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Klimaschutz: Warum E-Scooter doch zur Verkehrswende beitragen können
Anne Hidalgo hat genug. Als Bürgermeisterin von Paris hat sie viel versucht, um E-Scooter zu einem akzeptierten Verkehrsmittel zu machen. Sie hat im Zentrum der Stadt 2.500 Stellplätze für die Roller einrichten lassen, etwa alle 100 Meter einen. Mit strengen Regeln und hohen Bußgeldern hat sie versucht, die Wege und Grünanlagen von den Scootern freizuhalten. Aber der Frust der Bürgerinnen und Bürger ist noch immer groß. Nun sollen sie Anfang April darüber abstimmen , ob die E-Scooter bleiben dürfen – oder verboten werden. Auch in Deutschland würden manche die Roller am liebsten verbieten, weil sie immer wieder Fußwege und Plätze blockieren oder auf Radwegen herumliegen. Und auch hier probieren es die Städte zunächst mir schärferen Regeln . Sie verbieten Anbietern etwa, die Scooter in Parks, Fußgängerzonen oder in Gewässernähe abzustellen. Das lässt sich über sogenanntes Geofencing sicherstellen. Außerdem erheben sie von den Anbietern Gebühren, um die Allgemeinheit am Geschäft mit den Scootern teilhaben zu lassen. In Bremen fallen im Jahr 26 Euro pro E-Scooter an, in Münster 50 Euro, in Düsseldorf je nach Standort 30 bis 50 Euro und in Köln 85 bis 130 Euro. Aber lohnt sich der Aufwand überhaupt? Sind die Roller nicht nur Spielzeug? Tatsächlich können sie durchaus einen Beitrag zur Verkehrswende leisten, sagen Forscherinnen und Forscher. Eine aktuelle Studie am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) ergab: Immerhin elf Prozent der Fahrten mit Scootern ersetzen Autofahrten. Ebenso viele Fahrten hätten ohne Scooter mit dem eigenen Rad stattgefunden, 19 Prozent mit dem ÖPNV und 43 Prozent zu Fuß. Vor allem aber wird ein Effekt in der öffentlichen Diskussion oft vergessen: Leihscooter können Bus und Bahn stärken. "Der öffentliche Verkehr kann durch die Kombination mit E-Scootern attraktiver werden", sagt Uta Bauer, Expertin für Stadt- und Regionalverkehr am Difu und Mitautorin der Studie. Jeder vierte E-Scooter-Fahrer kombiniere seine Fahrten bereits mit dem ÖPNV. Roller warten an den Haltestellen Wie das im Idealfall funktioniert, zeigt ein Pilotprojekt in den nördlichen Hamburger Stadtteilen Lokstedt und Langenhorn. Mit Sharing-Angeboten wie E-Scootern und Rufbus-ähnlichen Systemen will der Verkehrsbetrieb Hochbahn dort den sogenannten "Hamburg-Takt" etablieren. Der verspricht: Bis 2030 erreichen Hamburgerinnen und Hamburger innerhalb von fünf Minuten ein öffentliches Nahverkehrsangebot. Damit das klappt, muss das Angebot in den Wohngebieten deutlich verbessert werden. Ein Baustein ist das E-Scooter-Sharing. Der Sharing-Anbieter Tier startete 2019 mit 200 E-Tretrollern in den beiden Stadtteilen und stockte die Flotte im Projektverlauf auf 400 auf. Tier wirbt um Geduld, bis sich die gewünschten Effekte einstellen: "E-Scooter sind für viele Menschen immer noch ein neues Angebot. Sie müssen sich erst an sie gewöhnen, die Fahrzeuge ausprobieren und sie als verlässliches Angebot wahrnehmen", sagt Christine Wenzel, Director Public Policy bei Tier. Erst dann würden sie überhaupt darüber nachdenken, sie in ihre Alltagsmobilität zu integrieren. Die Anzahl der Fahrten wuchs während des Projekts immerhin schon von 7.000 im ersten Monat auf 17.000 im August 2022. Für Constanze Dinse, Sprecherin der Hochbahn, ist das ein gutes Signal. Eine Umfrage habe gezeigt: "Die Kombination mit E-Scootern steigert die Attraktivität für 60 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer", sagt Dinse. Zum Projektstart wurden an Haltestellen Parkflächen für die Fahrzeuge eingerichtet. "Die Kunden wussten, dass sie dort mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Fahrzeug für den Rückweg finden", sagt Dinse.
Andrea Reidl
Über die Tretroller wird emotional diskutiert. Dabei spricht einiges dafür, dass E-Scooter den Verkehr grüner machen können – wenn die Bedingungen passen.
[ "E-Scooter", "Straßenverkehr", "Elektromobilität", "Verkehrswende", "Klimaschutz", "Verkehr", "Anne Hidalgo", "Uta Bauer", "Constanze Dinse", "Deutschland" ]
mobilitaet
Article
2023-01-21T09:59:48+01:00
2023-01-21T09:59:48+01:00
https://www.zeit.de/mobilitaet/2023-01/e-scooter-verkehrswende-klimaschutz-oepnv?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Popkultur: Ein pinkfarbener Atompilz
Billie Eilish ist eine Barbie, wer hätte das gedacht. Im Video ihres neuen Songs What Was I Made For? sieht die Sängerin aus wie eine Puppe, ein Spielzeug im Vierzigerjahre-Look. Das ist komisch, aber auch irgendwie logisch, schließlich ist das Stück Teil des Soundtracks von Greta Gerwigs Film Barbie , der Ende Juli starten soll. Endlich, könnte man entgegnen, oder auch: erst? Nach Monaten des Vorfreudezinnobers, nach so vielen Szenenbildern, die Margot Robbie und Ryan Gosling, Barbie und Ken im Film, beim Rollerbladen oder Cadillacfahren in einer bonbonbunten Welt zeigen, glaubt man beinahe, den Film längst gesehen zu haben. Auch zu hören kriegte man schon einiges: etwa das fabelhafte Gerüchte, dass nach dem Bau des Bühnenbilds die pinke Farbe auf der ganzen Welt knapp wurde . Begleitmusik gab es ebenfalls. Nicht nur Billie Eilish, sondern auch Superstars wie Nicki Minaj und Dua Lipa veröffentlichten bereits Songs aus dem Soundtrack. Barbie ist nicht nur larger than life , sondern vielleicht auch größer, als ein Film es je sein könnte. Es ist der Sommer der popkulturellen Riesenspektakel, der Gemeinschaftsbegeisterung von einem Ausmaß, wie man es lange nicht erlebt hat. Barbie könnte einer der erfolgreichsten Filme des Jahres werden, ist aber nicht das einzige Ereignis, auf das sich gerade alle einigen können. Kolleginnen und Freunde, die man bislang eher nicht als Konzertbiester kannte, würden plötzlich eine Niere verkaufen für eine Eintrittskarte zu Taylor Swifts Wanderzirkus der Lebensphasen, ihre Eras -Tour, die – nach Stationen auf vier Kontinenten – im kommenden Jahr in Deutschland gastieren soll. Auch an Bildern und Videos von Beyoncés offenbar triumphaler Renaissance -Tour kommen popaffine Social-Media-Nutzer kaum vorbei. Mit religiösem Ernst diskutieren Fans im Internet Setlist- und Kostümwechsel, weinen vor gemeinschaftlicher Rührung über die Auftritte von Beyoncés Tochter Blue Ivy und loben die flamboyanten Outfits der Konzertbesucher. Laut Forbes könnte Beyoncé am Ende der Tour 2,1 Milliarden Dollar eingenommen haben, 500 Millionen mehr als Taylor Swift. Die Renaissance -Tour war allein mit einem Instagram-Post beworben. Lange hat sich Popkultur, zumindest im sogenannten Westen, nicht mehr so nach Naturgewalt angefühlt. Lange glaubten viele, die sich nach den angeblich guten, in jedem Fall aber alten Zeiten sehnen, dass die jungen Leute vor lauter Tröt, Hampel und Piep auf TikTok gar nicht mehr wüssten, wie elektrisierend das Aufgehen in ganz analogen Massen doch sein kann. Nun werden eben diese Jungen (und ihre mittelalte Vorgängergeneration) selbst zur Masse, zur Gemeinschaft der kollektiv Entflammten, die Kinos überrennt und die Server von Ticketanbietern zum Heißlaufen bringt. Spannung unter der Oberfläche Fast scheint es bei alledem bumsegal zu sein, wie gut die umhypten Filme oder Touren wirklich sind; allein das Reden darüber ist ein Motor für viel Kreativität. Nach den körperlosen Coronajahren gleichen die Events des Sommers nicht nur einem Lagerfeuer, sie bilden einen kleinsten gemeinsamen Nenner inmitten des krisenhaften Gegenwartsgewirrs. Von diesem common ground aus startet man schließlich, um eigene Inhalte zu produzieren, Memes und Witze mit zwölfeinhalb layers etwa, die sich am Ende doch nur einem Spezialpublikum erschließen sollen. Neu ist das selbstverständlich nicht. Letztlich ging es im Pop, wenn wir uns die Frechheit erlauben wollen, immer nur am Rande um Musik und populäre Filme. Sondern um die Inszenierung des Events, um die richtige Oberfläche und darum, was man selbst anstellt mit all dem schönen Schwindel. Früher dekorierten Jugendliche ihr Zimmer zum Popkulturtempel hoch, heute kann man seine Verehrung auf digitalem Wege zeigen. Wenn man so will, tut die Popkultur, diese große Identitätsmaschine, in diesem Sommer also mal wieder unter Hochdruck, was sie schon immer getan hat. Einerseits. Andererseits ballt sich unter der Oberfläche aller Spektakel dieser Saison aber auch besonders viel Spannung. Barbie , aber auch die Kunst von Beyoncé und Taylor Swift sind wie geschaffen für die Gesetzmäßigkeiten der Netzkultur, fürs Zurückverweisen und wilde Weiterspinnen. Unter anderem, weil sie alle eine Art produktive Nostalgie bedienen, ein Gefühl, das Rückgriffe auf Bekanntes (und damit intuitiv Wohliges) erlaubt und doch in die Zukunft weist; ein "Kenn’ ich, aber anders". Genau die Barbie, die als todschicke, aber teflonartige Plastikmadame Millionen von Kindheiten begleitete, soll in Gerwigs Film in eine Existenzkrise geraten: ein Wiedersehen unter ganz neuen, menschlichen, womöglich sogar feministischen Vorzeichen.
Julia Lorenz
Barbie, Beyoncé und Taylor Swift: Es ist der Sommer der popkulturellen Großereignisse. Warum können wir Streithähne uns plötzlich wieder auf so vieles einigen?
[ "Barbie", "USA", "Popkultur", "Film", "Musik", "Tournee", "Kulturbetrieb", "Taylor Swift", "Großereignis", "Beyoncé Knowles" ]
kultur
Article
2023-07-14T16:43:20+02:00
2023-07-14T16:43:20+02:00
https://www.zeit.de/kultur/musik/2023-07/popkultur-beyonce-taylor-swift-barbie?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Johannes Kahrs: Das Schließfach des Herrn Kahrs
Was haben 214.800 Euro in einem Schließfach der Hamburger Sparkasse mit dem Cum-Ex-Skandal der Hamburger Warburg-Bank und mit Bundeskanzler Olaf Scholz zu tun? Die kurze Antwort lautet: Niemand weiß es. Die lange Antwort führt tief in eine Affäre, die einen Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft nun schon seit bald zwei Jahren beschäftigt. Am vergangenen Wochenende war bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft Köln in einem Bankschließfach des früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs jene 214.800 Euro gefunden hatte, außerdem 2.400 US-Dollar. Woher dieses Geld kommt, weiß sie nicht. Es wurde von den Ermittlern nicht sichergestellt, Kahrs durfte es behalten. Denn sicherstellen dürften die Ermittler das Geld nur, wenn ein konkreter Verdacht vorliegt, dass es aus krummen Geschäften stammt. Es ist nach Auskunft der BaFin auch nicht verboten oder meldepflichtig, große Mengen an Bargeld in einem Schließfach aufzubewahren. Einen Nachweis über die Herkunft des Geldes muss erst erbringen, wer das Geld auf ein Konto einzahlen will und es damit in Umlauf bringt. So soll Geldwäsche verhindert werden. Allerdings könnte sich das Finanzamt dafür interessieren, ob das Geld versteuert worden ist. Geöffnet hatte die Staatsanwaltschaft das Schließfach im Zuge einer Hausdurchsuchung. Am 28. September 2021 hatten Ermittler die Wohnung von Kahrs durchsucht , weil sie ihn der Begünstigung zur Steuerhinterziehung verdächtigen. Dieser Verdacht führt viele Jahre zurück, zum Cum-Ex-Fall der Warburg-Bank. Die Warburg-Bank machte von 2006 an illegale Cum-Ex-Geschäfte und ließ sich Steuern erstatten, die sie zuvor nie gezahlt hatte. Mehrere Mitarbeiter der Bank wurden dafür vom Landgericht Bonn zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, die Bank musste mehr als 176 Millionen Euro zurückzahlen. Die Staatsanwaltschaft Köln legte jüngst die Anklageschrift gegen den früheren Bankchefs Christian Olearius vor. Olearius bestreitet alle Vorwürfe. Im Januar 2016 durchsuchten Ermittler die Geschäftsräume der Warburg-Bank. Sie fanden dabei auch Tagebücher von Olearius. Doch trotz der laufenden Ermittlungen verzichtete die Hamburger Steuerverwaltung Ende 2016 darauf, 47 Millionen Euro aus Cum-Ex-Geschäften von der Warburg-Bank zurückzufordern und ließ die Sache verjähren. Im Jahr darauf wurde eine weitere Verjährung von 43 Millionen Euro nur durch eine Weisung des Bundesfinanzministeriums gestoppt. Johannes Kahrs beriet Olearius in jener Zeit, so steht es im Tagebuch. Kahrs war damals Vorsitzender des SPD-Kreisverbands Hamburg-Mitte, saß seit 1998 im Bundestag, war dort einflussreiches Mitglied im Haushaltsausschuss und haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Er schlug Olearius laut Tagebuch beispielsweise vor, er könne über den Fall mit der Leitung der BaFin oder dem Bundesfinanzministerium sprechen. Und er sagte, er werde mit Olaf Scholz reden, der damals Erster Bürgermeister Hamburgs war. Scholz sagte später, er könne sich nicht an ein Gespräch mit Kahrs über die Warburg-Bank erinnern. 2017 trafen sich Kahrs und Olearius weiter. Bei einer dieser Begegnungen hatte Kahrs ein Anliegen: Er wollte Geld für die SPD. Ihm sei ein Spender abgesprungen, sagte er Olearius laut Tagebuch. Nur vier Tage später registrierte die Hamburger SPD eine Spende über 13.000 Euro von einer Firma, an der Olearius beteiligt war. Weitere Firmen, an denen Olearius Anteile hielt, spendeten 2017 ebenfalls, insgesamt gingen 45.500 Euro an die SPD. Den größten Teil davon erhielt der Kreisverband Mitte.
Karsten Polke-Majewski
Ein Bankfach voller Geld, ein Steuerraub und ein Bundeskanzler mit Erinnerungslücken: Plötzlich blicken alle wieder auf den Hamburger Warburg-Skandal.
[ "Johannes Kahrs", "Kay Nietfeld", "Olaf Scholz", "Hanno Berger", "Arne Dedert", "Sarah Vojta", "Carsten Dammann", "Karsten Polke-Majewski", "Christian Salewski", "Christian Olearius" ]
hamburg
Article
2022-08-09T15:25:37+02:00
2022-08-09T15:25:37+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-08/johannes-kahrs-bargeld-cum-ex-olaf-scholz?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Fettes Brot: Geht's besser?
Kurz nach ihrer Gründung vor 30 Jahren hatten Fettes Brot ihren ersten großen Hit: Nordisch by Nature . Der Song wurde so erfolgreich, dass ihn die Band später selbst wieder aus dem Verkauf nahm, weil ihr die Sache unheimlich wurde. Es half nichts. Auf Betriebsfeiern füllt Nordisch by Nature bis heute verlässlich die Tanzfläche. Und noch in Regensburg wird auf Studentenpartys jede Zeile mitgerappt, obwohl dort eventuell nicht jeder weiß, was "Waterkant" bedeutet oder "Dans op de Deel". Seit Jahrzehnten ist die Band um König Boris, Björn Beton und Dr. Renz erstaunlich konsensfähig und sehr erfolgreich. Genau das ist der Grund, warum man jenen, die "echten Rap" lieben, mit Fettes Brot gar nicht kommen braucht. "Als es kommerziell richtig erfolgreich wurde und sogar Frau Schmidt Nordisch by Nature hörte, wurden wir sauer", erinnert sich die Rapperin Cora E. in Könnt ihr uns hören , einem Buch über die Geschichte der deutschen Hip-Hop-Szene. "Dadurch, dass das auch Nicht-Hip-Hopper lustig fanden, kam uns das wie Nestbeschmutzung vor." Die Folge: Keine andere Gruppe, vielleicht mit Ausnahme der Fantastischen Vier, ist wohl so oft und so hart aus der Szene heraus gedisst worden wie Fettes Brot. Beispielhaft rappte Kool Savas: "Die meisten meiner Feinde sehen aus wie Dr. Renz." Dass Fettes Brot auch von jenen, die ihre Hits lieben, als "Klamauk-Rap" oder "Spaßrap" wahrgenommen werden, verkennt zwei Dinge, die diese Band ausmachen: Erstens, wie handwerklich stark diese Band schon zu einem frühen Zeitpunkt war. Und zweitens, wie wach und lebendig sie bis zum Schluss geblieben ist. Man kann das veranschaulichen mit zwei Tracks, die nicht zu den Hits gehören, die vermutlich sogar als weitgehend vergessen gelten können und an die es sich gerade deshalb zu erinnern lohnt: Bundeskanzler und Vorurteile Pt. III . Bundeskanzler erschien 1998 auf dem dritten Album, Fettes Brot lässt grüßen. Es ist nicht ihre bekannteste Platte und auch nicht ihre beste, aber sie zeigt, wie avanciert die Rapper damals schon waren. In Bundeskanzler heißt es: "Wir hörten Metalgeschreddel aus Seattle und spielten Scrabble / Bei behaglicher Beleuchtung auf Boris' Bett / Und lachten über die Frisur von Alanis Morissette." Was da technisch passiert, ist selbst aus heutiger Sicht noch beeindruckend. In der ersten Zeile reimt sich jedes Hauptwort ("Meddl", "Schreddl", "Sjeddl", "Skrebbl"), in der zweiten schiebt sich plötzlich ein endlos langer Stabreim in den Text (B-B-B-B-B), und während man sich fragt, wie die Band diese Sprachspielereien in der folgenden Zeile noch überbieten will, hört man schon: Sie tut es nicht. Sondern bindet die Szene mit einem perfekten Doppelreim ab.
Oskar Piegsa
Fast jeder kennt die Hits von Fettes Brot. Aber wie gut ihre Texte waren, wird noch nicht ausreichend gewürdigt. Eine Verneigung zum Abschied
[ "Musik", "Popmusik", "Popkultur", "Kunst", "Hip-Hop", "Lyrik", "Fettes Brot", "Klamauk", "Tiefgang", "Verneigung" ]
hamburg
Article
2022-09-01T20:50:47+02:00
2022-09-01T20:50:47+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-09/fettes-brot-deutschrap-abschied-texte?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Abriss am Johannisbollwerk 10: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Und plötzlich ist da eine Lücke. Wer in Hamburg auf der Promenade zwischen Landungsbrücken und Baumwall spaziert und seinen Kopf landeinwärts Richtung Norden wendet, sieht dort, wo über 100 Jahre lang ein prächtiger Bau der Gründerzeit stand, nur noch gähnende Leere. Binnen weniger Tage ist das Gebäude von Abrissbaggern dem Erdboden gleichgemacht worden. Hier wird nun stattdessen ein neues Büro- oder Hotelgebäude entstehen. Das Haus mit der Adresse Johannisbollwerk 10 war ein eindrucksvolles Wohngebäude mit sechs Etagen und hohen Decken. Die Fassade zum Hafen hin war wundervoll plastisch durchgearbeitet und wohlproportioniert: Zwei kräftige Erker, einer kubisch, einer gerundet, schoben sich vertikal aus der Hausfront heraus, in den dazwischenliegenden Feldern befanden sich Balkone. Ein Giebel und ein kleines Türmchen schlossen den Putzbau nach oben hin ab. Das Haus war eines der letzten, die hier noch von der Vergangenheit künden: Es gehörte zu einem Quartier, das einst wegen seiner vielen Einwanderer "Die Küste" genannt wurde und heute unter dem Namen Portugiesenviertel bekannt ist. Diese Gegend war viele Jahre durch Kleingewerbe, Hafenarbeiter und Firmen der Schifffahrtsbranche geprägt, bis in den Nachkriegsjahrzehnten die Hafen- und Schifffahrtsunternehmen langsam abwanderten und immer mehr Restaurants und Cafés entstanden. Heute ist das Viertel ein touristischer Hotspot, aber auch die Hamburgerinnen und Hamburger trinken hier immer noch gerne ihren Galão, naschen eine süße Pastéis de Nata und träumen vom Süden. Die kleinteilige Bebauung aus der vorindustriellen Zeit wurde in der Sanierungswelle um 1900 beseitigt zugunsten zeittypischer Blockrandbebauungen, die sich an den Geesthang schmiegen. Und weil das Stadtpanorama von der Elbe her immer die wichtigste Stadtansicht war (festgehalten in zahlreichen Stichen und Fotografien), wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gebäude in erster Reihe am Elbufer, hier an den Straßen Johannisbollwerk und Vorsetzen, größer und eindrucksvoller als die dahinter liegenden errichtet. Genau drei Gebäude kündeten in der Häuserzeile noch von dieser Zeit: Die Häuser Johannisbollwerk 10 und 19 (in dem man noch Taue und Schiffsbeschläge erwerben kann) und Vorsetzen 53. Die beiden letzten wurden unter Denkmalschutz gestellt, das erste nicht – was nun zum Abriss führte. Warum es nicht unter Schutz gestellt wurde, bleibt unklar. Wahrscheinlich lehnte das Denkmalschutzamt die Unterschutzstellung wie so oft mit der Begründung ab, dass das Gebäude im Inneren umgebaut worden war und somit zu wenig originale Bausubstanz erhalten blieb. Das allerdings wäre absurd: Fast alle historischen Gebäude sind irgendwann einmal unter Verlust historischer Bausubstanz verändert und modernisiert worden, auch die, die heute unter Denkmalschutz stehen. Ohne das Umbauen und Umnutzen würde heute wohl kaum noch ein altes Gebäude stehen – von der Börse, die heute die Handelskammer birgt, bis zur Speicherstadt, in der statt Kaffee- und Gewürzhändlern nun Medienunternehmen und Finanzdienstleister ihren Geschäften nachgehen. In Zeiten der Klimakrise erst wird richtig deutlich, wie wichtig dieses ressourcenschonende und CO2-vermeidende Weiterbauen ist: Es gibt kaum eine schlimmere Energievernichtung und -verschwendung, als Häuser abzureißen und neu zu bauen.
Claas Gefroi
In Hamburg muss ein historisches Kontorhaus einem Bürogebäude weichen. Dabei gibt es kaum eine schlimmere Energie-Verschwendung, als Häuser abzureißen und neu zu bauen.
[ "Stadtplanung", "Immobilienmarkt", "Elbe", "Hamburger Hafen", "Bauindustrie", "Hamburg", "Hafenkante", "Johannisbollwerk", "Elbpromenade", "Flutschutzpromenade" ]
hamburg
Article
2021-07-29T20:57:40+02:00
2021-07-29T20:57:40+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-07/abriss-johannisbollwerk-10-gebaeude-gruenderzeit-elbpomenade-hamburg?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Meinhard von Gerkan: Ein Baumeister für die ganze Welt
Wer baut, handelt sich Ärger ein. Von den Kollegen, die es – hinterher natürlich – noch ein bisschen besser gewusst haben wollen, von den Bauherren, denen das Ganze dann doch zu teuer wurde. Von der Architekturkritik, vom Publikum, von jedem, der Zug oder Flugzeug verpasst hat, weil er aufs falsche Gleis oder an den falschen Flugsteig gerannt ist. Meinhard von Gerkan kannte sich da aus. Er war Ärger gewohnt. Denn der in Hamburg ansässige Architekt hat viel gebaut, richtig viel. Beim Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg, kurz BER , ist ihm dann der Kragen geplatzt. Schon zum Baubeginn 2006 hatte das Aushängeschild einer wiedervereinigten und von straffem Selbstbewusstsein erfüllten Bundesrepublik nicht mehr den Anforderungen entsprochen, die 1997 auftragsgemäß in die Planung eingeflossen waren. Die Pläne mussten revidiert, die Kosten neu berechnet werden, das Projekt hangelte sich von einem Eröffnungstermin zum nächsten, bis BER in der ganzen Welt als Kürzel für eine pompöse, sehr deutsche Überheblichkeit verbreitet war. Als die internationale Lachnummer schließlich drohte, das Renommee eines der größten und erfolgreichsten Planungsbüros in Deutschland, gmp, also von Gerkan, Marg und Partner, ernsthaft zu schädigen, setzte sich der Mitbegründer Meinhard von Gerkan hin und schrieb ein Buch. Titel: Black Box BER , in Anspielung auf den fest verschlossenen Kasten in einem Flugzeug, aus dem etwa nach einem Absturz die Daten über den wirklichen Ablauf der Katastrophe geborgen werden können. Genau das tat der Autor nun. Untertitel: "Wie Deutschland seine Zukunft verbaut". Weil die ganze Angelegenheit eben kein Unfall war, sondern ein Symptom. So ein Buch hatte es lange nicht gegeben. Was noch, Gerkans Naturell entsprechend, jovial begann mit den Leuten von Seldwyla aus Gottfried Kellers Sammlung von Novellen und den Bürgern von Schilda, die sich auch so manchen Unfug geleistet hatten, wurde zur eiskalten Abrechnung des Architekten mit den öffentlichen Bauherren, ganz nebenbei auch mit seinen Kritikern und den schnellfertigen Spöttern. Was war schiefgelaufen? Kurz gesagt: alles. Zuständigkeitschaos, Chaos bei den Ausschreibungen, bei den Kosten. 286 Planänderungsanträge hatten den Fortgang des Projekts gebremst, 487 Anordnungen wurden geändert, "überfallartig", wie der zornige Gerkan anmerkte, dazu Eitelkeiten, Inkompetenz, Wahlkampf, Personalkarussell und alles noch mal von vorn. In a nutshell : Das Büro habe geliefert, pünktlich, auftragsgemäß, in jedem Fall professionell. Also bitte: gmp baute seit mehr als fünf Jahrzehnten Fußballstadien, Bahnhöfe, Opernhäuser, Museen, ganze Städte, alles. Und bei einem Gespräch in seinem Besprechungszimmer über dem Hamburger Hafen, einem runden Raum mit Panoramafenstern, damit niemand sich in seiner Ideenproduktion gehemmt fühle, fügte der längst weißhaarige Baumeister zum Debakel um den BER noch hinzu: "Es gab aufseiten der Auftraggeber nicht eine einzige Person, keinen Bauleiter, keinen Senator und keinen Bürgermeister, der vom Anfang bis zur Eröffnung dabei gewesen wäre. Niemand stand in der Verantwortung, und niemand auch fühlte sich verantwortlich. Wie kann man da bauen?" Eröffnung am 31. Oktober 2020, das wollte er noch unterstrichen haben – da war das Büro der Planer schon seit acht Jahren nicht mehr dabei. Vor die Tür gesetzt von einem Bauherrn, der keinen Namen und kein Gesicht hatte, nur Rechtsanwälte. Die über 20 Jahre angesammelte Bitterkeit war Gerkan in diesem Augenblick anzumerken. Dabei war es ausgerechnet ein Berliner Flughafen gewesen, nämlich Tegel, mit dem er und sein Freund und Partner Volkwin Marg 1965 auf die Szene getreten waren, und das einigermaßen spektakulär, ein Bubenstück geradezu.
Martin Tschechne
Der Architekt Meinhard von Gerkan hat Stadien, Bahnhöfe, Opernhäuser, Museen, ganze Städte entworfen. Sie alle sind, wie er selbst war: menschenfreundlich. Ein Nachruf
[ "Meinhard von Gerkan", "Daniel Haas", "Maxim Schulz", "Hanno Rauterberg", "Gottfried Keller", "Sean Gallup", "Volkwin Marg", "Hamburg", "Elbe", "China" ]
kultur
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2022-12-02T10:18:15+01:00
2022-12-02T10:18:15+01:00
https://www.zeit.de/kultur/2022-12/meinhard-von-gerkan-architekt-nachruf?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Nachrichtenpodcast: Warum die Türkei-Wahl auch in Deutschland entschieden wird
Am kommenden Sonntag steht in der Türkei die Wahl an. Dann werden rund 60,7 Millionen Wahlberechtigte im Land über das Parlament und den Präsidenten entscheiden. Auch die 1,5 Millionen Türkinnen und Türken, die in Deutschland leben, hatten bis zum 9. Mai die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben – und fast die Hälfte von ihnen hat von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Drei Tage vor der Wahl sind im Mercedes-Werk in Sindelfingen zwei Menschen getötet worden. Türkische Medien berichteten, ein 53-jähriger Mitarbeiter habe wegen politischer Differenzen zwei Kollegen erschossen. Wie aufgeheizt die Stimmung innerhalb der türkischen Community hierzulande ist, weiß die Soziologin Rosa Burç . Mit der Wahlrechtsreform soll die Zahl der Sitze im Parlament auf 630 begrenzt werden. Nach dem Bundestag hat diesem Projekt der Ampel-Koalition nun auch der Bundesrat zugestimmt . Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der CSU hingegen will vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen klagen. Die Reform sei politisch falsch, verfassungswidrig und spalte Deutschland. Diese Position verbindet die CSU mit ihr politisch ansonsten völlig fremden Partei Die Linke. Sollte das neue Wahlrecht eingeführt, also Überhangs- und Ausgleichsmandate sowie die Grundmandatsklausel abgeschafft werden, könnten beide Parteien zukünftig an der Fünfprozenthürde scheitern. Ein 57-jähriger Mann hat gestern in Ratingen eine Explosion in einem Hochhaus verursacht. Dabei sind laut Polizei mehr Menschen zu Schaden gekommen als bisher angenommen . Fünf Einsatzkräfte sind im künstlichen Koma, zwei davon lebensgefährlich verletzt und eine weitere Person ist gestorben. In der Wohnung des mutmaßlichen Täters sind die Einsatzkräfte außerdem auf die Leiche einer Frau gestoßen – wahrscheinlich seine Mutter. Sie muss bereits längere Zeit tot gewesen sein. Das Motiv für die Explosion ist noch unklar. Was noch? Das Verfahren um eine 13.000 Euro teure Champagnerflasche wird eingestellt . Moderation und Produktion: Azadê Peşmen Redaktion: Moses Fendel Mitarbeit: Clara Löffler Alle Folgen unseres Podcasts finden Sie hier . Fragen, Kritik, Anregungen? Sie erreichen uns unter [email protected] .
Azadê Peşmen
Am Sonntag wählt die Türkei. Wie viel Einfluss haben die 1,5 Millionen Stimmberechtigten in Deutschland? Außerdem im Update: Bundesrat billigt Wahlrechtsreform.
[ "Türkei", "Bundesrat", "CSU", "Recep Tayyip Erdogan", "Präsidentenwahl", "Markus Söder", "Wahlrecht" ]
politik
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2023-05-12T17:14:08+02:00
2023-05-12T17:14:08+02:00
https://www.zeit.de/politik/2023-05/tuerkei-wahl-deutschland-2023-recep-tayyip-erdogan-nachrichtenpodcast?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Hamburger Programmkino Abaton: "Die Lust der Leute auf Kino ist groß, bloß …"
Mitte März mussten in Deutschland alle Filmtheater schließen. Auch das Abaton – eines der ältesten deutschen Programmkinos – musste 106 Tage lang pausieren. Seit Juli sind die drei Säle wieder geöffnet, doch bisher dürfen nur 20 Prozent der Sitze belegt werden. Das ist zu wenig, damit das Lichtspielhaus dauerhaft überleben kann. Kinoeigner und Geschäftsführer Felix Graßmann erklärt, wie sich die Auflagen vertretbar lockern ließen und wie er seine Zuschauer zurückgewinnen will. ZEIT: Herr Graßmann, deutsche Kinos hatten in der Pandemie Ausfälle bis zu 200 Millionen Euro. Wie hart es das Abaton getroffen? Felix Graßmann: Das war schon ziemlich hart. Wir sind eines der ältesten deutschen Programmkinos, mein Vater hat es gegründet und ich bin hier groß geworden. Wir waren in den vergangenen 50 Jahren immer offen, selbst zu Weihnachten und an Silvester. Nun mussten wir Mitte März plötzlich schließen und hatten keinerlei Einnahmen mehr. 106 Tage lang. Erst Ende Juni ging es wieder los. ZEIT: Wie läuft es seither? Graßmann: Die ersten zwei Wochen waren wir oft ausverkauft, aber es gibt einen Haken: Wir dürfen nur 20 Prozent der 500 Plätze nutzen, weil zwischen den Zuschauern ein Abstand von 1,50 Metern herrschen muss – jede zweite Reihe bleibt gesperrt. Im Großen Saal sind das nur 60 Plätze. Zudem fehlen uns Einnahmen aus Werbefilmen und aus Anzeigen in der Programmzeitung. Auf Dauer geht das so nicht. ZEIT: Wie überlebt man das als Kinobetreiber? Graßmann: Wir bilden im Frühjahr immer Rücklagen, um den Sommer zu überstehen. Dieses Jahr müssen wir von Reserven leben, und ich bin froh, dass wir sehr schnell Unterstützung von Bund und Land bekamen. Wenn die Hamburger Kinos keine Hilfen erhalten hätten, wären viele jetzt pleite. ZEIT: Wie viel Geld gab es? Graßmann: Wir haben 25.000 Euro aus dem Topf von Kulturstaatsministerin Monika Grütters erhalten. Mit der Corona- Soforthilfe der Stadt haben wir einen Teil der laufenden Kosten finanziert. ZEIT: Wie geht es den Kinos jetzt? Graßmann: Viele kämpfen, aber ich bin optimistisch. Wir und die anderen Lichtspielhäuser in Hamburg werden die Krise überstehen. ZEIT: Das klingt nach Wunschdenken. Graßmann: Ich glaube fest daran. Die Lust der Leute auf Kino ist groß, sie müssen sich bloß wieder in geschlossene Räume trauen. Wir werden im August mit Schwarze Milch und Auf der Couch in Tunis zwei hochkarätige Filme zeigen, die uns sicher Zuschauer bringen werden. ZEIT: Haben Sie erwogen, jetzt wieder alte Filme zu zeigen? Graßmann: Ach, das funktioniert selten. Alte Filme bekommt man auf einem Streamingportal oft umsonst, dafür geht niemand ins Kino. Um die Menschen trotzdem zu begeistern, braucht man am besten einen Gast, der den alten Film vorstellt. Wir haben jetzt wieder mit Sonderveranstaltungen begonnen: Im August werden wir zwei Filme von Christoph Schlingensief zeigen – zusätzlich zum neuen Dokumentarfilm seiner Editorin Bettina Böhler. Dafür kommt der ehemalige Hamburger Oberstaatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt zu uns und diskutiert mit dem Publikum. Kuhlbrodt war nebenberuflich Schauspieler bei Schlingensief und hatte eine Leidenschaft für subversive Filme.
Kristina Läsker
Felix Graßmann leitet das Hamburger Abaton-Kino. Im Gespräch verrät er, wie er in Zeiten von Corona Zuschauer zurückgewinnen will.
[ "Kulturbetrieb", "Monika Grütters", "Wirtschaftskrise", "Abaton", "Kino", "Hamburg", "Felix Graßmann", "Deutschland", "Christoph Schlingensief", "Weihnachten" ]
hamburg
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2020-08-03T16:29:36+02:00
2020-08-03T16:29:36+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-07/hamburg-programmkino-abaton-felix-grassmann-corona-krise-abstandsregel?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Cum-Ex-Affäre: Die Suche nach dem letzten Beweis
Diesen Freitag geht es also los: Hamburg klärt den Cum-Ex-Skandal auf – oder versucht es jedenfalls. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA) der Bürgerschaft vernimmt von heute an Zeugen und studiert geheime Akten, um frühestens Anfang kommenden Jahres einen Bericht vorzulegen, der zu vier unterschiedlichen Ergebnissen kommen dürfte: zu einem des rot-grünen Regierungslagers, zu einem der CDU-Fraktion, die in dieser Sache weder mit AfD noch mit Linken gemeinsam wird agieren wollen, dazu noch zu zwei weiteren dieser beiden Fraktionen . Im November hat die Bürgerschaft die Einsetzung des Ausschusses beschlossen, ohne Gegenstimme, bei Enthaltung der rot-grünen Mehrheit. Bisher stritten die Mitglieder um die beste Vorgehensweise, insbesondere die Reihenfolge, in der Zeuginnen vernommen werden oder, auch das ist vorgesehen, Gelegenheit zu Vorträgen bekommen. Ab heute soll es um die Sache gehen. Was ist da zu erwarten? Zur Erinnerung: Hier wird nicht die jahrelange illegale Steuererstattung in Milliardenhöhe durch deutsche und internationale Banken und Investoren untersucht, ein "gewerbsmäßiger Bandenbetrug", wie das Frankfurter Oberlandesgericht gerade festgestellt hat. Diesen Skandal haben außer den Tätern vor allem die Finanzminister einer schwarz-gelben und mehrerer großer Koalitionen im Bund zu verantworten. Sondern es geht um ein Detail: Wie kam es, dass die Stadt Hamburg in den Jahren 2016 ff im Umgang mit der hier ansässigen Warburg-Bank so wenig Anstrengungen unternahm, den entstandenen Schaden zu begrenzen? Medien, unter ihnen DIE ZEIT , haben über diesen erstaunlichen Vorgang ausführlich berichtet. Sogar Vertretern der Opposition im Untersuchungsausschuss fällt es schwer, zu erklären, welche zusätzlichen Einsichten sie sich noch erhoffen. Es ist ja vieles längst bekannt : Dass die Warburg-Bank sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Hamburger Finanzbehörde um Steuerrückzahlungen in zweistelliger Millionenhöhe um den politischen Beistand des Ersten Bürgermeister bemüht hat, weiß man. Dass die Behörde sich später die Sicht der Bank zu eigen machte und sie gegen das Bundesfinanzministerium verteidigte, ist ebenfalls bekannt. Dass das eine mit dem anderen nichts zu tun habe, wie Bank und Behörden beteuern, ist wenig plausibel, aber nicht eindeutig zu widerlegen. Was wäre diesem Erkenntnisstand hinzuzufügen? Dass es noch eindeutigere Beweise gibt, etwa ein Dokument, in dem der Bürgermeister oder sein Finanzsenator die Behörde angewiesen hätte, die Bank zu schonen – daran glaubt auch unter den Kritikern des Senats niemand. Zusätzliche Indizien, vielleicht auch nur auffällige Lücken in der Aktenführung – auf mehr kann die Opposition kaum hoffen.
Frank Drieschner
Nach der journalistischen Untersuchung der Hamburger Cum-Ex-Affäre beginnt nun die politische. Die wird nicht leicht – und der Ehrgeiz der Sozialdemokraten ist begrenzt.
[ "Cum-Ex" ]
hamburg
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2021-04-15T19:11:39+02:00
2021-04-15T19:11:39+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-04/cum-ex-affaere-untersuchung-olaf-scholz-spd-hamburg?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Viva con Agua: "Es gibt andere Möglichkeiten, sich den Hintern sauber zu machen"
Malte Schremmer, 32, bekam 2011 bei einer Reise durch Burkina Faso Durchfall. Da spürte er zum ersten Mal in seinem Leben schmerzlich, wie wichtig Toiletten sind. Er schrieb seine Bachelorarbeit über alternative Sanitärsysteme und gründete das Sozialunternehmen Goldeimer, das seit 2014 Teil der Hamburger Non-Profit-Organisation Viva con Agua ist. Goldeimer macht Komposttoiletten für Festivals – und verkauft in großen Supermarktketten Toilettenrollen aus Recyclingpapier. Ein sehr gefragtes Gut in Zeiten von Corona. DIE ZEIT: Seit heute steht auf Ihrer Website, dass alles Klopapier im Onlineshop ausverkauft ist. Sind Sie an Ihre Grenzen gestoßen? Malte Schremmer: Im Onlineshop ja. Allerdings macht der nur einen einstelligen Prozentbereich unseres Gesamtumsatzes mit Toilettenpapier aus. Wir haben den Shop gegründet, weil es unser Produkt anfangs nur in Hamburg und nur in den Filialen des Drogeriekonzerns Budnikowsky gab. Es kamen aber viele Anfragen aus anderen Regionen Deutschlands. ZEIT: Wie schnell war Ihr Lager leer? Schremmer: Was sonst einen Monat lang hält, war dieses Mal in vier Tagen weg. Eigentlich passen ins Lager ungefähr 6.000 Pakete, jeder Kunde muss 9 Packungen bestellen. Das ist kein Anreiz für Hamsterkäufe, sondern hat ökologische Gründe: Wir halten es für sinnlos, eine einzelne Klopapierpackung online zu bestellen und sie sich zuschicken zu lassen. Jetzt, da alles leer ist, wollen wir nichts verkaufen, was wir nicht auf Lager haben, daher haben wir den Shop vorübergehend geschlossen. ZEIT: Die Toilettenpapierbranche ist eine der Profiteure der Corona-Krise. Sie müssen ein glücklicher Mensch sein. Schremmer: Das ist überhaupt nicht der Fall. Aus meiner Sicht ist das ganz einfache Mathematik: Niemand wird häufiger scheißen gehen als sonst auch. Wenn jetzt also viele Leute Klopapier kaufen, wird es bald eine Phase geben, in der ganz wenige was brauchen, weil alle einen Vorrat zu Hause haben. Sich zu freuen, dass die Nachfrage gerade explodiert, wäre sinnlos. Der Verbrauch von Toilettenpapier ist keinen großen Schwankungen unterworfen, nicht nach unten und nicht nach oben. ZEIT: Wird es zu Versorgungsengpässen kommen? Schremmer: Das glaube ich nicht. Die großen Firmen produzieren am laufenden Band. Ich ärgere mich eher darüber, was das für ein Zeichen unserer Gesellschaft ist. Das ist absolut unsolidarisch – einige decken sich mit allem Möglichen ein und fahren einen Egotrip an den Regalen, während andere nichts mehr bekommen, weil alles leergefegt ist. Es zeigt mir, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der ein paar Dinge grundsätzlich überdacht werden müssen. Mich ärgert diese "Ich zuerst"-Mentalität. ZEIT: Sie haben selbst keinen Vorrat zu Hause? Schremmer: Nein, gar nicht. Tatsächlich ist mein Mitbewohner gerade vom Supermarkt gekommen. Das Klopapier war ausverkauft und wir haben nur noch zwei Rollen zu Hause. ZEIT: Sie haben ja den Vorteil, dass Sie in der Not an was rankommen. Schremmer: Ich habe kein geheimes Lager. Und was mir viel wichtiger ist zu sagen: Ich käme auch ohne Toilettenpapier zurecht. Es gibt andere Möglichkeiten, sich den Hintern sauber zu machen. Wenn die Menschen mehr Kartoffeln kaufen, kann ich das auf eine Art verstehen. Aber Toilettenpapier ist nichts Essenzielles. Das ist das letzte Produkt, an das ich bei Hamsterkäufen gedacht hätte. ZEIT: Wie haben Sie die Entwicklung in den vergangenen Wochen erlebt? Schremmer: Ich habe sie als allererstes in Australien bemerkt, wo die Leute große Mengen an Toilettenpapier aus den Supermärkten rausgetragen haben. Da habe ich gedacht: Was soll das? Dann gab es online immer mehr Bilder von leeren Regalen, Nudeln, Konserven, aber auch immer wieder Toilettenpapier. Das hat die Sache ziemlich befeuert. Und je mehr leere Regale im Netz veröffentlicht werden, desto mehr gehen die Leute los und kaufen ein. Ich glaube aber nicht, dass diese Entwicklung noch Wochen anhält, gerade nicht bei Klopapier. Die allermeisten werden sich irgendwann gut eingedeckt haben. ZEIT: Auf einmal ist die Aufmerksamkeit groß für Toilettenpapier. Das ist doch ideal für ein Unternehmen wie Ihres. Schremmer: Das stimmt und ist für uns aus einem Grund erfreulich. Unser eigentliches Anliegen ist nämlich ein viel Wichtigeres: Zwei Drittel der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zu gesicherter Sanitärversorgung, über 500.000 Kinder sterben jährlich an den Folgen von Durchfallerkrankungen. Das Geld, das wir mit dem Verkauf des Toilettenpapiers verdienen, setzen wir für Projekte ein, die daran etwas ändern wollen. Wenn wir dafür nun mehr Aufmerksamkeit bekommen sollten, hat dieser Irrsinn in den Supermärkten wenigstens einen guten Effekt.
Kilian Trotier
Toilettenpapier ist an vielen Orten ausverkauft. Malte Schremmer müsste sich darüber freuen, er produziert es mit seinem Unternehmen. Tut er aber nicht.
[ "Coronavirus", "Einzelhandel", "Virus", "Malte Schremmer", "Toilettenpapier" ]
hamburg
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2020-03-18T15:46:04+01:00
2020-03-18T15:46:04+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-03/viva-con-agua-toilettenpapier-ausverkauft-coronavirus?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Queere Kinder: Wie schütze ich mein Kind vor Anfeindungen?
Elternsein heißt, sich Sorgen zu machen. Das beginnt mit der Geburt und hat kein Verfallsdatum: Dreht sich das Baby altersgemäß? Hat das Kita-Kind genügend Anschluss in seiner Gruppe? Wie finden wir die richtige Schule? Es geht immer so weiter. Und später, so dachte ich, kommen bei einem Mädchen all die Themen, die mit weiblichem Erwachsenwerden zu tun haben: Wie gelangt man nach einer Partynacht sicher nach Hause? Wie schützt man sich vor Belästigung und Übergriffen? Kurz: Wie erhält man sich als junge Frau die Freiheit, sich zu bewegen, wo, wie und wann man will, anzuziehen, was man will, ohne dadurch zur Zielscheibe zu werden? Mittlerweile ist meine Tochter* 17, und ich mache mir tatsächlich Gedanken. Allerdings nicht diese. Sie ist keine große Clubgängerin, Gefahren im Nachtleben sind also gerade kein Thema. Ihr Thema ist ein anderes: Sie ist queer, verortet sich als "genderfluid", außerhalb der gängigen Geschlechterschubladen (deshalb schreibe ich "Tochter*" mit Sternchen), kommt androgyn daher, ist in ihren romantischen Gefühlen nicht festgelegt. Kann ich sie schützen? Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Sache selbst ist es nicht, was mir Sorgen macht – auch wenn ich gestehe, dass mich ihr Coming-out in mehreren Stufen zunächst schon herausgefordert und irritiert hat, als mittelalte Hetero-Mutter. Ist das nur eine pubertäre Laune? Sucht sie ihren Platz in der Familie? Steckt eine psychische Not dahinter, die sich auf diese Weise zeigt? Aber das war es alles nicht, es hatte auch nichts mit mir zu tun. Heute bin ich sehr stolz, wie selbstbewusst meine Tochter* zu sich steht. Ist es nicht das, was wir unseren Kindern vermitteln wollen: Sei du selbst, finde deinen Weg zu einem guten Leben? Und ich bin dankbar für neue Lebens- und Gefühlswelten, die ich durch sie und ihre Freund*innen kennenlerne. Fast durchgehend freundliche, empathische, kommunikationsbegabte junge Menschen, viele davon mit beeindruckenden Geschichten. Es ist etwas anderes, das mir zunehmend Bauchschmerzen bereitet: die Aggression, mit der Teile der Gesellschaft auf Menschen wie meine Tochter* und ihre Freund*innen reagieren. Und damit indirekt auch auf die, die solche Menschen lieben und mit ihnen leben. Wir leiden mit, fühlen uns mit gemeint. Wie können wir unsere Nächsten schützen, wenn überhaupt? Bisher ist sie nicht in die Statistik eingegangen Die Stimmung ist bedrohlicher geworden, weltweit, aber auch in Deutschland. Gerade in den Jahren, in denen sich meine Tochter* auf den Weg gemacht hat, herauszufinden, wer sie ist. Die Statistik des Bundesinnenministeriums weist steigende Zahlen bei Verbrechen gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität nach, also Beleidigung, Volksverhetzung, Gewalt – 2020 wurden knapp 1000 gemeldet, 2021 über 1200. 2022 änderten sich die erfassten Kategorien, weshalb die Werte nicht eins zu eins vergleichbar sind, doch die Zahlen sind ähnlich hoch. Bei politisch motivierten Straftaten aufgrund sexueller Orientierung verzeichnet das Bundeskriminalamt im Jahresvergleich einen Anstieg von 15 Prozent. Bisher ist meine Tochter* in dieser Statistik nicht als Fall aufgetaucht, zum Glück. Sie lebt in einer liberalen Großstadt, es könnte sehr viel schlimmer sein. Aber auch hier ist sie gefährdet. Eben nicht, weil sie eine Frau wäre, sondern gerade, weil sie sich im Uneindeutigen eingerichtet hat. In ihrem Aussehen, in der Frage, wen sie küsst, mit wem sie Hand in Hand geht. Als sie kürzlich mit Freund*innen zur großen Demo des Hamburger Christopher Street Day (CSD) aufbrach, gegen Diskriminierung, für die Rechte von Transmenschen, schärfte ich ihr ein: Lasst euch nicht provozieren, falls es zu Gegendemos kommt oder wenn Einzelne euch beleidigen. Bringt euch in Sicherheit, sucht nicht die Auseinandersetzung. Ich war erleichtert, als sie wieder zu Hause war. Das ist keine Panikmache, meine Sorge lässt sich leider begründen. Immer wieder kam es in den letzten Jahren zu schweren homo- und transphoben Übergriffen, im Juni wurde ein Mensch im Alter meiner Tochter* nach dem CSD in Hannover Opfer gewaltvoller Übergriffe, 2022 endete eine Attacke in Münster gar tödlich. Die Anfeindungen sind vielen zu heftig Spricht man mit denen, die täglich mit transgeschlechtlichen oder homosexuellen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun haben, ergänzt sich das düstere Bild. Samira Bekkadour-Hotz, die in Berlin-Neukölln mit einer Kollegin das queere Jugendzentrum Q*ube leitet, berichtet mir von offenen Drohungen. Männern, die an der Tür im Vorbeigehen drohen: Bis Silvester brennt euer Laden! Und Isabelle Melcher, die in Ulm als Therapeutin mit dem Schwerpunkt geschlechtliche Vielfalt arbeitet, erzählt mir von jungen Patient*innen, die am Ende einer Therapie sagen: Es geht nicht, ich schaffe es nicht, öffentlich zu dem zu stehen, wer ich bin. Weil der Druck, die Anfeindungen, die tägliche Diskriminierung einfach zu groß sind. Die Gewalt, die in der Polizeistatistik auftaucht, ist nur die Spitze des Eisbergs. Bedrohung beginnt viel niedrigschwelliger, im Alltag. Und leider ist auch hier ein gesellschaftlicher Rückschritt zu verzeichnen. Selbst wenn man von außen den Eindruck bekommen könnte, dass die Akzeptanz steigt, weil in Streaming-Serien zunehmend homosexuelle Charaktere vorkommen oder Models im Non-binary-Look für große Firmen werben – das ist leider nur ein Teil der Wahrheit. Die Bertelsmann Stiftung hat die Einstellungsveränderungen im Verlaufe der Pandemie-Jahre in Baden-Württemberg gemessen. Die Studie ist eine umfassende Erhebung zum Mentalitätswandel und kommt zu besorgniserregenden Ergebnissen, die im ganzen Land wohl ähnlich sind: Die Frage "Hätten Sie gern einen Homosexuellen als Nachbarn?" bejahten 2019 93 Prozent, 2022 waren es nur noch 80 Prozent. "Ungern als Nachbarn" gaben 2022 fast doppelt so viele an wie 2019, nämlich 9 gegenüber 5 Prozent. Natürlich macht diese Einstellung noch niemanden zum Gewalttäter, und man kann friedlich jahrelang Tür an Tür leben, ohne dieselben Werte zu teilen. Im besten Fall führt die alltägliche Begegnung sogar dazu, Vorurteile abzubauen. Aber es kann auch die erste Stufe auf einer nach oben offenen Eskalationsskala sein, von der stillen Missbilligung bis zu körperlicher Gewalt. Für Heranwachsende aus dem Regenbogen-Spektrum ist einer der bedrohlichsten Orte übrigens die Schule: Laut einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte wird fast jede*r zweite von ihnen im Lauf der Schulzeit gemobbt, 46 Prozent sagen, dass sie bei Beleidigungen nie jemand verteidigt hätte.
Verena Carl
Ihr 17-jähriges Kind ist queer. Und Ziel von Hass und Bedrohungen. Unsere Autorin macht sich Sorgen – und Gedanken darüber, was sie tun und ihrer Tochter* mitgeben kann.
[ "Kinder", "Queerness", "Eltern", "Diskriminierung", "Queerfeindlichkeit", "Christopher Street Day" ]
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2023-08-25T13:06:21+02:00
2023-08-25T13:06:21+02:00
https://www.zeit.de/2023/36/queere-kinder-anfeindungen-agressionen/komplettansicht?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Alexander Steinhilber: "Die Orgel kann alles"
Mozart nannte die Orgel die Königin aller Instrumente. Unter dem Motto "Hamburg zieht alle Register" feiert die Stadt mit mehr als 900 Konzerten und anderen Veranstaltungen ein oft unterschätztes Instrument. Wie faszinierend die Orgel sein kann, erklärt Alexander Steinhilber, der Orgelbeauftragte der Stadt. ZEIT ONLINE: Die Orgel gilt als langweilig und verstaubt. Die meisten Menschen denken erst einmal an Kirchenmusik. Was entgegnen Sie denen? Alexander Steinhilber: Die Orgel kann alles! Viele glauben, die Orgel sei ein lautes Instrument für getragene Musik, das von einem Typen im Rollkragenpullover gespielt wird. Aber die Orgel kann auch leise sein und sehr virtuos gespielt werden. Sie ist kein graues Monster, sondern eine feine Dame. Auf der Orgel kann die Musik für ein ganzes Orchester erklingen, nur dass man dafür statt 60 Musiker nur einen braucht. Orgel kann auch nicht nur klassische Musik, sondern genauso Jazz und Pop. ZEIT ONLINE: Wie wollen Sie im Orgeljahr die Menschen für das Instrument begeistern? Steinhilber: Indem wir nicht nur Konzerte in Kirchen machen, sondern überall: in Schulen, beim Elbjazz-Festival, sogar an öffentlichen Plätzen. Dafür sind wir im Sommer auch mit einer Orgel auf einem Truck unterwegs. Wir kommen damit zu den Leuten. Außerdem wird es im Museum für Kunst und Gewerbe ab Juli die Ausstellung "Manufaktur des Klangs" über 2.000 Jahre Orgelbau und -musik geben. Da bauen wir eine kleine Orgelwerkstatt auf. Die Besucher können nicht nur zuschauen, sondern auch selbst ausprobieren. Darauf freue ich mich besonders. ZEIT ONLINE: Sie sind Orgelbeauftragter der Stadt. Wie steht es um die Orgeln in Hamburg? Steinhilber: Gut, wir haben hier viele herausragende Instrumente aus den unterschiedlichsten Stilepochen – von bekannten Barockorgeln bis zum ganz modernen Instrument in der Elbphilharmonie . Für das Orgeljahr haben wir die mehr als 300 Orgeln inventarisiert und in einem virtuellen Stadtrundgang versammelt. Es gibt sogar vier Orgeln in Gefängnissen, die bei Andachten gespielt werden. 1997 gab es schon mal so ein Verzeichnis. Seitdem hat sich einiges getan. Manche Instrumente sind leider weg, weil Kirchen aufgegeben wurden. Aber es gibt auch Neubauten. In der Katharinenkirche steht zum Beispiel seit 2013 eine neue Orgel, die alte wird jetzt in Polen gespielt. ZEIT ONLINE: Was haben Sie für Aufgaben als Orgelbeauftragter? Steinhilber: Ich kümmere mich um die 20 städtischen Instrumente, die in Schulen, Veranstaltungssälen und eben in den Gefängnissen stehen. Ich begleite Restaurierungsarbeiten und bin auch Ansprechpartner für das Denkmalamt, wenn etwa an Orgeln in Kirchen gearbeitet wird. Da geht es ja nicht nur um das Aussehen, sondern auch um den Klang. ZEIT ONLINE: Anlass des Festjahres ist der 300. Todestag des Orgelbauers Arp Schnitger. Warum ist er so wichtig? Steinhilber: Arp Schnitger war einer der bekanntesten Orgelbauer des Barocks und hatte seine Werkstatt in Neuenfelde. Von dort aus hat er im gesamten norddeutschen Raum gearbeitet, von den Niederlanden bis Dänemark – und zwar qualitativ auf einem sehr hohen Niveau. Schnitger hat einen eigenen Orgeltypus mit speziellem Aussehen entwickelt, den Hamburger Prospekt – so nennt sich diese Anordnung der sichtbaren Pfeifen. Sie findet sich auf der ganzen Welt wieder. Schnitgers Bauweise setzte Maßstäbe und hat bis heute Auswirkungen auf den Orgelbau. ZEIT ONLINE: Haben Sie noch einen Tipp, was man im Orgeljahr als Hamburger auf jeden Fall unternehmen sollte? Steinhilber: Eine Orgelführung! Das bekannteste Instrument von Arp Schnitger steht in der Jacobi-Kirche. Da gibt es zum Beispiel jeden Donnerstag um zwölf Uhr die Möglichkeit, sich die Orgel genauer anzusehen. Für die Zuhörer bleibt das Instrument sonst ja statisch, die Fassade sieht immer gleich aus, egal was zu hören ist. Bei einer Führung kann man meist auf die Empore rauf und dort das Instrument ganz aus der Nähe erleben. Das ist faszinierend. Und wenn man nett fragt, darf man vielleicht auch mal eine Taste drücken.
Kathrin Fromm
Hamburg nennt sich in diesem Jahr Orgelstadt und feiert den 300. Todestag des bedeutenden Barock-Orgelbauers Arp Schnitger.
[ "Orgel", "Alexander Steinhilber", "Arp Schnitger", "Elbphilharmonie", "Barock" ]
hamburg
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2019-01-09T23:46:37+01:00
2019-01-09T23:46:37+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-01/orgel-alexander-steinhilber-orgelbeauftragter-hamburg-orgelbau-arp-schnitger?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Reisen während Corona: Kein Wunder, dass viele Menschen lieber Auto fahren
Eigentlich ist die Sache klar: Egal wie stetig die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Deutschland sinkt, wie gering die Auslastung der Krankenhäuser ist und wie sehr in vielen Bereichen eine Rückkehr zur Normalität möglich sein mag: Die Einhaltung grundlegender Hygieneregeln gilt weiter. Eine der wichtigsten Vorgaben lautet deshalb nach wie vor zu Recht, im öffentlichen Raum Abstand zu halten. Das gilt an der Supermarktkasse, in Restaurants oder im Kino. Ein Bereich scheint jedoch vom Abstandsgebot völlig unverständlicherweise ausgenommen: In Bahn, Bus und Flugzeug dürfen Reisende, die nicht zu einem Haushalt gehören, nebeneinander aufgereiht sitzen. Die Unternehmen sind nicht dazu verpflichtet, Sitzplätze abzusperren. Bislang mag das oft kein großes Problem gewesen sein, da das Reiseaufkommen gering war. Flugzeuge hoben halbleer ab, Bahnreisende hatten teilweise ganze Zugteile für sich allein. Doch inzwischen sind viele Züge der Deutschen Bahn zu den Stoßzeiten wieder voll. Dazu kommt der Urlaubsverkehr – und plötzlich beträgt der Abstand zum fremden Sitznachbarn statt der geforderten 1,5 Meter nur noch wenige Zentimeter. Es wäre Aufgabe von Bund und Ländern gewesen, für klare Regeln zu sorgen und den Unternehmen Vorgaben zu machen. Ende April dachte der Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer in einem Interview mit ZEIT ONLINE noch laut darüber nach, ob Sitzplätze in Bussen und Bahnen reduziert werden müssten, um eine Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Der CSU-Politiker räumte ein, dass der Staat die Verdienstausfälle der Unternehmen dann kompensieren müsse. Doch passiert ist nichts. Gut möglich, dass sich das noch als fahrlässig herausstellt. Maskenpflicht? Nicht zuständig Die Unternehmen haben keinen Grund, von sich aus zu reagieren. Nach wochenlanger Leerfahrt oder auch komplettem Betriebsstopp gilt es, endlich wieder profitabel zu werden. Dafür müssen so viele Tickets wie möglich verkauft und somit Plätze belegt werden. Die Deutsche Bahn präsentiert sich nach außen zwar verantwortungsbewusst, um Fahrgäste zurückzugewinnen. "Auch in unseren Zügen gilt das empfohlene Abstandhalten zu den Mitreisenden", hieß es Anfang Mai in einem Blogeintrag . Während der Reise "unterstützen unsere Mitarbeiter*innen dabei, sich innerhalb der Züge bestmöglich zu verteilen", versprach die Bahn. Inzwischen, da immer mehr Fahrgäste zurückkehren, ist jedoch zu beobachten, dass die Bahn noch nicht mal dazu bereit ist, das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung durchzusetzen. Auf die Beschwerde eines Fahrgasts auf Twitter hin teilte die Bahn mit, dass für die Durchsetzung von staatlichen Maßnahmen die Behörden zuständig seien. Auch das Hausrecht könne in diesem Fall nicht angewandt werden, da die Maskenpflicht nicht in den Beförderungsbedingungen stehe. Vermutlich will die Bahn zum einen coronamüde Kundinnen nicht verprellen und zum anderen ihre Beschäftigten davor bewahren, sich mit Corona-Skeptikern anlegen zu müssen. Das ist nachvollziehbar und ihr gutes Recht.
Jurik Caspar Iser
Warum werden Abstandsregeln überall durchgesetzt, aber nicht in Bahn, Bus und Flugzeug? Die Regierung hat es versäumt, den Unternehmen klare Vorgaben zu machen.
[ "Coronavirus", "Reisen", "Bundesregierung", "Flugzeug", "FlixBus", "Deutsche Bahn", "Airline", "Fernbus", "Luftfahrtgesellschaft", "Corona" ]
mobilitaet
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2020-07-19T14:59:35+02:00
2020-07-19T14:59:35+02:00
https://www.zeit.de/mobilitaet/2020-07/reisen-corona-regeln-maskenplicht-regierungsvorgaben-bus-bahn-flugzeug?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Galeria Karstadt Kaufhof: Leider nur scheinreich
Dass die Lage in René Benkos Signa-Reich dramatisch war, das war allgemein bekannt. Wie groß die Not allerdings wirklich ist, zeigte sich vorvergangenen Mittwoch, als Erhard Grossnigg, Vorstand und Sanierer von zwei insolventen Signa-Gesellschaften, einen Bettelbrief schrieb. Es war schon der zweite in weniger als zwei Wochen. "Sehr geehrter Investor", begann Grossnigg sein Schreiben vom 3. Januar, das der ZEIT vorliegt. Kürzlich habe er die Adressaten schon einmal angeschrieben, um ihnen anzubieten, die insolventen Gesellschaften der Signa mit Geld zu versorgen. Dieses Angebot wiederholte er in diesem zweiten Brief. Er sei der Ansicht, dass das Immobilienvermögen der Signa-Gruppe nur dann "im Wert zu erhalten" sei, wenn "wir die nötige Liquidität haben, um laufende Rechnungen zu bezahlen". Und diese Liquidität wolle er gern von den Investoren einsammeln. In anderen Worten: Entweder ihr zahlt oder ihr verliert euren Einsatz. In dem Brief stand zwar nichts von der Signa-Beteiligung an Galeria Karstadt Kaufhof (GKK). Das Management der Kaufhauskette dürfte die Botschaft aber mit Sorge registriert haben. GKK sollte bis 2025 noch Millionen Euro aus dem Signa-Reich erhalten. Doch wenn die Lage so dramatisch ist, dass man ohnehin schon frustrierte Investoren anpumpt, dann ist fraglich, woher dieses Geld kommen soll. Die Briefe waren an Investoren adressiert, die Signa-Gründer René Benko lange geblendet hatte. Er hatte ihnen ein stetig wachsendes Immobilienunternehmen präsentiert, in dem der Wert der Gebäude zumindest in der Bilanz in den Himmel wuchs. Nicht wenige Geldgeber wurden durch Einladungen in Benkos Park Hyatt Hotel in Wien oder auf dessen Jacht im Mittelmeer beeindruckt. Doch spätestens im vergangenen Jahr zeigte sich, dass Benkos Reich finanziell betrachtet eine Art Potemkinsches Dorf war: schöne Fassaden, aber dahinter bröckelte die Substanz. Die Briefe des Sanierers Grossnigg lesen sich wie ein letztes Aufbäumen gegen etwas, das wohl nicht mehr zu verhindern ist: das Ende des bisherigen Benko-Imperiums und seiner Signa-Gruppe. Lange präsentierte Signa sich als eine der größten Immobiliengesellschaften Europas. Zweifellos war sie eine der schillerndsten, im Portfolio edle Warenhäuser wie das KaDeWe in Berlin, das Alsterhaus in Hamburg, der Oberpollinger in München. In Wien gehört die Edelmeile Goldenes Quartier mehrheitlich der Signa, in Hamburg baut das Unternehmen mit dem Elbtower gerade das höchste Gebäude der Stadt, sogar das New Yorker Chrysler Building gehört zu Signa. Derartige Superlative halfen bei der Gewinnung von Investoren. Doch als Benko die abenteuerlich hohen Bewertungen seiner Immobilien zuletzt nach unten korrigieren musste, meldete nun eine Gesellschaft nach der anderen Insolvenz an. Den Anfang machte Ende Oktober die Signa Sports United. Ende November folgte die Dachgesellschaft Signa Holding. Zwischen den Jahren waren dann die wohl wertvollsten Unternehmen aus dem Konzern dran, die Signa Prime (zu ihr gehören wertvolle Warenhäuser in Deutschland sowie Selfridges an der Londoner Oxford Street) und die Signa Development (sie hat 39 Immobilienprojekte im Portfolio und ist an nicht weniger als 290 Gesellschaften beteiligt). Allein vergangenen Freitag stellten mehr als ein Dutzend weitere Signa-Gesellschaften in Deutschland Insolvenzanträge. Selten war der Begriff Pleitewelle derart passend.
Ingo Malcher
Galeria Karstadt Kaufhof folgt René Benkos Signa in die Insolvenz. Interne Unterlagen zeigen die verzweifelte Suche nach neuen Geldgebern.
[ "René Benko", "Hans Christian Plambeck", "Erhard Grossnigg", "Berlin", "Signa", "Wien", "Mittelmeer", "Hamburg", "GALERIA Kaufhof", "ZEIT" ]
wirtschaft
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2024-01-09T21:47:39+01:00
2024-01-09T21:47:39+01:00
https://www.zeit.de/wirtschaft/2024-01/rene-benko-galeria-karstadt-kaufhof-insolvenz?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Einzelhandel in Hamburg: Darf’s noch etwas sein?
Nach den Monaten der Stubenhockerei, in denen der weiteste Weg manchmal nur bis zur Wohnungstür führte, überraschte uns das Statistikamt Nord mit dieser Meldung: Im ersten Halbjahr 2021 wurden in Hamburg so viele neue Betriebe gegründet wie seit Jahren nicht mehr. Trotz Lockdown und Online-Shopping gibt es 2700 neue Läden und Unternehmen in der Stadt, so viele wie zuletzt 2008, die meisten liegen in den Bezirken Mitte, Nord und Altona. Was ist der Grund? Der Bundesverband Deutscher Start-ups schwärmt von "Innovation statt Krise", beim Statistikamt klingen sie prosaischer und diagnostizieren pandemiebedingte "Nachholeffekte". Das passt, denn Nachholbedarf haben wir auch. Auf dieser Seite stellen wir neue, inhabergeführte Geschäfte in Hamburg vor. Für einen gemeinsamen Bummel in der Stadt statt im Internet. Fotoladen Khrome In der Neustadt gibt es seit diesem Sommer ein Fachgeschäft für analoge Fotografie. Den beiden Gründern Oliver Heinemann und Anatol Kotte ist schon klar, dass sich kein Mensch mehr mit Filmrollen und Fotolaboren herumplagen muss, weil auch Handykameras fantastische Bilder machen. Ihnen sei aber aufgefallen, dass nach der Schallplatte nun auch die analoge Fotografie ein Comeback erlebe. Heinemann sagt: "Wir haben das eine Weile in den sozialen Medien verfolgt und stellten dann fest, dass der Bedarf in unserer Heimatstadt gar nicht gedeckt ist." Nun verkauft er Kameras, Filme und Fotozubehör in einem Laden mit nostalgischem Interieur. "Wir sehen Khrome als Begegnungsort für alle Generationen", sagt Mitgründer Anatol Kotte. "Die Jüngeren empfinden es hier als magisch, die Älteren haben manchmal Tränen in den Augen, weil es sie an früher erinnert." Die Foto-Begeisterung der beiden geht über die Technik hinaus: Im vergangenen Monat gründeten sie die Galerie Capitis, in der noch bis Anfang Dezember Porträtfotos von Andreas Mühe zu sehen sind. In Planung seien zudem ein Fotolabor und eine Ausbildungsstätte für Fotografen. Kaiser-Wilhelm-Str. 73, Dienstag bis Samstag 11–19 Uhr, khrome.de Fleischerei Ein Stück Land Was kommt heraus, wenn ein diplomierter Bauingenieur und eine angehende Juristin sich ihrer Begeisterung für Fleisch widmen? Crowdbutching. Die Wortschöpfung von Hinrich Carstensen und Lina Kypke setzt sich zusammen aus "Crowdfunding", also der Finanzierung eines Projekts durch viele Kleininvestoren, und "butcher", zu Deutsch Schlachter. Das Ziel dabei sei, so viel vom Tier wie möglich zu verwerten. Ursprünglich hatte Carstensen 2017 mit einem Online-Handel begonnen. Heute sagt er: "Bloß 500 Gramm Fleisch zu verschicken hinterließe einen zu großen CO₂-Abdruck." Deshalb ergänzt er das Versandgeschäft nun um einen Hofladen auf der Uhlenhorst, in dem er verkauft, was online nicht weggegangen ist. Neben Filet und Hüfte gibt es hier auch Ochsenschwanz, Schweinebäckchen oder Herz vom Weiderind. Massentierhaltung kommt dabei nicht infrage: Ein Rind darf vor der Schlachtung ein Jahr lang auf der Weide stehen, ein Schwein hat 90 Quadratmeter Platz. Geplant ist eine Erweiterung des Sortiments um "Fertigessen, das auch wirklich schmeckt", sagt Carstensen. Hackbällchen in Tomatensoße etwa oder hauseigene Bolognese. Papenhuder Str. 30, Donnerstag und Freitag 13–18 Uhr, Samstag 11–17 Uhr, einstueckland-hofladen.de Delikatessenladen Bruno & Bao Werbung für seinen Delikatessenladen mit Mittagstisch im Karoviertel hat Bao Vu nicht gemacht. Eine Website existiert nicht und auch keine Telefonnummer. Beste Voraussetzungen also, um ein Geheimtipp zu bleiben. "Du gehst im Umkreis von einem Kilometer von Laden zu Laden und stellst dich vor", sagt Bao Vu. "Dann kommen die Leute." Zusammen mit seinem Geschäftspartner Bruno Bruni junior eröffnete er im September das Bruno & Bao, wo Buns mit Schweinefleisch serviert werden, Kimchi-Eintopf oder Bibimbap. Wie schon in seinem Restaurant Vu in der Kleinen Freiheit kommt die Küche nicht ohne Rezepte von Vus vietnamesischer Mutter aus. Und wer die Gerichte lieber zu Hause essen möchte, kann sie auch abgefüllt in Gläsern kaufen. Wie auch die hausgemachte Soße XO aus getrockneten Jakobsmuscheln, Yunnan-Schinken und weiteren Zutaten. Neuer Kamp 19, geöffnet Mittwoch bis Samstag 12–19 Uhr, Instagram: @vubaovu Buchhandlung Seitenweise Acht Wochen nachdem Alexandra Kröger ihre Buchhandlung Seitenweise in Hamm eröffnet hatte, kam der erste Lockdown. Buchläden galten damals noch nicht als Geschäfte des täglichen Bedarfs und mussten schließen. "Das war natürlich Mist", sagt Kröger. Als studierte Bibliothekarin ist sie eine Quereinsteigerin und wollte sich eigentlich erst mal in Ruhe das Handwerk und den Tagesablauf einer Buchhändlerin von ihren beiden Vorgängerinnen abgucken. Stattdessen hievte sie nun meterhohe Bücherregale ins Schaufenster, damit die Menschen draußen möglichst viele Titel sehen und telefonisch bestellen konnten. Kröger reichte verkaufte Bücher durch die Tür hinaus oder brachte sie bei den Kunden zu Hause vorbei. Alexandra Kröger sagt: "Ich gehe davon aus, dass es die persönliche Nähe und das Gefühl von Zusammenhalt waren, die die Menschen dazu brachte, bei mir zu bestellen statt online." Das Geschäft lief so gut, dass sie vor einigen Wochen sogar einen zweiten Buchladen in Dulsberg aufmachte. Bald findet dort die erste Lesung statt: Am 20. November stellt Annemarie Stoltenberg ab 13 Uhr ihr Buch Die Magie des Lesens vor . Dithmarscher Str. 32, geöffnet Montag bis Freitag 9–18.30 Uhr, Samstag 9–13 Uhr, seitenweise-hamburg.de
Nina Faecke
Hamburgs Einzelhandel blüht. Ein Stadtbummel durch die neuesten inhabergeführten Läden.
[ "Oliver Heinemann", "Anatol Kotte", "Andreas Mühe", "Hinrich Carstensen", "Lina Kypke", "Bruno Bruni", "Alexandra Kröger", "Sören Korte", "Christian Temme", "Hamburg" ]
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2021-11-09T18:22:33+01:00
2021-11-09T18:22:33+01:00
https://www.zeit.de/2021/44/einzelhandel-hamburg-neue-laeden-betriebsgruendungen-2021-corona-lockdown?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Abitur 2019: Wie Hamburg beim Matheabi neu rechnet
Gleich nach den Klausuren Anfang Mai haben sich einige der Schüler und Schülerinnen beschwert: Das Matheabi war zu schwer, fanden sie und starteten eine Onlinepetition ( hier ein Interview mit dem Initiator ). Die Schulbehörde prüfte daraufhin die Aufgaben – und gab den Schülern zumindest teilweise recht. Wer die Prüfung auf Grundkursniveau gemacht hatte, konnte zu einer freiwilligen mündlichen Nachprüfung antreten, die dann mit der schriftlichen Note verrechnet wurde. Später gab die Schulbehörde außerdem bekannt, dass die Matheklausur besser bewertet werden würde als ursprünglich vorgesehen. Jetzt liegt eine vorläufige Auswertung der Abiturergebnisse vor. Wie schnitten die Hamburger Schüler in Mathe ab? Bei den Prüfungen auf grundlegendem Niveau lag der Schnitt nach der Notenanpassung bei 3,46, damit reiht er sich in die Vorjahre ein: 2018 lag er bei 3,39; 2017 bei 3,54. Wären die Abiklausuren allerdings wie geplant gewertet worden, läge der Schnitt vermutlich bei 4,20 und damit deutlich schlechter als in den vergangenen Jahren. Die Chance, ihre Note zusätzlich noch durch eine mündliche Prüfung zu verbessern, nutzten 400 der 1.200 betroffenen Schülern. In der Matheprüfung auf erhöhtem Niveau gab es übrigens keine Anpassung bei den Noten. Der Schnitt lag dieses Jahr bei 3,38 und hat sich zum Vorjahr, als er bei 3,34 lag, kaum verändert. Wie wurden die Noten verbessert? Der Bewertungsschlüssel wurde geändert und zwar so, dass die Schüler schon eine Topnote erhalten, wenn sie 85 Prozent der Aufgaben richtig lösen konnten. Ansonsten wären dafür 100 Prozent nötig. Im Schnitt bekam durch diese Maßnahme jeder zwei Punkte mehr – was einer Verbesserung von etwa 0,66 bei der Note entspricht. Warum waren die Aufgaben so schwer? Hamburg bedient sich für den Abiturprüfungen aus einem bundesweit einheitlichen Pool an Aufgaben, die das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin entwickelt. Die Aufgaben für das Matheabitur stammen seit 2017 komplett aus diesem Pool. Bei den beiden vorangegangenen Jahrgängen gab es damit keine Probleme. Dieses Mal räumte die Schulbehörde allerdings ein, dass die Aufgaben zu schwer waren. Gab es diese Probleme auch in anderen Bundesländern? Ja, aber nicht so sehr. Auch in Niedersachsen und Bayern starteten Schüler und Schülerinnen Onlinepetitionen wegen des Matheabis. Die Noten wurden dort allerdings nicht angepasst. In anderen Bundesländern wie etwa Bremen und dem Saarland wird der Bewertungsschlüssel ebenfalls verbessert. Allerdings stellt nur Hamburg seine Abiturprüfungen komplett aus dem bundesweit einheitlichen Pool zusammen. Die anderen Ländern nutzen nur einzelne Aufgaben und konzipieren andere selbst. Welche Änderungen sind nun geplant? Hamburg plant ein zusätzliches Sicherungssystem: Ganz normale Mathelehrer sollen die Abiprüfungen zur Probe einmal bearbeiten. Außerdem dürfen die bundesweiten Aufgaben ab 2021 nicht mehr nachträglich geändert werden. Das ist bislang noch möglich. Andere Bundesländer hatten davon Gebrauch gemacht. Unklar ist noch, ob Hamburg künftig wieder eigene Landesaufgaben formulieren wird. Schulsenator Rabe sagte dazu: "Das Ziel ist es ja eigentlich, dass die Abiturprüfungen einheitlich sind. Allerdings kann es nicht sein, dass Hamburgs Schüler die Opfer sind." Ist Mathe insgesamt zu schwer? Zumindest weichen die Noten in Mathe deutlich von denen in den anderen Kernfächern ab. In den schriftlichen Prüfungen in Deutsch lag der Schnitt dieses Jahr bei 3,08 und in Englisch bei 2,74. Insgesamt liegt die Abidurchschnittsnote bei 2,42. Allerdings zeigten die Probleme in diesem Jahr, dass auch die Schüler in anderen Bundesländern ähnlich in Mathe abschneiden. Hamburgs Schulsenator nannte etwa Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bremen und Berlin, die ebenfalls beim Notenschnitt zwischen 3,0 und 3,5 liegen. "Mittelfristig wird sich die Frage stellen, ob nicht irgendetwas hier grundsätzlich nicht stimmt und die Anforderungsmaßstäbe in Mathematik noch mal überprüft werden müssen", sagte Rabe.
Kathrin Fromm
Weil die Aufgaben zu schwer waren, kündigte die Schulbehörde an, das Matheabi besser zu bewerten. Nun stehen die Ergebnisse fest.
[ "Mathematik", "Bildung", "Abitur", "Hamburg" ]
hamburg
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2019-06-24T23:08:45+02:00
2019-06-24T23:08:45+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-06/abitur-2019-hamburg-mathematik-notenchaos-bewertung-faq?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Hamburger Rathausquartier: "Wir mussten nie ein Auto abschleppen lassen"
Die Idee entstand im Mai 2018 bei einem Workshop in der Patriotischen Gesellschaft, wo Hamburger gemeinsam überlegten, wie sie die Altstadt lebenswerter machen könnten. "Die Aufenthaltsqualität erhöhen", heißt das in der Sprache der Stadtplaner. Straßen gleich dauerhaft für Autos zu sperren erschien den Vordenkern zu tollkühn, der Widerstand wurde als zu massiv eingeschätzt. Also ein zeitlich begrenztes Experiment. Um zu zeigen, wie das Leben in der Stadt auch aussehen könnte. Im August 2019 schließlich wurden zwei Straßen im Rathausquartier tagsüber für den normalen Autoverkehr gesperrt, diese Woche endet das Experiment. Mario Bloem gehört zu den Initiatoren des Projekts. ZEIT ONLINE: Herr Bloem, hat sich das Experiment gelohnt? Mario Bloem: Es hat sich gelohnt. Das heißt aber nicht, dass wir alles richtig gemacht hätten. Wir mussten mehrfach nachsteuern. Zum Beispiel haben am Anfang viele Privatleute trotz Verbots in den gesperrten Straßen geparkt. ZEIT ONLINE: Was haben Sie dagegen unternommen? Bloem: Wir haben uns an die Zugänge gestellt und die Fahrer über das Parkverbot informiert. Das half auch noch nicht. Als Nächstes haben wir Schranken aufgestellt. Das war dann deutlich genug. ZEIT ONLINE: Wie haben die Anlieger die Sperrung aufgenommen? Mario Bloem: Wir haben so viel Feedback bekommen wie noch nie. Das Niveau der Antworten ist erstaunlich hoch; viele Leute haben sich hingesetzt und lange Texte geschrieben. Selbst Kritik wurde nicht giftig formuliert. ZEIT ONLINE: Das Rathausquartier ist kein Wohnquartier, dort bewegen sich vor allem Touristen und Hamburger, die dort arbeiten. War deshalb die Stimmung ruhiger? Bloem: Das glaube ich nicht. Eine große Rolle spielte sicherlich, dass täglich jemand von uns für drei Stunden vor Ort war. Wenn etwas nicht funktioniert hat oder jemand unzufrieden war, konnte er uns direkt ansprechen. Das hat sehr viel Spannung rausgenommen. Wir mussten nie ein Auto abschleppen lassen, die Stimmung ist friedlich geblieben. ZEIT ONLINE: Die Gastwirte haben sich im Vorfeld eine Steigerung des Umsatzes erhofft. Hat das geklappt? Bloem: Ich kann nicht in die Kassen gucken. Aber die Gastronomen haben uns berichtet, dass sie noch nie so viele Gäste auf ihren Außenflächen hatten. Die Mittagszeiten haben sich ausgeweitet, die Leute sind länger geblieben. Einige Wirte mussten deshalb sogar neues Personal einstellen. ZEIT ONLINE: Sie hatten im Vorfeld Wert darauf gelegt, den öffentlichen Raum nicht zu kommerzialisieren. Es sollten nicht zu viele Events stattfinden. Hat sich das bewährt? Bloem: Es gab zu Anfang verschiedene Bedenken. Wird es nicht zu leer? Muss der Raum bespielt werden? Meine Position war: erst mal abwarten und dann schrittweise nachlegen, wenn es nötig ist. Mein Fazit ist: Die Menschen genügen sich selbst. Die Mittagspause mit den Kollegen ist für sich schon eine sehr wichtige Zeit, da braucht es nicht auch noch Straßenmusik. Wichtig waren die öffentlichen Sitzgelegenheiten, auf denen man verweilen konnte, ohne etwas zu konsumieren. Davon hätte es noch mehr gegeben können, da haben viele Menschen gesessen und gelesen oder ihre Butterstulle gegessen. ZEIT ONLINE: So viele Menschen waren gar nicht immer auf den Straßen zu sehen … Bloem: Dazu müssten wir einmal diskutieren, was eine Fußgängerzone auszeichnet. Müssen sich dort unbedingt viele Menschen bewegen oder ist sie auch als Ruheraum und entschleunigter Stadtbereich wertvoll? Reicht es auch schon, wenn die Büronutzer über die Straßen gehen können, ohne Angst haben zu müssen, von einem Auto angefahren zu werden? ZEIT ONLINE: Welche Faktoren haben Sie unterschätzt? Bloem: Den privaten Autoverkehr. Der Lieferverkehr, auf den immer alle schimpfen, ist gar nicht so schlimm. Den kann man in drei Stunden locker abwickeln, wenn der private Verkehr nicht die Abladeflächen blockiert. Aber private Fahrer setzen sich gern mal über Regeln hinweg. ZEIT ONLINE: Angenommen, ein anderes Quartier möchte ein ähnliches Experiment wagen. Was könnten sich die Organisatoren von Ihnen abschauen? Bloem: Den Ansatz. Wir sind angetreten mit der Haltung: Wir machen ein Experiment. Und nicht: Wir wissen schon alles. Ein Geschäftsquartier ist anders als ein Wohnquartiert, das Rathausquartier anders als Ottensen. Die erste Frage muss lauten: Besteht überhaupt Interesse, das mal auszuprobieren? Und wenn die Leute es wollen, probiert man es in einer begrenzten Zeit einfach mal aus. Dafür sind drei Monate gut. Man muss regelmäßige Feedbackschleifen einbauen und abfragen, was funktioniert. Wir haben das sehr detailliert gemacht: Waren die Sitzmöbel gut? Wie war die Kunst? Es ist wie bei einer Speisekarte, man muss immer gucken, welches Gericht ankommt und welches nicht.
Friederike Lübke
Zwei Straßen im Rathausquartier sind seit August für den Verkehr gesperrt. Diese Woche endet das Experiment – die Bilanz der Initiatoren fällt (fast) euphorisch aus.
[ "Fußgängerzone", "Autofrei City", "Autofahrer", "Auto", "Rathausquartier", "Hamburg" ]
hamburg
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2019-10-27T20:47:18+01:00
2019-10-27T20:47:18+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-10/hamburg-rathausquartier-autofrei-fussgaengerzone-bilanz-autofahrer?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Homeschooling: "Es ist spürbar, aber kein Erdrutsch"
Jedes Jahr finden an Hamburgs Schulen groß angelegte Untersuchungen statt. Bei den sogenannten Kermit-Tests (kurz für "Kompetenzen ermitteln") werden möglichst alle Schülerinnen und Schüler einer Klassenstufe mit einheitlichen Aufgaben auf ihre Fähigkeiten im Lesen, Rech nen, Schreiben oder in anderen Fächern geprüft. Wenn die Ergebnisse vorliegen, wissen die zuständigen Lehrerinnen und Lehrer, wo ihre Schutzbefohlenen im Vergleich zum Durchschnitt der Gleichaltrigen stehen und welche Förderung noch nötig ist. Zum Wochenende hat die Schulbehörde die Befunde der diesjährigen "Kermit 3"-Untersuchung veröffentlicht , die im Mai in den dritten Klassen durchgeführt worden ist. Die Ergebnisse wurden nicht nur von pädagogischen Fachleuten erwartet. Denn jetzt lässt sich erstmals mit einer validen Datenbasis sagen, welche Rückstände durch die lange Schulschließung in der ersten Jahreshälfte entstanden sind – zumindest punktuell, nämlich in den dritten Klassen und in den abgefragten Fähigkeiten. Die Tests zeigen, dass die Gruppe der lernschwachen Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesen um 11,1 Prozent gewachsen ist. Dieser Trend fällt mit 13,6 Prozent noch etwas stärker aus, wenn man sich nur Schulen ansieht, die einen niedrigen Sozialindex haben, an denen also viele Kinder aus armen oder nicht deutschsprachigen Familien lernen. Im Bereich Mathematik stieg der Anteil lernschwacher Schülerinnen und Schüler um 8,7 Prozent beziehungsweise um 11,2 Prozent in den besonders geforderten Schulen. Es gibt auch gute Nachrichten: In Rechtschreibung haben sich die Schülerinnen und Schüler gegenüber dem Vorjahr verbessert, was aber wohl nichts mit der Pandemie zu tun hat, sondern mit einem neuen Förderprogramm, das sich zum ersten Mal in den Testergebnissen niederschlägt. Die Daten stammen aus der Auswertung des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) , das zur Schulbehörde gehört. Im Interview erklärt Martina Diedrich, die Direktorin des IfBQ, was sich aus den Zahlen ablesen lässt – und was nicht. ZEIT ONLINE: Frau Diedrich, was wissen wir über die Folgen der Schulschließung für die Schülerinnen und Schüler? Martina Diedrich: Wir wissen zweierlei. Erstens: Nach der Schulschließung zum Pandemiebeginn im vergangenen Jahr hat es unter den von uns getesteten Jahrgängen fast keine messbaren Lernstandseinbußen gegeben. Nach der zweiten Schulschließung, die kurz vor Weihnachten einsetzte und mehrere Monate lang dauerte, stellen wir jetzt erkennbare Rückstände in den dritten Klassen fest. Das betrifft zum Teil Mathematik, insbesondere aber das Lesen. Zweitens: Diese Rückstände betreffen die Schülerinnen und Schüler in der Breite. Wir finden sie auch in Schulen an sozial wenig belasteten Standorten. Lern- und Leseförderung ist jetzt überall nötig. ZEIT ONLINE: Rund elf Prozent mehr lernschwache Schülerinnen und Schüler im Lesen, rund neun Prozent mehr in Mathematik – ist das ein dramatisches Ergebnis? Diedrich: Es ist spürbar, aber kein Erdrutsch. Man hätte auch Schlimmeres befürchten können. Unsere Tests fanden für viele Schülerinnen und Schüler unmittelbar nach der Rückkehr in die Klassenzimmer statt, teilweise schon in der ersten Woche nach sechs Monaten ohne Präsenzunterricht. In den weiterführenden Schulen setzen wir externe Testleiter ein, in den Grundschulen machen das die Lehrkräfte, die mit den Kindern vertraut sind. Es ist also nicht auszuschließen, dass sie ihre Schüler während der Tests unterstützt und etwas großzügiger als sonst Rückfragen beantwortet haben. Vielleicht wollten sie die Frustration vermeiden, die entsteht, wenn Kinder zurück in die Schule kommen und merken: "Ich kann gar nichts mehr." Das würde plausibilisieren, warum die Ergebnisse nicht dramatischer ausgefallen sind. Es ist aber reine Spekulation. Gut ist, dass uns diese Ergebnisse nun vorliegen und dass die politischen Rahmenbedingungen für Fördermaßnahmen geschaffen wurden. ZEIT ONLINE: Bisher galt in Hamburg die Mathematik als Problemfach. Hat es Sie überrascht, dass jetzt die Defizite im Lesen größer ausgefallen sind? Diedrich: Ehrlich gesagt, ja. Wir können das auch noch nicht recht deuten. Wir haben die Daten schnell veröffentlicht, die vertiefenden Analysen stehen noch aus. Als Nächstes werden wir uns einzelne Aufgaben anschauen und ihre Beantwortung genau mit der aus den Vorjahren vergleichen. Demnächst können wir dann auch sagen, wie Jungs im Vergleich zu Mädchen dastehen, das haben wir bisher nicht ausgewertet. ZEIT ONLINE: Dass das Leseverständnis deutlicher gelitten hat, ist auch deshalb erstaunlich, weil man denken könnte, dass während des Lockdowns verstärkt in Schriftsprache kommuniziert wurde. Statt uns persönlich zu sehen und zu sprechen, saßen wir vor Displays und schrieben und lasen E-Mails ... Diedrich: Ja, aber wir sprechen hier von Drittklässlern. Was haben die im Distanzunterricht gelesen? Kurze Anweisungen auf Arbeitsblättern, die immer ähnlich formuliert sind. Das zahlt nicht auf das Leseverständnis komplizierter Texte ein. Ansonsten fand die Kommunikation mündlich in Videokonferenzen statt.
Oskar Piegsa
Welche Folgen hatte die Schulschließung fürs Rechnen, Schreiben und Lesen? In Hamburg liegen dazu erste Daten vor. Die Bildungsforscherin Martina Diedrich erläutert sie.
[ "Corona", "Corona-Maßnahmen", "Homeschooling", "Bildungspolitik", "Bildungssystem", "Martina Diedrich", "Bildungsforschung", "Pandemie", "Jens Büttner", "Schulschließung" ]
hamburg
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2021-09-13T20:22:30+02:00
2021-09-13T20:22:30+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-09/homeschooling-corona-daten-bildungsforschung-martina-diedrich-interview?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Hendriks Graszoden: Niederländische Firma will keinen Rasen für WM in Katar liefern
Der renommierte niederländische Sportrasenhersteller Hendriks Graszoden wird keinen Rasen für die WM 2022 in Katar liefern – unter anderem wegen Menschenrechtsverletzungen. Das bestätigte das Unternehmen ZEIT ONLINE, wollte sich aber nicht weiter zu der Angelegenheit äußern. Zuvor hatte die britische Zeitung Guardian berichtet , dass in Katar seit der Vergabe der WM vor zehn Jahren rund 6.500 Arbeiter gestorben seien. "Wir wussten, dass es während der Arbeit Todesfälle gab, aber wir wussten nicht, dass es ungefähr 6.500 sind", sagte Managerin Gerdien Vloet dem lokalen Radiosender 1Limburg . Man finde es unverständlich, dass die Fifa nicht eingreife. Die Arbeitsbedingungen seien aber nicht der einzige Grund gewesen, den Auftrag abzulehnen, sagte Vloet 1Limburg. Der Transport des Rasens per Flugzeug wäre teuer gewesen und katarische Rasenproduzenten hätten Graszoden nicht die gewünschte Qualität liefern können. Das Unternehmen hatte den Rasen für die WM 2006 in Deutschland und die Europameisterschaften 2008 und 2016 geliefert. Es ist das erste Unternehmen, das einen Auftrag für die WM in Katar mit Verweis auf die Menschenrechtslage ablehnt. Dem Deutschlandfunk zufolge hatte das niederländische Außenhandelsministerium zuletzt eine geplante Reise großer Unternehmen nach Katar kurzfristig abgesagt. Und bereits im Februar habe das Parlament entschieden, dass der König und der Ministerpräsident dem Turnier fernbleiben sollen.
Sören Götz
Hendriks Graszoden hat bereits für große Turniere den Rasen gestellt. Für Katar lehnt Hendriks den Auftrag ab – auch weil dort beim Stadionbau Tausende Arbeiter starben.
[ "Katar", "Deutschland", "Aston Villa", "Turnier", "Stadionbau", "Fußball-WM", "Fußball", "Menschenrechte", "Boykott", "Sportrasen" ]
sport
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2021-03-12T13:48:00+01:00
2021-03-12T13:48:00+01:00
https://www.zeit.de/sport/2021-03/hendriks-graszoden-fussball-wm-katar-boykott-sportrasen-menschenrechtsverletzungen?wt_zmc=sm.int.zonaudev.twitter.ref.zeitde.redpost.link.x&utm_medium=sm&utm_source=twitter_zonaudev_int&utm_campaign=ref&utm_content=zeitde_redpost_link_x
G20-Gipfel in Hamburg: Einzelne Exzesse
Eineinhalb Jahre Prozess münden in diesen Moment, und dann passiert erst einmal: nichts. Kein Aufstöhnen, keine Unruhe. Ein Angeklagter scheint noch schnell ein Stoßgebet zur Saaldecke zu schicken, der Vater eines anderen nimmt kurz die Hand seiner Frau. Die Zuschauer hören einfach zu. Es ist eine lange Urteilsbegründung, die sie zu hören bekommen. Eine, in der die Vorsitzende Richterin zunächst lange über den politischen Rahmen des Prozesses spricht, ehe sie zu den Tatvorwürfen kommt. "Wir hätten uns einen unideologischen Blick auf das Geschehen auf der Elbchaussee damals gewünscht", sagt sie. Stattdessen hätten beide Seiten politische Stimmungsmache betrieben, die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung. Während des G20-Gipfels in Hamburg vor drei Jahren hatten sich die fünf jungen Angeklagten, zwischen 19 und 26 Jahre alt, an einem Protestmarsch durch die Elbchaussee beteiligt. Rund 200 Randalierer hinterließen am Morgen des 7. Juli eine Schneise der Verwüstung: abgebrannte Autos, zersplitterte Fensterscheiben. Die Angeklagten selbst warfen jedoch keine Steine oder Brandsätze. Sie setzen sich sogar irgendwann von dem Aufzug ab, weil es ihnen dort zu gewalttätig wurde. Die Verteidigung verweist auf das Grundgesetz Die Herausforderung in diesem Prozess war nun, zu beurteilen, ob die Männer dennoch Landfriedensbruch begangen haben – und vor allem: ob ihnen all die Zerstörungen persönlich anzulasten sind. Der Staatsanwalt wollte alle fünf ins Gefängnis schicken. In seinem Plädoyer sprach er von einem arbeitsteiligen Zusammenwirken. Die Angeklagten hätten den Gewalttätern den Schutz der anonymen Masse geboten, deshalb seien sie für alle Zerstörungen persönlich verantwortlich. Die Verteidigung dagegen verlangte Freispruch. Die Angeklagten, ein Franzose und vier Männer aus Hessen, seien nach Hamburg gekommen, um gegen den G20-Gipfel zu demonstrieren. Auch an jenem Morgen auf der Elbchaussee hätten sie nur demonstrieren wollen – und dies sei ein Grundrecht.
Elke Spanner
Fünf Männer wurden verurteilt, weil sie dabei waren, als andere beim G20-Gipfel auf der Elbchaussee randalierten. Doch auch die Staatsanwaltschaft wurde kritisiert.
[ "G20-Gipfel", "Justiz", "Brandstiftung", "Grundgesetz", "Staatsanwaltschaft", "Hamburg", "Landfriedensbruch", "Elbchaussee", "Prozess" ]
hamburg
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2020-07-10T20:16:54+02:00
2020-07-10T20:16:54+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-07/g20-gipfel-hamburg-urteil-ausschreitungen-elbchaussee-landfriedensbruch-brandstiftung?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Unfallforscher: "Vielen Senioren ist nicht klar, welche Schwächen sie am Steuer haben"
Autos schießen aus der Parklücke auf den Bürgersteig, reißen Auslagen um, krachen in Schaufenster oder brechen sogar durch bis in die Boutiquen oder Friseursalons: Es sind dramatische Szenen, die sich regelmäßig in der Waitzstraße in Groß Flottbek abspielen. Seit Ende 2018 stehen schwere Granitbänke vor den Schaufenstern, doch auch die wurden bereits zweimal umgefahren. Erst letzte Woche krachte es wieder: Ein Mercedes fuhr in die Auslage eines Blumenladens, riss dabei einen Poller um und zerquetschte ein Fahrrad. Verletzt wurde niemand. Mehr als 20 solcher Unfälle gab es in den vergangenen Jahren in der Waitzstraße. Fast immer saßen Senioren am Steuer, älter als 75 Jahre alt. Das Bezirksamt Altona will nun Stahlstelen aufstellen lassen, die örtliche Grundeigentümergemeinschaft verspricht einen Bringdienst für die ansässigen Arztpraxen – denn davon drängen sich 44 Stück auf einer Strecke von 300 Metern. So könnten einige Fahrer ihr Auto künftig stehen lassen. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, hat die Unfallserie untersucht. ZEIT ONLINE: Herr Brockmann, was ist los in der Waitzstraße? Siegfried Brockmann: Es gibt da zwei Probleme. Erstens: In der Waitzstraße wird trotz Tempo 20 relativ schnell gefahren. Zweitens: Die Straße ist voller Schrägparkplätze. Da kann man mit recht hoher Geschwindigkeit reinfahren, aber auch raus. Und genau das versuchen die Senioren, um rechtzeitig in eine Lücke zwischen den Autos zu gelangen, die eben mit hohem Tempo vorbeifahren. Die Senioren wollen schnell raus aus dem Parkplatz. ZEIT ONLINE: Aber doch nicht über den Bürgersteig. Brockmann: Es wird immer gesagt, sie würden Gas und Bremse bei ihren Automatikwagen verwechseln. Aber das glaube ich nicht. Die meisten Senioren haben 40, 50 Jahre Fahrerfahrung, da ist eine Verwechslung fast unmöglich. Meine Theorie ist: Die befinden sich im Irrtum über die eingelegte Stufe. Das ist bei vielen Autos ja leider auch nicht intuitiv: Wenn man den Hebel nach hinten zieht, landet man im Vorwärtsgang, wenn man ihn nach vorn drückt, im Rückwärtsgang. Das kennt jeder Automatikfahrer. ZEIT ONLINE: Fährt bloß nicht jeder in Schaufenster. Brockmann: Jüngere Menschen bemerken den Irrtum schneller, die brauchen zwei Zehntelsekunden und stehen auf der Bremse. Viele Senioren brauchen länger. Und wenn sie unter dem Druck stehen, schnell ausparken zu müssen, deswegen aufs Gas drücken, den Hebel aber versehentlich auf "D" statt auf "R" gelegt haben – dann schießt der Wagen nach vorn, ohne dass sie rechtzeitig reagieren können. ZEIT ONLINE: Trügt der Eindruck oder geht von Senioren im Straßenverkehr tatsächlich eine größere Gefahr aus als von anderen Altersgruppen? Brockmann: Das Verkehrsministerium sagt nein und verweist immer gern auf die Unfallstatistik. Das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. Erstens rechnet das Ministerium Menschen ab 65 als Senioren. Menschen zwischen 65 und 75 sind aber vergleichsweise unauffällige Autofahrer, interessant wird es ab 75. Zweitens wird das Unfallaufkommen pro Altersgruppe jeweils pro 100.000 Einwohner ermittelt, was in den älteren Jahrgängen ebenfalls wenig Sinn ergibt. ZEIT ONLINE: Warum? Brockmann: Weil viele ältere Frauen gar keinen Führerschein haben oder das Fahren lange aufgegeben haben. Bei den Menschen über 75 gibt es also viel weniger Autofahrer als in der Vergleichsgruppe. Sobald sie das Unfallaufkommen aber auf gefahrene Kilometer beziehen, sehen Sie die Wahrheit, und die lautet: Ab 75 ist das Unfallrisiko ähnlich hoch wie bei den 18- bis 21-Jährigen, die gemeinhin als Hochrisikogruppe gelten. ZEIT ONLINE: Bräuchte es dann nicht verpflichtende Fahrtests ab 75? Brockmann: Das wäre nicht sinnvoll. Wenn jemand auffällig wird, muss er zur MPU (zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung, d. Red) , da wird er einen ganzen Tag durchleuchtet und das kostet mehrere Hundert Euro – aber das kann man ja nicht verdachtslos bei allen 75-Jährigen machen. Das wäre weder adäquat noch politisch durchsetzbar. Für die große Masse der Senioren, die noch nie aufgefallen sind, muss man also andere Möglichkeiten finden, günstiger und weniger zeitintensiv. Das Problem ist aber: Wenn man einen Senior nur eine Stunde lang testet, dann kriegt man kein verlässliches Ergebnis – vielleicht fährt er eigentlich total sicher, ist aber aufgeregt beim Test. Auf Grundlage eines solchen Ergebnisses kann man keinen Führerschein einziehen, das wäre verfassungswidrig und geht einfach nicht. ZEIT ONLINE: Was also tun? Brockmann: Schon seit Langem fordere ich eine sogenannte qualifizierte Rückmeldefahrt. Da müsste sich jeder Autofahrer ab 75 für eine Stunde von einem Profi begleiten lassen und würde dann ein Feedback bekommen, das er entweder beherzigt oder nicht – darauf hätte man keinen Einfluss. Ich glaube aber, das würde dennoch etwas bringen. Zumindest, solange das Feedback differenziert ist. Schwarz-Weiß-Empfehlungen, Auto fahren oder nicht, wird es auch gar nicht so häufig geben. Vielleicht aber die Anregung, künftig Innenstädte oder unbekannte Strecken zu meiden. Vielen Senioren ist gar nicht klar, welche Schwächen sie am Steuer haben. Wenn man 50 Prozent der Teilnehmer an den Rückmeldefahrten zu verändertem Verhalten bringt, wäre das schon ein großer Gewinn. ZEIT ONLINE: Zurück zur Waitzstraße: Noch gibt es keine "qualifizierten Rückmeldefahrten", also muss das Problem anders gelöst werden. Ihr Vorschlag? Brockmann: Drastische Geschwindigkeitsreduzierung, am besten auf 10 km/h, durch Aufpflasterungen zum Beispiel. Das würde den Druck auf die Senioren mindern, schnell aus diesen Parklücken rauszufahren. ZEIT ONLINE: Von 10 km/h ist derzeit offenbar keine Rede. Stattdessen werden Stelen in den Boden gelassen und künftig soll ein Bringdienst die zahlreichen Arztpraxen anfahren. Brockmann: Das sind auch sinnvolle Ideen. Senioren, die im Ernstfall nicht mehr bremsen können, wenn sie falsch herum unterwegs sind, die sind natürlich auch insgesamt eine Gefahr für den Straßenverkehr. Damit sie aber ihr Auto stehen lassen können, brauchen sie ein gutes alternatives Angebot. So ein Bringdienst könnte da ein guter erster Schritt sein.
Félice Gritti
In der Waitzstraße in Hamburg krachen regelmäßig Autos ins Schaufenster. Nun sollen Stahlpfeiler helfen. Unfallforscher Siegfried Brockmann hat eine andere Idee.
[ "Straßenverkehr", "Autofahrer", "Siegfried Brockmann", "Hamburg", "Unfall", "Altona", "Fahrrad", "Stahlpfeiler" ]
hamburg
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2019-08-27T19:51:34+02:00
2019-08-27T19:51:34+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-08/unfallforscher-senioren-auto-siegfried-brockmann-hamburg?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Ministerpräsidentenkonferenz: So will Deutschland der vierten Welle und Omikron trotzen
Seit Wochen fordern Unionspolitiker im Kampf gegen das Virus schärfere Mittel. So auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Seine Staatskanzlei schickte am Vormittag kurz vor der Videoschalte der Regierungschefs von Bund und Ländern eine deutliche Botschaft nach Berlin: Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, das die Ausgangssperren und Betriebsschließungen im Frühjahr für verfassungskonform erklärt hatte, sei zu begrüßen und schaffe Rechtssicherheit, hieß es darin. Und die sich bildende Ampel-Regierung habe "sehr deutliche Hinweise bekommen", was man "zum Schutz von Leib und Leben" im Kampf gegen Corona tun kann. Jene Ampel, die erst kürzlich das Infektionsschutzgesetz entschärfte und die sich gegen Betriebsschließungen sperrt. Die vierstündige Videoschalte fand dann in einem schwierigen Umfeld statt: Die Intensivstationen sind zu 19 Prozent mit Covid-Patienten belegt – das ist der Spitzenwert der dritten Welle und nur noch drei Punkte unterhalb des Allzeitpeaks der zweiten. Zur infektiösen Delta-Variante kommt im beginnenden Winter nun die noch wenig erforschte Omikron-Variante hinzu – Verantwortliche warnen seit Wochen vor dem Kollaps von Kliniken. Regiert wird derzeit von zwei Seiten: Die neue Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP verabschiedete erste Gesetze und bildet derzeit einen neuen Krisenstab, dagegen ist die abgewählte Regierung von Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn nur noch verwaltend tätig. Auslöser des Treffens war der Beschluss der Karlsruher Richter. Und während sich Ampel-Vertreter enttäuscht zeigten, nutzten vor allem die Unionspolitiker der Länder das Urteil des Verfassungsgerichts, um Maßnahmenverschärfungen doch noch zu ermöglichen. Heraus kam eine Reihe von Plänen: Wie soll das Impfen jetzt beschleunigt werden? Bis Weihnachten sollen 30 Millionen Erst-, Zweit und Boosterimpfdosen in die Oberarme, also 1,25 Millionen pro Tag. Das wird hart, denn bisher gab es an nur wenigen Tagen mehr als eine Million Injektionen pro Tag , meist waren es mehrere Hundert- oder Zehntausend. Derzeit steigen die Impfzahlen wieder: Am 26. November, als die Grenze von 100.000 Toten überschreiten wurde, gab es erstmals in der vierten Welle mehr als 100.000 Erstimpfungen . Neben Betriebs- und Fachärzten sollen nun weitere Berufsgruppen mitimpfen , darunter die Zahnärzte, Tierärzte oder auch Apotheker. Das widerstrebt ärztlichem Standesdenken: Schließlich sehen vor allem die Kassenärzte das Impfen als "originär ärztliche Aufgabe". Dabei schreibt kein Gesetz vor, dass nur Ärzte impfen dürfen, das Injizieren gehört ja sogar zur Ausbildung von Pflegenden. Das RKI empfiehlt , dass bei Impfungen ein Arzt in der Nähe ist, falls es Komplikationen gibt. Geprüft wird zudem, wie man neben der einrichtungsbezogenen Impfpflicht in Gesundheitseinrichtungen auch eine allgemeine Impfpflicht einführen und bis Februar ganz Deutschland durchimpfen könnte. Entscheiden soll darüber der Bundestag. Bisher ist in Deutschland nur die Masernimpfung verpflichtend: für Kinder, Schüler und Beschäftigte in Schulen und Kitas. Das Erstaunliche: Wie Grüne und FDP war der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz vor drei Monaten noch strikt dagegen: "Es wäre falsch, wenn jetzt eine Debatte beginnt", hatte er im Bundestag über die allgemeine Impfpflicht gesagt. Nun rechtfertigt er sein Umdenken mit dem Verlauf der Pandemie und der Impfkampagne: "Hätten wir eine höhere Impfquote, hätten wir eine andere Lage", sagte er dem Sender Bild TV , wo er anstelle einer Pressekonferenz die Beschlüsse erläuterte. Helfen soll hier auch der von Scholz gebildete neue Krisenstab im Kanzleramt: Leiten wird ihn der Bundeswehrgeneral Carsten Breuer, angehören sollen ihm der Berliner Virologe Christian Drosten, der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, Vertreter des RKI, der Kinder- und Jugendmedizin, der Bildungsforschung, Praktiker der kommunalen Ebene, darunter etwa Bürgermeister sowie Pandemieforscher und -modellierer. Hauptaufgabe des Stabes: Impfstofflieferengpässe vermeiden, wie sie es in den vergangenen Wochen in verschiedenen Regionen Deutschlands immer wieder gab. Jedoch: Das aktuelle Infektionswachstum lässt sich durch jetzt verabreichte Impfungen nicht eindämmen – denn der Impfschutz wirkt erst nach einigen Wochen. Der Impfschutz soll zudem ein Verfalldatum bekommen: Die Gültigkeitsdauer von Impfzertifikaten zu beschränken, sei derzeit auf EU-Ebene im Gespräch, wie Koalitionspolitiker erläutern. Scholz soll in interner Runde von sechs Monaten gesprochen haben – jener Zeitspanne, nach der nach jetzigem Wissensstand der Impfschutz kontinuierlich nachlässt. Derzeit garantieren die QR-Codes und Impfausweise noch unbegrenzten Zugang zu 2G-Bereichen. Werden jetzt Clubs und Diskotheken geschlossen? Hier setzten vor allem die Unionspolitiker durch: Sie wollten, dass das flächendeckende Schließen von Betrieben, also Gaststätten oder Beherbergungsbetrieben möglich ist, um die Infektionen zu drücken. Am liebsten wäre ihnen gewesen, der Bundestag würde die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite erneut erklären , wodurch die Schließungen möglich würden. Dafür fehlen aber die Stimmen der sich bildenden Ampel-Koalition, die gegen Schließungen und Ausgangssperren ist und Betriebe höchstens regional schließen will.
Tilman Steffen
Impfpflicht, 2G im Einzelhandel, Schließung von Clubs, ein neuer Krisenstab, impfende Tierärzte und Apotheker: ein Überblick über die neuen Pläne von Bund und Ländern
[ "Robert Michael", "Reiner Haseloff", "Angela Merkel", "Jens Spahn", "Tilman Steffen", "Olaf Scholz", "Carsten Breuer", "Deutschland", "Dresden", "Berlin" ]
politik
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2021-11-30T20:39:41+01:00
2021-11-30T20:39:41+01:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-11/ministerpraesidentenkonferenz-corona-massnahmen-omikron-verfassungsgericht?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Bundesliga: Geduscht wird jetzt zu Hause
Seit Montag sind die Profis des Hamburger SV und des FC St. Pauli zurück auf dem Rasen, nach 25 Tagen Zwangspause. Dies verdanken sie einer Ausnahmegenehmigung der Behörde für Inneres und Sport, die den Clubs erlaubt, Mannschaftstraining in Kleingruppen durchzuführen. Wenn das Trainingsverbot fortbestünde, könnte den Mannschaften ein Wettbewerbsnachteil entstehen – so begründet die Behörde ihre Entscheidung. Inzwischen haben alle 36 Proficlubs der ersten beiden Ligen das Training wieder aufgenommen, die Saison ist nicht abgebrochen, nur unterbrochen. Doch Fußballtraining läuft in Zeiten von Corona ein wenig anders ab als gewohnt. Die Abläufe sind an strenge Auflagen angepasst: Das Training findet im Schichtdienst zu unterschiedlichen Zeiten statt, damit eine möglichst geringe Anzahl an Personen gleichzeitig vor Ort ist. Für den Fall einer Infektion müsste zudem nicht der gesamte Kader mitsamt allen beteiligten Mitarbeitern in Quarantäne, sondern nur die betroffene Gruppe. Jede wird von einem Trainer und einem Physiotherapeuten betreut, hat eine eigene Kabine zur Verfügung und muss ihre Wäsche selbst waschen. Kontakt ist weiterhin verboten, Zweikämpfe werden deshalb nicht geführt. Auch beim Fußballtraining gilt der Mindestabstand von 1,5 Metern. Geduscht wird zur Sicherheit zu Hause. Der nächste Schritt stellt die 36 Proficlubs der ersten und zweiten Liga vor eine existenzielle Herausforderung. Alle sind sich einig darüber, dass die Saison zu Ende gespielt werden muss – sogar Geisterspiele sind besser als gar keine Spiele. Denn bei einem vorzeitigen Abbruch droht nach aktuellem Stand etwa ein Drittel der Clubs die Insolvenz, berichtet der kicker . Das würde das System zum Kollabieren bringen.
Daniel Jovanov
Der Hamburger SV und der FC St. Pauli dürfen unter strengen Auflagen wieder trainieren – dank einer Ausnahmegenehmigung der Innenbehörde. Muss das sein?
[ "Coronavirus", "Fußball-Bundesliga", "FC St. Pauli", "Hamburger SV", "Fußball" ]
hamburg
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2020-04-08T20:54:29+02:00
2020-04-08T20:54:29+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-04/bundesliga-vereine-hsv-st-pauli-training-coronavirus-tests?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Covid-19: Deutsche Industrie erwartet drastischen Produktionseinbruch
Das Coronavirus breitet sich weiter aus . Die aktuellen Zahlen zu Infizierten und Opfern in Deutschland zeigt unsere interaktive Karte . Wie die weltweiten Zahlen zu interpretieren sind, lesen Sie hier. Derzeit gilt nach einem Beschluss von Bund und Ländern ein Kontaktverbot . Mehr als zwei Menschen dürfen in der Öffentlichkeit nicht mehr zusammenkommen. Ausgenommen sind Familien sowie in einem Haushalt lebende Personen. Außerdem gelten in fast allen Bundesländern weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens: Schulen, Kindergärten und viele Geschäfte sind geschlossen. Laut Bundesregierung wird es eine Lockerung dieser Maßnahmen nicht vor dem 20. April geben . Das Robert Koch-Institut stuft die Risikoeinschätzung für Menschen als "hoch" ein, nach Einschätzung seiner Experten könnte die Pandemie bis zu zwei Jahre dauern. Das Coronavirus kann eine Atemwegserkrankung mit hohem Fieber auslösen und zu einer Lungenentzündung führen. Auch junge Menschen und Kinder können erkranken und einen mittelschweren Verlauf haben. Aber nur für wenige Infizierte verläuft die Krankheit tödlich . Die Weltgesundheitsorganisation hat die Erkrankung als Covid-19 benannt, das Virus heißt Sars-CoV-2. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Virus und der dadurch verursachten Krankheit lesen Sie hier . Für unser Blog greifen wir neben eigenen Recherchen und Behördeninformationen auch auf Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP, Reuters, KNA und AP zurück Alle weiteren Hintergründe und ausführliche Analysen zur Lungenkrankheit finden Sie auf unserer Themenseite .
Rieke Havertz
Laut Ifo-Institut werden alle Branchen deutlich unter der Corona-Krise leiden. Italien legt ein Konjunkturpaket der Geschichte auf. Das Newsblog zum Nachlesen
[ "Jan Woitas", "Italien", "Ifo Institut für Wirtschaftsforschung", "Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung", "Produktionseinbruch", "Konjunkturpaket", "Covid - 19", "Krise", "Coronavirus", "Pandemie" ]
wissen
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2020-04-07T08:27:05+00:00
2020-04-07T08:27:05+00:00
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/corona-pandemie-live-covid-19-newsblog?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Dachbrände in Hamburg: Finde den Fehler
Natürlich verschickte der Investor sofort eine Mitteilung, um die Auszeichnung zu feiern. Nie zuvor habe ein so komplexes Bauprojekt das Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen erhalten wie das Westfield-Überseequartier. Von kohlenstoffarmem Zement über recycelten Stahl habe das Projekt eine "Vorreiterrolle", ließ Unibail-Rodamco-Westfield, kurz URW, im Juni 2021 wissen. Man konnte fast denken, da entsteht in bester Lage der Hamburger HafenCity kein übergroßes Einkaufszentrum, sondern ein Beispiel für ökologische Baukunst. Am vergangenen Freitag dann, zwei Jahre nach der Mitteilung, schien das Versprechen in Rauch aufzugehen. Anwohner sahen zunächst eine Stichflamme und Qualm, der auf dem Dach der Baustelle aufstieg. "Dann knallte es", sagte eine Nachbarin der ZEIT. Es waren offenbar mindestens vier Gasflaschen, die nacheinander bei dem Brand explodierten. Arbeiter flohen in höchster Not, ein Großaufgebot der Feuerwehr eilte heran, um den Brand zu löschen. Videoclips, die zeigen, wie von der Baustelle aus weiter Qualm und schwarze Wolken über die Innenstadt ziehen, verbreiteten sich im Internet. Nachdem am Wochenende die letzten Glutnester gelöscht waren, rückten am Montag die Brandermittler des Landeskriminalamtes an. "Die Ermittlungen dauern noch an", sagt der Polizeisprecher Thilo Marxsen. Doch klar ist bereits, dass der Brand offenbar ausgebrochen war, als Arbeiter mit einem Bitumenkocher dabei waren, eine Dachfläche zu versiegeln. Der Zwischenfall könnte Folgen haben: Ein Großprojekt wie dieses folgt einem engen Zeitplan. Die Verträge mit Mietern des Einkaufszentrums, darunter das Luxuskaufhaus Breuninger, sind seit Langem unterschrieben. Sie warten auf die zugesagten Räume. Die Eröffnung des Ensembles mit insgesamt 14 Gebäuden und 449.000 Quadratmetern Fläche, vor dem sich Einzelhändler an der angestammten Einkaufsmeile um die Mönckebergstraße fürchten, hatte bereits auf 2024 verschoben werden müssen. Die Umstände des Brandes werfen Fragen auf, wie sicher und nachhaltig es dort wirklich zuging. Die Ermittler haben offenbar Hinweise darauf, dass es Mängel auf der Baustelle des Großprojektes gegeben haben könnte. Der Bitumenkocher auf dem Dach könnte nach Informationen der ZEIT nicht ausreichend gesichert gewesen sein. Wie der Feuerwehrsprecher Jan Ole Unger erklärt, stünden die Kocher normalerweise häufig in einer nicht brennbaren Stahlwanne, falls heiße Flüssigkeit herauslaufe oder das Gerät selbst in Brand gerate. "In 95 Prozent der Fälle entsteht bei Arbeiten mit Teer oder Bitumen keine Gefahr", sagt Unger. In der HafenCity könnte herauslaufende heiße Flüssigkeit aber den Brand begünstigt haben, da eine schützende Stahlwanne möglicherweise fehlte. Die Polizei prüft auch, wie aus dem Feuer schließlich ein Brand dieser Größenordnung werden konnte. So steht der Verdacht im Raum, dass nicht genügend Feuerlöscher griffbereit waren, um den Brand noch im Anfangsstadium zu löschen. Außerdem lagerten offenbar auffällig viele Gasflaschen in dem Bereich; von 20 Stück ist im Umfeld des Löscheinsatzes die Rede. Auch dies könnte gegen Vorschriften verstoßen haben.
Christoph Heinemann
Warum brach am Freitag ein Feuer auf dem Dach des Westfield-Einkaufszentrums in der Hamburger HafenCity aus? Die Polizei prüft mehrere Hinweise auf Sicherheitsmängel.
[ "HafenCity", "Hamburg", "Brand", "Feuerwehr", "Polizei", "Ermittlung", "Großbrand" ]
hamburg
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2023-06-13T21:15:47+02:00
2023-06-13T21:15:47+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2023-06/hamburg-dachbraende-grossbrand-hafencity-gasflaschen?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Navigationssysteme: "Die Straßenstruktur wird nicht intelligent ausgelastet"
Diesen Samstag droht in Hamburg ein Verkehrskollaps. Andreas Gabalier spielt im Volksparkstadion und Udo Lindenberg zur gleichen Zeit in der Barclaycard Arena. Das ideale Testszenario für die App Nunav Navigation. Das System verspricht, mit einer Art Schwarmintelligenz die Nutzerinnen und Nutzer um Staus, Baustellen und Sperrungen direkt zu einem freien Parkplatz zu navigieren. Dahinter steckt das Hannoveraner Unternehmen Graphmasters, das die App schon zum Hafengeburtstag in Hamburg einsetzte. Unternehmenssprecher Daniel Stolba erklärt, wie die Software funktioniert. ZEIT ONLINE: Herr Stolba, Sie glauben, am Samstagabend den großen Verkehrskollaps vermeiden zu können. Wie wollen Sie das schaffen? Daniel Stolba: Wir haben ein riesiges Problem damit, dass Navigations-Apps noch mehr Staus verursachen, indem sie allen Nutzerinnen und Nutzern ähnliche Routen empfehlen. Dadurch landen alle irgendwann auf der gleichen Straße. Dann bieten die Navis eine Ausweichroute an, auf der ebenfalls schnell Stau entsteht. Die Straßenstruktur wird also nicht intelligent ausgelastet. Unsere App basiert hingegen auf dem sogenannten Collaborative Routing, das heißt, alle Fahrzeuge werden als Teil eines Schwarms organisiert. Wir prognostizieren vorher, welche Straße welche Kapazität haben wird, und verteilen die Autos dann intelligent im Straßennetz über mehrere Routen. ZEIT ONLINE: Sie arbeiten dafür auch mit Verkehrsbehörden zusammen, wie läuft das ab? Stolba: Wir bekommen von der Behörde Daten zu Baustellen oder Straßensperrungen und speisen die in unser System ein. Das haben wir zum Beispiel auch beim Hafengeburtstag gemacht. Da wollte die Stadt nicht nur Staus vermeiden, sondern auch verhindern, dass alle Fahrzeuge auf die Nebenstraßen ausweichen. Deshalb haben wir für unsere Navigation nur die Hauptstraßen genutzt. In der Software können wir virtuell Straßen sperren oder auch ganz rausnehmen. Der Autofahrer merkt von dieser Technologie nichts. ZEIT ONLINE: Wie funktioniert das dann am Samstag bei den Konzerten von Andreas Gabalier und Udo Lindenberg? Stolba: Da arbeiten wir direkt mit dem Veranstalter zusammen. Im Vorfeld wird zum Beispiel genau definiert, welche Parkplätze genutzt werden sollen. Das System merkt, wenn die Parkplätze langsam voll werden, oder der Veranstalter sperrt diese selbst virtuell. Die App lenkt Sie dann automatisch zu einem freien Platz. So fahren nicht alle ewig rum und suchen oder diskutieren mit dem Parkwächter, ob sie nicht doch noch reinpassen. Denn eigentlich will man ja nur ankommen und Spaß haben. ZEIT ONLINE: Die App befindet sich in Hamburg noch in der Betaphase. Haben Sie das im Vorfeld getestet? Stolba: Wir haben 18 Monate in Hannover mit der Messe getestet. Jetzt wird unsere Software in Hannover für das digitale Verkehrsmanagement eingesetzt, gefördert vom niedersächsischen Wirtschaftsministerium. Zum Helene-Fischer-Konzert 2018 in Hannover haben etwa zwölf bis 13 Prozent der Besucherinnen und Besucher unsere App genutzt. Die Analyse hat ergeben, dass die Nunav-Nutzer deutlich flüssiger angekommen sind, andere sind in Staus reingefahren. Bei der weltgrößten Agrarmesse konnten wir mit zwei Prozent der Besucher, die unsere App genutzt haben, den Verkehrsfluss um 18 Prozent verbessern. ZEIT ONLINE: Bei einem Test treten in der Regel auch Fehler auf. Wo hakt es denn noch? Stolba: Eine große Herausforderung sind immer noch Baustellen und spontane Sperrungen. Damit die App richtig funktioniert, brauchen wir eine sehr große Datenlage. Was das System nicht weiß, kann es nicht voraussagen. Die Hamburger Verkehrsbehörde hat uns aber schon einen Großteil der geplanten Baustellen digital zur Verfügung gestellt, und die Polizei gibt uns Straßensperrungen durch. Ohne solche Kooperationen könnten wir auch nicht zu Veranstaltungen und freien Parkplätzen navigieren. ZEIT ONLINE: Wenn der Test am Samstag gut läuft, sind dann weitere Kooperationen geplant? Stolba: Mit dem HSV gibt es schon die Absicht, in der nächsten Saison auch ein Fußballspiel zu testen. Darüber hinaus müsste die Stadt uns dann beauftragen. ZEIT ONLINE: Ihre App ist kostenlos und werbefrei, wie finanzieren Sie sich? Stolba: Die Software wird auch von Logistikkunden genutzt. Für Hermes haben wir etwa eine eigene App entwickelt. Wir planen deren Routen, womit Zeit und CO2 gespart werden. Oder wir werden von Städten beauftragt, deren Verkehr digital zu regeln. ZEIT ONLINE: Wie viele Nutzer gibt es bereits in Hamburg? Stolba: Da wir hohe Datenschutzstandards haben, wissen wir nichts über unsere Nutzer. Aber die aktive Nutzung unserer App in Hamburg steigt stetig an. Beim Weltrekordversuch im vernetzten Fahren zum Hafengeburtstag waren es zeitweise bis zu 3.000 Fahrten gleichzeitig. Wenn man bedenkt, dass Autos im Schnitt 23 Stunden am Tag herumstehen, ist das ziemlich viel. Und je mehr Leute mit Nunav fahren, desto besser wird es.
Sandra Jütte
Staus vermeiden und sofort einen Parkplatz finden – die Entwickler der App Nunav versprechen genau das. Bei einem Großereignis in Hamburg wollen sie das beweisen.
[ "Navigationssystem", "Routing", "Software", "Autofahrer", "Daniel Stolba", "Hamburg", "Hannover", "Straßenstruktur" ]
hamburg
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2019-06-20T20:34:40+02:00
2019-06-20T20:34:40+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-06/navigationssysteme-nunav-routing-daniel-stolba?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Verkehr: Wann ist ein Stau ein Stau?
Was gibt es Neues von der Stauhauptstadt? Die Frage muss gestellt werden, weil Frühjahr ist – und weil sie traditionell in jedem Frühjahr gestellt wird. Im Frühjahr nämlich veröffentlichen die Straßenverkehrsforscher von INRIX und TomTom ihre globalen Datenanalysen: Sie zeichnen aus den zahllosen Bewegungsdaten, die sie fortwährend von mit Navigationsgeräten ausgestatteten Fahrzeugen und anderen mobilen GPS-Datennutzern beziehen, Bilder des Verkehrsgeschehens in den Großstädten der Welt. Und weil "Verkehrsdatenanalyse" als Stichwort weniger Aufmerksamkeit erregt als "Stauhauptstadt", wird jedes Jahr im Frühjahr die jeweils neueste deutsche Stauhauptstadt ermittelt. Welche Stadt wird Stauhauptstadt? Kommt darauf an, wen man fragt – beziehungsweise wie man rechnet. Bei INRIX fällt die Wahl häufig auf München, bei TomTom zuletzt auf Berlin und im Jahr davor auf Hamburg. Nun hat INRIX wieder seine Datenauswertung präsentiert, die sogenannte Trafic Scorecard. Und die neue deutsche Stauhauptstadt ist – hätte man das ahnen können? – München! Hamburg landete hinter Berlin auf Platz drei. Zur Einordnung muss man wissen, dass weder INRIX noch TomTom Staus beobachten. Die Verkehrsrechenkünstler tun etwas anderes: Sie lassen ihre Computer aus Myriaden von Einzeldaten ermitteln, mit welcher Geschwindigkeit Fahrzeuge wann und wo unterwegs sind. Am schnellsten sind Autofahrer in Großstädten gewöhnlich nachts, wenn nur wenige Fahrzeuge auf den Straßen und viele Ampeln abgeschaltet sind und Geschwindigkeitsbegrenzungen eher den Status unverbindlicher Empfehlungen annehmen. Mit den unter solchen Umständen erzielten Maximalgeschwindigkeiten werden die tatsächlich erreichten Geschwindigkeiten zu den anderen Tageszeiten verglichen. Die Differenz, mit unterschiedlichen Rechenverfahren noch etwas aufbereitet, ist das, was INRIX und TomTom in ihren Datenauswertungen als "Stau" bezeichnen. Ist das interessant? Unbedingt, vor allem kurz vor Wahlen! Münchener beziehungsweise Berliner oder Hamburger können diesen Analysen entnehmen, dass sich in ihren Städten unbedingt etwas ändern muss. Die anderen, die ja auch bisweilen in Staus stehen, können sich damit trösten, dass sie nicht in München, Berlin oder Hamburg wohnen. Aussagekräftiger als die Rangfolgen ist allerdings ein anderer Wert, den die Analytiker von INRIX ermittelt haben: die durchschnittlichen Geschwindigkeiten in den unterschiedlichen Innenstädten im Stoßverkehr, wenn das Gedränge am dichtesten ist. Dieser Vergleich absoluter Zahlen zeigt, dass München auch im Straßenverkehr, sozusagen, in einer eigenen Liga spielt. Wenn es auf dem Asphalt eng wird, kommen Autofahrer dort im Schnitt nur noch mit 18 Stundenkilometern voran, in den zehn nächsten Städten der Rangfolge sind es immer noch Geschwindigkeiten zwischen 26 und 33 Stundenkilometern. Im globalen Vergleich hat die Corona-Epidemie die Reihenfolge auf der Liste erheblich verändert. München beispielsweise machte in der Verstopfungsreihenfolge einen Sprung um 30 Plätze nach vorne, Singapur andererseits fiel um 174 Plätze zurück. Da die Pandemie die Erdteile sehr unterschiedlich betrifft, misst der Verkehrsvergleich nun indirekt auch die Folgen von Inzidenz und Freiheitseinschränkungen. Im Wesentlichen sind sie ähnlich, es gibt allerdings eine deutsche Besonderheit. Fast überall kamen Autofahrer 2020 besser und schneller voran als im Jahr zuvor, weniger Verkehrsgedränge führte außerdem zu weniger Unfällen. Die INRIX-Analyse zeigt allerdings einen unschönen Nebeneffekt dieser Veränderungen: Die Unfälle, zu denen es kam, fanden tendenziell bei höheren Geschwindigkeiten statt und hatten darum häufiger tödliche Folgen. Das war in Deutschland anders: Hier ist die Zahl der tödlich verletzten Verkehrsopfer im vergangenen Jahr um mehr als zehn Prozent zurückgegangen. Wie hat Corona das Verkehrsaufkommen in Deutschland verändert? Aus den INRIX-Daten ergibt sich ein recht einheitliches Bild. Der erste Lockdown vor knapp einem Jahr hat die Zahl der Autofahrer in den Innenstädten drastisch reduziert, die Rückgänge in den größten Städten lagen durchweg über 50 Prozent, in München und Köln sogar bei fast zwei Dritteln. Diese Veränderung ist um so bemerkenswerter, als damals viele Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel aus Angst vor einer Ansteckung die täglichen Wege lieber im Auto erledigten. Im Lauf des Sommers normalisierte sich die Lage, im zweiten Lockdown ging das Verkehrsaufkommen wiederum zurück, allerdings deutlich weniger als im Frühjahr 2020. Wer weiterhin Auto fährt, kommt nicht nur schneller voran als vor der Pandemie, er spart außer Zeit auch Geld. Die INRIX-Fachleute haben den Zeitgewinn auch monetär bewertet. Hier ist also eine tröstliche Nachricht für Autofahrer aus München: Sie sparen in der Pandemie – nein, nicht am meisten, aber immerhin am zweitmeisten Geld, laut INRIX durchschnittlich 189 Euro im Jahr. Noch ein bisschen mehr lohnt sich der Straßenverkehr unter Corona-Bedingungen, warum auch immer, für Autofahrer in Düsseldorf.
Frank Drieschner
Seit Beginn der Pandemie kommen Autofahrer in Großstädten besser und schneller durch als zuvor. Das zeigt eine globale Datenanalyse. Doch ihre Methoden sind fragwürdig.
[ "Verkehr", "Berlin", "Corona", "Hamburg", "Autofahren", "Datenerhebung", "Großstadt", "Stau" ]
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2021-03-09T19:48:43+01:00
2021-03-09T19:48:43+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-03/verkehr-corona-krise-stau-pendler-grossstaedte-datenerhebung?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Aerosol-Rechner: So hoch ist die Ansteckungsgefahr mit Delta in Innenräumen
Sie ist da, die vierte Welle , und sie trifft vor allem Ungeimpfte hart. Zwar können sich auch Geimpfte infizieren und das Coronavirus weitergeben – doch sind sie zumindest teilweise vor Ansteckung geschützt und vor allem dürfte die Impfung ihnen eine schwere Erkrankung in den allermeisten Fällen ersparen . Für jeden gilt derzeit: Das Risiko, sich in Innenräumen anzustecken, ist hoch. Denn die längst dominante Delta-Variante ist besser darin geworden, sich über Tröpfchen und Aerosole zu übertragen, als ihre Vorgängerinnen. In geschlossenen Räumen helfen Abstände zu anderen Personen nur wenig, denn die potentiell infektiösen Aerosole verteilen sich überall. Unser Rechner zeigt, wie sich das Risiko einer Ansteckung in Innenräumen am besten reduzieren lässt: regelmäßiges Lüften, korrektes Tragen einer medizinischen Maske und nicht zuletzt eine vollständige Impfung, beziehungsweise später auch eine Auffrischung. Mit unserem Rechner lässt sich also ungefähr abschätzen, wie gefährlich die eigene individuelle Situation ist – zum Beispiel zu Hause, im Restaurant oder auf der Arbeit. Entwickelt hat das Modell dahinter eine Forschergruppe des Max-Planck-Instituts für Chemie . Das Klassenzimmer ist und bleibt vielleicht der meistdiskutierte Raum in der Pandemie: Wie oft stecken sich Kinder hier an? Sollen sie Masken tragen oder ist das eine Zumutung? Ist es realistisch, im Winter alle Viertelstunde zu lüften? Und wer muss in Quarantäne, wenn eine Schülerin positiv getestet wurde? Eltern, Wissenschaftlerinnen und Politiker diskutieren leidenschaftlich. Zwar erkranken Kinder und Jugendliche erfahrungsgemäß selten an Covid-19 , doch zählen sie zu den wenigen, die sich erst sehr spät oder noch gar nicht impfen lassen konnten – oder können. Und sie tragen das Virus weiter zu Eltern und Großeltern. Wie hoch das Risiko von Ansteckungen im Klassenzimmer also sein könnte, ist nicht leicht einzuschätzen. In der Realität werden oft keine Abstände eingehalten, schon gar nicht zum Tischnachbarn. Und Masken – wenn sie noch getragen werden – sitzen selten perfekt über Mund und Nase: Auf dem Flur zwischen zwei Klassenzimmern rutschen sie schnell mal unter das Kinn. Wie oft gelüftet wird, ist wohl je nach Klasse unterschiedlich und wird womöglich in den kalten Monaten tendenziell kürzer ausfallen. Da hat es die hochansteckende Delta-Variante leicht, sich zu verbreiten. Unser Szenario im Klassenzimmer zeigt: Die Impfung beeinflusst deutlich, wie viele Personen sich anstecken. Je mehr ungeimpft sind – und in einer Grundschulklasse muss man davon ausgehen, dass dies derzeit alle Kinder sind, da unter 12-Jährige noch nicht geimpft werden – desto mehr können sich theoretisch anstecken. Deshalb gilt: Im Klassenzimmer bringen Masken, regelmäßiges Lüften und Abstand, wenn möglich, den einzigen Schutz. Für ältere Kinder ab 12 Jahren hat sich zudem eine vergleichsweise hohe Impfeffektivität gezeigt ( The Lancet : Tartof et al., 2021 ), die letztlich nicht nur sie selbst, sondern indirekt auch ihre Familien effektiver vor Covid-19 schützt. Viele waren erleichtert und auch euphorisch, als nach vielen Monaten wieder die Türen und Küchen von Bars, Cafés und Restaurants geöffnet werden konnten. Noch im Sommer waren Treffen auf Terrassen und in den Biergärten mit weniger Risiko verbunden. An der Luft verwehen Aerosole schnell und verdünnen sich. Doch jetzt, wo es auf den Winter zugeht und sich das Virus wieder rasant ausbreiten kann, ist die Pizza beim Italiener um die Ecke zunehmend mit Vorsicht zu genießen. Die 3G- und 2G-Regelungen für die Innengastronomie bringen nur ein Stück weit Sicherheit. Sie basieren auf der Annahme, dass die zugehörigen Nachweise konsequent kontrolliert werden, ein Test immer richtig ist, eine Impfung vollen Schutz bietet und eine genesene Person sich nicht wieder ansteckt. Das alles ist nicht der Fall. Klar ist jedoch: Die Delta-Variante hat Infektionen im Restaurant wahrscheinlicher gemacht. Der Vergleich in unserem Rechner zeigt, dass die Ansteckungsgefahr mit ihr am höchsten ist. Delta ist sehr viel ansteckender als die Ursprungsvariante und auch Alpha – jene Variante, die bis zum vergangenen Sommer dominant war ( The Lancet Respiratory Medicine : Burki 2021 ). Und das gilt auch für Geimpfte. Denn je mehr Menschen einer Gruppe geimpft sind, desto mehr geimpfte Personen werden sich infizieren – aber selten schwer erkranken. Fakt ist: Jede und jeder wird aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwann mit dem Virus in Kontakt kommen und kann infektiös sein. Ein zusätzliches Testen, auch von Geimpften und Genesenen, wäre für die Gastronomie eine Strategie, die mehr Sicherheit bringt. Die Pandemie hat für viele Menschen verändert, wie und wo sie arbeiten. Zu Hause, in der Ferienwohnung, in der Strandbar – oder vielleicht doch wieder im Büro? Der Plausch an der Kaffeemaschine kann eben nicht durch Zoom-Konferenzen oder das Surren des Staubsaugerroboters ersetzt werden. Seit es die Impfung gibt, hat man sich in vielen Büros auf den Verzicht der Maske am Schreibtisch oder das nur sporadische Testen am Morgen geeinigt. Auch für Geimpfte ist dies keine absolut sichere Methode. Zum einen können die Impfstoffe das Virus mit der Delta-Variante nicht mehr ganz so effektiv zügeln ( NEJM : Lopez Bernal et al., 2021 ), zum anderen gibt es seit einer Weile zunehmend Belege für etwas, was Forschende schon geahnt hatten: Der Impfschutz schwächt sich ab. Nicht nur wegen Delta, sondern auch grundsätzlich, mit wachsendem Abstand vor allem zur zweiten Dosis. Die allermeisten Menschen dürften nach der Impfung sehr lange davor bewahrt sein, ernsthaft an Covid-19 zu erkranken. Doch mit jedem Monat, der vergeht, wird es für vollständig Geimpfte wahrscheinlicher, sich bei Kontakt mit Infizierten selbst zu infizieren. Die Impfeffektivität gibt also an, wie gut die Impfung vor einer symptomatischen Infektion schützt. Wie schwer jemand dabei krank wird, darüber sagt sie nichts aus. Im Rechner zeigt sich am Beispiel Büro, wie stark das Risiko einer Infektion in Innenräumen ansteigen kann, wenn die Impfeffektivität abnimmt. Der Schutz vor einer Infektion variiert stark zwischen den Impfstoffen und den jeweiligen Altersgruppen von Menschen, die in Studien bislang beobachtet worden sind. Liegt beispielsweise eine vollständige Impfung nach zwei Spritzen mit dem BioNTech- oder Moderna-Impfstoff weniger als drei Monate zurück, schützt dies mitunter noch stark vor einer symptomatischen Infektion (80 bis 96 Prozent, nicht differenziert nach Alpha- und Delta-Variante) ( Lancet Preprint: Nordström et al., 2021 , NEJM : Goldberg et al., 2021 , NEJM : Thomas et al., 2021 ). Die Forschenden vom Max-Planck-Institut für Chemie rechnen in ihrem Modell allerdings mit einer Impfeffektivität von grundsätzlich 73 Prozent gegenüber Delta. Dieser Wert bezieht sich auf den Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus, wurde vom Robert-Koch-Institut ermittelt und deckt sich zudem mit einer US-Studie ( The Lancet : Tartof et al., 2021 ). Der Impfschutz der Probandinnen hat in der Studie über die Zeit abgenommen und lag nach fünf Monaten bei etwa 47 Prozent. Wie sehr sich dieser Unterschied auf die Infektionswahrscheinlichkeit im Büro auswirkt, zeigt unser Rechner. Die nachlassende Impfwirkung betrifft besonders stark die Älteren, ein wichtiges Argument für eine rasche Boosterimpfung , vor allem für diese Risikogruppe. Denn die gute Nachricht ist: Die Auffrischimpfung ist äußert effektiv und steigert das Niveau der Immunantwort gegen Corona, mitunter sogar stärker als nach der zweiten Impfung ( The Lancet : Barda et al., 2021 ). Sowohl die Impfkampagne für die Erst- als auch die für die Boosterimpfung gehen momentan nur langsam voran. Damit werden in diesem Winter ein weiteres Mal Einschränkungen wahrscheinlicher. Viele werden abwägen müssen, ob sie nicht doch lieber daheim arbeiten – sofern sie das überhaupt können –, das Kino sein lassen, die Treffen mit Freunden absagen oder sich vorher testen lassen. Die Impfquote ist nicht hoch genug, um in diesem Winter auf das verzichten zu können, was uns durch den ersten Corona-Winter ohne Impfung gebracht hat: weniger Kontakte, Maske, Abstand und Hygieneregeln . Hinweis: Bei dem Artikel handelt es sich um eine aktualisierte Version von " So schnell verbreitet sich das Coronavirus in Innenräumen ", erschienen im November 2020.
Paul Blickle
Längst treffen wir uns wieder daheim, im Restaurant oder lüften weniger das Büro – mit Delta und trotz Corona-Impfung ein Risiko. Testen Sie, wie sicher Ihr Umfeld ist.
[ "Jan Håkan Dahlström", "Corinna Schöps", "Christian Drosten", "Jakob Börner", "Paul Blickle", "Moritz Klack", "Christopher Pietsch", "David Schach", "Julian Stahnke", "Julius Tröger" ]
wissen
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2021-11-11T12:55:24+01:00
2021-11-11T12:55:24+01:00
https://www.zeit.de/wissen/2021-11/aerosol-rechner-delta-variante-innenraeume-geimpft-ungeimpft?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Corona-Demonstrationen: Zuhören, ausgrenzen, Regeln durchsetzen
1. Ruhig bleiben Natürlich haben nicht 1,3 Millionen Menschen in Berlin protestiert, wie die von sich selbst berauschten Demo-Veranstalter behauptet haben . Es gibt keinerlei Grund, ihnen zu glauben. Die Zahl dient nur dazu, dass am Ende niemand mehr irgendeine Zahl glauben soll und dass die Gruppe der Protestierenden als potenziell riesig erscheint. Selbst wenn es etwas mehr als die von der Polizei geschätzten 20.000 gewesen sein sollten – die Corona-Leugner sind eine kleine Minderheit. Es ist offen, ob die Demo, für die wochenlang bundesweit mobilisiert wurde, schon die größtmögliche war. Die erste Protestwelle im Mai, mit Stuttgart als Zentrum, ist schnell wieder abgeflaut. 2. Verbieten und strafen Wer wiederholt nicht in der Lage ist, eine Veranstaltung unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln durchzuführen, wer sogar dazu aufruft, sich nicht daran zu halten, der darf eben nichts mehr veranstalten. Wenn eine Versammlungsbehörde damit rechnen muss, dass Demoteilnehmende keine Masken tragen und auch sonst alles zur Verbreitung des Virus tun, dann muss die Größe drastisch beschränkt oder die Demo gleich ganz verboten werden. Wer trotzdem kommt, wird abgewiesen, zur Not festgenommen. Gegen Wiederholungstäter wird ein Platzverbot ausgesprochen. Was bei Hooligans praktiziert wird, ist auch bei aggressiven Virusverbreitern angebracht. Überhaupt könnte die Corona-Krise etwas mehr rechtsstaatliche Konsequenz vertragen. Regeln, die nicht durchgesetzt werden, sind nämlich nicht besonders überzeugend. Das gilt insbesondere für neue Regeln, deren Sinnhaftigkeit noch nicht über Jahre internalisiert wurde. Wenn alle ständig gegen die Maskenpflicht verstoßen, ohne dass es geahndet wird, erscheint bald derjenige als Idiot, der sich noch daran hält. 3. Zuhören statt Schimpfen oder Anbiedern Natürlich kann Saskia Esken die Demonstrierenden "Covidioten" nennen . Warum auch sollte gerade eine Parteipolitikerin unparteiisch sein? Man muss die Demonstrierenden auch nicht vor ihr in Schutz nehmen, als wären sie kleine Kinder, mit denen man nur sanft reden darf. Besonders treffend ist Eskens Begriff allerdings nicht, weil er so tut, als wäre mangelnde Bildung das Problem. Das widerlegen all die schwäbischen Akademiker und Esoteriker, die einen gehörigen Teil des harten Kerns der Corona-Gegner stellen. Vor allem aber deutet Eskens Beschimpfung an, dass ein Teil der Politik die Fehler von 2014 und 2015 im Umgang mit den Pegida-Demonstrierenden wiederholen könnte. Damals hängten ihnen einige schon früh möglichst drastische Labels an (Nazis!), oder machten ihnen im Gegenteil unterwürfige Gesprächsangebote. NPD-Kader wurden in Rathäuser eingeladen. Am besten hat es damals Petra Köpping gemacht, die sächsische Integrationsministerin, die sich an den Rand der Demos stellte und unermüdlich zugehört und geredet hat mit allen, die noch vernünftig reden wollten. Und hart widersprochen hat, wenn es nötig war. Ihr ist es so gelungen, als eine der wenigen noch über die Lager hinaus akzeptiert zu sein. Damals wie heute gilt: Wer verstehen will, muss erst mal zuhören. 4. Ausgrenzen Nach dem Zuhören kommt das Handeln. Rechtsradikale und Menschenfeinde gehören ausgegrenzt, alle anderen nicht. Es macht einen Unterschied, ob jemand maskenlos gegen Juden und Ausländer hetzt oder auf Impfungen und Medien schimpft. Dass sich am Wochenende alle gemeinsam versammelt haben, zeigt, wie erfolgreich die Rechten mittlerweile darin sind, jeden vielversprechenden Protest sofort zu kapern. Und wie viele vermeintlich Bürgerliche das mit sich machen lassen. Die vereinzelten "Nazis raus"-Rufe und Distanzierungsversuche am Samstag können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die starke Präsenz der Rechten jederzeit offensichtlich war, wie Augenzeugen berichten . Wer mit Rechtsradikalen demonstriert, hilft diesen. Es ist die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, mit wem er oder sie sich gemeinsam auf die Straße stellen will. Die Politik kann dabei helfen, indem sie sie nicht alle in einen Sack steckt, indem sie differenziert bleibt.
Lenz Jacobsen
Wie umgehen mit den Corona-Demonstrationen? Es geht jedenfalls nicht um die Frage, ob man sie nun Idioten nennen soll oder nicht. Ein Vorschlag in sieben Schritten
[ "Christoph Soeder", "Saskia Esken", "Angela Merkel", "Berlin", "Stuttgart", "Deutschland", "Polizei", "Corona", "Virus", "Coronavirus" ]
politik
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2020-08-03T15:21:45+02:00
2020-08-03T15:21:45+02:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-08/corona-demonstration-politischer-umgang-mit-demonstranten?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Spritpreis: Preise für Benzin und Diesel sinken
Ein Jahr nach dem extremen Anstieg zu Beginn des Ukraine-Krieges haben sich die Spritpreise teilweise normalisiert. Zwar sind sie im Langzeitvergleich noch auf hohem Niveau, doch trotzdem dürften sie in den kommenden Monaten zur Inflationsbremse werden. Denn was derzeit an den Zapfsäulen bezahlt wird, mutet im Vergleich zu den Werten vor einem Jahr fast wie ein Schnäppchen an. Im März 2022 waren die Preise für Benzin und Diesel wegen des Ukraine-Kriegs sehr hoch – höher als jemals zuvor. Am 7. März wurde nach Zahlen des ADAC zum allerersten Mal im bundesweiten Tagesdurchschnitt der Wert von 2 Euro pro Liter Super E10 und Diesel überschritten. Am 10. März folgte das Allzeithoch von Diesel mit 2,321 Euro pro Liter im bundesweiten Tagesdurchschnitt. Der E10-Rekord wurde am 14. März mit 2,203 Euro erreicht. Derzeit liegen die Preise deutlich darunter. Im Februar kosteten sowohl Superbenzin der Sorte E10 als auch Diesel im bundesweiten Monatsschnitt 1,754 Euro pro Liter, wie der ADAC ermittelt hat. Sollten sich im März ähnliche Preise ergeben, wäre Diesel rund 18 Prozent, Superbenzin knapp 15 Prozent günstiger als im Vorjahresmonat. Das wäre so deutlich, dass es sich sogar in der Inflationsrate bemerkbar machen würde. Nach der jüngst eingeführten neuen Gewichtung des Verbraucherpreisindexes ergibt sich rechnerisch eine dämpfende Auswirkung von knapp einem halben Prozentpunkt. Preise für Benzin und Diesel könnten weiter sinken Bei Benzin habe man seit dem Herbst eine schrittweise Normalisierung, sagte ADAC-Kraftstoffmarkt-Experte Jürgen Albrecht. "Wenn man sie mit Ölpreis und Eurokurs abgleicht, sind sie zwar immer noch eher hoch, aber die Entkopplung mit extremen Preisen ist vorbei." Bei Diesel sei man allerdings noch nicht so weit, auch wenn der Kraftstoff seit Mitte Februar zumindest günstiger als Benzin ist. "Der Preisunterschied zwischen Diesel und Benzin ist aber noch zu klein", sagte Albrecht. "Hier ist noch mehr Luft drin als bei Benzin." Insgesamt sieht Albrecht bei beiden Kraftstoffarten noch Potenzial nach unten. "Anders als in Teilen des vergangenen Jahres hängen die Spritpreise wieder enger mit dem Ölpreis zusammen", sagte er. "Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, dass er stark steigt. Wenn die Wettbewerbskräfte wirken und nichts Außergewöhnliches passiert, könnte sich Sprit in den nächsten Monaten noch etwas verbilligen." Das gelte vor allem für Diesel – einerseits weil die Preise dort im Verhältnis zur Steuerlast noch zu hoch seien, andererseits weil das Ende der Heizperiode oft auch Diesel etwas billiger macht. Allerdings müssten die Preissenkungen durch den Wettbewerb erzwungen werden, sagte Albrecht und ruft zu bewusst günstigem Tanken auf. "Die Mineralölkonzerne werden ihre Margen nicht freiwillig aufgeben." Wie es in der zweiten Jahreshälfte mit den Spritpreisen weitergeht, ist noch schwer vorherzusehen. Wahrscheinlich wird es vor allem vom Ölpreis abhängen – wie früher. Verbrauch trotz hoher Preise nicht gesunken Trotz der hohen Preise wurde 2022 nicht weniger Sprit verbraucht als in den Vorjahren. Die vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) vor Kurzem gemeldeten Jahreszahlen zu den Auslieferungen von Kraftstoffen zeigen bei Benzin sogar ein Plus im Vergleich zu den Pandemiejahren 2020 und 2021. Bei Diesel ist das Niveau weitgehend unverändert. Vor allem bei Benzin haben die Folgen der Corona-Lockerungen und verstärkten Reisetätigkeit offenkundig die Effekte der hohen Preise mehr als ausgeglichen. Vor Corona lag der Verbrauch bei beiden Kraftstoffen allerdings deutlich höher.
Katharina James
Im Jahr 2022 waren die Kosten für Benzin und Diesel stark gestiegen. Nun normalisiert sich die Situation – und die Preise könnten in den nächsten Monaten weiter sinken.
[ "ADAC", "Tankstelle", "Krieg in der Ukraine", "Ölpreis", "Benzinpreis", "Diesel" ]
wirtschaft
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2023-03-06T06:48:04+01:00
2023-03-06T06:48:04+01:00
https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/spritpreise-benzin-diesel-inflationsbremse-adac?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fzustimmung%3Furl%3Dhttps%253A%252F%252Fwww.zeit.de%252Fwirtschaft%252F2023-03%252Fspritpreise-benzin-diesel-inflationsbremse-adac
Universität Hamburg: "Stark abhängig vom Schicksal"
Am 19. Juli entscheidet eine Kommission, welche deutschen Unis als "Exzellenz-Universität" ausgezeichnet werden, zu der Kommission gehören auch die Wissenschaftsminister von Bund und Ländern. 19 Bewerber stehen in der Endrunde, aber nur 11 können den Titel bekommen. Die Universität Hamburg ist dabei und könnte den Titel zum ersten Mal bekommen. Es geht um eine Fördersumme von insgesamt 148 Millionen Euro pro Jahr, die sieben Jahre lang an alle Sieger verteilt wird. Dieter Lenzen, der Präsident der Uni Hamburg, erklärt, was das für Hamburg und seine Hochschule bedeuten würde. ZEIT ONLINE: Herr Professor Lenzen, sind Sie aufgeregt vor Entscheidung? Dieter Lenzen: Nein. Schlicht deswegen nicht, weil ich glaube, dass wir einen guten Antrag abgeliefert haben. Alles andere ist stark abhängig vom Schicksal. Es ist nicht so wie beim Warten auf den Weihnachtsmann. Der bringt immer Geschenke. Hier kann es für jede Uni anders kommen. ZEIT ONLINE: Sie haben vier Exzellenz-Cluster. So viele hat unter ihren Konkurrenten als Einzeluni nur noch die Uni Bonn. Welche Chancen rechnen Sie sich aus? Lenzen: Statistisch gesehen stehen unsere Chancen 11:19. Die wissenschaftliche Begutachtung ist abgeschlossen, die Ergebnisse sind vertraulich. Jetzt geht es um die politische Bewertung und das wird sicher eine harte Auseinandersetzung werden. ZEIT ONLINE: Womit haben sie versucht zu überzeugen? Lenzen: Anders als bei den Exzellenz-Clustern geht es hier um die ganze Uni. Wir haben zu fünf Leistungsdimensionen Vorschläge gemacht. Das erste ist die Forschung, da wollen wir Schwerpunkte herausbilden, zum Beispiel in der Infektionsforschung. Das zweite ist die Lehre: Wir wollen den Aspekt der Bildung stärken und einen neuen Studiengang "Liberal Arts" aufbauen und ein Studium generale für alle Studiengänge. Das dritte ist der Transfer, die Zusammenarbeit in gemeinsamen Projekten mit Kultur, Wirtschaft und Politik. Das vierte ist die Forschungsinfrastruktur, wir wollen zum Beispiel eine Geräteplattform aufbauen. Das fünfte ist die Internationalität. Wir möchten mehr Studierenden ein Auslandssemester ermöglichen, aber auch mehr Studierende aus dem Ausland zu uns einladen. ZEIT ONLINE: Was hat Hamburg davon, wenn die Uni den Titel bekommt? Lenzen: Das wichtigste wäre der Reputationsgewinn. Die Stadt hat sich lange schwer getan mit der Förderung der Hochschulen. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Es wäre noch mal eine Bestätigung, dass der Weg, den sie eingeschlagen hat, richtig ist. ZEIT ONLINE: Was hat die Uni von dem Titel? Lenzen: Auch hier gilt das, was ich für den Reputationsgewinn gesagt habe. Die Uni ist sehr groß, mit den Studierenden und den Mitarbeiten kommen wir auf mehr als 60.000 Menschen, die über die Stadt verteilt sind. Der Titel kann dazu beitragen, dass die Angehörigen der Uni näher zusammenrücken. ZEIT ONLINE: Würden die Studenten überhaupt etwas vom Titelgewinn merken? Lenzen: Die Studierenden werden es da merken, wenn wir neue Studiengänge schaffen, aber auch, wenn wir Freiräume in der Lehre schaffen und nicht nur in den verschulten Studiengängen unterrichten, die uns die Bologna-Reform aufgezwungen hat. ZEIT ONLINE: Und was passiert, wenn die Uni Hamburg nicht gewinnt? Lenzen: Ohne Geld kann man keinen neuen Studiengang einführen, keine neuen Professoren bezahlen. Vieles wird also nicht gemacht. Einige Dinge kann man vielleicht auf kleinerem Niveau anfangen. ZEIT ONLINE: Die Vorbereitung hat schon viel Geld gekostet, von mehreren Millionen war die Rede. War das umsonst, wenn Sie nicht gewinnen? Lenzen: Nein, allein die gemeinsamen Gespräche, das ganze Konzept, das Nachdenken über das Profil der Universität, das fällt nicht wieder weg. Das ist unbezahlbar. Ein solcher Prozess wäre sonst in dieser Form nicht zustande gekommen. ZEIT ONLINE: Die Politik in Hamburg war zu den Hochschulen lange geizig. Ist das ein cleverer Schachzug, um mehr Geld von der Stadt zu bekommen? Lenzen: Das ist eine interessante Frage: Wenn man den Titel gewinnt, kommen Dreiviertel der Fördersumme vom Bund, ein Viertel muss jedes Bundesland selbst bezahlen. Also auch Hamburg. Unabhängig davon haben die Länder natürlich im Vorfeld schon selbst investiert, um die Unis auf den Stand zu bringen, sich bewerben zu können. Und wenn man dann erfolgreich sein sollte, wird es nötig sein, die Uni auf einem höheren Niveau weiter zu finanzieren. Zum einen, damit sie in sieben Jahren wieder antreten kann, zum anderen, damit es keine Zweiklassen-Gesellschaft gibt zwischen den Bereichen, die schon gefördert werden und den anderen. Ich werde deutlich machen, dass wir aufstocken müssen. ZEIT ONLINE: Sie haben als Präsident der Freien Universität Berlin schon einmal den Titel Exzellenz-Uni für ihre Hochschule geholt. Erhöht das die Erwartungen an Sie? Lenzen: Das weiß ich nicht, ich hoffe nicht. Eine solche Entscheidung hat viele Faktoren. Sicher würde sich viele freuen, wenn es so kommt. Ich natürlich auch. Aber es geht in erster Linie um die Zukunft der Universität.
Friederike Lübke
In Bonn entscheidet heute eine Kommission über die künftigen Exzellenzunis. Wir haben Hamburgs Unipräsidenten Dieter Lenzen gefragt, welche Chancen er sich ausrechnet
[ "Dieter Lenzen", "Christian Charisius", "Hamburg", "Bonn", "Universität Hamburg", "Zeit Online", "Exzellenzuni" ]
hamburg
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2019-07-19T00:47:11+02:00
2019-07-19T00:47:11+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-07/exzellenz-universitaet-hamburg-dieter-lenzen?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Hamburger Ehrenbürger: Ideen haben viele
Hundert Jahre Übersee-Club, Hamburgs nobelster "Verein zur Förderung des Austauschs von Wirtschaft und Wissenschaft" feiert ein großes Jubiläum. Gegründet wurde der Club 1922 auf Initiative des Bankiers Max Warburg. 1934 aufgelöst, seit 1948 wieder die erste Adresse der Stadt, wenn es um die Vernetzung von Industriellen, Kulturträgern und Wissenschaftlern geht. Ein Abend im Großen Festsaal des Rathauses war also angemessen und die Gästerunde entsprechend illuster: Drei Ehrenbürger und eine Ehrenbürgerin nahmen am Dienstag auf dem Podium Platz. Und die rund 300 geladenen Gäste kamen in den Genuss eines aufschlussreichen Gesprächs. Moderiert von Lars Haider, dem Chefredakteur des Hamburger Abendblatts , plauderten Udo Lindenberg, Kirsten Boie, John Neumeier und Michael Otto heiter durcheinander und streckenweise auch ein wenig aneinander vorbei. Lindenberg, der ewige Schlapphutträger und Vorzeigerocker mit Wohnsitz im Hotel Atlantic. Boie, die in Hamburg weltberühmte und in der Welt hochgeschätzte Kinderbuchautorin. Neumeier, der seit Jahrzehnten versucht, Hamburg zur Ballettstadt zu machen. Und Michael Otto, der hanseatische Patriarch (obwohl er ein Zugereister ist), das Abziehbild des konservativen Unternehmers, elegant und bescheiden, zurückhaltend und selbstbewusst. Diese Galionsfiguren eines modernen, auf Internationalität und Liberalität setzenden Hamburg wurden von Herrn Haider befragt, was ihnen Hamburg bedeute. Wie es um die Kultur und das Wirtschaftswachstum bestellt sei. Was man besser machen könne, um diese "schönste Stadt der Welt" noch schöner und besser machen zu können. Lindenberg, hingefläzt auf den Podiumssessel, als sei er ein Teenager, der sich vor Langeweile in sich selbst verknotet, nuschelte etwas von "Kulturstandort" und "tolle Rockszene". Auch die Beatles wurden erwähnt und die Reeperbahn, ansonsten verstand man den Musiker leider nur momenteweise. Boie beharrte auf ihrem Kernthema, der Leseförderung für Kinder. Dagegen war und ist nichts einzuwenden. Wenn jeder fünfte Schulabgänger in Hamburg nicht wirklich lesen kann, wie die Autorin erklärte, dann ist etwas im Argen. Boies nüchterne Analyse des Kulturstandorts Deutschland im Allgemeinen und Hamburgs im Besonderen stand quer zu Lindenbergs Kulturgenuschel. Sagen was ist, das ist nicht nur eine journalistische, sondern auch eine bürgerliche Tugend. In diesem Sinne machte Boie ihrem Rang als Ehrenbürgerin alle, nun ja, Ehre. Michael Otto, der Hamburger Firmenpatriarch: Von ihm ließ man sich in längeren Exkursen über Wissenschaftsförderung und wirtschaftliche Projekte belehren. In einer Thomas-Mann-Verfilmung wäre der 79-Jährige in jedem Fall plausibel als Senator. Gut, wenn die besitzbürgerliche Klasse dieser Stadt so kompetent und geschmackvoll vertreten wird. John Neumeier wirkte auf den ersten Blick ein wenig naiv, auf den zweiten aber dann einfach nur engagiert. Als er vor vielen Jahren in den Norden gekommen sei, sei er der "am wenigsten populäre Mensch Hamburgs" gewesen. Denn seine Arbeit habe er auf große Zeiträume hin angelegt. Die Vision einer Kunst- und Tanzstadt Hamburg lasse sich eben nicht in ein, zwei Legislaturperioden realisieren. Das stimmt: Hamburg ist eine Stadt, die selbstbewusst ihre Vorzüge ausstellt – Elblage, Alsternoblesse, patrizische Eleganz, Reeperbahn-Spaß –, aber mit der Kultur tut sie sich in den meisten Sparten schwer. Der Etat von Kultursenator Carsten Brosda (SPD) liegt deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. Zu Recht beschweren sich Theatermacher und Theatermacherinnen genau wie Leitende von Museen über einen Mangel an Zuschüssen. Ob eine Ehrenbürgerinnenrunde daran etwas ändern kann, ist fraglich. Lindenbergs Hymne auf Hamburgs Popkultur jedenfalls war ein wenig verstaubt. Die großen Stars der Stadt sind abgewandert: Jan Delay, Jochen Distelmeyer (Blumfeld), Tocotronic, Roger Cicero: alle in Berlin (oder tot). Wenn noch Bernd Begemann das Weite sucht, gehen hier popmusikalisch allmählich die Lichter aus. Was den Wirtschaftsstandort Hamburg angeht: Michael Ottos unternehmerisches und mäzenatisches Engagement kann nicht alles allein richten. Bezahlbare Wohnungen fehlen weiterhin, die soziale Segregation schreitet fort. Und auch was Lese- und Ballett- bzw. Hochkulturkompetenz angeht, darf die Stadt ruhig noch etwas zulegen. Am Ende hielt man sich an Michael Ottos Pragmatismus. Gefragt, wie er die Idee von Klaus-Michael Kühne, eine neue Oper zu bauen, fände, sagte er: "Ideen haben viele. Man muss sie halt realisieren." Genau: Talkrunden sind das eine, politisch und wirtschaftlich schlüssiges Handeln das andere.
Daniel Haas
Udo Lindenberg, Kirsten Boie, John Neumeier und Michael Otto trafen sich im Hamburger Rathaus, um über die Zukunft der Stadt zu sprechen. Ob das was bringt, ist fraglich.
[ "Hamburg", "Ehrenbürger", "Udo Lindenberg", "Michael Otto", "John Neumeier", "Reeperbahn", "Otto Hamburger", "Lars Haider", "Kirsten Boie", "Jonas Walzberg" ]
hamburg
Article
2022-12-07T20:21:36+01:00
2022-12-07T20:21:36+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-12/hamburg-ehrenbuerger-udo-lindenberg-michael-otto?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Hamburger Schilleroper: Verfall verboten
Wer ein Denkmal kauft, muss in seine Erhaltung investieren. Diese Erfahrung macht gerade Mareike Janssen. Ihr gehört die Schilleroper auf St. Pauli – oder das, was davon übrig ist. Die Kulturbehörde hat ihr eine "Anordnung von Sicherungsmaßnahmen" zugeschickt, im Klartext: Bis zum Jahresende muss Janssen nachweisen, dass sie die denkmalgeschützte Stahlkonstruktion des historischen Zirkusbaus baulich schützt, damit sie nicht weiter bei Wind und Wetter verrottet. Mehrere Gespräche mit der Eigentümerin, so lässt die Kulturbehörde verlauten, hätten nichts ergeben – daher nun die "Sicherungsverfügung", wie es auf Amtsdeutsch heißt. Gutachten hätten bewiesen, dass das Stahlgerüst zu retten sei, wenn das zum Teil eingefallene Dach der Schilleroper abgesichert werde. Wenn trotz Anordnung nichts passiert, wird das Denkmalschutzamt Ende Februar die erforderlichen Maßnahmen selbst beauftragen – und die Eigentümerin bekommt die Rechnung. Ob und wann es dazu kommt, wird wahrscheinlich ein Gericht entscheiden. Das Denkmalschutz-Ultimatum ist nur der letzte Akt in einem langjährigen Drama um den Rundbau von 1889 . Schon die Vorbesitzer, eine zerstrittene Erbengemeinschaft, hatten das das Zirkusrondell verfallen lassen, in dem einst der Circus Busch Elefanten auftreten ließ. Janssen erwarb die Immobilie 2014 und hatte große Pläne: Die Originalsubstanz sei nicht zu retten, befand die neue Eigentümerin und ließ den Schweizer Stararchitekten Max Dudler Neubauentwürfe machen, denen zufolge das Denkmal durch eine nachempfundene Rotunde ersetzt werde sollte – "als Anlehnung und Hommage an die alte Schilleroper", wie es in einer Pressemitteilung heißt. Flankierend wollte sie Wohngebäude mit bis zu zehn Etagen bauen lassen. Dem zuständigen Bezirksamt Mitte war das zu hoch – und das Denkmalschutzamt legte sich quer. Andere Gebäude konnte der Denkmalschutz nicht vor dem Abriss retten – etwa die City-Höfe, das Allianz-Hochhaus und die Industriedenkmäler auf der Peute . Diesmal soll es anders laufen.
Christoph Twickel
Der Denkmalschutz konnte einige Gebäude in Hamburg nicht vor dem Abriss retten. Bei der Schilleroper auf St. Pauli soll das anders laufen – auf Kosten der Eigentümerin.
[ "Denkmalschutz", "St. Pauli", "Opernhaus", "Mareike Janssen", "Enno Isermann", "Hamburg", "Schilleroper", "Abriss" ]
hamburg
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2019-12-08T16:00:54+01:00
2019-12-08T16:00:54+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-12/hamburger-schilleroper-denkmalschutz-rettung-eigentuemerin?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Bill Frisell: Im Dunkel hofft er aufs Licht
Vier Jazzkonzerte an zwei Tagen, alles ausverkauft, 3.750 Karten – na ja, kann man sagen, Elbphilharmonie halt, da kommen die Leute, um die Architektur mal von drinnen zu sehen, egal wer da gerade spielt. Aber so ist es eben nicht mehr. Geht man durch das mehrstöckige Parkdeck, auf dem das in der Novembersonne glitzernde Konzertgebäude thront, fällt auf, wie viele Autos aus Hamburg kommen und wie wenige von anderswoher. Die allerdings kommen aus Bremen, Lübeck, Rostock, Berlin, Düsseldorf, München, aus Dänemark und sogar aus Pinneberg. Der Tipp, sich die Nummernschilder anzuschauen, stammt übrigens vom Intendanten höchstselbst, Marktforschung en passant. Bill Frisell zählt zu den profiliertesten Jazzmusikern Amerikas; sein Gitarrenspiel ist unverkennbar, dieses Tropfende, Schwelgende, dieses kurze, melancholisch grundierte Innehalten vor jeder Note, als wäre es schade, den Ton gleich in einer Folge verschwinden zu lassen. Der 72-Jährige ist ein Mann mit eigener Zeit und der unmaskulinste Gitarrist, den man sich vorstellen kann. Kein Macker, kein Posing, kein Kuck-mal-wie-schnell. Ein ewiges Lächeln ist ihm eingeschrieben, auf der Bühne, hinter der Bühne, im zwischen Soundchecks und Zugaben irgendwie noch eingestreuten Interview. Ein wenig erinnert er vom Typ her an Wallace von Wallace & Gromit, den beiden Knetgummihelden. Wallace behauptet seine Contenance inmitten einer unendlichen Flut von Tücken. Bill dagegen ist eher ein Kind des Glücks. Seit Jahrzehnten kein Widerstand am Instrument, beim Publikum, in der Publizistik. "Reflektor" heißt das Format, in dem die Elbphilharmonie, weltbekannt als deutsche Hochburg der Klassik, einem Künstler aus dem Jazz oder einem verwandten Gebiet einige Tage lang die Programmgestaltung überlässt. Manfred Eicher vom Münchner Label ECM war schon da, der Neoklassiker Max Richter, der Klanghypnotiseur Nils Frahm. Letztes Jahr brachte es der New Yorker Komponist John Zorn auf 15 Konzerte an vier Tagen, vom Streichquartett bis hin zu lärmender Improvisation, alles ausverkauft. Meist spielte Zorn nicht mit, sondern kauerte auf der Bühne hinter den Boxen, um aus nächster Nähe mitzuerleben, was er da angerichtet hatte. Bill Frisell war damals unter den Musikern, und Christoph Lieben-Seutter, der Intendant, stand irgendwann neben ihm in der Kantine und fragte, ob auch er Lust auf einen Reflektor hätte. Für Frisell scheint der Titel wie gemacht. Seine Musik ist pure Reflexion. Die 1950er- und 1960er-Jahre leuchten auf, die Kindheit und Jugend des Musikers, der Aufbruch und die Tragik jener Jahrzehnte, von der Raumfahrt bis Vietnam und Martin Luther King, das innovative Nebeneinander von A Love Supreme und den Monkeys, aber auch die oft zum musikalischen Klischee geronnene Vorvergangenheit von Blues, Folk und Country. Gleich das erste Konzert gibt einen verblüffenden Eindruck davon. Harmony nennt Frisell das Quartett, in dem er neben der Sängerin Petra Haden zwischen dem Cellisten Hank Roberts und dem Gitarristen Luke Bergman auf der Bühne sitzt, ja: sitzt. Es ist eine gemütliche Runde wie auf einer Südstaatenveranda, und es wird wohl nur deshalb kein Singalong mit dem Publikum, weil sie die populären Balladen so kunstvoll verfremdet vortragen, dass ein Zuhören näherliegt als jedes Einstimmen. Roberts und Bergman liefern die Grundstruktur der Musik und singen im Hintergrund, während Frisell Hadens strahlende Stimme mit ausgestreuten Tönen seiner Gitarre umspielt. Da gibt es das beschwörende Hard Times Come Again No More, einen Klassiker, der schon 1905 in eine Edisonsche Wachswalze geschnitten wurde, bevor sich, Generationen später, Emmylou Harris, Johnny Cash oder Bob Dylan seiner annahmen. Oder das Liebeslied On the Street Where You Live aus My Fair Lady von 1956, im Nachgang gesungen von Doris Day, Dean Martin, Rickie Lee Jones und vielen anderen. Frisell sagt die Stücke nicht an; das Publikum muss selbst drauf kommen, und das ist herausfordernder noch in den drei folgenden Instrumentalkonzerten. Man kennt ja die Musik – aber was war das noch gleich? In den Coverversionen sucht er weder den üblichen Bonus der Zweitverwertung (Erfolg haben mit etwas, das schon erfolgreich war), noch will er Nachhilfeunterricht in Popkultur geben. Ihm geht es um das ästhetische und autobiografische Potenzial, das in steinalten Gassenhauern schlummert. Diese Musik hat er als Kind gehört, gemocht, geliebt, und er schämt sich dessen nicht.
Ulrich Stock
Der amerikanische Jazzgitarrist Bill Frisell ist der unmaskulinste Gitarrist, den man sich vorstellen kann. In der Elbphilharmonie zelebriert er ein Fest der Ambivalenz.
[ "Bill Frisell", "Petra Haden", "Luke Bergman", "Hank Roberts", "Manfred Eicher", "Max Richter", "Nils Frahm", "John Zorn", "Hamburg", "Lübeck" ]
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2023-11-30T07:21:23+01:00
2023-11-30T07:21:23+01:00
https://www.zeit.de/2023/51/bill-frisell-elbphilharmonie-konzert-jazz-gitarre-hamburg?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Elbe: "Wir dachten, der Stint wäre unerschöpflich"
Der Stintbestand in der Elbe geht zurück, viele Fischer bangen um ihre Existenz – auch Walter Zeeck. Der 70-Jährige ist Elbfischer im Ruhestand, er arbeitet noch immer im Familienbetrieb seiner Söhne Claus und Harald im niedersächsischen Geversdorf mit. Er blickt auf über ein halbes Jahrhundert Stintfischerei zwischen Cuxhaven und Hamburg zurück und sagt: "So schlecht wie heute war es noch nie" – trotzdem würde er jungen Menschen nicht vom Beruf abraten. "Ich bin als 15-Jähriger an Bord gekommen, das war 1964. Ich habe bei meinem Vater gelernt, mit 18 meinen Gesellenbrief gemacht und mit 20 mein Kapitänspatent. Mit 23 oder 24 wurde ich dann Kapitän auf dem Kutter meines Vaters, mit einem Matrosen an Bord. So habe ich angefangen, selbstständig zu fischen. Damals hat die Elbfischerei im Winter von den Stinten gelebt. Am Altonaer Fischmarkt wurden früher bis zu 1.000 Tonnen Stint in der Saison angelandet. Meistens haben wir den Fisch zur Auktion nach Cuxhaven gebracht. Die Technik war aber nicht so weit fortgeschritten, dass wir immer hinkamen, wo wir hinwollten, weil wir kein Radar hatten. Wenn Nebel und Eis waren, konnten wir nicht raus, bei Sturm sowieso nicht. Dann kam es schon mal vor, dass man nicht jeden Tag Stint reinbringen konnte. Das war aber kein großes Problem, weil dafür andere Tage ertragreich waren. Wir konnten so viel Stint fangen, dass wir uns sogar selber beschränkt haben. Wenn der Preis runterging, haben wir eben nur 20 oder 30 Zentner abgeliefert, nicht mehr, damit wir den Preis hochhalten. Das war schön für uns, dann brauchten wir nicht die ganze Woche zu fischen, sondern hatten ein bisschen mehr Freizeit und trotzdem Einnahmen. Wir dachten immer, der Stint wäre unerschöpflich. Den zu fangen, war für uns kein Problem – wenn wir denn fischen konnten. Abnehmer gab es immer genug Ich konnte sehr gut von der Fischerei leben, ich habe ein Haus gebaut und eine Familie gegründet. Meine Frau hat im Betrieb mitgearbeitet und die Fische verkauft, damals noch vom Kutter aus, bei uns in Geversdorf. Oder wir haben sie direkt an die Händler entlang der Elbe verkauft, in der Nähe der Fangplätze zwischen Hamburger Hafen und Cuxhaven. Wir haben überall dort gehalten, wo wir gefischt haben und ans Ufer rankommen konnten, zum Beispiel bei Krautsand, Stadersand und Finkenwerder. Als Hamenfischer jagen wir den Fisch übrigens nicht, sondern legen unser Netz aus und der Fisch muss zu uns kommen. Er muss sagen: "Ich will bei der Ostetal ins Netz." Wir nutzen nur die Tideströmung aus. Als in den Achtzigerjahren wegen der verschmutzten Elbe der Einbruch in der Fischerei kam, haben wir nicht mehr im Raum Hamburg gefischt, weil da nicht mehr viele Fische waren, sondern um Brunsbüttel herum, wo es immer noch genügend gab. Das war zwar eine kritische Phase, aber wir hatten eben Ausweichmöglichkeiten, auch bis Cuxhaven hoch. Heute können wir wegen der großen Nachfrage viel Stint an Restaurants verkaufen, das ist das Gute. In den Siebziger- und Achtzigerjahren war Stint nicht so populär wie jetzt. Von meinem Vater und Großvater weiß ich noch, dass Hamburg sich früher im Winter vom Stint ernährt hat. Da gab es vor allem für die Arbeiter im Hafen Stint aus der Pfanne, in Restaurants weniger. Als der Wohlstand kam, haben die Leute stattdessen wohl lieber Schnitzel und Hähnchen gegessen. Trotzdem hatten wir immer genügend Abnehmer, in ganz Europa nachher. Wir haben Stint später von Frankreich bis nach Holland geliefert.
Folko Damm
Walter Zeeck war 50 Jahre lang Elbfischer aus Leidenschaft – doch nun landen immer weniger Stinte im Netz. Wie erlebt er die Fangkrise?
[ "Elbe", "Stintfang", "Fischerei", "Hamburg", "Cuxhaven", "Altonaer Fischmarkt", "Walter Zeeck", "Krise", "Geversdorf", "Auktion" ]
hamburg
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2019-03-14T16:26:40+01:00
2019-03-14T16:26:40+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-03/elbe-stint-fischerei-rueckgang-elbvertiefung?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Corona-Einreisebeschränkung: "Gerade sehe ich schwarz für meine Zukunft"
Diese Woche beginnen an den Universitäten und Hochschulen in Hamburg die Einführungsvorlesungen. Nachdem im Sommersemester abrupt auf reine Digitallehre umgestellt wurde, gilt für das Wintersemester die Devise: "So viel Präsenz wie möglich, so viel digitale Lehre wie nötig." So hatte es zumindest die Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) formuliert – bevor die Zahl der Neuinfektionen wieder rasant anstieg. Besonders betroffen von den Folgen der Pandemie sind ausländische Studierende. Viele Hundert von ihnen wurden bisher nicht in Land gelassen. Hier erzählen vier, die eigentlich längst in Hamburg sein wollten, wie sie mit der Lage umgehen. Sina Hassankhani, 30, Iran "Gerade sehe ich schwarz für meine Zukunft. Ich habe in den letzten Monaten sogar Bluthochdruck bekommen. Eigentlich hätte ich schon zum Sommersemester nach Deutschland kommen sollen. Ich hatte eine Zulassung der Universität Hamburg, für ein Chemiestudium. Im April sollte es losgehen, ich brauchte nur noch das Visum. Dann schloss die Botschaft und ich konnte zum ersten Semester nicht einreisen. Jetzt ist die Visa-Stelle wieder geöffnet, aber trotzdem bekomme ich keinen Termin. Ich weiß nicht, warum. Das zweite Semester hat nun begonnen und ich bin noch immer im Iran. Ich habe der Botschaft angeboten, dass ich einen negativen Corona-Test vorweisen könnte, aber sie haben nicht reagiert. Ich habe 20 Mails geschrieben und keine Antwort erhalten. Die Info-Hotline, die geschaltet wurde, funktioniert nicht. Das ist nicht das einzige Problem: Um als Iraner in Deutschland studieren zu dürfen, müssen wir als Sicherheit einen Betrag auf einer Bank einzahlen. Es sind etwas mehr als 10.000 Euro, ich habe also gespart. Bei uns ist in diesem Jahr die Inflation kräftig gestiegen. Im März hätte ich noch umgerechnet 160.000 Rial deponieren müssen, heute sind es 348.000 Rial. An Onlineveranstaltungen konnte ich im vergangenen Semester nicht teilnehmen. Erst war meine Internetverbindung zu langsam. Dann hatte ich das Problem, dass Zoom im Iran von der Regierung gesperrt wird. Jetzt habe ich eine VPN-Verbindung von der Uni erhalten und kann die Veranstaltungen nun virtuell besuchen. Ich bin gerade so gestresst, aber ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben." Daichi Tsuboi, 22, Japan "Ik spreke en beten Plattdüütsch. In Japan studiere ich Germanistik und interessiere mich sehr für die niederdeutsche Sprache. An der Uni Hamburg kann man Mittelniederdeutsch als selbstständiges Fach studieren. Darum wollte ich unbedingt für einen Auslandsaufenthalt dorthin. Doch leider hat meine Univerwaltung in Japan alle Austauschprogramme gestoppt. Für mich war es ein Schock. Denn ob ich für das Studium noch mal nach Deutschland kommen kann, ist unsicher. Meine Leidenschaft für das Plattdeutsche habe ich als Schüler entwickelt, viele japanische Fußballspieler haben damals in der Bundesliga gespielt. Gotoku Sakai war der Kapitän vom HSV. Ich habe begonnen, mich für die Geschichte der Stadt zu interessieren, irgendwann bin ich auf die Hanse gestoßen und dann auf das Niederdeutsche. Ich bringe mir die Sprache selbst bei. Immer, wenn ich nach Deutschland reise, fahre ich in den norddeutschen Raum. Ich war schon in Rostock, Flensburg, Lübeck und natürlich in Hamburg. Leider lernt man auf solchen Urlaubsreisen so wenig. Darum wollte ich unbedingt für ein Jahr nach Hamburg kommen und mich intensiv mit dem Niederdeutschen auseinandersetzen." Lucia Cascone, 25, Italien "Eigentlich sollte ich schon im letzten Semester nach Deutschland kommen, um mein Erasmusjahr zu machen. Ich will Übersetzerin werden. Ich studiere Germanistik und Anglistik. Für mich sind Auslandsaufenthalte sehr wichtig, um die Sprache besser zu beherrschen. Doch dann hat meine Uni in Neapel das Erasmusjahr gestrichen. Ich weiß, es könnte riskant sein, nach Deutschland zu kommen, aber ich hätte diese Entscheidung gerne selbst getroffen. Ich habe das Gefühl, wir Studierende werden in diesen Zeiten besonders bestraft. Zusammen mit anderen habe ich unserer Universitätsleitung einen Brief geschrieben und Protest angemeldet. Es haben nicht alle italienischen Unis ihre Auslandsprogramme gestoppt – wieso unsere? Eine Rückmeldung haben wir noch nicht erhalten. Zwar wurde uns angeboten, die Kurse von zu Hause zu machen, aber was ist ein Erasmusjahr ohne den Aufenthalt im Gastland? Während meines Bachelors war ich ein Jahr in Leipzig. Und im Anschluss ein Jahr in Köln. Dort habe ich jeden Tag Deutsch gesprochen, mit meiner deutschen Mitbewohnerin zum Beispiel. Ich habe das Land kennengelernt und ich mag die Deutschen, sie sind ganz anders als das Stereotyp, das von ihnen existiert. Ich fühle mich dort richtig zu Hause. Wenn es nächstes Semester nicht klappt, dann war es das mit dem Auslandssemester. Dann bin ich nämlich fertig mit meinem Studium." Priyanka Sarkar, 26, Indien "Viele indische Studierende, die ins Ausland wollen, verschieben gerade ihr Studium. Für mich wäre das keine Möglichkeit gewesen, ich hätte dann ein Jahr warten müssen. Ich bin eine Filmemacherin aus Neu-Delhi und bin für mein Studium in Hamburg an der Hochschule für Bildende Künste zugelassen. Wie so viele Master- und Bachelorstudierende, die nach Deutschland wollen, hatte ich Schwierigkeiten, ein Visum zu bekommen. Die Botschaft war geschlossen und als sie öffnete, waren die Mitarbeiter mit den Anfragen überfordert. Wir müssen unsere Visa-Angelegenheiten über eine externe Organisation abwickeln, nicht direkt über die deutsche Botschaft. Es kam ständig zu Verspätungen, Termine wurden abgesagt. Man musste ständig vor seinem Computer sitzen, denn es konnte immer sein, dass ein Student seinen Termin absagt und man seinen freien Platz buchen kann. Es hat sich angefühlt wie eine Lotterie, wie ein Spiel. Nun warte ich darauf, dass die Botschaft meine Unterlagen prüft und den Pass zurückschickt. Ich habe meinen Pass im September abgegeben, damit ich einen Stempel erhalte. Es ist jetzt nur noch eine Formalität. Ich bin optimistisch, dass ich bis Ende der Woche einreisen darf."
Tom Kroll
Das Erasmusjahr? Gestrichen. Die Botschaft? Überlastet. Ausländische Studierende, die nach Hamburg wollen, müssen viele Zumutungen erdulden. Hier erzählen vier von ihnen.
[ "Coronavirus", "Reisen", "Erasmus", "Hochschule", "Infektion", "Pandemie", "Teaser" ]
hamburg
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2020-11-02T19:11:37+01:00
2020-11-02T19:11:37+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-11/corona-einreisebeschraenkung-studenten-ausland-visa-frustration-erasmus-universitaeten-erfahrungsbericht?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Singing!: Lieber öfter mal die Klappe halten
An der Garderobe zeigen sich die ersten Allüren. 1,50 Euro sollen wir pro Kleidungsstück zahlen. Entschuldigung? Wissen die nicht, dass wir hier die Stars sind? Wir: die 1.056 Laiensänger, die heute Abend in der Elbphilharmonie vor ebenso vielen Zuhörern auftreten. Versammelt hat uns der NDR Chor, der nun schon zum achten Mal sein Projekt Singing! veranstaltet, bislang im Michel, am Sonnabend zum ersten Mal in Hamburgs neuem Kulturwahrzeichen. Die meisten von uns singen regelmäßig in Chören, deren Qualität von bühnentauglich bis wenigstens unterhaltsam reicht. Der Damenchor, in dem ich dilettiere, tritt ebenfalls öffentlich auf: einmal pro Jahr, vor einem Publikum aus Verwandten, Freunden oder anderweitig von uns abhängigen Personen, die wir vor dem ersten Ton sicherheitshalber unter Alkohol setzen. Jemanden wie mich also im unbarmherzigsten Konzertsaal Deutschlands auftreten lassen, an dem vor Kurzem sogar Startenor Jonas Kaufmann – angeblich – gescheitert ist? Was soll da schon schiefgehen? Im Großen Saal der Elbphilharmonie teilen sich Bässe und Tenöre den Zuschauerraum, rechts oben singen die Altstimmen, links oben sitzen wir Soprane. Meine Nachbarin zur Rechten ist gemeinsam mit ihrem Mann aus der Nähe von Ulm angereist und haust seit der ersten Probe bei ihrer Tochter. Diese Probe war vor zwei Wochen. Als Wiedergutmachung führen die Eltern den Hund der Tochter regelmäßig Gassi. Links von mir sitzt Marion, die im vergangenen August ihrem Mann aufgetragen hat, bereits zehn Minuten vor dem Verkaufsstart für Singing! am Computer zu sitzen, um ihr eine Karte zu ergattern. Denn die Tickets waren mindestens so begehrt wie normale Elbphilharmoniekarten. 4.000 Menschen wollten mitsingen, ebenso viele (Tapfere) wenigstens zuhören. Die Frauenstimmen waren sofort ausverkauft, die Männer hatten etwas länger Zeit. Was allerdings dazu führte, dass sich manche Alt-Sängerinnen als Tenöre ausgaben, um doch noch zum Zug zu kommen. Als ob ein tausendköpfiger Chor nicht ohnehin schon schwierig genug zu organisieren wäre. Sitznachbarin Marion wird zu meiner stimmlichen Stütze. Sie hat zusätzlich zu den Proben mit ihren Chorkolleginnen geübt und trifft jeden Ton, und das sogar zum richtigen Zeitpunkt. Wenn Marion Luft holt, hole auch ich Luft. Wenn sie sich an der Nase kratzt, mache ich das auch, sicherheitshalber. Selbst heimliches Mitzählen hilft hier nicht mehr Einen falschen Einsatz, mit Inbrunst und Selbstüberschätzung mitten hinein in eine Viertelpause geschmettert, könnte allerdings auch Marion nicht verhindern. Weshalb es beim Chorsingen nicht nur darauf ankommt, den exakt richtigen Ton zu erwischen, sondern im entscheidenden Moment die Klappe zu halten. Denn das von Klaas Stok, dem neuen Chefdirigenten des NDR Chores, zusammengestellte Programm hat nichts mit einem harmlosen Hoch auf dem gelben Wagen zu tun. Wir 1.056 Stars bezeichnen es einstimmig als "anspruchsvoll". Sowohl Benjamin Britten als auch der Ungar Zoltán Kodály jagen ihre Sopranstimmen gern in Höhen, bei denen Hunde langsam hellhörig werden. Edward Elgar hält seine Sänger rhythmisch so in Bewegung, dass selbst heimliches Mitzählen nicht mehr hilft. Und dem lettischen Komponisten Pēteris Vasks hat noch niemand gesagt, dass auch Chorsänger gern hin und wieder atmen würden. Zur Sicherheit dürfen der NDR Chor sowie Studierende der Hamburger Musikhochschule mitsingen. Sie übernehmen einige der schwierigeren Partien, was unser Ego dann allerdings doch ein wenig ankratzt. Dreigestrichenes C? Wo, bitte, soll da das Problem sein? (Außer ein paar gesprungenen Fensterscheiben.) Als Klaas Stok in der Elbphilharmonie endlich den ersten Einsatz gibt und die Männerstimmen Brittens Te Deum eröffnen, sind wir alle beeindruckt: Verdammt, klingen wir gut! Fast zu gut. Die Altistinnen vom Rang gegenüber hören wir Soprane, als würden sie neben uns sitzen. Am Ende erklatschen wir uns unsere Zugabe selbst "Familiär" nennt meine Soprankollegin Sabina diese Akustik. Sie hat Vergleichswerte, schließlich fährt sie seit zehn Jahren von einem Mitsing-Event zum nächsten. Paris, Riga, Salzburg, Wien – überall hat sie schon gesungen. In Leipzig ist sie regelmäßig, als nächste Station steht Halle auf dem Programm: Georg Friedrich Händels Messiah. "Den machen die dort jedes Jahr." Um in der Elbphilharmonie zu singen, hat sie sich extra Urlaub genommen und ist aus Freiburg angereist. Sabina hat sich als eine der wenigen in Schale geworfen: langes schwarzes Abendkleid. Die Frau ist der Profi unter uns Laien. Bevor sie so richtig loslegt, tritt sie erst einen Schritt zurück. Das hat sie mit der Sängerin vor ihr so ausgemacht, aus Rücksichtnahme. "Ich hab halt das Volumen", sagt sie schulterzuckend. Zurückhaltung? Kommt für sie nicht infrage: "Zum Mundhalten bin ich nicht hergekommen." Sabina gehört zu einem kleinen Kreis an Hardcore-Mitsängern. Mittlerweile kennt man einander und hilft sich gegenseitig beim Ticketsichern. Denn Singen kann süchtig machen. Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Wir klingen wirklich richtig gut. Britten und Elgar legen wir bei der Aufführung nahezu verletzungsfrei hin. Nach dem wunderschönen Geistlichen Lied von Johannes Brahms vergleichen Marion und ich die Gänsehaut auf unseren Armen. Josef Gabriel Rheinbergers Confitebor könnten wir beim nächsten Mal von mir aus weglassen, dafür ist Vasks sphärisches Dona nobis pacem mein persönlicher Höhepunkt des Abends. (Nachzuhören ist das Konzert mindestens noch einen Monat lang auf der Website des NDR .) Nicht nur die Zuschauer sind zufrieden mit uns, auch Maria Oehmichen vom NDR Chor, die Singing! organisiert, ist es. Wir seien besser vorbereitet gewesen und hätten besser geklungen als unsere Vorgänger der bisherigen sieben Konzerte, wird sie am nächsten Tag sagen. Das finden wir auch. Am Ende sind wir von unserem Auftritt so begeistert, dass wir uns selbst eine Zugabe erklatschen. Dies ist ein Artikel aus dem Hamburg-Ressort der ZEIT. Hier finden Sie weitere News aus und über Hamburg .
Sigrid Neudecker
Das Chorprojekt Singing! fand erstmals in der Elbphilharmonie statt. Wie singt es sich als Laiin in Deutschlands hellhörigster Konzerthalle? Am besten sehr vorsichtig.
[ "Elbphilharmonie", "Hamburg", "Chorprojekt", "Konzerthalle" ]
hamburg
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2019-02-11T18:13:21+01:00
2019-02-11T18:13:21+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-02/singing-elbphilharmonie-chor-event-hamburg?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
St. Pauli: Wie grün ist grün?
Jahrelang schwelte der Streit um die Pläne für den ehemaligen NS-Flakbunker an der Feldstraße , nun werden Fakten geschaffen. Auf dem Bunker legen derzeit Bauarbeiter die Dachfläche frei und stemmen Löcher in den Beton. Das Mauerwerk wird saniert, erst dann können die eigentlichen Bauarbeiten starten. Am Ende soll ein fünfstöckiger Aufbau mit Luxushotel, Sport- und Veranstaltungshalle, Gedenkstätte sowie Grünflächen in fast 60 Metern Höhe entstehen. Eine grüne Oase über den Dächern St. Paulis: Diese Vision schilderten Planer und Pächter gegenüber Stadt und Behörden, die das Vorhaben schließlich genehmigten . Zwei Jahre später sind die Hoffnungen deutlich gedämpft. Neue Bilder vom Bunkeraufbau kursieren – ohne Pflanzen, dafür mit grün gestrichenem Beton . Ein Entwurf für die Übergangsphase, in der das Dachgrün noch wachsen soll? Eine technische Darstellung, die unabhängig vom Begrünungskonzept zu verstehen ist? Oder eine Lachnummer: egal, ob Bäume oder Beton, Hauptsache Grün? Im Bunker selbst ist seit Beginn der Betonsanierung kaum jemandem zum Lachen zumute. Die Mieterinnen und Mieter haben andere Probleme: Seit einer Woche verstellen die Bauzäune, die die Dacharbeiten absichern, den Zugang zu Parkplätzen und Lieferwegen. Im Inneren des Gebäudes, wo Ton- und Filmstudios, Konzertsäle und Musikschulen betrieben werden, dröhnt der Baulärm durch das Gemäuer und verwandelt den Betonklotz in einen riesigen Resonanzkörper. Dazu kommt das Regenwasser, das seit Entfernen der Dachpappe bis in die mittleren Geschosse durch Decken und Wände tropft. Ein bitterer Spaß für das Publikum der Goldenen Zitronen, die ihr Konzert im Uebel & Gefährlich am 6. Mai unter Regenschirmen spielen mussten. Für einige der Bunkermieter dagegen ein Überlebenskampf. War das nicht abzusehen? Eine Beeinträchtigung der bestehenden Betriebe sollte vermieden werden, versicherten die Geschäftspartner, als der Bunker-Deal beschlossen wurde. Laut Erbbaurechtsvertrag mit der Stadt Hamburg ist Investor Thomas J. C. Matzen verpflichtet, die Mieterinnen und Mieter möglichst vorzuwarnen. Niemand sollte in seiner Existenz gefährdet werden. Trotzdem werden nun einige Betriebe empfindlich getroffen. Terrace Hill verliert seine Terrasse Für das Terrace Hill geht es inzwischen ums Ganze. Seit zwölf Jahren thront der Club auf dem Bunkerdach. Alleinstellungsmerkmal: die Terrasse mit Ausblick auf den Michel, den Hafen und darüber hinaus. Jetzt ist die etwa 60 Quadratmeter große Fläche weg. Als Teil des begehbaren Bunkerdachs soll sie zwar öffentlich zugänglich bleiben, aber nicht mehr zum Terrace Hill gehören, sagen Insider aus dem Umfeld des Clubs. Für die Partyveranstalter und Firmen, die den Club gerade wegen des Panoramablicks buchten, ist damit der Reiz der Location dahin. Seit Mai seien 90 Prozent der Veranstaltungen weggebrochen, heißt es. Alle vier Festangestellten des Terrace Hill hätten ihre Jobs bereits verloren. Ohne die Mieteinnahmen habe der Club die Leute nicht mehr bezahlen können. Nun liegt die Kündigung auf dem Tisch. Die Frage nach dem Grund lässt die Hausverwaltung EHP, die den Investor vertritt, unbeantwortet. "Weil sie aufmuckten", heißt es im Bunker. Die Angst vor dem Rausschmiss ist deutlich spürbar. Die bestehenden Gewerbemietverträge böten so gut wie keinen Schutz, sagen die, die nur hinter vorgehaltener Hand mit Journalisten reden wollen. Niemand will Ärger mit dem Vermieter riskieren. Nur wenige trauen sich, offen zu sprechen.
Annabel Trautwein
Grüner Park auf grauem Weltkriegsmahnmal – das war die Idee für den ehemaligen Flakbunker auf St. Pauli. Nun haben die Bauarbeiten begonnen. Und der Frust ist groß.
[ "St. Pauli", "Bunker", "Hamburg" ]
hamburg
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2019-05-26T17:41:42+02:00
2019-05-26T17:41:42+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-05/st-pauli-ns-bunker-bauarbeiten-dachgarten-mieter-existenzgrundlage?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Harald Falckenberg: Er war glühender Kapitalist, ich eher nicht. Wir amüsierten uns prima
Um die Jahrtausendwende lebte ich, durch eine angestrebte Scheidung obdachlos geworden, für anderthalb Jahre in einer Wohngemeinschaft mit Harald Falckenberg. Er gewährte mir Asyl in seiner weitläufigen Wohnung an der Alster, unsere Themen waren Politik, Fußball und Kunst, angemessen angenehm begleitet von Alkoholika. Er war ein glühender Kapitalist, ich eher nicht, doch bei der Analyse des Systempersonals konnten wir uns prima amüsieren. Ich konnte mich für das Asyl erkenntlich zeigen und half ihm, aus einer abgestorbenen Beziehung zu kommen, denn seinem Gefühlsleben und den darin vorkommenden Frauen gegenüber war er mehr oder weniger rat- und hilflos. Der Weg war nun frei für Larissa Hilbig, seine Gefährtin und spätere Frau für die verbleibenden 24 Jahre. Seine Sammlung, aus Ekel vor seinen Bankberatern als Verlustgeschäft geplant, war zum damaligen Zeitpunkt recht profillos. Gesicherte, langweilige Assets. Ich erlaubte mir, ihn darauf hinzuweisen, dass sein Charakter und sein Intellekt damit unterfordert sind, dass er härteren Stoff bräuchte, um am Sammeln wirklich Freude zu haben. Ich machte ihn mit der Welt von Franz West, Martin Kippenberger, Mike Kelley und anderen bekannt, auch meine eigene unterschlug ich nicht . Harald, einer der intelligentesten Menschen, die ich auf diesem Planeten getroffen habe, akzeptierte die Herausforderung und lernte blitzschnell. Dachte nach und fing an zu schreiben. Und trug dieses einzigartige Konvolut zusammen, dessen roten Faden er "ziviler Ungehorsam" nannte. Er war kein sammelnder Millionenerbe. Sondern erfolgreicher Geschäftsführer der Firma Elaflex, der seine Rechnungen immer erst im Mai bezahlen konnte, wenn er seine Gewinnbeteiligung bekam. Er engagierte sich im Kunstverein Hamburg und in den Deichtorhallen, zum Segen dieser Institutionen. Auch das Engagement an der Hochschule für bildende Künste Hamburg darf nicht unterschlagen werden. Einmal erklärte er mir, wie man sich auf eine Aufsichtsratssitzung vorbereitet. Ich wäre fast gestorben Überhaupt geriet ihm nahezu alles zum Erfolg. Es ist erschreckend. Ob als Miteigentümer von Alpmann Schmidt, einer Privatfirma, die Generationen von BRD-Juristen an den Universitäten vorbei ausbildete. Oder ob er als playing captain einen niedersächsischen Golfclub zur deutschen Meisterschaft führte. ES GERIET IHM GUT! Und er erzählte davon lakonisch und zum Schreien komisch. Einmal erklärte er mir, wie man sich auf eine Aufsichtsratssitzung vorbereitet. Ich wäre fast gestorben. Larissa und er bereisten die Welt, studierten Kunst, knüpften Kontakte. Beider Gedächtnis für Gesichter, Namen, Anekdoten und Kalenderdaten ist beneidenswert. Sie lernten das gesamte Personal des westlichen Kunstbetriebs kennen. Die Museen, die Kunstvereine, die Künstler, die Schreiber, die Sammler. Die Restaurants, die Hotels und die Messen. Das Adressbuch wäre in internetlosen Zeiten sehr wertvoll gewesen. Seine Neugier auf alles und jeden hatte etwas Wissenschaftliches. Er wollte auf Zähne fühlen und rausbekommen, ob und was dahintersteckt. Am Ende war er bekannt in und geschätzt von dem köstlichen Völkchen, welches die westliche Kunstwelt bewohnt. Man schickte ihm Flugtickets, damit er zu irgendeinem Event kam und ein paar Worte sagte. Es gab auch Zeiten, da traf ich ihn nicht so gern. Wie ich schon bei meinen verstorbenen Freunden Martin Kippenberger und Günther Förg leidvoll bemerken musste, führt die Mischung aus Ruhm und Alkohol oftmals zur Erosion der Erdung und zu Unhöflichkeiten wie stundenlangem, egomanischem Monologisieren. Das ist für keinen der Beteiligten gesund und erquicklich. Aber er kam da wieder raus. Ich bin dankbar, ihn gekannt und Zeit mit ihm verbracht zu haben. Das kann ich nur über wenige Menschen sagen Die Sammlung ruht nun vorerst bis 2032 in Harburg, in dem Privatmuseum , das in alten Fabrikhallen nach seinen Vorstellungen entstand. Ein ehrlicher, pragmatischer Ausstellungsort, in dem man so oft mit Gewinn flanieren konnte. Es ist mehr als fraglich, ob die Deichtorhallen und die Hansestadt Hamburg ohne das finanzielle und intellektuelle Engagement von Harald Falckenberg die Sammlung lebendig halten können und wollen. Es steht zu befürchten, dass Stadt und Institution damit überfordert sind. Vergessen habe ich, von seiner Großzügigkeit zu reden. Von seiner Selbstironie, von seiner urkomischen Schlagfertigkeit und bestimmt von vielem mehr. Was ruft man einer solchen Persönlichkeit hinterher? Was wäre zu schwach, was zu gestelzt pathetisch? Vielleicht dies: Ich bin dankbar, ihn gekannt und Zeit mit ihm verbracht zu haben. Das kann ich nur über wenige Menschen sagen.
Werner Büttner
In der vergangenen Woche starb der Kunstsammler Harald Falckenberg. Hier erinnert sich sein Freund und zeitweiliger Mitbewohner an ihn, der Maler Werner Büttner.
[ "Harald Falckenberg", "Werner Büttner", "Daniel Reinhardt", "Larissa Hilbig", "Martin Kippenberger", "Hamburg", "Hamburg-Harburg", "Harburg", "Deichtorhallen", "Kunsthalle Hamburg" ]
hamburg
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2023-11-12T11:12:08+01:00
2023-11-12T11:12:08+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2023-11/harald-falckenberg-kunstsammler-tod-werner-buettner?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Neue Sachlichkeit : "Die Parallelen zwischen den Zwanzigern und heute faszinieren"
Nach dem Ersten Weltkrieg reformierte sich die europäische Kunst- und Architekturszene radikal, brachte Neues Sehen, Neue Sachlichkeit, Bauhaus hervor. Es begann eine Zeit der Extreme, Hoffnung und Elend lagen nah beieinander. Und manches wirkt gar fortschrittlicher als heute. Kathrin Baumstark, Kuratorin der Ausstellung "Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre", erklärt, wieso. ZEIT ONLINE: Frau Baumstark, in Hamburg konnten sich die Bauhaus-Ideen der Zwanzigerjahre nicht so stark durchsetzen wie in anderen Städten, zum Beispiel Stuttgart oder Berlin. Wieso? Baumstark: Hamburg ist eine alte Hansestadt, da gehören Stadtvillen dazu. Die will man natürlich behalten. Aber das Miteinander von Alt und Neu hat heute seinen Reiz, es gibt in den Straßen viele Bezüge zum Bauhaus. Spazieren Sie mal bei Kampnagel durch die Jarrestraße im Hamburger Norden: schnörkellose Backstein-Architektur, kubistische Formen. Diese Bauweise bediente damals allerdings nicht nur den modernen Geschmack. ZEIT ONLINE: Sondern? Baumstark: Man musste der Wohnungsnot nach dem Krieg etwas entgegensetzen. Das war mit großen Jugendstil-Wohnungen nicht möglich, stattdessen brauchte es bezahlbaren Wohnraum à la Le Corbusier. ZEIT ONLINE: Das klingt nach ähnlichen Problemen wie heute. Manche Werke Ihrer Ausstellung wirken entsprechend aktuell. Wie kann das sein, 100 Jahre nach ihrem Entstehen? Kathrin Baumstark: Das fasziniert mich auch immer wieder, die Parallelen zwischen den Zwanzigern und heute. Ich habe gerade ein Gemälde von Otto Dix ausgepackt, das Bildnis des Juweliers Kurt Krall – und blieb mit offenem Mund davor stehen. "Wow! Ja!", dachte ich. Dabei kenne ich das Werk natürlich längst. Von Karl Hubbuch haben wir eine Aktmalerei dabei, die könnte auch von Neo Rauch sein. Manche Künstler damals waren einfach ihrer Zeit voraus. ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich das? Baumstark: Viele von ihnen waren begeistert als Soldaten in den Ersten Weltkrieg gezogen, zum Beispiel Dix. Nur um festzustellen, dass sie bei einem sinnlosen Stellungskrieg mitmachten. Das Kaiserreich, das gute Leben, alles brach danach zusammen. Die totale Desillusionierung. ZEIT ONLINE: Das übertrug sich direkt auf die Kunst? Baumstark: Ja. Künstler des Neuen Sehens, der Neuen Sachlichkeit, des Bauhauses konzentrieren sich auf eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Realität. Ihre Werke sind schonungslos. Das hatte in der Malerei und Fotografie zum Beispiel zur Folge, dass auch Menschen auf einmal bildwürdig waren, die zuvor niemand dargestellt hatte: Kriegskrüppel, Prostituierte, verwahrloste Kinder. In den Zwanzigern gehörte ja nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zum Absinth trinkenden Partyvolk, das wir aus der Serie Babylon Berlin kennen.
Anna Heidelberg-Stein
Deutschland feiert 100 Jahre Bauhaus. Wieso die Epoche die Kunstwelt revolutionierte und wie sie Hamburg noch heute prägt, weiß die Kuratorin des Bucerius Kunst Forums.
[ "Bauhaus", "Bucerius Kunst Forum", "Kathrin Baumstark", "Kunstwelt", "Kuratorium" ]
hamburg
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2019-02-07T22:01:07+01:00
2019-02-07T22:01:07+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-02/neue-sachlichkeit-bauhaus-moderne-bucerius-kunst-forum-hamburg?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Klassismus in der Kunstszene: "Wenn's im Theater um Armut geht, trägt oft wer ein Feinripp-Shirt"
Die Hamburger Tänzerin und Choreografin Verena Brakonier ist in einer Autowerkstatt aufgewachsen und später mit ihrer alleinerziehenden Mutter, die wenig Geld hatte. In der Kulturszene kam sie sich lange ein wenig fehl am Platz vor. Oft hatte sie das Gefühl, mehr leisten zu müssen und weniger zu verstehen als die anderen, die überwiegend einen bildungsbürgerlichen Hintergrund hatten. Sie gründete im Gängeviertel die Anonymen Arbeiter:innenkinder, um Menschen zu finden, denen es ähnlich geht. "Klassismus" heißt das Phänomen – es geht um Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Gemeinsam mit der Anthropolog*in und Antidiskriminierungstrainer*in Francis Seeck gibt Brakonier heute Workshops zum Thema Klassismus. Im Interview sprechen sie darüber, warum sich Menschen in Theatern und Museen für ihre Herkunft schämen und warum Arme auf der Bühne, im Film und im Fernsehen so oft Feinripp-Shirts tragen. ZEIT ONLINE: Sie arbeiten in Hamburg als Performerin und Choreografin und setzen sich zunehmend damit auseinander, was Klassenherkunft in der Kulturszene bedeutet. Wie sind Sie darauf gekommen? Verena Brakonier: Ich habe 2019 bei Francis Seeck einen Workshop zu Klassismus mitgemacht – da ist bei mir ein Knoten geplatzt. Ich bin ja selbst Arbeiterinnenkind und ich habe gemerkt, dass es zu diesem Thema eine Verbindung gibt, die mir künstlerisch Kraft gibt. Wenn ich aus diesem Zustand heraus Kunst mache, entsteht ein ganz anderer Flow. Davor habe ich immer versucht, so zu sein, wie ich mir eine Künstlerin vorstelle, aber ohne diesen wichtigen Teil meiner Identität mitzunehmen. Jetzt darf sich das mit meiner künstlerischen Energie und meiner Kreativität verbinden. Francis Seeck: Ich freue mich, das zu hören. Ich kann mich an den Workshop auch noch genau erinnern. In meinen Workshops geht es ganz viel um Klassismus im Kulturbetrieb, beispielsweise elitäre Ideen, wer eine Künstler*in sein kann, die uns früh prägen. Ich freue mich, wenn es gelingt, Künstler*innen aus der Arbeiter*innen oder Armutsklasse zu ermächtigen, diese Strukturen kritisch zu hinterfragen. Ich habe vor einigen Jahren eine Antidiskriminierungstrainer*innen-Ausbildung gemacht und gemerkt, dass das Thema Klasse und Klassismus dort eigentlich nicht vorkommt, obwohl diese Diskriminierungskategorie unsere Gesellschaft grundlegend prägt. ZEIT ONLINE: Was ist eigentlich Klassismus? Eine rassistische oder sexistische Bemerkung würden sicher viele Menschen identifizieren können, aber was wäre ein klassistisches Vorurteil? Seeck: Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Zum Beispiel wenn es heißt, Menschen, die Hartz IV bekommen, könnten ihre Kinder nicht erziehen, säßen den ganzen Tag vor dem Fernseher und ernährten sich schlecht. Ich kenne aus meiner eigenen Kindheit genügend Beispiele. Ich bin in Kreuzberg als Kind einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Als ich fünf war, ist einmal ein Klassenkamerad in unserer engen Wohnung gewesen und hat alles kommentiert: "Bei euch sieht's ja aus wie im Kohlenkeller, das ist ja schrecklich hier." Ich habe gespürt, dass wir immer unter Beobachtung stehen, wie wir unser Geld ausgeben. Wenn ich erzählt habe, dass ich mit meiner Mutter in der Pizzeria war, hieß es gleich: "Was, das könnt ihr euch leisten? Bezieht ihr nicht Sozialhilfe?" Es gibt auch subtile Formen von Klassismus – etwa bei der Frage, wer auf eine Leitungsposition oder eine Professur passt. Da geht es dann gerne um das, was Pierre Bourdieu als Habitus beschrieben hat – wie ich mich bewege, wie ich gestikuliere, mir selbst vertraue. Bei der Frage, wer wo reinpasst, kommt zum Tragen, dass Leute in Führungspositionen gerne Leute fördern, die ihnen ähnlich sind, vom Habitus. Brakonier: Klassistisch war zum Beispiel die Schulsekretärin, als ich mit 17 von der Realschule auf ein Gymnasium mit Tanzschwerpunkt in Essen-Werden gewechselt bin, ein reicher Stadtteil. Sie hat gesagt: "Die wird's ja eh nicht lange hier machen." Das war das erste Mal, dass ich Klassismus so richtig gemerkt habe. Davor war die Erfahrung viel subtiler oder hinter meinem Rücken. Den Spruch der Sekretärin hätte ich ja auch nicht hören sollen. Meine Eltern hatten eine Autowerkstatt in Rheinland-Pfalz, die lief aber nicht mehr gut, das führte zur Scheidung, meine Mutter musste sehr viele Schulden übernehmen und war dann alleinerziehend. Sie musste sehr viel arbeiten, um mir meine musische Bildung zu ermöglichen.
Christoph Twickel
Woher kommen Armutsklischees und bildungsbürgerlicher Habitus in der Kulturszene? Die Performerin Verena Brakonier und die Anthropolog*in Francis Seeck im Interview
[ "Verena Brakonier", "Francis Seeck", "Kulturszene", "Kunstszene", "Geld", "Hartz IV", "Sozialhilfe", "Schulden", "Kunst", "Bildung" ]
hamburg
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2021-04-07T21:03:19+02:00
2021-04-07T21:03:19+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-04/klassismus-kunstszene-bildungsbuergertum-verena-brakonier-francis-seeck?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Hamburger Alster: "Laut geschrien hab ich"
Der letzte Fang einer Meerforelle in der Alster liegt gut ein Jahrhundert zurück. Dass Frank Schlichting jetzt wieder ein solches Tier entdeckt hat, gilt nicht nur unter Anglern als Sensation: Meerforellen kehren zum Laichen an den Ort zurück, an dem sie selbst geschlüpft sind – das Tier muss also den Weg in die Nordsee und wieder zurück geschafft haben. Auf dem Weg muss der Fisch nicht nur die Fischtreppen am Mühlenwehr und Rathaus passieren, sondern auch zwei weitere Schleusen ohne Hilfe überspringen. ZEIT ONLINE: Herr Schlichting, Sie haben jüngst die erste ausgewachsene Meerforelle seit 100 Jahren in der Alster gefangen. Haben Sie den Fisch verspeist? Frank Schlichting: Nein, nein, nein! Wir haben nur eine Elektrokontrollbefischung durchgeführt. ZEIT ONLINE: Eine was? Schlichting: Elektrokontrollbefischung. Dabei wird mit einem Elektrofischereigerät das Wasser unter Strom gesetzt. Dadurch werden die Fische betäubt. Um so was machen zu dürfen, muss man aber einen einwöchigen Lehrgang absolvieren und eine behördliche Genehmigung haben. ZEIT ONLINE: Und wozu macht man das? Schlichting: Das machen wir mit unserem Angelverein, weil wir seit über zehn Jahren die Alster und die Nebenbäche mit kleinen Meerforellen besetzen. Die sind ungefähr einen Zentimeter lang. Ein bis zwei Jahre bleiben sie in der Alster, bis sie 20, 25 Zentimeter groß sind. Dann wandern sie ab, lassen sich die Schleusen runterfallen, schwimmen in die Nordsee, bleiben dort drei Jahre und kommen als laichbereite Fische wieder zurück. Wanderfische sind das. So wie Lachse. Sehen auch fast aus wie Lachse. ZEIT ONLINE: Wie viele Meerforellen setzen sie denn jährlich aus? Schlichting: Im Schnitt, würde ich sagen, 25.000. Wenn 25 von denen zurückkommen, dann ist das schon ein toller Erfolg. ZEIT ONLINE: Oh. Das sind nicht viele. Schlichting: Der größte Schwund ist im Jungstadium, die wenigsten wandern überhaupt ab. Und wenn sie dann zurückkommen, ist das mit der Alster alles ein bisschen schwieriger. Die Schleusen, die geringe Lockströmung. In der Außenalster ist ja fast keine Strömung. Die muss der Fisch aber finden, um in den Flusslauf zu kommen. Das ist nicht ganz einfach. ZEIT ONLINE: Ihre Meerforelle hat es geschafft. Schlichting: Richtig. Wir sind fest davon ausgegangen, dass wir schon seit mehreren Jahren wieder vereinzelt zurückgekehrte Meerforellen in der Alster haben. Nur ist es natürlich ziemlich schwer, so einen Fisch dann auch nachzuweisen, bei einer Flusslänge von 50 Kilometern. ZEIT ONLINE: Darf die Alster jetzt wieder als intakter Lebensraum für Fische gelten? Schlichting: Die Alster hat eine hervorragende Wasserqualität! Wir haben einen unwahrscheinlich guten Fischbestand in der Alster. Viele Kleinfischarten, die als Indikator für hervorragende Wasserqualität gelten. Die Mühlkoppe etwa. ZEIT ONLINE: Die Mühl…? Schlichting: Mühlkoppe. Ein Bodenfisch. Kommt eigentlich nur in glasklaren Forellenbächen vor, aber in der Alster haben wir schon seit 15 Jahren massenhaft Mühlkoppen. Dann haben wir das Bachneunauge in der Alster, auch die Bachschmerle. Die Alster hat braunes Wasser, aber nur weil sie in einem moorigen Gebiet entspringt. Viele Leute denken, oh, das muss dreckig sein. Nein! Die Alster hat eine sehr hohe Qualität. ZEIT ONLINE: Wie viele Fischarten gibt es denn insgesamt? Schlichting: Soll ich aufzählen? ZEIT ONLINE: Nicht nötig. Über den Daumen gepeilt? Schlichting: Ich würde sagen ungefähr 20. ZEIT ONLINE: Waren das schon immer so viele? Schlichting: Die Alster ist in den Siebzigerjahren mal begradigt worden, das hat seinerzeit den Fischbestand geschwächt. Inzwischen ist es aber so, dass die Alster einen sehr interessanten Fischbestand hat. Zum Beispiel die Quappe! Auch so ein Fisch. Den haben wir vom Angelverein vor zwanzig Jahren eingesetzt. Heute hat die Alster einen hervorragenden Quappenbestand. Die Alster hat Potenzial. Ein Fluss mit vielen interessanten Fischen! ZEIT ONLINE: Ich nehme an, der Meerforellenfang war ein großer Erfolg? Schlichting: Ja, was heißt denn Erfolg? Ich konnte eine Nacht nicht schlafen! Eine Sensation war das für mich. Letztes Jahr war der Wirtschaftssenator mal bei einer Kontrollbefischung dabei, da habe ich angekündigt: Wenn ich irgendwann mal eine zurückgekehrte Meerforelle in der Alster fangen sollte, dann wird man meinen Freudenschrei bis zum Rathaus hören. ZEIT ONLINE: Und, hat der Senator sich schon bei Ihnen gemeldet? Schlichting: Nee. Aber laut geschrien hab ich!
Félice Gritti
Der Hamburger Angler Frank Schlichting hat eine ausgewachsene Meerforelle in der Alster gefangen. Eine reife Leistung – vor allem für das Tier.
[ "Angeln", "Alster", "Frank Schlichting", "Robin Giesler", "Zeit Online", "Meeresforelle", "Meerforelle" ]
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2019-12-05T18:42:08+01:00
2019-12-05T18:42:08+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-12/hamburger-alster-meerforelle-angler-frank-schlichting?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
"1984" am Berliner Ensemble: Die Hölle funktioniert
Seit Jahren gibt es in Deutschland ein Einheitsbühnenbild, in dem sich das meiste Theater (abzüglich der Boulevardkomödien) abspielt und worin die Figuren wohnen: Es ist das Verlies, das unmöblierte und fensterlose Gewölbe. Hier findet der Schauspieler keine Geborgenheit. Er muss immerzu stehen und spricht seinen Text wie ein Zeuge zum Publikum hin. Wenn er doch mal sitzen darf, dann auf einem kalten Stuhl, auf dem er leidet wie ein Sträfling, der verhört wird, ehe man ihn abführt. Kurzum: Der ohnmächtige, unter diffuser Anklage stehende Mensch beherrscht, so paradox das auch klingt, die Bühnen. (Natürlich gibt es Ausnahmen: Manche Aufführungen spielen in den Bereich des Trash hinein und sind muntere Abarten des Verlies-Theaters, da sie sich unter den Zwang setzen, nicht nur "die Lage des modernen Menschen" zu zeigen, sondern auch noch unterhaltend sein zu wollen.) Nun sind am vergangenen Wochenende gleich zwei Aufführungen herausgekommen, die den vom System terrorisierten und in seinem Ich-Sein bedrohten Einzelnen ausdrücklich zum Thema haben – 1984 am Berliner Ensemble und Der Prozess in Hamburg am Thalia Theater. Deren Autoren, George Orwell und Franz Kafka, teilen das Schicksal, dass ihre Namen zu Synonymen geworden sind für beklemmende Weltmodelle beziehungsweise Existenzdeutungen. Kafkaesk und Orwell-artig – so ist heute offenbar die Welt. Und so wird sie vom Theater gezeichnet. Warum sollen nun 1984 und Der Prozess auf die Bühnen, wo sich dort ohnehin Kafkas Blick durchgesetzt hat? Anders gefragt: Wie heben diese beiden Inszenierungen sich vom üblichen Wasser-und-Brot-Theater ab? Indem sie das Unheil so sehr verdichten wie möglich. Der Regisseur Luk Perceval inszeniert Orwells Dystopie vom alles wissenden, Krieg gegen andere Staaten und die eigenen Bürger führenden Überwachungsstaat auf kleinstem Raum, in einem Spiegelkabinett. Die vier Schauspieler, die sich die Rolle des 1984- Protagonisten Winston Smith teilen, drängen sich in einem spitzwinkligen, verspiegelten Raum in der Form eines liegenden V (Bühne: Philip Bußmann). Es sind gehetzte, geduckte, blasse, kahle, Brillen tragende, in grauen Anzügen steckende Männer der Masse, wie sie ähnlich in Trickfilmen zu sehen sind, wenn Rushhour-Szenen gezeigt werden. In der Enge ihrer Bühne wirken sie nun, doppelt und dreifach reflektiert, wie eine wimmelnde, vielarmige, seeanemonenhafte Kreatur, die sich dehnt und zusammenzieht in einer ständigen Bewegung des Ausweichens. Dass es vier Männer sind, die sich eine Rolle, einen Text teilen, ist eine willkürliche, nicht weiter begründbare Entscheidung: Es würde qualitativ nichts ändern, wenn es acht oder 16 wären. Aber diese vier klingen, als sprächen sie für Hunderte. Paul Herwig, Gerrit Jansen, Oliver Kraushaar, Veit Schubert – sie tuscheln, raunen, hauchen, brüllen den Text des Winston Smith, hellhörig, gewissermaßen feinkörnig, nuanciert, als wäre es das Selbstgespräch einer unterdrückten Masse. Dieses Sprechen oszilliert zwischen Extremzuständen – der Hoffnung auf Glück und der Erwartung des vollständigen Unheils. Mehr noch: Sie sprechen auch den Text der Macht, des Großen Bruders. Es kommt also zum Dialog zwischen Obrigkeit und Subjekt. In Percevals sorgfältiger Regie verhört ein Einzelner (oder die geknechtete Masse) sich selbst. 1984 ist ein Fest fürs Auge, mehr noch aber für das Ohr – es kommt auf jedes Wort an, und keines geht verloren. Das Verlies, in dem wir uns befinden, ist ein Menschenkopf. Der auf dem Spiel steht. Michael Thalheimers Hamburger Inszenierung von Der Prozess ist derber, simpler gearbeitet. Wo man bei Percevals Inszenierung den Eindruck hat, hier habe sich ein Regisseur dem Stoff untergeordnet, ja verschrieben, macht Thalheimer den seinen für sich passend. Er hat noch nie etwas "nach" Kafka inszeniert, und nun reitet er ihn gewissermaßen zu – wie er auch Schnitzler, Kleist, Schiller und viele andere schon souverän zugeritten hat. Sodass alles nach Thalheimer aussieht und klingt.
Peter Kümmel
George Orwell und Franz Kafka auf der Bühne: Kann das gut gehen? Ja! Luk Perceval inszeniert "1984" in Berlin und Michael Thalheimer den "Prozess" in Hamburg.
[ "George Orwell", "Franz Kafka", "Hamburg", "Berliner Ensemble", "Thalia Theater", "Berlin" ]
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2023-11-22T13:38:05+01:00
2023-11-22T13:38:05+01:00
https://www.zeit.de/2023/49/1984-berliner-ensemble-george-orwell-franz-kafka-thalia-theater?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Can Ansay: "Wir zeigen, dass es auch so geht"
Der Jurist und Gründer Can Ansay (42) ist mit seinem Geschäftsmodell bekannt geworden, Krankschreibungen per WhatsApp zu verkaufen . Nun hat die Bundesregierung angekündigt, die Krankschreibung in ihrer bisherigen Form abzuschaffen und zu digitalisieren. Can Ansay gehen die Maßnahmen nicht weit genug. ZEIT ONLINE: Herr Ansay, Sie verdienen Ihr Geld damit, gelbe Scheine zu verschicken; die Bundesregierung will gelbe Scheine abschaffen. Ist Ihr Geschäftsmodell in Gefahr? Ansay: Nein, überhaupt nicht. Es soll ja nur der gelbe Schein in Papierform abgeschafft werden, nicht die Krankschreibung als solche. Zudem bleibt der Wunsch der Patienten bestehen, bei einer akuten Erkältung nicht aus dem Haus gehen zu wollen. Darauf geht der neue Gesetzesentwurf ja gar nicht ein. Wer sich vom Kassenarzt krankschreiben lassen will, muss sich auch künftig zum Arzt schleppen, selbst wenn danach alles Weitere digital abläuft – was so aber auch gar nicht stimmt. ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit? Ansay: Patienten müssen sich vom Arzt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes einen gelben Schein ausstellen lassen. Rechtlich gilt der als Beweismittel, falls bei der elektronischen Übermittlung der Daten etwas schiefläuft. Das heißt, Ärzte werden künftig nur mehr Arbeit haben, nicht weniger. Und es wird zwei Krankschreibungsprozesse geben: den bisherigen, weil Arbeitgeber und Krankenkassen von Privatärzten nach wie vor Krankschreibungen in Papierform akzeptieren müssen; und den neuen, bei dem die Kassenärzte die Krankschreibung elektronisch an die Krankenkasse und diese wiederum an die Arbeitgeber übermitteln. Was also von der Bundesregierung und der Öffentlichkeit verbreitet wird, nämlich, dass es bald bei der Krankschreibung kein Papier mehr und weniger Bürokratie geben wird, ist falsch. ZEIT ONLINE: Sie halten also nichts von dem Gesetz? Ansay: Wenn Sie so direkt fragen, nein. Ich habe mir die Augen gerieben, ob die digitale Krankschreibung, wie die Bundesregierung sie vorsieht, nicht ein Versehen ist. Es liegen mir auch gar keine Informationen vor, wie die Daten sicher zwischen Arzt, Krankenkasse und Arbeitgeber übertragen werden sollen. Ich kann mir vorstellen, dass das ein wildes Durcheinander geben wird, weil jede Krankenkasse Ihren eigenen Standard durchsetzen will. ZEIT ONLINE: Was den Datenschutz angeht, wurden Sie in der Vergangenheit selbst kritisiert, weil Sie den amerikanischen Messenger-Dienst WhatsApp für Ihren Service genutzt haben. Ansay: Das stimmt, wir haben auf die Kritik jetzt aber reagiert: Wie gehabt beantworten die Nutzer ein paar Fragen zu Symptomen, der eigenen Person und zur Versicherung. Die Daten werden an unseren Telearzt geschickt, allerdings nicht mehr über WhatsApp. Stattdessen landen die Informationen verschlüsselt auf einem deutschen Server; der Arzt lädt sich die Daten runter und entscheidet sich aufgrund dessen – fast immer – für eine Krankschreibung. ZEIT ONLINE: Wie funktioniert das konkret? Ansay: Die Krankschreibung wird automatisch erstellt, digital von unserem Arzt signiert und wieder auf dem Server verschlüsselt abgespeichert. Damit der Patient den Krankenschein runterladen kann, schicken wir ihm einen SMS-Code und eine automatisierte E-Mail mit einem Link; klickt er darauf, landet er auf unserem Download-Portal und muss dort neben seiner Bestellnummer noch den SMS-Code eingeben. Dann kann die digital signierte AU-Bescheinigung als PDF runtergeladen, entschlüsselt, ausgedruckt oder einfach als PDF an den Arbeitgeber weitergeleitet werden. ZEIT ONLINE: Das Original geht aber noch mal per Post an den Patienten raus? Ansay: Nein, das ist eine weitere Umstellung: Per Post bekommen die Patienten den AU-Schein nur noch, wenn sie ihn anfordern und fünf Euro extra zahlen. Damit wollen wir faktisch die Digitalisierung der Krankschreibung in Deutschland einführen. ZEIT ONLINE: Wie kommt das bei den Nutzern an? Ansay: Etwa 50 Prozent unserer Patienten nutzen den rein digitalen Service. Unsere Ärzte brauchen durch die digitale Krankschreibung pro Patient nur etwa fünf Sekunden. Damit können sie sich um wesentlich mehr Menschen kümmern als jeder Praxenarzt. ZEIT ONLINE: Und den Arbeitgebern reicht ein PDF als Krankschreibung aus? Ansay: Uns wurde bislang nicht mitgeteilt, dass unser digitaler AU-Schein von Arbeitgebern nicht akzeptiert wurde. Gesetzlich ist geregelt, dass man die Krankschreibung vorlegen muss – diesen Begriff haben wir dahingehend interpretiert, dass man ja auch eine PDF-Datei vorlegen kann. Ehrlich gesagt machen wir so gute Erfahrungen mit unserem Service: Vielleicht brauchen wir die Einführung der digitalen Krankschreibung von Seiten der Politik gar nicht. Wir zeigen ja, dass es praktisch auch so funktioniert. ZEIT ONLINE: Wie viele Menschen nutzen Ihren Dienst denn inzwischen? Ansay: Wir haben etwa 15.000 Patienten. Da die Erkältungssaison jetzt erst richtig anfängt, rechnen wir damit, dass die Nutzerzahlen in den nächsten Monaten noch deutlich steigen werden. ZEIT ONLINE: Und wer sind Ihre Kunden? Ansay: Genaue Daten haben wir noch nicht. Was wir wissen ist, dass der Altersdurchschnitt bei Ende 20 liegt und dass etwa 90 Prozent gesetzlich versichert sind.
Myriam Salome Apke
Ein Start-up handelt mit digitalen Krankschreibungen. Nun will die Bundesregierung den gelben Schein abschaffen. Günder Can Ansay geht die Abschaffung nicht weit genug.
[ "Gesundheitssystem", "Digitalisierung", "Can Ansay", "WhatsApp", "Krankschreibung" ]
hamburg
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2019-10-09T20:26:49+02:00
2019-10-09T20:26:49+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-10/can-ansay-au-schein-digitale-krankschreibung-gesundheitssystem?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Deutsches Hafenmuseum: Hafenmuseum eröffnet 2025 am Grasbrook – wenn alles gutgeht
Der Deutsche Bundestag beschloss im November 2015, der Stadt Hamburg 120 Millionen Euro zukommen zu lassen, damit sie ein Deutsches Hafenmuseum errichtet. Es folgten: Schwierigkeiten – und eine vierjährige Suche nach einem geeigneten Standort. Der ist inzwischen gefunden – und nun könnten sich auch die weiteren Planungen beschleunigen. Den aktuellen Stand präsentierte Kultursenator Carsten Brosda (SPD) am Freitag während einer Barkassenfahrt zu dem Ort, an dem das Museum errichtet werden soll. Wo genau will die Stadt das Deutsche Hafenmuseum bauen? Am Holthusenkai auf dem Grasbrook, ein paar hundert Meter westlich der Elbbrücken. Das Grundstück am Südufer der Elbe ist etwa 5.700 Quadratmeter groß, die Barkassenfahrt von den Landungsbrücken dauert eine Viertelstunde. Direkt gegenüber liegen das Neubauquartier Baakenhafen und die MS Stubnitz, schräg gegenüber die U4-Station Elbbrücken. "Ein Sahnegrundstück", sagt Brosda. "Ein unglaublich markanter Ort." Bislang ragen dort noch gesichtslose Logistikhallen in den grauen Himmel, auf dem verwaisten Kai wuchert das Unkraut – der Blick aber reicht von hier über die Hafencity-Skyline bis zur Elbphilharmonie und darüber hinaus. Wo soll das Museumsschiff Peking liegen? Sobald der Neubau fertig ist, wird davor die "Peking" dauerhaft festmachen; der historische Viermaster liegt derzeit in der Werft. Der Holthusenkai ist jedoch nur einer von zwei Standorten des neuen Museums: Das derzeitige Hamburger Hafenmuseum im Hansahafen, auf dem Wasser nur zehn Minuten entfernt, soll erhalten bleiben und so ertüchtigt werden, dass ein ganzjähriger Betrieb möglich ist. Beide Standorte sollen mit einer Buslinie und, wenn möglich, einer museumseigenen Barkasse verbunden werden. Wie wird das Museum für Besucher zu erreichen sein? Laut Ursula Richenberger, Projektleiterin des Deutschen Hafenmuseums, wird der Standort gut angebunden sein: Die neue U4-Station Elbbrücken ist um die Ecke, von dort soll ein Bus zum Museum fahren. Auch ein Barkassen-Shuttle aus der Innenstadt sei denkbar, und wenn die Hadag sich überzeugen lasse, womöglich auch eine Fährverbindung. So solle das Museum auch dazu beitragen, dass Nord- und Südseite der Elbe zusammenwachsen. Wie sieht der weitere Zeitplan aus? Die Stadt plant mit einem Baubeginn im Jahr 2023 und einem Eröffnungstermin rund zwei Jahre später – was deutlich früher wäre als zwischenzeitlich vorhergesagt. Das Museumsschiff Peking soll bereits im kommenden Sommer nach Hamburg zurückkehren und für einige Tage an der Überseebrücke festmachen, um sich den Hamburgern zu zeigen, bevor es für den Innenausbau in den Hansahafen kommt. Wird die Stadt mit dem Budget auskommen? Von den 120 Millionen des Bundes sind noch 85 Millionen übrig. 35 Millionen flossen in die Peking , mehr als geplant. Dass am Ende Geld für das Museum fehlen könnte, glaubt Senator Brosda nicht: "Wir bauen ja kein Konzerthaus auf einem Kakaospeicher." Mit der Bauausführung beauftragt ist die städtische Immobiliengesellschaft Sprinkenhof, die einen Architekturwettbewerb ausschreiben wird. Davor allerdings muss erst das inhaltliche Konzept konkretisiert werden. Ursula Richenberger freut sich auf die Detailarbeit: "Es ist ein Geschenk, dass wir jetzt diesen Standort haben", sagt sie. "Das lange Gerede hat endlich ein Ende." Warum hat das alles so lange gedauert? Vor allem aufgrund der komplizierten Standortsuche. Mehrere Möglichkeiten standen im Raum, alle wurden verworfen: Ein Grundstück an den Landungsbrücken war zu klein, ebenso ein möglicher Standort am Baakenhöft. Auch neben den Musical-Theatern, gegenüber der Landungsbrücken, ging es nicht. Das Museum hätte dort nicht genehmigt werden können: In unmittelbarer Nachbarschaft liegt eine Chemiefirma, ein sogenannter Störfallbetrieb, zu dem ein Sicherheitsabstand eingehalten werden muss. Der Standort des bestehenden Hafenmuseums im Hansahafen schied aus dem gleichen Grund aus. In der Nähe lagern Gefahrgüter. Was erwartet die Besucher, wenn das Museum fertig ist? Das weiß bislang niemand ganz genau. Sicher ist: Das Deutsche Hafenmuseum soll die Geschichte der Globalisierung erzählen und die Frage ergründen, wie sich Städte verändern, wenn sie über einen Hafen mit der Welt verflochten sind. Hamburg wird zwar den meisten Platz einnehmen, aber nicht allen: Auch Exponate aus anderen Häfen sollen ausgestellt werden. Um welche Themen wird es gehen? Laut Hans-Jörg Czech, Vorstand der Stiftung Historische Museen Hamburg, soll es fünf Schwerpunkte geben: Die Geschichte der See- und Binnenhäfen, der Hafen als Knotenpunkt der globalen und regionalen Wirtschaft, technische Innovationen sowie der Wandel der Arbeitswelt im Hafen, Schiffbau in Hamburg und den "Mythos Hafen". Auf jeden Fall solle kein elitäres Museum entstehen, sondern ein lebhafter Raum. Manche Außenbereiche sollen frei zugänglich sein und, wie der Hafen selbst, das ganze Jahr über geöffnet bleiben, 24 Stunden am Tag. Wie sollen die beiden Standorte des Museums zusammenspielen? Laut Richenberger soll der Neubau als "Diskursort" funktionieren, an dem Menschen ins Gespräch kommen über die Zukunft der Gesellschaft und die Verflechtung der Welt – dafür werde es sogar eigene Räume geben. Das bereits bestehende Hamburger Hafenmuseum hingegen, untergebracht im denkmalgeschützten Fünfzigerschuppen aus der Kaiserzeit, solle ein "authentischer Hafenort zum Anfassen" bleiben. Eine Ausstellung auf dem Museumsschiff Peking werde eine bestimmte Episode der Globalisierung erzählen: den Salpeterhandel zwischen Chile und Hamburg.
Félice Gritti
Nach jahrelanger Standortsuche soll das prestigeträchtige Museum am Rand der Hamburger Hafencity entstehen. Ein Überblick über die wichtigsten Fragen und Antworten
[ "Hamburger Hafen", "Schiffahrt", "Hafenmuseum", "Globalisierung", "HafenCity", "Hamburg" ]
hamburg
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2019-09-29T18:13:09+02:00
2019-09-29T18:13:09+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-09/deutsches-hafenmuseum-hamburg-eroeffnung-grasbrook-faq?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Erinnerungskultur : "Auf subtile Weise mit dem NS-Regime kooperiert"
74 Jahre sind seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen. Doch ausgerechnet die Geschichtsvereine haben die Zeit immer noch nicht aufbereitet – dabei kooperierten sie selbst mit dem NS-Regime. Der Historiker Gunnar B. Zimmermann hat erforscht, wie sich der Verein für Hamburgische Geschichte unterm Hakenkreuz verhalten hat. "Bürgerliche Geschichtswelten im Nationalsozialismus" heißt seine über 700 Seiten starke Studie. Hier erzählt er, was er über die Hamburger Historiker und Archivare herausgefunden hat. ZEIT ONLINE: Herr Zimmermann, Sie haben gerade in Hamburg die erste umfassende wissenschaftliche Studie zur NS-Geschichte eines deutschen Geschichtsvereins vorgelegt. Wie kann es sein, dass das über siebzig Jahre gedauert hat? Gunnar B. Zimmermann: Es gibt einige Geschichtsvereine, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben, in Mannheim zum Beispiel, doch der Zeitraum ist mit 90 Jahren viel breiter gefasst. Zu Jubiläen erschienen zwar Veröffentlichungen zur Vereinsgeschichte, die eigene NS-Vergangenheit wurde darin aber wenig bis gar nicht behandelt. Meist hatten die Texte dann einen affirmativen, oder schlimmer noch, apologetischen Charakter. Man muss das verstehen: Vereine sind soziale Gebilde, da läuft die Aufarbeitung anders ab als in Firmen, in denen eine Führungsriege schnell durch eine neue ausgetauscht werden kann. Ich glaube, dass sich erst die heutige Enkelgeneration völlig befreit von Loyalitätsproblemen diese Zeit kritisch anschauen kann. ZEIT ONLINE: Was haben Sie über den Verein für Hamburgische Geschichte herausgefunden? Zimmermann: Dass es nie einen großen Knall, einen echten Skandal gab, er aber auf meist subtile Weise mit dem nationalsozialistischen Regime kooperierte. Ich nenne das eine zunehmende Dienstleistungsmentalität seitens des Vereins. ZEIT ONLINE: Gab es die von Anfang an? Zimmermann: Nein, das verlief in Phasen. Es hing stark damit zusammen, wer der Vorsitzende war. Hans Nirrnheim stand dem Verein von 1912 bis 1937 vor, eine wahnsinnig lange Zeit. Er war stark in der bürgerlichen Kultur der Stadt verhaftetet und hatte Vorbehalte gegenüber den Nationalsozialisten. Es gab zwar einige Jüngere im Verein, die schnell auf Veränderungen drängten und die Ideologie der Nazis in den Verein tragen wollten, aber sie wussten, dass Nirrnheim das nicht mit sich machen ließ. ZEIT ONLINE: Was heißt das konkret? Zimmermann: Der Verein war eigentlich nie antisemitisch gewesen. Prominente Juden wie Aby Warburg, Erwin Panofsky und Ernst Cassierer gehörten zu den Mitgliedern. Als die Nazis an die Macht kamen, stand für den Vorsitzenden Hans Nirrnheim nicht zur Debatte, Juden auszuschließen. Im Gegenteil: Er stellte sich vor zwei Personen, die im Redaktionsausschuss für die Gestaltung des Publikationsprogramms mit verantwortlich waren. Richard Salomon, zu dem Zeitpunkt bereits von seinem Lehrstuhl verdrängter und 1934 schließlich entlassener Geschichtsprofessor an der Universität Hamburg, und Alexander Heskel, der bis 1923 die Behörde für öffentliche Jugendfürsorge geleitet hatte, standen unter seinem Schutz. Das heißt: Während andere Ausschüsse weitergewählt werden konnten, sorgte Nirrnheim dafür, dass sich im Redaktionsausschuss nichts änderte. Heskel erhielt 1934 sogar die Lappenberg-Medaille, die höchste wissenschaftliche Auszeichnung des Vereins. ZEIT ONLINE: Nirrnheim wurde im Frühjahr 1937 durch den jüngeren Kurt Detlev Möller abgelöst. Was veränderte sich? Zimmermann: Die Verbindungen zum Regime wurden enger. Eine der ersten Aktionen von Möller war eine Ausstellung zur Familienkunde. Eigentlich nichts Verwerfliches, aber als Schirmherr firmierte die SA-Gruppe Hansa. So verschoben sich die Grenzen. Im Jahr 1937 wuchs Hamburg: Altona, Harburg-Wilhelmsburg und Wandsbek wurden eingemeindet. Möller griff das Thema in einem Vortragsprogramm auf. Für ihn war das eine gute Chance, dem Regime zu zeigen, dass der Verein gefördert werden soll. Es war ein Zeichen an die Stadtverwaltung: Schaut mal, wir helfen euch, die neuen Stadtteile zu integrieren. ZEIT ONLINE: Was politisch geschah, wurde geschichtlich legitimiert. Zimmermann: Genau. Das beste Beispiel dafür ist das Jahr 1939. In diesem Jahr halfen die leitenden Staatsarchivare, die dem Verein traditionell vorsaßen, mit, den erst mal groß gefeierten Hafengeburtstag historisch zu untermauern. Der Archivdirektor Heinrich Reincke stellte eine Sammlung der wichtigsten Urkunden der Stadtgeschichte zusammen und überreichte sie den Staatsgästen – die demokratischen Verfassungsdokumente aus den Zwanzigerjahren fehlten dabei vollständig. Im selben Jahr bandelt Kurt Detlev Möller auch mit der Hitlerjugend an. ZEIT ONLINE: Wie? Zimmermann: Der Verein feierte 1939 sein hundertstes Jubiläum, sehr opulent, und wurde dafür reichlich beschenkt: 13.000 Reichsmark bekam er vom Regime, eine enorme Summe für die damalige Zeit. Zum Jubiläum gab es einen Senatsempfang, zu dem Möller auch die Hitlerjugend einlud. Einige Tage später bedankte sich ein leitender Funktionär der Hitlerjugend bei Möller und fragte ihn, ob man nicht kooperieren könne. Möller freute sich darüber und ging sofort auf die Frage ein. In einem sogenannten Fahrtenschulungsbrief, den die Hitlerjugend den jungen Menschen an die Hand gab, stand ein Abschnitt zur Stadtgeschichte. Möller las ihn, gab seine Kommentare ab und war ganz begeistert. Wenn man das heute liest, ist das hochgradig problematisch und wissenschaftlich unlauter.
Kilian Trotier
Erstmals liegt eine Studie zur NS-Geschichte eines deutschen Geschichtsvereins vor. Sie zeigt, dass Historiker zu Dienstleistern der Nationalsozialisten wurden.
[ "Zweiter Weltkrieg", "Nationalsozialismus", "Hamburg", "Gunnar B. Zimmermann", "Geschichtsverein" ]
hamburg
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2019-05-08T20:54:42+02:00
2019-05-08T20:54:42+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-05/geschichtsverein-hamburg-ns-zeit-gunnar-zimmermann?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Bürgerschaftswahl in Hamburg: Rot-Grün gewinnt – FDP zittert bis zum Schluss
In Hamburg ist eine neue Bürgerschaft gewählt worden . Laut der vereinfachten Stimmenauszählung der Landeslisten kann die Koalition aus SPD und Grünen unter dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) weiterregieren. Die CDU erreichte ihr schlechtestes Ergebnis in der Hansestadt und liegt nun etwa gleich auf mit der Linkspartei. Die AfD schafft den Wiedereinzug, die FDP muss um den Einzug bangen. Rund 1,3 Millionen Hamburgerinnen und Hamburger waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben . Sie entscheiden über 121 Sitze im Parlament. Alle Analysen und Hintergründe zu der Wahl finden Sie hier auf unserer Themenseite .
Karin Geil
Die SPD kann jubeln und weiterregieren. Die Grünen verdoppeln ihr Ergebnis, die CDU sackt ab. Für die AfD reichte es, die FDP musste bangen. Unser Liveblog zum Nachlesen
[ "Hamburger Bürgerschaft", "Katharina Fegebank", "Bürgerschaftswahl", "SPD", "Bündnis 90/Die Grünen", "FDP", "CDU", "Peter Tschentscher", "Hamburg", "Speicherstadt" ]
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2020-02-24T00:23:56+01:00
2020-02-24T00:23:56+01:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/buergerschaftswahl-hamburg-2020-live?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Islamisches Zentrum Hamburg: Ein Verbot darf nicht die Gläubigen treffen
Seit mehr als 30 Jahren wird die Blaue Moschee an der Alster vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Betreiberverein Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) wurde vor gut doppelt so langer Zeit gegründet. Zuletzt wurden die Vorwürfe immer lauter, dass es sich bei der Moschee nicht nur um eine religiöse Heimat der gut 30.000 Hamburger Schiiten handele, sondern um einen politischen Außenposten des Iran . Die Indizien dafür häuften sich: In einem internen Schriftstück, das von den Hamburger Behörden abgefangen wurde, wird der Leiter des Islamischen Zentrums als Vertreter des Staatschefs Ali Chamenei bezeichnet. Die Blaue Moschee soll antisemitische Proteste und die Aktivitäten der islamistischen Terrorgruppe Hisbollah im Libanon unterstützt sowie das Buch Der Islamische Staat verbreitet haben. Geschrieben wurde es von dem Anführer der Islamischen Revolution, Ruhollah Chomeini, auf Basis dieses ideologischen Konzepts wurde der Iran im Jahr 1979 errichtet. Der Bundesvorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, bezeichnete die Blaue Moschee als "zentrales Spionagenest" des Iran. Politiker quer durchs Parteienspektrum forderten ein Verbot. Dennoch ist die Blaue Moschee nicht nur ein politischer, sondern auch ein religiöser Ort. Das, was Gläubige dort vom Imam zu hören bekommen, ist laut dem Bundesinnenministerium nicht verbotswürdig. In Verlautbarungen treten die Verantwortlichen gemäßigt auf. Die Predigten lassen sich sogar auf dem YouTube-Kanal des Islamischen Zentrums abrufen. Zum Gebet kommen nicht nur Radikale, viele Besucherinnen und Besucher sind konservativ oder moderat. Es ist gut, wenn ein Spionagenest ausgehoben wird. Aber was passiert dann mit der Gemeinde? In Hamburg hängen schiitische Vereine und Moscheen vom Islamischen Zentrum ab, das ist der hohen religiösen Stellung des Leiters des Zentrums geschuldet. Er fungiert als eine Art Bischof in der hierarchischen schiitischen Konfession, die maßgeblich aus dem Iran und dem Irak organisiert wird. Man kann das Islamische Zentrum deshalb nicht verbieten, ohne einen Plan zu entwickeln, wie man die Lücke schließt, die man damit in das religiöse Gefüge und die Glaubenspraxis von 30.000 Menschen reißt. Die Gefahr liegt auf der Hand: Sollte sich bei ihnen der Eindruck verfestigen, ein Verbot des IZH sei ein Angriff auf ihre Religion als Ganzes, dann könnten sich Teile der schiitischen Gemeinde radikalisieren. Die Hamburger Innenbehörde hat sich mit dem Szenario noch nicht auseinandergesetzt, wie Insider aus Behördenkreisen sagen. Das sollte sie aber – eine mögliche Radikalisierung einzelner Schiiten abseits der Blauen Moschee würde nicht vor den Augen der Sicherheitsbehörden ablaufen, sondern verdeckt in Hinterzimmern.
Tom Kroll
Man kann das Islamische Zentrum in Hamburg wegen seiner politischen Nähe zum Iran verbieten. Doch dann braucht es auch einen Plan für die 30.000 Schiiten, die dort beten.
[ "Moschee", "Hamburg", "Schiiten", "Iran", "Verfassungsschutz", "Islamismus", "Islam", "Religion", "Omid Nouripour" ]
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2024-07-24T10:45:21+02:00
2024-07-24T10:45:21+02:00
https://www.zeit.de/2024/32/islamisches-zentrum-hamburg-blaue-moschee-schiiten-religion-iran?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Hartmud Lamprecht: "Dann schweigt man eben im Taxi. Das ist auch ganz nett"
"So gut wie im Taxi kann man sich sonst nie mit Fremden unterhalten – auch über persönliche Sachen", sagt Hartmud Lamprecht, der seit mehr als drei Jahren als Taxifahrer in Hamburg arbeitet und einer der Menschen ist, die bei dem gesellschaftlichen Projekt Die 49 von ZEIT ONLINE mitmachen. Allerdings müsse man bei ihm auch aufpassen, erzählt Lamprecht im Podcast Frisch an die Arbeit . "Ich bin ziemlich redselig." Manche Themen funktionierten besonders gut bei seinen Fahrgästen, erzählt Lamprecht. Über ihre Arbeit würden die allermeisten Gäste etwa sehr gerne sprechen. Was dagegen schieflief: Gespräche über den Zweiten Weltkrieg. Einmal, erzählt Lamprecht, habe sich ein Fahrgast als Nazi und Hitler-Fan zu erkennen gegeben. "Selber schneide ich politische Themen nicht mehr an", sagt Lamprecht. In erster Linie komme es ja auch darauf an, was der Gast sagen wolle: "Dann schweigt man eben im Taxi. Das ist auch ganz nett." Wichtig sei nur, freundlich zu sein. Und: "Wenn man gute Laune hat, bekommt man mehr Trinkgeld." Seine Fahrgäste: von der Domina bis zum Richter An guten Tagen führe er erst ein Gespräch mit einer Domina, die nach ihrer Schicht noch in die Sauna wolle – um direkt danach einen Richter ins Krankenhaus zu bringen, weil der dort über die Fixierung – also eine medizinische Fesselung – eines aggressiven Patienten entscheiden müsse. Ab und zu käme es auch zu gefährlichen Situationen mit – wie Lamprecht es formuliert – "ganz finsteren Gestalten". Er habe auch schon die Polizei rufen müssen, erzählt er im Arbeitspodcast. Grundsätzlich fahre er in Hamburg gerne in die besseren Viertel. "Dahin macht man immer viele Kilometer und hat meistens höfliche Gäste." Vor seiner Zeit als Taxifahrer arbeitete Lamprecht unter anderem als Zeitungsausträger, Billardtrainer und Hausmeister. Es sei ein richtiger Glücksfall gewesen, dass er zum Taxifahren gekommen sei, sagt er. Nach seiner Scheidung habe er finanziell selbstständig werden müssen und ein Bekannter habe ihn geradezu gedrängt, den Taxischein zu machen. Jetzt könne er sich kaum noch einen anderen Beruf vorstellen. "Ich fahre unheimlich gerne Taxi in Hamburg, ich lieb’ das", sagt Lamprecht. Gleichzeitig habe er auch keine wirkliche Wahl: "Ich marschiere auf die Altersarmut zu und werde vermutlich Taxi fahren, bis ich in die Kiste gehe." Frisch an die Arbeit wird jeden zweiten Dienstag veröffentlicht. Sie erreichen uns per Mail an [email protected] .
Daniel Erk
Seit drei Jahren fährt Hartmud Lamprecht Taxi. Im Podcast erzählt der Teilnehmer von Die 49, welche Themen er bei den Fahrten meidet und wie er mehr Trinkgeld bekommt.
[ "Hamburg", "Trinkgeld", "Taxi", "Podcast", "Straßenverkehr", "Arbeitsbedingung", "Arbeitsplatz", "Einkommen", "Kommunikation", "Verkehr" ]
arbeit
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2021-09-28T11:33:47+02:00
2021-09-28T11:33:47+02:00
https://www.zeit.de/arbeit/2021-09/taxifahrer-beruf-hamburg-hartmud-lamprecht-arbeit-podcast?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Die Grünen: Warum die Hamburger Grünen ein Ausländerproblem haben
Die Grünen, schrieb die Journalistin Ferda Ataman einmal, seien eine weiße Partei, die Ausländer mag. Mit der Farbe liegt sie richtig, mit den Ausländern womöglich nicht. Heute geht im Landesverband der Hamburger Grünen ein Konflikt zu Ende, den viele in der Partei als ärgerlich und lästig empfunden haben. Die ehemalige Bundestagskandidatin Meryem Çelikkol und fünf weitere Grüne verlassen die Partei und kommen damit einem Ausschlussverfahren des Landesverbands zuvor. Çelikkol war die Wortführerin jener Minderheit unter den grünen Abgeordneten im Hamburger Bezirk Mitte, die dort nach einem überwältigenden Erfolg bei den Wahlen im Mai von der Mehrheit ihrer Parteifreunde nicht in deren Fraktion aufgenommen worden waren und daraufhin eine eigene Fraktion gegründet hatten. Für die Partei war damit der Ertrag des Wahlsiegs verloren und die Hoffnung dahin, in Zukunft in der bislang sozialdemokratisch dominierten Hamburger Innenstadt und einigen angrenzenden Stadtteilen den Ton anzugeben. Es folgten: öffentliche Schelte, Ausschlussdrohungen, Parteiordnungsverfahren – und nun der Austritt. Ein Einzelfall, könnte man jetzt einwenden, sehr kompliziert und jedenfalls ungeeignet, um Schlüsse auf die politischen Verhältnisse im grünen Landesverband insgesamt zu begründen. Allerdings gibt es da eine statistische Auffälligkeit. Der Anteil der Migranten in der grünen Partei in Hamburg dürfte unter zehn Prozent liegen. Die kleine Minderheit derjenigen, die im Verlauf der letzten zehn Jahren in Ungnade gefallen sind und ausgeschlossen werden sollten, hat dagegen fast durchweg ausländische Vorfahren. Fünf Politikerinnen und Politiker sind es insgesamt. Und sie wären als Ökos mit Migrationshintergrund in dieser wenig beneidenswerten Lage sogar vollständig unter sich, wenn es nicht zwei deutschstämmige Grüne gäbe, die den Umgang ihrer Partei mit Migranten unsäglich finden und nun ebenfalls rausfliegen sollten. Diese Statistik, könnte man vielleicht sagen, ist zumindest erklärungsbedürftig. Für den grünen Landesverband ist die Kapitulation von Çelikkol & Co. das beste Ergebnis, auf das er hoffen konnte. Anstelle eines hässlichen Verfahrens, womöglich durch mehrere Instanzen und mit einem, gelinde gesagt, unsicheren Ausgang, tritt nun ein Rückzug, der sich in der Öffentlichkeit als ein Schuldeingeständnis verkaufen lässt. Von den ursprünglichen Vorwürfen gegen die Abtrünnigen war zuletzt kaum noch etwas übrig. Wer wissen will, warum die Hamburger Grünen ein Ausländerproblem haben, der muss sich die Details dieser Auseinandersetzung ansehen. Zwei angebliche Islamisten gab es in der Partei – das war der Ausgangspunkt des Konflikts. Einer der beiden hatte sich angeblich in einer öffentlichen Versammlung islamistisch geäußert. Der Vorwurf sei sorgfältig geprüft worden, so hatte es die Hamburger Landesvorsitzende Anna Galina den Medien mitgeteilt, und, ja, es gebe da leider "begründete Zweifel", ob sich dieser junge Mann "in vollem Umfang zum Grundgesetz und unseren Grundwerten bekennen" würde. In der Anklageschrift, mit der die Grünen den Parteiausschluss des Beschuldigten begründeten, tauchte dieser Vorwurf allerdings nicht mehr auf. Ausgeschlossen werden sollte er dennoch. Ihm wurde nun vorgeworfen, dass er sich gegen die öffentliche Vorverurteilung durch den eigenen Parteivorstand zur Wehr gesetzt hatte. Den zweiten der angeblichen Islamisten haben die Grünen einer Gesinnungsüberprüfung unterzogen, die in ihrer Akribie an die Berufsverbotsverfahren der Siebzigerjahre erinnert. Ergebnis: Der Mann hatte Jahre zuvor für einige Hilfsprojekte in armen Ländern gespendet und dabei einer Hilfsorganisation vertraut, die nach Ansicht des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen islamistisch geprägt ist. Außerdem stießen die Ermittler der Partei im Facebook-Account des Beschuldigten auf eine vier Jahre alte Abbildung der damaligen US-Präsidentengattin Michelle Obama und den Spruch: "Mein Mann hat mehr Menschen umgebracht als Boko Haram es je könnte." Der junge Mann hatte diese Collage nicht etwa produziert, er hatte sie nur zustimmend kommentiert. Man könnte in der Abbildung eine polemische Auseinandersetzung mit der Frage sehen, ob der Drohnenkrieg der USA gemessen an seinen Erfolgen verhältnismäßig und damit völkerrechtlich vertretbar sei. Wer es gut mit dem Beschuldigten meint, der könnte ihm außerdem zugestehen, dass es möglicherweise nicht leicht ist, die Kollateralschäden dieses Kriegs so gelassen zu ertragen wie die Mehrheit der Deutschen, wenn man selbst afghanische Vorfahren und Angehörige hat. Die grünen Ankläger machten aus der Collage etwas anderes: Der junge Mann, schlussfolgerten sie, habe mit seinem Internetkommentar die Schrecken der afrikanischen Terrorgruppe Boko Haram verharmlost und müsse darum die Partei verlassen. Zur besseren Einordnung dieser Kritik hilft es vielleicht, sich vorzustellen, bei der Gründung der Grünen hätten all die K-Grüppler und Altautonomen, Leute wie Jürgen Trittin, Joschka Fischer und Winfried Kretschmann, einander mit ähnlicher Pedanterie vier Jahre alte Meinungsäußerungen vorgehalten. Kaum anzunehmen, dass es die Grünen dann gäbe. Meryem Çelikkol allerdings hat sich auch aus Sicht der Parteijuristen keinerlei Gesinnungsdelikt vorzuwerfen. Sie sollte die Partei nur aus zwei Gründen verlassen: Weil sie in deutlichen Worten das Vorgehen des Landesvorstands kritisiert hatte. Und weil sie gemeinsam mit den beiden Verfemten und drei weiteren ihrer Parteifreunde im Bezirk Hamburg-Mitte eine eigene Fraktion gegründet hatte. Ist das ein Ausschlussgrund? "Die Gründung einer zweiten Fraktion ist für die Grünen politisch verheerend, aber sie ist keine Rechtfertigung für einen Ausschluss" – so sieht es der Hamburger Parteijurist Ernst Medecke, der bis vor Kurzem das Schiedsgericht der Grünen leitete. Möglicherweise wären seine Nachfolger zu einem anderen Ergebnis gekommen. Allerdings hätten sie wohl berücksichtigen müssen, dass das angebliche oder wirkliche Unrecht der Fraktionsgründung für Meryem Çelikkol und ihre Mitstreiter wohl nicht ohne Weiteres erkennbar war, wenn selbst ein namhafter grüner Parteirechtler wie Medecke daran nichts Falsches finden kann. In der Sache ist Medeckes Argumentation zumindest auf den ersten Blick plausibel. Gewählte Politiker der grünen Partei sind es ihren Wählern schuldig, grüne Politik zu machen – dafür sind sie gewählt worden. Wenn die Fraktion ihrer eigenen Partei sie nicht aufnimmt, sind sie dann zu Fraktions- und Bedeutungslosigkeit verpflichtet? Bleibt die Frage, warum die sechs Dissidenten nicht darauf bestehen, den Konflikt mit ihrem Parteivorstand vor dem Parteigericht und später zur Not vor einem ordentlichen Gericht zu klären. Die Antwort ist deprimierend. Wer nach jahrelanger politischer Arbeit seine Partei verlässt, verliert einen Teil seines Freundes- und Bekanntenkreises und tauscht ihn ein gegen ein Kollektiv gut organisierter Gegner. Das ist für niemanden gesund – und Meryem Çelikkol und ihre Mitstreiter haben das eingesehen.
Frank Drieschner
Die Grünen, schrieb die Journalistin Ferda Ataman einmal, seien eine weiße Partei, die Ausländer mag. Mit der Farbe liegt sie richtig, mit den Ausländern womöglich nicht.
[ "Ferda Ataman", "Kay Dassow", "Meryem Celikkol", "Christian Charisius", "Meryem Çelikkol", "Hamburg", "Bündnis 90/Die Grünen", "Boko Haram", "Parteiausschluss", "Konflikt" ]
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2019-10-01T21:14:21+02:00
2019-10-01T21:14:21+02:00
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"Tina – Das Tina Turner Musical": Simply the Best
Gut möglich, dass dieser Abend der größte Triumph ihres Lebens ist. Rio de Janeiro, 16. Januar 1988, gleich wird Tina Turner im Estádio do Maracanã vor 188.000 Menschen auftreten, man kann die Massen schon jubeln hören. Es ist der Gipfel ihrer Karriere; von dem Moment, in dem sie diesen Gipfel erklimmen wird, trennen sie nur noch eine kleine Meditation – und ungefähr zwei Stunden Musical auf der Bühne des Hamburger Operettenhauses, wo die Stätte des Triumphs jetzt nachgebaut ist. Denn natürlich gibt es keinen besseren Einstieg für eine Bühnenshow über das Leben von Tina Turner als diesen Moment kurz vor dem größtmöglichen Triumph. Weil dann der Triumph selbst das Finale sein kann. Weshalb die Chancen gut stehen, dass sich die Euphorie der Zuschauer aus dem Estádio de Maracanã wie von selbst auf das Musicalpublikum im Hamburger Operettenhaus überträgt. Diesen Satz muss man kurz einsickern lassen, weil darin doch sehr viele Gefühle auf einmal liegen, triumphale wie ernüchternde: Es gibt Tina Turners Leben jetzt als Musical. Was es über ein Leben aussagt, dass es sich so gut als Musicalstoff eignet, ist eine ganz eigene Frage. Die Antwort lautet: nicht allzu viel Erfreuliches. Denn es braucht dazu besonders hohe Höhen und tiefe Tiefen, die einen wie die anderen nur bedingt vorhersehbar. Aber es ist, wie es ist. Seit der Deutschlandpremiere an diesem Sonntag jedenfalls ist Tina Turners Leben achtmal die Woche im Operettenhaus am östlichen Ende der Reeperbahn zu sehen: Tina, das Musical. Mit allen Tiefen und allen Triumphen, es gab schließlich von beidem reichlich. Auch daran liegt es, dass dieser Abend das Zeug hat, ein Triumph zu werden. Aber nicht nur. Zuvorderst liegt das an Kristina Love. Sie ist es, die schon bei der Vorpremiere Tina Turner so überzeugend singt und spielt, dass man sich fragt, warum Love nicht längst selbst berühmt ist. Sie spielt alle Kollegen an die Wand, was gar nicht so sehr ins Gewicht fällt, da der Abend sowieso ganz und gar um sie herum gebaut ist. Die Geschichte handelt davon, wie Tina vom R'n'B-Star Ike Turner entdeckt, geheiratet und misshandelt wird, so lange, bis sie in ein eigenes Leben und eine eigene Karriere entkommt. What's Love Got to Do With It? Erzählt wird diese Geschichte in Schlaglichtern. Tina, wie sie noch gar nicht Tina Turner heißt, sondern Anna Mae Bullock, geboren in Nutbush, Tennessee, wo sie im Gottesdienst so laut singt, dass ihre Mutter ihr danach mit einer Tracht Prügel droht. Tina, wie sie im Nachtclub in St. Louis zu Ike Turner auf die Bühne kommt und ihn so beeindruckt, dass er mit seiner pinken Limousine am nächsten Tag beim Haus ihrer Mutter vorfährt und diese bittet, Tina mit ihm auf Tournee gehen zu lassen, für 25 Dollar pro Abend. Tina, wie sie im Studio kurzerhand für den ausgefallenen Leadsänger Art Lassiter einspringt und von ihrem Mann den Künstlernamen Tina Turner bekommt. Tina, wie sie sich aus den Fängen ihres Mannes befreit und mit 36 Cent in der Tasche in ihr neues Leben aufbricht. Tina, wie sie im Studio von Capitol Records die Stirn in Falten legt über das Demo von What's Love Got to Do With It, was, das soll Rock'n'Roll sein? Mal liegen nur Sekunden zwischen den Ereignissen, mal eine ganze Kindheit, neun Monate einer Schwangerschaft oder zehn Jahre Eheunglück. Das geht nicht ganz ohne Schnittfehler, man wüsste schon gern, warum die Tochter eines baptistischen Priesters auf einmal Buddhistin ist, oder wie der kostspielige Gerichtsstreit mit ihrem Ex-Mann um die Namensrechte an Tina Turner beigelegt wird, aber natürlich: Wenn ein Leben in zwei Stunden passen muss, dann ist nur Platz für die wirklich wichtigen Ereignisse. In Minute 25 kommt es zum ersten Duett mit Ike. In Minute 76 verpasst sie ihm einen Tritt in die Eier, so heftig, dass das Publikum auf den Rängen applaudiert. Und natürlich ist das Timing recht glücklich. Passend zum 80. Geburtstag seiner Hauptfigur erzählt es zwei Geschichten auf einmal: das Leben einer Sängerin mit dunkler Hautfarbe, die sich mit Songs aus der Feder von schwarzen Künstlern bei weißen Produzenten durchsetzen muss, um sich anschließend mit deren Songs wieder bei den schwarzen Fans zu behaupten, bevor sie schließlich, wie man so schön sagt, die Welt erobert. Es ist die Geschichte einer Frau, die sich ihr ganzes Leben lang gegen Männer behaupten muss, die sie misshandeln, bevormunden und beiseite schieben. Es ist auch eine Geschichte über eine starke Frau und sich stark wähnende männliche Schwächlinge, im Mantel einer Geschichte über Rassismus, erzählt anhand des Lebens einer der größten lebenden Popstars – punktgenauer kann man einen Musicalstoff nicht landen. Jede Szene findet vor einer sehr liebevoll gestalteten Stellwand statt. Irgendwann verliert man den Überblick darüber, wie viele Hausfassaden, Küchenzeilen, Stage Doors, Tonstudiokabinen, PanAm-Abflugschalter es sind, die von links auf die Bühne geschoben werden, jede einzelne viel feiner geschnitzt als die Dialoge, die vor ihnen aufgeführt werden. Aber das macht nichts, die Botschaft kommt auch so über die Rampe: Glaub' an dich, hör' auf die richtigen Leute – und lern', die richtigen von den falschen zu unterscheiden. Diese Botschaft ist aber beinahe das einzige bisschen Kitsch. "Wir woll'n keine neuen Helden" Denn Tina ist kein Bombastmusical. Es gibt fast keine aufwendig choreografierten Massenszenen, auch keine naturalistischen Breitwandbühnenbilder, stattdessen: ein paar ausgesuchte Requisiten. Ein paar Projektionen auf die Bühnenrückwand. Und eine virtuos verwendete Dreh- und Klappbühne, die vor allem mit der Fantasie der Zuschauer spielt. Und das ist nicht nur optisch, sondern auch dramaturgisch die richtige Entscheidung, es geht hier ja um das Leben einer realen Person. Es ist ein Abend, der unterhält und anrührt, ohne in Musicalkitsch zu versinken. Eine gut erzählte Geschichte, die so nah es irgend geht an der Wirklichkeit bleibt. Und es ist ein Musical, das mit fast allen Musicalklischees bricht. Nur mit einem nicht: den deutsch übersetzten Songtexten. "Lass uns zwei eins sein / mit Glück und Leid / für alle Zeit" Oder: "Oh komm endlich her /gib mir alles und noch mehr" Oder: "Was ist schon dabei / nimm mein Herz und lass es frei" Oder, zur Melodie von Private Dancer: "Ich werd' weitertanzen, ich tanze mein Leben, so hart mich das Schicksal auch schlägt, ich werd weitertanzen, und dir alles geben, so lang diese Scheibe sich dreht". Das ist die einzige echte Schwäche, die der Abend hat: dass er sich eben doch nicht auf die Kraft und den Charakter der Songs von Tina Turner verlässt, sondern daneben auch sehr gern noch Musical sein will, mit ein paar extra-gefühligen Zeilen und Melodien, die neben den Tina-Turner-Riesenhits nicht gerade gut aussehen. Und dass die Soul-Röhren, die für diesen Abend gecastet wurden, zwischendurch auch immer noch ein paar Takte singen müssen, die auch wirklich nach Musicalnummer klingen – das läuft dann meistens nicht so reibungslos. Sicher gibt es gute Argumente dafür, We don’t need another hero zu übersetzen mit "Wir woll'n keine neuen Helden", allen voran die Verständlichkeit. Aber in einem Saal, der gefüllt ist mit Leuten, die mit dem Inhalt und dem Sound der Originalsongtexte seit Jahrzehnten vertraut sind und vereinzelt jede Zeile auswendig mitsingen könnten, ließe sich das Verständlichkeitsproblem vielleicht auch mit einer guten Übertitelungsanlage lösen. So macht dieser kleine Schönheitsfehler nur die wahren Kräfteverhältnisse deutlich: Es sind die Songs und die Überlebensgröße von Tina Turner, die dem Abend zum Erfolg verhelfen und nicht etwa umgekehrt dem Musical über Tina Turner zu Unsterblichkeit. Das hat sie allein geschafft. Und genau das ist die Geschichte, die der Abend erzählt. Am Ende erklimmt Kristina Love im Tina-Turner-Kostüm dann natürlich, wie anfangs versprochen, den Gipfel ihrer Karriere, tritt vor das Publikum und singt – zum Glück dann doch auf Englisch – Simply the Best. Zu den Banddarstellern auf der Bühne gesellt sich die echte Band, und der Abend mündet nahtlos in das eine, große, ultimative Tina-Turner-Konzert, das jede einzelne der bis dahin vergangenen Minuten versprochen hat. Und die Rechnung geht auf. Die Euphorie kann einst in Rio de Janeiro auch nicht größer gewesen sein. Und bei aller Wucht und Lebensfreude vergisst man sofort, dass es sich ja doch nur um eine Cover-Band handelt. Dies ist ein Artikel aus dem Hamburg-Ressort der ZEIT. Hier finden Sie weitere News aus und über Hamburg .
Florian Zinnecker
Ein Leben, dem nicht einmal ein Musical etwas anhaben kann: In Hamburg feierte "Tina" im Operettenhaus Premiere.
[ "Tina Turner", "Anna Mae Bullock", "Ike Turner", "Hamburg", "Rio de Janeiro", "Nutbush", "Estádio do Maracanã", "Operettenhaus", "Musical" ]
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2019-03-03T20:29:31+01:00
2019-03-03T20:29:31+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-03/tina-turner-musical-stage-operettenhaus-hamburg-rezension?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Herrenschneidermeister: Auf Kante genäht
Die Nadel taucht ein. Verschwindet unter der Stoffoberfläche. Mit einem sanften Geräusch folgt der Faden, wird sofort wieder emporgezogen. So geht es auf und ab, erzeugen Nadel und Faden eine Naht. Bis die Hand einen Knoten zieht und den sanften Ritt mit einem energischen Reißen am Faden beendet. Sandro Dühnforth hat das Brustteil eines Sakkos fertig. Er streicht darüber, prüft Lauf und Fall des Stoffes, nickt zufrieden. Es ist ein langer Weg bis zu diesen besonderen Momenten, in denen die Teile eines von Hand gearbeiteten Anzugs zum ersten Mal ihren Charakter zeigen. Wenn sich offenbart, ob ein Muster im Stoff, das sich über Kragen, Patten und Taschen zieht, läuft, ohne zu stolpern. Oder ob das Revers gut fällt. "Die Arbeit von Hand kann nie völlig ebenmäßig sein", sagt Dühnforth. Man trage das fertige Kleidungsstück bei so vielen unterschiedlichen Tätigkeiten und in verschiedenen Positionen, aber nicht bei jeder liege es vollkommen perfekt am Körper. Darum beschreibt der 42-Jährige sein Handwerk als ständiges Streben nach Perfektion. Als Kind war Dühnforth von den Filmkostümen aus Bram Stoker's Dracula inspiriert. Und schon seine Mutter war Schneiderin. Also begann er eine Lehre zum Herrenschneider im Kloster Frauenberg zu Fulda. Nach seiner dreijährigen Ausbildung arbeitete er vier Jahre als Schneider im Schauspielhaus Hamburg. Dann machte er seinen Meister und eröffnete im Künstlerhaus in der Koppel 66 in St. Georg sein eigenes Atelier. Die großen Regale sind gefüllt mit Büchern, die statt Seiten Stoffproben enthalten. Tweed und Leinen, Wolle und Seide, Baumwolle und Viskose und sogar Vikunja, gewebt aus dem Haar des gleichnamigen Lamas aus Südamerika, der mit rund 5.000 Euro pro Meter gehandelt wird. Zwischen 60 und 70 Anzüge schneidert Dühnforth im Jahr, an einem sitzt er etwa 80 Arbeitsstunden. Ein Maßanzug wird fast ausschließlich mit der Hand gefertigt – das gilt auch für das Bedienen der Nähmaschine, im Fall von Sandro Dühnforth eine 90 Jahre alte Maschine von Pfaff, die mit dem Fußpedal angetrieben wird. Maßschneiderei ist an die 1.000 Jahre alt. 1152 formierten sich Hamburger Herrenschneider erstmalig zu einer Zunft, von hier verbreitete sich das Handwerk im gesamten deutschsprachigen Raum. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts arbeiteten die Herrenschneider das Anzugmodell in seiner prägenden Form heraus, das sich deutlich von den prunkvollen Gewändern des Adels absetzte. Der maßgeschneiderte Anzug gilt bis heute als eine der hochwertigsten und individuellsten Varianten des Kleidungsstücks. "Denken Sie an Fred Astaire, Frank Sinatra oder Figuren wie James Bond. Sie wären in ihrer Wirkung ohne Maßbekleidung undenkbar geblieben", sagt Sandro Dühnforth. Der Begriff Maßschneiderei sei in den letzten Jahren zunehmend verwässert, sagt er. Da er nicht geschützt ist, können Maßkonfektionäre den Begriff verwenden. Doch mit einfacher Näherei und erst recht Maßkonfektion habe der Beruf wenig zu tun, sagt Dühnforth "In den Innenstädten sieht man häufig Angebote wie "Maßanzug unter 500 Euro!" oder "Maßgeschneidert nach Ihren Wünschen!". Doch ein Maßkonfektionär könne nur die Längen anpassen, die Weiten, die Farben der Knopflöcher und des Innenfutters. Die Anzüge würden maschinell hergestellt, häufig mit Materialien minderer Qualität und unter schlechten Arbeitsbedingungen.
Michel Ruge
Sandro Dühnforth ist einer der rund 100 letzten Herrenschneidermeister in Deutschland. Ein Besuch in seinem Hamburger Atelier
[ "Handwerk", "Mode", "Arbeitsbedingung", "Arbeitsplatz", "Lehre", "Ausbildung", "Alexander Andrew", "Sandro Dühnforth", "Bram Stoker", "Hamburg" ]
hamburg
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2021-08-02T20:02:51+02:00
2021-08-02T20:02:51+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-07/herrenschneidermeister-handwerk-hamburg-sandro-duehnforth-atelier-unesco?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Reiserückkehrer in Hamburg: Bis hierher und nicht weiter
Zwei Tage nach Inkrafttreten der neuen Einreiseregeln zeigt sich: Sie leisten nicht, was sie sollen. Denn anders als zunächst angenommen werden nun nicht mehr, sondern weit weniger Reiserückkehrer kontrolliert als zuvor. Diese Einschätzung kommt direkt von der Hamburger Sozialbehörde. Die Reaktion auf eine anlaufende Viruswelle, die nach Einschätzung der Behörden vor allem von Reiserückkehrern verursacht und verstärkt wird, ist also: weniger statt mehr Kontrolle. Das klingt erst einmal unlogisch, da ab jetzt neben Flugzeugpassagieren auch Autofahrer und Bahnreisende amtlich erfasst werden sollen. Allein: Bis zum Inkrafttreten der neuen Einreiseregeln gab es 125 Länder, mit deren Rückreisenden sich die Hamburger Gesundheitsämter beschäftigen mussten. Seit Sonntag sind es nur noch 61. Von der Liste gefallen sind etwa Dänemark, Kroatien oder die Türkei – alles Länder, die schon seit Wochen regelmäßig im Corona-Briefing des Senats auftauchen. Bei 108 der 561 in Hamburg registrierten Neuinfektionen war ein Infektionsort im Ausland registriert: 38-mal in Spanien, 21-mal in der Türkei, außerdem in Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien und den Niederlanden. Seit Sonntag werden nur noch Spanien- und Niederlande-Rückkehrer überwacht. Beide Länder sind "Hochrisikogebiete", Rückreisende müssen sich dort vor dem Grenzübertritt online anmelden – genau wie bei Virusvariantengebieten. Die Kategorie "einfaches Risikoland", zu dem die anderen in Hamburg häufig gelisteten Infektionsorte gehörten, ist ersatzlos gestrichen. Stattdessen gilt eine sogenannte "Nachweispflicht". Wer jetzt die Grenze überqueren will, muss nachweisen, vollständig geimpft, genesen oder unter zwölf Jahre alt zu sein – oder einen negativen Test mitführen. Das heißt: Niemand erfährt von der Einreise und niemand überprüft das Testergebnis – sofern der Reisende nicht zufällig in eine Stichprobenkontrolle der Bundespolizei gerät. Die Hamburger Sozialbehörde fühlt sich hier jedenfalls nicht zuständig. Dies wäre ein guter Zeitpunkt, um das Verordnungswesen rund um Corona einmal ganz grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Denn die Reiserückkehrerverordnung gleicht vielen vor ihr: Sie wurde als Vereinfachung angekündigt, tatsächlich aber braucht es mehrere Anläufe und sehr konzentriertes Lesen, um den Verordnungstext und die Seiten der Behörden überhaupt zu verstehen. Staksige verschachtelte Sätze in einer Sprache, die im Alltag niemand spricht, und vor allem ein solcher Wust von Wenn-Dann-Regeln, dass es gleich wieder passend zur Verordnung ein neues Hilfediagramm geben muss . Dass etwas, dessen Nichteinhalten mit Ordnungsgeldern von bis zu 25.000 Euro geahndet werden kann, so schwer verständlich ist, könnte man als Nichtjurist für Anstiftung zu einer Ordnungswidrigkeit halten. In der Pandemie führt es neben Ärger beim Bürger auch dazu, dass die Verordnung sich selbst unwirksam macht: Wer nicht versteht, was er machen soll, der macht es falsch – und verteilt im Zweifelsfall seine Viren auf seine Mitmenschen. Ein anderer Aspekt ist der bürokratische Aufwand, den solche Regelwerke den Behörden abverlangen – und die Kosten, die sie damit der Allgemeinheit verursachen. Die Zahlen der Hamburger Behörde zeigen das, die Reiserückkehrregeln beschäftigen einen ganzen Apparat, die sogenannte Zentrale Unterstützung Kontaktnachverfolgung (ZUK) in Wandsbek: Zurzeit gibt es dort 183 Mitarbeiter, sie telefonierten allein in der Woche vor der Änderung der Reiseregeln 26.700 digital gemeldete Einreisende aus Risikogebieten ab. Das waren viele Telefonate, aber noch lange nicht genug – nur etwas über 40 Prozent der tatsächlich gemeldeten Fälle konnten sie so bewältigen. Jetzt müssen die ZUK-Mitarbeiter nur noch die Reisenden aus 65 Ländern abtelefonieren. Da es darunter bis auf Spanien, Portugal und die Niederlande keine Autofahrerziele gibt, ist das immer noch sportlich, bis zu 30.000 Anrufe könnten in der aktuellen Woche auf sie zukommen. Und mit welchem Sinn die ganze Mühe an der Belastungsgrenze? Um zu versuchen, Leute telefonisch dazu aufzufordern, sich wirklich an die vorgeschriebenen Quarantäne-Zeiten zu halten.
Nike Heinen
Mit den Reiserückkehrerregeln werden nicht mehr, sondern weniger Reisende kontrolliert, schätzt die Hamburger Sozialbehörde. Das sorgt für Chaos, nicht für Sicherheit.
[ "Corona", "Reisen", "Corona-Maßnahmen", "Pandemie", "Neuinfektion", "Delta-Variante" ]
hamburg
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2021-08-03T20:09:51+02:00
2021-08-03T20:09:51+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-08/reiserueckkehrer-hamburg-sozialbehoerde-kontrollen-corona?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Schulbeginn : Die fetten Jahre sind wieder da
Es gibt ein sicheres Zeichen dafür, dass sich die Hamburger Sommerferien dem Ende zuneigen: Kurz zuvor lädt Schulsenator Ties Rabe (SPD) ein paar Journalisten ins Rathaus, um die Stadt mit Erfolgsmeldungen auf das kommende Schuljahr einzustimmen – so wie auch in diesem Jahr. Und auf den ersten Blick klangen die Zahlen, die Rabe am Dienstag zu verkünden hatte, tatsächlich erfreulich, wenn auch kaum überraschend: Es gibt immer mehr Schülerinnen und Schüler in der Stadt, mehr als 200.000 werden es zu Beginn des neuen Schuljahres sein, so viele waren es zuletzt während der Babyboomer-Jahre in den Siebzigern. Allein die Zahl der neuen Erstklässler ist um 5,3 Prozent auf 15.440 gestiegen. Und fast ebenso viele Kinder – 14.360 – wurden für die fünften Klassen angemeldet. "Die Schulen wirken nur so groß" "Das sind gewaltige Zahlen", sagte Rabe. Und sie stehen für einen Trend, der sich bereits seit einiger Zeit abzeichnet. In Hamburg, der wachsenden Stadt, werden immer mehr Kinder geboren, die schon jetzt oder in wenigen Jahren in die Schulen drängen. Und dort wird es eng. Um Platz zu schaffen, will die Stadt daher neue Schulen bauen oder bestehende erweitern. Bis 2030 rechnet Hamburg mit 25 Prozent mehr Schülerinnen und Schülern, 39 weitere Schulen sollen bis dahin in allen sieben Bezirken gebaut, insgesamt vier Milliarden Euro in den Schulbau investiert werden. So steht es im Entwurf für einen neuen Schulentwicklungsplan geschrieben, den die Behörde im Mai vorgelegt hat – nach langem Drängen der Opposition, die einen solchen Plan seit Jahren immer wieder eingefordert hatte. Denn der alte Schulentwicklungsplan stammt noch aus dem Jahr 2012, angesichts rasant steigender Geburtenraten galt er als längst überholt. Allerdings regt sich auch an dem neuen Schulentwicklungsplan Kritik, eben weil er viel zu spät vorgelegt worden sei, wie Birgit Stöver, schulpolitische Sprecherin der CDU-Bürgerschaftsfraktion, anmerkt. Eine echte Diskussion darüber sei in den letzten Wochen außerdem kaum möglich gewesen, weil die Schulbehörde die Beratungstermine einfach in die Sommerferien gelegt habe. Auch die Bedarfsprognosen, immerhin die Basis aller Bauvorhaben, hinkten dem tatsächlichen Schülerwachstum inzwischen längst hinterher. Eigentlich müssten deutlich mehr Schulen gebaut werden. Doch Grund und Boden in Hamburg sind knapp, und so wird nicht nur neu gebaut. Rund ein Drittel der Hamburger Schulen sollen erweitert werden, betroffen ist zum Beispiel die Max-Brauer-Grundschule in Altona, gelegen im Westen der Stadt. Sie soll sechs, statt wie bisher drei Klassenzüge bekommen und wäre mit fast 2000 Schülern die größte Schule der Stadt. Doch auch diese Erweiterungspläne bergen ein enormes Empörungspotenzial. Seit Monaten laufen die Eltern in Altona Sturm gegen die Pläne der Stadt, sie sprechen von "Käfighaltung" und glauben, dass eine große Schule insbesondere kleinen Kindern schadet – warum, hat eine Elternvertreterin der ZEIT erzählt. Hörte man dem Schulsenator zu, konnte man allerdings den Eindruck bekommen, dass dieser Konflikt längst befriedet ist. Oder zumindest irgendwie egal. Denn inzwischen gebe es gerade in Altona "ebenso viele, wenn nicht noch mehr" Eltern, denen größere Schulen viel lieber als Neubauten wären, sagte Rabe. Davon abgesehen unterlägen die Kritikerinnen und Kritiker einem Missverständnis: An einigen Schulen werde es zwar deutlich mehr, aber nicht größere Klassen als bisher. "Diese Schulen wirken nur groß, sind es aber gar nicht." Dass die Kritik der Eltern sich auch auf die Größe der Gebäude bezog, erwähnte er nicht. Stattdessen verwies der Senator darauf, dass die Stadt mehr Pädagoginnen und Pädagogen in den Schulen arbeiten lassen wird. 880 neue Lehrkräfte wurden bis zum 1. August dieses Jahres eingestellt, 2018 waren es insgesamt 894, im Jahr davor 869. 333 neue Lehrstellen würden geschaffen, davon sei die Hälfte dem erhöhten Bedarf geschuldet. Die andere Hälfte soll qualitativen Verbesserungen in den Schulen dienen – zum Beispiel für Inklusionsbedarfe und den Unterricht in Flüchtlingsklassen. Stadtteilschulen werden beliebter Ein weiterer Trend im Schulwesen setzte sich fort: Die Stadtteilschulen werden immer beliebter. Sie lagen mit 49 Prozent in der diesjährigen Anmelderunde für die weiterführenden Schulen fast gleichauf mit den Gymnasien, wo 51 Prozent aller Anmeldungen eingingen. Für Rabe ein Indiz dafür, dass die "Geburtswehen" der Stadtteilschulen überstanden seien. Hätten diese anfangs noch unter einem "schlechten Image" gelitten, so hätten nun die meisten Hamburger begriffen, dass es sich um eine "ganz tolle Schulform" handle. Hilfe für einkommensschwache Familien Familien, die eine soziale Stütze wie Wohngeld, Sozialhilfe oder einen Kinderzuschlag bekommen, werden in Zukunft mit 150 Euro von der Schulbehörde für den Kauf von Schulbedarf unterstützt, auch der Zuschuss für den Besuch von Sportvereinen oder Musikschulen erhöht sich pro Kind auf 15 Euro monatlich. Entlastung schaffen soll außerdem die Ferienbetreuung an staatlichen Schulen, seit dem Schuljahr 2016/2017 sechs Wochen lang kostenlos. Hier stieg die Nachfrage gewaltig: Nutzten vor zwei Jahren noch 3.800 Kinder das Angebot, waren es im abgelaufenen Schuljahr 8.300. Die Debatte darum, wie Hamburg mit den steigenden Schülerzahlen umgeht, wird sich indes mit großer Wahrscheinlich auch durch das kommende Schuljahr ziehen – der neue Schulentwicklungsplan soll noch vor den Herbstferien in der Bürgerschaft diskutiert und verabschiedet werden.
Annika Lasarzik
In Hamburg gibt es so viele Schülerinnen und Schüler wie lange nicht, der Bildungssenator wartet mit Erfolgszahlen auf. Trotzdem muss die Stadt ihre Hausaufgaben machen.
[ "Ties Rabe", "Hamburg", "Altona", "SPD", "Rekordhoch", "Schuljahresbeginn", "Erfolgszahl" ]
hamburg
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2019-08-06T21:00:06+02:00
2019-08-06T21:00:06+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-08/schulbeginn-hamburg-ties-rabe?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Amoklauf in Hamburg: Vertraute warnten Sportschützenverein offenbar vor Amoktäter
Hätte der Amoklauf von Hamburg verhindert werden können? Diese Frage soll am Donnerstag im Innenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft erneut erörtert werden. Neue Erkenntnisse werfen vor der Sitzung nicht nur ein schlechtes Licht auf die Hamburger Waffenbehörde, die Philipp F. nur wenige Wochen vor der Tat überprüft hatte, sondern möglicherweise auch auf den Sportschützenverein Hanseatic Gun Club in der Hamburger Innenstadt, in dem der Amokschütze bereits seit Oktober 2021 Mitglied war. Der 35 Jahre alte Philipp F. war am 9. März mit einer halbautomatischen Pistole in den Königreichssaal der Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf eingedrungen, hatte mit 135 abgefeuerten Kugeln sieben Menschen und danach sich selbst getötet. F. war zuvor Mitglied bei der Gemeinde gewesen. Nach Informationen der ZEIT liegen Polizei und Generalstaatsanwaltschaft konkrete Hinweise vor, nach denen womöglich auch der Hanseatic Gun Club frühzeitig vor F. gewarnt worden war. Wie es aus Ermittlungskreisen heißt, sollen sich Vertraute des späteren Amokschützen nach eigenen Angaben zuerst an den Sportschützenverein gewendet haben. Sie gaben dort offenbar an, dass Philipp F. psychisch krank und zunehmend aggressiv gewesen sei. Die dortigen Mitarbeiter hätten sie jedoch an die Waffenbehörde bei der Polizei verwiesen. Dort ging am 24. Januar 2023 ein anonymes Hinweisschreiben ein, das ebenfalls aus dem nahen persönlichen Umfeld des späteren Amokschützen gekommen sein soll. Der Hanseatic Gun Club lehnte gegenüber der ZEIT eine Stellungnahme dazu ab. Zuvor hatte auch die Leitung des Clubs mehrere Gesprächsanfragen der ZEIT abgelehnt. Mitarbeitende und Leitung des Sportschützenvereins sind aber bereits von der Polizei vernommen worden. Am Donnerstagabend zitierte das Nachrichtenportal "t-online" einen Sprecher des "Hanseatic Gun Club" mit der Aussage, nach einem entsprechenden Anruf des Bruders von Philipp F. sei sofort die Hamburger Waffenbehörde informiert worden. In Ermittlungskreisen wird betont, dass eine abschließende Bewertung der Erkenntnisse noch ausstehe. Ein Polizeisprecher wollte sich auf Anfrage mit Blick auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern. Bislang gibt es kein förmliches Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder oder die Leitung des Gun Club. Eine Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft teilte auf Anfrage der ZEIT mit: "Derzeit sind zum Gegenstand der hiesigen Vorermittlungen keinerlei Auskünfte möglich." Die Frage, ob es einen Hinweis an den Sportschützenverein gab und wie der Gun Club gegebenenfalls damit umging, ist in mehrfacher Hinsicht brisant: Der Hanseatic Gun Club wirbt auf seiner Webseite offensiv mit einem Weg zu einer eigenen Schusswaffe, Philipp F. hatte die spätere Tatwaffe dort bestellt und sie am 12. Dezember 2022 abgeholt, wie Ermittler rekonstruierten. Nach den Aussagen der Vertrauten soll nach Rücksprache mit dem Gun Club entschieden worden sein, einen anonymen Hinweis an die Waffenbehörde zu schicken. Der Umstand, dass der Absender des Tipps nicht bekannt war, führte nach Darstellung der Polizei aber auch dazu, dass die rechtlichen Möglichkeiten bei der folgenden Überprüfung des Mannes beschränkt gewesen seien. Gegenüber "t-online" gab der Gun Club nun offenbar an, von der Waffenbehörde selbst die Auskunft erhalten zu haben, dass ein anonymer Hinweis genügen würde. Bei mehreren Pressekonferenzen nach der Tat hatten der Polizeipräsident Ralf Martin Meyer und Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) zwar eingeräumt, dass der anonyme Hinweis eingegangen war. Falls sich aber auch der Gun Club zuvor an die Waffenbehörde gewandt hat, stünde die Frage im Raum, warum dies bislang nicht kommuniziert wurde. Weitere Angaben von der Hamburger Polizei gab es am frühen Donnerstagabend dazu noch nicht. Seit der Amoktat steht die Hamburger Polizei in der Kritik – warum etwa lasen sie sein Buch nicht? In dem anonymen Hinweis, der die Waffenbehörde letztlich erreichte, wurde beschrieben, dass Philipp F. angeblich unter Schizophrenie und unter Verfolgungswahn leide. Er vermöge zwar, diese Erkrankung gut zu verbergen, befinde sich aber in einem psychischen Ausnahmezustand, vertraue nur noch einer Handvoll Menschen. Außerdem sei er nun in legalem Besitz einer scharfen Pistole, habe ein Buch veröffentlicht und hege Wut, vor allem auf seinen alten Arbeitgeber und auf religiöse Gruppen, insbesondere auf seine alte Gemeinde der Zeugen Jehovas. In dem Brief wird auch erwähnt, dass Philipp F. nicht bereit sei, sich psychologisch untersuchen zu lassen. Die Beamten der Waffenbehörde besuchten daraufhin Philipp F. am 7. Februar 2023 unangekündigt in seiner Wohnung, wo die spätere Tatwaffe und einige Magazine an Munition in einem Safe lagen. Schwerwiegende Mängel konnten die Beamten nicht feststellen. In einer aufwändigeren Recherche bei Polizeidienststellen fanden sie auch keine Vermerke über frühere psychische Auffälligkeiten, Polizeikontakte oder gar Vorstrafen. Damit war der Fall für die Waffenbehörde zunächst erledigt – nur einen Monat später kam es dann zu der Amoktat. Seitdem steht auch die Polizei in der Kritik. So musste sie nach widersprüchlichen Angaben einräumen, dass die Beamten der Waffenbehörde zwar von dem von F. veröffentlichte Buch mit dem Titel Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan wussten, es aber nicht lasen oder weitere Nachforschungen dazu anzustellen. Der Extremismusforscher Peter Neumann vom King's College in London stellte in einem Gutachten im Auftrag der Polizei fest, dass F. in diesem Buch einen religiösen Wahn zeige. In einem weiteren psychiatrischen Gutachten, das der ZEIT vorliegt, schließt der Sachverständige Christoph Lenk aus dem Inhalt des Buches, dass F. sehr wahrscheinlich an einer ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstörung litt und aus gekränkter Eitelkeit getötet haben könnte. Laut beiden Gutachtern gab es in dem Buch aber keine klaren Hinweise auf eine bevorstehende Bluttat. Warum aber fragten die Beamten der Waffenbehörde bei der Überprüfung F.s nicht in der Gemeinde der Zeugen Jehovas, bei seinem früheren Arbeitgeber oder in seinem Sportschützenverein nach, wie er sich ihnen gegenüber verhielt? Wie man aus Kreisen der Zeugen Jehovas erfährt, hätten die Gemeindemitglieder durchaus etwas zum Geisteszustand von Philipp F. zu berichten gehabt. Bereits nach seiner Taufe im Jahr 2020 sei der Mann dort auffällig geworden. In Polizeikreisen heißt es dazu, dass sich anonyme Vorwürfe oft als denunziatorisch entpuppten und dass die Beamten deshalb außer dem unangekündigten Besuch kaum Mittel zur Verfügung hätten. "Sie können keine Ermittlungsarbeit leisten, wenn es kein Verfahren gibt", sagt ein leitender Beamter. Nach der Amoktat nun aber will die Hamburger Polizei überprüfen, wie mit Hinweisen auf gefährliche Waffenbesitzer besser umgegangen werden kann. Hinweis, 6. April, 19.46 Uhr: Die ursprüngliche Version dieses Artikels wurde um die Aussagen eines Sprechers des "Hanseatic Gun Club" ergänzt, mit denen er inzwischen bei "t-online" zitiert wird.
Christoph Heinemann
Hätte der Angriff auf die Zeugen Jehovas verhindert werden können? Womöglich wusste der Hanseatic Gun Club von den Abgründen des Täters.
[ "Hamburg", "Zeugen Jehovas", "Polizei", "Amoklauf" ]
hamburg
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2023-04-06T13:18:53+02:00
2023-04-06T13:18:53+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2023-04/amoklauf-hamburg-zeugen-jehovas-polizei-vorwuerfe?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
"Coolhaze": Die harte Knospe der Liebe
Die drei Komiker, Musiker und Dichter Rocko Schamoni , Heinz Strunk und Jacques Palminger zeigen unter dem Syndikatnamen Studio Braun auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses seit etlichen Jahren "Projekte", für die das riesige Haus zugleich viel zu groß und viel zu klein ist. Diese Stücke atmen den Geist der Schnapsidee, welche nur im kleinen Kreis begriffen werden kann, und gewinnen dann den Zauber des Legendären. Studio Braun ist besessen von der Idee, dass die peinlichste Szene den größten Witz birgt und Befreiung nur dort zu finden ist, wo die Schamröte glüht. Das neue Stück, Coolhaze , besteht aus zwei schrägen Handlungsebenen, die sich gegenseitig stützen sollen. Jede für sich wäre zu schwach, einen Theaterabend zu tragen, aber gemeinsam bilden sie ein hochkomisches, immerzu vom Kippen bedrohtes Kunstwerk. Ebene 1 ist eine ins New York der 1980er-Jahre verlegte Musical-Variante der Novelle Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist: Michael Coolhaze, ein New Yorker Motorradhändler, wird zum Opfer der korrupten Bürokraten und Ordnungshüter seiner Stadt. Die verbrecherischen Amtsinhaber rauben dem Coolhaze erst seine Motorräder, misshandeln dann seinen Schwiegersohn und ermorden schließlich Coolhazes Frau und Tochter. Woraufhin Coolhaze sich fürchterlich rächt. Auf Ebene 2 ist zu sehen, wie ein cholerischer, intriganter, schwer überforderter Regisseur namens Florian von Richthofen die Handlung von Ebene 1 zu einem Film macht. Szenisches Spiel und Dreharbeit, Theater im Film: Die Doppelbödigkeit der Sache sorgt dafür, dass das Musical (Ebene 1) beständig von den "Cut"-, "Aus"- und "Klappe"-Rufen der Filmleute (auf Ebene 2) unterbrochen oder, smartdeutsch, dekonstruiert wird. Was den wahren Regisseuren von Coolhaze die Möglichkeit gibt, sich gleich über zwei Formen des Entertainments lustig zu machen, das Musical- und das Filmbusiness. Die Verlogenheit des Ersten und der Zynismus des Zweiten steigern sich, von Studio Braun mit Genuss entwickelt, zu einem Fest der Peinlichkeit. Es wird oft gesagt, deutsche Unterhaltung nach dem Holocaust definiere einen Hohlraum: nämlich das Verschwinden des jüdischen Witzes aus der deutschen Kultur. Die drei Herren von Studio Braun, so könnte man raunend feststellen, verneigen sich vor dieser Leerstelle, indem sie gar nicht erst versuchen, sie mit blendendem Witz zu füllen, sondern indem sie, in unterschwelliger Schwermut, das Abwesende und eh Unerreichbare demonstrativ durch Unfug, Kalauer, havarierende Pointen und das – bisweilen geniale – Plumpe ersetzen. Ein typischer Dialog aus Coolhaze mag das verdeutlichen. Zwischen Coolhazes Tochter und ihrem Geliebten Shaggy kommt es zu Zärtlichkeiten, was Coolhaze mit seiner Frau, Ladybird, auf folgende Weise bespricht: Coolhaze: Ladybird, was ist da los? Ladybird: Oh Honey, zwischen ihnen öffnet sich die harte Knospe der Liebe. Coolhaze: Darüber reden wir später. Ich muss noch mal telefonieren. Die Regisseursfigur im Stück, von Richthofen, erinnert ein wenig an Ed Wood, den schlechtesten genialen Filmregisseur des amerikanischen Kinos, dem Johnny Depp und Tim Burton im nach Wood benannten Spielfilm ein Denkmal gesetzt haben: als dem König des B-Kinos. Üblicherweise sind B-Movies daran zu erkennen, dass sie mit geringem Budget und nach kurzer Vorbereitungszeit entstanden: billig gemacht, unfreiwillig komisch. Coolhaze – also das reale Hamburger Theaterprojekt – ist hingegen ein A-Kulturprodukt, das sich als B-Ware tarnt: teuer und freiwillig komisch. Es schützt Schäbigkeit und Pfusch vor, in Wahrheit verschlang es ein großes Budget und lange Vorbereitungszeit und ist das Zeugnis ziemlicher Könnerschaft. Im Grunde spielt sich die peinliche Spannungsimplosion, die jeder Kinogänger erlebt, wenn er das Kino wieder verlässt, hier szenisch auf der Hamburger Hochkunstbühne ab. Nämlich der harte Gegensatz zwischen dem, was ihm Filmkunst vorspiegelt, und dem, was das tatsächliche Leben ausmacht. Also der Gegensatz zwischen Drama, Glück, Schmerz, Not, Pathos, Abenteuer und Bewährung einerseits und menschlichem Mittelmaß andererseits. Sobald nämlich in diesem Stück der " Cut" -Befehl gerufen wird, breitet sich die Niedertracht auf der Bühne aus, die auf der ersten Handlungsebene mit Pomp übertüncht wurde.
Peter Kümmel
Das Hamburger Schauspielhaus zeigt das großartige Musical "Coolhaze". Heller Witz wird hier demonstrativ durch Unfug und das – bisweilen geniale – Plumpe ersetzt.
[ "Markus Scholz", "Heinz Strunk", "Jacques Palminger", "Michael Kohlhaas", "Heinrich von Kleist", "Ed Wood", "Charly Hübner", "Ute Hannig", "Rocko Schamoni", "Coolhaze" ]
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2021-12-10T14:46:14+01:00
2021-12-10T14:46:14+01:00
https://www.zeit.de/2021/51/coolhaze-studio-braun-hamburger-schauspielhaus/komplettansicht?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Hilfe für ukrainische Geflüchtete: 500 дзвінків щодня
Таня знімає гарнітуру, заплющує очі та переводить дух. Щойно в неї закінчилась розмова з чоловіком з південноукраїнського міста Миколаєва, який вже багато днів перебуває під потужними повітряними нальотами. Він не може ходити і залишився один у своєму помешканні, каже чоловік. З вулиці лунають сирени, йому лячно. – Як я можу потрапити до Німеччини? Я не можу ходити. – Таня уважно слухає його розповідь, часто киває та каже "Так". Вона записує прізвище та номер телефону чоловіка та обіцяє подбати про допомогу. Є конвої, які здійснюють перевезення інвалідів мікроавтобусами, – це їй відомо. Але як волонтери зможуть потрапити на Південь, де точаться важкі бої? Між дзвінкам залишається небагато часу на розмірковування. – Це добре, – каже Таня, – інакше я б не знала, що робити. Напередодні вторгнення їй з чоловіком та донькою пощастило дістатися з Києва до Гамбурга. Тепер вчителька фізкультури, яка воліла б краще не називати свого прізвища, дивиться в новинах, як падають бомби на її місто. Щоб позбутися відчуття безпорадності, вона допомагає іншим людям, які ще перебувають у дорозі. Вона шукає можливості ночівлі, радить залізничні сполучення, іноді просто вислуховують людину. Таня сидить в спільному офісі у районі Сіті-Норд, де українці, що мешкають у Гамбурзі, заснували кол-центр для співвітчизників, які біжать від війни, а також для координації роботи волонтерів. Тут, у центральному офісі, зараз близько десяти людей занурилися у свої ноутбуки, дехто тримає біля вуха мобільний телефон. На стінах – різнокольорові нотатки, а також синьо-жовтий прапор. Тарас Берндт (42 роки) у білій сорочці, кросівках та джинсах, підганяє колег та роздає вказівки. Він народився в Україні, мешкає у Кілі вже 12 років. Власне кажучи, він працював у галузі постачання харчових додатків на м’ясні фабрики України та Росії. Війна поклала край його бізнесу. – Зараз це немає жодного значення, – каже Берндт. Тепер для нього має значення лише одне: безпека співвітчизників. Коли 24-го лютого російські війська вдерлися до України, йому прийшла в голову ідея щодо кол-центра. З цього моменту все прискорилося: Берндт звернувся до Спілки українців Північної Німеччини та почав шукати помічників через соціальні мережі. У порожньому складі біля Берлінер Тор він організував тимчасовий офіс, купив чимало передплачених SIM-карток, передав до України номери благодійних організацій Гамбурга. І ось пролунав перший дзвінок. Першого дня зателефонували лише декілька людей, – каже Берндт, – проте на другий день їх були вже сотні. – У перші дні дзвонили, насамперед, мешканці Гамбурга, які пропонували дах над головою та пожертви. Список речей, які нагально потрібні, оновлюється щодня. Зараз існує велика потреба, насамперед, у ліжках-розкладачках, термоковдрах, а також радіостанціях для солдатів у кризових регіонах. Кол-центр став комутатором великої мережі волонтерів, які постачають предмети пожертв тимчасові гуртожитки та організують транспорт до кризових регіонів. Тим часом професіоналізм команди зростав. Оператор Telekom налаштував систему "гарячої лінії" та пожертвував 100 мобільних телефонів разом з договорами на безлімітний зв’язок. Комп’ютери та операційні системи були надані великими технологічними підприємствами. Між тим щодня лунає близько 500 дзвінків, перш за все, від людей, які – як той чоловік з Миколаєва – застрягли в Україні, ще перебувають у дорозі або щойно прибули до Німеччини.
Annika Lasarzik
У кол-центрі гамбурзького району Сіті-Норд українці допомагають своїм співвітчизникам, які біжать від війни – а також після їхнього прибуття до Гамбурга
[ "Ukraine", "Solidarität", "Lwiw", "Ehrenamt", "Geflüchtete", "Callcenter" ]
hamburg
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2022-03-31T14:10:44+02:00
2022-03-31T14:10:44+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-03/ukraine-gefluechtete-hilfe-callcenter-hamburg-ehrenamt-ukrainisch?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
"Dear Memories": "Aber eines musst du wissen: Thomas hat Alzheimer"
Am Mittwoch feiert "Dear Memories" Premiere in den Hamburger Zeise Kinos. Es ist eine Dokumentation von und mit Thomas Hoepker, dem Fotografen der legendären Fotoagentur Magnum. Hoepkers Bilder wie " Muhammad Ali showing off his right Fist" oder "Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan, 11. September 2001", das Bild der Gruppe Menschen, die scheinbar unbeteiligt auf der anderen Seite des Hudson River sitzt, während im Hintergrund die Twin Towers brennen, sind weltberühmt. 2017 erhält Hoepker die Diagnose Alzheimer und so folgt er gemeinsam mit Frau Christine Kruchen seinem Wunsch, noch einmal auf Reisen zu gehen – auf einen Roadtrip durch die USA voller Erinnerungen aus 40 Jahren als Fotograf, die langsam verblassen. Begleitet hat ihn dabei der 44-jährige Hamburger Regisseur und Filmproduzent Nahuel Lopez. Wie das war, erzählt er ZEIT-ONLINE-Autorin Lilli Gavrić. ZEIT ONLINE: Herr Lopez, warum wollten Sie einen Film über den Magnum-Fotografen Thomas Hoepker machen? Nahuel Lopez: 2006 habe ich im Museum für Kunst und Gewerbe eine große Retrospektive von Thomas Hoepker besucht. Direkt am Eingang empfing einen in zwei mal drei Meter Größe sein berühmtes 9/11-Bild. Das war beeindruckend. Das Foto zeigt fünf junge Menschen, die in diesem Moment noch eine Welt repräsentierten, die hinter ihnen gerade unterging. Als die New York Times das Bild 2005 veröffentlichte, wurde es zu einem der meistdiskutierten Fotos der Welt. Denn eine der abgebildeten Personen fühlte sich falsch dargestellt durch das Bild. Für Thomas war es ein Schnappschuss, den er für nicht besonders interessant gehalten hatte. Erst die Entdeckung durch einen Kurator und die Interpretation von außen machten das Bild zur Ikone. Jedenfalls war bei dieser Ausstellung auf der Texttafel neben diesem Bild auch das Geburtsjahr von Thomas zu lesen, 1936. Das hat mich damals total überrascht. Ich hatte einen Mann um die 40 erwartet, was an der Fotografie lag, die so frisch war und modern in der Bildsprache. Das fand ich spannend. ZEIT ONLINE: Wie kam es dann zu Ihrer Zusammenarbeit? Lopez: Den Wunsch, etwas über Magnum Photos zu machen , hatte ich schon lange. Hoepker war dort einer der big five , dazu Deutscher. Ich schrieb also 2019 seiner Agentin. Drei Wochen später kam eine E-Mail seiner Frau Christine Kruchen inklusive Einladung zum Frühstück nach Berlin. Beim Treffen war Thomas eher ruhig, machte ab und zu seine Scherze und fotografierte mich ständig. Wir fanden schnell Gemeinsamkeiten und konnten uns die Zusammenarbeit gut vorstellen. ZEIT ONLINE: Haben Sie da schon von seiner Erkrankung gewusst? Lopez: Ja, Christine Kruchen sagte an dem Tag zu mir: "Aber eines musst du wissen: Thomas hat Alzheimer." Da habe ich erst mal geschluckt. Mein nächster Gedanke war aber: Der Mann, der mit seinen Fotografien ein kulturelles Gedächtnis geschaffen hat, verliert sein eigenes. Und plötzlich passte alles zusammen. Er hatte sich gewünscht, einen Roadtrip zu machen, angelehnt an Heartland: An American Roadtrip in 1963 , weil das den Beginn seiner Karriere markierte. Da war klar: Da komme ich mit. ZEIT ONLINE: Thomas Hoepker sagt: "Jedes Foto ist auch eine Art Selbstporträt." Sie haben 2016 für Ihren Film El Viaje Rodrigo González, den Bassisten der Band Die Ärzte, nach Chile auf der Suche nach seinen musikalischen Wurzeln begleitet. Gilt, was Hoepker über seine Fotos sagt, auch für Ihre Filme? Lopez: 100-prozentig. El Viaje war motiviert durch meine eigene Geschichte. González und ich sind ähnlich aufgewachsen, beide in Hamburg mit chilenischen Wurzeln, er ist bloß zehn Jahre älter wie ein großer Bruder. Die Idee zum Film war damals während einer Reise zu den Mapuche entstanden, einem indigenen Volk im Süden Chiles. Also ja, alle meine Geschichten haben auch mit mir zu tun. ZEIT ONLINE: Wie passt Vor dem Knall , Ihr Film über den G20-Gipfel in Hamburg ins Bild? Lopez: Mein Vater war in Chile in der Studentenbewegung der Sechzigerjahre sehr aktiv, die Salvador Allende unterstützte und im Militärputsch blutig endete. Mein Vater hat Chile bereits Ende der Sechziger verlassen, um in Brasilien, Portugal und Deutschland Philosophie zu studieren. Er ist dann nach dem Putsch in Hamburg hängen geblieben, wie viele Exilchilenen auch. Viele von ihnen sind ehemalige Linke, Kämpferinnen oder Kämpfer, Kommunisten oder Kulturschaffende, die dort verfolgt worden sind. Deswegen hat mich dieses Milieu und die Dynamik hinter der Bewegung schon immer interessiert. ZEIT ONLINE: Der Roadtrip zu Dear Memories startete 2020 während der Pandemie. Lopez: Ja, die zweite Welle stieg gerade heftig an, es gab noch keine Impfungen. Glücklicherweise habe ich Christine aber davon überzeugen können, die Reise zu machen, solange es mit Thomas Erkrankung noch geht. Zudem war es ein historischer Moment zwischen Pandemie und Wahlkampf in den USA. Leider konnten wir mit Menschen kaum in Kontakt treten, wenn dann nur auf Distanz. Es gibt eine Begegnung, der ich bis heute hinterhertrauere. Wir haben in Ruidoso in New Mexico einen Grundschullehrer im Reservat der Mescaleros kennengelernt, der uns zu sich nach Hause einladen wollte. Furchtbar nett. Wir konnten leider seine Einladung nicht annehmen, das konnten wir nicht machen, mit Thomas als Hochrisikopatienten, alle in einem Raum, keiner geimpft. Und so ist letztlich ein Film entstanden, der sich mehr auf die beiden konzentriert. Das finde ich im Nachhinein sehr schön. ZEIT ONLINE: Christine Kruchen erzählt ihm im Film Anekdoten von ihren gemeinsamen Reisen, fragt: "Kannst du dich erinnern?" Manchmal sagte Hoepker Ja, oft Nein. Erinnert er sich an Ihren Trip? Lopez: Wir hatten ein Abschlussessen mit dem ganzen Team in San Francisco, ich bedankte mich für die tolle Zeit und Christine Kruchen sagte: "Ich bin schon wahnsinnig gespannt auf den Film." Und Thomas Hoepker guckt sie an und sagt: "Welcher Film?" "Dear Memories– Eine Reise mit dem Magnum-Fotografen Thomas Hoepker" läuft in Hamburg als Premiere am 22. Juni 2022, 20 Uhr in den Zeise Kinos. Mit dabei sind Regisseur Nahuel Lopez und im Livechatinterview Thomas Hoepker und seine Frau Christine Kruchen.
Lilli Gavrić
Der legendäre Fotograf Thomas Hoepker wünschte sich eine letzte Reise durch die USA. Der Hamburger Nahuel Lopez hat ihn begleitet – und daraus einen Film gemacht.
[ "Nahuel Lopez", "Muhammad Ali", "Thomas Hoepker", "Williamsburg", "Chile", "ZEIT", "Museum für Kunst und Gewerbe", "Reisen", "9/11", "Dokumentarfilm" ]
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2022-06-21T11:08:20+02:00
2022-06-21T11:08:20+02:00
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Esther Bejarano: "Wir sind da"
"Wir leben ewig, es brennt die Welt", sang die kleine, grauhaarige Frau zu ihrem 95. Geburtstag. "Wir leben ewig, in jeder Stunde, wir wollen leben und erleben, schlechte Zeiten überleben." Ein Video von ihrem Auftritt aus dem Internet zeigt, mit wie viel Verve, mit welcher Ausstrahlung Esther Bejarano auf der Bühne stand. Sie trat regelmäßig mit den Rappern der Microphone Mafia aus Köln auf, bereicherte das Programm von Stars wie die Show von Konstantin Wecker 2012 auf der Parkbühne in Hamburg und machte mit ihrem Sohn Joram und ihrer Tochter Edna als Gruppe Coincidence Musik. Sie sang auf Deutsch, Jiddisch und Hebräisch, sie sang Lieder der Sinti und Roma, Lieder der Kommunisten, Lieder von Widerstand, Befreiung und vom Überleben. " Mir lebn eybik, mir zenen do " – "Wir leben ewig, wir sind da!" So endet das Lied, das Lejb Rosenthal 1943 im Ghetto schrieb. Esther Bejarano hebt in dem Video zum Schluss die Arme hoch, mit geballten Fäusten. Was für ein Zeichen. Was für ein Triumph über die Nationalsozialisten, Antisemiten, Menschenhasser und Völkermörder. Bejarano hat ihnen getrotzt. Bereits als Jugendliche sollte sie sterben. Die Deutschen hatten sie in ihre Vernichtungslager gesperrt. Aber sie überlebte den Holocaust. Sie lernte, zu kämpfen, widerständig zu sein, unangepasst. Das war sie bis zum Schluss. Bis zum Ende ihres Lebens trat sie für Toleranz ein . Bejarano kämpfte gegen das Vergessen, sie war eine der wichtigsten Zeitzeuginnen für die Verbrechen im sogenannten "Dritten Reich". Sie veröffentlichte Bücher, gab Interviews, saß in Talkshows, sprach vor unzähligen Schulklassen und Jugendgruppen. "Jedes Mal, bevor ich anfange, meine Geschichte zu erzählen, sage ich, dass die Schüler keine Schuld an dieser vergangenen, schrecklichen Geschichte haben", schilderte sie einmal ihr Vorgehen. "Aber die Schüler machen sich schuldig, wenn sie nichts über diese Zeit wissen wollen." Und wie konnte sie erzählen! Noch Ende April sprach die Zeitzeugin über Videochat mit einer Projektgruppe der Gesamtschule Bergedorf-Stadtteilschule. Wenn Bejarano über Diskriminierung und Rassismus sprach, dann hörten ihr die Jugendlichen zu. Diese Frau hatte etwas zu erzählen. Und wie konnte sie erzählen! Esther Bejarano musste ihre Stimme nicht heben, damit ihr alle zuhörten. Für das unvorstellbare Grauen, das sie ertragen hatte, fand sie klare, einfache Worte. Am 10. Juli 2021 verstummte ihre mahnende Stimme . Esther Bejarano starb in Hamburg. In den 96 Jahren, in denen sie auf dieser Welt war, widerfuhr ihr so viel, dass die schlimmen und schönen Erfahrungen für viele Leben zu reichen scheinen. Aber der Reihe nach. Bejarano kam am 15. Dezember 1924 als Esther Loewy in Saarlouis zur Welt. Sie hatte vier ältere Geschwister. Ihr Vater arbeitete als Lehrer und jüdischer Kantor. Ihre Familie war sehr musikalisch. Esther lernte Klavier, Flöte und Blockflöte und sang in Synagogenchören. Als sie 15 Jahre alt war, verließ sie die Eltern. Sie sollte nach Palästina gehen, um zu überleben. Doch die Ausreise misslang. Das Mädchen wurde in einem Vorbereitungscamp festgenommen, landete in einem Zwangsarbeitslager bei Berlin. Dort musste sie 1943 in einen Viehwaggon steigen. "Wir hatten keine Ahnung, wo wir hinfahren", sagte Bejarano in der Talkshow von Markus Lanz. Nach zwei Tagen bei geschlossener Wagentür, ohne Essen, ohne Trinken, kam sie in Auschwitz an.
Dr. Hauke Friederichs
Mit 96 Jahren starb die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano. Eine bedeutende Zeitzeugin ist verstummt – und eine Stimme der Aufklärung und Toleranz, die fehlen wird.
[ "Esther Bejarano", "Ira Shiran", "Wolfgang Seibert", "Adriana Altaras", "Berlin", "Auschwitz", "Palästinensergebiet", "Nationalsozialismus", "Holocaust", "Konzentrationslager" ]
gesellschaft
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2021-07-10T15:18:24+02:00
2021-07-10T15:18:24+02:00
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-07/esther-bejarano-holocaust-auschwitz-ueberlebende-nachruf-tod?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Imker am Flughafen: "Bisher war der Honig immer einwandfrei"
Über drei Tonnen Honig in 12.000 Gläsern hat Ingo Fehr bereits geerntet. Der Umweltingenieur und Hobbyimker unterhält mehrere Bienenvölker am Hamburger Flughafen, heute wird er die neue Ernte präsentieren. Uns hat Fehr vorab erzählt, wie sie ausgefallen ist – und wie Sommerhitze und Bienensterben seinen Mitarbeiterinnen zusetzen. ZEIT ONLINE: Herr Fehr, Sie züchten Bienen direkt am Hamburger Flughafen – das passt auf den ersten Blick so gar nicht zusammen … Ingo Fehr: Doch, das passt wunderbar zusammen! Das Gebiet des Hamburger Flughafens gehört zu den größten zusammenhängenden Grünflächen Hamburgs. Es gibt Wildblumenwiesen, Bäume und einen Teich. Der perfekte Lebensraum für Bienen in einer Großstadt. ZEIT ONLINE: Wo genau stehen die Bienenstöcke denn, doch nicht direkt neben der Landebahn? Fehr: Nein, die Stöcke stehen am Rand eines kleinen Waldstücks in der Nähe der Start- und Landebahn. Im Moment sind insgesamt 240.000 Bienen aus acht Völkern ausgeflogen. Ich kann meine Bienen und Schwärme auch gut erkennen. Die Carnica-Zuchtrichtung ist nämlich eher dunkel und behaart. Mich erkennen die Bienen allerdings nicht. ZEIT ONLINE : Seit 20 Jahren stehen Ihre Bienenstöcke nun schon am Airport – wie kam es dazu? Fehr: Ich schrieb gerade meine Diplomarbeit im Fach Umwelttechnik über die Filterung von Luftschadstoffen am Hamburger Flughafen. In der dortigen Umweltabteilung freute man sich über einen Hobbyimker und kam deshalb 1999 auf die Idee, zwei Bienenvölker aufzustellen. Die Bienen setzen sich dort auf die umliegenden Blumen oder trinken das Wasser in der Umgebung. Der Honig der Bienen wird dann auf Luftschadstoffe untersucht und ist somit auch ein Indikator für die Luftqualität am Flughafen. ZEIT ONLINE: Aber gerade diese Luft mit all dem Kerosin dürfte doch nicht sonderlich gut sein. Kann man den Honig bedenkenlos essen? Fehr: Klar! Zweimal im Jahr schicken wir eine Stichprobe an das Bieneninstitut nach Celle. Dort wird der Nektar und somit der Fingerabdruck der Bienen untersucht. Ob dieser den Richtlinien des deutschen Imkerbundes entspricht, entscheidet sich dann bei der letzten sensorischen Prüfung, der Geschmacksanalyse. Bisher war der Honig immer einwandfrei. Eine zweite Probe schicken wir nach Süddeutschland, dort lassen wir den Honig auf Spuren von Luftschadstoffen und Schwermetallen testen. Auch dabei wurde der Honig immer als unbelastet beurteilt. Zum Vergleich sende ich auch noch eine Probe vom Honig meiner eigenen Bienenvölker mit, die stehen 50 Kilometer entfernt auf meiner Streuobstwiese in einer Kleingartenanlage in Büchen. Die Ergebnisse sind fast identisch. Und das deutet darauf hin, dass die Schadstoffbelastung der Luft am Flughafen sehr gering ist. ZEIT ONLINE: Wie viel haben die Bienen in diesem Jahr gesammelt? Fehr: Bei der ersten Ernte im Juni waren es 75 Kilogramm. Bei der zweiten Ernte rechne ich wieder mit derselben Menge. Mit 150 Kilogramm Honig im Jahr ist das ein durchschnittliches und zufriedenstellendes Ergebnis. ZEIT ONLINE: Dann hat den Bienen die Sommerhitze im Juni nichts ausgemacht? Fehr: Nein, Bienen haben kein Problem mit Hitze. Im Gegenteil: Je wärmer es ist, desto eher fliegen sie raus. Problematisch wird dann eher die Trockenheit. Wenn Pflanzen keine nassen Füße haben, produzieren sie keinen Nektar und die Bienen können weniger sammeln. Im Bienenstock haben sie durch verdunstendes Wasser und ordentlich Flügelschlagen ihre eigene Klimaanlage.
Luise Reichenbach
Seit 20 Jahren hält Ingo Fehr Bienen auf dem Hamburger Flughafen. Der Flugverkehr stört die Insekten nicht, sie dienen sogar als Gradmesser für die Luftqualität.
[ "Imker", "Honig", "Ingo Fehr", "Hamburg", "Flughafen Hamburg", "Bienensterben", "Insektenhotel", "Deutscher Imkerbund", "Luftreinheit" ]
hamburg
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2019-07-09T21:03:28+02:00
2019-07-09T21:03:28+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-07/imker-flughafen-bienenstock-fuhlsbuettel-honig-bienen/?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Schulanfang: "Die Kinder nehmen ganz schön viel in Kauf"
In Hamburger Schulen läuft seit gut einer Woche der Unterricht. Und zwar, so hatte es der Senat entschieden, im Ganztagsbetrieb, in voller Klassengröße und ohne Maskenpflicht im Klassenzimmer. Schulsenator Ties Rabe (SPD) begründet diese Entscheidung damit, dass die Kommunikation – also das ungehinderte Sprechen und die sichtbare Mimik – im Unterricht entscheidend sei. Bis kurz vor Beginn des Schuljahres wollte er noch vollständig auf Masken verzichten, nun müssen sie zumindest in den Fluren und auf Pausenhöfen getragen werden. Diese Entscheidung ist umstritten. Die Elternkammer Hamburg etwa äußerte "große Besorgnis" und forderte das "Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung überall dort, wo sich gefährliche Aerosole bilden können" . Einzelne Eltern versuchten zudem, an ihren Schulen eine zentrale Maskenpflicht durchzusetzen . Das wurde den Schulleitungen in einem Brief der Schulbehörde, der der ZEIT vorliegt, ausdrücklich verboten (allerdings ist es erlaubt, im Klassenverband Masken zu tragen, solange Schüler und Lehrer sich freiwillig darauf einigen). Der Versuch eines Bürgers, eine Maskenpflicht in Hamburg juristisch zu erzwingen , wurde Anfang der Woche vom Verwaltungsgericht abgewehrt. Bundesweit ist die Lage ebenfalls uneindeutig. Während der Deutsche Lehrerverband für eine Maskenpflicht plädiert, ist die Ärztevereinigung Marburger Bund dagegen, die Bundesländer verfahren uneinheitlich . Seit Schuljahresbeginn hat es an Hamburger Schulen zahlreiche Verdachtsfälle, nach Behördenangaben aber keine Übertragung des Virus gegeben. Auch die Befürchtung, dass das schulische Personal im größeren Stil der Arbeit fernbleiben würde, hat sich nicht bestätigt. Nur 301 der 20.037 Lehrkräfte haben ein entsprechendes Attest vorgelegt, meldet die Schulbehörde. Leserinnen und Leser des Newsletters "Elbvertiefung" schildern hier, wie sie die ersten Schultage erlebten. Das sagen Eltern: Ich schaue sorgenvoll auf den Schulstart. Meine Tochter und ich haben Asthma, mein Mann eine künstliche Herzklappe. Wir sind seit Monaten sehr vorsichtig, treffen uns mit wahnsinnig wenigen Menschen und nun soll an den Schulen alles wieder normal laufen? Mit Mitschülern, die sich um Corona teils gar keinen Kopf machen? Die in den Ferien mit vielen Menschen zusammen waren und bestimmt nicht getestet wurden oder werden? *** Im Gymnasium meines Kindes sind die Unterrichtsräume so klein, dass die Klassen vor den Sommerferien durch drei geteilt wurden. Nur bei neun Kindern konnten die Abstandsregeln eingehalten werden. Nun sitzen 27 Kinder in einem Klassenzimmer. Und die Lehrer gehen von Klasse zu Klasse. Wenn ich von den Corona-Ausbrüchen nach dem Schulbeginn in Israel lese, denke ich: Das wird uns jetzt auch bevorstehen. *** Wir haben zwei Kinder, die auf weiterführende Schulen gehen, in die siebte und neunte Klasse. Ich habe ein mulmiges Gefühl, die beiden mit dem derzeitigen Konzept in die Schulen zu schicken. Vor allem wegen des Zeichens, das wir unseren Kindern damit geben: Sie haben es endlich in ihren Köpfen, dass sie Abstand halten sollen und ihre Freunde nicht umarmen dürfen. Jetzt sitzen sie aber Schulter an Schulter neben ihnen in kleinen Klassenräumen und die endlich verstandenen Regeln gelten nicht mehr. Ich arbeite derweil weiter im Homeoffice, da ich als Mutter von schulpflichtigen Kindern als Gefahr gesehen und darum gebeten wurde. Das kann doch so nicht funktionieren! *** Meine Tochter war dieses Jahr in der Vorschule und freut sich sehr auf die Einschulung in die erste Klasse. Ich halte die aktuellen Regeln angesichts der Infektionszahlen für vertrauenswürdig. Sorge bereitet mir, dass Feiernde und Rückkehrer aus Risikogebieten sie gefährden. Es geht hier um die kommenden Generationen, und wer weiß, ob die Epidemie nicht noch drei Jahre dauert. So lange kann man nicht ganze Schülerjahrgänge ins Homeschooling schicken. Die ständige Kritik der Lehrer- und Elternverbände ärgert mich etwas. "Wir müssen mehr Energie in einen Plan B stecken" – das hatte doch Ties Rabe vor den Ferien ohnehin gefordert! Meine Schule, bei der ich gestern zum Elternabend war, hat einen Plan B. Und einen Plan C. Warum also das Unken? *** Die Toilettensituation in der Schule meiner Tochter sieht ein schnelles Hinrennen in der Fünfminutenpause vor, schnell pieseln, schnell wieder in den Klassenraum. Jetzt soll man anstehen, weil immer nur zwei Kinder gleichzeitig in die Waschräume dürfen? Und den Unterricht verpassen? Und wer sorgt dafür, dass das gemacht wird? Haben die Lehrer jetzt plötzlich so viel weniger zu tun, dass sie flächendeckend Klo- und Hofaufsicht machen können? Das sagen Lehrerinnen und Lehrer: Ich bin Lehrerin an einer kleinen Hamburger Grundschule und kann nur sagen, hier wird alles gegeben, was möglich ist. Kleinigkeiten benötigen völlige Neuplanung. Trotzdem kommt am Ende eigentlich immer eine Einschränkung für die Kinder heraus. Beispiel Pausen: Für jeden Jahrgang gibt es jetzt einen festen Bereich. Beispiel Nachmittagskurse: Wo man vorher individuell aus gut 15 Kursen wählen konnte, von Bollywood-Tanz bis Töpfern, heißt es jetzt "Dein Jahrgang hat heute die Bibliothek oder den Fußballplatz". Beispiel Ausflüge, Projekt, etc.: alles gestrichen. Diese Liste lässt sich noch fortsetzen. Die Kinder nehmen ganz schön viel in Kauf, und das ohne Murren. Wenn sie dann im Klassenraum ein bisschen Normalität erleben dürfen, ist das meiner Meinung nach nicht nur fair, sondern dringend notwendig. Kinder mit Masken im Unterricht, während Erwachsene ohne Masken in Cafés sitzen – das wäre ein ziemlich schlimmes Bild für unsere Gesellschaft. *** Ich unterrichte an einer Sonderschule eine Klasse mit Kindern, die alle die Diagnose geistige Behinderung gemeinsam haben. Unsere Schulleitung hat vor den Ferien ein tolles Konzept entwickelt, bei dem wir innerhalb kleiner Gruppen blieben. Nun sind wir wieder im Ganztag, die Schule ist voll und alle Kinder, die den Klassen eins bis vier zugeordnet sind, brauchen keine Maske zu tragen (was sie sogar könnten, wie ich vor den Ferien staunend festgestellt habe). Wir wickeln und füttern die Kinder teilweise, manch einer macht gerne mal von sich aus einen nicht vorgesehenen Ausflug in eine andere Lerngruppe, wo wir sie oder ihn dann wieder einfangen. Wir sollen keinen klassenübergreifenden Unterricht machen, das ist schön gedacht, nur sitzen meine Schüler alle in unterschiedlichen Schulbussen, mit Kindern aus allen Klassenstufen und nicht immer ist die Hintour so besetzt wie die Rücktour. Ich will mich nicht beschweren. Ich liebe das Tempo, die Unruhe, die ständig neue Herausforderung in meiner Arbeit. Aber ich möchte nicht krank werden, möchte das nicht an meine Kinder, meine Eltern, meinen Mann weitergeben. Ich möchte nicht, dass unsere Schülerinnen und Schüler wieder zu Hause bleiben müssen. Und ich möchte noch weniger, dass die Kinder mit den schweren Behinderungen sich anstecken, mit den Herzfehlern, der Muskelschwäche, da wir bisher nicht wissen, wie sich die Verläufe hier gestalten. Ich sehe es als unprofessionell an, wenn wir im Moment einfach das tun, was wir vor der Pandemie getan haben. *** Mein Job als Klassenlehrerin einer zweiten Klasse ist vielseitig. Die Kinder unterrichten, sie trösten, ihnen helfen, Konflikte zu lösen, Absprachen mit Kolleginnen treffen, Elterngespräche führen, Klassenreisen organisieren und nun auch noch: medizinisch tätig werden! Denn ich muss entscheiden, was coronarelevante Erkältungszeichen sind. Zählt Schnupfen dazu? (Laut Robert Koch-Institut kommt er wohl bei 20 Prozent der Betroffenen vor, laut Weltgesundheitsorganisation nicht.) Was ist mit Halsweh? Und die Hustenreize, die in 99 Prozent der Fälle erkältungs- oder allergiebedingt sind? Ich möchte eindeutige Vorgaben, eine Checkliste, die uns Lehrerinnen und Lehrer in die Lage versetzt, vernünftige Entscheidungen zu treffen. *** Grob geschätzt war ein Drittel meiner Kolleginnen und Kollegen vor den Ferien nicht mehr da, weil sie zu einer Risikogruppe gehören. Jetzt sind sie wieder zurück, mir ist nicht klar, wie dieser Wandel geschehen ist, denn ich nehme nicht an, dass ihr Krebs, ihr Diabetes oder andere Vorerkrankungen verschwunden sind. Über die Ferien sind Pläne über Pläne entworfen worden. Und immer, wenn ein Plan stand, kam eine Bestimmung der Schulbehörde, die einen neuen verlangte. Das neue Hygienekonzept war so kurzfristig da, dass wir gar nicht die Möglichkeit hatten, es vor unserer Konferenz zu lesen. *** Test zum Schulbeginn. 1. Aufgabe: Was wissen wir über den Übertragungsweg von Sars-CoV-2? Antwort: Aerosole spielen bei der Übertragung wahrscheinlich die größte Rolle. 2. Aufgabe: Wo sammeln sich Aerosole besonders schnell an? Antwort: in geschlossenen Räumen mit vielen Menschen. 3. Aufgabe: Welche Maßnahmen werden gegen eine Infektion in geschlossenen Räumen empfohlen. Antwort: Abstand halten, Maske tragen, für kontrollierten Luftaustausch sorgen. 4. Aufgabe: Nenne mindestens drei Fehler, die beim Unterricht in geschlossenen Räumen eine Infektion begünstigen. Antwort: Zu viele Menschen ohne Abstand, keine Maske tragen, unzureichend lüften "nach Gefühl". Letzte Aufgabe: Beschreibe mit einem Wort die Abschaffung der AHA-Regeln im Klassenraum bei steigenden Infektionszahlen. Antwort: Unverantwortlich.
Oskar Piegsa
An den Schulen in Hamburg gibt es jetzt seit einer Woche die alten Klassengrößen, Ganztagsbetreuung und keine Masken im Unterricht: Was Eltern und Lehrer dazu sagen.
[ "Schüler", "Lehrer", "Coronavirus", "Schule", "Hygiene", "Mundschutz" ]
hamburg
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2020-08-13T19:27:48+02:00
2020-08-13T19:27:48+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-08/chulanfang-2020-hamburg-schule-coronavirus-masken-hygieneregeln?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
App mathildr: Warum manche Menschen lieber mit Kirschen rechnen
Mathematik ist für die einen ein Leichtes, für andere eine Qual. Gerade für Menschen mit Lernbeeinträchtigung kann das Zählen- und Rechnenlernen zur besonderen Herausforderung werden. Wo herkömmliches Lernmaterial keine Wirkung zeigt, soll die barrierefreie Mathe-App mathildr aus Hamburg helfen. Im Februar ist das mathildr-System mit dem Cornelsen Zukunftspreis und 3.000 Euro ausgezeichnet worden. Torben Rieckman hat die Mathe-App entwickelt – gemeinsam mit Menschen mit Trisomie 21. Wir haben ihn gefragt, was mathildr besser kann als herkömmliche Schulmaterialien. ZEIT ONLINE: Sie haben die mathildr-App entwickelt, die Schülern und Schülerinnen mit Behinderung das Rechnenlernen erleichtern soll. Wie funktioniert die App? Torben Rieckmann: Man könnte sagen, wie ein digitaler Rechenschieber. Mathildr hilft den Schülerinnen dabei, den Zahlenraum zwischen 0 und 20 zu erschließen. Ziel ist es, dass sie durch das Material lernen, Mengenbilder gedanklich selbst nachzubilden und damit zu zählen und zu rechnen. Das mathildr-System arbeitet nicht nur mit Zahlen, sondern konzentriert sich auf die Darstellung von Mengen. ZEIT ONLINE: Wie kann man sich das konkret vorstellen? Rieckmann: Wir verwenden Kirschen – einzelne und Kirschpaare. Soll also beispielsweise die Aufgabe 2+1 gelöst werden, tippt der Schüler ein rotes Kirschpaar plus eine gelbe Einzel-Kirsche in das Tablet. Am Ende zeigt die App dann die Addition, also 2+1, an. Aufgrund der besonderen Anordnung der Kirschen erkennt der Schüler ihre Anzahl auf einen Blick. Er schreibt das Ergebnis auf. Unsere App orientiert sich an den Lernbesonderheiten von Menschen mit Trisomie 21. ZEIT ONLINE: Warum brauchen Schulen diese App? Rieckmann: Im Schulunterricht werden noch häufig alle Kinder über einen Kamm geschert. Wenn sie Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsmaterial haben, wird das Problem bei ihnen gesucht, nicht im Material. Viele Unterrichtsmaterialien sind nicht barrierefrei. Sie orientieren sich daran, wie die meisten Menschen ihre Umwelt wahrnehmen und verarbeiten. Mathildr hingegen ermöglicht einigen Kindern einen barrierefreien Einstieg in die Mathematik. ZEIT ONLINE: Und warum braucht es dafür ein Symbol wie die Kirsche? Rieckmann: Die Verbildlichung hilft Menschen mit Lernbeeinträchtigung zu verstehen, was eine Menge ist und wie sie sich zusammensetzt. Das Besondere: Anders als herkömmliche Lernmaterialien arbeiten wir nicht mit einer Fünferbündelung, sondern mit einer Zweierbündelung, eben dem Kirschpaar. ZEIT ONLINE: Klingt sehr abstrakt. Rieckmann: Menschen mit Trisomie 21 sind auf solche Abstraktionen angewiesen, darauf, dass Details weggelassen werden. Viele von ihnen lernen zum Beispiel mit der Ganzwortmethode das Lesen. Sie lernen also zuerst ganze Wörter als Wortbilder. Erst später lernen sie die einzelnen Buchstaben. Die Ganzwortmethode ist übrigens nicht nur für das Lesenlernen geeignet. Bereits Zweijährige mit Trisomie 21 lernen durch sie über Lesen das Sprechen. Auch beim mathildr-System spielt das Einprägen von Bildern eine große Rolle – nur geht es darin eben nicht um Wörter, sondern um Mengen. ZEIT ONLINE: Wie sind Sie darauf gekommen, dass Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen besser zählen und rechnen lernen, wenn sie wie in der App Kirschen als Paar und nicht als Fünferhaufen vor sich sehen? Rieckmann: Menschen mit Trisomie 21 können weniger Dinge gleichzeitig verarbeiten. Die Fünferbündelung ist zu groß. Das mathildr-System entstand im Rahmen einer Studie mit 1.300 Personen mit Trisomie 21 an der Universität Hamburg. Während dieser Studie konnten wir beobachten, dass Teilnehmende, die mit Zahlen gut zurechtkamen, oftmals in Zweierschritten zählten oder beim Zählen jeweils die gerade Zahl betonten. Sie arbeiteten also in Zweierbündeln. ZEIT ONLINE: Nach der Studie haben Sie die App dann gemeinsam mit Schülern entwickelt. Rieckmann: Nachdem der Prototyp stand, ging es in die Testphase. Angefangen habe ich mit einzelnen Kindern mit Trisomie 21, mit denen ich immer wieder die App erprobt und Funktionsweisen und Design entsprechend angepasst habe. Geholfen haben mir aber auch Erwachsene mit Lernbesonderheiten. Denn die App wird nicht nur von Kindern verwendet, sondern auch von Jugendlichen und Erwachsenen.
Tina Pokern
Der Hamburger Torben Rieckmann hat eine App entwickelt, die Menschen mit Lernbeeinträchtigung das Zählen und Rechnen leichter machen soll. Wie funktioniert das?
[ "Torben Rieckmann", "Mathematik", "Unterricht", "Apps", "Lernen", "Schulmaterial", "Cornelsen Verlag", "App" ]
hamburg
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2019-03-13T18:35:39+01:00
2019-03-13T18:35:39+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-03/app-mathildr-mathe-inklusives-lernen?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg : Gegen das Übersehen
Sie sind direkte Nachbarn, das Museum für Kunst und Gewerbe und das Drob Inn, Hamburgs Drogenkonsumraum. Doch ihre Welten sind maximal getrennt. Tulga Beyerle, die neue Museumsdirektorin, möchte das ändern. Mit einer Ausstellung gegen das Übersehen. ZEIT ONLINE: Am Donnerstag eröffnet die Ausstellung Social Design – mit einer kleinen Sensation. Museumsbesucher können sich für eine Tour zur Suchthilfestelle Drob Inn anmelden. Inklusive des Raums zum Heroinspritzen und Crackrauchen. Warum machen Sie das? Tulga Beyerle: Es geht darum zu zeigen, wie Designer und Architekten das Leben der Menschen besser machen können, mit pragmatischen Entwürfen soziale Probleme lösen helfen. Zu sehen ist zum Beispiel ein mobiler Schlafwagen für Obdachlose. Bei dem Titel und dem Anspruch fand ich, dass wir nicht nur über abstrakte Projekte reden können. Direkt vor unserer Tür liegen ein paar heftige soziale Brennpunkte. Wenn wir es ehrlich meinen mit dem Weltverbessern, müssen wir auch die Welt vor unserer Tür einbeziehen. ZEIT ONLINE: Immerhin sind Sie die erste Direktorin, die sich beim Träger des Drob Inn, dem Verein Jugendhilfe, vorgestellt hat, um zu verstehen, was die Sozialarbeiter dort machen … Beyerle: Offenbar ja, das hat mich überrascht. Ich stamme aus Wien und habe vorher in Dresden gearbeitet. Zur Vorbereitung auf meinen Posten bin ich ein halbes Jahr lang einmal im Monat nach Hamburg gefahren, am Hauptbahnhof ausgestiegen und zum Museum gelaufen. Der Bahnhof, all die Abhängigen, die ja dieselbe Route nehmen, das war heftig. Mir ist aufgefallen, wie viele Leute hier so offenkundig schwer drogenabhängig sind. Ich wollte wissen, was sie alle hier machen, was da los ist. ZEIT ONLINE: Was haben Sie herausgefunden? Beyerle: Drogenabhängige wird es immer geben, das kann man nicht ändern. Aber man kann ändern, wie man damit umgeht. Die Mitarbeiter dort gehen ganz pragmatisch Wege: Essen verkaufen, eine Dusche zur Verfügung stellen, saubere Spritzen anbieten. Sie wissen, dass sie die Sucht nicht verschwinden lassen können, sie ist viel zu stark. Aber sie können die Rahmenbedingungen verbessern, in denen ihre Klienten mit der Sucht leben. Das ist sehr praktisch gedacht, ganz ähnlich wie in meinem ursprünglichen Metier, dem Design. ZEIT ONLINE: Sie haben Designerkollegen eingeladen, den Vorplatz des Drob Inn "menschenfreundlicher" zu gestalten. Wie soll das funktionieren? Beyerle: Ja. Wir haben das Berliner Gestalter-Netzwerk ConstructLab gefragt. Das baut viel im öffentlichen Raum, meistens mobile Lösungen zusammen mit den Anwohnern eines Platzes oder Viertels. Design funktioniert nur dann gut, wenn man die Bedürfnisse aller Betroffenen berücksichtigt. Was da jetzt passieren soll, ist eine Art Nachbarschaftsinitiative. Das Gestalter-Netzwerk bringt das Wissen über Materialien und Formen mit. Die Betreiber des Drob Inn wissen, was in der Vergangenheit schon nicht funktioniert hat. Und die Klienten können sagen, was sie dort vermissen, wie man den Aufenthalt auf dem Vorplatz der Beratungsstelle angenehmer machen kann. ZEIT ONLINE: Der Vorplatz ist das, was man von Ihrer Tür aus sehen kann, der Pulk von Junkies. Wie sieht der Platz heute aus? Beyerle: Er ist sehr abweisend gestaltet. Da ist nichts zum Sitzen, nichts gegen den Regen. Einfach nur Straßenbelag. Das ist Absicht, damit dort kein festes Camp entsteht. Die Designer müssten also eine Lösung finden, die beiden Seiten gerecht wird. Menschenwürdigere Bedingungen für die, die sich dort treffen. Und gleichzeitig nicht zu einladend. Das ist ein bisschen wie die Quadratur des Kreises … Aber wenn es einfach wäre, hätten wir ja keine international renommierten Experten gebraucht. Soweit wir wissen, ist es weltweit das erste Mal, dass sich Gestalter Gedanken machen, wie man einen Platz für Drogenkonsumenten baut. ZEIT ONLINE: Wer bezahlt die Bauten? Beyerle: Dafür gibt es noch keine Finanzierung. Ich sehe uns auch nicht zuständig, das zu bauen oder eine Finanzierung zu finden. Uns geht es da um Denkanstöße. ZEIT ONLINE: Das wäre dann wieder die Zuständigkeit des Senats. Sie glauben, dass das Ideensammeln trotzdem etwas ändert? Beyerle: Ich glaube, dass diesem zerrissenen Ort ein wenig mehr Achtsamkeit sehr guttun würde. Erst mal profitieren alle von der nachbarschaftlichen Atmosphäre, um die wir uns gerade bemühen. Und sollten die Ideen im Anschluss einen Geldgeber überzeugen, umso besser für uns alle: Wenn die Menschen gegenüber nicht mehr im Regen stehen müssen, dann strahlt das auch auf unsere Besucher zurück. Die Ausstellung "Social Design" ist ab dem 29. März im Museum für Kunst und Gewerbe am Steintorplatz, zu sehen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt und am Donnerstag ab 17 Uhr 8 Euro, unter 18 Jahren frei. Die Führungen ins Drob Inn wird es einmal im Monat geben, zum ersten Mal am Sonntag, den 7. April 2019 um 15 Uhr. Eine Anmeldung über [email protected] oder Tel. 040.851735-0 ist erforderlich, zugelassen sind ausschließlich Ausstellungsbesucher. Treffpunkt ist das Museumsfoyer. Weitere Termine, Veranstaltungen und ein Stadtplan mit ausgewählten Social Design-Initiativen in Hamburg gibt es unter www.mkg-hamburg.de .
Nike Heinen
Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe liegt direkt neben dem Drogenkonsumraum der Stadt. Die neue Museumsdirektorin Tulga Beyerle will diese Nähe jetzt nutzen.
[ "Tulga Beyerle", "Hamburg", "Museum für Kunst und Gewerbe", "Obdachlose", "Drogensucht" ]
hamburg
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2019-03-28T19:45:15+01:00
2019-03-28T19:45:15+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-03/museum-kunst-gewerbe-hamburg-drob-inn-tulga-beyerle?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Ali Özdil: "Der Islam wird häufig mit negativem Verhalten assoziiert"
ZEIT ONLINE: Herr Özdil, Sie erklären Ärzten und Pflegern, die in Krankenhäusern, Altenheimen oder Hospizen arbeiten, wie Sie mit muslimischen Patienten umgehen sollten. Warum ist das nötig? Ali Özdil: In Hamburg leben viele muslimische Menschen: Es sind die Familien der Einwanderer, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren nach Deutschland gekommen sind und hier inzwischen in vierter Generation leben; und seit einigen Jahren kommen zunehmend Menschen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Das heißt, Krankenhäuser, Altenheime und andere Pflegeeinrichtungen müssen sich zunehmend um muslimische Patienten und Patientinnen kümmern, kennen ihre Bedürfnissen aber nicht genau. Natürlich sind die Mitarbeitenden dann unsicher im Umgang. Deswegen kommt es gelegentlich zu Konflikten und Irritationen, was eigentlich nicht sein müsste. ZEIT ONLINE : Was sind denn typische Konfliktthemen? Özdil: Zum Beispiel das Thema Besucher: Muslimische Patienten und Patientinnen bekommen manchmal sehr viel Besuch, der laut ist und sich nicht immer an die vorgegebenen Besuchszeiten hält. Gerade auf Intensivstationen ist das ein Problem: Das Pflegepersonal fühlt sich in der Arbeit gestört und ist ja auch gegenüber anderen auf der Station verpflichtet, für Ruhe zu sorgen. Auch wenn jemand stirbt, kann es sein, dass die muslimische Verwandtschaft und Bekanntschaft im Krankenhaus auftaucht, sehr emotional ist und klagt. ZEIT ONLINE : Aber darüber ließe sich doch reden. Özdil: Ja, das sollte man meinen (lacht). Aber tatsächlich scheint das Naheliegende im Alltag doch fernzuliegen. Jedenfalls wundern sich einige der Teilnehmenden in meinen Fort- und Weiterbildungen, wenn ich sage, dass sie mit diesen Leuten sprechen sollten. Was aber stattdessen oft passiert, ist, dass das Pflegepersonal denkt: Laute und viele Besucherinnen und Besucher beobachten wir hier häufig – das muss etwas mit dem Islam, also der Religion zu tun haben. Und Religion ist etwas sehr Privates und über private Dinge haben wir gelernt nicht zu sprechen. ZEIT ONLINE : Hat es denn nichts mit dem Islam zu tun? Özdil: Es gibt für Muslime die Pflicht, Kranke zu besuchen – sogar dann, wenn sie nicht zur Bekanntschaft oder Verwandtschaft gehören. Es gibt aber auch die Empfehlung des Propheten Mohammed: Wenn man einen Kranken besucht, soll man sich kurz und leise aufhalten, damit es für den Patienten nicht unangenehm wird. Und auch wenn jemand verstirbt, heißt es im Islam: Du sollst nicht laut klagen, um die Toten nicht zu stören. ZEIT ONLINE : Es scheint aber so zu sein, dass sich an diese Empfehlungen nicht gehalten wird. Özdil: Weil die meisten Muslime diese Aussagen des Propheten nicht kennen – oder sich tatsächlich einfach nicht daran halten. Schließlich gibt es auch Christen, die ihren Glauben nicht praktizieren und die religiösen Regeln nicht kennen, geschweige denn einhalten. Im Christentum gibt es übrigens ganz ähnliche Regeln in Bezug auf Krankenbesuche. Was ich aber sagen will: Es hat mit dem Islam selbst nichts zu tun, wenn Menschen sich so verhalten. Stattdessen ist es ein individuelles Verhalten oder aber eine kulturelle Eigenheit, die mit Religion nichts zu tun hat. ZEIT ONLINE : Können Sie das genauer erklären? Özdil: Es gibt zum Beispiel in einigen muslimischen Kulturräumen die vorislamische Tradition der Klageweiber. Wenn dort jemand verstirbt, werden extra Frauen engagiert, die laut klagen, an ihren Haaren und Kleidern ziehen, um zu zeigen, wie schwer der Verlust dieses Menschen ist. In anderen Ländern wie Saudi-Arabien dürfen Frauen genau deswegen einen Friedhof gar nicht erst betreten. Wenn also jemand verstirbt und die muslimische Verwandtschaft sehr laut trauert, kann das auch einfach eine Tradition sein, die sich gegenüber der Religion durchgesetzt hat. ZEIT ONLINE : Sie meinen also, dass Verhaltensmuster zu schnell mit Religion in Zusammenhang gebracht werden? Özdil: Oft ist das so, ja. Und leider wird der Islam häufig mit negativem Verhalten assoziiert. Auch dafür ein Beispiel: Es gibt Teilnehmende in meinen Seminaren, die erzählen, sie hätten einen muslimischen Patienten, der immer schlecht gelaunt und unfreundlich sei. Woran das denn liegen könne, fragen sie mich dann. Ich frage: Haben Sie auch nicht muslimische Patienten oder Patientinnen, die schlecht gelaunt und unfreundlich sind, zum Beispiel deutsche? Die Antwort ist immer: Ja, natürlich. Dann frage ich weiter: Und beurteilen Sie deren Verhalten auch als typisch deutsch oder typisch christlich? Nein, natürlich nicht. Stattdessen handelt es sich bei diesen Patienten und Patientinnen einfach nur um unfreundliche und schlecht gelaunte Menschen. Das heißt, die Religiosität steht bei türkischen, afghanischen oder arabischen Patienten und Patientinnen oft im Vordergrund und dient als Erklärung für negatives Verhalten. Dass das auch einfach Menschen sind, die sich schlecht benehmen, macht sich in der Regel niemand bewusst. ZEIT ONLINE : Wie lässt sich das ändern? Özdil: Menschen beobachten ein Verhalten, sie deuten es und dann urteilen sie darüber. Ob jemand etwas gut oder schlecht, richtig oder falsch findet, hängt dabei immer von seinen eigenen Normen ab. Zum Beispiel Lautstärke: In Norddeutschland gilt es als höflich, wenn man eher leise und zurückhaltend im Umgang mit anderen ist. In anderen Kulturen, selbst innerhalb Deutschlands, kann das hingegen als kalt und unfreundlich gewertet werden. ZEIT ONLINE : Aber das sind Vorurteile, wie es sie für alle Kulturen und Religionen gibt. Özdil: Stimmt, und dennoch muss man sich dessen bewusst sein und lernen, die eigene Haltung zu überprüfen. ZEIT ONLINE : Und das bringen Sie Ihren Teilnehmenden in Ihren Seminaren bei? Özdil: Genau. Ich liefere ihnen das Hintergrundwissen, das sie brauchen, um sich selbst zu reflektieren. Was denke ich, wenn ich einer Person begegne und mir ihr Verhalten missfällt? Sehe ich die Person als Individuum und denke: Das ist ein unfreundlicher Mensch. Oder denke ich: So sind sie, die Muslime. Dazu noch ein Beispiel: Einmal hat sich ein Teilnehmer darüber beschwert, dass ihm zur Begrüßung nicht die Hand gegeben wurde. Er empfand das als respektlos. Dabei ist es von der anderen Seite gerade Ausdruck von Respekt, Distanz zu wahren. Das sollte man einfach im Hinterkopf behalten. Und natürlich gilt das für alle Menschen. ZEIT ONLINE : Und was raten Sie nun den Ärzten und Pflegern, die Konflikte vermeiden wollen? Özdil: Dass sie Patienten und Patientinnen als Personen wahrnehmen, unabhängig von Religion und Kultur. Dann schwindet automatisch die Unsicherheit im Umgang. Und woher will man überhaupt wissen, wer praktizierender Muslim ist und wer nicht. Wenn ein Koran auf dem Tisch liegt und jemand fünfmal am Tag gen Mekka betet, dann ist es nicht schwer zu erraten (lacht) – aber ansonsten lohnt es sich, der Person offen zu begegnen. ZEIT ONLINE : Das heißt konkret? Özdil: Das heißt konkret, dass man nachfragt. Zum Beispiel: Ich sehe, Sie tragen ein Kopftuch. Mich würde interessieren, warum? Oder: Ist das ein Koran, der da liegt? Oder auch: Darf ich Ihnen die Hand geben? Bei uns ist das die übliche Begrüßung. Und schon ist man im Gespräch – man würde sagen: Das Eis ist gebrochen. ZEIT ONLINE : Das sind ja eher unverfängliche Themen ... Schwieriger wird es ja zum Beispiel bei der Frage, ob ein Pfleger sich um eine muslimische Frau kümmern darf. Özdil: Auch dazu gibt es im Islam einen Grundsatz: In der Not sind alle Gebote aufgehoben. Das heißt, wenn ich als Mann einer Frau das Leben retten kann, dann tue ich das, auch wenn ich dafür Mund-zu-Mund-Beatmung machen und sie berühren muss. Das heißt, wenn keine Sanitäterin zur Verfügung steht, übernimmt natürlich ein Mann. Das ist kein Problem, man sollte es der muslimischen Patientin nur erklären, damit sie sich darauf einstellen kann. Auch im Ramadan muss natürlich niemand fasten, der krank ist und dadurch noch schwächer wird. Und wenn in Medikamenten Schweinegelatine oder Alkohol enthalten sind, dann können Muslime diese nehmen, wenn es keine Alternative gibt. Es ist eigentlich immer so, dass medizinisches und islamisches Recht übereinstimmen. ZEIT ONLINE : Wie reagieren die Teilnehmenden in Ihren Veranstaltungen, wenn Sie das erklären? Özdil: Die meisten sind überrascht und sehr dankbar für das Wissen und die neue Perspektive, die sie einnehmen können. ZEIT ONLINE : Bemühen sich denn genügend Einrichtungen in Hamburg darum, ihr Personal im Hinblick auf interkulturelle Kompetenzen zu schulen? Özdil: Mein Eindruck ist, dass zu wenige Krankenhäuser, Altenheime und Hospize ihr Personal im Umgang mit muslimischen Patienten und Patientinnen schulen. Ich bin bisher in zwölf Einrichtungen in Hamburg gewesen; regelmäßig und seit Jahren arbeite ich mit dem Kinderhospiz Sternenbrücke und bestimmten Einrichtungen des UKE zusammen. Aber ich glaube, heutzutage muss jede Einrichtung – egal ob Krankenhaus, Schule, Bundeswehr, Polizei oder Kindergarten – ihr Personal im Hinblick auf interkulturelle Kompetenz schulen. ZEIT ONLINE : Sehen die Einrichtungen das anders? Özdil: Nein, die Notwendigkeit sehen alle. Im Grunde ist es auch nur eine Generationenfrage. Und international tätige Einrichtungen müssen ihr Personal schulen, wenn sie wettbewerbsfähig sein wollen. Das UKE ist beispielsweise weltberühmt für seine Onkologie-Station und es kommen sehr viele Patienten und Patientinnen aus dem Ausland, vor allem aus den Arabischen Emiraten. Und damit das so bleibt und die Patienten und Patientinnen nicht beispielsweise in die Uniklinik München gehen, wird das Personal entsprechend qualifiziert. Es geht schließlich um viel Geld und Ansehen. ZEIT ONLINE : Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Özdil: Dass die Menschen Religion nicht als Störfaktor wahrnehmen. Religion kann auch etwas Gutes sein, eine Ressource, die Leute zusammenbringt. Zum Beispiel hat mir mal ein christlicher Seelsorger erzählt, dass muslimische Eltern zu ihm gekommen sind, weil ihre Tochter im Sterben lag. Sie sagten: Bitte helfen Sie uns und beten Sie für sie, Sie sind doch auch ein gläubiger Mensch. Das war für diesen Seelsorger eine der schönsten Erfahrungen seines Berufslebens, weil Nichtchristen ihn um Hilfe gebeten haben und er ihnen diese auch geben konnte.
Myriam Salome Apke
Seit mehr als 17 Jahren schult der Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Ali Özdil (51) Krankenhaus- und Pflegepersonal im Umgang mit muslimischen Patienten.
[ "Islam", "Religion", "Krankenhaus", "Gesundheitswesen", "Ali Özdil", "Pflegepersonal", "Muslime" ]
hamburg
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2020-09-23T16:11:31+02:00
2020-09-23T16:11:31+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-09/ali-oezdil-islamwissenschaftler-religionspaedagoge-krankenhaus-pflege-patienten-islam-umgang/?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Extremismus: "Auch die muslimische Community kann sich stärker wehren"
DIE ZEIT: Herr Voß, Sie leiten nun seit genau zehn Jahren das Landesamt für Verfassungsschutz. Feiern Sie das? Torsten Voß: Ehrlich gesagt: Ich werde da nicht sentimental. Die Arbeit geht immer weiter. Ich mag meine Arbeit, die kein reiner Job, sondern eine Berufung ist, gern – auch wenn es dazugehört, dass ich ihr 24/7 nachgehe. Der 59 Jahre alte Beamte ist seit dem Jahr 2011 beim Hamburger Verfassungsschutz, seit August 2014 leitet er das Amt. Zuvor hatte Voß eine Karriere bei der Hamburger Polizei eingeschlagen – nach der Ausbildung für den mittleren Dienst arbeitete er unter anderem als Zivilfahnder an der Davidwache auf St. Pauli. Später leitete er das Mobile Einsatzkommando und diente als Büroleiter der Präsidialabteilung unter mehreren Innensenatoren. ZEIT: Derzeit scheint die Demokratie von allen Seiten bedroht. Können Sie überhaupt noch alle Extremisten in der Stadt eng beobachten? Voß: Wir zählen gut 1.800 Islamisten in Hamburg, mehr als 1.000 Linksextremisten und 380 Rechtsextremisten. Dazu kommen noch Extremisten der kurdischen PKK und weitere Aufgaben. Ich führe hier etwa 200 Bedienstete. Da ist völlig klar, dass man priorisieren muss. Immerhin wissen wir, dass die Priorisierung richtig ist, solange kein schwerer, von langer Hand vorbereiteter Anschlag in der Stadt geschieht. ZEIT: Was ist die schwerste Aufgabe dabei? Voß: Rechtzeitig zu erkennen, wann ein Mensch vielleicht ohne vorherige Kontakte in eine extremistische Szene zu schwerster Gewalt schreiten könnte. Wir mussten zuletzt in Mannheim, aber auch bei vorherigen islamistisch motivierten Taten sehen, dass ein Messer reicht, um Unschuldige zu töten. Einzelne Täter, die sich individuell sehr schnell radikalisieren und womöglich auch psychisch auffällig sind, werden eine Herausforderung für alle Sicherheitsbehörden bleiben. ZEIT: Islamisten sind seit Ihrem Amtsantritt ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit. Sie zählen aber heute doppelt so viele Extremisten in diesem Bereich wie vor zehn Jahren. Wie kann das sein? Voß: Als ich anfing, formierte sich der sogenannte "Islamische Staat" gerade erst, und auch wenn er später territorial zerfiel, gilt das nicht für seine Ideologie. Wir haben es geschafft, Koranverteilungen in Hamburg zu stoppen, viel tiefere Einblicke in die Szene zu erlangen, auch deshalb sind die Zahlen gestiegen. Es ist aber auch richtig, dass die Szene aktuell wieder an Stärke gewinnt. ZEIT: Zuletzt sind tausend Menschen nach einem Aufruf von Muslim Interaktiv durch St. Georg gezogen, haben ein Kalifat gefordert, aber die Polizei konnte den Aufmarsch nicht verbieten. Macht Sie das wütend? Voß: Nein, und es hat mich auch nicht überrascht. Muslim Interaktiv instrumentalisiert regelmäßig aktuelle Themen für seine ideologischen Zwecke. Aber dass eine Woche später bei einer weiteren Demonstration, nach umfassender Berichterstattung in zahlreichen Medien, rund 2.300 Menschen dort waren, hat mich schon überrascht. Das ist ein Warnzeichen. ZEIT: Warum? Voß: Zu Muslim Interaktiv gehört ein harter Kern von etwa 15 bis 25 Aktiven, dazu ein Unterstützerumfeld von rund 100 Menschen. Hinzu kommen weitere Sympathisanten. Das heißt, unter den 2.300 Teilnehmern waren längst nicht nur Extremisten, aber viele junge Menschen, die es in diese Kreise zieht. Wir informieren sehr intensiv und öffentlich darüber. Doch das wird noch nicht überall gehört. Da appelliere ich auch an die Eltern, auf ihre Kinder einzuwirken. ZEIT: Raheem Boateng, den Sie als eine der Leitfiguren von Muslim Interaktiv beobachten, zieht Nachwuchs über die sozialen Medien heran. Er studiert unbehelligt an der Universität Hamburg. Darf das sein? Voß: Darüber habe ich nicht zu entscheiden. Aber ich wünsche mir, dass er niemals in Schulen unterrichten darf. Islamisten wie er verbreiten taktisch ein Opfernarrativ, dass alle Muslime verfolgt und diskriminiert würden, letztlich mit dem Ziel, neue Anhänger zu gewinnen und in den Islamismus zu ziehen. Das müssen wir, und damit meine ich die gesamte Gesellschaft, entlarven. Denn ein solcher Islamismus kann Hass auf unsere Gesellschaft schüren, möglicherweise bei Einzelnen auch Gewalt. ZEIT: In den sozialen Medien haben die Islamisten eine Deutungshoheit. Wie also soll das gehen? Voß: Unsere Aufgabe beim Verfassungsschutz ist es, jene zu beobachten, die mit der Szene bereits sympathisieren. Wir behalten den digitalen Raum sehr eng im Blick, klären auf und geben Hinweise an andere Sicherheitsbehörden weiter. Wir sehen dort in Einzelfällen Minderjährige, die extreme Gewaltfantasien äußern. Und dass in diesen Foren jemand Widerspruch gegen die Islamisten äußert, kommt in der Tat selten oder gar nicht vor. Ich wünsche mir aber insgesamt einen stärkeren Gegendruck aus der Gesellschaft. ZEIT: Was meinen Sie damit? Voß: Gegen Rechtsextremismus sind in Hamburg mehrmals mehrere Zehntausend Menschen mit Recht auf die Straße gegangen, gegen die Demonstrationen von Muslim Interaktiv nur 1.000 Menschen. Auch die muslimische Community kann sich stärker wehren. Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass es Unterschiede in der Gefahr durch Islamisten und Rechtsextreme gibt. ZEIT: Welche? Voß: Islamistischer Terror ist nach wie vor eine Bedrohung für die Sicherheitslage. Aber der Islamismus bedroht nicht unmittelbar unsere Demokratie. Weder Muslim Interaktiv, die islamistische Hizb ut-Tahrir noch andere Gruppierungen werden es schaffen, ein Kalifat in Deutschland zu errichten. ZEIT: Halten Sie die Gefahr von rechts dagegen für staatsgefährdend? Voß: Wir sollten sehr wachsam sein. Die Anschlagsgefahr durch Islamisten ist nach wie vor sehr hoch – aber Rechtsextremisten bedrohen die Grundfesten und Institutionen unserer Demokratie und streben nach Umsturz und Macht. Wenn rechtsextremistische Parteien in Landesparlamenten wirken können oder gar in Regierungsverantwortung kommen, ist das schleichendes Gift für die Demokratie. Der Hamburger Landesverband der AfD ist derzeit kein Beobachtungsobjekt. Ich finde es aber richtig, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die Bundespartei als Verdachtsfall einstuft, was jetzt obergerichtlich bestätigt wurde.
Christoph Heinemann
Seit zehn Jahren leitet Torsten Voß das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz. Hier spricht er über alte und neue Gefahren – und wie ihn das Amt veränderte.
[ "Extremismus", "Hamburg", "Islamismus", "Verfassungsschutz", "Rechtsextremismus", "Landesamt für Verfassungsschutz", "Polizei", "NSU", "Universität Hamburg" ]
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2024-07-24T15:04:43+02:00
2024-07-24T15:04:43+02:00
https://www.zeit.de/2024/32/extremismus-verfassungsschutz-islamisten-rechtsextremismus-radikalisierung?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Politische Einstellung von Künstlern: "Man muss nicht jede Meinung, die man zeigt, auch selbst teilen"
Die Fotografin Nan Goldin ist einer der großen Stars der internationalen Kunstszene: Sie gewinnt Preise , führt die Bestenlisten von Zeitschriften an und ein Dokumentarfilm über ihr Leben war im vergangenen Jahr für den Oscar nominiert. Außerdem ist Nan Goldin politisch engagiert und forderte wiederholt den Boykott von Israel, einschließlich seiner Kulturschaffenden und Intellektuellen. Bereits vor einigen Jahren hat die Bundesregierung solche Boykottaufrufe verurteilt – und s eit den Anschlägen der Hamas und dem Krieg im Gazastreifen wird umso heftiger über sie gestritten. Was bedeutet das für einen Ausstellungsmacher, der Nan Goldin ausstellen möchte? Fragen an Dirk Luckow, den Intendanten der Deichtorhallen in Hamburg. ZEIT ONLINE: Herr Luckow, wir wollen mit Ihnen über Ihre politische Verantwortung als Leiter eines großen Ausstellungshauses sprechen. Der Berliner Kultursenator hatte Anfang des Jahres geplant, die Kulturförderung seiner Stadt an die Bedingung zu knüpfen, dass sich Künstlerinnen und Künstler dazu bekennen, gegen Antisemitismus, Homophobie und Rassismus zu sein. Das ließ sich aber nicht umsetzen. Der Hamburger Kultursenator lehnte diese Idee grundsätzlich ab . Er sagte, die Politik habe die Kunstfreiheit zu achten, alles Weitere sei Aufgabe der Kulturveranstalter. Dirk Luckow: Diese Haltung finden wir in den Deichtorhallen selbstverständlich sehr gut. Die politisch Verantwortlichen sollten da nichts verordnen. Es braucht viel Kommunikation auf allen Seiten. Es sind die Gespräche mit den Künstlerinnen und Künstlern, die zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit führen. Seit dem 7. Oktober befinden wir uns in einer Situation, in der politische Kontroversen leicht aufflammen, da ist es ratsam, sich um Deeskalation zu bemühen. Dafür ist es ein wichtiger Schritt, den Dialog fortzusetzen. Man muss Künstlerinnen und Künstlern grundsätzlich das Recht zusprechen, dass sie gleichermaßen Empathie entweder der palästinensischen oder israelischen Bevölkerung gegenüber empfinden und über die Situation in Gaza oder der Geiseln verzweifelt sind. Wenn es um politischen Aktivismus geht, bedarf es einer differenzierten Abwägung zwischen dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und den juristischen Schranken, die zu respektieren sind. ZEIT ONLINE: Sie werden dieses Jahr mit Nan Goldin eine Foto-Künstlerin ausstellen, die wie keine zweite für die Verbindung von Kunst und Aktivismus steht … Luckow: Moment, es ist nicht so, dass wir eine große Einzelausstellung von Nan Goldin planen. Die ist in der Nationalgalerie in Berlin vorgesehen, wo ihre Filme und Diaprojektionen ausgestellt werden. Wir zeigen Werke von Nan Goldin aus unseren Beständen der Sammlung F. C. Gundlach. Es gibt dort über hundert Prints, ein echter Schatz. Wir kombinieren sie mit Arbeiten von David Armstrong, Philip-Lorca diCorcia und Mark Morrisroe, dem Freundeskreis um Nan Goldin in der Bostoner Fotoszene der Achtziger- und Neunzigerjahre. Diese Ausstellung läuft bei uns in der Halle für aktuelle Kunst parallel zu einer Retrospektive von Franz Gertsch , ein Weltkünstler wie Nan Goldin und Klassiker, den wir durch die subkulturelle Welt von Goldin und den befreundeten Fotografen ergänzen. Sie alle, auch Gertsch, richten den Blick auf ihre eigene Szene und Bekannte, zeigen persönliche, gebrochene, intime Motive. Da gibt es viele Verbindungen zu entdecken. ZEIT ONLINE: Nan Goldin hat konsequent die Papiere der antiisraelischen Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) unterschrieben, vor dem 7. Oktober und auch danach. Haben Sie deshalb gezögert, sie auszustellen? Luckow: Die Idee der Ausstellung existierte schon lange vor dem 7. Oktober. Uns wurde parallel bewusst, dass Nan Goldin sich deutlich auf die Seite Palästinas stellt – übrigens als jüdische Künstlerin, was in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt. Es war ein Schock, als im vergangenen Jahr in Saarbrücken eine Ausstellung von Candice Breitz abgesagt wurde , ebenfalls eine jüdische Künstlerin und in Südafrika aufgewachsen, aufgrund von Äußerungen zum Nahostkonflikt, die mit ihrer eigenen Biografie zusammenhingen. In der Ausstellung sollte es um Prostitution in Johannesburg gehen, ein ganz anderes Thema! ZEIT ONLINE: Das war eine Fehlentscheidung? Luckow: Ehrlich gesagt war es ein Trauerspiel! Einer jüdischen Künstlerin, die sich institutionell und intellektuell in einem offenen, auch jüdischen Umfeld verortet, wird eine Ausstellung abgesagt, mit der Begründung, sie habe sich antisemitisch geäußert? Da stimmt doch etwas nicht! Und es ist ebenso völlig unverständlich, wenn nach dem grauenvollen Überfall der Hamas auf Israelis als erstes " Free Palestine! " skandiert wird. ZEIT ONLINE: Nan Goldin hat wenige Tage nach dem Anschlag einen offenen Brief in der Zeitschrift Artforum unterschrieben . Darin wurde Israel verurteilt, es war auch schon von "Genozid" die Rede, ohne dass der Anschlag der Hamas mit einem Wort erwähnt wurde. Warum unterschreibt eine Künstlerin ein paar Tage nach dem größten Pogrom seit dem Holocaust so einen Text? Reden Sie mit Nan Goldin über solche Sachen? Luckow: Wir versuchen grundsätzlich, mit allen Künstlerinnen und Künstlern zu reden und alle relevanten künstlerischen Seiten einzubeziehen. Nachdem wir etwa die Sammlung der Sharjah Art Foundation aus den Vereinigten Arabischen Emiraten unter dem Aspekt der Diaspora präsentiert haben, gab es die Veranstaltung Bridging the Gap , die wir mit dem Freundeskreis des Israel Museums veranstalteten. Darin diskutierten unter anderem Ilit Azoulay, Leon Kahane und Yehudit Sasportas und schlugen eine Brücke. Auch die Ausstellung Survival in the 21st Century wird diese Form des Dialoges fortsetzen. Man muss angesichts der aktuellen Weltlage und auch der speziellen Geschichte Deutschlands sehr sensibel mit der Situation umgehen – beobachten, achtsam sein, dass nicht Öl ins Feuer gegossen wird. Lasst uns doch lieber miteinander sprechen und die Diskussion führen!
Oskar Piegsa
Die Fotografin Nan Goldin fordert den Boykott von Israel. Kann man sie noch guten Gewissens ausstellen? Ja, sagt Dirk Luckow, Intendant der Deichtorhallen in Hamburg.
[ "Hamburg", "Deichtorhallen", "Fotografie", "Kunst", "Debatte", "Nahostkonflikt" ]
hamburg
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2024-05-15T13:47:53+02:00
2024-05-15T13:47:53+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2024-05/politische-einstellung-kuenstler-israel-nan-goldin-deichtorhallen-dirk-luckow?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Brandschutz: "Wichtig ist die Ortskenntnis. Wo steht Statue A? Wo ist Reliquie B?"
Am Montagabend zerstörte ein Brand eine der berühmtesten Kirchen der Welt, Notre-Dame in Paris. Feuerwehrleute kämpften stundenlang mit den Flammen, doch den Turm konnten sie nicht mehr retten. Jan Ole Unger von der Feuerwehr Hamburg erklärt, ob Michel oder Rathaus ebenfalls einem solchen Unglück zum Opfer fallen könnten und was die Hansestadt versucht, um das zu verhindern. ZEIT ONLINE: Herr Unger, kann ein Brand wie in Paris auch Hamburg treffen, etwa den Michel oder das Rathaus? Jan Ole Unger: Der Michel ist ja 1906 komplett abgebrannt. Der Turm stürzte ein und der Türmer, der das Feuer gerade noch melden konnte, kam dabei ums Leben. Die Erfahrungswerte aus diesem Feuer sind in den Wiederaufbau eingeflossen. Man kann aber nicht sagen: "Das kann in Hamburg nie passieren!" Das wäre gelogen. In klassischen Wohngebäuden gibt es Brandabschnitte, damit sich Feuer nicht ausbreiten können. Das ist bei Kirchen mit ihren Kuppeln und Glockentürmen nicht möglich. Im Kirchenschiff gibt es in der Mitte keine Brandwand oder eine Brandschutztür, die wir schließen könnten. ZEIT ONLINE: Der Dachstuhl von Notre-Dame bestand aus unzähligen Holzbalken, was man von außen gar nicht vermutet hätte. Was könnte denn in Michel und Rathaus brennen? Unger: Im Michel wurde auch viel Holz verbaut! Im Inneren befinden sich das Gestühl, die Kanzel, die Orgel und die Empore mit Intarsienarbeiten. Im Rathaus gibt es viele Vertäfelungen, Zwischendecken, Leitungen und Kanäle, die hinter der sichtbaren Fassade laufen. Das können im Brandfall viele kleine Fallen für die Feuerwehr sein, die man auf den ersten Blick nicht sieht. ZEIT ONLINE: Das heißt, da steckt ordentlich Zunder drin? Unger: Das ist bei allen historischen Gebäuden so. Da steht nicht Stein auf Stein, sondern es sind allein durch die lange Bauzeit und durch Renovierungen immer wieder neue Materialien dazugekommen. Sowohl in Notre-Dame als auch im Michel ist alles sehr filigran, da findet ein Feuer reichlich Nahrung, und seien es nur Holzstatuen, das Gestühl und die Bänke. Wenn eine gewisse Temperatur erreicht ist, genügt das, um andere Gegenstände zu entzünden. ZEIT ONLINE: Werden solche wichtigen historischen Gebäude anders gelöscht als ein herkömmliches Wohnhaus? Unger: Jedes Feuer wird per se gleich bekämpft. Es gibt keine Taktik A für das Rathaus oder eine Taktik B für den Michel. Wir hatten gerade erst eine Übung am Michel, bei der die Steigleitung geprüft und erste Zugriffe trainiert wurden. Bei Notre-Dame war es etwa besonders schwierig, an den Dachstuhl ranzukommen, der ist 50 bis 60 Meter hoch. ZEIT ONLINE: Besonders kluge Menschen diskutierten Montagnacht ja gleich, ob man nicht Löschflugzeuge oder -hubschrauber einsetzen hätte können. Unger: Unsinn kommentiere ich nicht. Aber man muss sich nur einmal vorstellen, was passiert, wenn Tausende Liter Wasser schlagartig auf vom Brand geschwächtes Mauerwerk treffen. ZEIT ONLINE: In Notre-Dame konnten immerhin unersetzbare Reliquien gerettet werden … Unger: … und jetzt wissen Sie auch, wieso dort 400 Feuerwehrleute im Einsatz waren. Viele waren vermutlich damit beschäftigt, Kunstgegenstände zu retten. Das wäre auch in Hamburg der Fall. ZEIT ONLINE: Wissen Sie, was Sie als Erstes rausholen müssen und wo das steht? Unger: Deshalb machen wir im Michel immer wieder Übungen mit den umliegend stationierten Wachen. Wichtig ist die Ortskenntnis. Wo steht Statue A? Wo ist Reliquie B? Aber es gibt keinen Evakuierungsplan. Das oberste Ziel ist immer die Menschenrettung. Dafür setzen wir auch unser Leben ein, das haben wir geschworen. ZEIT ONLINE: Was können Sie tun, um solche Brände in Hamburg nach Möglichkeit zu verhindern? Unger: Wir stehen immer in engem Kontakt zum Michel oder zu anderen Einrichtungen. Bei Baumaßnahmen werden wir sehr früh beteiligt. Dann organisieren wir beispielsweise eine Brandwache, die einen Kleinbrand sofort löschen könnte. ZEIT ONLINE: Können Sie aus dem Brand in Paris für Hamburg lernen? Unger: Dazu ist es noch zu früh, dort raucht ja noch alles. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass alle Feuerwehren in Europa daran interessiert sind, was die Pariser Kollegen für Erkenntnisse aus dem Unglück ziehen.
Sigrid Neudecker
Notre-Dame in Paris wurde von einem verheerenden Feuer zerstört. Könnte die Hamburger Feuerwehr den Michel oder das Rathaus in einem ähnlichen Fall retten?
[ "Brandschutz", "Feuerwehr", "Jan Ole Unger", "Hamburg", "Paris", "Reliquie", "Notre Dame" ]
hamburg
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2019-04-16T19:53:44+02:00
2019-04-16T19:53:44+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-04/brandschutz-hamburg-michel-rathaus-feuerwehr-jan-ole-unger?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Maik Klokow: "Erreichen wir auch Menschen, die keine Harry-Potter-Fans sind?"
Kalt pfeift der Wind über den Hamburger Großmarkt – ein weitläufiges Gelände in Hammerbrook, auf dem bis vor ein paar Jahren nur frühmorgens Betrieb herrschte. Dann kam Maik Klokow – und baute eine Mehrzweckbühne in eine der Markthallen. Klokow, heute 55, war einst Geschäftsführer des Musicalkonzerns Stage Entertainment, danach gründete er die Produktionsfirma Mehr! Entertainment, die er schließlich an die britische Ambassador-Group verkaufte. Nach einigen Jahren Spielbetrieb war die Bühne zuletzt erneut eine Baustelle: Ab 15. März wird hier das Theaterstück "Harry Potter und das verwunschene Kind" aufgeführt, die Fortsetzung der Geschichte aus den Romanen von Joanne K. Rowling. In London läuft das Stück seit 2016, es gilt als erfolgreichste Theaterproduktion der Welt. Wenige Tage vor der Premiere, auf der Bühne machen sich gerade die Darsteller zur Probe warm, sitzt Klokow mit zufriedener Miene im Zuschauerraum. ZEIT ONLINE: Herr Klokow, vor der Premiere von Harry Potter haben Sie 21 Millionen Euro in den Umbau dieses Theaters investiert. Wo genau steckt das Geld? Maik Klokow: Schauen Sie mal nach oben. Die Decke des Zuschauerraums, in dem wir hier sitzen, ruht auf Stelzen. Darüber befindet sich das Dach der Großmarkthalle, aber das ist nicht darauf ausgelegt, große Lasten zu tragen. Wir haben hier also buchstäblich ein Theater in die Großmarkthalle hineingebaut. Alle Lasten liegen punktgenau auf den Pfählen, auf denen der Großmarkt selbst ruht – die Pfahlgründe liegen 16 Meter tief in morastigem Boden. Der Großteil des Geldes steckt also in der Statik. ZEIT ONLINE: Wäre das nicht auch anders – und günstiger – gegangen? Klokow: Hier auf dem Großmarkt jedenfalls nicht – und der Atmosphäre an diesem Ort ist es überhaupt zu verdanken, dass wir die Lizenz für die Produktion bekommen haben. In die Ausstattung des Stücks ist dann noch einmal die gleiche Summe geflossen. ZEIT ONLINE: Wie lange muss Harry Potter laufen, damit sich die Sache für Sie rechnet? Klokow: Ich hoffe, dass wir drei Jahre spielen können, besser vier. Unser Mietvertrag läuft bis 2034, mit Option auf Verlängerung. Wir wollen hier nicht einfach nur einen Schuss ins Glück machen. ZEIT ONLINE: Wie sehr nervt es Sie, dass Harry Potter und das verwunschene Kind immer wieder fälschlich als Musical bezeichnet wird? Klokow: Inzwischen nervt es mich nur noch, wenn Journalisten es sagen, denn die müssten es besser wissen. Wenn Zuschauer nicht sicher sind, in welche Sparte sie das Stück stecken sollen, finde ich das verzeihlich. Sie haben damit auch nicht ganz unrecht. Wie ein klassisches Schauspiel wirkt das Stück nicht unbedingt, andere Shows dieser Größenordnung sind tendenziell immer Musicals, und es gibt sogar mehrere Musical-Elemente: Choreografien, Musik, Effekte. Nur: Es wird eben nicht gesungen. ZEIT ONLINE: Damit wir also keine Fehler machen: In welche Sparte stecken Sie denn das Stück? Klokow: Es ist am ehesten eine Mischung aus Schauspiel, Musical und großer Zaubershow. ZEIT ONLINE: Ein weiterer Grund für die Verwirrung könnte auch in Ihrer Person liegen: Sie sind ein Mann des Musicals, haben zuvor Dirty Dancing , Elisabeth und We will rock you auf dem Großmarkt aufgeführt, waren Chef von Starlight Express und haben in ihrer Zeit als Geschäftsführer von Stage Entertainment den König der Löwen nach Hamburg geholt. Klokow: Als Mann des Musicals sehe ich mich trotzdem nicht – meine Theaterkarriere währt jetzt 32 Jahre, die ersten habe ich an einem klassischen Drei-Sparten-Haus verbracht. ZEIT ONLINE: Das heißt, Harry Potter ist für Sie auch eine Art Rückkehr zum Sprechtheater?
Florian Zinnecker
42 Millionen Euro hat Maik Klokow investiert, um in Hamburg "Harry Potter und das verwunschene Kind" aufführen zu können. Jetzt muss das Stück ein Erfolg werden.
[ "Harry Potter", "Theater", "Maik Klokow", "Schauspiel" ]
hamburg
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2020-03-06T15:35:39+01:00
2020-03-06T15:35:39+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-03/maik-klokow-harry-potter-und-das-verwunschene-kind-theater/?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
SOS-Kinderdorf Hamburg: "Keine Trennung zwischen Privatleben und Beruf"
Ein SOS-Kinderdorf soll mehr sein als Unterbringung: Es soll Kindern, die nicht mehr bei ihren Eltern leben können, eine neue Familie geben, bis sie auf eigenen Füßen stehen. Das gilt nicht nur in Krisengebieten, sondern auch in deutschen Großstädten – mitten in Hamburg zum Beispiel. Am Mittwoch wurde der Grundstein für ein SOS-Kinderdorf im Stadtteil Dulsberg gelegt. Hier wachsen viele Kinder unter schweren Bedingungen auf. Und hier soll im Frühjahr 2021 das SOS-Kinderdorf seine Türen öffnen. Wie dort neue Familien wachsen sollen und was die Arbeit in der Einrichtung den Ersatzmüttern und -vätern abverlangt, erklärt Torsten Rebbe, Leiter von SOS-Kinderdorf Hamburg. ZEIT ONLINE: Die meisten kennen SOS-Kinderdorf als Krisenhelfer in Ländern, wo viele Kinder ihre Eltern verloren haben. Wieso brauchen wir nun auch eins mitten in Hamburg? Torsten Rebbe: In erster Linie wollen wir Familien stärken. Deshalb hat unser SOS-Kinderdorf einen öffentlichen Teil, wo Eltern Rat für das Familienleben finden, auch wenn in den Familien nichts Schlimmes passiert ist. Zum anderen kümmern wir uns um Kinder, die nicht mehr in ihrer Familie leben können, weil ihnen dort Gefahr an Leib und Leben droht. Die brauchen dann woanders ein neues Zuhause. Dafür ist der Wohnteil des SOS-Kinderdorfs gedacht. ZEIT ONLINE: Oft kommen Kinder, die in ihrem Elternhaus nicht sicher sind, zu Pflegefamilien. Was machen Sie anders? Rebbe: Pflegeeltern sind in der Regel Laien, die angebunden sind ans Jugendamt, aber nicht per se eine Ausbildung haben. Unsere Kinderdorf-Mütter und -Väter haben mindestens eine Erzieherausbildung. Und, was ganz wichtig ist: Sie haben eine Institution drumherum. Da sind die Mitarbeiter der ambulanten Hilfen, die die Elternarbeit übernehmen können. Da sind Kolleginnen und Kollegen, die Rat geben. Im Kinderdorf leben mehrere Familien unter einem Dach, die unterstützen sich gegenseitig. Dieses Netzwerk und die Professionalisierung unterscheidet die Kinderdorf-Familien von den Pflegefamilien. ZEIT ONLINE: In welchen Situationen werden diese Netzwerke wichtig? Rebbe: Wenn etwa die leibliche Mutter des von uns betreuten Kindes psychisch erkrankt ist, dann kann es – je nachdem, wie ausgeprägt die Erkrankung ist – nötig sein, sie von ihren Kindern fern zu halten. Sonst macht sie schon durch ihre Anwesenheit alle verrückt. Natürlich soll die Mutter soziale Kontakte zu ihren Kindern pflegen können, aber in solchen Fällen ist eine Begleitung wichtig. Man muss sozusagen eine Firewall um die Kinder herum aufbauen. In solchen Situationen sind Pflegeeltern in der Regel auf sich allein gestellt. ZEIT ONLINE: Das heißt, im Kinderdorf sind die Kinder womöglich besser aufgehoben? Rebbe: Wir machen nichts besser als alle anderen. Wir machen es nur anders. Uns geht es um die Frage: Wie lässt sich ein Familiengefühl künstlich herstellen? Da haben wir ein Konzept, das seit 70 Jahren in der ganzen Welt erprobt wird. ZEIT ONLINE: Wie schafft man denn eine künstliche Familie? Rebbe: Familie konstituiert sich über Rituale: dass man zusammen isst, Ausflüge macht, Zeit miteinander verbringt. Man weint zusammen, man lacht zusammen – das macht Familie aus. Rituale allein bringen natürlich nichts, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist. Deswegen ist die Kinderdorf-Mutter oder der Kinderdorf-Vater entscheidend. Diese Person muss vor allem eine Riesenportion Liebe mitbringen – und auch ein gutes Verständnis für den Leidensweg, den die Kinder in der Regel hinter sich haben. ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für den Berufsalltag der SOS-Kinderdorf-Eltern? Rebbe: Für sie gibt es keine Trennung zwischen Privatleben und Beruf. Sie verpflichten sich für etwa zehn bis 15 Jahre, eine Familie mit sechs Jungen und Mädchen großzuziehen. Während dieser Zeit ist das Kinderdorf ihr Lebensmittelpunkt. Sie wohnen hier mit den Kindern zusammen, helfen bei den Hausaufgaben, fahren sie zum Arzt – wie in einer Familie eben. Nicht selten werden sie auch Mama oder Papa genannt. ZEIT ONLINE: Welche Situationen bringen SOS-Kinderdorf-Eltern Ihrer Erfahrung nach an ihre Grenzen? Rebbe: Wenn beispielsweise Kinder ihre Wut und Trauer aufgrund bisheriger schlechter Beziehungserfahrungen an ihnen auslassen. Das ist dann schon schwierig auszuhalten. Supervision und die kollegiale Unterstützung helfen hier, zu unterscheiden: Was hat wirklich mit mir zu tun und was nicht? Denn eigentlich gilt die Wut ja jemand anderem. ZEIT ONLINE: Haben Sie schon Menschen gefunden, die sich den Job zutrauen? Rebbe: Ja, zwei von drei Stellen für das Kinderdorf in Dulsberg haben wir schon besetzt. Das ist ein großes Glück, denn es gibt nicht viele Menschen, die diese riesige Verantwortung als Gewinn erleben. Wenn man sich auf dieses Abenteuer einlässt, dann ist das eben auch eine moralische Verpflichtung.
Annabel Trautwein
Im ersten SOS-Kinderdorf Hamburgs sollen 18 Kinder und drei Erwachsene zu Familien zusammenwachsen. Doch wer eignet sich dafür?
[ "SOS-Kinderdorf", "Kindererziehung", "Kinder", "Familienzentrum", "Sozialarbeitende", "Sozialarbeit", "Hamburg", "Torsten Rebbe", "Dulsberg" ]
hamburg
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2019-09-04T21:09:20+02:00
2019-09-04T21:09:20+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-09/sos-kinderdorf-hamburg-dulsberg-familienzentrum-kinder-eroeffnung?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Marie Nejar: "Alle sehen in mir immer das Exotische, nicht das Deutsche"
Die Schauspielerin und NS-Zeitzeugin Marie Nejar ist im Alter von 95 Jahren verstorben. In diesem Interview aus dem Jahr 2015 spricht sie über Rassismus, Identität – und die Hilfsbereitschaft, die sie auf St. Pauli erfahren hat. In den fünfziger Jahren war Marie Nejar ein Kinderstar . Obgleich bereits über zwanzig, sang sie mit Teddybär im Arm Schlager über süße Früchte, große Tiere und Mütterlein. Unter dem Künstlernamen Leila Negra tourte sie mit Sängern wie Peter Alexander durch Nachkriegsdeutschland. Marie Nejar wurde 1930 als Tochter einer Deutschen und eines Ghanaers geboren. Kurz vor Hitlers Machtergreifung. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf St. Pauli auf. Ihren Vater, einen Schiffssteward, sah sie nur, wenn er im Hafen festmachte. Als Marie Nejar zehn Jahre alt war, starb ihre Mutter. Sie verblutete, weil ihr nach einer verunglückten Abtreibung kein Krankenhaus helfen wollte. Nach ihrer Schlagerkarriere, mit 27 Jahren, machte Marie Nejar in Rissen eine Ausbildung zur Krankenschwester. Bis zur Rente arbeitete sie in verschiedenen Häusern, zuletzt im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Sie lebt heute in Eimsbüttel, unweit entfernt von jenem Stadtteil, in dem sie als dunkelhäutiges Kind den Rassenwahn der Nazis überlebte . An diesem Freitag, den 20. März, wird sie 85 Jahre alt. ZEIT ONLINE: Frau Nejar, haben sich Menschen auf dem Kiez weniger vom Nationalsozialismus beeinflussen lassen als anderswo? Marie Nejar: Ich glaube schon. Die Leute auf St. Pauli waren höchstwahrscheinlich etwas toleranter. Ausländer waren durch den Hafen bekannt. Man sah schwarze Matrosen, man sah Japaner, Chinesen. Und ich war ein kleines Kind. Das macht auch etwas aus. Ich habe überleben können, weil mich die Leute geschützt haben, besonders in meiner Schule. ZEIT ONLINE: Wie hat sich das gezeigt? Nejar: Als die Kinder der Seilerstraße wegen den Bombenschäden zu uns in die Schule Taubenstraße evakuiert wurden, sollte ich einer Dame Unterlagen meiner Lehrerin bringen. Als diese mich sah, schrie sie sofort auf: "Was willst du hier? Hat deine Lehrerin keine andere Schülerin? Muss sie dich schicken?" Meine Lehrerin ist dann selber zu ihr gegangen und kehrte – knallrot im Gesicht – zurück. ZEIT ONLINE: Was hat sie gesagt? Nejar: Sie hat mich getröstet: Ich gehöre hierher, ich sei kein Mädchen, das Schande mache. Ich hatte Angst um die Lehrerin und natürlich auch um mich. Die Frau aus der Seilerstraße, die mich so hasste, hatte zu der Zeit ja Recht: In den Augen der Nazis gehörte ich einer "minderwertigen Rasse" an. Was, wenn die zum Direktor geht? Er hätte mich der Schule verweisen können. Das ist aber nicht passiert – und daran sehe ich, was für eine tolle Schule ich hatte. ZEIT ONLINE: Wurde Ihnen im Alltag bewusst, welche Folgen die Rassengesetze der Nazis für sie haben könnten? Nejar: Lange Zeit waren sie für mich abstrakt. Aber als ich an Scharlach erkrankt war, verstand ich, was sie bedeuteten. Eigentlich hätte ich ins Krankenhaus gemusst. Aber unser jüdischer Hausarzt Doktor Blumenthal warnte uns vor den Zwangssterilisationen, die mir dort hätten widerfahren können. Er kam stattdessen jeden Morgen und jeden Abend in unsere Wohnung, um nach mir zu sehen und mir Medikamente zu verabreichen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Monate später war das Schild an seiner Haustüre abmontiert. ZEIT ONLINE: Gab es weitere solche Situationen? Nejar: Eine andere Sache war, dass mein Lehrer mir keinen Geigenunterricht mehr geben durfte. Er hatte mich und ein blondes Mädchen für eine Aufführung im Tropeninstitut in der heutigen Bernhard-Nocht-Straße ausgewählt. Es war Weihnachten, wir haben dort mit den Soldaten Lieder gesungen. Uns wurde dafür ein Mittagessen versprochen. Darauf haben wir uns unheimlich gefreut. Nach fast anderthalb Stunden haben uns die Professoren und Direktoren plötzlich rausgeschmissen. "Gerda, jetzt haben wir ja nur ein paar Kekse in der Hand, aber kein Mittagessen bekommen", sagte ich. Erst später haben wir erfahren, dass mein Lehrer Schwierigkeiten bekommen hatte, weil er uns beide zusammen hatte auftreten lassen. ZEIT ONLINE: Gab es Anzeigen gegen Sie oder Ihre Großmutter? Nejar: Ja, wir haben aber erst nach dem Krieg davon erfahren. Meine Großmutter war eine große Hitler-Gegnerin. Es gab Nachbarn, die meine Großmutter nicht nur deshalb ablehnten, sondern auch, weil sie einen schwarzen Mann gehabt hatte. Auch ich hatte immer wieder Schwierigkeiten. Ich brauchte nur eine andere Umgebung, dann ging es schon wieder los mit den Sprüchen über mein Aussehen. ZEIT ONLINE: Warum haben die Anzeigen für Sie keine unmittelbaren Folgen gehabt? Nejar: Ich hatte das Glück, dass die Polizisten auf der Davidwache mich von klein auf kannten. Sie haben entweder nur so getan, als würden sie die Anzeige aufnehmen oder die Akten einfach immer wieder nach unten gelegt. ZEIT ONLINE: Wie haben Sie das erfahren? Nejar: Das hat mir meine Großmutter nach dem Krieg erzählt. Und sie wiederum hat es von einem Beamten erfahren. Manche der Polizisten haben meine Großmutter auch immer wieder gewarnt.
Anke Schwarzer
Vor zehn Jahren sprach unsere Autorin mit der Künstlerin und Zeitzeugin Marie Nejar über die Nazizeit in Hamburg. Aus Anlass von Nejars Tod zeigen wir den Text erneut.
[ "Marie Nejar", "Leila Negra", "Peter Alexander", "St. Pauli", "Hamburg", "Eppendorf", "Eimsbüttel", "Taubenstraße", "Afrika", "Martinique" ]
hamburg
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2025-05-14T17:54:59+02:00
2025-05-14T17:54:59+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2015-03/marie-nejar-afro-deutsche-kindheit-nationalsozialismus/komplettansicht?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Klara Geywitz: "Einfach das Warmwasser zeitweise abzustellen, ist rechtswidrig"
Eine Wohnungsgenossenschaft darf ihren Mietern nach Ansicht von Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) nicht das warme Wasser abdrehen, um Energie zu sparen. "Einfach das Warmwasser zeitweise abzustellen, ist rechtswidrig", sagte Geywitz den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Die Wohnungsgenossenschaft Dippoldiswalde in Sachsen hatte zuvor entschieden, warmes Wasser nur noch zu den Hauptzeiten morgens, mittags und abends zur Verfügung zu stellen und dies mit den gestiegenen Energiepreisen begründet. Das Vorgehen war unter anderem in der sächsischen Landespolitik auf Kritik gestoßen. Das Foto eines Aushangs, mit dem die Genossenschaft über den Schritt informierte, sorgte in sozialen Medien für Aufregung. Der Deutsche Mieterbund wies darauf hin, dass fehlendes warmes Wasser ein Grund für eine Mietminderung sei. Der Präsident des Spitzenverbandes der Wohnungswirtschaft GdW, Axel Gedaschko, verteidigte das Vorgehen gegenüber der Funke Mediengruppe mit der Besonderheit einer Genossenschaft: "Der Zweck sind Energie- und Kosteneinsparungen, die alleine den Genossenschaftsmitgliedern zu Gute kommen sollen und von denen die Vermieterseite selbst nichts hat." Allerdings sei das kein Modell für andere Wohnungsunternehmen, sagte Gedaschko weiter, "denn ohne vorherige einvernehmliche Absprache mit den Mietern wäre so etwas unzulässig."
Sarah Lena Grahn
In Sachsen stellt eine Wohnungsgenossenschaft Mietern warmes Wasser nur morgens, mittags und abends zur Verfügung. Das gehe nicht, sagt Bundesbauministerin Klara Geywitz.
[ "Klara Geywitz", "SPD", "Bundesbauministerin", "Energiekosten", "Mietrecht", "Sachsen", "Warmwasser", "Wohnungsgenossenschaft" ]
politik
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2022-07-06T10:10:49+02:00
2022-07-06T10:10:49+02:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-07/energiekosten-klara-geywitz-warmes-wasser-rechtswidrig?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
"Hereroland": Begegnung mit alten Mördern
Der Weg des Publikums durch Hereroland führt an viele Orte. Links im Bühnenraum, hinter dem Schlachtfeld am Waterberg, steht das Theater. Gegenüber: ein Schädelarchiv. In einem Kindergarten erklärt eine junge Namibierin den Besuchern ihre Tracht und die Bedeutung des heiligen Feuers in der Herero-Kultur. Und mittendrin, unter dem Baum der Ahnen, probt eine Gruppe von Schauspielern die Inszenierung eines Gerichtsprozesses, der Gerechtigkeit schaffen soll – mehr als hundert Jahre nach dem Genozid der Deutschen an den Herero. "Sehr viele Menschen, denen ich begegne, wissen tatsächlich nichts über den Völkermord", sagt Gernot Grünewald. Gemeinsam mit seinem namibischen Kollegen David Ndjavera wagt der Regisseur nun eine Annäherung an die Gräueltaten, die deutsche Kolonialisten, unterstützt von einer Handelsflotte aus Hamburg, in Südwestafrika an den Herero und Nama verübten. Das Stück Hereroland feiert zum Auftakt der Lessingtage am Thalia Theater in der Gaußstraße Premiere. Es stellt die drängende Frage: Wie gehen wir in Zukunft mit diesem Kapitel deutscher Geschichte um? Nach Jahren der Unterdrückung rebellierten Angehörige der Bevölkerungsgruppen Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialmacht im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Die sogenannten Schutztruppen unter dem preußischen General Lothar von Trotha schlugen den Aufstand brutal nieder, sie drängten Tausende in die Omaheke-Wüste und ließen sie dort verdursten. Überlebende wurden interniert und mussten Zwangsarbeit verrichten, Kranke wurden zu medizinischen Experimenten missbraucht. Insgesamt wurden zwischen 1904 und 1908 bis zu 100.000 Herero und Nama ermordet. Kein klassisches Bühnenstück Die Inszenierung bricht mit europäischen Theatertraditionen: Sie ist kein klassisches Bühnenstück, sondern eine Art begehbare Installation, in der unterschiedliche Kunstformen und Narrative ihren Platz finden. Das Publikum wandert von einer Begegnung zur nächsten, jede und jeder auf einer eigenen Route. Das Stück funktioniere wie ein Linksystem, erklärt Grünewald: "Man fängt irgendwo an, ohne zu wissen, wo man rauskommt. Aber der Weg könnte auch anders verlaufen." So lässt die dokumentarische Inszenierung unterschiedliche Bilder entstehen, der Gesamteindruck des Zuschauers ist subjektiv. "Analog zu meinem Rechercheprozess: Wenn ich gewisse Interviewpartner nicht gehabt hätte, bestimmte Bücher nicht gelesen hätte, wäre mein Bild ein anderes gewesen", sagt Grünewald. Für David Ndjavera, selbst Nachfahre der Herero, erzählt das Stück auch von persönlichem Schmerz. Er gilt als einer der wichtigsten Theatermacher Namibias, wurde mehrfach als "Regisseur des Jahres" ausgezeichnet, unterrichtet am Namibian College of the Arts. Dennoch fühle er sich in seiner Existenz nicht sicher, sagt er. "Leben heißt für einen Herero, zurückkehren zu können zu deiner Heimstätte, wo dein heiliges Feuer ist und wo du zu deinen Ahnen Kontakt aufnehmen kannst." Seit der Flucht seiner Familie ist diese Heimstätte verloren. "Das Land meiner Gemeinschaft ist immer noch im Besitz von Leuten, die es sich auf skrupellose Weise angeeignet haben", sagt Ndjavera. Die namibische Regierung unternehme nicht viel, um ihm dieses Land zurückzugeben – das sei ein großes Dilemma. Auch weil er im Vergleich zu vielen anderen Herero aus einer privilegierten Position spreche, sieht Ndjavera in Hereroland ein Wagnis. "Meine größte Angst: Der Verantwortung nicht gerecht zu werden, die ich trage, wenn ich mich zum Sprachrohr einer solchen Gruppe mache", erklärt er. "Ich könnte verletzen, falsch repräsentieren. Diese Sorge habe ich immer noch, die Produktion muss sich ja bewähren." Nur weil er persönlich betroffen ist, sieht sich Ndjavera überhaupt berechtigt, die Rolle des Fürsprechers einzunehmen. Betroffen sind auch die namibischen Schauspieler, Tänzer und Musiker und die Kostümbildnerin, die an dem Stück mitwirken: Sie alle sind Herero. Aus Hamburg wurden die weißen Siedler versorgt Mit der Premiere in Hamburg bringen die Theatermacher die Kolonialisierung der Herero-Gebiete zurück an ihren Ausgangspunkt. "Die sogenannte Schutztruppe wurde komplett von hier, aus dem Hamburger Baakenhafen, dorthin verschifft", sagt Grünwald. Auch der Hausrat der Siedler kam mit Schiffen der Hamburger Reederei Woermann, die ab 1899 im sogenannten Afrikahaus an der Großen Reichenstraße residierte. "Jede Nähmaschine, jede Waschmaschine, zerlegbare Häuser, die komplett in Deutschland konstruiert und da aufgebaut wurden, sogar Trinkwasser wurde mit Schiffen aus Hamburg nach Namibia gebracht", erzählt Grünewald. Ohne den Kolonialhandel wäre der Reichtum der Stadt mit ihrem Hafen, der Speicherstadt, den schmucken Villen und Parks nicht zustande gekommen. Hamburg, das Tor zur Welt – wer Hereroland gesehen hat, soll künftig auch diesen Teil der Stadtgeschichte mitdenken. Bis heute pflegt die Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Gräber deutscher "Kriegshelden" in Namibia. Der deutsche Staat erkennt die Kriegsverbrechen zwar als Völkermord an, eine offizielle Entschuldigung gibt es bislang aber nicht. Die Verhandlungen mit der namibischen Regierung über eine Wiedergutmachung sind seit fünf Jahren ohne Ergebnis. Mit einem Eingeständnis von Schuld ist es den Machern des Stücks jedoch nicht getan. "Wir wissen um die Geschichte, aber wir leben heute. Ich bin nicht der Mörder, genauso wenig wie David das Opfer ist", erklärt Grünewald. "Wir können miteinander reden und zusammen darüber nachdenken, wie der Weg in eine gemeinsame Zukunft aussehen kann." Hereroland geht in die Tiefe, es konfrontiert Künstler und Publikum mit Einzelheiten eines sehr spezifischen Kapitels der Globalisierung. Und es weist darüber hinaus. Nachfahren von Unterdrückern und Unterdrückten müssten nun gemeinsam überwinden, was zwischen ihnen steht – dazu wollen die Macher von Hereroland anregen. "Es ist ein Heilungsprozess, sowohl für das Publikum als auch für die Künstler", sagt Ndjavera. "Denn wenn alles offenliegt, können wir entscheiden, wie wir damit umgehen."
Annabel Trautwein
In "Hereroland" erzählen Theatermacher aus Hamburg und Namibia vom Völkermord an den Herero und Nama. Und fragen: Wie umgehen mit diesem Erbe des Kolonialismus?
[ "Namibia", "Völkermord", "Theater", "Thalia Theater", "Hereroland", "Kolonialismus" ]
hamburg
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2020-01-16T18:02:38+01:00
2020-01-16T18:02:38+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-01/hereoland-thalia-theater-voelkermord-kolinialismus?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Antonello Manacorda: "Man sitzt nackt auf der Bühne"
Am 10. März trat der Dirigent Antonello Manacorda mit der Kammerakademie Potsdam und dem Pianisten Igor Levit in der Elbphilharmonie auf – es war bis heute das letzte klassische Konzert, das dort vor Publikum stattfand. Ende Mai dirigierte Manacorda wieder in der Elbphilharmonie, diesmal vor leeren Reihen – es war das erste Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters nach der Corona-Zwangspause, der Auftritt war zeitversetzt im Internet zu sehen . In den Tagen nach dem Konzert erzählt Manacorda am Telefon, wie sich das anfühlt: ein Konzert zu dirigieren, das sich nicht wie ein Konzert anfühlt. Und warum er findet, dass Musikerinnen und Musiker in Deutschland viel zu leise für eine Rückkehr zum geregelten Konzertbetrieb eintreten. ZEIT ONLINE: Wie haben Sie die zweieinhalb Monate verbracht, die zwischen den beiden Konzerten in der Elbphilharmonie lagen? Antonello Manacorda: Um ehrlich zu sein – zunächst habe ich die Zwangspause genossen. Ich hatte vorher einen wirklich verrückten Terminkalender, habe immerzu gearbeitet, nur im Sommer zwei Wochen Urlaub gemacht. Jetzt gerade frage ich mich, wie ich dieses Leben über so viele Jahre durchgehalten habe. Nach zwei Wochen Pause wurde ich aber schon wieder unruhig und habe mit Vorbereitungen begonnen. ZEIT ONLINE: Sie haben sich vorbereitet? Worauf denn? Manacorda: Ich werde in der nächsten Saison drei Opern dirigieren, in London, Wien und München, teilweise überkreuzen sich die Termine. Da dachte ich, es wäre gut, schon einmal anzufangen. ZEIT ONLINE: Sind Sie sicher, dass die nächste Saison wie geplant stattfindet? Es sieht ja nicht unbedingt danach aus. Manacorda: Das habe ich mich bei der Arbeit natürlich auch ständig gefragt, ich war sehr oft ziemlich verzweifelt. Auf Wien und München habe ich noch Hoffnung, auf London eher nicht. ZEIT ONLINE: Wie viele Ihrer Konzerte sind in den vergangenen Wochen geplatzt? Manacorda: Ich hatte im März gerade drei Opern in Brüssel dirigiert, die alle nach der Premiere abgesagt wurden. Ein Konzert in Santa Cecilia in Rom wurde noch während der Proben gekippt. Unser Konzert in Hamburg stand auch bis zum letzten Moment auf der Kippe. Dazu kam eine komplette Opernproduktion in Paris, eine CD-Aufnahme in Berlin, eine Aufführung des Brahms-Requiems in Dänemark… Ich habe ziemlich viel Geld verloren. ZEIT ONLINE: Sprechen wir über die beiden Konzerte in der Elbphilharmonie. Im März haben Sie vor fast vollem Haus dirigiert, nun vor leerem. Haben Sie beim Dirigieren einen Unterschied bemerkt? Manacorda: Und wie! Leere Säle sind eine Qual. ZEIT ONLINE: Inwiefern? Manacorda: Natürlich können wir alle auch in leeren Sälen musizieren, wir sind Profis. Und ich freue mich, wenn ich überhaupt arbeiten und auftreten kann. Aber ich mache meinen Job ja fürs Publikum, ich muss mit den Menschen, die zuhören, in Austausch treten. Es ist ganz einfach: Jedes Stück braucht einen Komponisten, braucht Interpreten und Zuhörer. Wenn einer dieser drei fehlt, dann ist es, als ob man ein Bein weniger hätte. Darf ich Ihnen ein Beispiel geben? ZEIT ONLINE: Unbedingt! Manacorda: Bei einer Probe zum zweiten Konzert in Hamburg saß eine Kollegin von Ihnen im Saal, eine Journalistin, die eine halbe Stunde zuhören durfte. Sie saß irgendwo, ich stand mit dem Rücken zu ihr – aber, weil ich spürte, dass sie da ist und zuhört, war ich viel aufgeregter und konzentrierter als vorher. ZEIT ONLINE: Bei Orchesterproben arbeiten Sie normalerweise auch vor leeren Reihen. Warum geht das, während es im Konzert eine Qual ist? Manacorda: Proben sind auch wichtig, theoretisch könnte man jedes Stück jahrelang proben und immer noch etwas entdecken, woran zu arbeiten wäre. Aber ziellos zu proben macht keinen Sinn – und alle Proben dienen der Aufführung. Die ist einmalig, besonders und nicht reproduzierbar. Letztendlich ist die Idee, die Konzerte im Livestream zu zeigen, ja nichts anderes als ein Versuch, sie zu reproduzieren. Wir versuchen natürlich, uns darauf einzustellen und uns vorzustellen, dass das Publikum einfach nur hinter der Kameralinse sitzt. Aber das ändert nichts daran, dass niemand da ist, der zuhört. ZEIT ONLINE: Wie lösen Sie dieses Problem bei CD-Aufnahmen? Manacorda: Die meisten Aufnahmen finden im Konzert statt. Und wenn nicht, bitte ich Freunde, ins Studio zu kommen, oder wir spielen eben für den Tonmeister. Beim zweiten Konzert in der Elbphilharmonie haben wir uns auch so beholfen: Ich habe die Musiker, die gerade nicht dran waren, als Zuhörer in den Saal geschickt. ZEIT ONLINE: Was genau gibt Ihnen das Publikum während der Aufführung? Manacorda: Ich spüre, ob die Leute aufmerksam sind oder nicht, ob Spannung in der Luft liegt oder nicht. Mit dieser Energie spiele ich – ich arbeite mit dem Publikum genauso wie mit den Musikerinnen und Musikern vor mir. ZEIT ONLINE: Inzwischen ist absehbar, dass Konzerte mindestens mittelfristig nur vor stark ausgedünnten Reihen stattfinden sollen. Mit welchem Gefühl blicken Sie auf dieses Szenario? Manacorda: Das ist besser als vor leeren Sälen zu spielen. Leere Säle sind sinnlos, sie sind ja für das Publikum gebaut.
Florian Zinnecker
Antonello Manacorda dirigierte in der Elbphilharmonie das letzte Orchesterkonzert mit Publikum – und das erste ohne. Ein Gespräch über gähnende Leere
[ "Elbphilharmonie", "Orchester", "Musik", "Kammermusik", "Antonello Manacorda", "Hamburg" ]
hamburg
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2020-06-11T20:02:33+02:00
2020-06-11T20:02:33+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-06/antonello-manacorda-dirigent-elbphilharmonie-orchester-corona-krise-konzert-musik?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Corona-Maßnahmen und Kultur: Kultur ist nicht für alle da
Als Mitte Oktober bei Regen und elf Grad das Gerücht umging, dass der Sommer 2020 entgegen aller Berechnungen doch zu Ende gehen würde, wussten viele Kulturmenschen bereits Bescheid. Die Infektionszahlen, der Herbst, die zweite Welle: Wer von Veranstaltungen lebt, hat die erneute Schließung der Kultureinrichtungen kommen sehen. Überrascht ist niemand, sauer aber schon – Kinoverbände, Bühnenverein und Museen sehen die Verhältnismäßigkeit der Schließungen nicht ein, weil sie die Hygienekonzepte so musterhaft umgesetzt haben. Meine Erfahrung bestätigt das, in Theatern habe ich mich in den letzten zwei Monaten sicher gefühlt. Doch wenn 75 Prozent der Infektionen nicht mehr zurückverfolgt werden können, hilft Fühlen nicht mehr weiter und die Rede von sicheren Orten wirkt etwas wohlfeil. Der Frust und bei Selbstständigen auch die Angst sind dennoch verständlich. Aber die Kultur braucht bessere Bilder von sich selbst. Bessere Argumente, wofür sie da ist. Und wofür nicht. Kultur ist zum Beispiel nicht für alle da. Ihre Produktion wird zumindest nicht von allen als derzeit annähernd größtes Problem empfunden. Sie interessiert dringlich nur eine Minderheit, wenn auch eine vergleichsweise lautstarke. So viel Ehrlichkeit wäre in der Krise angebrachter als der Versuch, seinen Beruf unter Zuhilfenahme dieser Lautstärke in der Mitte der Gesellschaft zu behaupten, oder noch schlimmer: als deren Rückgrat zu idealisieren. Eine Demokratie handelt davon, dass sie auch Minderheiten schützt, ihre Interessen und Arbeitsplätze. Das Muskelspiel der Zahlen, das Reden von Formen der Systemrelevanz, das nun den Verteilungskampf prägt, stiftet mehr Verwirrung als Verständnis für die Kultur. Dass die Kulturbranche unterschiedlichen Märkten ausgesetzt ist, ist nur das erste Problem der Zahlenrhetorik. Am schlimmsten trifft es die Konzertbranche, die im Gegensatz zu den öffentlich geförderten Theatern und Museen auch im Spätsommer wenig von den Lockerungen profitieren konnte. Kaum Festivals, noch nicht einmal unter freiem Himmel. Marek Lieberberg, Deutschlands wichtigster Konzertveranstalter, monierte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung bereits im April die Bürokratie der Soforthilfen und Überbrückungskredite. Er hat dabei nicht der Versuchung nachgegeben, subventionierte Künste und Musicals gegeneinander auszuspielen. Lieberberg hat in diesem Gespräch einen guten Job gemacht. Aber auch er erlag dem Zauber der großen Zahl, die es in die Titelzeile schaffte: "Es geht um 1,5 Millionen Menschen." Nein, geht es nicht. Aber die Zahl geht viral. Auch seit der Jazztrompeter Till Brönner sie mit seinem jüngst auf Facebook und Instagram veröffentlichten siebenminütigen Video weiter ventiliert, millionenfach. Brönner übernimmt die 1,5 Millionen und verkündet stolz den zweiten Platz aller Wirtschaftssektoren in Deutschland. Doch wen meint er? Er redet mal von der Veranstaltungsbranche, mal von Soloselbstständigen. Selbstständige gibt es in Deutschland rund 1,45 Millionen, in dieser Zahl stecken aber auch 116.000 Ärzte, 50.000 Zahnärzte, 124.000 Rechtsanwälte, womit Brönner die Hörerschaft seiner hochwertigen Musik unfreiwillig genau getroffen haben könnte. Aber was, wenn Lieberberg und Brönner nur die Musikwirtschaft meinen? Dann wären es 127.000 Selbstständige, davon rund 50.000 Musikerinnen und Musiker laut einem Bericht des Bundesverbands der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft. Das ist dann aber eine Dimension, wo Angehörige und Leidende anderer Branchen, Angestellte zumeist, durchaus zu Recht sagen können: Uns geht es auch schlecht. Und wir haben nicht so schillernde Fürsprecher. Noch wunderlicher erscheint die Zahl, wenn man eine deutsche Studie im Auftrag der Interessengemeinschaft Veranstaltungswirtschaft (IGVW) von Juni dieses Jahres liest. Sie spricht tatsächlich von 1,5 Millionen Beschäftigten und 130 Milliarden Euro Umsatz. Allerdings stammen gut 88 Prozent dieses Umsatzes aus "wirtschaftsbezogenen Veranstaltungen" wie Messen und Corporate Events, "Kulturveranstaltungen" wie Konzerte, Theater und Stadtfeste landen bei gerade mal fünf Prozent. Sicher hängen an Messen genauso wichtige Arbeitsplätze, aber eben nicht jene, von denen Till Brönner uneindeutig spricht, wenn er einerseits "wir Musikkünstler" und dann, im leicht anderen Kontext, wieder "wir in der Veranstaltungs- und Kulturbranche" sagt. Zudem sind bei Messebau und Corporate Events viele Arbeitsplätze durch Kurzarbeitsgeld oder Soforthilfen abgefedert. Halbrichtige Zahlen helfen der Kultur aber nicht. Es sind auch so sehr viele Karrieren und Strukturen bedroht, ohne Zweifel. Aber wenn die Kultur jetzt dazu übergeht, vor dem Kampf die Länge der Klingen zu vergleichen, kann sie nicht gewinnen. Das ist nicht ihre Stärke.
Tobi Müller
Prominente Lobbyisten drehen zu Recht die Lautstärke auf, wenn es um den Kultursektor geht, von der Band Die Ärzte bis zum Jazzer Till Brönner. Doch der Ton ist falsch.
[ "Coronavirus", "Kulturbetrieb", "Till Brönner", "Monika Grütters", "Demokratie", "Menschenrechte", "Marek Lieberberg", "Deutschland", "SZ", "Kultursektor" ]
kultur
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2020-10-29T12:33:17+01:00
2020-10-29T12:33:17+01:00
https://www.zeit.de/kultur/2020-10/corona-massnahmen-kultur-die-aerzte-till-broenner-appell-kritik-kulturbetrieb?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Antisemitische Kunst: Holzkopf und Biberhirn
Das Kunstwerk, das Kritiker als Ausdruck von "Israel-Hass" und "Antisemitismus" bezeichnen, wirkt auf den ersten Blick ganz witzig. Es ist in der Ausstellung Survival in the 21st Century in den Deichtorhallen zu sehen und besteht aus einem Baum, der in seinem Stamm ein menschliches Gesicht trägt, und einem Biber mit Kulleraugen. Baum und Biber unterhalten sich, ihre Stimmen werden aus Lautsprechern abgespielt, dazu bewegt sich der Mund des Bibers roboterhaft, während der Baum mit den Augenbrauen wackelt. Dexter and Sinister, so der Titel, wurde von der amerikanischen Künstlergruppe New Red Order geschaffen, deren Mitglieder sich als Indigene identifizieren, und erstmals im Oktober in New York gezeigt. Die Ästhetik des Werks ist trashig – man kennt solche Figuren von den Fassaden der Geisterbahnen auf dem Dom –, doch sein Thema ist ernst. Der Baum und der Biber sprechen über die Eroberung Amerikas durch die Europäer, über die Zerstörung der Ökosysteme und über den Mord an der indigenen Bevölkerung. Schließlich kommen sie auf eine Idee: Wie wäre es, wenn die Nachfahren der Eroberer das gestohlene Land zurückgeben würden und alle Menschen, Bäume und Biber frei darauf leben könnten, ohne europäische Vorstellungen von Eigentum und Zivilisation? "Give it back!", rufen Baum und Biber in Richtung des Zuschauers: "Give it back!" Die eben noch so witzigen Figuren wirken jetzt unheimlich, wie das schlechte Gewissen, das man tagsüber verdrängt, das sich nachts aber in Albträumen Bahn bricht. Nach rund zwanzig Minuten ist der Spuk vorbei. Die Tonspur beginnt von vorne. Die Kuratoren Georg Diez und Nicolaus Schafhausen haben die Ausstellung Survival in the 21st Century entwickelt. Auf Einladung der Deichtorhallen zeigen sie Arbeiten von rund 40 Künstlerinnen und Künstlern. Die Kuratoren wollen "Kunst zum Ausgangspunkt für das Nachdenken über unsere gemeinsame Vergangenheit und Zukunft" machen, schreiben sie im Katalog. Die Arbeit von New Red Order passt ins Konzept: Wer sich in unseren so düsteren Zeiten nach einer Utopie sehnt, der findet sie hier – auch wenn noch zu klären wäre, wie der von Baum und Biber vorgeschlagene "indigene Kommunismus mit individueller Freiheit" genau aussieht. Daran, dass diese Arbeit nun als antisemitisch kritisiert wird, haben Baum und Biber keine Schuld. Die Kritik zielt auf eine rote Texttafel, die von der Künstlergruppe New Red Order für das deutsche Publikum in den Deichtorhallen aufgestellt wurde. In New York hatte es sie noch nicht gegeben. Dort steht (im Original in englischer Sprache, hier ins Deutsche übersetzt): "Aus unserer Sicht ist es wichtig zu betonen, dass die genozidalen Projekte Amerikas, Deutschlands und Israels unterschiedliche Ausdrucksformen desselben perversen Überlegenheitsdenkens sind." Eine klare Linie führe vom Völkermord an den Indigenen Amerikas zum Holocaust und zu den "Akten des Völkermords, welche die israelische Regierung heute in Palästina verübt". Wenn Amerikaner und Deutsche Rufe nach Freiheit hörten, führe ihr Überlegenheitsdenken dazu, diese als "Aufforderung zum Völkermord" zu verstehen. Besucher und Mitarbeitende der Deichtorhallen sollten für ein Ende des Völkermords eintreten. Die Fehler des Textes sind offensichtlich: Erstens liegt die Tragik des Nahostkonflikts darin, dass hier zwei Völker dasselbe Gebiet als ihre Heimat beanspruchen. Die Künstler ignorieren das und tun so, als ginge es um Indigene und Invasoren. Zweitens setzt die Hamas gezielt Terror gegen Zivilisten der anderen Seite ein und nutzt Zivilisten der eigenen Seite als menschlichen Schutzschild. New Red Order verschweigt die Existenz der Hamas als Konfliktpartei und behauptet, Israel ziele mit seinem Krieg auf die palästinensische Zivilbevölkerung. Wenn man so nachlässig bei der Analyse eines Problems ist, was kann man dann als Lösung vorschlagen? Eine Zwei-Staaten-Lösung fordern die Künstler nicht. Stattdessen schreiben sie, die Dekolonisierung bedürfe Einzelner, die die Sache in ihre Hand nehmen und neue politische Realitäten schaffen. In anderen Kontexten wäre das ein harmloser Satz. Hier erschrickt man: Wie am 7. Oktober? Ein Gemälde, das die Darstellung eines Juden als Nazi zeigte, war auf der Documenta vor zwei Jahren nachträglich abgehängt worden. In den Deichtorhallen entschied man nun anders. Direktor Dirk Luckow sagt: "Alles, was wir in den Tagen vor der Eröffnung unternommen haben, war eine absolute Gratwanderung zwischen den großen Fragen: Wie weit reicht die Kunstfreiheit? Wo beginnt Antisemitismus?" Kurator Georg Diez, der auch als Journalist für ZEIT ONLINE schreibt, spricht von einem Dilemma. Einige der internationalen Künstlerinnen und Künstler, darunter New Red Order, hätten im Vorfeld der Ausstellung gefragt, ob sie in Deutschland ihre Meinung frei äußern könnten. Daraufhin hätten die Kuratoren ihnen in einem gemeinsamen Videocall zugesagt, dass es keine Zensur geben werde. Während anderen diese Zusage genug war, wollten New Red Order sie offenbar auf die Probe stellen. Das rote Schild zu entfernen, sei für die Künstler nicht infrage gekommen, sagt Dirk Luckow. Deshalb auf das Kunstwerk zu verzichten, sei für die Deichtorhallen keine Option gewesen. Zumal es womöglich dazu geführt hätte, dass sich andere Künstler zurückziehen. Der Kompromiss: eine Texttafel an der Wand, auf der sich die Kuratoren und die Leitung der Deichtorhallen von den Aussagen distanzieren. Die Künstler von New Red Order wollen sich zu alldem nicht äußern. Eine geplante Diskussionsveranstaltung sagten sie laut Luckow kurzfristig ab, eine Interviewanfrage der ZEIT blieb unbeantwortet. Ihr Kunstwerk haben sie ruiniert: Statt einen Ausweg aus den Dilemmata der Gegenwart aufzuzeigen, wurde es zum Symptom ihrer scheinbaren Auswegslosigkeit. "Survival in the 21st Century" läuft noch bis 5. November in den Deichtorhallen.
Oskar Piegsa
Zwei Jahre nach dem Documenta-Skandal wird ein Kunstwerk in den Hamburger Deichtorhallen als antisemitisch kritisiert. Bleiben darf es trotzdem.
[ "Kunstwerk", "Deichtorhallen", "Antisemitismus", "Kunst", "Nahostkonflikt", "USA" ]
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2024-07-02T14:38:04+02:00
2024-07-02T14:38:04+02:00
https://www.zeit.de/2024/28/antisemitische-kunst-hamburg-deichtorhallen-ausstellung?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Champions League im Volksparkstadion: Erste Klasse
Selbst ganz oben mitzuspielen – davon ist der Hamburger SV aktuell weit entfernt. Dennoch wird es in den kommenden Monaten im Volksparkstadion Fußball auf höchstem Niveau zu sehen geben: wenn der ukrainische Fußballmeister Schachtar Donezk bald seine Champions-League-Heimspiele im Volksparkstadion austrägt. Einen besseren Ort könnte es dafür nicht geben, jedenfalls nicht im Moment. Seit Beginn der militärischen Konflikte im Osten der Ukraine vor neun Jahren ist der trophäenreiche Club Schachtar Donezk ohne festen Heimatort, die heimische Donbass-Arena wurde 2014 bei Kämpfen beschädigt. Schachtar trägt seine Spiele seither an verschiedenen Orten aus. In der vergangenen Saison fanden die Champions-League-Heimspiele des Clubs in Warschau statt, wegen terminlicher Überschneidungen klappt das nun aber nicht. Der HSV bewarb sich mit seinem Stadion als Alternativspielort, Mitte August hat sich der ukrainische Club für Hamburg als Austragungsort entschieden. Für die Übernahme der organisatorischen Aufgaben wird der HSV an den Umsätzen beteiligt. Zuschauerinnen und Zuschauer können bei jeder Ticketbuchung zudem Beträge zwischen einem und fünf Euro spenden, um Kriegsleidenden in der Ukraine zu helfen. Schon jetzt sind über 23.000 Ticketpakete verkauft worden, jedes ist gültig für alle drei Spiele. Die Zuschauer dürfen mit emotional aufgeladenen Fußballabenden rechnen, auch wenn diesmal die eigene Mannschaft nicht auf dem Platz steht. Doch dass sie feiern können, das haben die Hamburger Zuschauer längst bewiesen. Die Stimmung unter den HSV-Fans ist derzeit so gut wie lange nicht mehr. Manche sagen sogar, sie sei nie besser gewesen. Das liegt vor allem am Trainer Tim Walter, der in den vergangenen zwei Saisons zu seiner Mannschaft und dem Publikum eine besondere Verbindung aufgebaut hat. Fast durchgehend wird nun im Volksparkstadion applaudiert, gejubelt oder laut gesungen. Es ist eine Atmosphäre der permanenten Unterstützung, eine der Leichtigkeit und der Freude. Selbst im fast aussichtslosen Relegations-Rückspiel gegen den VfB Stuttgart Anfang Juni reichte ein frühes Tor, um fast 50.000 Heimfans in Ekstase zu versetzen. Und im Auftaktspiel der aktuellen Saison bot der HSV mit einem 5 : 3 gegen den abgestiegenen FC Schalke 04 jede Menge Spektakel. Es ist genau die Stimmung, die diese Champions League braucht. Zu den Spielen werden viele Geflüchtete aus der Ukraine erwartet. Es wird also darum gehen, wieder einmal zu zeigen, was Fußball auch schaffen kann: Gemeinschaft erzeugen, über Grenzen und Konflikte hinweg Menschen verbinden. Es geht um Leidenschaft und Herzlichkeit und darum, ein guter Gastgeber zu sein. Und dafür ist das Publikum im Volksparkstadion genau das richtige.
Daniel Jovanov
In Hamburg finden ab Dienstag Champions-League-Spiele statt, denn der HSV verleiht sein Stadion an den ukrainischen Fußballmeister Schachtar Donezk. Das wird emotional.
[ "Hamburg", "Fußball", "Champions League", "Ukraine", "Hamburger SV", "Donbass", "HSV", "FC Shakhtar Donetsk" ]
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2023-09-16T09:21:43+02:00
2023-09-16T09:21:43+02:00
https://www.zeit.de/2023/37/champions-league-volksparkstadion-schachtar-donezk?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Präsenzunterricht in Corona-Zeiten: "Man kann Kinder nicht fünf Stunden frontal per Video unterrichten"
Sollen die Schulen wieder geschlossen werden? Oder zumindest in eine Form von Hybridunterricht mit digitalen Anteilen wechseln? Viele Berufsverbände von Lehrerinnen und Lehrern haben sich dafür ausgesprochen. Stefan Feilcke, 50, ist eher skeptisch. Er leitet eine Grundschule in Hamburg-Horn und unterrichtet dort Mathematik. Hier spricht er darüber, warum beim Homeschooling – gerade in der Grundschule – die Hilfe der Eltern essenziell ist, aber nicht von allen Familien erwartet werden könne. Und warum junge Kinder im Präsenzunterricht einfach besser lernen. Ich bin seit sieben Jahren Schulleiter und Mathematiklehrer an der Wichern-Grundschule am Rauhen Haus in Horn. Als im Frühjahr die Schulen geschlossen wurden, kam das sehr plötzlich. Normalerweise bleiben bei uns die Schulbücher in der Schule, die Kinder hatten also kein Material zu Hause. Wir konnten auch nicht erwarten, dass alle Eltern Arbeitsblätter ausdrucken können. Also haben wir Pakete gepackt und den Schülerinnen und Schülern Bücher, Hefte und Arbeitsblätter vorbeigebracht. In dieser Zeit habe ich gemerkt: Der Unterricht zu Hause funktioniert ohne Eltern gar nicht. Gerade in der Grundschule sind Kinder noch nicht in der Lage, sich Inhalte selbst zu erarbeiten. Erst- und Zweitklässler haben nicht die nötige Lesekompetenz, um Arbeitsaufträge zu verstehen. Gleichzeitig kann ich sie nicht vier oder fünf Stunden lang frontal per Video unterrichten. Vor ein paar Wochen habe ich an einem Samstag geprobt, wie es bei einer neuen Schulschließung sein könnte: Ich habe eine Mathestunde per Videochat gegeben. Morgens um zehn Uhr haben die meisten Schülerinnen und Schüler einer ersten Klasse und ich uns in einer Videoschaltung getroffen. Als Erstes haben wir geübt, wie wir das Mikrofon an- und ausstellen. Dann haben wir vom Frühstück erzählt. Und schließlich habe ich ein neues Thema eingeführt: gerade und ungerade Zahlen. Das hat auch gut geklappt, aber nach 45 Minuten habe ich gemerkt, wie die Konzentration bei einigen stark nachlässt. Die Kinder haben nicht mehr so aufmerksam in die Kamera geschaut und die Beteiligung riss ab. Auch bei dieser Probestunde mussten die Eltern mithelfen, etwa indem sie die Kinder in das Programm einloggten oder sich zu ihnen setzten. Kinder brauchen den Austausch, das darf man nicht unterschätzen Doch das klappt nicht in allen Familien. Viele Eltern sind beruflich eingespannt oder können sich aus anderen Gründen nicht während der Unterrichtszeiten um die Betreuung ihrer Kinder kümmern. Darum ist es sehr wichtig, dass wir Präsenzunterricht haben und alle Kinder das gleiche schulische Angebot bekommen. Die Kinder brauchen auch den Austausch und das Zusammensein mit Gleichaltrigen. Das darf man nicht unterschätzen. Andererseits fehlt uns schon jetzt Personal, um einen guten Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten. Viele Kolleginnen und Kollegen sind erkrankt. Andere haben Angst, sich anzustecken – obwohl sie sich freuen, die Kinder wiederzusehen, und trotz aller Befürchtungen unterrichten. Bisher hat sich an unserer Grundschule noch keiner unserer Schülerinnen und Schüler mit dem Coronavirus infiziert. Allerdings sind ein paar Eltern der Kinder an Covid-19 erkrankt. Die betroffenen Kinder müssen als Erstkontakt nun zu Hause in Quarantäne bleiben. Seit den Herbstferien haben wir alle Familien, die vorher nicht die nötige Technik hatten, mit einem iPad versorgt. Das konnten wir zu großen Teilen über eine Spendenaktion finanzieren. Alle Kinder haben nun eine Google-Mail-Adresse und wir nutzen den Dienst Google Education. Damit können wir uns zu Videokonferenzen treffen, Wochenpläne erstellen oder Arbeitsaufträge versenden. Neulich habe ich eine Frage an die Kinder geschickt. Wir haben uns mit Formen beschäftigt und sie sollten zählen, was sie am häufigsten in ihrem Kinderzimmer finden: Dreieck, Quadrat, Rechteck oder Kreis? Das mussten sie zu Hause anklicken und ich konnte das Ergebnis dann in der Klasse per Apple-TV zeigen. Maskenpflicht? Läuft gut! Der Kontakt zu den Eltern? Zurzeit leider weniger Die Hygienemaßnahmen machen auch die Jüngsten super mit. Wenn sie zur Toilette gehen, greifen sie schon ganz automatisch zur Maske. Die Eltern dürfen das Schulgelände nicht mehr betreten, das macht den Kontakt zu ihnen schwieriger. Am Morgen stehe ich vor der Schule und lasse die Erstklässler ins Gebäude. Das ist der einzige Moment, in dem ich mit den Eltern persönlich ein paar Worte wechsele. Dabei spüre ich eine große Verunsicherung. Viele wissen nicht: Wie ist der Stand meines Kindes? Was kann es schon, was noch nicht? Natürlich führen wir auch Telefonate, doch ist dies mit einem persönlichen Kontakt nicht zu vergleichen. Zum Schuljahresbeginn organisierten wir digitale Elternabende. Man kann sie sich vorstellen wie eine Videokonferenz. Aber das ersetzt einen regulären Elternabend nicht. Die Atmosphäre bleibt auf der Strecke."
Sabrina Winter
Sollen die Schulen offen bleiben oder schließen? Hier erklärt der Leiter einer Hamburger Grundschule, warum Präsenzunterricht gerade für die Kleinsten wichtig ist.
[ "Sven Hoppe", "Stefan Feilcke", "Süddeutschland", "Hamburg-Horn", "Präsenzunterricht", "Grundschule", "Homeschooling" ]
hamburg
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2020-11-22T18:10:09+01:00
2020-11-22T18:10:09+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-11/praesenzunterricht-corona-hamburg-grundschule-schueler-lehrer-gesundheit?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Pippi Langstrumpf : Trallari trallahey tralla hoppsasa
Wer den Namen eines der aufmüpfigsten Mädchen der Weltgeschichte hört, hat sofort ein Lied im Kopf. "Hey, Pippi Langstrumpf, trallari trallahey tralla hoppsasa …" Und da bleibt das Lied dann erst einmal für den Rest des Tages. Generationen von Kindern sind mit Pippi Langstrumpf aufgewachsen. In 77 Sprachen wurden die Bücher der schwedischen Autorin Astrid Lindgren übersetzt. Überall auf der Welt kennt man das kleine Mädchen mit den roten Zöpfen, das mit Pferd und Affe in der Villa Kunterbunt lebt und Spaghetti mit der Schere schneidet. In Deutschland ist Pippi Langstrumpf auch durch die Buchverfilmungen bekannt. Den Text des eingängigen Titelsongs hat 1969 der Liedtexter Wolfgang Franke geschrieben, die Lizenz daran hält die Filmkunst, Musikverlag und Produktionsgesellschaft mbH (FKM). Und jedes Mal, wenn irgendwo in Deutschland eine CD mit dem Pippi-Langstrumpf-Lied verkauft wird, verdient die FKM über ihr Urheberrecht daran mit. Keine CDs, keine Theaterstücke, keine Pippi-Filme mehr – oder doch? Die Erbinnen und Erben von Astrid Lindgren verdienen daran nichts – und das wollen sie ändern. Man könnte jetzt die Frage stellen, warum ihnen dies erst 50 Jahre nach Erscheinen der deutschen Liedversion aufgefallen ist, doch das ist nur eine Fußnote. Sie jedenfalls argumentieren, dass Astrid Lindgren die Urheberin des Liedes war und damit – nach Lindgrens Tod 2002 – nun sie es sind. Die Kinder und Enkel der berühmten Autorin haben vor dem Hamburger Landgericht geklagt, auf Unterlassung der Weiterverbreitung und Schadenersatz. So ist es nun gekommen. Das Hamburger Landgericht hat entschieden, dass die FKM das Lied ohne Zustimmung von Lindgrens Erben nicht mehr weiterverbreiten darf. Das heißt: In Deutschland dürfen keine CDs mit dem Lied verkauft werden. Kein Theater darf mehr Pippi-Langstrumpf-Stücke aufführen, die Filme werden aus dem Handel genommen. All dies gilt, sobald das Urteil rechtskräftig wird. Lindgrens Erben haben nun die Möglichkeit, das Urteil gegen eine Sicherheitsleistung von 40.000 Euro auch schon sofort vollstrecken zu lassen. Doch das wollen sie gar nicht. Nach eigener Aussage haben sie kein Interesse daran, das Lied aus deutschen Kinderzimmern zu verbannen. "Das Ziel ist nicht, das Lied zu verbieten", sagte Ralph Oliver Graef, der Anwalt der Erbengemeinschaft. "Pippi Langstrumpf ist eine Ikone, fast schon deutsches Kulturgut. Es geht einfach darum, die Autorin an den Gewinnen zu beteiligen." "Die Pippi aus dem deutschen Lied ist genau die aus Lindgrens Geschichten" Mehrfach schon hat Graef mit Vertreterinnen und Vertretern der FKM an einem Tisch gesessen und über eine Gewinnbeteiligung verhandelt. Doch sämtliche Gespräche sind gescheitert. Der Verlag pochte stets darauf, dass ihm das Urheberrecht an dem Lied zustehe und er von den Erlösen daher nichts abgeben müsse. Schließlich habe der Texter Wolfgang Franke das Lied 1969 nicht nur auf Deutsch übersetzt, sondern es auch abgeändert, so lautet das zentrale Argument. Es sei dadurch ein ganz neues Lied entstanden. Das Hamburger Landgericht aber sieht das anders. "Die Pippi Langstrumpf in dem Lied ist genau die Pippi Langstrumpf, die man aus Astrid Lindgrens Geschichten kennt", sagte heute der Vorsitzende der Zivilkammer acht. Der Verlag hätte also all die Jahre die Einwilligung von Astrid Lindgren gebraucht, und die gab es nicht. Für die FKM dürfte es nun teuer werden. Denn die Erbengemeinschaft muss auch rückwirkend seit 2007 für die entgangenen Erlöse entschädigt werden. Der Anwalt der Erben kündigte bereits an, sofort das Gespräch über die Gewinnbeteiligung suchen zu wollen. Mit dem heutigen Urteil könnte die Verhandlungsbasis kaum besser sein. Denn bietet der Verlag nicht genug, können die Erben ganz einfach sagen: Dann verkauft ihr das Lied eben gar nicht mehr.
Elke Spanner
Der Titelsong der Pippi-Langstrumpf-Filme ist legendär. Doch der deutsche Text verstößt gegen das Urheberrecht, urteilte jetzt ein Gericht. Wird das Lied jetzt verboten?
[ "Pippi Langstrumpf", "Astrid Lindgren", "Wolfgang Franke", "Inger", "Landgericht Hamburg", "Titelsong", "Urheberrecht", "Kinderlied", "Klage", "Gerichtsurteil" ]
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2020-12-09T20:58:21+01:00
2020-12-09T20:58:21+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-12/pippi-langstrumpf-urheberrecht-hamburg-gericht-klage-astrid-lindgren-lied?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Kinderliteratur: Von der Kunst, die Welt schräg zu sehen
Wenn Dagmar Gausmann ein neues Kinderbuch in den Händen hält, widmet sie sich zuerst den Illustrationen. Die Kunsthistorikerin gründete 2010 das Kinderbuchhaus im Altonaer Museum, das sie bis heute leitet. Ausstellungen von Originalillustrationen bilden zusammen mit Werkstattangeboten rund um Buchkultur das Kerngeschäft ihrer Institution. Am Samstag, den 18. September, werden im St. Pauli Theater der Hamburger Schriftsteller Saša Stanišić und sein Sohn Nicolai für ihr Buch "Hey, hey, hey, Taxi!" mit dem Kinderbuchpreis Tüddelband des Harbour Front Literaturfestivals ausgezeichnet. Ein guter Anlass für ein Gespräch über die Qualität von Kinderbüchern, erfundene Wörter und die Frage, was gutes Erzählen ist. ZEIT ONLINE: Frau Gausmann, wie lese ich denn ein Bild? Dagmar Gausmann: Erwachsene wollen, ganz anders als Kinder, immer gleich alles "richtig" verstehen. Kinder hingegen tauchen in die Bild- und Geschichtenwelt ein, sie sehen und sie beschreiben, was sie sehen. Wenn sie jemanden an ihrer Seite haben, mit dem sie darüber reden können. Wenn man Glück hat, übersetzen die Bilder in einem Buch die geschriebene Geschichte nicht eins zu eins und es entstehen im Dialog immer wieder neue Geschichten. ZEIT ONLINE: Um das aktuellste Beispiel aufzugreifen: Wie funktioniert das für Sie bei Hey, hey, hey, Taxi! von Saša Stanišic? Gausmann: Bilder eröffnen nicht nur Bildräume, sondern auch Sprachräume. Stanišićs Buch habe ich natürlich umgekehrt gelesen. Damit meine ich, dass ich mir zuerst die Bilder von Katja Spitzer angeschaut habe. Ich halte sie für eine fantastische Illustratorin, man könnte jede ihrer Seiten im Buch auch ohne Worte ausstellen. Mit Spitzers moderner Bildsprache hat der mairisch Verlag etwas gewagt: schräge Illustrationen zu den schrägen Geschichten Stanišićs, und das ist wunderbar gelungen. Schauen Sie sich mal die Doppelseiten an, die ohne Text auskommen – auch eine absolute Besonderheit. Die Fantasiewelt der Bilder entfaltet hier eine enorme Bildmacht. Mit dem Kind diese Doppelseiten zuerst anzusehen und zu fragen, was es sieht, würde sich hier geradezu anbieten. Auf diese Weise nähere ich mich übrigens den meisten Kinderbüchern, und hoffe dann immer, dass der Text mithalten kann. ZEIT ONLINE: Und, kann er? Gausmann: Ich darf jetzt mal so überheblich sein und den berühmten Autor loben? Also: Ja, er kann. Es beginnt schon beim Vorwort, dem "Vorort". Und dann der zentrale Satz: "Im Zuhören ist ein Kind Architekt für Welten aus Sprache." Man könnte es kaum schöner ausdrücken. "Die Heldin, die keine Heldin sein wollte" wäre ich selbst gern, einfach mal "in einem Büro etwas kopieren mit einem Kopierer". Wunderbar finde ich auch die Kreation "Riesling, der sehr kleine Riese". ZEIT ONLINE: Was stellen Wortschöpfungen mit der Fantasie an? Gausmann: Sie beflügeln sie ungemein. In der englischen Kinderbuchliteratur gibt es eine lange Tradition der sogenannten Nonsens-Gedichte. Bei Stanišić finde ich dieses Spiel mit Sprache sehr schön übersetzt. Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie sich die Kinder beim Zuhören vor Lachen kugeln. Im "Vorort" formuliert Stanišić seine Ziele: zu erfreuen, gut zu verwirren und Bilder für Erfahrungen zu schaffen, die das Kind umtreiben – all das kann man auch für die Bildwelt konstatieren. Sie sehen, ich werde nicht müde, die Illustrationen zu nennen, die werden bei Rezensionen nämlich gern vergessen. Im besten Falle verwirrt uns Literatur, egal, ob alte oder junge Leserschaft. Immer nur bestätigt zu werden, wäre ja langweilig. ZEIT ONLINE: Identitätsstiftend kann Literatur doch gerade dann sein, wenn wir uns in ihr erkennen? Gausmann: Das eine schließt das andere nicht aus. Ein Kind kann man nicht erreichen, wenn man ihm von einer Welt erzählt, die es nicht nachempfinden kann. ZEIT ONLINE: Was ist an Kinderbüchern anders als an Geschichten für Erwachsene? Gausmann: Das ist eine schwierige Frage. Gerade habe ich ein wunderbares Kinderbuch gelesen, Anton taucht ab von Milena Baisch, 2011 ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Die Geschichte wird erzählt von einer Frau, die sich komplett in den zehnjährigen Anton hineinversetzt, in seine Wünsche, seine Ängste. Ich denke, das ist die Kunst – sich als großer Mensch in die kleinen Menschen hineinzuversetzen. Unabhängig vom Genre, ob es Bücher sind, die sich stark an der Alltagswelt orientieren oder wunderbarer Nonsens. Für Kinder zu schreiben, halte ich für eine große Kunst.
Nina Faecke
Die Qualität eines Kinderbuchs hängt von den Bildern ab, sagt Dagmar Gausmann, Gründerin des Kinderbuchhauses in Hamburg-Altona. Ein Gespräch über gute Geschichten
[ "Dagmar Gausmann", "Johnny Mcclung", "Christian Charisius", "Katja Spitzer", "Lieselotte Ahnert", "Saša Stanišić", "Hamburg-Altona", "St. Pauli", "mairisch Verlag", "Kinderbuchhaus" ]
hamburg
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2021-09-18T20:27:59+02:00
2021-09-18T20:27:59+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-09/kinderliteratur-dagmar-gausmann-harbour-front-literaturfestival-lesestoff-empfehlungen?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Menschenrechte: "Ich komme nicht aus dem Paradies. Ich komme aus einem Gefängnis."
Die maledivische Menschenrechtsaktivistin Shahindha Ismail hat vorerst ein neues Zuhause gefunden: in Hamburg. Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte ermöglicht ihr ein Jahr Auszeit an der Elbe. Ohne Drohungen, ohne Schikane. Im Gespräch mit ZEIT ONLINE erzählt Ismail, warum die Malediven für sie kein blaues Paradies sind – und wie es ist, wenn die eigene Welt auf ein paar klimatisierte Quadratmeter zusammenschrumpft. ZEIT ONLINE: Frau Ismail, Sie werden jetzt ein Jahr in Hamburg leben. Das ist eine lange Zeit. Wie haben Sie sich von ihrer Heimat verabschiedet? Shahindha Ismail: Am Tag vor unserer Abreise bin ich noch einmal tauchen gegangen. Und das Meer hat es gut mit mir gemeint, ich habe wunderschöne Fische gesehen, einen Babymanta zum Beispiel, und einen großen Rotfeuerfisch. ZEIT ONLINE: Bei uns ist es gerade noch ziemlich kühl. Unsere Meere werden eigentlich nie so warm wie der Indische Ozean rund um die Malediven. Werden Sie das nicht vermissen, dieses blaue Paradies? Ismail: Die Malediven sind kein Paradies, ganz und gar nicht. Sie werden von unseren Besucherinnen und Besuchern nur dafür gehalten. Das ist eine große Illusion, die für die Fremden am Leben erhalten wird. Das ist leicht, weil ja jedes Hotel seine eigene Insel hat. Ich lebte zuletzt wie in einem Gefängnis. Meine Wohnung ist zwar klimatisiert und gemütlich, aber für mich wurde sie ein Käfig. Ich ging so gut wie gar nicht mehr vor die Tür. Und wenn doch, dann nur ganz kurz und in Begleitung. ZEIT ONLINE: Warum? Wovor hatten Sie Angst? Ismail: Entführung. Mord. Ich bekomme Drohungen auf allen Social-Media-Kanälen: über Twitter, über meine Mailadresse, am Telefon. Ich nehme das sehr ernst. Einer meiner Freunde, der Blogger Yameen Rasheed, wurde 2017 erstochen. Ein anderer Freund, ein Journalist, ist schon 2014 spurlos verschwunden. Augenzeugen sahen, wie er in ein Auto gezerrt wurde. Beide Verbrechen sind bis heute nicht offiziell aufgeklärt. ZEIT ONLINE: Und wer war es? Ismail: Dazu möchte ich aus Sicherheitsgründen nichts sagen. Meine Freunde waren Menschen mit liberalen Ansichten. Das ist bei diesen Leuten Grund genug, um in Lebensgefahr zu geraten. ZEIT ONLINE: Sie haben sich während der demokratischen Revolution 2003 für politische Gefangene engagiert, haben Hinweise auf ihren Verbleib gesammelt, Folterspuren öffentlich dokumentiert. Später ist aus Ihrem Maldivian Detainee Network das Maldivian Democracy Network geworden. Der Präsident der Malediven wird seit 2008 gewählt, es gibt eine demokratische Verfassung. Was ist denn an Ihrer Arbeit im Dienste dieser Demokratie bedrohlich? Ismail: Unsere Verfassung erlaubt uns nicht nur Wahlen, sie macht auch den Islam zur Staatsreligion. Und der Einfluss religiöser Extremisten wird immer größer. Der Präsident, den wir bis zum September vergangenen Jahres hatten, war der Bruder des alten Diktators. Er hat die Religion als Machtinstrument genutzt, zum Beispiel, um alle möglichen Menschen, die für seine sehr autoritäre Auffassung von Präsidentschaft unbequem waren, zu diffamieren. Mein Thema sind Menschenrechte – auch religiöse Toleranz. Einmal schrieb ich einen Tweet, in dem ich argumentierte, dass andere Religionen mit Allahs Duldung existieren dürften, denn sonst würde er sie nicht existieren lassen. Daraufhin warf mir Vaguthu Online , eine Nachrichtenseite, die zu dieser Zeit von Präsident Yameens Frau herausgegeben wurde, Ketzerei vor und rief dazu auf, mich zu töten. Sofort danach kamen die Todesdrohungen von den Fanatikern.
Nike Heinen
Die Menschenrechtsaktivistin Shahindha Ismail hat Zuflucht in Hamburg gefunden. In ihrer Heimat, den Malediven, hatte sie Todesangst.
[ "Menschenrechte", "Shahindha Ismail", "Malediven", "Demokratie" ]
hamburg
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2019-05-06T19:51:19+02:00
2019-05-06T19:51:19+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-05/menschenrechte-shahindha-ismail-malediven-hamburg?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Queen Mary 2: Englische Entschleunigung
Das Schiffssignal zur Abfahrt dröhnt durch den Hafen von New York. Einmal, zweimal, dreimal – eine Handvoll Schlepper und ein vorbeifahrender Frachter antworten. Der Moment hat etwas Feierliches, das dem Reisen sonst abhandengekommen ist. Auf dem obersten Deck, hier sind die Planken aus Teakholz, stehen Passagiere an der Reling und begießen den Aufbruch mit Prosecco. Es geht einmal komplett über den Atlantik, ins ferne Europa. Beim Vorbeifahren scheint es, als recke die Freiheitsstatue ihre Fackel wie zum Gruß in den Himmel. Die Queen Mary 2, benannt nach der englischen Königin und Gemahlin von George V., Mary of Teck, pendelt zwischen dem englischen Southampton und den USA, läuft aber auch mal Hamburg und andere Häfen an. Bevor es Flugzeuge gab, war diese Art zu reisen normal. Heute ist das 345 Meter lange und 41 Meter breite Schiff die letzte regelmäßige Passagierschiffverbindung zwischen der Alten und der Neuen Welt. Die Beweggründe für den Antritt der langen Reise über das Meer sind so unterschiedlich wie die Passagiere. "Ich freue mich wirklich darauf. Es ist der Weg zurück auf den Spuren meiner Vorfahren, die vor vielen Jahren aus der anderen Richtung über den Atlantik nach Amerika gekommen sind", sagt eine ältere Dame aus Wyoming. "Das wird sehr, sehr spannend." Der grauhaarige Mann ein paar Meter weiter an der Reling blickt entschlossen Richtung Bug, über den Hudson-River in Richtung Meer. "Ich war schon auf vielen Passagierschiffen, aber ich habe noch nie den Atlantik überquert. Ich hoffe, die Wellen sind nicht zu hoch", sagt er lachend. "Aber ich bin Ire, ich bin tapfer." Irland übrigens wird das erste Stückchen Festland sein, das die Queen Mary auf der anderen Seite des Atlantik passieren wird – in knapp einer Woche. Eine Woche auf dem Wasser Das Schiff ist gut gebucht. An Bord sind rund 2.500 Passagiere, die in Innenkabinen oder solchen mit Fenster und Balkon unterkommen. Suiten gibt es natürlich auch. Ab Hamburg kostet die zehntägige Reise über Southampton nach New York zwischen 1.000 und 4.000 Euro pro Person, je nach Wahl der Kabine. Die Preiskategorien versetzen die Passagiere zurück in eine streng nach Klassen geordneten Welt, wie sie typisch war zu den Hochzeiten der Ozeandampfer. Wer im Britannia-Restaurant isst, hat zum Beispiel keinen Zugang zum exklusiven Queens-Grill. Und wer die 200 Quadratmeter große Balmoral-Suite gebucht hat, nutzt ohnehin sein eigenes Esszimmer mit Platz für acht Gäste und dem eigenen Butler. Doch egal, wer wo auf dem Schiff isst: Versorgt wird er auf von Küchenchef Klaus Kremer. Der Deutsche arbeitet seit mehr als 30 Jahren für die Cunard Line, kümmert sich zusammen mit den rund 1.250 Crewmitgliedern um das Wohl der Passagiere auf dem Atlantik. "Insgesamt machen wir 14.000 Essen am Tag", sagt Kremer. "Vom Frühstück über Lunch, dann Teatime, Abendessen, Mitternachtssnack." In der Kühlung unter Deck lagern tonnenweise Fleisch, Meeresfrüchte und 35.000 Eier. "Und dann gehst du am Ende der Reise runter in den Kühlraum – und die Regale sind leer." Die vielleicht wichtigste Mahlzeiten ist aber die berühmte Teatime. Immerhin ist die Queen Mary 2 ein britisches Schiff und ohne dampfenden Tee, Gebäck und Sandwiches wäre die Reise über den Atlantik ins weit entfernte England nicht dasselbe. Dazu gehören natürlich auch die legendären Scones – helle, weiche Küchlein, die Nicht-Briten gerne mal mit Muffins verwechseln. 35.000 Eier und handgemachte Scones "Eine Teezeit auf der Queen Mary ohne Scones wäre ein Desaster, die gehören einfach dazu", erzählt Klaus Kremer. Trotzdem werden immer zuerst die Sandwiches gereicht, Grund ist der hohe Butteranteil des Gebäcks: "Die Scones sind so sättigend, da essen die Gäste sonst von dem anderen nichts mehr." Rund 800 Scones backt die Bordküche jeden Tag für die Teatime. Und wie isst man sie? Ein Gast aus Cornwall weiß es genau. Auf die Reihenfolge komme es an, sagt er. "In Cornwall kommt erst die Marmelade und dann die clotted cream drauf." Er demonstriert es mit einem Augenzwinkern, das signalisiert, dass er das höchstens halbernst meint. "In Devon hingegen kommt erst der Rahm auf den Scone und dann die Marmelade."
Helmut Stapel
Flugangst, mitreisende Hunde oder Sehnsucht nach historischer Langsamkeit: Es gibt gute Gründe für eine Schiffsreise. Mit dem letzten Transocean-Liner über den Atlantik
[ "Daniel Hofer", "George V.", "Brooklyn Cruise", "Atlantik", "New York City", "Germany", "Manhattan", "Reisen", "Flugangst", "Schiffsreise" ]
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2023-05-07T15:00:56+02:00
2023-05-07T15:00:56+02:00
https://www.zeit.de/entdecken/reisen/2023-04/queen-mary-2-kreuzfahrtschiff-transocean-liner?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
"Hells Angels": Aus Liebe und Hass
Am Abend des 26. August sitzt Dariusch F. in seinem himmelblauen Bentley und wartet darauf, dass die Ampel am Millerntorplatz auf Grün umschaltet. Gerade hat er in seiner Lieblingspizzeria Palermo in der Hein-Hoyer-Straße gegessen, jetzt ist er auf dem Weg zu seiner Wohnung in der HafenCity. Der Abend ist mild, der 38-Jährige hat das Fenster seines Wagens heruntergedreht. Auch der Beifahrer des Mercedes, der neben ihm hält, fährt seine Scheibe herunter. Dariusch F. ist völlig ahnungslos, als der andere plötzlich eine Pistole auf ihn richtet und fünf Mal schießt. Dariusch F. überlebt, sitzt seither aber querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Ein Mordversuch mit Hinrichtungscharakter, wie der Vorsitzende Richter der Großen Strafkammer am Hamburger Landgericht sagt. Dafür verantwortlich ist nach Überzeugung der Richter ein Paar, das einst von einem gemeinsamen Haus am Strand träumte und nun für viele Jahre getrennt voneinander im Gefängnis sitzen wird. Arasch R., 28 Jahre alt und auffällig im Gesicht und am Hals tätowiert, kommt lebenslang ins Gefängnis. Seine Freundin Lisa S., 24 Jahre, Prostituierte mit blondiertem Dutt, wird zu zwölfeinhalb Jahren verurteilt. Die Geschichte, die sie hinter Gitter gebracht hat, handelt von inniger Liebe und tiefem Hass. Arasch R. saß vorigen Sommer wegen Drogen- und Waffenbesitzes in Untersuchungshaft. Von da aus soll er den Auftrag erteilt haben, den verhassten Dariusch F. zu töten. Mit Lisa S. hat er nach Erkenntnissen der Polizei über die Videotextfunktion des Fernsehers in seiner Zelle kommuniziert. Arasch R. und Dariusch F. gehörten verfeindeten Rockergruppen an. Dariusch F. soll einer der Anführer der mächtigen Hells Angels gewesen sein, Spitzname des ehemaligen Bundeswehrsoldaten: der Schlächter. Arasch R. wiederum gehörte zu den Mongols, die den Höllenengeln die Macht auf dem Kiez abnehmen wollten und sich inzwischen, geschlagen durch blutige Niederlagen, aufgelöst haben. In diese Männerwelt trat Lisa S. als Geliebte von Arasch R. Er war ihr Traummann, das sagte sie ihm immer wieder, die Polizei hat entsprechende Nachrichten an ihn gefunden. Sie träumte davon, aus der Prostitution auszusteigen und mit Arasch R. eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Ein gemeinsames Haus am Strand, das malten sie sich zusammen aus. Zunächst aber zog sie mit zu ihm in sein Elternhaus in Schnelsen, wo die beiden im Juni 2016 Opfer eines brutalen Überfalles wurden: Sie wurden angeschossen und überlebten schwer verletzt. Die Polizei konnte den Täter nie ermitteln. Für Arasch R. und Lisa S. war dennoch klar, wer für den brutalen Überfall verantwortlich war: der verfeindete Hells Angel Dariusch F. Der Hass war auch vorher schon groß. Nun sollte er das weitere Leben von Arasch R. bestimmen. Er wollte Rache. Blutrache, wie er es bei einem Besuch von Lisa S. in seiner Untersuchungshaft nannte, die Polizei hörte das Gespräch heimlich mit. Selbst konnte er nichts tun. Seine Freundin aber war in Freiheit, und ihre Liebe zu ihm war bedingungslos. Sie war bereit, Arasch R. zu rächen. Sogar bereit, dafür einen Mord zu begehen. Am 26. August leiht sie sich von Araschs Schwager den Mercedes Coupé, holt damit einen unbekannt gebliebenen Mann am Hauptbahnhof ab, lauert mit ihm Dariusch F. auf, bis die Gelegenheit zum Schießen günstig erscheint, und flieht. Eine Woche später besucht sie Arasch R. wieder in der Untersuchungshaft. "Wir sind jetzt Bonnie und Clyde", jubeln die beiden. Am Tag darauf wird auch Lisa S. verhaftet. Mit der gemeinsamen Zukunft ist es vorbei. Auch von der abgöttischen Liebe ist am Tag des Urteils nichts mehr zu sehen. Die beiden sitzen Meter voneinander entfernt, abgeschirmt durch ihre Anwälte, bewacht von neun Justizbeamten mit Schlagstock und Handschellen am Hosenbund. Lisa S. blickt ihren einstigen Traummann nicht ein Mal an. Und Arasch., äußerlich ein betont männlicher Typ mit dichtem Bart und Tattoos, wirkt an diesem Tag wie ein kleiner Junge, der mit hängenden Schultern eine Strafpredigt seiner Mutter über sich ergehen lassen muss. In der Hamburger Justiz fürchtet man, dass die Blutrache mit diesen Urteilen nicht vorbei sein wird. Die verfeindeten Rocker haben sogar in diesem Prozess deutlich gemacht, dass sie ihre Angelegenheiten untereinander regeln und nicht über die Polizei oder die Justiz. Dariusch F. hat sich geweigert, im Ermittlungsverfahren auszusagen, sodass das Gericht ihn erst gar nicht als Zeugen vorgeladen hat. Alle rechnen damit, dass die Hells Angels jetzt wiederum Rache an Arasch R. und Lisa S. nehmen werden. Die beiden sind im Gefängnis von den anderen Gefangenen isoliert, damit ihnen hinter Gittern nichts passiert.
Elke Spanner
Ein Paar entschließt sich zu einem Mordversuch – und sitzt jetzt für viele Jahre im Gefängnis. Hintergrund ist eine Auseinandersetzung im Rockermilieu.
[ "Hamburg", "Hells Angels", "St. Pauli", "HafenCity", "Landgericht Hamburg", "Polizei", "Mordversuch", "Rockermilieu" ]
hamburg
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2019-06-03T19:40:05+02:00
2019-06-03T19:40:05+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-06/hells-angels-strafprozess-versuchter-mord-paerchen?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Containern: "Ich esse, was andere wegwerfen"
Der Hamburger Justizsenator Till Steffen (Grüne) will sich einem Bericht von "Neuer Osnabrücker Zeitung" und "Pinneberger Tageblatt " zufolge in der Konferenz der Justizminister für eine Legalisierung des Containerns einsetzen. Christine ist 25 Jahre alt und Masterstudentin. Sie ist bei Foodsharing Hamburg aktiv und containert seit vier Jahren. Hier erzählt sie, wie es ist, sich sein Essen aus anderer Leute Mülltonnen zu fischen. Ob Spargel, Salat, Äpfel oder Joghurt – Tag für Tag landen alle erdenklichen Lebensmittel im Müll. Weil sie niemand mehr essen will, angeblich. Dabei sind viele dieser Produkte keineswegs verdorben und noch sehr wohl genießbar. Also fische ich das Essen wieder raus aus dem Müll. Und damit bin ich nicht allein. Ich esse, was andere wegwerfen. Vor vier Jahren fing es an. Ich war damals schon im Hamburger Foodsharing-Netzwerk aktiv, das nicht verkaufte Lebensmittel von kooperierenden Supermärkten und Bäckereien verteilt. Darüber habe ich Menschen kennengelernt, die ihr Essen wie selbstverständlich aus Abfallcontainern holen. In der Facebook-Gruppe Containern in Hamburg geben sie einander Tipps, posten Bilder von gesammelten Lebensmitteln und verabreden sich zu gemeinsamen "Müllsafaris" durch die Stadt. Eine kleine Szene ist das schon lange nicht mehr: Inzwischen zählt allein diese Gruppe über 1.000 Mitglieder. Ich bin oft zwei- bis dreimal pro Woche unterwegs. Wie lang so eine Tour dauert, ist ganz unterschiedlich. Mal laufe ich nur schnell zum Aldi um die Ecke, öffne die Klappe der Mülltonne und finde meist sofort alles, was ich brauche. Wenn ich in einer Gruppe losziehe, bin ich erst nach vier oder fünf Stunden wieder zu Hause. Dann teilen wir uns ein Auto, klappern möglichst viele Supermärkte ab und packen so viel ein, wie nur geht. Danach kochen wir zusammen und verteilen alle übrigen Lebensmittel an Bekannte, Bedürftige oder soziale Projekte. Containern fühlt sich für mich an wie eine Schatzsuche. Jedes Mal. Denn da ist diese Aufregung, der Nervenkitzel: Was werde ich heute finden, wie groß wird meine Ausbeute sein? Und was könnte ich später damit kochen, ist vielleicht sogar ein Nachtisch drin? In Supermärkten kaufe ich dagegen nur noch selten ein. Obst und Gemüse gar nicht mehr, denn davon findet sich mehr als genug im Müll. Klassischer Fall: Der Dreierpack Paprika, der sofort im Müll landet, nur weil eine einzelne Paprika eine Druckstelle hat. Ich nehme mit, was eben da ist. Das ist auch ein netter Nebeneffekt: Man lernt neue Lebensmittel kennen, wird in der Küche kreativer. Pastinaken zum Beispiel kannte ich vor dem Containern gar nicht. Und dann gibt es Funde, die sind so überraschend, dass ich immer noch gern daran zurückdenke. Einmal habe ich einen ganzen Container voll mit Kaffeepaketen gefunden, ein anderes Mal kiloweise Osterschokolade. Und die pinken Gummistiefel, die ich vor Jahren aus einer Tonne gezogen habe, trage ich noch heute. Ich ekle mich nicht vor dem Müll – auch wenn der oft ganz schön stinkt. Auch Ratten sehe ich bei meinen Touren nur selten. Doch ich streife immer Handschuhe über, bevor ich in die Container greife. Ich könnte sonst in Scherben fassen. Die Leute schmeißen wirklich alles weg. Einige Supermärkte zerstören Lebensmittel vor dem Entsorgen Würde ich alles bedenkenlos essen, was ich im Müll finde? Sicher nicht. Fleisch oder Fisch lasse ich grundsätzlich liegen. Überhaupt schaue ich mir jedes Lebensmittel ganz genau an. Bläht sich ein Joghurtbecher auf, hat die Gärung eingesetzt, und der Inhalt ist verdorben. Geöffnete Packungen nehme ich auch nicht mit. Ansonsten sollte man sich nicht von der Optik täuschen lassen. Obst und Gemüse sind in der Regel auch dann noch gut, wenn sie ein paar Dellen und braune Stellen haben. Auch weggeworfene Molkereiprodukte aus den Containern kann man meistens noch essen, auch dann noch, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits überschritten wurde. Eines macht mich allerdings immer wieder fassungslos: In einigen Supermärkten werden die Mitarbeiter dazu angehalten, Lebensmittel vor dem Entsorgen zu zerstören. Da werden ganze Paletten an Joghurtbechern durchstochen, Eier zerschlagen, Nudelpackungen aufgerissen. Damit die ja niemand mehr nimmt. Containern ist nach dem Gesetz Diebstahl und Hausfriedensbruch. Einige Supermärkte versuchen daher, das Müllsammeln durch Gitter, Warnschilder und Überwachungskameras zu unterbinden. In der Hamburger Innenstadt oder in Szenevierteln wie der Schanze sind die Parkplätze in der Regel sehr gut abgesichert. In den ruhigeren Wohnvierteln im Norden, wo ich meist unterwegs bin, ist das Containern viel leichter. Ansonsten unterscheidet sich der Umgang mit dem Müll von Konzern zu Konzern: Lidl zäunt seine Müllcontainer ein, bei Aldi stehen die Tonnen frei zugänglich herum. Bei Edeka und Rewe ist es ganz unterschiedlich, da viele Märkte von selbständigen Kaufleuten geführt werden. Ich würde immer raten, lieber tagsüber im Hellen loszuziehen und erst einmal nach frei zugänglichen Tonnen zu suchen, statt irgendwo einzubrechen. Mit dem eigentlichen Containern beginne ich dann eine Stunde nach Ladenschluss, um unangenehme Situationen mit Mitarbeitern zu vermeiden. Denn die wissen ja: Eigentlich müssten sie das melden. Ich bin allerdings schon oft auf Mitarbeiter gestoßen, die mir zugeraunt haben: "Eigentlich ist das nicht erlaubt, aber kommen Sie doch einfach noch mal nach Feierabend wieder …" Warum das Ganze? Ich bin Studentin, doch es geht mir nicht darum, Geld zu sparen. Ich kann es einfach nicht ertragen, dass derart viele Lebensmittel einfach weggeschmissen werden. Ich kann kaum noch an einem Supermarkt vorbeigehen, ohne nach den Containern Ausschau zu halten. Seitdem ich gesehen habe, was dort alles lagert, kann ich den Gedanken daran nicht mehr verdrängen. Im Müll nach Essen zu suchen liegt nicht jedem, das verstehe ich. Während in meiner Generation viele dem Containern offen gegenüberstehen, sind die Vorbehalte unter älteren oft groß. Meine Eltern zum Beispiel hätten große Angst, bedürftig rüberzukommen. Was sollen denn die Leute denken? Es gibt viele Wege, um ein Zeichen gegen die Verschwendung zu setzen, Containern ist nur ein Ansatz. Wichtig finde ich, dass man sich dabei nicht in Konkurrenz zu den tatsächlich Bedürftigen versteht: Wenn wir vom Foodsharing-Netzwerk Essen aus einem Supermarkt abholen – also ganz legal – warten wir so lange, bis die Tafel schon dort war. Überhaupt ist der Gedanke, Essen an andere zu verteilen, auch in der Szene der Containerer zentral. Belegte Brötchen zum Beispiel nimmt die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof dankend an, wir kennen inzwischen viele Unterschlüpfe von Obdachlosen, bringen auch dort Essen vorbei. Ich denke nicht, dass eine Legalisierung des Containerns viel gegen das eigentliche Problem, die Verschwendung von Lebensmitteln, ausrichten könnte. Zu Strafverfahren kommt es ohnehin selten, aus dem Hamburger Raum kenne ich jedenfalls niemanden, der schon einmal in Konflikt mit dem Gesetz gekommen wäre. Den Vorschlag des Justizsenators finde ich trotzdem gut. Weil er das Thema wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Und weil es natürlich absurd ist, dass die Wiederverwendung von Lebensmitteln eine Straftat darstellt. Sinnvoller fände ich aber, wenn Supermärkte dazu verpflichtet würden, eine Partnerschaft mit einer Hilfsorganisation einzugehen, die Lebensmittel abnimmt. Darüber hinaus sollten wir alle unser Konsumverhalten hinterfragen: Müssen die Regale in den Märkten immer prall gefüllt sein, auch noch Samstagabends um 20 Uhr? Müssen wir unbedingt Spargel oder Gänsekeule zu Weihnachten essen? Wohin führt dieser Drang, alles zu jeder Zeit kaufen zu können? Und wäre es denn wirklich so schwer, mit dem auszukommen, was gerade da ist?
Annika Lasarzik
Immer mehr Menschen retten Lebensmittel aus dem Müll. Rechtlich gilt das Containern immer noch als Diebstahl, manche Supermärkte bekämpfen es mit allen Mitteln.
[ "Nachhaltigkeit", "Ernährung", "Foodwatch", "Konsumverhalten", "Müll", "Verschwendung", "Supermarktkette", "Lebensmittelverschwendung", "Container" ]
hamburg
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2019-06-03T15:06:24+02:00
2019-06-03T15:06:24+02:00
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Günter Netzer: Der Leichtfüßigste
Ich habe ihn nur im Fernsehen gesehen. Das ist eine Aussage, die im Fall des ehemaligen Fußballspielers, Diskothekenbesitzers, Stadionzeitungsmachers, Vereinsmanagers, Werbeagenturgründers, Sportrechtevermarkters und eben Fernsehfußballexperten Günter Netzer ein einziges falsches "nur" setzt. Denn Netzer als Experte im Fernsehen, in der ARD neben Gerhard Delling, das war natürlich immer wieder ein Ereignis, knapp 14 Jahre lang, von 1997 bis 2010 . Man schaltete die Spielübertragungen der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer in dieser Zeit vielleicht nicht nur wegen Experte Netzer und Moderator Delling ein. Aber die beiden waren über weite Strecken ihres Tuns vor der Kamera doch das einzig Unterhaltsame im Zusammenhang mit der Nationalmannschaft. Netzer nie im Stadion gesehen zu haben, spielend auf dem Feld: Das geht den meisten so. Umso besser allerdings kann man sich in der Fantasie ausmalen, wie es gewesen sein könnte. Das Fernsehen leuchtet die Dinge jedenfalls greller aus. Ungefähr die erste Hälfte der Fernsehexistenz des Duos Netzer/Delling fiel in die heute gütig vergessene Rumpelfußballphase der deutschen Elf, bis Jürgen Klinsmann und vor allem Joachim Löw die Nationalmannschaft da rausholten. Dass jemand zu diesem fußballerischen Elend um die Jahrtausendwende herum noch Worte fand, die die spielerische Tristesse nicht bloß doppelten, war ein Trost. Der deutsche Fußball hat bessere, schönere Zeiten gesehen, davor und danach, und der große Ästhet Günter Netzer litt sichtlich an der zwischenzeitlichen Abwesenheit aller Schönheit. Er hat das Expertentum im deutschen Sportfernsehen nicht erfunden, aber mit seiner Liebe für Rhetorik (und manchmal vielleicht auch nur mit seiner Liebe für etwas geschwollenes Reden) zu einer frühen Größe geführt. Einmal, das ist gerade nicht vergessen, weil es so brülllustig war, brachten Netzer und Delling im Jahr 2003 nach einem total trostlosen 0:0 gegen Island den damaligen Bundestrainer Rudi Völler mit einer harschen Spielanalyse furchtbar in Rage. Beim Nachspielinterview mit dem ansonsten eher nicht bedauernswerten Waldemar Hartmann – Völler hatte mitbekommen, was Delling und Netzer gesagt hatten übers Spiel der Deutschen – zeihte Völler in einer Wutrede ( "Scheißdreck", "Käse", "Schwachsinn" ) Netzers Fußballergeneration des "Standfußballs". Eine fußballerische Bewertung, die sogar Günter Netzer über sich selbst als Spieler schon während und nach seiner aktiven Fußballerkarriere verbreitet hat. Netzer, der bekennend Lauffaule, hatte jedenfalls in seiner prägenden Zeit als Spieler von Borussia Mönchengladbach immer jemanden, der für ihn lief, den tapferen Herbert Wimmer. Der konnte dem Publikum neben Netzer erscheinen wie Sancho Panza neben Don Quijote, so wie es später manchmal auch Delling neben Netzer tat. Nur dass Netzer nie ein Ritter von trauriger Gestalt war wie Don Quijote, sondern stets glänzender; und dass Netzer nie jemandem etwas vorzumachen schien, vor allem nicht sich selbst. Es schien, als könne sich Netzer die Verehrung seiner Person zwar schon erklären, er war halt echt spitze in so vielen Dingen; und wirklich unliebsam war ihm die Verehrung augenscheinlich auch nicht. Doch Netzer wirkte stets so, als halte er das Gewese um ihn im Großen und Ganzen doch für etwas unreifen Quatsch. Aber über Günter Netzer reden, das heißt, ihn zu überhöhen, ihn womöglich über das gebotene Maß zu feiern, ihn zu etwas zu erklären, das er wohl nie war und laut eigenen Aussagen definitiv nicht sein wollte: Popstar, Rebell, Diva , Lebemann, blonder Engel, "langes Arschloch" ( Hennes Weisweiler , bei seiner angeblichen Definition von Abseits: "Abseits ist, wenn das lange Arschloch wieder mal zu spät abgespielt hat"). Doch dass sich Netzer auf eine bestimmte Art besser überhöhen lässt als jeder andere deutsche Fußballer, darin besteht doch gerade die Freude, die er allen bereitet bis heute. Er war der Mann, der wie vom Himmel gefallen schien, einer aus der Provinz, der von Anfang an wie ein Weltmann wirkte, wahnsinnig cooler Typ, gute lange Haare, gute Klamotten, gute Sportwagen, Ferrari und so. Er war das Gegenteil dessen, was man von einem deutschen Fußballer erwartete, kein braver Erfüllungsgehilfe seiner Trainer, kein still im Dienste der Mannschaft schuftender Siegertyp, sondern ein herrliches Großmaul, jedenfalls auf dem Platz als Spielmacher. Günter Netzer ist eine riesige Projektionsfläche. Nicht für die Titelzähler (bei Netzer waren es gar nicht so wenige, auch wenn der des Weltmeisters 1974 nur für knapp 20 Minuten Einsatzzeit war). Netzer lieben wohl vor allem diejenigen, denen Gewinnen nicht alles ist, jedenfalls dann nicht, wenn es nicht mit Eleganz, Schauwert, Humor, genereller Interessantheit verbunden ist. Netzer war also wie fürs Feuilleton gemacht. In das hat ihn und damit den Fußball einst Karl Heinz Bohrer mit der Wendung von " der Tiefe des Raums " geholt, aus der Netzer plötzlich vorgestoßen sei. In dieser Tiefe stand Netzer gerade nicht herum, jedenfalls in einem bestimmten Spiel nicht: Netzer habe " thrill " , schrieb Bohrer, der damalige Englandkorrespondent und spätere Feuilletonchef der FAZ , nach dem bis heute legendären 3:1-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die englische im Wembley-Stadion 1972. "Thrill" , schrieb Bohrer, "das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, thrill, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. Thrill ist Wembley." Als die Kölner Sporthochschule vor ein paar Jahren nachmaß , wie schnell dieses noch heute in der Originalaufzeichnung am Bildschirm rasend wirkende 3:1 unter der Führung der sich mit Vorstößen abwechselnden Günter Netzer und Franz Beckenbauer denn tatsächlich gewesen ist, kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis: Bei dieser deutschen Nationalmannschaft lief an diesem einen Tag, in diesem einen Spiel der Ball ungefähr so schnell, wie er es heutzutage im Profifußball auch nur selten tut, 2,9 Meter pro Sekunde; die Engländer erreichten in dem Spiel nur einen Wert von 1,64 Metern pro Sekunde, sie spielten für das Jahr 1972 zeitgemäßen Fußball, die Deutschen hingegen geradezu futuristischen. Die Leute, die das live im Fernsehen gesehen haben am 29. April 1972, müssen sich die Augen gerieben haben. So ein Rauf und Runter auf dem Platz hatten sie definitiv noch nie zuvor gesehen und sollten sie auch später nur noch selten sehen. Aber dieses EM-Viertelfinale war dann ja auch schon das größte der lediglich 37 Spiele Günter Netzers im Trikot der deutschen Nationalmannschaft, er war in Wembley der beste Mann auf dem Platz, der mit den meisten Ballkontakten und Offensivaktionen. Dieses eine Spiel ist das fußballerische Hauptwerk Netzers, zu dem ansonsten die vermutlich noch etwas bekanntere eine Aktion im DFB-Pokalfinale 1973 kommt.
Dirk Peitz
Am Samstag wurde Günter Netzer 80 Jahre alt. Er wird zu Recht verehrt als der deutsche Fußballer, Fernsehexperte, Manager, der anders war als alle anderen.
[ "Günter Netzer", "Fußball", "Moderator", "Fernsehen", "Fußball-Bundesliga", "Profisport" ]
kultur
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2024-09-14T10:35:03+02:00
2024-09-14T10:35:03+02:00
https://www.zeit.de/kultur/2024-09/guenter-netzer-80-geburtstag-fussball-fernsehexperte?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Alexander Klar: "Die Erwartung unterlaufe ich mit großem Vergnügen"
Im Februar verlor die Kunsthalle nach nur zwei Jahren ihren Direktor Christoph Martin Vogtherr, ausgerechnet im Jahr ihres 150. Jubiläums . Seinen Nachfolger Alexander Klar bezeichnete Kultursenator Carsten Brosda als einen Mann, " der aus dem 19. Jahrhundert kommt und zuletzt fast ausschließlich in der Moderne und der Gegenwart gearbeitet hat ". Das Museum neben dem Hauptbahnhof hat frischen Wind jedenfalls dringend nötig. ZEIT ONLINE: Seit wann wissen Sie, dass Sie der neue Direktor der Hamburger Kunsthalle werden? Alexander Klar: Die erste Anfrage kam im späten Januar. ZEIT ONLINE: Also ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als Ihr Vorgänger Christoph Martin Vogtherr nach Potsdam umzog. Klar: Daraufhin haben Carsten Brosda und ich uns getroffen und ausgetauscht – und dabei wurde deutlich, dass das ein wirklich interessanter Job ist, mit Rückhalt da, wo er nötig ist. ZEIT ONLINE: Waren Sie sich denn immer klar darüber, dass Sie den Job auch wollen? Klar (lacht): Ich hatte zuletzt tatsächlich einige Angebote von vergleichbar großen Museen wie der Hamburger Kunsthalle, auf die ich immer sehr gelassen geantwortet habe: Ich bin in Wiesbaden sehr gut aufgehoben und habe dort noch sehr viel vor. Als die Hamburger Anfrage kam, habe ich tatsächlich tief eingeatmet – und dann meine Frau gefragt, ob ich in die Gespräche tiefer einsteigen sollte. Meine Frau ist Norddeutsche, wir haben uns in meiner Zeit an der Kunsthalle Emden kennengelernt. ZEIT ONLINE: Wie hat sie reagiert? Klar: Sie sagte: Also, wenn du nach Hamburg willst – ich würde nach Hamburg gehen. ZEIT ONLINE: Ihr erster Arbeitstag in Hamburg ist der 1. August – tatsächlich hat die Arbeit aber vermutlich längst begonnen, oder? Klar: Das hat sie. Ich bin niemand, der mit 17 Ausstellungen im Gepäck ankommt und sagt: Das ist meine Handschrift, so machen wir das jetzt. Ich sehe meine Aufgabe eher darin, die Rahmenlinien des Ausstellungsprogramms zu skizzieren und dann gemeinsam mit den Kuratorinnen und Kuratoren ein kluges Programm zu entwickeln. Dafür muss man viel miteinander reden, weswegen wir uns bereits zweimal getroffen haben, um über die bisher geplanten Ausstellungen zu besprechen. ZEIT ONLINE: Können Sie über Ihre Rahmenlinien des Ausstellungsprogramms schon etwas mehr verraten? Klar: Es wird viel mit Integration der Sammlungen zu tun haben, mit einer Bezugnahme aufeinander. Und es soll das Profil der Kunsthalle und ihrer Schwerpunkte herausmeißeln. ZEIT ONLINE: Wenn man Ihnen nun unterstellte, Sie wüssten tatsächlich noch nicht genau, was Sie vorhaben – täte man Ihnen unrecht? Klar: Für die ersten zwei Jahre ist alles mit großem Vorlauf durchgeplant, was gut ist, weil ich mich ja auch erst in die Sammlungen en détail einarbeiten muss. Ein Ausstellungsprogramm, wie es mir vorschwebt, kann also ab 2022 stattfinden. Mein Ziel liegt darin, die einzelnen Sammlungsteile künftig stärker aufeinander zu beziehen, und auf das Haus selbst. Man soll erkennen können: Das ist eine Kunsthallen-Ausstellung. ZEIT ONLINE: Ihre Ausstellungen bekommen also ein hamburgisches Element. Was könnte das sein? Klar: Das beginnt mit der Architektur des Hauses selbst, mit den Räumen. Im Idealfall ist ja jede Ausstellung eine Einheit aus der Ausstellungsidee, den Werken und der Architektur. In vielen Museen ist dieser Dreiklang aufgrund architektonischer Gegebenheiten schwierig. In Wiesbaden bin ich schon sehr verwöhnt, in Hamburg sehe ich aber fast noch schönere Möglichkeiten: Da gibt es die beiden Altbauten, die großartige Ausstellungsräume bieten, daneben steht der zur Alster hin gelegene, auf den ersten Blick schwierige, quadratische Ungersbau. Wenn man aber hier anfängt, mit der Architektur zu kuratieren, statt gegen sie, lässt sich in meinen Augen viel herausholen. ZEIT ONLINE: Sie übernehmen mit der Kunsthalle nicht nur ein Haus mit einer bedeutenden Sammlung, sondern auch mit einem großen Haufen Probleme. Abgesehen vom Ausstellungsprogramm: Worum werden Sie sich zuerst kümmern? Klar: Ich sehe nicht, wo die Kunsthalle größere Probleme hat als die anderen großen Häuser Europas. Ich werde mich ganz unmittelbar der Moderne und der Gegenwart zuwenden, weil ich hier die Verantwortung eines Hauses wie Hamburg sehe. Wir müssen – im Victoria-and-Albert-Museum nannten wir das " Taste-Maker " – geschmacksbildend sein, und wir müssen versuchen, einen Gegenwartskanon mitzuprägen.
Florian Zinnecker
Der neue Direktor der Hamburger Kunsthalle kommt aus Wiesbaden. Am 1. August tritt Alexander Klar seinen Posten an, doch seine Arbeit hat er schon längst begonnen.
[ "Hamburger Kunsthalle", "Alexander Klar", "Museumsleitung" ]
hamburg
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2019-07-28T13:38:25+02:00
2019-07-28T13:38:25+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-07/alexander-klar-direktor-hamburger-kunsthalle-neubesetzung/?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Nordseeinsel Neuwerk : "Eine Katastrophe, das ist doch unser Zuhause hier!"
Die Insel Neuwerk liegt in der Helgoländer Bucht, über 100 Kilometer von Hamburg entfernt – und sie ist ein Stadtteil im Bezirk Hamburg-Mitte. Moment, gehört Neuwerk wirklich zu Hamburg? Ein grüner Bundestagsabgeordneter hat Zweifel. 1961 hatten Hamburg und Niedersachen per Staatsvertrag vereinbart, dass Niedersachsen Neuwerk abgibt und dafür Teile des Cuxhavener Hafengebiets erhält. Womöglich hätten Bundesrat und Bundestag den neuen Ländergrenzen damals zustimmen müssen, vermutet der Politiker. Er will der Sache nun mit einer Anfrage im Bundestag nachgehen. Ob Hamburg oder Niedersachsen, eigentlich schwelen hinter dieser Frage ganz andere: Die Hamburger Hafenbehörde plant, vor Neuwerk Schlick ins Meer zu kippen. Denn der Schlick verstopft den Hafen, er muss dringend weg – aber ausgerechnet nach Neuwerk? Muss das sein? Was hält man auf der Insel von dem Plan? Ein Anruf bei Christian Giebel, dem Inselobmann von Neuwerk. ZEIT ONLINE: Moin Herr Griebel! Wie lebt es sich so auf Neuwerk? Christian Griebel: Ach, hier ist es einfach wunderschön. Wer nicht so gern unter vielen Menschen ist, findet es super hier. Man kann Vögel beobachten, den Sonnenuntergang genießen. Vor allem im Winter herrscht hier die totale Ruhe. ZEIT ONLINE: Der grüne Bundestagsabgeordnete Stefan Wenzel will überprüfen lassen, ob die Inseln Neuwerk und Scharhörn wirklich zu Hamburg gehören. Wie finden Sie das? Griebel: Weiß' gar nicht so recht, was ich davon halten soll. Dass Neuwerk in den Sechzigern gegen Teile des Cuxhavener Hafengebiets eingetauscht wurde, wissen wir natürlich. Aber dass dieser Deal umstritten sein soll, höre ich zum ersten Mal. Das war vorher kein Thema auf der Insel. ZEIT ONLINE: Fühlen Sie sich denn als Teil von Hamburg? Oder wären Sie lieber Niedersachse? Griebel: Gefühlsmäßig ist die Sache ganz klar: Ich bin Neuwerker! Wir Insulaner fühlen uns dem Wattenmeer verbunden, das Bundesland ist da eher zweitrangig. Mit Hamburg sind wir bisher ganz gut gefahren, auch mit der Hafenbehörde kommen wir an sich gut klar. Die kümmert sich hier um die Grünpflege und den Küstenschutz. ZEIT ONLINE: Aber jetzt will die Hamburger Hafenbehörde Schlick zwischen Neuwerk und Scharhörn abladen … Griebel: Ja, und das wäre eine ökologische Katastrophe. Ganz schlimm, das finden wir nicht gut. Das ist doch unser Zuhause hier! ZEIT ONLINE: Was sind denn Ihre größten Bedenken? Griebel: Schlick ist ja nicht einfach nur Sand, das ist mit Schadstoffen versetzter Schlamm. Das Wattenmeer ist ein Unesco-Weltnaturerbe, wir sollten es schützen. Ja, der Schlick wird sich mit der Zeit wohl im Meer verteilen. Aber wie schnell und wie stark er dabei verdünnt wird, das wird erst die Zeit zeigen. Die Folgen sind noch nicht absehbar, das ökologische Risiko ist mir zu groß. ZEIT ONLINE: Was fürchten Sie noch? Griebel: Da, wo der Schlick verklappt wird, ist die Prieleinfahrt für das Schiff, das Neuwerk mit Cuxhaven verbindet. Könnte sein, dass der Priel durch den Schlick immer mehr versandet. Dann müsste man nachbaggern. Sonst kämen wir hier nicht mehr weg. Die Anbindung ist hier ohnehin ein schwieriges Thema. Das Schiff fährt nur zwischen Ostern und Oktober. Im Winter gibt's eigentlich nur einen Weg zum Festland: mit dem Trecker durch's Watt. ZEIT ONLINE: Wenn Neuwerk eh schon schwer zu erreichen ist – Wie versorgen Sie sich dann? Griebel: Wir fahren mit dem Trecker rüber, manchmal auch mit der Kutsche, und decken uns in Supermärkten ein, in Cuxhaven gibt's eine extra Laderampe für uns. Da wird der Trecker mit Lebensmitteln beladen.
Annika Lasarzik
Gehört Neuwerk zu Hamburg? Um diese Frage gibt es Streit, weil Hamburg Hafenschlick in die Nordsee kippen will. Und was sagt man auf der Insel dazu?
[ "Christian Charisius", "Christian Giebel", "Christian Griebel", "Stefan Wenzel", "Hamburg", "Nordsee", "Helgoländer Bucht", "Cuxhaven", "Niedersachsen", "Wattenmeer" ]
hamburg
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2022-02-16T20:04:24+01:00
2022-02-16T20:04:24+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-02/nordseeinsel-neuwerk-hamburg-hafen-schlick-entsorgung?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Bundestagswahl: Ampel oder Jamaika?
Die SPD ist laut vorläufigem Endergebnis stärkste Kraft, die Union stürzt ab. Grüne und FDP gewinnen Stimmen hinzu. Hier finden Sie alle Ergebnisse der Bundestagswahl . Diese Analyse zeigt die Wählerströme der Bundestagswahl . Die Kleinen dominieren die Großen: Hier lesen Sie , was die neuen Machtverhältnisse im Bund künftig für die Wählenden bedeuten. Unsere Themenseite zur Wahl finden Sie hier . Für die Berichterstattung verwenden wir Material von den Agenturen dpa, KNA, Reuters, AFP und AP.
Sarah Lena Grahn
Deutschland hat gewählt: Die SPD ist stärkste Kraft knapp vor der Union, FDP und Grüne gelten als Königsmacher. Die Sondierungen laufen. Das Liveblog zum Nachlesen
[ "Bundestagswahl", "Armin Laschet", "Olaf Scholz", "Annalena Baerbock", "Bündnis 90/Die Grünen", "CDU", "SPD", "Bundestag" ]
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2021-09-27T19:57:38+02:00
2021-09-27T19:57:38+02:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-09/bundestagswahl-news-spd-union-gruene-fdp-afd-linke-live?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Organspende: "Sie wartet, und wir mit ihr"
Seit anderthalb Jahren trägt Philipp Langes Tochter ein Kunstherz. Niemand weiß, wie lange sie noch auf ein Spenderorgan warten muss. Die Einführung der Widerspruchslösung im Organspendegesetz würde seiner Tochter zwar nicht helfen – bei Kindern unter 14 Jahren entscheiden die Eltern über eine Organvergabe. Dennoch plädiert der Hamburger dafür. Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Jeden Tag wache ich mit einem Gedanken auf: "Bitte lass es heute so weit sein." Abends, vorm Einschlafen, kreist nur eine Frage in meinem Kopf: "Warum nur dauert das so lange?" Seit 19 Monaten wartet meine Tochter Lilly auf ein Spenderherz. Heute ist sie neun Jahre alt. Im Juni 2018 fing es an. Lilly fühlte sich müde und schlapp, musste oft erbrechen, Fieber hatte sie nicht. Anfangs dachten wir noch an eine harmlose Erkältung, als die Symptome heftiger wurden, brachten wir sie ins Kinderkrankenhaus. Doch dort stellten die Ärzte fest, dass ihre linke Herzkammer stark vergrößert war. Lilly kam mit Blaulicht auf die Kinderintensivstation des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE). Die Diagnose: dilatative Kardiomyopathie, eine krankhafte Erweiterung des Herzmuskels. Ob die schon seit der Geburt vorlag oder erst später auftrat, konnten die Ärzte nicht sagen. Alle Versuche, Lillys Herz medikamentös zu stabilisieren, scheiterten – es war schon zu vernarbt, pumpte nicht mehr richtig. Wenn das Herz nicht mehr arbeitet, besteht das Risiko, dass weitere Organe ausfallen, da sie vom Herzen nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Es ging alles so schnell. In zwei Wochen wurde Lilly von einer Patientin mit leichtem Husten zu einer, die ein neues Herz braucht. Bevor ich diese Nachricht bekam, wusste ich nicht, wie sich ein Schock anfühlt. Jetzt schon. Es war eine Katastrophe. Minecraft und Harry Potter : Alltag im Krankenbett Lilly kam auf die Warteliste von Eurotransplant und wurde am 4. Juli 2018 zur Überbrückung an ein Kunstherz angeschlossen. Kurz darauf die ersten Komplikationen: Die OP-Wunde hatte sich mit einem Keim infiziert. Sechs Wochen lang lag Lilly mit geöffnetem Brustkorb auf der Intensivstation, weil die Ärzte die Wunde immer wieder mit Antibiotika spülen mussten, um den Keim zu bekämpfen. Erst im Herbst stabilisierte sich Lillys Zustand wieder. Wir sind dankbar dafür, in einem Land zu leben, in dem es grundsätzlich eine so gute medizinische Versorgung gibt, das ist sicher. Und dafür, adss Lilly so kompetente und zugewandte Ärzte und Pfleger um sich hat. Unser ganzes Familienleben hat sich seither ins Krankenhaus verlagert. Meine Frau ist seit Lillys Diagnose krankgeschrieben, auch ich war zwischenzeitlich mehrere Monate krankgeschrieben, aufgrund der akuten Belastung. Einer von uns beiden ist tagsüber immer bei unserer Tochter. Lillys Welt ist jetzt ein Zweibettzimmer auf der Kinderintensivstation, Einzelzimmer für Kinder gibt es nicht. In der ganzen Zeit hat sie wohl schon an die 70 Zimmernachbarn erlebt, die Kinder kommen und gehen, Lilly bleibt. Sie wartet, und wir mit ihr. Das Kunstherz sieht aus wie ein Kühlschrank auf Rollen Zwei Mal die Woche wird Lilly von einer Krankenhauspädagogin unterrichtet. Zwei Spieletherapeuten, finanziert von der Hamburger Kinder-Herz-Hilfe und dem Verein Kicken mit Herz, sind abwechselnd für je eine Stunde am Tag da. Wir suchen immer nach Möglichkeiten, unsere Tochter auf andere Gedanken zu bringen. Wir haben schon alle möglichen Karten- und Brettspiele durchgespielt und lesen ihr oft vor – Harry Potter , Astrid Lindgren, bei 80 Büchern haben wir aufgehört zu zählen. Manchmal spielt Lilly Minecraft auf ihrem iPad oder chattet via Facetime mit ihren Freunden. Geburtstage, Halloween, Weihnachten, Silvester feiern wir an ihrem Krankenbett. Lillys Kunstherz sieht aus wie ein kleiner Kühlschrank auf Rollen. Darin steckt eine Pumpe, die mit einem zwei Meter langen Schlauch durch die Bauchdecke hindurch mit ihrer linken Herzkammer verbunden ist. Berlin Heart heißt diese Herzunterstützungspumpe, weil sie von einem Berliner Unternehmen entwickelt wurde. Bei so jungen Kindern wie Lilly kann kein Kunstherz in den Körper implementiert werden, da ihr Brustkorb zu klein ist. Lilly kann sich damit auf der Station bewegen, den Fahrstuhl oder die Treppe zu nehmen, wäre aber zu gefährlich. Eine sichere Stromversorgung muss immer gewährleistet sein.
Annika Lasarzik
Die 9-jährige Lilly braucht dringend ein Spenderherz. Ihr Vater spricht über ihr Leben auf der Kinderintensivstation.
[ "Organspende", "Transplantation", "Organspendegesetz", "Widerspruchslösung", "Spenderherz" ]
hamburg
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2020-01-15T21:22:54+01:00
2020-01-15T21:22:54+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-01/organspende-spenderherz-hamburg-transplantation-widerspruchsloesung-organspendegesetz?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Lektionen der Corona-Krise: Wir werden die Welt neu einrichten müssen
Ich bin eine Risikoperson, altershalber. Seit drei Wochen sitze ich im Homeoffice: Ich bin nicht mehr ausgegangen und habe meinen Sport auf das Standfahrrad auf dem Balkon reduziert. Allmählich mache ich mich mit dem Gedanken vertraut, dass ich der Corona-Krise wegen die Feiern zu meinem 90. Geburtstag im Juni vertagen muss. Und von Tag zu Tag mehr beschäftigt mich die Frage, ob eigentlich "danach", wann immer es sein wird, eigentlich alles so wieder werden kann – nein, so wieder werden darf – wie vorher. Was wir derzeit erleben, ist nicht bloß eine Betriebsstörung. Es ist die größte Durchwirbelung unseres Alltagslebens seit dem Pestausbruch des 17. Jahrhunderts. Selbst während des Zweiten Weltkriegs, den ich als Junge noch durchgemacht habe, ging der Alltag in Deutschland weiter. Es gab Kino und Konzerte, die Gasthäuser und Cafés waren geöffnet, in den Schulen lief der Unterricht wie immer, in den Büros und den Geschäften wurde gearbeitet, Freunde und Bekannte mussten nicht auf eineinhalb Meter Abstand gehalten werden. Verdunkelung war die lästigste Einschränkung, Ausgangssperren kannte man nicht. Heute ist alles anders. Weltweit erleben wir derzeit einen beispiellosen Zwang zu menschlicher Verhaltensänderung. Geschlossene Einkaufspassagen, begrenzte Mobilität, gesperrte Grenzen, eingeschränkter Luftverkehr bestimmen unser Dasein. Greta ist nicht länger die Einzige, die nicht mehr fliegt. Überhaupt sieht die Welt ein wenig so aus, wie sie aussähe, wenn die Ideen der Fridays-for-Future-Aktivisten mit sofortiger Wirkung in Kraft träten. Die angespannte Situation führt uns drastisch vor Augen, dass die Bekämpfung des Klimawandels nur Aussicht auf Akzeptanz und damit Erfolg hat, wenn die gravierenden sozialen Folgen aufgefangen werden. Wie dies zu geschehen hat, darüber können wir nicht früh genug nachdenken. Gesundheitsschutz geht vor Datenschutz Zu überdenken sind angesichts des gegenwärtigen Marktversagens zumal die Schattenseiten der Globalisierung. Wenn lebenswichtige Güter nur noch aus einem einzigen Land stammen, wird die deutsche und europäische Volkswirtschaft bedrohlich verwundbar. Die Auslagerung unserer pharmazeutischen Produktionskapazität auf China und Indien (das seinerseits die Wirkstoffe für seine Generika-Herstellung aus der Volksrepublik bezieht) bringt uns heute in die Bredouille. Alles dorthin abwandern zu lassen, wo die Produktion am billigsten ist, kann kein Zukunftsrezept mehr sein. Mindestens eine teilweise Rückverlagerung tut not. Auch das Just-in-time -Prinzip sollte hinterfragt werden. Auf jeden Fall ist die Anlage von Notfallreserven der wichtigsten Medikamente anzuraten. Die Bundesrepublik hat strategische Erdgasreserven für ein Drittel unseres Jahresverbrauchs und Erdölvorräte für 90 Tage. Das Landwirtschaftsministerium unterhält Lager für Getreide, Reis, Erbsen, Linsen und Kondensmilch, die Bevölkerung ließe sich damit einige Wochen lang versorgen. Warum keine Reserven medizinischer Artikel (oder sogar von Toilettenpapier)? Auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens stellt sich in der Corona-Krise ganz neu. Es könnte vielen Menschen die Existenzangst nehmen. Gäbe es das Grundeinkommen für alle schon, wären wir für die jetzige Krise besser gerüstet gewesen. Zugleich drängt sich die Frage auf, wie weit unser profitorientiertes Krankenhaussystem, neoliberal privatisiert, zum Teil wieder der staatlichen Daseinsvorsorge einzugliedern wäre. Freie Gesellschaften tun sich schwer mit der Einschränkung persönlicher Freiheiten. Doch wer die freiheitliche Gesellschaft retten will, muss in einer Krisensituation wie der gegenwärtigen ertragen, dass sie zeitweise limitiert oder aufgehoben werden. Ich könnte mir auch die temporäre Übernahme der südkoreanischen Handy-Ortung vorstellen; damit ließen sich Corona-Infizierte und ihre Kontakte elektronisch lokalisieren und identifizieren. Gesundheitsschutz geht vor Datenschutz. Die Befristung solch einschneidender Maßnahmen wäre allerdings die Voraussetzung. Wünschen würde ich mir schließlich auch eine Entideologisierung unserer politischen Debatte. In der Krise zeigt sich, wie wichtig Eliten und Experten sind, politische Führung und wissenschaftliche Beratung. Zugleich erkennen wir, wie unsinnig die Meinungsstürme, vergangene wie derzeitige, gegen Notstandsgesetz, Katastrophenfallvorsorge oder auch die schwarze Null waren. Seien wir froh, dass es sie gibt. Sie geben der Politik die Handhabe zu entschiedenem Handeln. Das Covid-19-Virus ist einer jener "schwarzen Schwäne", die der libanesische Mathematiker, Börsenhändler und Publizist Nassim Nicholas Taleb beschworen hat – ein unwahrscheinliches Ereignis, das nur selten vorkommt, dann aber alles verändert. Schon kurzfristig hat das Virus alle Themen an den Rand gedrängt, die uns vorher umgetrieben haben: den Klimawandel (von Greta ist nichts zu hören), die große Koalition, die Personalschubsereien unserer Parteien, die Flüchtlinge auf Lesbos. Sogar die Geopolitik macht Pause. Diese Themen werden wieder aufleben, sobald Covid-19 Pause macht. Noch, so fürchte ich, stecken wir in der Ruhe vor dem Sturm. Danach werden wir die Welt neu betrachten und ein Stück weit neu einrichten müssen. Bis dahin bleibt uns nur, Solidarität zu üben und voller Anstand miteinander umzugehen – vor allem die Jungen und die Alten. Die Corona-Krise trennt die Generationen, aber sie kann uns auch zusammenführen. In meinen Augen würde sich, zum Beispiel, die Fridays-for-Future-Bewegung gewaltige Sympathien erwerben und viel Unterstützung sichern, wenn sie, da es keine Schulen zum Schwänzen gibt und 286.000 Saisonarbeiter aus Polen, Rumänien und Bulgarien nicht zu uns kommen können, als Erntehelfer für Spargel und Erdbeeren einspringen würde. Wie wäre es mit Fridays for Asparagus and Strawberries ?
Theo Sommer
Nach der Corona-Krise kann nicht einfach alles werden wie vorher. Und bis dahin bleibt uns nur, Solidarität zu üben und voller Anstand miteinander umzugehen.
[ "Coronavirus", "Pandemie", "Soziale Ungleichheit", "Globalisierung", "China", "Indien", "Deutschland", "Homeoffice" ]
gesellschaft
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2020-03-24T07:46:32+01:00
2020-03-24T07:46:32+01:00
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-03/lektionen-corona-krise-globalisierung-outsourcing-5vor8?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
G20-Gipfel: Mit Sicherheit ein langer Prozess
Die Sicherheitsvorkehrungen sind so streng, dass der Prozess erst nach fast zwei Stunden Verspätung beginnen kann. Die Zuschauenden dürfen das Gerichtsgebäude nur über einen Nebeneingang betreten. An der Einlassschleuse sind die Kontrollen so akribisch, dass die rund 100 Zuschauerplätze auch eine halbe Stunde nach dem geplanten Verhandlungsbeginn erst zur Hälfte gefüllt sind. Die Vorsitzende Richterin unterbricht daraufhin die Verhandlung, ehe sie offiziell eröffnet wurde. Das verlangt der Grundsatz der Öffentlichkeit. Einige Zuschauenden nutzen die Gelegenheit, die beiden angeklagten Männer mit Beifall und Jubel zu begrüßen, als sie in den Saal geführt werden. Ingmar S. (27) und Felix R. (31) sitzen seit einem halben Jahr in Haft. "Schön, euch zu sehen", ruft ein Zuschauer. Die angeklagte Frau hingegen ist in Freiheit, sie betrat das Gericht zusammen mit ihren Anwälten. Die drei sind die "drei von der Parkbank". So werden sie in der linken Szene genannt, weil sie vorigen Juli auf einer Bank in einem Eimsbütteler Park festgenommen wurden. Es war kurz nach Mitternacht in der Nacht auf den 8. Juli, dem zweiten Jahrestag der G20-Proteste. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass das Trio zu dem Anlass vier Brandanschläge begehen wollte. In den Taschen von Felix R. hatte die Polizei vier Brandsätze und Adressen gefunden: eines Maklerbüros, einer Immobilienfirma, von deren Dienstwagen-Parkplatz sowie vom Wohnhaus der Hamburger Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD). Eindeutig Anschlagsziele, sagt die Staatsanwaltschaft. Die Angeklagten sagen dazu erst einmal nichts. Für den kommenden Prozesstag aber hat die Verteidigung eine Erklärung angekündigt. Als Hauptakteur des Trios gilt Felix R. Der 31-Jährige ist ein schlanker, auffallend aparter Mann. Nach Überzeugung der Polizei soll er in der Szene eine herausragende Stellung gehabt haben – er stand offenbar schon lange unter Beobachtung der Polizei. Vor dem G20-Gipfel soll er in Italien gewesen sein, um dort Protestler anzuwerben. Am Abend des 7. Juli vorigen Jahres dann beobachteten Polizisten, wie Felix R. an einer Tankstelle Benzin in einen Kanister füllte. Sie blieben ihm auf den Fersen, verfolgten ihn bis zum späten Abend in den Park. Dort hätten er und die anderen beiden sich auffällig verhalten, hieß es später. Die Polizei griff zu. Felix R. und Ingmar S. haben in Hohenfelde zusammengewohnt. Sie sind in Haft, weil sie in ihrer Wohnung nicht gemeldet sind – das Gericht sieht Fluchtgefahr. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sich mit der mitangeklagten 28-jährigen Frau zu einem Verbrechen verabredet zu haben: Brandstiftung, in einem Fall sogar schwere Brandstiftung. Die Anklage geht davon aus, dass ein Brandsatz auf das Wohnhaus der Senatorin geworfen werden sollte. Den dreien droht lange Haft. Unter dem Label "Die drei von der Parkbank" hatte es seit Monaten Solidaritätsbekundungen für sie gegeben. Deshalb auch die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen: Das Gericht fürchtet Protest- und sogar Störaktionen. Die Kundgebung, die zum Prozessauftakt vor dem Gerichtsgebäude stattfand, blieb jedoch harmlos. Die Verhandlung dürfte sich über Monate hinziehen. Das Gericht hat bislang 28 Termine bis April festgesetzt. Danach, heißt es bereits, könnte man zweimal die Woche weiterverhandeln.
Elke Spanner
Zwei Männer und eine Frau stehen vor Gericht, weil sie am G20-Jahrestag vier Brandanschläge geplant haben sollen. Doch schon vor Verhandlungsbeginn gibt es Probleme.
[ "Ingmar S.", "Felix R.", "G20", "Staatsanwaltschaft", "Polizei", "G20-Gipfel", "Brandanschlag", "Verhandlungsbeginn", "Sicherheit", "Prozess" ]
hamburg
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2020-01-08T20:49:40+01:00
2020-01-08T20:49:40+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-01/g20-gipfel-hamburg-prozess-parkbank-trio?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Klaus Hasselmann: Er zeigte uns, wie stark der Mensch ins Klima eingreift
Es gibt nicht viele Menschen, die sich um die Klimaforschung so verdient gemacht haben wie er, und dennoch haben die meisten noch nie von ihm gehört. Jedenfalls bis zum vergangenen Dienstag, als die Namen der drei Wissenschaftler verkündet wurden, die in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet werden . Giorgio Parisi, Syukuro Manabe und: Klaus Hasselmann . Hasselmann wurde in Hamburg geboren, lebt heute in Hamburg und hat den größten Teil seiner Karriere in der Hansestadt verbracht – von dort hat er Deutschland zu einem der führenden Standorte der Klimaforschung gemacht. Als die Karriere des Physikers Hasselmann begann, wusste die Wissenschaft, dass menschengemachtes Treibhausgas die Erde aufheizt. Doch in welchem Ausmaß und wie genau, war weitgehend unbekannt. Hasselmann gelang es, mit Methoden der Stochastik die Folgen menschlichen Handelns aus dem statistischen Rauschen des Klimas herauszulesen. Später entwickelte ein großes Team unter seiner Federführung ein Modell, das Wetter und Klima verknüpfte. Fütterte man es mit vielen Wetterdaten, ließen sich Klimaveränderungen prognostizieren. Bis heute ist es eines von wenigen zentralen Modellen der Klimaforschung. Mittlerweile existiert es in der sechsten Version. In einem Interview mit der Welt erzählte Hasselmann, dass ihn die Frage nach dem Einfluss des Menschen auf das Klima zuerst nur am Rande interessiert habe: Ursprünglich hatte er sich mit Turbulenzforschung beschäftigt, einer der großen ungelösten Fragen der Physik zur damaligen Zeit. Obwohl Hasselmann mit seinen 89 Jahren noch publiziert, sind er und sein Wirken bereits selbst Gegenstand der Forschung. Der Wissenschaftshistoriker Gregor Lax vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte untersucht, wie die Erforschung des Erdsystems in Deutschland etabliert wurde. Bevor Hasselmann zur Klimaforschung kam, beschäftigte er sich mit der Frage, wie man den Seegang modellieren kann. Seine Frau, die Mathematikerin Susanne Hasselmann, arbeitete ebenfalls daran. Sie programmierte ein Modell, mit dem Ozeanografen bis heute den Seegang vorausberechnen. Daran war Hasselmann beteiligt. Lax sagt: "Er selbst hält das für seine wichtigste Arbeit." Hasselmann, der in Göttingen promovierte und in Boston und Kalifornien forschte, war einer der Ersten in Deutschland, die das Potenzial solcher computergestützten Modelle erkannten. Als in Hamburg das Max-Planck-Institut für Meteorologie gegründet werden sollte, gab es außer ihm nur einen einzigen anderen Kandidaten, dem man zugetraut hätte, die großen theoretischen Linien zu entwickeln: Die deutsche Erdsystemforschung habe damals im internationalen Vergleich eine Dekade hinterhergehinkt, schreibt Lax in einer Publikation zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Das änderte sich nun rasch. 1975 wurde das MPI für Meteorologie aus den Resten eines Fraunhofer-Instituts gegründet, Hasselmann wurde der Direktor, blieb es bis 1999. Gleichzeitig drängten überall in Europa Umweltfragen ins öffentliche Bewusstsein. Anfang der 1970er fand in Stockholm die UN-Konferenz "Human Environment" statt, die Ölpreiskrise verunsicherte die Welt, der Club of Rome veröffentlichte Die Grenzen des Wachstums. Der "eigentliche Clou" des Berichts, schreibt Lax, "lag in der Zusammenführung von Wachstumskritik und global ansetzenden computermodellgestützten Prognosen". Von ideologischer Kritik hielt sich Hasselmann fern, er blieb bei dem, was die Daten sagten – und bewegte sich dennoch in einem Spannungsfeld. Denn obwohl die Max-Planck-Gesellschaft traditionell nur Grundlagenforschung fördert, hat die Arbeit an Klimamodellen durchaus politische Brisanz. Die Politik wiederum förderte diese Forschung, sie stellte in den 1980er-Jahren Geld bereit, um Höchstleistungsrechner für die komplexen Klimamodellierungen anzuschaffen. In Hamburg wurde das Deutsche Klimarechenzentrum gegründet, der Direktor hieß Klaus Hasselmann. Bis heute ist es einer der wichtigsten Orte für Klimaberechnungen. Und Hasselmanns Einfluss als Strippenzieher reichte weiter: Als Deutschland mit dem Waldsterben und der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eine neue Welle des Umweltbewusstseins erfasste, gründete die Max-Planck-Gesellschaft in den 1990er-Jahren gleich vier weitere Einrichtungen – die Institute für terrestrische und marine Mikrobiologie, für Biogeochemie und chemische Ökologie. Und auch für die Gründung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung machte sich der Meteorologe stark. Dass Hasselmann nun den Nobelpreis für seinen Beitrag zur Vorhersage des globalen Klimas bekommt, lenkt den Blick auch auf einen bisher weniger beachteten Teil seines Lebenswerks: das einzigartige Ökosystem, das er für die Klimaforschung in Deutschland mitgeschaffen hat. Verfolgen Sie die diesjährige Bekanntgabe aller geehrten Personen und eventuell Organisationen auf ZEIT ONLINE. Die komplette Berichterstattung finden Sie ab heute auf dieser Seite .
Fritz Habekuß
Die meisten kannten ihn bislang nicht, doch der Meteorologe Klaus Hasselmann hat die deutsche Klimaforschung auf den Weg gebracht. Nun ist er Physiknobelpreisträger.
[ "Klaus Hasselmann", "Ina Fassbender", "Max-Planck-Institut", "Klimaforschung", "Nobelpreis", "Wetter", "Forschung", "Nobelpreis für Physik", "Klimawandel", "Nobelpreis" ]
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2021-10-06T11:47:34+02:00
2021-10-06T11:47:34+02:00
https://www.zeit.de/2021/41/klaus-hasselmann-physik-nobelpreis-2021-klimaschutz-forschung?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Verkehrssicherheit: Wenn Raser von Kindern Saures bekommen
Für eine Verkehrskontrolle ist die Stimmung exzellent. "Jetzt schnappen wir mal einen, der zu schnell fährt", sagt Martin Schwanitz, und die 21 Kinder der zweiten Klasse rufen "Jaaaa!". Ein Mädchen hofft, dass ihr Papa vorbeifährt und mit der roten Kelle rausgewunken wird, das wäre lustig. Für sie. Martin Schwanitz, seit 18 Jahren bei der Polizei, hat ein Lasermessgerät mit Stativ aufgebaut, es sieht aus wie eine kleine Videokamera. Er visiert einen schwarzen BMW in etwa 100 Meter Entfernung an. Das Gerät piept und zeigt in roten Ziffern die Geschwindigkeit an: 45 km/h. Dabei steht da hinten ein großes Schild mit der Aufschrift "Kindergarten" und einer rot umringten "30". Schwanitz hebt die Kelle und winkt den Wagen zur Seite. Die Fahrerin bekommt heute kein Bußgeld, sondern eine härtere Strafe: Sie soll den Zweitklässlern der Grundschule Bardowick südöstlich von Hamburg erklären, warum sie zu schnell war. "Fahren Sie immer so schnell?", fragt ein Mädchen. "Nein", sagt die Frau stockend. "Normal 30. Das ist ja meine Haus- und Hofstrecke. Aber ich war abgelenkt." "Durch was?", will das Mädchen wissen. "Weiß ich nicht", stammelt die Frau. "Das ist blöd, ganz blöd. Das war nicht gut." "Warst du in Gedanken?", fragt ein anderes Mädchen. "Ja", sagt die Fahrerin und wirkt jetzt, als sei sie den Tränen nahe. Sie ist eine frühere Lehrerin der Grundschule Bardowick. Und würde sich wohl am liebsten in Luft auflösen. Dann reichen die Kinder ihr zur Strafe ein Stück Zitrone, die Fahrerin muss hineinbeißen. "Saure Zitrone" heißt diese Aktion von Martin Schwanitz, die er heute mit zweiten Klassen durchführt. Der Verkehrssicherheitsberater der Polizeiinspektion Lüneburg will die Autofahrerinnen und Autofahrer zum Nachdenken anregen. Und natürlich auch die Kinder. "Sind eure Eltern schon mal geblitzt worden?", fragt er. Und fast alle Schüler rufen wieder fröhlich im Chor: "Jaaaaaa!" Viele Jahre arbeitete der 39-jährige Oberkommissar im Streifendienst, er hat unzählige Verkehrskontrollen durchgeführt. Wenn keine Kinder dabei sind, sagt er, sei die Palette an Ausreden riesig. "Da hört man alles, außer: Ich habe was falsch gemacht. Oder: Entschuldigung." Irgendwann konnte Schwanitz keine Auto- oder Radfahrer mehr kontrollieren. Er war es leid, dass er ständig "rigoros angelogen wurde", dass alle nur auf die anderen zeigten, überall Fehler sahen, nur nicht bei sich selbst. "Aber bei den Kindern mit Ausreden zu kommen, fällt schwer", sagt er. Er hofft an diesem Vormittag auf ein bisschen Wahrhaftigkeit. Eine junge Frau im mintgrünen Mini ist ertappt, sie hat in der Dreißigerzone sogar noch von 39 auf 44 km/h beschleunigt. "Warum waren Sie so schnell?", fragt eine Schülerin. "Gute Frage. Man hat’s eilig", sagt die junge Frau, die Reitkleidung trägt. "Zu Hause liegt meine Bachelorarbeit auf dem Tisch." "Waren Sie in Gedanken?", fragt diesmal ein Junge. "Ja, das trifft’s ganz gut. Ich war gerade im Kopf bei meiner Einkaufsliste, weil ich auf dem Weg zum Supermarkt bin." "Hier ist 30", sagt ein Mädchen streng, "Sie müssen sich das merken" Ich war in Gedanken – das sagen die meisten erwischten Fahrerinnen und Fahrer an diesem Morgen, auch die mit Kindersitz auf der Rückbank. So oft, dass die Schüler bald schon automatisch danach fragen. Bis es einem Mädchen reicht. "Beim Autofahren soll man nicht an seine Gedanken denken, sondern einfach vernünftig Auto fahren", weist es einen Mann zurecht, der sich mit der Standardausrede rechtfertigt. Andere Begründungen kommen auch nicht besser an. Ein Fahrer sagt, er habe über seine Freisprecheinrichtung telefoniert, das sei erlaubt, aber es habe ihn wohl trotzdem abgelenkt. Ein älteres Ehepaar, aus dessen Auto das Radio plärrt, sagt, sie seien am Quatschen gewesen und hätten nicht auf den Tacho geschaut. Für die Schüler sind das keine akzeptablen Gründe, vor einem Kindergarten zu schnell zu fahren. "Hier ist 30", sagt ein Mädchen streng, "Sie müssen sich das merken." Die Kinder haben mit den Verkehrsregeln offenkundig weniger Probleme als manche Erwachsenen. Vielleicht, weil sie die Schwächsten sind im Straßenverkehr, und viele Regeln geschrieben wurden, um die Schwachen zu schützen. Doch wie kommt es dann, dass sich viele Verkehrsteilnehmer irgendwann nicht mehr um die Regeln scheren? Das könnte mit schlechten Vorbildern zu tun haben, vermutet Martin Schwanitz. Für ihn fängt das Problem schon bei Fußballstars an, die selbst nach dem härtesten Foul theatralisch abstreiten, ihren Gegenspieler auch nur berührt zu haben. Auch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft werde vorgelebt, dass man sich durchsetzen müsse, die Ellenbogen ausfahren. "Die Kinder sehen beim Aufwachsen, dass man damit durchkommt", sagt er. Sein kleiner Widerstand sind kreative Aktionen. In Berufsschulen lässt er Jugendliche mit Kettcars über einen Parcours fahren und gleichzeitig mit dem Handy spielen – dann sehen sie selbst, wie sie vom Weg abkommen und die Hütchen umfahren. In Schulen setzt er Jugendlichen spezielle Brillen auf, die einen Rausch simulieren und die Optik verzerren. Gerade überlegt er sich, ob er ein Foto auf Facebook stellen soll, das er kürzlich aufgenommen hat: ein Skelett auf einem Motorrad. Aber eigentlich will er nicht mit Schockbildern arbeiten, sondern seine Botschaft positiv vermitteln, mit Humor. Deshalb winkt er vor dem Kindergarten in Bardowick ab und zu auch Autofahrer heraus, die korrekt gefahren sind. Die Kinder applaudieren ihnen stürmisch und überreichen eine Dankesurkunde mit lächelnden Zitronen darauf. Und dann, der Vormittag ist schon fast vorbei, entsteigt ein sichtlich nervöser grauhaariger Mann einem silbernen Kastenwagen. "Ich bin der Schlimme", sagt er und lacht kurz. "Warum sind Sie zu schnell gefahren?", fragt ein Junge. "Weil ich geschlafen habe, vor mich hingeträumt", sagt der Mann. "Sind Sie wieder in Gedanken versunken?", fragt der Schüler routiniert. "Ja. Wenn man zur Arbeit geht, überlegt man schon, was einen dort erwartet. Das Peinliche an dieser Situation ist, dass ich in einer Fahrschule arbeite", sagt der Mann. "Warum sind Sie denn zu schnell gefahren, obwohl Sie bei der Fahrschule sind?", will ein Mädchen wissen. "Ja, das ist 'ne peinliche Frage", sagt der Mann. Seine Hände zittern jetzt. "Ich habe zu wenig gebremst." Martin Schwanitz hat Unfälle mit Kindern und verkohlten Leichen gesehen, er hat die Bilder nicht vergessen. Fragt man ihn nach Lösungen, erzählt er von der Schweiz, wo es hohe Strafen und ein dichtes Kontrollnetz gebe. "Es würde gehen", sagt er. Aber derzeit sei das Entdeckungsrisiko in Deutschland so gering, dass viele Verkehrsteilnehmer die Regeln ignorieren könnten, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Das gelte auch für Fahrrad- und Motorradfahrer. Kurz vor Mittag entschuldigt sich tatsächlich noch ein zu schneller Škoda-Fahrer bei den Kindern, als Einziger an diesem Tag – und Schwanitz fragt die Schüler, was sie gelernt haben. "Wenn wir später mal Auto fahren, sollen wir auf die Verkehrsregeln achten", sagt ein Mädchen. "Man sollte mehr Blitzer aufstellen", sagt ein anderes. "Aber man sollte die Blitzer gut verstecken", sagt eine dritte Schülern, "damit die Autofahrer sie nicht sehen können." Dann teilen sie die restlichen Zitronen untereinander auf.
Marc Widmann
Vor einer Kita in Niedersachsen mussten sich Verkehrssünder vor den unbarmherzigsten Richtern verantworten: Zweitklässlern. Und zur Strafe in eine Zitrone beißen.
[ "Verkehrssicherheit", "Autofahrer", "Zitrone", "Polizei", "Grundschule", "Kinder", "Bardowick", "Hamburg", "Lüneburg", "Niedersachsen" ]
hamburg
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2019-06-04T21:07:23+02:00
2019-06-04T21:07:23+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-06/verkehrssicherheit-aktion-saure-zitrone-raser-grundschule?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
EU-Politik: "Europa ist gerade nicht so beliebt, das finden wir spannend"
Ein Roadtrip mit Mission: Ina Bierfreund, 24, Felix Hartge und Tim Noetzel, beide 23, fahren mit ihrem Van durch alle 28 EU-Länder, um mit den Menschen über Politik zu sprechen. Entstanden ist die Idee in ihrer WG in Hamburg – inzwischen waren die drei schon auf den britischen Inseln, in den Beneluxstaaten, in Frankreich, Spanien, Portugal und Italien. Seit September sind sie unterwegs, ihre Reise dokumentieren sie auf ihrer Websit e "Driving Europe" . Als wir mit ihnen per Skype sprechen, machen sie gerade in Griechenland auf der Halbinsel Peleponnes Station, im Hintergrund das Meer und grüne Berge. Bis Mai sollen Osteuropa, das Baltikum und Skandinavien folgen. ZEIT ONLINE: Sie fahren durch Europa und sprechen mit Menschen über die EU. Was sind das für Leute? Tim Noetzel: Ein Farmer aus Nordirland, eine Nonne aus Belgien, eine Winzerin aus Frankreich, ein Polizist aus Spanien – ganz unterschiedliche Menschen. Wir versuchen, in jedem europäischen Land mindestens eine Person für ein Gespräch vor die Kamera zu bekommen, bislang waren es aber meistens mehr. Am Ende soll aus den Interviews eine Dokumentation entstehen. Ina Bierfreund: Wir wollen mal aus unserer Blase rauskommen. Das sind Menschen jeden Alters und aus allen sozialen Milieus. Menschen, die anders denken als wir und andere Erfahrungen gemacht haben. ZEIT ONLINE: Was erzählen die so? Noetzel: In der EU käme alles nur von oben herab, das hören wir immer wieder. Die Menschen wissen gar nicht, wer da warum was entscheidet. Noch eine Sache, die viele stört, ist, dass es zu viel Bürokratie gibt. Ein Student aus Brüssel hat vorgeschlagen, dass es bei wichtigen Problemen eine direkte Beteiligung geben sollte, dass man einfach übers Smartphone abstimmen könnte – und zwar alle. Klar, in so einem halbstündigen Interview kann man nicht die Probleme der EU lösen. Aber häufig entwickelt sich das Gespräch in eine bestimmte Richtung. Manche sind super informiert, der Farmer kannte sich zum Beispiel gut mit der Landwirtschaft aus. Bierfreund: Wir haben einen Fragebogen mit drei Themenblöcken entwickelt, an den halten wir uns im Großen und Ganzen und stellen darüber hinaus tiefergehende Fragen. Es geht darum, herauszufinden, wie die Leute die EU aktuell erleben, was sie sich wünschen und welche Lösungsansätze es dafür geben könnte. Wichtig ist uns, dass wir den Menschen eine Stimme geben. Felix Hartge: Wir stellen keine Wissensfragen, uns geht es mehr um Meinungen. Wir wollen verstehen, was die Menschen im Moment bewegt. Es gibt auch Leute, die sagen: Ich spüre gar keine Auswirkungen der EU auf mein Leben. Das wollen wir auch abbilden. Aber den meisten fällt etwas ein, in Großbritannien sowieso. Zum Brexit haben alle eine Meinung. "Wir klingeln auch an Haustüren" ZEIT ONLINE: Die EU ist eher ein sperriges Thema. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich damit zu beschäftigen? Noetzel: Wir haben in Hamburg zusammen in einer WG gewohnt und wollten zusammen reisen. Der Trend ist es ja, in weit entfernte Länder zu fliegen, aber wir haben festgestellt, dass wir noch nicht einmal Europa besonders gut kennen. So kamen wir auf die Idee mit dem Roadtrip. Uns war es wichtig, ein Projekt zu haben. Neun Monate nur im Auto könnten sonst vielleicht langweilig werden. Wir sind alle politisch interessiert. Europa ist gerade nicht so beliebt, in vielen Ländern gibt es einen Rechtsruck. Das fanden wir spannend. ZEIT ONLINE: Wie kommen Sie an Ihre Interviewpartner? Hartge: Manchmal kennen wir jemanden von Reisen oder aus dem Auslandssemester, den schreiben wir an. Tim war als Schüler ein Jahr in Irland, Ina machte ein Erasmus-Semester in Polen. Manchmal sind es aber auch zufällige Begegnungen, dass wir irgendwo übernachten und da jemanden treffen. Wir klingeln auch an Haustüren. In Schottland haben wir eine ältere Frau angesprochen, die gerade im Garten arbeitete. Noetzel: Sogar unser bislang negativstes Erlebnis bekam so noch eine positive Wendung. Das war in Nordspanien. Uns sind ein Handy und ein Geldbeutel geklaut worden. Gut, wir waren auch etwas leichtsinnig. Aber die Stranddusche war gleich gegenüber, deshalb haben wir den Lieferwagen nicht abgeschlossen. Der Polizist auf der Wache, wo wir den Diebstahl meldeten, war sehr hilfsbereit. Er hat seine Kindheit in der Schweiz verbracht und konnte deshalb ganz gut Deutsch. Am Schluss fragten wir ihn, ob er Lust hat, über die EU zu sprechen. Ja, lautete seine Antwort. Er wollte eh gerade Feierabend machen.
Kathrin Fromm
Drei junge Hamburger bereisen alle 28 EU-Länder, um mit den Menschen über Politik zu sprechen. Was haben sie dabei gelernt?
[ "EU-Politik", "EU", "Europa", "Diskurs", "Hamburg", "Jugendliche", "Felix Hartge", "Tim Noetzel", "Beneluxstaaten", "Frankreich" ]
hamburg
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2019-01-20T17:22:48+01:00
2019-01-20T17:22:48+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-01/eu-politik-menschen-europa-reise-hamburg?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Corona-Testpflicht: Wie die Corona-Testpflicht funktioniert
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird verpflichtende Corona-Tests für Menschen anordnen, die aus Risikogebieten nach Deutschland einreisen. Die Ressortchefs von Bund und Ländern haben sich auf die Details geeinigt. Ab kommender Woche soll die Verordnung fertig sein und in Kraft treten. Was ändert sich dann? Wir beantworten die wichtigsten Fragen. Wer wird künftig getestet? Alle Menschen, die aus einem vom Robert Koch-Institut definierten Risikogebiet nach Deutschland einreisen, sind künftig verpflichtet, sich einem Test zu unterziehen – und zwar auch, wenn sie mit dem Schiff, der Bahn, dem Bus oder dem Auto über die Grenze kommen. Airlines, Reedereien, Bus- und Bahnbetreiber werden verpflichtet, spätestens auf dem Weg nach Deutschland an Bord mehrsprachige Infoblätter zur Testpflicht zu verteilen. Bisher konnten sich Rückkehrende schon freiwillig testen lassen. Was ist ein Risikogebiet? Das entscheidet das Robert Koch-Institut. Es führt eine Liste der Länder und Regionen, in denen für Reisende ein erhöhtes Risiko besteht, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Sie umfasst "fast die ganze Welt außerhalb der EU", wie Spahn sagt, darunter mehrere südosteuropäische Staaten, aber auch Luxemburg in Mitteleuropa. Die Liste wird ständig aktualisiert. Maßgeblich dafür sind Faktoren wie die Neuinfiziertenzahl pro 100.000 Einwohner in dem Land (wenn höher als 50) oder die dort geltenden staatlichen Schutzmaßnahmen. Auch wer aus keinem Risikogebiet kommt, soll sich künftig innerhalb von 72 Stunden testen lassen können. Dieser Test wäre allerdings freiwillig. Was bringt ein solcher Test? Das Ergebnis eines unmittelbar nach der Wiedereinreise vorgenommenen Tests ist nur bedingt aussagekräftig. Wer sich erst kurz vor der Abfahrt ansteckte, bei dem lässt sich das Virus möglicherweise noch gar nicht nachweisen. Aus medizinischer Sicht vernünftig wäre es deshalb, nicht nur positiv Getestete verpflichtend in die häusliche Quarantäne zu schicken, sondern auch die negativ Getesteten davon zu überzeugen, vorerst noch zu Hause zu bleiben – um sie dann nach einigen Tagen erneut zu testen. Die Gesundheitsminister haben sich allerdings darauf geeinigt, dass eine Quarantäne für Getestete mit negativem Ergebnis freiwillig bleiben soll. Für wen ist die zweiwöchige häusliche Quarantäne Pflicht? Jede und jeder, der aus einem Risikogebiet kommt, muss nach wie vor in Quarantäne. Das ist unabhängig von den neuen Vorschriften zum Test. Wer positiv getestet wird, also infiziert ist, muss in Quarantäne bleiben. Ein negatives Testergebnis kann die Quarantäne beenden, heißt es im Beschluss der Gesundheitsminister. Sie empfehlen zudem einen Wiederholungstest nach etwa fünf bis sieben Tagen, da Tests stets "nur eine Momentaufnahme" zeigen. Wer zahlt den Test? Für die Betroffenen ist der Test kostenfrei. Welchen Anteil Kassen, Airlines und andere Verkehrsunternehmen tragen, werde derzeit geklärt, sagt das Bundesgesundheitsministerium. Wie werden die Getesteten informiert? Wie ihr Test ausgefallen ist, erfahren die Getesteten auf dem bisher üblichen Weg: über das zuständige Gesundheitsamt. Die bisher geltenden landesrechtlichen Regeln bestehen auch weiterhin. Reichen die Kapazitäten? Derzeit wird nur die Hälfte der wöchentlich möglichen 1,2 Millionen Tests genutzt – das könnte dafür sprechen, dass die Kapazitäten reichen. "Natürlich ist es erstrebenswert, viele Reiserückkehrer zu testen", sagt Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Uniklinikum Frankfurt. Das Testen von Reiserückkehrern dürfe aber nicht auf Kosten anderer Testvorhaben, etwa in Krankenhäusern oder Pflegeheimen, gehen. Steigen dürfte insbesondere der logistische Aufwand an den großen Flughäfen Deutschlands, wo viele Flüge aus Risikoländern gleichzeitig ankommen. Im Flughafen Frankfurt konnte man sich bisher freiwillig testen lassen, allerdings nicht kostenlos. Was ist an Grenzübergängen für Autos und in der Bahn? Auch hier soll die Testpflicht gelten. Umgesetzt wird sie durch "stichprobenhafte Kontrollen", bei der auch Personendaten abgefragt werden sollen, wie es in dem Beschluss der Gesundheitsminister heißt. An ausgewählten Stellen sollen Tests gleich vor Ort ermöglicht werden. Das könnte nicht wenige Menschen betreffen. "Wir haben viele, die vom Familienbesuch zurückkommen aus der Türkei und den Westbalkanländern", sagt Gesundheitsminister Spahn . In Mitteleuropa zählt das auf dem Landweg leicht erreichbare Luxemburg als Risikogebiet. Auto- oder Bahnrückreisende könnten auch aus Moldau, Serbien, dem Kosovo oder Bosnien und Herzegowina zu erwarten sein. Aus vielen weiteren europäischen und asiatischen Risikogebieten aber dürften Reisende per Flug zurückkehren: Armenien, Algerien, Usbekistan, Türkei, Israel oder aus weiter entfernten Gebieten. Muss man den Eingriff hinnehmen? Jemanden zu einem Test zu verpflichten, ist ein Eingriff in dessen Selbstbestimmungsrecht und seine körperliche Unversehrtheit. Beide Rechtsgüter können nur eingeschränkt werden, wenn der Anlass verhältnismäßig ist. Das Infektionsschutzgesetz erlaubt, Rückkehrer aus Risikogebieten zu testen. Es fußt auf einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, die der Bundestag für die Corona-Krise festgestellt hatte. Damit die Pflicht durchsetzbar ist, muss sie für alle Rückkehrer aus Risikogebieten gelten, also unabhängig davon, mit welchem Verkehrsmittel sie einreisen. Und die Pflicht müsse auf Risikogebiete beschränkt bleiben, sagt Wilhelm Achelpöhler, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Mitglied im Ausschuss Gefahrenabwehrrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Minister Spahn hofft auf die Einsicht der Bürgerinnen und Bürger. "Es liegt an uns selbst", sagt er. Gilt das bundesweit einheitlich? Grundsätzlich ja, denn Basis der Testpflicht ist ein gemeinsamer Beschluss aller Gesundheitsminister. Einen Teil der notwendigen Regelungen müssen die Bundesländer jedoch in Eigenverantwortung umsetzen. Dabei kann es im Verfahren geringfügige Unterschiede geben, wenn Einreisende etwa an einem sächsischen oder bayerischen Grenzübergang ankommen oder mit dem Flugzeug in Frankfurt oder Berlin landen. Hinsichtlich der Zweiwochen-Quarantänepflicht kann es Ausnahmen für Pendelnde geben.
Katharina Schuler
Die Corona-Pflichttests für Rückkehrende aus Risikogebieten kommen. Wie ist die rechtliche Grundlage? Wer muss in Quarantäne? Was bringt das? Die wichtigsten Antworten
[ "Ina Fassbender", "Jens Spahn", "Karl Lauterbach", "Duesseldorf", "Germany", "INA", "RKI", "Risikogebiet", "Rückkehrende", "Quarantäne" ]
gesellschaft
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2020-07-28T16:50:09+02:00
2020-07-28T16:50:09+02:00
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/corona-testpflicht-rechtliche-grundlage-umsetzung-reiserueckkehrer-risikogebiete-faq?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Logistik: Gassigehen mit 6D9
Bislang gab es in Rosis Textilpflege Hemden und Blusen zurück, entfleckt und sauber, dazu ein bisschen plaudern. Geht's gut? Ja, läuft. Und selbst? Und wessen Pakete und Onlinebestellungen tagsüber nicht zugestellt werden konnten, der konnte auch diese später bei Rosi abholen. Seit dieser Woche aber ist alles ein bisschen anders. In Rosis Shop wird die Zukunft getestet. Und die erinnert an ein rollendes Chemieklo, eine Box mit sechs Rädern, LED-Beleuchtung und einem Fähnchen. Roswitha Bruhns, die hier alle nur Rosi nenen, findet's toll. "Erst Handys, jetzt Roboter", sagt sie. Ihr Laden in Hamburg-Ottensen ist Teil eines Experiments: Als erster Paketzusteller in Deutschland testet das Logistikunternehmen Hermes in Hamburg die Paketauslieferung mit Robotern unter realen Bedingungen. Echte Lieferungen, echter Verkehr, echte Hindernisse – nirgendwo sind die Forschungen so weit fortgeschritten. Drei Mietroboter der estnischen Firma Starship Technologies sollen in einem Pilotprojekt in Ottensen, Volksdorf und im Grindelviertel Hermes-Sendungen vom Paketshop zur Haustür liefern, zu etwa 100 Testhaushalten im Umkreis von bis zu fünf Kilometern. Diese letzten Meter sind entscheidend bei der Paketzustellung, denn sie sind die teuersten. Oft sind Kunden nicht zu Hause, wenn Lieferungen eintreffen, den Zustellern entstehen dadurch Mehrkosten für Zusatzfahrten, Personal und Lagerung. Die Kunden wiederum müssen ihre Sendungen in der Filiale abholen. In Läden wie dem von Rosi, die zusätzliches Geld durch den Paketservice verdienen. Hermes-Chef Frank Rausch spricht von einem Meilenstein in der Zustellung, einem "faszinierenden Einblick in die Logistik der Zukunft". Denn der Roboterhersteller Starship verspricht, mit der neuen Methode die Lieferkosten je Zustellung auf weniger als einen Euro zu senken, da erst geliefert wird, wenn der Kunde auch tatsächlich zu Hause ist. Es soll funktionieren wie beim Pizzabestellen: Der Kunde ist zu Hause, bestellt sein Paket vom Shop, der Roboter macht sich auf den Weg und schickt eine SMS, sobald er vor der Haustür ist. Etwa zwei Schuhkartons passen hinein, mit einem individuellen Zugangscode lässt sich das Paketfach öffnen. Der Roboter muss noch lernen, mit herausragenden Ästen umzugehen Ob das alles klappt, soll 6D9 nun zum ersten Mal beweisen: 1,1 Kilometer bis zur Kundin, beladen mit der bestellten Hose. Eine Ampel auf dem Weg, ein Zebrastreifen, vier Toreinfahrten, Kopfsteinpflaster und Bordsteinkanten, ein Supermarkt-Parkplatz. Berechnete Lieferzeit: 13 Minuten. 6D9 – kurz für: Six Drive der neunten Generation – rollt die Rampe am Paketshop hinunter und langsam auf die Kreuzung zu. Stoppt, wartet auf grün und überquert die Straße. Klappt. Wieder stoppen, nach rechts drehen, ratter, ratter, und weiter geradeaus. Klappt auch. Seine Umgebung erkennt der kniehohe Roboter mit neun Kameras, er ist mit GPS ausgestattet, mit Abstands- und Geschwindigkeitsmesser. In Schrittgeschwindigkeit ruckelt er den Gehweg entlang. An einem herausragenden Strauch bleibt das Gerät plötzlich stehen, das klappt noch nicht. Das Gestrüpp passt nicht zu den hinterlegten Informationen. Zwei Wochen lang ist der Roboter zuvor alle Wege schon einmal abgefahren, hat die Gegend kartografiert. Der Strauch aber ist neu, zumindest der eine Ast, der herausragt. Er ist nicht gespeichert. Also erst mal anhalten. Wie er mit solchen Hindernissen umgehen soll, muss der Roboter noch lernen. Bis dahin muss er auf Jan Werum hören.
Alexander Tieg
Das Logistikunternehmen Hermes testet in Hamburg erstmals die Paketzustellung per Roboter. Unser Autor hat das Gefährt bei einer seiner ersten Auslieferungen begleitet.
[ "Hermes", "Roboter", "Autonomes Fahren", "Hamburg", "Versandhandel", "Logistik", "Unternehmen", "Künstliche Intelligenz" ]
hamburg
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2016-10-06T11:02:17+02:00
2016-10-06T11:02:17+02:00
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CDU Hamburg: Grüner wird's nicht
Wie sie sich necken, die Roten und die Grünen im Hamburger Rathaus, das hat derzeit fast etwas Liebevolles. Es haben ja auch beide Seiten etwas davon: So lange es scheint, als ginge es bei der Bürgerschaftswahl im Februar nur darum, ob der Sozialdemokrat Peter Tschentscher Erster Bürgermeister bleibt oder die Grüne Katharina Fegebank ihn verdrängt, haben es alle anderen Bewerber schwer. Nun aber haben die Grünen die Choreografie dieses moderierten Konflikts geändert – und ernsthaft angegriffen. Im Hamburger Bezirk Eimsbüttel, mit mehr als einer Viertelmillion Einwohnern eine Großstadt in der Großstadt, führt die Partei nun, nach ihrem Sieg bei den Bezirkswahlen im Mai, Koalitionsgespräche mit der CDU. Ihren bisherigen Koalitionspartner, die SPD, schickt sie damit aller Voraussicht nach in die Opposition. Angeblich lassen sich die grünen Ziele, vor allem in der Verkehrspolitik, mit der CDU besser umsetzen – zumindest geben die Grünen das Ergebnis ihrer Sondierungsgespräche mit Sozial- und Christdemokraten so wieder. Soll man das glauben? Rüdiger Kuhn, Chef der Eimsbütteler CDU-Fraktion, war bis zur Wahl ein klassischer anti-grüner Verkehrspolitiker, der zum Beispiel "überflüssige Velorouten" kritisierte und von der Politik verlangte, "die bewusste Entscheidung für den eigenen Pkw zu respektieren". Ausgerechnet mit diesem Partner wollen die Grünen es schaffen, "deutlich schneller als in der bisherigen Zusammenarbeit mit der Verkehrswende voranzukommen", wie sie sagen? In Wirklichkeit dürfte es um eine ganz andere Frage gehen. Gemeinsam mit der CDU könnten die Grünen in Eimsbüttel den sozialdemokratischen Verwaltungschef, Bezirksamtsleiter Kay Gätgens, durch einen der ihren ersetzen. Damit könnten die ehrgeizigen Eimsbütteler Ökos mit ihren Parteifreunden in den Hamburger Bezirken Nord und Altona gleichziehen – auch dort stellen die Grünen seit den Bezirkswahlen die stärksten Fraktionen, und auch dort könnten demnächst unter grüner Regie jeweils neue Bezirksamtsleitungen gewählt werden. Die SPD kann sich über dieses Vorgehen eigentlich nicht beschweren. Als die Sozialdemokraten in Hamburg 2011 die Macht bekamen, haben sie zügig die Schlüsselpositionen in der Verwaltung mit Genossen besetzt. Selten aber hat ein Politiker die parteitaktischen Motive hinter solchen Personalentscheidungen mit einer derart entwaffnenden Offenheit angesprochen, wie es nun der Eimsbütteler CDU-Mann Kuhn in der Hamburger Morgenpost tat: "Ich kenne Herrn Gätgens seit 25 Jahren und schätze ihn persönlich sehr", sagte Kuhn über den Bezirksamtschef, "aber politisch bringt er uns als CDU nichts. Wenn die Grünen ihn abwählen wollen, sind wir dabei." Auch interessant: Inzwischen achtet die Hamburger CDU darauf, dass in der Öffentlichkeit nicht Kuhn, sondern der Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse die Parteilinie erklärt. Und der macht keinen Hehl daraus, dass es hier nicht nur um Eimsbüttel geht – sondern auch um ein Signal für die Bürgerschaftswahl. Die CDU kam bei der letzten Parlamentswahl auf knapp 16 Prozent – und die Umfragen geben den Konservativen wenig Anlass, für die nächste Wahl in sechs Monaten auf Besserung zu hoffen. Für die Christdemokraten ist es daher umso wichtiger, wieder als maßgeblicher Akteur wahrgenommen zu werden. Nun, da die Partei wenigstens in Eimsbüttel dazu beitragen könnte, den Sozialdemokraten die Macht abzunehmen, sagt Kruse, sei es "jedem klar, dass es wirklich Sinn macht, CDU zu wählen".
Frank Drieschner
Die Grünen und die CDU bereiten eine Koalition vor und nehmen der SPD ihre Macht. Heute im Bezirk Eimsbüttel – morgen in ganz Hamburg?
[ "Bündnis 90/Die Grünen", "Rüdiger Kuhn", "Peter Tschentscher", "Hamburg", "Eimsbüttel", "SPD", "CDU", "Katharina Fegebank", "Kay Gätgens", "Bürgerschaftswahl" ]
hamburg
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2019-08-19T21:19:27+02:00
2019-08-19T21:19:27+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-08/cdu-die-gruenen-spd-hamburg-regierung-ruediger-kuhn?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Ukrainische Schüler in Deutschland: "Sie werden uns brauchen, wenn der Krieg irgendwann vorbei ist"
Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass die beiden Jugendlichen ihre Heimat in der Ukraine verlassen haben. Yuliia und Rostyslav sind 17 Jahre alt und kommen aus Mariupol. Drei Wochen lang haben sie in der eingekesselten Stadt nach Ausbruch des Krieges ausgeharrt. Sie haben im Keller gelebt, es gab keinen Strom, kein Gas, kein Wasser, kaum Essen. Yuliia sagt, sie habe viel Gewicht verloren. Manche hätten Schnee getrunken, obwohl der verunreinigt gewesen sei. Rostyslav ist davon krank geworden. "Die Fenster waren alle kaputt", erzählt Yuliia. "Es war sehr, sehr kalt." Und sie waren von der Welt abgeschnitten: "Wir konnten nicht telefonieren und uns informieren. Wir wussten ganz wenig." Es fällt ihnen schwer, über diese Zeit zu sprechen. Im März sind sie mit ihren Familien – ohne die Väter, die in der Ukraine bleiben müssen – nach Deutschland geflohen. Ihre Hunde haben sie mitgenommen. "Die gehören doch zur Familie", sagt Yuliia, "die hätten wir nicht einfach dort lassen können." Yuliia und Rostyslav hatten Glück und kamen mit ihren Familien in privaten Wohnungen in Berlin unter. Und sie können erst einmal bleiben, weil sie den notwendigen Nachweis erbringen konnten, dass sie für mindestens sechs Monate eine Unterkunft in Berlin haben. Aber kann man angesichts dieser Lebensgeschichte überhaupt noch von Glück sprechen? Wir treffen uns in einer alten Schule in Berlin-Schöneberg. Die beiden Jugendlichen schreiben ihre vollständigen Namen auf einen Zettel, die für Deutsche schwer verständlich sind: Yuliia Karpenko und Rostyslav Nepomniashchykh. Sie sprechen beide Deutsch. In der Ukraine gehört Deutsch neben Englisch zu den zentralen Fremdsprachen im Schulunterricht. Zuletzt hatten sie sieben Stunden Deutsch in der Woche. Am Anfang war es für beide dennoch schwer, sich mit der Sprache in Deutschland zurechtzufinden. Das wurde aber Woche für Woche besser, sodass sie mittlerweile ohne große Hürden eine Unterhaltung auf Deutsch führen können. Yuliia beherrscht inzwischen das Sprachniveau B1, sagt sie. Manchmal übersetzt sie einige Wörter für Rostyslav, der etwas mehr Mühe hat. Sie kennen sich aus ihrer Heimat und sind befreundet. Sie sind zur selben Zeit geflohen. "Die Lehrer sind hier sehr langsam" Yuliia ist blass und sieht erschöpft aus. Auch Rostyslav macht einen müden Eindruck. Aber sie lachen viel, hören aufmerksam zu und erzählen aus ihrem Leben, freundlich und offen, gleichzeitig ein wenig scheu. Der Berliner Verein Schöneberg hilft e.V., der sich um geflüchtete Menschen kümmert, hat die beiden unterstützt und an eine Schule weitervermittelt. Sie wurden gleich in einer deutschen Schule aufgenommen und konnten dort eine reguläre elfte Klasse besuchen. Eine Willkommensklasse, in der die Jahrgänge für Geflüchtete nicht getrennt werden, sondern alle erst einmal Deutschunterricht erhalten, war für Yuliia und Rostyslav aufgrund ihrer Sprachkenntnisse nicht nötig. Parallel setzten beide den ukrainischen Onlineunterricht fort . Nach Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK) sind mittlerweile fast 180.000 ukrainische Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen. Anders sieht es bei den Lehrern aus: Laut einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur werden in Deutschland inzwischen rund 3.000 Lehrerinnen und Lehrer aus der Ukraine beschäftigt – viel zu wenige, um den Bedarf zu decken. Die KMK geht davon aus, dass mehr als 20.000 Lehrkräfte zusätzlich gebraucht würden. "Es kommen ja viele Lehrer aus der Ukraine, die meisten von ihnen sprechen aber kein Deutsch", sagt Hans-Jürgen Kuhn von der Flüchtlingsorganisation Schöneberg hilft. Yuliia und Rostyslav haben dennoch sehr positive Erfahrungen gemacht. Ihre deutschen Mitschüler seien sehr freundlich gewesen, erzählen sie. "Ich hätte nicht gedacht, dass die Deutschen so nett sind zu Flüchtlingen", sagt Yuliia. Rostyslav nickt. "Man sagt immer, die Deutschen sind nicht höflich", meint er, "aber die, die wir kennengelernt haben, die waren alle sehr nett." Dabei sehen sie auch große Unterschiede zwischen beiden Schulsystemen. Manchmal würden im Unterricht in Deutschland Sachen gemacht, die mit Schule gar nichts zu tun hätten, erzählen beide – zum Beispiel Ausflüge oder Spiele. Außerdem seien die Lehrer hier sehr langsam. Rostyslav sagt: "In Mathe kann man hier in einer Stunde nur eine Aufgabe machen. In der Ukraine machen wir in derselben Zeit fünf Aufgaben." Sie seien in der Ukraine in Mathematik und Physik bestimmt ein Schuljahr weiter als in Deutschland. Aber dafür seien die Lehrer hier offener und menschlicher als in der Ukraine. Yuliia sieht auch im Umgang mit Texten große Unterschiede. In Deutschland werde immer alles analysiert, da gebe es Diskussionen und einen Dialog. Das sei viel interessanter als in ihrer Heimat, wo man nur die Bücher lese und den Inhalt wiedergebe. Allerdings falle hier sehr viel Unterricht aus, meint sie.
Dr. Hannah Bethke
Fast 180.000 ukrainische Kinder und Jugendliche sind an deutschen Schulen. Zwei Schüler erzählen von ihren Träumen – und wundern sich, wie anders der Unterricht hier ist.
[ "Hans-Jürgen Kuhn", "Maja Hitij", "Berlin", "Mariupol", "Berlin-Schöneberg", "Schöneberg", "Yuliia", "Schulplatz", "Krieg in der Ukraine", "Familie" ]
gesellschaft
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2022-09-26T14:54:59+02:00
2022-09-26T14:54:59+02:00
https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-09/ukraine-schulkinder-migration-krieg-gefluechtete?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Holocaustüberlebende: Abschied von Mama Blume
Mama Blume war nicht nur die bekannte Wahrsagerin vom Hamburger Dom, in deren kuschelig überheiztem Wagen sich unzählige Menschen in den letzten Jahrzehnten die Karten legen ließen. Mama Blume, die Sinteza, die mit bürgerlichem Namen Hilde Rosenberg hieß, war ein Kraftwerk. Ein Überlebenswunder. Ein winziges, zähes Persönchen mit Witz und unglaublicher Frechheit, eine Frau, die sich nie hat kleinkriegen lassen. Nicht von den unvorstellbar schrecklichen Jahren in KZ und Arbeitslagern, von den Demütigungen, Schlägen, dem Hunger und der Kälte. Die selbst in einem Moment höchster Not, in dem ihre Familie von Nazis verhaftet werden sollte, zu einem Uniformierten sagte: "Pfui, du hast ja Scheiße am Stiefel!" Und die es dabei so weit trieb, dass er lachen musste und die Familie entkommen ließ. Geboren 1928 im polnischen Łódź, wuchs sie in einer Sinti-Familie als Kind eines Kammerjägers auf. Das Wahrsagen lernte sie von ihrer Mutter. Den Kindern auf der Straße sagte sie für einen Pfennig die Zukunft voraus. Ihr Sohn Tornado Rosenberg hat ihre Geschichte aufgeschrieben. In seinem Buch Mama Blume- vom Glück im Leben erzählt er: " Meine Mutter hatte mir eingeprägt, den anderen Kindern nichts Schlechtes vorauszusagen. Und sie sagte mir: Denk immer daran, dass es am wichtigsten ist, dass du es mit vollem Herzen tust. Du brauchst viel Weisheit und hast eine große Verantwortung zu tragen. Denn unsere Gabe ist es, anderen Menschen zu helfen – aber nicht uns selbst." Sie konnte trösten und verzeihen Lesen und Schreiben hatte Mama Blume nie gelernt. In der Zeit, in der andere Kinder zur Schule gingen, arbeitete sie im Lager einer Munitionsfabrik und stopfte Schwarzpulver in Granaten, bewacht von der SS. Manchmal las sie den SS-Männern aus der Hand und sagte ihnen eine gute Zukunft voraus. So hat sie überlebt. Im KZ lernte sie auch ihren Mann Lani kennen, nach der Befreiung 1945 gingen die beiden zusammen in seine Heimatstadt Hamburg. Sie bekamen sechs Kinder, inzwischen leben fünf Generationen Rosenbergs in Hamburg. "Unsere Männer haben fast alle Musik gemacht. Auch mein Mann war Musiker. Er spielte ohne Noten, denn das steckt uns Zigeunern im Blut. Und auch meine Söhne sind Musiker geworden." Ihre Wohnung war selbst im Sommer geheizt, Mama Blume wollte nie mehr frieren. Seit 1948 trug sie Chanel. Jedes Mal, wenn sie im Krankenhaus lag – was in ihren letzten Lebensjahren immer öfter vorkam –, konnte man bereits auf dem Flur riechen, in welchem Zimmer sie war: Der Duft von Chanel Nr. 5 war wie ein Wegweiser. Für die Zeit im KZ bekam sie eine beschämend lächerliche Entschädigungsrente, weniger als 40 Euro im Monat. Den Völkermord an den Sinti und Roma erkannte die BRD erst Anfang der Achtzigerjahre an. Bis dahin galten die sogenannten Landfahrer meist als Kriminelle, sie waren unzähligen Schikanen ausgesetzt. Mama Blume hätte allen Grund gehabt, die Deutschen zu hassen. Stattdessen durfte jeder seine Sorgen zu ihr tragen. "Kein Mensch ist hart auf die Welt gekommen", sagte sie immer, wenn sie den Menschen in die Karten und ins Herz guckte. Wenn jemand sie mit akuten Problemen und ohne Geld um einen Blick in die Zukunft bat, steckte sie ihm oft noch einen Zehner zu. Sie konnte trösten. Und vor allem: Sie konnte verzeihen. Einen SS-Mann versteckte sie kurz nach dem Krieg vor den herannahenden Russen. Sie diskutierte mit Neonazis in der Bahn. Diese kleine, freche Frau, die so viel durchlitten hatte, konnte wunde Seelen heilen. Ein großes Herz Doch Mama Blume konnte auch sehr streng sein. Tradition und Regeln waren ihr wichtig. Bei ihr war es pieksauber. Wenn sie durch ihre kleine Wohnung schlurfte, schon ganz krumm vor Schmerzen und Rheuma, dann meist mit Wischfeudel. Am liebsten saß sie inmitten ihrer Familie, ganz still, und beobachtete lächelnd das Treiben um sie herum. Sie liebte Blumen. Und natürlich Gitarrenmusik. Sie konnte schimpfen, wenn einer mit ungebügeltem Hemd zu ihr kam. Noch an Silvester hat sie getanzt. Nie hat sie jemanden abgewiesen, der zu ihr kam. Sie war eine fürsorgliche und warmherzige Mama, weit über ihre eigene Familie hinaus. Wer diese wunderbare Frau mit der rauen Stimme jemals erlebt hat, kann dankbar sein. So ein großes Herz findet man nur alle 100 Jahre. Am 1. Februar 2019 ist Mama Blume im Alter von 90 Jahren gestorben, ihr Tod ist gerade erst bekannt geworden.
Tania Kibermanis
Sie war Wahrsagerin auf dem Hamburger Dom, Holocaustüberlebende – und eine Frau mit großem Herz. Nun ist Hilde Rosenberg gestorben. Ein Nachruf
[ "Holocaust", "Hamburg", "Nachruf", "Hamburger Dom", "Lodz" ]
hamburg
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2019-02-17T15:18:36+01:00
2019-02-17T15:18:36+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-02/holocaust-ueberlebende-wahrsagerin-mama-blume-sinti-nachruf?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Friseursalons: "Alle wollten vor der Apokalypse noch mal hübsch aussehen"
Susanne Warnecke arbeitet als selbstständige Friseurmeisterin in einem kleinen Salon in Altona. Sie kann in der Corona-Krise weiter arbeiten – denn im Unterschied zu vielen Geschäften müssen Friseursalons noch nicht offiziell geschlossen haben. Darüber ärgert sie sich. ZEIT ONLINE: Arbeiten Sie noch? Susanne Warnecke: Ich habe vor einer Woche entschieden, nicht mehr Haare zu schneiden und habe alle meine Kunden angerufen. Die meisten waren ganz froh, dass ich ihnen die Entscheidung abgenommen habe. ZEIT ONLINE: Hatten Sie denn noch viel zu tun nach Ausbruch der Corona-Epidemie? Warnecke: Allerdings. Als die ersten Nachrichten über Erkrankte kamen, haben wohl viele erwartet, dass wir auch schließen und wollten noch schnell einen Termin bekommen. Das war wie vor Weihnachten letzte Woche. Alle wollten vor der Apokalypse noch mal hübsch aussehen. ZEIT ONLINE: Am vorigen Wochenende hat die Politik beschlossen, alles zu schließen, was nicht zur Daseinsvorsorge gehört – Lebensmittelgeschäfte und Apotheken gehören zur Daseinsvorsorge und offensichtlich auch Friseursalons. Ehrt Sie das nicht? Warnecke: Naja, in gewisser Weise schneiden wir ja nicht nur Haare, sondern sind auch die Psychotherapeuten des Volkes. Aber zu der Frage: Mich ärgert das extrem. Wir kommen den Kunden so nahe, dass wir eigentlich wie medizinisches Personal ausgestattet arbeiten müssten. Und jetzt sind ja Schutzanzüge und Mundschutz kaum mehr zu bekommen. Wenn wir zu mehreren in einem Salon arbeiten, müssten wir zeitversetzt arbeiten. Viele bitten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sich krankschreiben zu lassen. ZEIT ONLINE: Welche Nachteile haben Sie, wenn sie nicht Teil dieser Allgemeinverfügung sind und also nicht schließen müssen? Sie können doch freiwillig schließen. Warnecke: Ja, aber dann haben wir kein Anrecht darauf, Hilfe zu beantragen – offiziell dürfen wir ja noch arbeiten. ZEIT ONLINE: Solo-Selbstständige sollen jetzt in Hamburg ab nächster Woche 2.500 Euro als Nothilfe bekommen. Warnecke: Aber gilt das auch für uns, wenn wir freiwillig schließen, um unsere Kundinnen und Kunden und uns selbst zu schützen? Das ist mir unklar. ZEIT ONLINE: Sie unterrichten auch an der Handwerkskammer die Anwärterinnen und Anwärter für die Meisterprüfung … Warnecke: Da fällt der Unterricht natürlich aus, wir sollen jetzt Aufgaben und Unterlagen für die Prüfungen online verfügbar machen, ob wir dafür bezahlt werden, ist noch unklar. Ich fühle mich ein bisschen im Stich gelassen von der Handwerkskammer. ZEIT ONLINE: DIE ZEIT: Warum? Warnecke: Mir ist unklar, ob und wie man sich da für uns einsetzt, die Hotline ist total überlastet und auf der Website habe ich auch noch nichts gefunden, was für mich in Frage kommt. Ich erhoffe mir schnellere Signale. Bei der Pressekonferenz zur Corona-Verfügung hat eine Journalistin verwundert gefragt, warum die Friseursalons weiter aufhaben dürfen, trotz hoher Ansteckungsgefahr. Hamburgs Bürgermeister Tschentscher konnte das nicht beantworten. Warum reagiert man nicht ein paar Stunden später oder am nächsten Tag? ZEIT ONLINE: Was fordern Sie? Warnecke: Ich wünsche mir, dass es eine schnelle Entscheidung gibt, dass wir schließen müssen. Das wäre das richtige Signal. ZEIT ONLINE: Wie lange können Sie ohne Arbeit durchhalten? Warnecke: Bei der Existenzgründung hat mir das Jobcenter geraten, ich soll versuchen, als Sicherheit für Ausfälle das dreieinhalbfache auf der hohen Kante zu haben, was ich im Monat ausgebe. Ich hab so einen Ausfall schon mal erlebt, deshalb habe ich den Rat inzwischen befolgt. Aber ich weiß von vielen, die überhaupt keine Rücklagen haben.
Christoph Twickel
Susanne Warnecke führt einen kleinen Friseursalon in Altona. Dass der Senat nicht längst angeordnet hat, ihn zu schließen, ärgert sie sehr.
[ "Coronavirus", "Social Distancing", "Apokalypse", "Altona", "Friseursalon", "Handwerkskammer", "Existenzangst", "Susanne Warnecke", "Notstand" ]
hamburg
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2020-03-22T13:45:28+01:00
2020-03-22T13:45:28+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-03/friseursalons-geoeffnet-coronavirus-geschaefte-hamburg-social-distancing?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Ehemaliger Hamburger Bürgermeister: Klaus von Dohnanyi will Sahra Wagenknecht unterstützen
Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi will fortan BSW-Chefin Sahra Wagenknecht unterstützen. Der 96-jährige Sozialdemokrat begründete den Schritt gegenüber den Funke-Zeitungen mit Kritik an der Ukrainepolitik von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). "In der SPD kritisiert so gut wie niemand, dass der Kanzler nur für Kanonen wirbt und nicht zugleich auch für Verhandlungen", sagte von Dohnanyi. "Ich bedauere das sehr. Deshalb unterstütze ich Sahra Wagenknecht , weil sie für Verhandlungen mit Russland eintritt." Dafür sei er auch. Das Blutvergießen in der Ukraine müsse enden. Die SPD sei "gerade dabei, sich selbst zu verraten", sagte Dohnanyi. In ihrer Geschichte habe es immer zwei Wurzeln gegeben, aus denen die Partei ihre Kraft zog – Friedenspolitik und Sozialpolitik . "Seitdem die SPD die Wurzel Friedenspolitik abgehackt hat, verdient sie zu Recht keine besseren Wahlergebnisse als sie heute bekommt." Dohnanyi lehnt SPD-Austritt ab Den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine bezeichnete Dohnanyi als "einen Stellvertreterkrieg mit Russland im Auftrag der USA". Für eine diplomatische Lösung müssten auch russische Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden. Einen Austritt aus der SPD lehnte der 96-Jährige dagegen ab: Die Partei müsse ihn ertragen, so wie er sie ertrage.
Luis Kumpfmüller
Mit ihrem Ukrainekurs habe die SPD ihre Wurzel der Friedenspolitik "abgehackt", sagt Klaus von Dohnanyi. Fortan unterstütze er Wagenknecht, das müsse die Partei ertragen.
[ "Klaus von Dohnanyi", "SPD", "Sahra Wagenknecht", "Bündnis Sahra Wagenknecht", "Krieg in der Ukraine" ]
politik
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2024-07-19T09:08:26+02:00
2024-07-19T09:08:26+02:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-07/klaus-von-dohnanyi-spd-sahra-wagenknecht-unterstuetzung-ukraine?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x