ein guter Europäer sein wollte, der musste lange Freund sein der Europäischen Union. Diese sollte einem durch zwei Weltkriege verheerten Kontinent neue Zuversicht geben, eine friedvolle Zukunft und ein ganz unbekanntes Zusammengehörigkeitsgefühl. Noch heute kommt keine Sonntagsrede ohne diese beschwörenden Formeln aus. Dabei liegt das Beste der EU hinter uns. Die Geburt des Hasses aus dem Geist der Völkerverständigung ist ihre Gegenwart. Natürlich gibt es solidarisierende Effekte zuhauf im europäischen Staatenverbund. Das Mittelmaß verschwistert sich gegen die Spitze, die Peripherie gegen das Zentrum, das Regelwerk gegen den Wettbewerb und jede und jeder und jedes auch gern gegen die Deutschen. Denn die Deutschen ragen wirtschaftlich heraus, liegen in der Mitte des Kontinents, lassen sich durch Regeln kujonieren und sind offenbar eigens erfunden worden, um immerwährend Anstoß zu erregen und Rechnungen zu begleichen: So stellt sich die Lage nach öffentlicher Wahrnehmung und politischer Agenda leider dar. In Großbritannien wird die nahende Wiederkehr des Ersten Weltkriegs auf allen Kanälen genutzt, um den bösen Deutschen, den waffengierigen Pickelhaubenpreußen, abermals fester im Bewusstsein zu verankern. Das wirtschaftlich am Boden liegende Frankreich berauscht sich desto mehr an vergangener Größe, je weiter diese zurückliegt. Der Ausbruch von akutem Deutschenhass auf Athens Straßen liegt wenige Monate zurück. Und in Brüssel wächst täglich unverhohlener die Gruppe der Germanoskeptiker. Die Überlegung jüngst der Europäischen Kommission, Deutschland solle mit einem Bußgeld für seine hohen Exportüberschüsse bestraft werden, für seinen ökonomischen Erfolg also, mag ungeschickt kommuniziert worden sein. Sie gibt aber eine Denkschule in Brüssels kommod gepolsterten Amtsstuben wieder: Für Europa sei gut, was Deutschland schadet. Den Souffleur dieser Weltsicht gibt der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der in der „New York Times“ die plumpe Devise niederschrieb: Deutschland bringe „seine Nachbarn an den Bettelstab“. Die Exportüberschüsse seien hauptverantwortlich für die „Schmerzen“ der Krisenländer wie Spanien. Was tun, spricht Zeus? Die drohende Große Koalition will den Weg einer selbst sich fesselnden Leisetreterei weiter beschreiten. Erstaunlicherweise wird in der Aufregung um die NSA-Affäre permanent von „nationalen Interessen“ geredet, die es zu beachten gelte und mit denen sich das Abhorchen durch die USA nicht vertrage. Wohl wahr. Mit Blick auf Brüssel aber wagt fast kein deutscher Politiker, ein nationales Interesse auszuformulieren, geschweige denn zu vertreten. Unbewusst hat die regierende Politikergeneration verinnerlicht, zu welchem Instrument die europäische Einigung ausschlagen kann: zum Zaumzeug, das den deutschen Gulliver zähmt. Und so finden Merkel, Gabriel, Steinmeier & Co. nichts dabei, wenn Brüssel rügt und drängt und fordert – und Deutschland sich fügt. Ausschließlich eine kluge Interessenpolitik, hie und da auch ein gesunder nationaler Egoismus könnte dem abhelfen. Respektiert wird auf Dauer nur der, der einsteht für sich, der standhält und nicht vorauseilend kapituliert. So gesehen, ist die sich verschärfende antideutsche Stimmung in manchen europäischen Ländern das Resultat einer falschen Politik. Das jahrelange Zuviel an Säbelklirren und Auftrumpfen und Besserwissen kehrte sich in sein ebenso falsches Gegenteil, in ein Zuwenig an Selbstbehauptung und Streitkompetenz. Nachfolgende Generationen werden die Zeche zahlen. Der Titel dieser Kolumne ist übrigens einem Lied entlehnt, das Thomas Pigor im April dieses Jahres sang. Dort heißt es am Ende: „Das dauert ja Jahre, bis wir das wieder hingebogen haben...“.
Alexander Kissler
Das Beste der Europäischen Integration liegt hinter uns. Die Geburt des Hasses aus dem Geist der Völkerverständigung ist ihre Gegenwart
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kultur
2013-11-19T10:45:29+0100
2013-11-19T10:45:29+0100
https://www.cicero.de//kultur/deutschlands-ansehen-der-welt-sie-hassen-uns-wieder/56435
Wirtschaftliche Macht und Menschenrechte - Saudi-Arabien ist ein falscher Freund
Abdullah, der Ende Januar verstorbene saudische König, wird über seinen Tod hinaus für seine zaghaften Reformschritte geschätzt. Doch auch er regierte brutal, wie es im Königshaus Saud Tradition ist. Und er stellte das Volk mit Wohltaten ruhig. Vor vier Jahren etwa überschüttete er seine Untertanen mit königlicher Großzügigkeit: 36 Milliarden Dollar an Gehaltserhöhungen, zur Entschuldung und als Startkapital für Unternehmensgründungen, ließ er an die saudische Bevölkerung auszahlen. Die arabischen Aufstände, die gerade Zine al Abidine Ben Ali in Tunesien und Husni Mubarak in Ägypten gestürzt hatten, hatten auch in Saudi-Arabien Hoffnung aufkeimen lassen, Abdullah würde Reformen vorantreiben. Vergeblich. Er ließ eine weitere königliche Finanzspritze folgen. Diesmal waren es fast 100 Milliarden Dollar. Der Großteil floss in den Wohnungsbau für Niedrigverdiener. Mit großen Summen wurden aber auch die Sicherheitskräfte bedacht, darunter die berüchtigte Religionspolizei, die Mutawa. Auf nicht weniger dunklen Kanälen flossen Hunderte Millionen Dollar in die religiösen Stiftungen des wahhabitischen Klerus. Das saudische Königshaus tat, was es am besten kann: Es versuchte, sich freizukaufen – ungeachtet dessen, was im Land an Unzufriedenheit brodeln mochte unter den undurchdringlichen Schichten aus politischer, militärischer und religiöser Kontrolle. Doch diesmal steckte mehr hinter der Großzügigkeit. Die Dynastie der Saud erneuerte ihren historischen Bund mit dem Haus Ibn Abdul Wahhab, jenem Prediger aus dem 18. Jahrhundert, mit dessen puritanischem Gedankengut sich die Herrscher in Saudi-Arabien religiös legitimierten. Auch wenn die Saudis Petrodollars und den Kampf für die religiöse Einheit zu ihrer Version von Brot und Spielen gemacht haben, ist und bleibt ihr wahrer Schutzwall ihr Wahhabismus. Also jene strenge Form des sunnitischen Islam, die alle anderen Spielarten des Islam strikt ablehnt, insbesondere den schiitischen Islam. Der finanzielle Teil der Formel dient der Erneuerung des Gesellschaftsvertrags zwischen Herrschenden und Untertanen, der den Absolutismus in Saudi-Arabien und den Golfstaaten stützt. In seiner vollendeten Form besteht er aus einem Paternalismus, der von der Geburt bis zum Tod reicht. Das Königshaus sorgt für Bildung und Gesundheit sowie für Jobs und Wohnungen. Als Gegenleistung erhält es die Loyalität und den Gehorsam des Volkes. Doch selbst im reichen Königshaus der Saud ist dieser Tauschhandel brüchig geworden – lange vor dem jüngsten Verfall des Ölpreises. Vom Öl beherrschte Ökonomien schaffen kaum Jobs. Schon gar nicht, wenn sie eine Königsfamilie alimentieren, die aus mehr als 5000 bepfründeten Prinzlingen besteht, die nicht verstehen, wo ihr Privatvermögen endet und der Staatshaushalt beginnt. Die Jugendarbeitslosigkeit in Saudi-Arabien ist zudem hoch und liegt bei etwa 30 Prozent. Es gibt wenige Chancen und noch weniger gesellschaftliche und politische Freiheit – doch dank Satelliten-TV und Internet ein ausgeprägtes Bewusstsein für globalen und regionalen Wandel. Fast zwei Millionen Saudis sind im Ausland ausgebildet worden, und oft mit einem hohen akademischen Abschluss zurückgekehrt. Hier kommt der saudische Wahhabismus ins Spiel. Diese Symbiose aus weltlicher und religiöser Macht, die seit der Staatsgründung 1932 beansprucht, Arabien von seinem Stammesfilz aus Götzenanbetung und Chaos, Ignoranz und Lasterhaftigkeit befreit zu haben, verteufelt alle anderen Glaubensrichtungen und hält jegliche Reformen für Zügellosigkeit. Als Gegenleistung für das religiöse Gewand, das er der Königsfamilie verschafft, übt der wahhabitische Klerus soziale Kontrolle aus. Nicht nur über die Religion und das Verhalten in der Öffentlichkeit, sondern auch über das Bildungs- und Justizwesen. Der Einfluss des Wahhabismus verhindert selbst schrittweise Reformen. König Abdullah hat versucht, den Einfluss des Klerus zurückzudrängen und die Justiz zu reformieren, Schulbücher von Fanatismus zu befreien, Lehrer zu überprüfen und ein pluralistischeres Islamkonzept zu fördern. 2003 rief er einen „nationalen Dialog“ ins Leben. Eine transparentere Regierungsführung, schärfere finanzielle Kontrolle des Königshauses, mehr Rechte für Frauen, sogar die schrittweise Einführung von Wahlen schienen zumindest möglich. Muslimische Reformer und Liberale reagierten mit einer Art Blaupause für die konstitutionelle Monarchie, die sie „eine Vision für die Gegenwart und Zukunft der Heimat“ nannten. In diesem Dokument wurde erstmals der Wahhabismus als die kalte Hand bezeichnet, die verhindert, dass sich Saudi-Arabien zu einem erfolgreichen, modernen Staat entwickelt. Die mächtigsten Brüder des Königs teilten dessen Auffassung von einer offeneren Gesellschaft nicht. Kaum hatte der „nationale Dialog“ begonnen, zitierte Prinz Nayef, der damalige Innenminister, die Reformer in sein Büro. Dort, erinnert sich einer der damals Anwesenden, habe der Prinz ihnen gesagt: „Was wir mit dem Schwert gewonnen haben, werden wir mit dem Schwert verteidigen.“ Das war keine Metapher. Abdullahs und Nayefs Vater, König Abdul Aziz al Saud, hat ein regional und religiös zersplittertes Arabien mit Waffengewalt geeint. In 30 Jahren schlug er 52 Schlachten, bis 1952 das Königreich ausgerufen wurde. Die saudisch-wahhabitischen Truppen waren in den heiligen Krieg gezogen, um die arabische Halbinsel des Propheten Mohammed, die Wiege des Islam, für die wahren Gläubigen zurückzuerobern. Ihre sunnitische Orthodoxie basiert auf einer fundamentalistischen Interpretation des Monotheismus und der „Einheit“ Gottes (Tawhid). Sie lehnt alle anderen religiösen Traditionen ab, behandelt Christen als Ungläubige und Schiiten als abtrünnige Götzendiener. Im Laufe der Zeit war Tawhid nicht nur Synonym für die „Einheit“ Gottes geworden, sondern umfasste auch die Einheit Arabiens unter der hegemonialen Herrschaft des Hauses Saud, das keine Rivalen duldete. Außerhalb des Königreichs haben saudische Petrodollars muslimische Weltregionen mit wahhabitischen Moscheen, Stiftungen und Schulen regelrecht gepflastert, um auch dort die Saat der Intoleranz zu verbreiten. Als im vergangenen Sommer der „Islamische Staat im Irak und in der Levante“ sein Kalifat ausrief, übersetzte er das Ramadan-Gebet seines Anführers Abu Bakr al Baghdadi ins Englische, Französische, Deutsche, Türkische, Russische und – Albanische. Warum? Weil seit dem Ende des Kalten Krieges und nach dem Krieg um Jugoslawien auf dem westliche Balkan – vor allem in Albanien, Bosnien, Mazedonien, dem Kosovo und sogar in Teilen Bulgariens – eine Menge saudisch finanzierte, wahhabitische Moscheen und Koranschulen errichtet wurden. Das führt die dort vorherrschende muslimische Kultur weg von der Tradition des mystischen Sufismus hin zum radikalen, wahhabitischen Absolutismus, den Gruppen wie der „Islamische Staat“ zur logischen Vollendung gebracht haben. Saudi-Arabien exportiert nicht nur Öl, sondern auch religiösen Dogmatismus und produziert Dschihadisten, während es gleichzeitig versucht, sich vor den Auswirkungen seines eigenen Handelns zu schützen. Der Wahhabismus ist ein im engeren Wortsinn totalitäres Glaubensbekenntnis. Nicht nur hält er alle anderen Glaubensrichtungen für illegitim, sondern er definiert auch buchstäblich alle, die nicht dazugehören, als „das Andere“. So ist die umfassendste Definition von „Ungläubigen“ entstanden, die es je gegeben hat – ein potenziell grenzenloser Freifahrtschein für den Dschihad. Zwar wendet sich das Haus Saud politisch gegen das Kalifat des „Islamischen Staates“. Tatsächlich unterscheiden sich Dschihadisten und Wahhabiten aber kaum in ihrer Glaubenslehre. Die Schwarzhemden des „Islamischen Staates“ sind Wahhabiten auf Steroiden. Beide betrachten sich als Erben von Ibn Taymiyyah – einem Theologen des 13. Jahrhunderts, dessen Fanatismus ihm den gleichen Ruf kompromissloser Engstirnigkeit eingebracht hat wie Torquemada, dem Großinquisitor des 5. Jahrhunderts, die Bezeichnung „Hammer der Häretiker“ – und Ibn Abdel Wahhab, dem Urheber der sektiererischen saudischen Ausprägung des Islam. Als der „Islamische Staat“ im Februar den libanesischen Piloten Muaz al Kasaesbeh verbrannte, war es daher kein Zufall, dass in dem Video, das seine Ermordung zeigt, ein rechtfertigendes Zitat von Ibn Taymiyyah eingeblendet wurde. Zum Schluss seiner Ramadan-Rede im vergangenen Jahr warnte König Abdullah vor dem „teuflischen“ Extremismus dieser „abweichenden Kräfte“. Der dschihadistische Extremismus sei eine Bedrohung für das Königreich. Betrachtet man die Glaubensüberzeugung des „Islamischen Staates“, ist schwer zu erkennen, worin er „abweicht“ von der wahhabitischen Orthodoxie mit ihrer buchstabengetreuen Auslegung des sunnitischen Islam. Unzufrieden sind die modernen Dschihadisten höchstens damit, dass das Haus Saud von der reinen Lehre abweicht: Das verdorbene Handeln des Königshauses passe nicht zu seinen wahhabitischen Worten. Tatsächlich haben die Saudis in der Praxis stets versucht, beides zusammenzubringen. Der verstorbene König Fahd etwa, Abdullahs Vorgänger, hatte in seiner Jugend einen Ruf als Playboy und Spieler. Während seiner Herrschaft aber hat er nach offiziellen Angaben 1359 Moscheen im Ausland gebaut, außerdem 202 Colleges, 210 islamische Zentren und mehr als 2000 Schulen. Unter Abdullah, der asketischer und der Ökumene zugeneigt war, wurde die Verbreitung des Wahhabismus fortgesetzt. Der Bau von Moscheen wird vorangetrieben, wo immer sich Gläubige finden. Vor allem in Süd-, Zentral- und Südostasien, die Heimat von etwa einer Milliarde der weltweit 1,6 Milliarden Muslime. Alles deutet darauf hin, dass auch Abdullahs Nachfolger, König Salman, diese Tradition fortführen wird. In der Vergangenheit hat er bereits Stiftungen geleitet, die den Wahhabismus im Ausland verbreitet haben. Er hat offiziell seinen Segen dafür gegeben, Freiwillige sowohl in den von den USA unterstützten Dschihad gegen die Sowjets in Afghanistan einzuschleusen als auch muslimische Kräfte während des Krieges in Bosnien. Er hat Prinz Mohammed bin Nayef, den Sohn des früheren Innenministers – der ähnlich radikal ist wie sein Vater –, als Thronfolger erwählt. Und natürlich hat Salman seine Regentschaft mit einem 32-Milliarden-Dollar-Geschenk an das Volk eingeleitet. Die Saudis mögen den „Islamischen Staat“ als Abweichler verurteilen, der das Haus Saud nicht nur stürzen, sondern ihm auch seine Rolle als Hüter der Pilgerstätten Mekka und Medina streitig machen will. Doch unter den Erstunterzeichnern eines offenen Briefes im vergangenen Herbst von führenden muslimischen Geistlichen aus aller Welt, die die Ideen des „Islamischen Staates“ auseinanderpflückten, waren keine wahhabitischen Gelehrten. Überraschend ist das nicht, wenn man bedenkt, woher die Ideen des „Islamischen Staates“ kommen. Wie die Wahhabiten verachten auch sie die als „Ablehner“ (Rafidah) bezeichneten Schiiten; sie teilen eine Vorliebe für die Zerstörung heiliger Bilder und Stätten; ganz zu schweigen von der Praxis der Enthauptungen auf öffentlichen Plätzen an Freitagen. Im vergangenen Jahr etwa forderte ein Staatsanwalt, Sheikh Nimr al Nimr, einen Prediger aus der vorwiegend schiitischen Ostprovinz des Landes, zum Tode durch Kreuzigung und Köpfung zu verurteilen – die blutige Charakteristik des „Islamischen Staates“. Das saudische Gericht entschied, der Mann solle durch das Schwert sterben. Bis heute wurde das Urteil allerdings nicht vollstreckt. Riad sah auch keinen Widerspruch darin, einen Botschafter zur Demonstration gegen die Attentate auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt nach Paris zu entsenden, während der liberale Blogger Raif Badawi öffentlich ausgepeitscht wurde. Er war zu 1000 Hieben und zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er das wahhabitische Establishment hinterfragt hatte. Als der britische Thronfolger Prinz Charles im Februar zum Staatsbesuch bei König Salman in Riad eintraf, wurde am selben Tag ein Syrer hingerichtet, weil er Amphetamine geschmuggelt hatte. Laut Human Rights Watch war es die 28. Hinrichtung in diesem Jahr. Die Exekution ist Teil einer makabren Köpfungsorgie, die ihren Anfang im vergangenen Sommer nahm, als der „Islamische Staat“ begann, sich durch die Levante zu morden. Nichtsdestotrotz lobte sich Generalmajor Mansour al Turki, Sprecher des saudischen Innenministeriums, in einem NBC-Interview: „Wir haben gute Arbeit geleistet. Wir haben das öffentliche Bewusstsein für Al Qaida und den „Islamischen Staat“ geschärft und dafür, wie weit sie sich von der Religion des Islam entfernt haben.“ Der weltweite wahhabitische Moscheenbau war einst eine Antwort auf den Iran, der nach 1979 versuchte, seinen revolutionären schiitischen Radikalismus zu exportieren. Der Einmarsch in den Irak 2003, der Sturz von Saddam Husseins sunnitischem Minderheitenregime – der eine schiitische Mehrheit an die Macht brachte und ein religiöses Gemetzel entfesselte – und das Versagen des Westens, als es darum ging, den Aufstand der sunnitischen Mehrheit in Syrien zu unterstützen, haben die Wut der Sunniten genährt. Die vom Iran geführte schiitische Achse – von den schiitisch dominierten Provinzen des Irak bis zur Hisbollah im Libanon – hat diese Wut noch befeuert. Es ist nicht klar, ob der saudische Staat Gruppen wie den „Islamischen Staat“ finanziert hat. Saudische Bürger tun es, angestachelt von einem Diskurs der Herrschenden, der die Überlegenheit der Sunniten beschwört und voller Angst ist, von religiösen Radikalen überholt zu werden. Bei einem Treffen mit US-Außenminister John Kerry im vergangenen Sommer soll einem anwesenden arabischen Sicherheitsbeamten zufolge Prinz Saud al Faisal, Saudi-Arabiens altgedienter Außenminister, gesagt haben: „Daesh (der arabische Begriff für den „Islamischen Staat“) ist unsere (sunnitische) Antwort auf Ihre Unterstützung für Da’wa (die schiitische Regierungspartei des Irak).“ Saudi-Arabiens Bedeutung als weltgrößter Exporteur von Öl, als wichtigster Käufer westlicher Waffen und als Gegengewicht zum Iran in der Golfregion hat das Land vor Kritik geschützt. Im heutigen Durcheinander im Nahen Osten – dem Fehlen von Staatlichkeit und Institutionen, dem Verlust eines gemeinsamen nationalen Narrativs in heterogenen Ländern wie Syrien und Irak und angesichts der Schwäche der vormals einflussreichen Großmächte – fehlt es an gemäßigter sunnitischer Führung. Der mit Petrodollars befeuerte wahhabitische Absolutismus Saudi-Arabiens, der mit dem Petrodollar-Gottesstaat Iran konkurriert, hat den sunnitischen Raum regelrecht erstickt. Bis auf das Vakuum, in dem jetzt der „Islamische Staat“ sein – ebenfalls ölreiches – grenzübergreifendes Kalifat errichtet. Frühere Generationen sunnitischer Araber haben sich zu panarabischen Nationalisten wie Gamal Abdel Nasser bekannt; sie waren angeschlagene Hüter einer Ideologie, die längst am Ende war. Die Katastrophe, vor der die Araber nun stehen, erfordert eine neue Generation sunnitischer Führer, die dem Extremismus im eigenen Lager etwas entgegensetzen kann. Die Saudis, deren Wahhabismus in der DNA von Gruppen wie dem „Islamischen Staat“ steckt, können das aber nicht überzeugend leisten. Übersetzung: Luisa Seeling
David Gardner
Der Westen setzt auf Saudi-Arabien. Immerhin ist das Land der weltgrößte Exporteur von Öl und wichtiger Käufer westlicher Waffen. Doch die Monarchie gängelt ihre eigene Bevölkerung, verhängt drakonische Strafen und exportiert fundamentalistischen Islam
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außenpolitik
2015-07-31T15:05:57+0200
2015-07-31T15:05:57+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/saudi-arabien-der-falsche-freund/59543
Herr Ammes Apfelträume - Und sollte morgen die Welt untergehen ...
Wenn Reiner Amme von seltenen Setzlingen und ausländischen Apfelsorten spricht, ist er wie in einer anderen Welt. Amme ist ein Anpacker-Typ. Seit 50 Jahren bereits beschäftigt er sich mit Streuobst, mit Äpfeln und natürlich mit seinem Hauptthema: Apfelsaft. Wenn es also einen gibt, der in Chemnitz um die feinen Unterschiede zwischen einem Kronprinz Rudolf und einem McIntosh, zwischen einer Muskatrenette und einer Rubinette weiß, dann Amme. Sie aber haben von all diesen Begriffen noch nie etwas gehört? Und alle Äpfel heißen für Sie vielleicht Pink Lady? Dann ist es höchste Zeit für einen Besuch in Reiner Ammes Garten. Der Gärtner selbst erscheint zum Treffen stilecht in rotem Karo-Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und schwarzer Weste. Amme ist eben ein echter Macher inmitten einer natürlichen Apfelidylle – vordergründig zumindest. Auf dem von ihm gepachteten Grundstück, das kein Tor hat und das man daher nur mit einem beherzten Sprung über den Gartenzaun betreten kann, stehen frisch gepflanzte Apfelbäume neben Beerensträuchern und anderen jungen Pflanzen. Geschützte Feuer­ameisen krabbeln in Windeseile über einen Wasserschlauch, und zwei Schafe grasen seelenruhig auf dem Nachbargrundstück. Für die Idylle hat der Apfelexperte heute keinen Blick, denn Reiner Amme ist gehetzt. Er erklärt, dass er sich gerade noch in Windeseile umziehen konnte, nachdem er den ganzen Tag bereits die Baumpflanzungen durch die Mitarbeiter des Naturschutzbundes koordinieren musste. Der Vorarbeiter sei krank gewesen und der Chef „beim Fernsehen“. Da habe er dann selbst einspringen müssen. Amme ist eben ein gefragter Mann. Doch dazu später. Die Herzkammer von Reiner Ammes Apfelwelt ist ein zwei Hektar großes Stück Land in Chemnitz-Hilbersdorf inmitten von Kleingärten liegt es direkt an der künftigen „We Para­pom!“-Paradestrecke. Auf insgesamt zwei Hektar Land sind hier 150 Apfelbäume gepflanzt worden. Seit 2005 züchtet Reiner Amme eigenhändig Apfelsorten und hat den Boden seines Pachtgrundstücks entsprechend kultiviert. Im Jahr 2016 gründete er zusammen mit dem Naturschutzbund und dem Grünflächenamt die Initiative „Apfel 2000“, mit der er die Pflanzung von insgesamt 2000 Apfelbäumen in der Stadt finanzieren wollte. Und als dann 2019 erste Ideen für das Programm der angedachten Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 gesammelt wurden, reichte Amme kurzerhand auch seine Idee der neuen Apfelbaumpflanzungen ein. Aus dieser kleinen Apfel-Idee ist inzwischen ein gigantisches Kunstprojekt entstanden: „We Parapom!“ Unter der Kuration der österreichischen Künstlerin Barbara Holub wird eine kollektive ­„Europäische Parade der Apfelbäume“ realisiert. Ziel ist es, in einer bestimmten Route durch die Stadt 4000 Bäume zu pflanzen. Ein Mammutvorhaben. Umgesetzt wird das von der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH. Denn „We Parapom!“ gehört zu den vier Flaggschiffen, die die Stadt mit ihrer Bewerbung eingereicht hat. Und vermutlich werden es am Ende auch die Apfelbäume sein, die künftigen Besuchern der Stadt optisch am meisten in Auge stechen werden. Wer da an Joseph Beuys und an seine berühmten 7000 Eichen denkt, die der Filzhut-Künstler 1982 auf der Documenta in Kassel pflanzen ließ, der liegt nicht falsch. Zumindest der organisatorische Aufwand einer solch gewaltigen Pflanzaktion ist damals wie heute identisch. In gewisser Weise ist Reiner Amme also der Beuys von Chemnitz. Wenn auch mit weit weniger Hybris und ohne Gegenwind. Denn als Beuys damals sein grünes Zeichen gegen die Verstädterung setzen wollte, stieß er noch auf große Kritik und strikte Ablehnung. In Chemnitz ist das heute anders. Die Menschen scheinen sich schon jetzt auf die Parade zu freuen. Die wird 2025 von der zentralen Asylbewerberanlaufstelle Ebersdorf Richtung Gablenz führen, von dort weiter ins Stadtzentrum, mit einer „Kundgebung“ vor der berühmten Karl-Marx-Skulptur, über den Stadtpark, Alt-Chemnitz und weiter zum Fritz-Heckert-Gebiet. Alle 2000 deutschen Apfelsorten, sagt Amme, sollen dann das Stadtbild prägen und zudem ein neues Gemeinschaftsgefühl schaffen. Denn der Kulturhauptstadt geht es vor allem darum, gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen anzustoßen. Bis dahin ist viel zu tun. Und so ist Reiner Amme mit seinem Apfel-Knowhow irgendwann sogar zum Berater der Kulturhauptstadt GmbH aufgestiegen. Er bestellt Bäume, kümmert sich um ihre Lagerung und Pflege. Mit einem selbstironischen Lachen nennt er sich selbst mittlerweile „Bauleiter“. Doch mit einem Apfel-Bauleiter ist es natürlich nicht getan. Alle Chemnitzer werden daher für den Erfolg von „We Parapom!“ aufgerufen, einen eigenen Apfelbaum zu pflanzen oder zumindest eine Patenschaft für einen solchen Baum zu übernehmen. Anwohner können als Paten einen Baum pflegen, andere finanzielle Unterstützung leisten und alle die Ziele auch kostenfrei per Unterschrift unterstützen. Bäume sollen bewusst auf Grundstücksgrenzen zwischen zwei Wohnparteien gepflanzt, private Grundstücke zur Verfügung gestellt und damit auch soziale Grenzen gesprengt werden. Reiner Amme weiß, dass das nicht einfach werden wird. Er berichtet von den vielen Anlaufschwierigkeiten. Seiner Meinung nach sei nicht von jedem zu erwarten, dass er einen eigenen Apfelbaum auf seinem Grundstück haben wolle. Doch inzwischen sei das Projekt in Fahrt gekommen. Die Kommunen pflegten eigene Gemeindewiesen und setzten größere Baumansammlungen auf diese. Auch immer mehr Firmen ­erklärten sich mittlerweile dazu bereit, ihre Gebäudenebenflächen bepflanzen zu lassen. Ein Tech-Unternehmen pflanze sogar für jeden Mitarbeiter einen eigenen Baum. Ebenso wurden im letzten Herbst 50 Bäume auf öffentlichem Grund gepflanzt, und zur Programmverkündung der Kulturhauptstadt 2024 sollen auf einen Schlag noch einmal 1000 weitere aus der Erde wachsen. Reiner Amme macht sich vor diesem Hintergrund keine Sorgen mehr. Seine Initiative geht fest davon aus, die Fördermittel bis 2028 weiter beziehen zu können. Damit wäre die nötige Unterstützung für die Sortenvielfalt und gegen die CO₂-Emissionen von Apfeltransporten sowie Düngern gewährleistet. Und das Tollste: Die Menschen machen mit. Reiner Amme erzählt von den vielen Leuten in Chemnitz, die eigene Gärten hätten und die für Ratschläge immer wieder mal auf ihn zukämen. Besonders vom pomologischen Austausch mit europäischen Nachbarn erhofft er sich eine neue Blütezeit für die europäischen Äpfel. Denn seit dem Jahr 1900 sind 90 Prozent aller Apfelsorten ausgestorben. Amme möchte daher bei den späteren Besuchern Interesse an unbekannten oder vergessenen Apfelsorten sowie Freude am Baumpflanzen wecken. In Chemnitz selber veranstaltet er daher bereits regelmäßig Verkostungen und Ausstellungen im Umweltzentrum. Bis 2025 möchte der leidenschaftliche Apfelsaftproduzent auch noch Radler mit Apfelgeschmack in sein Programm mit aufnehmen, schließlich müsse man den Leuten ja was bieten. Zusätzlich zu den Pflanzungen realisieren europäische und internationale Künstler Interventionen im öffentlichen Raum. Diese sollen ohne direkte Bildungsabsicht gesellschaftliche und politische Themen in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Der ökologische Aspekt ist hierbei wichtig: So wird über CO₂-Ausstoß und die Versiegelung von Böden gesprochen. Doch auch über Mi­gration, Arbeitsbedingungen und die aktuelle Repräsentation der Bürger in der Demokratie. Die „Parade der Äpfel“ bedient sich für dieses Vorhaben eines starken Symbols. Denn das als sozialistische Muster­innenstadt entworfene Chemnitzer Zentrum hat eine besondere Geschichte mit Paraden. Die breiten Prachtstraßen wurden einst einzig für öffentliche Aufmärsche gebaut und zeugen von normativer Gleichheit sowie von der Unterdrückung anderer Meinungen. „We Parapom!“ versteht sich als Ausbruchsversuch aus ebendiesem engen Wertekorsett. Die Parade der Apfelbäume sucht nicht Ideologie und Gleichheit, sondern eine schier grenzenlose natürliche Vielfalt. Denn auch deutsche Äpfel leiden zunehmend unter einer aufgezwungenen Gleichheit. Dadurch, dass sie über feste EU-Normen definiert werden, können kaum noch heimische Sorten in unseren Supermärkten angeboten werden. Für den Handel von Bedeutung sind schätzungsweise 20 Sorten. Und lediglich 70 Sorten werden im gewerblichen Obstanbau kultiviert. Das absolute Highlight: der Elstar, eine Züchtung aus Golden Delicious und Ingrid Marie. Ein Apfel, der besonders saftig ist, der sich aber nur schwer lagern lässt. Reiner Amme sieht diese Verödung äußerst kritisch. Für ihn sind Äpfel seit 2000 Jahren ein gesamteuropäisches Kulturgut. Er warnt vor dem Verlust der Sortenvielfalt und erklärt, Äpfel mit einem Pflanzenschutzmittelindex von 38 seien das am meisten genmanipulierte Obst. Die deutschen Äpfel, die den Normtest nicht bestehen, werden teilweise stark reduziert in Österreich angeboten – unter dem eigentümlichen Namen „Wunderlinge“. Für das Hinterfragen von lang gelebten Glaubenssätzen und für den zeitweiligen Ausbruch aus Normen gibt „We Parapom!“ einen Raum. Das Ziel ist eine offene und bunte Gesellschaft. Menschen aller Religionen und Kulturen sollen sich für ein Schwätzchen unter den jungen Apfelbäumen treffen. Manchmal kann es nämlich doch erstrebenswert sein, zu den „Wunderlingen“ zu gehören und sich nicht der Norm anzupassen. Wie die wild wachsenden Apfelbäume auf dem Grundstück von Reiner Amme. Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.
Felix Huber
... würde Reiner Amme noch heute 4000 Apfelbäume pflanzen. Ein Besuch im Garten
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2023-05-24T22:35:42+0200
2023-05-24T22:35:42+0200
https://www.cicero.de//herr-ammes-apfeltraume-und-sollte-morgen-die-welt-untergehen-
Schwedens Nato-Beitritt - Erdogan will nur zustimmen, wenn USA Kampfflugzeuge liefert
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die Zustimmung seines Landes zur Nato-Aufnahme von Schweden an einen Kampfjet-Deal mit den USA geknüpft. „Wenn sie ihr Wort halten, hält auch unser Parlament sein gegebenes Wort“, sagte Erdogan am Dienstag unter Bezug auf Gespräche mit US-Außenminister Antony Blinken laut dem Staatssender TRT. Auch die USA würden die F-16-Kampfjets mit dem Nato-Beitritt Schwedens verbinden, so Erdogan. Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte Schweden im Mai 2022 gemeinsam mit Finnland die Nato-Mitgliedschaft beantragt. Finnland wurde Anfang April als 31. Mitglied im Bündnis willkommen geheißen. Damit auch Schweden aufgenommen werden kann, benötigt es weiterhin die Zustimmung aus der Türkei sowie aus Ungarn. Die Türkei will neue F-16-Kampfflugzeuge und moderne Ausrüstung von den USA kaufen. Die US-Regierung unterstützt die Aufrüstung bestehender F-16-Kampfjets und die Bereitstellung neuer Jets für die Türkei. Gegenwind kommt allerdings von Senatoren in den USA. Das türkische Parlament könnte nach der Wiedereröffnung Anfang Oktober über den Nato-Beitritt Schwedens abstimmen. Der schwedische Außenminister Tobias Billström berief sich in einer Reaktion auf Erdogans Aussagen am Dienstag auf eine Übereinkunft vom Nato-Gipfel in Vilnius in diesem Juli. Damals sei vereinbart worden, dass die türkische Ratifizierung so bald wie möglich geschehen solle, erklärte Billström in einem schriftlichen Kommentar an die Deutsche Presse-Agentur. „Wir gehen davon aus, dass das gilt.“ Ungarns Zustimmung scheitert vorerst an dessen Ministerpräsidenten Viktor Orban. „Es gibt nichts, was Ungarn dazu drängen würde“, sagte er am Montag im Budapester Parlament. Als Begründung zog er ein Video von 2019 heran, das angeblich in schwedischen Schulen gezeigt werde und Zweifel am Zustand der Demokratie in Ungarn säen würde. Beobachter in Budapest gehen aber davon aus, dass Ungarns Parlament den Nato-Beitritt Schwedens ratifizieren wird, sobald die Türkei das tut. dpa
Cicero-Redaktion
Schwedens Aufnahme in die Nato hängt an der Zustimmung Ungarns und der Türkei. Der türkische Präsident knüpft die Zustimmung seines Landes direkt an die Lieferung amerikanischer F-16-Kampfflugzeuge.
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außenpolitik
2023-09-26T15:55:48+0200
2023-09-26T15:55:48+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/erdogan-schweden-nato-f16
Debatte um Thomas de Maiziere - Ohne Leitkultur keine Integration
Wer vergessen haben sollte, was ein Pawlowscher Reflex ist, dessen Erinnerung wurde am Sonntag auf die Sprünge geholfen. Da veröffentlichte Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einem Gastbeitrag für die Bild am Sonntag zehn Thesen zur deutschen Leitkultur. Es dauerte nur wenige Stunden, und über den Minister und seine Thesen rollte eine Welle der Empörung. Das war absehbar. Denn die Vorstellung, dass es in Deutschland eine Kultur geben könnte, die es zu schützen und zu bewahren gilt, ist in manchen Milieus immer noch eine Provokation. Zugleich fragt man sich unwillkürlich, wo eigentlich das Problem liegt. Denn natürlich gibt es nationale Mehrheitsalltagskulturen, die normierende Kraft haben und die man Leitkultur nennen kann. Es gibt sie in Frankreich, in Italien oder in Deutschland. Sie machen die Eigenarten eines Landes aus, seinen Charakter und seinen Charme. Das macht sie so wertvoll. Die Einwände gegen das Konzept der Leitkultur sind naheliegend und ebenso alt wie langweilig. Denn natürlich ist die Leitkultur eines Landes nicht klar definierbar. Selbstredend sind kulturelle Eigenschaften soziale Konstruktionen, vieles ist schief, manches widersprüchlich. Und ohne Frage ist es so, dass der Begriff „Leitkultur“ an seinen Rändern unscharf ist und ausfranst. Das kann gar nichts anders sein. Wer diese Selbstverständlichkeiten ernsthaft als Argument gegen die Idee einer Leitkultur anführt, macht jedes Gespräch über normative Fragen sinnlos. Der kann sich, streng genommen, nur noch sinnvoll über physikalische Tatsachen unterhalten. Ebenso unsinnig ist die unter selbsternannten Freigeistern so beliebte Strategie, die deutsche Leitkultur mit dem Grundgesetz gleichzusetzen. Zwar ist das Grundgesetz ohne Zweifel das Produkt deutscher Geschichte und Kultur. Das bedeutet aber nicht, dass sich die normierende Funktion deutscher Alltagskultur in Deutschland im Grundgesetz erschöpfen würde. Der Staat, seine Verfassung und seine Gesetze sind bestenfalls Teil einer umfassenderen Normenkultur. Und gerade in einem liberalen Gemeinwesen sollte immer noch gelten: Erst kommt der Mensch und seine Lebensweise, dann der Staat. Die Leitkultur ist jene Mehrheitsalltagskultur, die uns alle prägt und nach der wir uns alle irgendwie richten. Sie ist die Summe unserer alltäglichen Rituale, unserer Gewohnheiten und Regeln, unserer Mentalitäten und Traditionen. Die so genannte Hochkultur ist davon lediglich ein Teilaspekt. Deshalb besteht Integration auch nicht im Rezitieren von Schiller-Balladen. Integration bedeutet immer Integration in diese gelebte Mehrheitsalltagskultur. Es ist daher eine Illusion anzunehmen, man könne Menschen innerhalb von ein paar Jahren und mittels einschlägiger Kurse in eine ihnen fremde Kultur integrieren. Integration, das zeigt auch die Geschichte der großen Einwanderungsländer, ist immer ein Generationenprojekt. Und sie wird umso besser gelingen, je selbstbewusster die jeweilige Aufnahmekultur ist. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer die Existenz einer Leitkultur leugnet, verhindert das Gelingen von Integration. Denn Menschen können sich nur in ein kulturelles Angebot integrieren, das ihnen auch gemacht wird. Wer integriert sich schon in eine Kultur, die von sich behauptet, dass es sie gar nicht gibt? Möchte man in so einem Club Mitglied werden? Doch genau hier liegt das eigentliche Problem: Im Namen von individueller Emanzipation und Selbstverwirklichung hat sich in den europäischen Wohlstandsgesellschaften, insbesondere bei den gut Ausgebildeten, den Flexiblen, Polyglotten und international Vernetzten, ein neuer Begriff von Kultur etabliert. Kultur ist nun nicht mehr ein Raum aus Symbolen, Werten und Normen, in die man hineingeboren wird, sondern ein globales Konsumangebot, aus dem sich das nach Lebenssinn suchende Individuum frei bedienen kann. Man liebt französische Filme, italienisches Essen, skandinavisches Design, meditiert in indischer Yoga-Tradition, und am Samstagabend tanzt man Tango Argentino. Diese globale Hybridkultur hat mit Kultur im traditionellen Sinne wenig zu tun. Sie ist ein Lifestyle. Die Vorstellung, dass es so etwas wie eine normierende Leitkultur geben könnte, ist aus ihrer Sicht ein Skandal. Denn sie widerspricht dem Ideal des traditionsbefreiten, sich selbst entwerfenden Individuums, das sich zu diesem Zweck aus dem Baukasten weltweiter folkloristischer Angebote bedient. Dass das Konzept einer traditionellen Mehrheitsalltagskultur dieser herrschenden Ideologie nicht entspricht, bedeutet allerdings nicht, dass es sie in Deutschland nicht gibt. Natürlich gibt es sie. Und Thomas de Maizière hat zu Recht daran erinnert, dass Integration eine entscheidende Voraussetzung hat: eine Kultur, in die man sich integrieren kann. Das modische Angebot eines Patchwork-Lebensentwurfes wird das nicht leisten.
Alexander Grau
Die Empörung über die Thesen von Innenminister Thomas de Maizière ist ebenso vorhersehbar wie unsinnig. Denn natürlich gibt es Rituale und Regeln, die traditionell gewachsen sind und nach denen wir uns richten. Wer mag sich schon in eine Kultur integrieren, die sich selbst verleugnet?
[ "Thomas de Maizière", "Leitkultur", "Integration", "Grundgesetz" ]
kultur
2017-05-02T13:53:10+0200
2017-05-02T13:53:10+0200
https://www.cicero.de//kultur/debatte-um-thomas-de-maiziere-ohne-leitkultur-keine-integration
Buchempfehlungen 2019 - Umblättern in Umbruchszeiten
Es gibt Sachbücher, bei denen der Autor seine Expertise nurmehr einsetzt, um zu beeindrucken. Sie bringen dem Leser wenig, außer das unangenehme Gefühl, zu dumm zu sein, um zu begreifen, was dieser kluge Mensch da auf vielen hundert Seiten ausbreitet. Deutsche Historiker neigen zu solchen Büchern. Ganz anders das neueste Werk des französischen Arabisten Gilles Kepel. Er schafft es mit sprachlicher Eleganz und inhaltlicher Präzision, das wirre Knäuel des Nahen Ostens und Nordafrikas zu entflechten. Mit einem Mal versteht man die großen Zusammenhänge des muslimischen Raumes, wie diese Region in den vergangenen 40 Jahren zum zentralen Krisenherd der Welt wurde, welcher monströser Fehleinschätzung die USA unterlagen, als sie in Afghanistan die Gotteskrieger gegen die Sowjetunion unterstützen, damit den Islamismus heutiger Prägung mit herbeiführten. Wie sich nach dem missglückten Arabischen Frühling die radikalen Kräfte in beinahe allen betroffenen Ländern (bis auf Tunesien) breit machten. Alles in spürbarer Empathie, aber ohne jede Verklärung geschrieben. Ein Meisterwerk. Ein Augenöffner. Für mich das Buch des Jahres 2019. (Christoph Schwennicke) Gilles Kepel: Chaos - Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen, 448 Seiten, 28 Euro, Verlag Antje Kunstmann, München 2019 Als die Berliner Mauer fiel und sich kurze Zeit später fast alle kommunistischen Regime des sogenannten Ostblocks wie in Luft auflösten, schien die Sache klar: Dem liberalen „Westen“ gehört nicht nur die Zukunft, er ist praktisch auch alternativlos. Drei Jahrzehnte später zeigt sich: Das war naives Wunschdenken. Demokratien im hergebrachten Sinne stehen heute in der Defensive, Autokraten wie Donald Trump, Wladimir Putin oder Chinas Staatschef Xi Jinping dominieren die Weltpolitik. Und innerhalb der EU sind es insbesondere ex-kommunistische Staaten Mitteleuropas wie Ungarn oder Polen, die sich dem linksliberalen Mainstream vehement widersetzten. Wie es dazu kommen konnte, analysieren in diesem Buch der bulgarische Politologe Ivan Krastev und der amerikanische Jura-Professor Stephen Holmes. Man muss nicht jede ihrer Thesen teilen. Aber um zu verstehen, wie es zu den massiven politischen und gesellschaftlichen Verschiebungen kommen konnte, ist „Das Licht, das erlosch“ überaus hilfreich. (Alexander Marguier) Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch, 368 Seiten, 26 Euro, Ullstein, Berlin 2019 Kaum einer, der sie nicht kennt, die Figur des Till Eulenspiegel. Daniel Kehlmann nutzt den „Tyll“ als Kunstfigur und verlegt ihn (ahistorischerweise) in die Zeit des 30-jährigen Krieges. Der Protagonist ist Zeuge und Teilnehmer einer Welt, in der das Auslöschen eines Menschenlebens, auch mal eines ganzen Dorfes, eine kaum beschreibenswerte Lappalie ist. Tyll führt diesen Menschen mit seinen Streichen ihre Dumm- und Eitelkeit vor und macht sich vom Acker, während sie übereinander herfallen. Ein paar Monate später, im Kino sitzend, den vielgelobten Film „Joker“ von Todd Phillips schauend, musste ich wieder an Tyll denken: Beide, von der Brutalität und Unmenschlichkeit ihrer Gesellschaft gezeichnet, (ver)führen diese mit ihren Streichen ad absurdum. Im übrigen: sprachlich und erzählerisch viel stärker als „Die Vermessung der Welt“, mit dem Kehlmann berühmt wurde. (Moritz Gathmann) Daniel Kehlmann: Tyll, 480 Seiten, 12 Euro, Rowohlt, Hamburg 2019 In diesem Leben werden Greta Thunberg und Henryk M. Broder keine Freunde mehr. Auch „Luisa Neubauer und ihre hüpfenden Fruchtzwerge“ haben schlechte Karten im neuen Buch des Großironikers der kleinen Form. „Wer, wenn nicht ich“ ist das Protokoll einer zweifach zerrütteten Beziehung. Sowohl von diesem seltsamen Deutschland als auch vom seltsameren deutschen Fernsehen kann und mag Broder nicht lassen, so sehr es auch schmerzt. Bereits als Chronik fortlaufenden Debattenunsinns wäre das Brevier verdienstvoll genug. Noch einmal werden wir Zeuge der schönsten verbalen Entgleisungen von Heiko Maas, Marietta Slomka und Heinrich Bedford-Strohm. Beispielsweise. Darüber hinaus ist „Wer, wenn nicht ich“ das bittere Fazit einer lebenslangen Arbeit am Gedanken – zugunsten jener geistigen Freiheit, in der allein er gedeiht. Nun sieht Broder einen „Totalitarismus der Besorgten“ am Horizont, organisierte Unfreiheit im Namen einer vermeintlich guten Sache, abermals. Während die Deutschen sich mit dem Antisemitismus, zumal dem zugewanderten, arrangiert hätten, treibe der „Klimaschutz“ sie in die nationale Hybris. Die sich dann, gut deutsch, hysterisch austobe. Die „Bundesklimakammer“ warte schon auf den „Klimaschädling“. Das sind gallige Töne. Doch schon Lessing wusste: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“ (Alexander Kissler) Henryk M. Broder: Wer, wenn nicht ich, 200 Seiten, 24 Euro. Achgut Edition, Berlin 2019 Der ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wird gerne nachgesagt, sie sei viel weniger eitel als etwa ihr männlicher Vorgänger Gerhard Schröder. Der auch als Medienkanzler in die Geschichte eingegangene Sozialdemokrat suchte die Inszenierung. Die schwarz-weiß Fotos im Stern in Brioni-Anzug mit Cohiba-Zigarre in der Hand zeugen davon bis heute. Was aber ist mit Angela Merkel? Weit gefehlt, wer denkt, ihre Darstellung in den Medien sei nicht ebenso inszeniert, wenngleich auf ganz andere Weise. In einem der letzten Jahre ihrer Kanzlerschaft hat der renommierte Fotograf Andreas Herzau einen Fotoband über „AM“ herausgebracht. Es sind Bilder einer Bundeskanzlerin, geschossen zwischen 2009 und 2017, die jenseits der täglichen Fotostories wirken. In schwarz-weiß gehalten, wirken sie einerseits bereits verklärend historisch, als blättere man sich durch die Adenauerzeit. Andererseits weisen sie in die Zukunft. Denn „AM“ wird bald im wahrsten Sinne Geschichte sein. Herzaus Werk ist keine „love story“. Er zeigt die Kanzlerin sowohl strahlend als auch fahl und maskenhaft. Die Kanzlerin lehnte bei einer ersten und einzigen direkten Begegnung mit Herzau eine offizielle fotografische Begleitung durch ihn ab. Sie halte dies für nicht nötig, beschied sie ihm. Kurz nach dieser knappen Unterhaltung soll sie eingeschlafen sein. Der Blick eines Bodyguards ließ Herzau wissen: Denken Sie nichtmal dran, jetzt auf den Auslöser zu drücken. Eine schlafende Kanzlerin? Es wäre ihr womöglich als Schwäche ausgelegt worden. Inszenierung funktioniert eben auch durch Auslassung. Herzau lässt sich darauf ein. (Bastian Brauns) Andreas Herzau: AM, 55 Bilder auf 96 Seiten, 32 Euro. NIMBUS Verlag, Wädenswil 2018 Die Hölle, das ist ein großer, leerer Raum. Ein Wasserhahn, der unablässig tropft,  mehr gibt es dort nicht. Und eine Gruppe halb verdursteter Männer, die sich noch nicht trauen, ihn aufzudrehen, weil auf einem Schild „Trinken verboten steht.” Das Wasser schmeckt modrig, es ist verunreinigt. Wer es trinkt, könnte sterben. Dies ist das KZ Auschwitz, und zu sterben, ist hier für viele keine Strafe, sondern eine Erlösung. Primo Levi war 24, als er hier interniert wurde, ein italienischer Chemiker, der sich den Partisanen angeschlossen hatte. Er hat die Hölle erlebt und überlebt. Wie er das geschafft hat, erzählt er in dem 1947 erschienenen Buch „Ist das ein Mensch?” Der amerikanische Schriftsteller Philip Roth hat dieses Buch zum notwendigsten Buch des 20. Jahrhunderts erklärt. Das ist nicht übertrieben. Jetzt, da die letzten Überlebenden des Holocausts sterben und Antisemitismus wieder erwächst, liest es sich wie eine Warnung. Dabei kommt es ohne Selbstmitleid aus, das macht dieses Buch so besonders. Primo Levi spricht über sich selbst wie über eine dritte Person. Erst diese Distanz ermöglicht es ihm, das Monströse in Worte zu fassen. Was bleibt übrig, wenn aus einem Mensch eine Nummer geworden ist? Er ist immer noch ein Mensch. Wieviel Kraft ihn das kostet, zeigt dieses Buch mit atemberaubender Sachlichkeit. (Antje Hildebrandt) Primo Levi: Ist das ein Mensch?, 208 Seiten, 9,90 Euro Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1992
Cicero-Redaktion
Die Beschleunigung nimmt immer weiter zu. Wer Bücher liest, kann dennoch zur Besinnung kommen. Wer zwischen den Jahren buchstäbliche Besinnlichkeit sucht, dem empfehlen wir als Redaktion in diesem Jahr folgende Bücher
[ "Buchvorstellung", "Buch", "Sachbuch", "Roman", "Weihnachten" ]
kultur
2019-12-19T13:55:00+0100
2019-12-19T13:55:00+0100
https://www.cicero.de//kultur/buchempfehlungen-2019-cicero
Angela Merkel - Vom nahen Ende einer Kanzlerinnenschaft
Vom Gipfel führen alle Wege bergab, nach dem Zenit folgt der Abschwung, auf den Triumph der Kater: So wird es nun auch Angela Merkel ergehen. Nicht als ewige Kanzlerin wird sie in die Geschichte eingehen, sondern als die Frau, deren Machtbewusstsein in einer Großen Koalition zerrieben wurde. Darauf deutet der neue „Mediatenor“, demzufolge Merkel in 24 „tonangebenden deutschen Medien“ vom dritten zum viertel Quartal 2013 rapide an Ansehen eingebüßt habe. Sie erfreut sich nun noch einer Zustimmungsrate von sieben (statt 16) Prozent und erfährt Kritik in 37 (statt 25) Prozent der jeweiligen Berichte. Guido Westerwelle, ergänzen die Macher von „Mediatenor“ sei es vom vierten Quartal 2009 zum ersten Quartal 2010 ähnlich ergangen. Die FDP ist heute zur außerparlamentarischen Opposition geschrumpft, Westerwelle nicht mehr ihr Parteivorsitzender. Dieses Schicksal droht der CDU nach Merkel nicht. Klarer aber wird nun täglich, dass der hohe Sieg bei der Bundestagswahl ein Pyrrhus-Sieg für die Union war. An der Seite eines trotz desaströsem Ergebnis – man erinnere sich: die SPD wollte den Bundeskanzler stellen – zwischen Selbstgefälligkeit, Aggressivität und Machismo schwankenden SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel wird sich der prinzipienschonende Politikstil der Angela Merkel zur Unkenntlichkeit abschleifen. Ja, mehr noch: Die Große Koalition wird sich als bloßes Machtvehikel zur Kanzlerinnenschaft Merkels erweisen. Der törichte Satz Gabriels, erst komme die Partei, dann das Land, lässt sich mit einer leichten Variation auf Merkels Ehrgeiz übertragen: Erst kommt die Kanzlerin, dann lange nichts, dann das Land, das sie regieren will, dann die Partei. Die Versuche, ein solches Machtdreieck als Staatsräson auszugeben, werden an der Realität zerschellen. Warum nämlich soll ein Wählervotum, das zunächst einer Partei galt, im Nachhinein umgedeutet werden zum Blankoscheck für eine Politik, in der die Programmatik von CDU und CSU nur wie ein sehr fernes Echo widerhallt? Die bisherige Beliebtheit der Kanzlerin wird sich je länger, je schneller in Überdruss verwandeln. Sie wird nicht mehr die Lobbyismen einer Kleinpartei namens FDP im Sinne politischer Vernunft und des übergeordneten Gemeinwohls bändigen können. Nein, sie wird zwischen zwei Parteivorsitzenden, die sich in den Zaubertrunk ewiger Stärke gefallen wähnen, gänzlich entzaubert sich sehen. Neben der einigermaßen klaren politischen Agenda von SPD und CSU wird die programmatische Leere der CDU desto düsterer erscheinen. Angela Merkel wird auf sich und nur auf sich verweisen können, um den beiden Alpha-Tieren in die Speichen zu greifen. Denn wo einmal die CDU war, da gähnt ein bloßer Nutzen, da triumphiert der reine Zweck, und alle Zwecke münden in sie, in Angela Merkel. Das Märchen von des Kaisers, pardon, der Kaiserin neuen Kleider erfährt im großkoalitionären Tagesgeschäft seine tägliche Aufführung. Irgendwann wird die Kanzlerin wie ein trotziges und neunmalkluges Kind erscheinen, das allen fremden Ansprüchen nur ein „Ich will aber nicht“ entgegensetzen kann. Auf dieses Ich, auf das Ich der Angela Merkel, wird sich das Regieren der Kanzlerin verkürzen. Bald wird das Volk dieses Schauspiels überdrüssig sein, und dann wird es rufen: Gebt uns einen neuen Kaiser, pardon, einen neuen Kanzler. Die CDU aber wird am Wegesrand stehen und sich abwenden und erkennen: mit ihr hat das alles längst nichts mehr zu tun. [[nid:53807]]
Alexander Kissler
Kisslers Konter: Die Große Koalition könnte für die Kanzlerin zum persönlichen Fiasko werden. Neben SPD und CSU wird sie die programmatische Leere der CDU nicht länger verdecken können, schreibt unser Kolumnist.
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kultur
2013-12-03T10:56:02+0100
2013-12-03T10:56:02+0100
https://www.cicero.de//kultur/merkel-kanzlerin-fuehrungsstil-cdu-programm/56555
Genuss mal anders - Das Gericht zum Wahlabend
Am Sonntag ist es wieder soweit. Punkt 18 Uhr senden die großen TV-Stationen ihre ersten Prognosen zum Ausgang der Bundestagswahl, rund 30 Minuten später wird es die erste Hochrechnung geben. Möglicherweise sind die Mehrheitsverhältnisse dann bereits weitgehend klar, und das Geunke und Geraune über mögliche Koalitionen wird den Verlauf des weiteren Abends prägen. Aber vielleicht lassen die ersten Zahlen auch noch viele Möglichkeiten offen, weil es sehr knapp geworden ist. Dass man so einen Abend auch kulinarisch angemessen gestalten sollte, liegt eigentlich auf der Hand. Also nicht nur wie beim Fußball mit Chips und Bier vor der Glotze hängen. Oder Frustsaufen beziehungsweise freudiges Anstoßen mit Champagner. Da es sich eingebürgert hat, einige auch diesmal denkbare Konstellationen mit griffigen Flaggensymbolen zu versehen, kann man ruhig mal einen Ausflug in eher exotische Kochgewohnheiten ins Auge fassen. Schließlich haben wir es künftig möglicherweise mit einer Kenia- (CDU/CSU, SPD, Grüne) oder Jamaika-Koalition (CDU/CSU, Grüne, FDP) zu tun. Eine Ampel (SPD, Grüne, FDP) kann man kulinarisch kaum darstellen, das gilt auch für Rot-Rot-Grün. Und eine Deutschland-Koalition (CDU/CSU, SPD, FDP) wäre küchentechnisch allzu beliebig. Bleiben wir also bei Jamaika. Ohnehin kann ein bisschen karibisches Sommer-Sonne-Party-Feeling angesichts des unerbittlich Einzug haltenden schmuddeligen Herbstes nichts schaden. Und bevor man sich Gedanken über raffiniert marinierte Teile von Fischen, Hühnern und Schweinen oder die Zubereitung von Kochbananen macht, sollte man sich der Basis der meisten karibischen Gerichte widmen: Reis mit Bohnen. Zugegeben, das klingt äußerst profan. Aber bei der Zubereitung kann man sehr viel falsch machen – und auch sehr viel richtig. Wer jetzt einfach eine Dose Kidneybohnen nimmt und deren Inhalt zusammen mit Reis so lange kocht, bis er weich ist, befindet sich schon mal auf dem Holzweg. Wir nehmen getrocknete Bohnen, die wir über Nacht einweichen. Die Bohnen dann mit braunem Zucker, Lorbeerblatt und zerstoßenem Pfeffer 30 bis 40 Minuten kochen, anschließend abgießen und etwas salzen. In einer Pfanne werden jetzt Zwiebeln, Knoblauch, Chilischoten angeschwitzt. Den Reis mitsamt frischem Thymian und den Bohnen dazugeben. Das wird dann mit Kokosmilch (ungezuckert) und Hühnerbrühe aufgegossen. Auf kleiner Flamme 20 Minuten köcheln lassen, bis der Reis (nicht zu) weich ist. Optimal gelaufen ist es, wenn der Reis die ganze Flüssigkeit aufgenommen hat. Falls das nicht geklappt hat, entweder abgießen oder etwas Brühe nachgießen. Das schmeckt jetzt schon ziemlich gut, aber Reis mit Bohnen als Solo-Gericht ist hierzulande wohl kaum vermittelbar. Daher wird das Geköchelte jetzt eigentlich warmgestellt, besagte „raffiniert marinierte Teile von Fischen, Hühnern und Schweinen“ werden gebraten, und aus der Marinade machen wir eine Soße. Doch das ist ein anderes Thema, und da morgen Wahltag ist, geht es in dieser Kolumne um die Basis – nicht nur des politischen Systems, sondern auch der Speisezubereitung. Reis mit Bohnen „Jamaika“ Zutaten für 4 Personen 250 g Reis 100 g getrocknete Kidneybohnen 200 ml Kokosmilch 500 ml Geflügelbrühe 2 Thymianzweige 2 kleine , gewürfelte Zwiebeln 3 gehackte Knoblauchzehen 2 entkernte, gehackte Chilischoten (die ganz Harten können die Kerne auch drinnen lassen) 1 TL brauner Zucker 1-2 Lorbeerblätter Salz, grober schwarzer Pfeffer
Rainer Balcerowiak
Auch unser Genusskolumnist wird die meiste Zeit des morgigen Wahlabends vor dem Fernseher verbringen. Und wagt dabei einen kulinarischen Ausflug in eine der möglichen Koalitionsdestinationen – Jamaika.
[ "Gerichte", "Fleisch" ]
kultur
2021-09-22T13:21:45+0200
2021-09-22T13:21:45+0200
https://www.cicero.de//kultur/genuss-mal-anders-das-gericht-zum-wahlabend-reis-bohnen-jamaika
Francis Fukuyama - „Kein besseres Modell als die liberale Demokratie“
Herr Fukuyama, unmittelbar nach dem Kalten Krieg haben Sie mit Ihrem Buch „Das Ende der Geschichte“ die erste Blaupause für ein neues Zeitalter vorgelegt. Müssen Sie Ihre damalige These, dass liberale Demokratie und Marktwirtschaft keine ideologischen Konkurrenten mehr haben, revidieren?Francis Fukuyama: Mir ging es in dem Buch um die Frage: Welche Gesellschaft werden wir nach dem Ende des Modernisierungsprozesses haben? Vor 1989 haben die fortschrittlichsten Intellektuellen gedacht, dass in diesem Prozess alles auf eine Form von Sozialismus, Kommunismus und Marxismus hinauslaufen würde. Ich hingegen war der Auffassung, dass am Ende dieses Modernisierungsprozesses eine Form von liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft stehen wird. Davon bin ich immer noch überzeugt. Es gibt nichts zu widerrufen. Auch nicht angesichts einer neuen Konfrontation mit Russland, das sich als Gegenmodell zum „dekadenten Westen“ sieht, oder des Erstarkens eines radikalen politischen Islam?Nein, ich halte an meiner These fest: Weder das islamische Kalifat noch der russische Petrostaat scheinen mir Modelle zu sein, die moderne Gesellschaften entwickeln können. Wie steht es mit Chinas „autoritärem Kapitalismus“?China ist tatsächlich die größte Herausforderung – ein autoritärer Staat, dem es offensichtlich gelingt, die Prozesse wirtschaftlicher Entwicklungen sehr gut zu steuern. Könnte China also ein ernsthafter Konkurrent für die liberale Demokratie sein?China betreibt wirtschaftliches Wachstum auf Kosten sozialer Werte. Es kombiniert eine autoritäre Regierung mit einer in Teilen marktwirtschaftlichen Ökonomie. Die Legitimität des Systems und die andauernde Herrschaft der Partei beruhen auf kontinuierlich hohen Wachstumsraten. Die wird es aber nicht ewig geben, was Chinas Entwicklung von einem Land mit einem mittleren Durchschnittseinkommen zu einem Land mit hohem Durchschnittseinkommen beträchtlich erschweren wird. Dieser Wachstumsprozess hat zu enormen Hypotheken geführt. Dazu gehört die unglaubliche Verschmutzung von Böden, Luft und Wasser. Sollten die Zeiten schlechter werden, wird die wachsende Mittelklasse das System des korrupten Paternalismus nicht akzeptieren. Seit Maos Zeiten verfügt China nicht mehr über ein universales Ideal, eine über die eigenen Grenzen hinaus reichende ideologische Anziehungskraft. Was wird dann aus dem „chinesischen Traum“?Die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft und ein System, das jenen mit den richtigen politischen Verbindungen enorme Vorteile verschafft, zeigt, dass der „chinesische Traum“ nichts weiter ist als die Möglichkeit für ein paar wenige, in kürzester Zeit sehr reich zu werden. Mein Fazit lautet daher: Das chinesische Modell ist ein Konkurrent, aber es wird sich langfristig nicht durchsetzen. Gibt es denn gar keine Bedrohung der liberalen Demokratie?Die Frage ist doch, ob es irgendwo ein anderes, besseres Modell gibt. Das kann ich nicht erkennen. Niemand in Europa oder den USA wird sich ernsthaft den Modellen zuwenden, die China, Russland oder der Iran repräsentieren. Wenn man die Entwicklung Afghanistans und Iraks betrachtet, spielen die USA und der Westen nicht gerade eine rühmliche Rolle bei der Implementierung demokratischer Strukturen.Diese Fälle zeigen, dass es für Außenstehende extrem schwer ist, eine nationale Identität aufzubauen. Das muss tatsächlich von den Eliten in den entsprechenden Gesellschaften geleistet werden. Wenn sie dazu nicht bereit sind, wird es wahrscheinlich auch nicht geschehen. Allerdings muss ich auch sagen: Die Erwartung der Menschen an die Entwicklung von Institutionen ist unglaublich hoch. Man muss doch nur die Entwicklung der Demokratie im 19. Jahrhundert in Europa betrachten: Es dauerte mehrere Generationen, bis sie wirklich etabliert war. Es gibt nicht wenige, die behaupten, dass Demokratie für manche Gesellschaften nicht geeignet ist – so seien Islam und Demokratie nicht miteinander vereinbar. Die Aufstände in der arabischen Welt seien schließlich in Bürgerkriege oder Diktaturen gemündet.Die Vorstellung, dass man in der arabischen Welt nur wenige Jahre nach dem Arabischen Frühling eine gefestigte Demokratie etablieren kann, ist lächerlich. Es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis die Demokratie in Europa gefestigt war. Meiner Auffassung nach erfüllt der Islam in Teilen die Rolle, die der Nationalismus im 19. Jahrhundert spielte – man kann Menschen auf unterschiedliche Art und Weise mobilisieren. In Europa wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Demokratie durch Nationalismus umgelenkt und hat zu verheerenden Kriegen geführt. Heute spielt Religion in der muslimischen Welt in mancher Hinsicht eine ähnliche Rolle. Wenn die Demokratie das beste Modell ist, dann könnten es sich die Demokratien doch recht bequem machen …Nur weil man eine reiche Demokratie geworden ist, bedeutet das nicht, dass deren Institutionen auch weiterhin gut funktionieren. Einer Demokratie droht der Verfall, wenn zwei Komponenten zusammentreffen: geistige Unbeweglichkeit und die Vereinnahmung staatlicher Einrichtungen durch die Eliten. Erfüllen die Vereinigten Staaten noch die Standards einer liberalen Demokratie – oder ist die politische Ordnung der USA anfällig geworden?Ich glaube nicht, dass Amerikas Demokratie brüchig geworden ist in dem Sinne, dass sie jederzeit kollabieren könnte. Allerdings ist die Leistungsfähigkeit der Regierung nicht besonders gut – und sie wird schon seit einigen Jahrzehnten immer schlechter. Man betrachte nur einmal eine grundlegende Angelegenheit wie die Verabschiedung eines Haushalts – seit fast einem Jahrzehnt ist der Kongress nicht in der Lage, einen Haushalt zu verabschieden, weil er sich nicht einigen kann, wie eine langfristige und zukunftsfähige Finanzpolitik aussehen könnte. Hier wird die grundlegende Pflicht einer Regierung nicht erfüllt. In dieser Hinsicht funktioniert die Demokratie nicht sehr gut. Das bedeutet aber nicht, dass eine soziale Revolution ausbricht. Häufig werden die Republikaner beziehungsweise die Tea Party hierfür verantwortlich gemacht. Ist die Tea Party durch ihre Politik der Verweigerung eine Gefahr für die Demokratie in den USA?Nein. Dass die Tea Party zu einer politischen Kraft geworden ist, ist der Stärke der amerikanischen Demokratie geschuldet. Sie ist eine Graswurzelbewegung, die einen wichtigen Teil der amerikanischen Wähler vertritt, und sie ist in der Lage, das politische System zu nutzen, um ihre Ansichten zu vertreten. Also kein Grund zur Sorge?Das Problem ist ein anderes. Ich nenne es: „Vetocracy“. Damit meine ich, dass wir so viele Ebenen des checks and balances, also der Kontrollen, in unserem System eingebaut haben, dass sie es gut organisierten Minderheiten einfach machen, Entscheidungen der Mehrheit zu blockieren. Die Teay Party vertritt vielleicht ein Drittel der Republikaner, was nicht mehr als 15 bis 20 Prozent aller Wähler ausmacht. Die Architektur unserer Institutionen aber ermöglicht es ihnen, das Repräsentantenhaus zu kontrollieren, was es wiederum unmöglich macht, Gesetze zu verabschieden. Das ist Teil eines größeren Problems: Wir haben so viele Veto-Möglichkeiten in unserem Gesetzgebungsverfahren, dass wir am Ende größtenteils gelähmt sind. Das führt zu schlechter Gesetzgebung und verhindert, dass wir uns wichtigen Fragen zuwenden wie etwa der Waffenkontrolle und der Immigration. Würden Sie Amerika noch als Vorbild bezeichnen?Während die amerikanische Ökonomie ein Quell überragender Innnovationen bleibt, ist die US-Regierung zurzeit kaum ein Hort der Inspiration für die Welt.
Judith Hart
Sind die USA im Niedergang begriffen? Und welchen Stellenwert hat die Demokratie in der Welt überhaupt noch?
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außenpolitik
2014-11-03T12:39:55+0100
2014-11-03T12:39:55+0100
https://www.cicero.de//aussenpolitik/francis-fukuyama-amerikas-system-hat-zu-viele-kontrollen/58424
Roberto Bolaño – Der Spieler
Der Geschichtsbewältigungs-Weltmeister lacht selten, nicht einmal über die bittere Ironie, dass das Projekt Vergötterung des arischen Übermenschen mit Hitler und Goebbels von zwei Gestalten angeführt wurde, die diesem Ideal zu nahezu null Prozent entsprachen. Die Vorsicht ist gut begründet: Karikaturen der Europa brandschatzenden NS-Truppe wirken schnell verharmlosend. Wenn es aber jemandem mit profunden Kenntnissen der deutschen Geschichte und Kultur gelingt, diese Ironie einzufangen, ohne den Schrecken zu mindern – so wie Roberto Bolaño in diesem erstaunlichen Frühwerk von 1989 –, dann rückt uns der heimtückische Wahnsinn so nah wie kaum jemals in historisierenden Darstellungen. „Das dritte Reich" führt vor, wie sich ebendiese finsteren Schergen eines doch so anständigen und lange noch den Anschein von Normalität wahrenden Charakters bemächtigen. Das Buch handelt vom Triumph des blinden Siegeswillens, vom Einbruch des Auserwähltheits-Glaubens und der korrespondierenden Paranoia ins Bürgertum, das zunächst das Mitleid in sich abtöten muss: „Mein Spiel ist natürlich viel komplizierter. Es erfordert einen kaltblütigen, spekulativen und kühnen Kopf." Bolaños Held, obgleich sofort herrisch auftretend, ist nicht unbedingt unsympathisch: eine Falle. Im Leser steigt denn auch allmählich dieselbe Furcht auf, die Udo Berger befällt, als er im Spiegel über der Hotelrezeption sein Abbild vermisst: Hat man es mit dem Leibhaftigen zu tun? Der Spiegel hänge lediglich geneigt, erklärt der eingeschüchterte Portier. Der schon panisch handgreiflich werdende Held: „Ich glaube, ich war drauf und dran, dem armen Kerl den Hals umzudrehen", beruhigt sich noch einmal. Immer stärker aber wird im Folgenden die Gegenwart von jener Parallelwelt durchdrungen, in welcher der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Es geht – ein echter Bolaño also – um die Faszination des Abgrunds, um das Erwachen in einem Albtraum. Die Ironie findet sich auf vielen Ebenen, sogar auf jener der Form. Das vorliegende Tagebuch nämlich verfasst der Protagonist dieses Debüt-Romans, um seinen Stil zu verbessern, denn obwohl er als Fachautor glänzen möchte, werden seine Artikel wegen „Unbeholfenheit" stark verändert oder ganz abgelehnt. In diesem gekränkten, gegen die Redakteure wütenden Autor mag man Hitler und Goebbels zugleich erkennen, auf jeden Fall aber Bolaños Obsession mit der Doppelfigur des Künstlers/Faschisten. Der brillanteste, böseste und komischste Einfall dieses Buches besteht jedoch darin, die Versuchsanordnung des Zweiten Weltkriegs in die Paradieshölle des deutschen Massentourismus zu verlegen, an die dem Autor bestens vertraute Costa Brava. Udo Berger, „deutscher Landesmeister" in der Disziplin Kriegsspiele, Champion insbesondere des tatsächlich existierenden Strategie-Brettspiels „Das Dritte Reich", verbringt hier seine Ferien, und zwar erstmals mit Freundin Ingeborg. Das Hotel kennt der Held noch aus der Kindheit, ebenso die Besitzer, Frau Else und ihren Mann; den sieht er bald als Konkurrenten im Kampf um die Gunst Elses an. Freilich war der Beziehungskonflikt programmiert, denn Udo möchte den Urlaub vor allem nutzen, um eine neue Spielstrategie für „Das Dritte Reich" zu entwerfen und diese in einem Artikel für ein Fanzine festzuhalten. Die konsumistisch-fröhliche Ingeborg dagegen zieht Strand, Ausflüge und Diskotheken vor und lernt zu Udos Verdruss schnell ein anderes deutsches Paar kennen: Der Charismatiker Charly, so herzlich wie gewalttätig, verschwindet allerdings bald bei einem Surf-Ritt. Hanna, die nicht nur von Charly malträtierte Freundin, verlässt Spanien noch während der Suche nach der Leiche. Ingeborg reist am Ende ihres Urlaubs ebenfalls ab. Doch Berger bleibt in dem sich leerenden Ort, vorgeblich aus Freundschaft zu Charly. Aus dem Gast wird ein Besatzer, der kaltblütig aller Feindschaft trotzt, die ihm immer unverhüllter entgegenschlägt. Er hat am Strand einen Gegner und Meister aufgetan, den durch Folter entstellten „Verbrannten". Dieser, Bergers Churchill, erfasst schnell die Regeln des Spiels. Nacht für Nacht bewegen sich die beiden Kontrahenten nun auf den Endkampf zu, wobei es für Udo, der die anfangs siegreichen Achsenmächte spielt, bald immer auswegloser wird, denn der Verlauf folgt im Großen tatsächlich der Historie, dem Fatum. Als der „Fall Berlins" näherrückt, wird Berger vor der tödlichen Siegerjustiz gewarnt, doch abbrechen kann und will er nicht mehr, weil ihm außer diesem Spiel nichts geblieben ist. Groß scheint bei einem solchen Plot die Gefahr, dem Schematismus zu erliegen. Umso mehr zeugt es von Bolaños erzählerischer Meisterschaft, dass sich der Roman keineswegs in der Allegorie erschöpft, sondern mit einer originellen, nie langweilenden Handlung aufwartet, die der Autor jederzeit stilistisch im Griff hat. Zu den kleineren Schwächen des Buches gehört das lapidare Ende, das unbefriedigend bleibt, auch wenn es die Situation Deutschlands nach 1945 gar nicht so falsch abbildet. Auch ist die viel zitierte Parallelisierung deutscher Generäle mit Schriftstellern, darunter die von Rommel mit Celan, wohl nur als Versuch zu werten, mit Unerhörtem aufzutrumpfen. Vielleicht aber sollten diese Stellen ja auch nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Schließlich wurde der ansonsten keineswegs unfertig wirkende, höchst lesenswerte Roman über den homo ludens mit einigem Tamtam aus dem Nachlass publiziert.
Apokalypse jetzt! Roberto Bolaño lässt das Dritte Reich in seinem Roman noch einmal enden
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kultur
2012-01-31T15:27:41+0100
2012-01-31T15:27:41+0100
https://www.cicero.de//kultur/robert-bolano-dritte-reich-nazis-der-spieler/48154
Amerika und der Arabische Frühling – Terrorwelle wird Wahlkampfthema
Botschaften werden gestürmt, Diplomaten getötet, Fahnen verbrannt, islamistische Parolen skandiert. Der Anlass, ein 14-minütiger Videofilm, steht in keinem Verhältnis zur Reaktion. Geballte Wut entlädt sich, auch genährt von antiamerikanischen und antiwestlichen Ressentiments. Willkommen in der muslimischen Welt des „Arabischen Frühlings“! Da Pessimisten oft gut informierte Realisten sind, hat ihre Weltsicht derzeit die Macht der Bilder auf ihrer Seite. Zwischen Tunesien und Syrien herrschen Chaos, Gewalt und Krieg. Vielerorts sind Islamisten an die Macht gekommen. Christen werden verfolgt, Religions- und Meinungsfreiheit weiterhin missachtet, eine kritische Presse zensiert. Antiamerikanismus und Antiisraelismus sind virulenter denn je. Die Stabilität der Despoten wurde abgelöst durch instabile Dschihad-Demokratien. [gallery:Wer ist Mitt Romney? Ein Kandidat zwischen Fettnäpfchen und Hoffnungsträger] Diese Sicht auf die Ereignisse ist auch in den USA weit verbreitet. In konservativen Kreisen wird sie zusätzlich genährt von einer islamkritischen Haltung. Als naiv verspottet wird Präsident Barack Obama für seine Rede in Kairo im Sommer 2009, in der er einen Neuanfang der Beziehungen zwischen Amerika und den Muslimen in aller Welt versprach. Als Verrat an den Interessen Israels wird seine Unterstützung der Tahrirplatz-Revolution in Ägypten angeprangert, als töricht der von ihm unterstützte Krieg in Libyen zur Entmachtung von Muammar Gaddafi. Denn was ist der Dank? Ausgerechnet am Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 beginnt in Ägypten und Libyen eine antiamerikanische Gewaltwelle, während die Sicherheitskräfte der neuen Machthaber tatenlos zusehen. Einige republikanische Kongressabgeordnete fordern inzwischen die Kürzung der amerikanischen Entwicklungshilfe für Libyen und Ägypten. Doch Obama erhält überraschende Unterstützung. Ägyptens Präsident Mohammed Morsi sei kein Ayatollah Chomeini, die Analogie zur iranischen Revolution verfehlt, nicht gekürzt, sondern aufgestockt werden müsse die Hilfe für die nachrevolutionären Regierungen. Das schreibt am Freitag in der „Washington Post“ Robert Kagan, den man zweifellos den Neokonservativen zurechnen kann. Kagan warnt seine Landsleute vor Islamophobie und erinnert sie daran, dass die Wahlen in Ägypten vollkommen demokratisch von den Muslimbrüdern gewonnen wurden. „Entweder wir unterstützen die Demokratie oder nicht.“ Zweifellos sei Ägypten heute demokratischer als je zuvor. Die Obama-Regierung habe zurecht ihre Hände ausgestreckt. Auf der folgenden Seite: Außenpolitik rückt in den US-Wahlkampf. Das ist schlecht für Mitt Romney Ein neues außenpolitisches Schisma bahnt sich in Amerika an. Auf der einen Seite interventionsskeptische (einzige mögliche Ausnahme: Iran), islamkritische, pro-israelische Konservative, auf der anderen Seite rechte Neocons, humanitäre Interventionisten und idealistische Liberale. Für den Herausforderer der Republikaner, Mitt Romney, heißt das nichts Gutes. Amerikas Außenpolitik ist plötzlich Wahlkampfthema. Er muss sich also entscheiden. Schon als er Robert Zoellick, den ehemaligen Weltbank-Präsidenten und pragmatischen Realisten zu seinem Berater in Fragen der nationalen Sicherheit erklärte, tobten die Neokonservativen. Jeder Schritt auf diese zu verstärkt indes den Widerstand der starken „Ohne-mich-Fraktion“ (Tenor: Die Araber sollen sehen, wie sie alleine zurecht kommen). In Sachen Reaktion auf den „Arabischen Frühling“ hat Romney die Wahl zwischen falsch und verkehrt. Neocons wie Robert Kagan, Dick Cheney, Elliot Abrams (stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater von George W. Bush), William Kristol („Weekly Standard“) oder Danielle Pletka („American Enterprise Institute“) haben die Rebellionen in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien stets verteidigt, ja triumphal begrüßt. In ihnen sei die Saat des Keimes aufgegangen, der durch die Militärinterventionen in Afghanistan und Irak gelegt wurde. Der Dominoeffekt des Freiheitsgedankens wurde ebenso bewiesen wie die Richtigkeit der Freiheitsagenda von George W. Bush. [gallery:Die Vita der Kandidaten - Barack Obama] Amerika habe in der Region vitale Interessen, sagen die Neocons. Noch stärker als bisher müssten daher die liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Kräfte unterstützt werden. Der Übergang brauche Zeit, nachrevolutionäre Eruptionen seien normal. Die stabilitätsfixierte Realpolitik, durch die sich alle Despoten in der Region jahrzehntelang an der Macht halten konnten, sei falsch und unmoralisch gewesen. Die konservativen Apokalyptiker des „Arabischen Frühlings“ begehen aus neokonservativer Sicht Verrat an den Werten Amerikas. Ginge es nach ihnen, müssten US-Streitkräfte auch in Syrien intervenieren. Das aber ist höchst unpopulär, wie Interventionen überhaupt unpopulär geworden sind in Amerika. Wie aber will Romney die Nahost-Politik Obamas kritisieren, wenn der Präsident ausgerechnet von Neokonservativen für seine Unterstützung der Revolutionen gelobt wird? Isolation oder Einmischung,  Realismus oder Idealismus: Amerikas Präsidentschaftswahlkampf dreht sich nun auch um die Frage, ob das Land bereit ist, weiterhin eine globale Führungsrolle zu übernehmen.
Auf ein Schmähvideo über den Propheten Mohammed folgt eine gewaltige Terrorwelle im arabischen Raum. Die Außenpolitik wird zum Wahlkampfthema in den USA. Nun erhält Barack Obama Zuspruch von ungewohnter Seite 
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außenpolitik
2012-09-17T10:31:39+0200
2012-09-17T10:31:39+0200
https://www.cicero.de//aussenpolitik/terrorwelle-wird-wahlkampfthema/51892
Sterbehilfe - Das Töten darf kein Geschäft werden
Zwei große Missverständnisse stehen dem Erfolg des Liberalismus in Deutschland entgegen. Das eine besagt, dass von ihm nur die profitierten, die sich ihn leisten könnten: die Erfolgreichen und Schönen und Bessergestellten. Als ein Lifestyle-Accessoire der oberen Zehntausend. Die breite Masse verlange nicht Freiheit, sondern Sicherheit, nicht weniger, sondern mehr Staat, damit dieser sie vor den Risiken der Moderne schütze. So argumentieren die Beharrer und Bewahrer, die Profiteure der Sozialindustrie und des Staatsapparats, die alle Menschen für schwer erziehbare Kinder halten. Solche Reaktionäre der Entmündigung findet man in sämtlichen Parteien. Das andere Missverständnis entspringt dem Kern des Liberalismus selbst und ist nicht minder falsch. Vollendet frei sei eine Gesellschaft erst dann, wenn es zwischen individuellem Bedürfnis und Befriedigung, Wunsch und Erfüllung keinen Umweg mehr gebe. Wenn die Gesellschaft all jene Mittel und Wege umstandslos bereitstelle, damit der Einzelne schalten und walten darf, wie es ihm gerade zumute ist. Dieser Fantasie liegt ein ebenso reduziertes Menschenbild zugrunde. Dem betreuungsbedürftigen Mündel korrespondiert der Mensch als Bedürfnispuppe. Zu den menschenfreundlichen Höhen der Person, die nur in einem Klima echter Liberalität gedeihen kann, schwingt sich keines der beiden Modelle auf. Beispielhaft lässt sich das illiberale Missverständnis an der Debatte zur Sterbehilfe ablesen. Dass der Staat niemanden zwingen darf, seinem Leben ein Ende zu setzen oder über alle Qual und Fährnis hinweg daran festzuhalten, ist weitgehend unstrittig. Sterbe- wie Wohnzimmer müssen auch künftig vor den Zumutungen wohlmeinender Vollzugsbeamter verschont bleiben. Angesichts der neuen deutschen Lust am Spähen und Spionieren wird diese Grenze schwer genug zu verteidigen sein. Anders verhält es sich mit der zur parlamentarischen Entscheidung anstehenden Frage, ob den Ärzten es künftig erleichtert oder erst recht untersagt werden sollte, Patienten auf deren Wunsch das Sterben zu verkürzen oder direkt den Tod ins Werk zu setzen. Soll der Gesetzgeber ausdrücklich erklären, dass ein Arzt nicht tun soll, woran ihn bisher die Standesregel hindert, töten nämlich? Oder soll der Arzt und nur der Arzt unter bestimmten Bedingungen tun dürfen, was Vereinen untersagt bleiben muss? Darauf wird es wohl hinauslaufen: auf das Verbot organisierter und/oder kommerzieller Sterbebeihilfe bei Aufrechterhaltung des Tötungstabus. Ist nun aber, wie es auch hier zu lesen stand, derjenige ganz besonders liberal, wer der „Hilfe kommerzieller Anbieter“ beim Getötetwerden das Wort redet? Nein, ganz im Gegenteil. So wird die Grenze zur Illiberalität überschritten. Es stimmt schon, dass eine liberale Gesellschaft eines freien Marktes bedarf und dass ohne Marktwirtschaft und Kapitalismus keine bürgerlichen Grundrechte dauerhaft zu schützen sind. Die Freiheit zu handeln geht dem Eigentumsrecht voraus, das wiederum die Basis einer jeden Bürgergesellschaft der Gleichen ist. Daraus folgt nun aber keineswegs, dass alle Güter und alle Dienstleistungen voraussetzungslos zum Handel freigegeben sein müssen. Dem Waffenhandel sind enge Grenzen gesetzt, der Menschenhandel ist sanktioniert, der Organhandel hoch umstritten, und wer einen Killer sucht, muss jenseits des freien Marktes und hoffentlich erfolglos Ausschau halten. Und weshalb? Um der Menschlichkeit willen müssen die wenigen Handelsverbote entschlossen verteidigt werden. Sonst wäre soziale Barbarei die Folge individueller Bedürfnisbefriedigung. Gerade so verhielte es sich mit der „Hilfe kommerzieller Anbieter“ auf der letzten Etappe. Gäbe es diese Anbieter, wäre der Tod zum Handelsobjekt entstellt, das im Wert steigen und fallen würde, für das geworben und businessgeplant werden, für das es Rabattaktionen und Kundenkarten geben kann. „Zahle jetzt, stirb später“? „Zweimal zahlen, dreimal sterben – die große Familiensparaktion mit Bonusgarantie“? Keinem „kommerziellen Anbieter“ könnte man ob solch taktloser Lautsprecherei einen Vorwurf machen, der Kommerz wäre ja sein Daseinszweck. Wenn der Tod zur Börse fährt, ist der sterbende Mensch schon Verhandlungsmasse geworden und also entmenschlicht. An die Stelle der Kunst zu sterben wäre die Technik der Entsorgung getreten. Aus vermeintlich liberalen Gründen wären wir in einem bloß verfahrenstechnischen Laissez-faire gelandet. Freiheit braucht Verantwortung. Liberalismus ohne Ordnung ist ein Boxkampf ohne Ring und ohne Seile. Darum wären kommerzielle Tötungsspezialisten ein Abschied vom Menschen und seiner Größe, die alle Zwecke überragt. Der englische Schriftsteller und Journalist G. K. Chesterton sagte: „Es ist so leicht, anfänglich etwas zu behaupten, das fabelhaft gescheit klingt, und so schwer, es später mit dem gesunden Menschenverstand in Einklang zu bringen.“
Alexander Kissler
Kisslers Konter: Sollen kommerzielle Anbieter beim Sterben helfen dürfen? Nein, denn das wäre ein Schritt von der individuellen Wunscherfüllung hin zur sozialen Barbarei. Aus liberaler Sicht braucht der Markt wenige, aber starke Grenzen
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innenpolitik
2015-07-07T09:36:55+0200
2015-07-07T09:36:55+0200
https://www.cicero.de//innenpolitik/sterbehilfe-das-toeten-darf-kein-geschaeft-werden/59523