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NS-Gedenkstätte im Stadthaus Hamburg: "Es tut mir in der Seele weh"
Stephanie Krawehl hat gekämpft bis zum Schluss, hat "vier Jahre lang praktisch durchgearbeitet", um dieses bundesweit einmalige Konzept zu retten, an das sie glaubte. Wenn Besucher den großen Raum an der Stadthausbrücke 6 mitten in der Hamburger City betreten, liegt auf der linken Seite ihre Buchhandlung, dahinter ihr Café - und auf der rechten Seite eine Gedenkstätte an die Verbrechen der Nationalsozialisten mit einer Ausstellung. Alles unter einem Dach. Die drei Orte sollten sich gegenseitig ergänzen und Menschen anziehen. Doch am Donnerstag war der Traum vorbei. Vormittags ging Stephanie Krawehl ins Gericht und gab den Insolvenzantrag für ihre Buchhandlung "Lesesaal" und das schon länger geschlossene Café ab. Ein paar Formulare fehlten noch, deshalb muss sie am Freitag wiederkommen. Sie sagt: "Es war ein ewiger Kampf, ich bin einfach müde." Müde ist sie von den ständigen Angriffen der Kritiker, die von Anfang an mit wöchentlichen Mahnwachen vor dem Gebäude gegen dieses Konzept demonstrierten, weil sie fanden: Hier im Stadthaus, der früheren Terrorzentrale der Nazis in Hamburg, wo die Gestapo viele Menschen brutal verhörte, folterte und tötete, gehöre ein größerer Gedenkort hin - einer, der von der Stadt betreut wird, und nicht nebenbei von einer Buchhändlerin. Müde ist sie auch vom ständigen Bangen ums wirtschaftliche Überleben in einem Teil der Innenstadt, der mit der Pandemie fast menschenleer wurde. Vom ersten Lockdown an "war das Café tot, wir hatten keine Umsätze mehr", sagt Krawehl. Es erholte sich nie mehr. Auch Laufkunden, die hier schon immer spärlich waren, seien kaum noch in die Buchhandlung gekommen, weil die Menschen aus den umliegenden Büros jetzt meist von zu Hause arbeiten. Tatsächlich wirken die Stadthöfe an der Stadthausbrücke selbst tagsüber mitunter so ruhig, als lägen sie in einem mecklenburgischen Dorf. Vor wenigen Tagen musste Stephanie Krawehl ihren Angestellten mitteilen, dass sie sie bald nicht mehr bezahlen könne. Auch der Social-Media-Managerin, die sie halbtags beschäftigt hatte, um über das Internet mehr Menschen für ihre Buchhandlung zu interessieren; regelmäßig interviewte Krawehl Autorinnen und Autoren auf Instagram. Sie veranstaltete auch Lesungen und dekorierte wöchentlich das Schaufenster neu. Viermal wurde sie ausgezeichnet als eine der besten Buchhandlungen der Republik. Man kann ihr nicht vorwerfen, nicht gekämpft zu haben. Aber es war umsonst. "Für mich ist es jetzt eine Qual hier zu sein", sagt sie, "weil es mir in der Seele wehtut, dass diese Stöberbuchhandlung vor die Hunde gehen muss." Gescheitert ist damit vor allem ein Experiment, das mit dem Verkauf des Stadthaus-Areals 2008 von der Stadt an einen privaten Projektentwickler begann. Der CDU-geführte Senat verscherbelte damals städtische Immobilien im großen Stil – und wollte nebenbei auch gleich noch das Gedenken an die NS-Zeit privatisieren. Er erlegte dem Käufer im Kaufvertrag auf, einen Gedenkort "auf seine Kosten zu realisieren sowie dauerhaft den Betrieb und die öffentliche Zugänglichkeit sicherzustellen". Dafür wurde eine Fläche von 750 Quadratmetern Bruttogeschossfläche festgeschrieben. Man dachte damals an den Keller, wo früher die Gefängniszellen waren. Doch niemand hatte sich das Untergeschoss wirklich angeschaut. Erst nach dem Verkauf stellte sich heraus: Die Zellen waren längst entfernt worden, keine historischen Spuren mehr da. Also wählte der Käufer Quantum Immobilien eine andere Fläche aus, prominent gelegen im Erdgeschoss an der Straße Stadthausbrücke. Hier sollte jetzt ein Gedenkort entstehen. Nur wie? Immobilienentwickler sind nicht gerade Experten für historische Erinnerungsstätten. Die Quantum-Chefs fragten die Stadt Hamburg, ob sie den Geschichtsort nicht betreiben wolle, man würde auch einen siebenstelligen Betrag dafür zahlen. Doch die Kulturbehörde lehnte dankend ab. Niemand wollte die laufenden Kosten und die Verantwortung dafür übernehmen. Die Rettung hieß nach langer Suche schließlich: Stephanie Krawehl. Sie betrieb in Eimsbüttel schon seit Jahren ihre mehrmals ausgezeichnete Buchhandlung Lesesaal. Mit ihrem Engagement für unabhängige Verlage hatte sie sich einen exzellenten Ruf aufgebaut. Sie erklärte sich dazu bereit, das Experiment mitzumachen und umzuziehen an den neuen Ort. Um dort ihre Buchhandlung mit neu gekauftem Mobiliar neu zu eröffnen, ein Café einzurichten - und ein Auge auf den Gedenkort zu werfen. Der ist dank ihr jetzt an sechs Tagen in der Woche viele Stunden lang öffentlich zugänglich, ohne dass dafür eigens teures Personal eingestellt werden musste. Im Gegenzug reduzierte der Eigentümer ihre Kaltmiete auf einen Euro pro Quadratmeter. Sie war eine billige Lösung. Damit auf der Fläche alles unterkam, schrumpfte die Ausstellung über die Polizeizentrale der Nazis von der ursprünglich angedachten Größe auf nur noch knapp 70 Quadratmeter, sie besteht vor allem aus Tischen, auf denen Bilder und Texttafeln zu sehen sind. Krawehl findet das Konzept bis heute "unbestreitbar gut", sie wollte hier etwas aufbauen, was es noch nirgendwo gab. Doch alle hatten die Wut unterschätzt, die jetzt losbrach. Schon vor der Eröffnung im Mai 2018 liefen NS-Opferverbände gegen das Konzept Sturm. Ihr Zorn galt eigentlich der Stadt und dem Investor, weil der Gedenkort weit hinter allen Erwartungen zurückblieb. Doch er entlud sich vor allem an Stephanie Krawehl persönlich. Sie wurde immer wieder im Laden besucht und verbal angegangen. Am härtesten wurde es für sie, als die Kritiker in Archiven recherchierten und öffentlich machten, dass ihre Großmutter einst Mitglied der NSDAP war, was sie nicht gewusst hatte. Diese Angriffe haben Verletzungen hinterlassen, die bis heute zu spüren sind, auch wenn sie das nie zeigen wollte. Sie kämpfte weiter. Aber es war ein ständiges kraftzehrendes Gegeneinander. Das Areal der Stadthöfe wurde für viel Geld renoviert, dort sind neben dem Geschichtsort luxuriöse Mietwohnungen, Restaurants, Büros, Läden und ein Hotel entstanden. Es gehört inzwischen der Ärzteversorgung Niedersachsen, die neun Milliarden Euro angelegt hat, vor allem für die Altersrente von Ärzten. Deren Chef Frank Adelstein nennt die aktuelle Situation "bedauerlich". Wohl auch deshalb, weil er jetzt ein Problem hat: Er ist weiterhin verpflichtet, den Gedenkort zugänglich zu halten, auch wenn die Buchhandlung schließt. Doch wer soll sich jetzt darum kümmern? Seit Tagen laufen bereits Krisengespräche zwischen dem Eigentümer und der Stadt Hamburg. Und verblüffenderweise ist die Stadt nun doch bereit, Verantwortung für diesen historischen Ort zu übernehmen. "Ich bedaure, dass das Konzept in Kombination mit dem Lesesaal dort nun gescheitert zu sein scheint", teilt Kultursenator Carsten Brosda (SPD) in einem schriftlichen Statement mit. Und nennt die nun angestrebte Lösung: Die Kulturbehörde und die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte redeten mit den Eigentümern, "um die gesamte Fläche des Gedenkortes zu übernehmen". Man wolle den Ort "substanziell weiterentwickeln", zusammen mit den bislang so erbosten Opferverbänden. Nun, nach dem Scheitern des Lesesaals, geht also doch, was die Stadt jahrelang auf keinen Fall wollte. Wie mehrere Insider berichten, sieht der Rettungsplan so aus: Die Ärzteversorgung stellt der Stadt die gesamte Fläche von bisheriger Buchhandlung, Café und Geschichtsort zu günstigen Konditionen zur Verfügung. Und die von der Stadt gegründete Stiftung Hamburger Gedenkstätten, die sich bereits um die KZ-Gedenkstätte Neuengamme und das Denkmal Hannoverscher Bahnhof kümmert, soll die kleine Ausstellung dann ausbauen und den Ort mit Veranstaltungen beleben. Die Kritiker bekämen auf diese Weise, was sie schon von Anfang an forderten. Die Stadt hätte einen nervenaufreibenden Konflikt befriedet. Nur Stephanie Krawehl, die sich vier Jahre lang für das bisherige Konzept aufgerieben hat, hat dann gar nichts mehr. Sie muss jetzt Hartz IV beantragen.
Marc Widmann
Das Stadthaus war die Terrorzentrale der Nazis in Hamburg. Jetzt ist der dortige private Gedenkort wirtschaftlich am Ende. Die Stadt will übernehmen.
[ "Hamburg", "Hamburger City", "Gestapo", "Instagram", "Gedenkort", "Terrorzentrale", "Lesesaal", "Gedenkstätte", "Verbrechen", "Lockdown" ]
hamburg
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2022-01-27T20:49:20+01:00
2022-01-27T20:49:20+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-01/ns-gedenkstaette-stadthaus-hamburg-buchhandlung-insolvenz?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Wahlkampf der Grünen: Mehr Sachthemen, weniger Baerbock
Als es darum geht, warum auf den Plakaten der neuen Kampagne eigentlich das Wort Kanzlerin nirgendwo auftaucht, kommt Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner kurz ins Grübeln. Über die Strategie kurz vor der Wahl, die "letzte Welle", wie Kellner es nennt, hätten sie noch nicht entschieden. Zugespitzt und personalisiert werde ein Wahlkampf schließlich erst am Ende. Und dann werde man auch sehen, inwiefern man Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen doch noch großflächig an den Straßen und im Netz in Szene setzen will. Jetzt aber, in den ersten beiden Wellen des Wahlkampfs, stünden erst mal Themen im Vordergrund. Wenn es noch irgendetwas brauchte, um die Gerüchte um die Zweifel der Grünen an der Kür Baerbocks zur Kanzlerkandidatin anzuheizen, so könnte es diese Pressekonferenz zur Vorstellung der Plakatkampagne für die anstehende Bundestagswahl gewesen sein. Es war vermutlich nicht Kellners Absicht, die bereits angeschlagene Chefin so blass wirken zu lassen. Aber ein flammendes Bekenntnis hört sich bestimmt anders an. Auch wenn Kellner bemüht war, Baerbock-Plakate als Bestseller anzupreisen. Das von den Kreisverbänden meistbestellte Motiv ist demnach eines von insgesamt nur zweien, auf denen auf hellgrünem Hintergrund nur Baerbock zu sehen ist. Der Slogan: "Wirtschaft und Klima ohne Krise." Unter allen Plakaten findet sich zusätzlich der bereits bekannte Claim "Bereit, weil ihr es seid". Und ein Briefwahlsymbol. Die Grünen rechnen mit über 50 Prozent Briefwählern. So wie ein "Eichhörnchen im Herbst Nüsse sammelt", erklärte Kellner, wollen die Grünen möglichst früh ihre Stimmen einheimsen. Die Latte für eine gelungene Kampagnenpräsentation hätte nach der Darbietung der CDU vergangene Woche niedriger nicht liegen können. Nicht nur der syntaktisch krumme Claim "Deutschland gemeinsam machen" sorgte für reichlich Häme, die Inszenierung eigener Parteimitglieder als Polizistin oder Malocher brachte der Union obendrein scharfe Kritik ein. Es wäre für die Grünen am Montagnachmittag also ein Leichtes gewesen zu zeigen, dass sie die Union im Bereich der Wähleransprache um Längen schlagen können. Griffige Einspieler, etwas Kulisse, etwas Wumms, wenigstens ein paar Blumen auf der Bühne, schließlich soll es um den Aufbruch in eine neue, andere politische Epoche gehen. Doch dann stand dort einsam an einem Pult vor einer großen grünen Leinwand Geschäftsführer Michael Kellner, führte durch die Plakatmotive und intonierte Sätze wie aus dem Aquagymnastik-Seniorenkurs: "Das gibt uns Energie, das gibt uns Schwung." Vielleicht aber war das auch Absicht. Denn die Zielgruppe, die man bei dieser Wahl vor allem im Blick hat, so Kellner, seien die 60+. Genau hier wolle man der CDU die Stimmen abjagen. Immer mehr ältere Menschen machten sich Sorgen um die Umwelt und bangten um die Zukunft der Enkel. Aber auch um die jungen Menschen werde man sich kümmern. Zwei Millionen Briefe an Erstwählerinnen und Erstwähler will die Parteizentrale verschicken. Auch auf Motiven finden sich Jung und Alt wieder. Auf einem schaut ein offenbar digitalaffiner älterer Mann aufs Handy. Slogan: "Lädt nicht, gibt's nicht". Genau, die Grünen wollen auch Digitalisierung und schnelleres Internet für alle. Bei dem Kind, das in einen See springt, steht: "Schützen wir die Erde, sie ist die einzige, die wir haben". Allerdings fällt auf, dass der Klimaschutz nicht im Ansatz so im Mittelpunkt steht, wie man vielleicht gedacht hätte. Vermutlich will man nicht Gefahr laufen, mit zu viel Umweltaktivismus bestimmte Wählergruppen zu verprellen. Immerhin die Abbildung einer diversen Gesellschaft ist den Grünen besser gelungen als der Union. Die hatte ja ausgeblendet, dass in Deutschland nicht nur weiße Menschen ohne jedes Handicap leben. Auf den Motiven der Grünen sind auch nicht weiße Menschen zu finden.
Christian Parth
Bei der Präsentation der Plakatkampagne geben sich die Grünen bescheiden. Man setze jetzt erst einmal auf Sachthemen. Der Klimaschutz kommt dabei erstaunlich kurz.
[ "Chancellor Annalena Baerbock", "Stefanie Loos", "Michael Kellner", "Annalena Baerbock", "Berlin", "Bündnis 90/Die Grünen", "Bundestagswahl", "Sachthema", "Plakatkampagne", "Herbst" ]
politik
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2021-07-12T19:42:47+02:00
2021-07-12T19:42:47+02:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-07/die-gruenen-wahlkampf-strategie-plakatkampagne-bundestagswahl-2021?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Politiker auf TikTok: Olaf muss nicht tanzen
Weiße Turnschuhe schleichen über etwas fleckige Auslegeware, begleitet von einer klassischen Detektivmelodie mit Fagott. Ruckschwenk nach oben, auf ein Sofa, auf dem eine Aktentasche steht. Im Hintergrund, draußen vor dem Fenster, sieht man das Paul-Löbe-Haus und den Berliner Fernsehturm. Ruckschwenk nach links, da sitzt er am Schreibtisch und grinst: Olaf Scholz, Bundeskanzler. Premiere, lange angekündigt, am Montag gestartet: Scholz aka @teambundeskanzler ist nun auch auf TikTok. "Prinzipiell kann ich es nur begrüßen, dass nun auch der Regierungschef die Relevanz von TikTok für die politische Kommunikation und Information erkannt hat und die Plattform nicht mehr ignoriert wird", sagt Politikberater Martin Fuchs. "Leider viel zu spät." Lange hielten sich viele Politikerinnen und Politiker etablierter Parteien auf TikTok eher zurück. Gründe dafür gab es viele – die Fehleinschätzung zum Beispiel, dass da nicht mehr passiert als Tanzen, Hauls und Gesangseinlagen. Die Angst vor Boomer-Cringe. Oder Bedenken wegen der China-Connections des Plattforminhabers . Dann erschienen die Correctiv -Recherchen über ein Geheimtreffen Rechtsextremer und ins öffentliche Bewusstsein sickerte ein, wie breit sich die Alternative für Deutschland (AfD) auf der Plattform längst gemacht hat. Untersuchungen rechneten vor: Ihre Videos bekommen dort viel mehr Aufmerksamkeit als die aller anderen Parteien zusammen . AfD-Politiker haben auf der Plattform fette Accounts mit großer Gefolgschaft , verfügen über weitverzweigte Netzwerke. Es schien fast so, als habe man der AfD das vielleicht wichtigste Medium unter jungen Menschen überlassen. Und das in einem Jahr wichtiger Wahlen in Europa und mehreren Landtagen. Dagegen hat sich eine Kampagne namens #ReclaimTikTok formiert , unter der Aktivistinnen und Aktivisten versuchen, auf der Plattform gegen die Erzählungen der AfD zu halten. Und nun strömen auch viele prominente Politikerinnen und Politiker auf die Plattform. Erst war es Karl Lauterbach , jetzt ist es Olaf Scholz. Oder zumindest: sein Team. "Aufgeschreckt durch die Berichterstattung sind viele neue Politikerinnen auf die Plattform gekommen", sagt Marcus Bösch, der an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften HAW unter anderem zu TikTok forscht. "Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die AfD dort noch immer einen strategischen Vorteil hat – weil sie schon länger dabei ist, von einer Fanarmee gestützt wird. Das haben die anderen meines Erachtens nicht." Die AfD hat auf TikTok auch so viel Wucht, weil die Algorithmen der Plattform gut auf ihren stumpfen Dagegen-Populismus anspringen und mit viel Reichweite belohnen. Viele Politiker der AfD verstehen sich gut darauf, ihr Publikum direkt anzusprechen, Sachverhalte bis zur Unkenntlichkeit zuzuspitzen und heftig auf der Emotionsklaviatur von Wut über Neid bis Angst herumzudrücken. So kann man die Sharability seiner Inhalte hochdrehen. Nirgendwo ist dies so wichtig wie auf TikTok, wo Plattform und Algorithmen entscheiden, was 21 Millionen deutschen Nutzerinnen und Nutzern auf die For-You-Page gespült wird. Die Frage ist: Geht Politik auf TikTok auch ohne populistische Meinungsmache? Können andere Parteien dort ankommen, gegen die AfD? Politikerinnen und Politiker, die stärker differenzieren, die Inhalte vermitteln wollen, statt hingebogene Halbwahrheiten zu verbreiten? Schaute man sich auf TikTok an, wie dort manch erfahrener Politprofi hadert, konnte man da ins Zweifeln kommen. Katarina Barley etwa, Spitzenkandidatin der SPD im Europawahlkampf, stelzt einigermaßen hölzern durch ihre TikTok-Videos – und dringt damit nur selten zu vielen Menschen durch. Auch Lauterbach kündigte vollmundig eine Revolution an und lieferte bisher nur zwei Videos vom Rande einer Talkshow. Es geht aber auch ganz anders.
Meike Laaff
Auf TikTok funktioniert längst nicht nur AfD-Populismus. Auch Politiker anderer Parteien sind erfolgreich – mit Inhalten. Und dem richtigen Gespür für den ersten Satz.
[ "Olaf Scholz", "TikTok", "Social Media", "Alternative für Deutschland", "Populismus", "Bundesregierung" ]
digital
Article
2024-04-10T08:37:03+02:00
2024-04-10T08:37:03+02:00
https://www.zeit.de/digital/internet/2024-04/politiker-tiktok-olaf-scholz-soziale-medien-afd-erfolg?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Landgericht Hamburg: Warum nur?
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Vielleicht hat er es getan, weil er Spaß am Risiko hat. Vielleicht, weil ihm sein Leben als Justizbeamter zu langweilig war. Vielleicht, weil er sich einfach gnadenlos überschätzt. "Wir können nur spekulieren", sagt die vorsitzende Richterin. Das Urteil, aus dem diese Aussagen stammen, bringt einen ehemaligen Justizbeamten der Stadt Hamburg für viereinhalb Jahre hinter Gitter. Einen Mann, der im Gefängnis Billwerder Gefangene eingeschlossen hat und nun selbst lange in einer Zelle sitzen wird. Der Angeklagte ist ein 37-jähriger Mann. Er hatte ein gutes Gehalt, ein eigenes Haus, stand kurz vor der Hochzeit mit seiner Verlobten und hat trotz all dem einen bewaffneten Raubüberfall begangen. Warum? "Die Tat mutet partiell irre an," so die Richterin. Das äußere Tatgeschehen hat Dennis M. eingeräumt: Am Nachmittag des 28. Februar ist er zunächst in das Juweliergeschäft in der Eppendorfer Landstraße gegangen, um sich dort gebrauchte Markenuhren zeigen zu lassen. Er wollte seine Verlobte heiraten, die Uhr sollte ein Geschenk für sie sein, sagte er. Er ließ sich ausführlich beraten. Am Schluss hinterließ er Namen und Telefonnummer, falls das gewünschte Exemplar irgendwann reinkommen sollte – einen falschen Namen, wie sich später herausstellen wird. Dann verließ er das Geschäft. Wenige Minuten später aber kehrte er zurück. Er zog ein Pfefferspray aus der Jacke, sprühte es den beiden Verkäuferinnen ins Gesicht, griff sich vier Uhren aus der Vitrine und ging. Fast 15.000 Euro sind die geklauten Uhren wert. Zu Geld machte Dennis M. sie nicht. Die Polizei fand sie vier Wochen später bei der Durchsuchung seiner Wohnung. Das ist die Tat – doch was spielte sich im Kopf von Dennis M. ab? Dazu sagt er nichts. Der 37-Jährige war früher als Berufssoldat in Libyen stationiert, er hat sich für besonders riskante Einsätze ausbilden lassen. Alles an ihm strahlt den Wunsch aus, Männlichkeit und Stärke zu demonstrieren. Unangreifbar zu wirken. Da ist dieser harte Ausdruck im Gesicht, da sind die volltätowierten Arme und Hände. " Hate and kill " steht auf dem Muskelshirt, das er bei seiner Urteilsverkündung trägt. Dass der Angeklagte auch eine weiche Seite besitzt, zeigt sich nur, wenn er zu seiner Verlobten blickt, die an jedem Prozesstag im Zuschauerraum sitzt. Immer wieder dreht Dennis M. sich zu ihr um, sucht ihren Blick. Wenn er ihn kurz auffängt, lächelt er leicht. Die beiden tragen das gleiche Tattoo auf der Hand: die diabolische 99. Sonst wirkt er, als würde er sich jedes Gefühl verbieten. Das Problem ist nur, dass Dennis M. sich im Prozess selbst auf einen psychischen Ausnahmezustand berufen hat. Er hat behauptet, er habe in einer Art Blackout gehandelt – spontan, ohne den Raubüberfall bewusst miterlebt zu haben. Er sei wohl psychisch überlastet gewesen, sagte er, anders könne er sich sein Verhalten nicht erklären. Doch worin diese Belastung bestanden haben soll, sagte er nicht. Ob er sich psychiatrisch begutachten lassen würde, fragte die Richterin noch. Da reagierte Dennis M. entsetzt: "Nein!" Ein Gerichtsurteil ist ein Schuldspruch, es bildet die persönliche Schuld eines Angeklagten ab. Deren Schwere hängt von vielen Faktoren ab: Von der Vorgeschichte des Täters. Von seiner Lebenssituation, der charakterlichen Entwicklung. Vor allem aber von seinem Motiv. Und so stellt sich in diesem Fall eine Frage: Wie kann man die Schuld eines Täters bemessen, wenn man seine Beweggründe für die Tat nicht kennt? Die Kammer hätte Bekannte und frühere Kollegen des Angeklagten als Zeugen vorladen können, um sich ein Bild von dessen Person und seiner Motivation zu machen. Doch sie belässt es dabei, die Hinweise zusammenzusammeln, die sich aus dem äußeren Tatgeschehen ergeben. Dennis M. habe seine Tat offensichtlich geplant, schlussfolgert die Vorsitzende Richterin. Er hatte Pfefferspray dabei. Sein Handy hatte er zu Hause gelassen – nach Überzeugung des Gerichts, damit es nicht nachträglich geortet werden konnte. Außerdem sei er kaltschnäuzig und überlegt vorgegangen. "Sie sind ein Hochrisikomensch und neigen zu Selbstüberschätzung", so die Richterin. "Vielleicht haben Sie geglaubt, Sie sind so toll, dass Sie mit so einem Überfall einfach durchkommen." Vielleicht. Dennis M. geht lieber für Jahre ins Gefängnis, als mit einem Psychiater zu sprechen. Das Gericht geht deshalb von seiner vollen Schuldfähigkeit aus. "Dass die Tat nicht erklärlich ist, ändert daran nichts", so die Vorsitzende. Die Kammer nimmt allerdings einen minder schweren Fall des bewaffneten Raubes an, weil Dennis M. nur geringe Gewalt angewandt habe und die Polizei die Beute bei ihm fand. Er sei der einzige, der einen Schaden aus dem Überfall habe. Nach der Urteilsverkündung dreht sich Dennis M. wortlos zur Tür, die zurück ins Untersuchungsgefängnis führt. Ein letzter Blick noch zu seiner Verlobten – dann ist es mit dem Leben, das er vor dem 28. Februar führte, vorbei.
Elke Spanner
Ein Justizbeamter begeht einen bewaffneten Raub, er gesteht – und schweigt zu seinem Motiv. Die Geschichte eines Verbrechens, das ein Rätsel bleibt.
[ "Landgericht" ]
hamburg
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2019-08-22T20:30:25+02:00
2019-08-22T20:30:25+02:00
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Therapeutin: Die haben was im Gepäck
Aha, mal wieder ein Text über Flüchtlinge. Heißt, jeder Leser ist frei, gar nicht erst zu klicken oder schnell wieder wegzuklicken. Selbst zu entscheiden, wie sehr man sich mit dem großen, ständigen, seit über vier Jahren nicht mehr verschwindenden Thema konfrontiert; sich zu empören oder zu erwärmen oder wasauchimmer. Alexandra Wiegert hat diese Freiheit nicht, sie muss sich jedes Mal konfrontieren. Das ist ihr Job. Wiegert weiß aber, dass viele des Themas überdrüssig sind; dass sich, so nennt sie das, der Wind gedreht hat, politisch auch; und sie weiß ferner zu berichten, dass auch die Flüchtlinge das merken, zum Beispiel, wenn sie mal wieder an der Kampagne für die freiwillige Heimatlandrückkehr ("Dein Land. Deine Zukunft. Jetzt!") vorbeilaufen, die das Innenministerium im ganzen Land und eben auch in Hamburg hat plakatieren lassen. Aber davon erzählt Wiegert erst ganz am Ende, also jetzt erst mal zurück zum Beginn des Besuchs bei dieser jungen, mutigen Frau, die für das Rauhe Haus traumatisierten Flüchtlingen hilft. Wiegert, 30, empfängt in einem Klinkerklotz nahe der Burgstraße. Hier hat das Projekt JuLi seinen Sitz. JuLi, das steht für Just Living, was ziemlich einfach klingt, es aber natürlich nicht ist. Es ist ja nie einfach, wenn es um Flüchtlinge geht. Wiegert hat übrigens erst nach einigem Zögern zugesagt. Hat sich also nicht aufgedrängt, vielmehr war es andersherum. Man selbst wollte wissen, ob und wie denn eigentlich den ganzen Flüchtlingen geholfen wird, die traumatisiert bei uns ankommen, aber mit unklarem Bleibestatus noch nicht therapiert werden können. Sind die sich selbst überlassen? Nein, sind sie natürlich nicht. Weil es Leute wie Wiegert gibt. Andererseits gibt es garantiert nicht genug Wiegerts für all diese Menschen. Wiegert und ihr Kollege werden dann angerufen, wenn es irgendwo knallt Drei Viertel der Flüchtlinge, die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak kamen, haben nach eigenen Angaben verschiedenste Formen von Gewalt erlebt, stellte eine bundesweite Studie der AOK zum gesundheitlichen Zustand Schutzsuchender fest. Sie seien oft gleich mehrfach traumatisiert. Durch das, was sie auf der Flucht ereilt hat, durch einen Krieg, der sie die Flucht erst hat ergreifen lassen, durch Folter, Lagerhaft, Vergewaltigung, Misshandlung. Nur 22,5 Prozent der Geflüchteten dieser Länder, so das Fazit der Studie, würden nicht unter einem Trauma leiden. Wiegert bittet in ihr Büro, nicht nur den Reporter, auch einen jugendlichen Geflüchteten, der mit seiner Mutter im Wartezimmer sitzt. Aus Gründen der Diskretion sollen sein Name, das Land, aus dem die beiden kommen, und allzu konkrete Gesprächsinhalte hier nicht zitiert werden. Aber wie lockert sie diese Menschen, das will man wissen, wie öffnet sie die? Hat Wiegert, die studierte Psychologin und Islamwissenschaftlerin, erstaunliche Zwischenmenschlichkeitskniffe auf Lager? Erzählt sie erst mal von sich, davon, wie sie kurz nach der Revolution in Kairo gelebt hat, vielleicht auch, dass sie ja selbst einst ein bisschen fremd war in dieser Stadt, weil sie aus Freiburg kommt? Wie geht es dir heute? Gut, doch, gut. Und die vergangenen Tage und Wochen? Wie waren die? Gut. Besser. Besser? Das ist doch toll! Hm. Was machst du denn so? Wann? An einem normalen Tag. Such dir was aus. Womit verbringst du deine Zeit? Ich mache ja nicht viel. Aber es interessiert mich. Was heißt das denn, du machst nicht viel? Ich lese ein bisschen. Ich gucke auch Videos, auf dem Handy. Erzähl mal, was guckst du denn so? Kenne ich das? Und so geht es weiter. Wie, das ist alles? Dafür braucht es diesen Text? Dafür habe ich bis hierhin gelesen? Unbedingt! Das ist die Erkenntnis: Wiegerts Fragen sind nicht dramatisch, nicht spannend, nicht freudianisch an verborgenste Gefühlstiefen rührend. Sie mögen in ihrer smalltalkhaften Undsonstsoigkeit sogar naiv, ja irritierend wirken, aber dem Befragten geben sie das Gefühl: Da interessiert sich eine echt für mich. Die will sogar wissen, welche Handyvideos ich gucke. Und dann wird aus einer Silbe ein Satz, werden aus einem Satz vielleicht drei, wird aus drei Sätzen unbemerkt ein Gespräch.
Moritz Herrmann
Viele Flüchtlinge kommen traumatisiert in Deutschland an, dürfen aber nicht therapiert werden. Alexandra Wiegert hilft ihnen. Wie macht sie das? Was macht das mit ihr?
[ "Psychotherapie", "Therapie", "Alexandra Wiegert", "Hamburg", "AOK" ]
hamburg
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2019-01-29T09:17:08+01:00
2019-01-29T09:17:08+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-01/therapeutin-rauhes-haus-fluechtlinge-trauma-behandlung?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Hamburger Hochbahn: "Wir können ja nicht die Innenstadt stilllegen"
Rund 63.000 Hamburgerinnen und Hamburger (und natürlich auch Hamburgbesucher) fahren jeden Tag mit der U3 zwischen Rathaus, Mönckebergstraße und Hauptbahnhof, rund 16.000 Fahrgäste steigen an der Haltestelle Mönckebergstraße ein oder aus. Ab Januar 2020 wird das erst einmal nicht mehr möglich sein – die Hochbahn hat angekündigt, die Haltestelle zu sanieren, und will die U3 in der Innenstadt für ein Jahr sperren. Warum das nicht anders geht, erklärt Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum im Interview. ZEIT ONLINE: Herr Kreienbaum, wie wird der U-Bahnhof Mönckebergstraße aussehen, wenn er fertig ist? Christoph Kreienbaum: Er wird barrierefrei sein, das ist das Entscheidende. Es gibt dann zwei Aufzüge, die von der Mönckebergstraße aus direkt auf die Bahnsteige führen. Außerdem bauen wir einen zusätzlichen Zugang in Richtung Hauptbahnhof. ZEIT ONLINE : Aus Sicherheitsgründen? Kreienbaum: Wir erschließen damit zunächst einmal den östlichen Teil der Mönckebergstraße. So ein neuer Zugang bringt eine erhebliche Menge neuer Fahrgäste – das glaubt man gar nicht, aber man konnte das etwa beim Ausbau der Station Rödingsmarkt gut sehen, die ursprünglich auch nur einen Aufgang hatte. Und natürlich brauchen wir den Zugang als Fluchtweg. ZEIT ONLINE : Im Moment führt von jedem Bahnsteig nur ein Weg nach oben. Kreienbaum: Die Station ist über 100 Jahre alt und relativ eng konstruiert, heute würde man die so nicht mehr bauen. Deshalb müssen wir hier auf die Sicherheit ein besonderes Augenmerk legen. Künftig gibt es an beiden Enden beider Bahnsteige Treppenzugänge – die bisherigen neben den Mönckeberg-Grills und zwei weitere in Richtung Hauptbahnhof. ZEIT ONLINE : An der Strecke selbst ändert sich nichts? Kreienbaum: Die Strecke bleibt so, wie sie ist, nur die Haltestelle wird komplett modernisiert. ZEIT ONLINE : Warum muss man dafür die Strecke in der Innenstadt ein ganzes Jahr lang sperren? Kreienbaum: Weil es so lange dauert, ganz einfach. ZEIT ONLINE : Was dauert da so lange? Kreienbaum: Wir müssen die Haltestelle öffnen. Die Bahnsteige werden komplett abgerissen, das hat mit der Bausubstanz zu tun, aber auch damit, dass sie zu niedrig sind. Wir müssen insgesamt mehr Luft schaffen – und wir müssen die Aufzüge einbauen. Eine Komplettsanierung geht nie ohne Streckensperrung. Die Baumaßnahme selbst dauert noch länger, ab welchem Punkt die Züge wieder durchfahren und wann sie auch wieder anhalten, ist jetzt eine Frage der Feinplanung. Wir wollen aber gar keinen Hehl daraus machen: Es wird eine Sperrung geben, und die wird auch lange dauern. ZEIT ONLINE : Ein Jahr hört sich sehr lang an. Kreienbaum: Natürlich, und es ist auch lang. Man muss aber auch sehen: Die Sache ist alternativlos, die Mönckebergstraße muss barrierefrei ausgebaut sein, da gibt es keine zwei Meinungen. Und wenn man sich überlegt, dass wir hier in der Innenstadt ein sehr gutes Busangebot haben und auch die Schnellbahnlinien in relativer Nähe liegen, dann ist die Einschränkung vielleicht am Ende kleiner, als man zuerst denkt. Und weil wir vergangenes Jahr eigens eine Weiche eingebaut haben, müssen wir – anders als früher – nicht den kompletten Abschnitt ab Berliner Tor sperren, der Hauptbahnhof bleibt also erreichbar. ZEIT ONLINE : Die Strecke eingleisig zu befahren, ist wahrscheinlich auch nicht möglich? Kreienbaum: Wenn Sie eine Haltestelle abbrechen und komplett neu bauen, dann fahren Sie da nicht eingleisig durch. Sicher, es wäre theoretisch möglich – aber dann dauert die Baumaßnahme so richtig lange. Da sprechen wir aus Erfahrung: Lieber groß und schnell als in kleinen Schritten. ZEIT ONLINE: Apropos groß und schnell: All die Fahrgäste, die etwa von den Stationen Saarland- oder Kellinghusenstraße, Schlump oder Sternschanze in die Innenstadt fahren wollen, kommen auch jetzt schon nicht durch – wegen der Sperrung an den Landungsbrücken. Warum haben Sie die beiden Großbaustellen nicht zusammengelegt? Kreienbaum: Wir können ja nicht die ganze Innenstadt stilllegen, wir brauchen bestimmte Kapazitäten, um das Netz aufrechtzuerhalten. Wenn wir das ganze Stück zwischen Hauptbahnhof und St. Pauli sperren, gibt es buchstäblich von allen Seiten Probleme. Das würde die Mobilität in der Stadt schwer einschränken. ZEIT ONLINE : Was raten Sie den Fahrgästen, die sich ab Januar schon wieder umstellen müssen? Kreienbaum: Sie können mit anderen Linien zum Berliner Tor fahren und dort umsteigen, zum Hauptbahnhof oder zum Jungfernstieg, von dort aus ist die Mönckebergstraße fußläufig gut zu erreichen. Außerdem gibt es ein gut ausgebautes Busnetz. In der Innenstadt haben wir tatsächlich eine Menge Alternativen. ZEIT ONLINE : Mit dem Umbau der Station Mönckebergstraße ist dann aber alles erledigt? Kreienbaum: Nicht zwingend, wir wollen auch die Station am Rathaus barrierefrei ausbauen, und es gäbe auch am Rödingsmarkt noch etwas zu tun. Wir sind gerade in der Abstimmung, wie wir diese Maßnahmen bündeln. Deshalb ist der Streckenabschnitt, den wir sperren, noch nicht fix. Ich denke, im September wissen wir Genaueres. Korrekturhinweis: In der ersten Fassung des Textes wurde im Vorspann berichtet, die Sperrung beginne bereits im Januar 2020. Dann beginnt auch tatsächlich die Baumaßnahme, die Sperrung dagegen folgt zu einem späteren Zeitpunkt – wann genau, steht noch nicht fest. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
Florian Zinnecker
Weil die Hochbahn die Station Mönckebergstraße erneuern will, wird die U3 für ein Jahr unterbrochen. Geht nicht anders, sagt Sprecher Christoph Kreienbaum. Ein Interview.
[ "Ausbau", "U-Bahn", "Mönckebergstraße", "Hamburger Hochbahn AG" ]
hamburg
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2019-08-12T21:56:29+02:00
2019-08-12T21:56:29+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-08/hamburger-hochbahn-moenckebergstrasse-u-bahn-ausbau?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
RS-Virus in Hamburg: Angespannt, aber beherrschbar
In ganz Deutschland stecken sich gerade viele Babys und Kleinkinder mit dem RS-Virus an, kurz RSV. RSV steht für "Respiratorisches Synzytial-Virus" – das Virus betrifft also vor allem die Lunge und die Atemwege . Vor allem kleine Kinder bekommen deshalb schlecht Luft, ihre Atemfrequenz erhöht sich und der Flüssigkeitsbedarf steigt. Gleichzeitig können Infizierte aber wegen der Atemprobleme oft schlecht trinken, darum werden immer wieder kleine Patientinnen und Patienten in ein Krankenhaus eingewiesen. "In den letzten Tagen waren jeden Tag mehr Kinder in unserer Notaufnahme als früher an Rekordtagen", sagt der Kinderarzt Friedrich Reichert, der die Notaufnahme in Deutschlands größter Kinderklinik in Stuttgart leitet. Wie ist die Situation in Hamburgs Kinderkliniken? Die wichtigsten Fragen und Antworten. Wie viele Kinder sind in Hamburg derzeit mit dem RS-Virus infiziert? Eine genaue Zahl kann nicht einmal die Sozialbehörde nennen. Die Hamburger Kinderkliniken sagen aber größtenteils: Es sind deutlich mehr als sonst zu dieser Jahreszeit. Die Lage sei angespannt, aber noch beherrschbar, heißt es aus dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). "Wir verzeichnen zurzeit eine erhöhte Anzahl von kleinen Kindern mit Atemwegsinfektionen", insbesondere die Infektionen mit dem RS-Virus hätten zugenommen, sagt etwa der Stellvertretende Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am UKE, Prof. Dr. Jun Oh. "Vor allem Neugeborene, Kleinkinder und Kinder mit Vorerkrankungen der Lunge oder mit anderen chronischen Erkrankungen haben ein erhöhtes Risiko zu erkranken." Allerdings befänden sich derzeit keine Kinder oder Jugendlichen mit einer RS-Virus-Infektion auf der Kinderintensivstation des UKE. "Aktuell sehen wir eine deutliche Zunahme der Fälle im ambulanten Bereich", sagt Jun Oh. Teilweise komme es zu längeren Wartezeiten in der Notaufnahme. Die meisten anderen Hamburger Kinderkliniken äußern sich ähnlich: "Wir haben in der Summe mehr kranke Kinder als im Vorjahr, aber auch mehr schwere Verläufe mit der Notwendigkeit, zusätzlichen Sauerstoff zu verabreichen", sagt eine Sprecherin des Altonaer Kinderkrankenhauses. Seit Beginn der RSV-Zeit im Oktober seien in Altona schon über 100 Kinder zu ihnen gebracht worden. Über 90 seien wegen einer Infektion mit dem RS-Virus aufgenommen worden. Eine Ausnahme bildet die Asklepios Kinderklinik in Langenhorn: "Da wir keine Echtzeiterfassung sämtlicher Diagnosen bieten können, lässt sich die Zahl der Kinder mit RSV leider nicht aktuell beziffern", sagt deren Sprecher Franz Jürgen Schell. "Unsere Kinderstationen – sowohl die Normalstation wie auch die Kinderintensivstation – sind praktisch vollständig belegt." Einen Anstieg an Kindern mit RSV-Infektion würden sie nicht verzeichnen. Sind auf den Intensivstationen der Hamburger Kinderkliniken aktuell noch Betten frei? Ja – das zeigt ein Blick ins Divi-Intensivregister der Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, das einmal täglich die Belegung aller Intensivstationen in deutschen Krankenhäusern abfragt. Alle Kinderintensivstationen in Hamburg melden derzeit – Stand Montag – noch freie Kapazitäten. In mehreren Hamburger Kinderkrankenhäusern steht die Ampel komplett auf grün, in einzelnen Betreuungsstufen auf gelb. Bei keiner einzigen Hamburger Kinderklinik ist die Ampel rot. Wie viele Kinderkrankenhäuser mit Intensivstation gibt es in Hamburg? Fünf. Die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des UKE in Eppendorf, das Altonaer Kinderkrankenhaus, das Mariahilf-Krankenhaus in Harburg, das Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt an der östlichen Stadtgrenze zu Schleswig-Holstein und die Kinderstation der Asklepios Klinik Nord in Langenhorn. Einzelne Klinken, etwa das Altonaer Kinderkrankenhaus, haben mehrere Standorte. Die genaue Bettenkapazität der Kinderintensivstationen wollte auf Anfrage keines der Krankenhäuser mitteilen. Dies mag auch daran liegen, dass diese Zahl je nach Bedarf und Auslastung schwankt. Wie schätzen die Hamburger Kinderärzte die Lage ein? "Es herrscht Ausnahmezustand", sagt Claudia Haupt, Fachärztin für Pädiatrie und Vorsitzende des Berufsverbands der Hamburger Kinderärzte. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen müssten Eltern und ihre Kinder abweisen, wenn sie mit Atemwegserkrankungen zu ihnen kämen. "Wir alle sind fix und foxi, wir haben die Belastungsgrenze erreicht." Wie lange dieser Zustand noch andauere, sei schwer einzuschätzen, sagt die Medizinerin. "Die Zahl der RSV-Infektionen hat laut Experten nun ein Plateau erreicht. Das heißt aber nicht, dass die Zahlen sinken, sondern dass sie in den kommenden Wochen voraussichtlich auf stabilem, aber hohem Niveau bleiben werden." Zudem droht eine Grippewelle, die den Praxen weitere junge Patientinnen und Patienten bringen kann. Wie viele Kinder, die sich mit dem RS-Virus infiziert haben, müssen ins Krankenhaus? Ein bis drei Prozent der erkrankten Kinder, die in ihrer Praxis vorstellig wurden, mussten stationär behandelt oder überwacht werden, schätzt Kinderärztin Claudia Haupt. Gesicherte Zahlen für die Hansestadt gibt es bislang nicht. Wie viele Kinder, die in Hamburg mit einer RSV-Infektion ins Krankenhaus kommen, müssen auf die Intensivstation? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage ist kaum möglich; laut Auskunft des Altonaer Kinderkrankenhauses sind es dort bislang etwa zehn Prozent der Patienten mit RSV-Infektion. Im Kinderkrankenhaus Wilhelmstift befinden sich derzeit drei der zehn RSV-Patienten auf der Intensivstation. Wenn die Hamburger Kinderintensivstationen freie Kapazitäten melden: Bedeutet das, die RSV-Welle flaut ab? Leider nein. Ob ein Baby oder ein Kleinkind ins Krankenhaus eingewiesen wird, sei – neben vielen anderen Faktoren – auch abhängig vom Wochentag, erläutert Kinderärztin Claudia Haupt. Innerhalb von drei Tagen nach Krankheitsbeginn verschlimmern sich die Symptome in der Regel. "Wenn ich ein Kind das erste Mal am Freitagabend untersuche, dann weiß ich nicht, in welchem Ausmaß sich sein Zustand noch verschlechtern wird. Wenn ich dann noch eine niedrige Sauerstoffsättigung messe, dann überweise ich es sicherheitshalber ins Krankenhaus", sagt Haupt. "Kommt es am Dienstag, dann kann ich das Baby die kritischen Tage hinweg beobachten – und das Kind kann im Zweifel eher mit den Eltern zu Hause bleiben." Dass sich die Lage auf den Intensivstationen zum Wochenbeginn leicht entspannt, ist also noch kein Grund zur Entwarnung. Wie viele Kinder in Hamburg sind in diesem Herbst schon an den Folgen einer RSV-Infektion gestorben? Nach Auskunft der Hamburger Kliniken über die vergangenen zwei Monate: bislang keines. Wenn die Intensivstationen in Hamburg ausgelastet sind: Was passiert dann? Das erläutert Franz Jürgen Schell, Sprecher der Asklepios Kliniken, für die Kinderklinik in Langenhorn: "Sollte ein Kind, das lebensbedrohlich erkrankt ist, bei uns vorstellig werden, werden wir alles in die Wege leiten, um für die akute Behandlung eine Kapazität zu schaffen." Der stellvertretende Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am UKE, Prof. Dr. Jun Oh, bestätigt auf ZEIT-Anfrage: "Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit dem RS-Virus im Kinder-UKE ist derzeit sichergestellt." In den vergangenen Wochen wurden jedoch auch wiederholt kranke Kinder in andere Kliniken verlegt, sagt eine Sprecherin des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift. Das klappe oft gut und innerhalb Hamburgs. "Manchmal müssen wir auf Kliniken im Umfeld ausweichen", sagt die Sprecherin. Dies sei etwa am Freitag, 25. November, der Fall gewesen, da "abends kein Hamburger Kinderkrankenhaus mehr einen Platz für ein krankes Kind hatte". Im Wilhelmstift seien in den vergangenen zwei Monaten bis zu acht Kinder verlegt worden, teilt die Sprecherin mit. Auf Anfrage der ZEIT bestätigte etwa das Sana Hanse-Klinikum Wismar, dass es bereits Kinder aus Hamburg aufgenommen hat. Auch im UKE ist die Verlegung von RSV-Patientinnen und -Patienten gängige Praxis, wenn auch nur "in kleinerem Umfang", sagt eine Sprecherin, zumeist an Krankenhäuser der Grundversorgung. Die Begründung: Das Universitätsklinikum benötige seine Behandlungskapazitäten für Kinder und Jugendliche "mit seltenen und schwerwiegenden Erkrankungen oder organtransplantierte Kinder und Jugendliche".
Tom Kroll
Auch in Hamburg sind derzeit viele Babys und Kleinkinder am RS-Virus erkrankt. Können die Kliniken der Stadt noch alle versorgen? Die wichtigsten Fragen und Antworten
[ "Gesundheit", "Virus", "Kinder", "Krankenhaus", "Pandemie" ]
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2022-12-05T20:34:45+01:00
2022-12-05T20:34:45+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-12/hamburg-rs-virus-kinder-erkrankungen-krankenhaeuser?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Olaf Scholz: Jetzt mal mit Gefühl
Dass Olaf Scholz ein Technokrat ohne Gefühle sei, wie es seine Gegnerinnen und Gegner gern behaupten, ist natürlich eine fiese Unterstellung. Er zeigt sie halt nur ungern. Auch, weil er findet, dass Politik eine ernste Angelegenheit ist. Doch wer genau hinsah, konnte am Donnerstag doch eine ganze Menge Gefühle erkennen, als der Kanzlerkandidat der SPD einen Tag mit Journalisten durch seine Heimatstadt Hamburg fuhr: Stolz. Rührung. Lodernde Wut. Sogar eine Prise Romantik. Und Heiterkeit, vor allem die. Scholz ist richtig gut drauf in diesen Wochen. Früher lachte er öffentlich kaum, schon weil ihm sein eigenes Lachen auf Fotos selten gefiel. An diesem Tag lächelt und lacht er ständig, erzählt zwischendurch Anekdoten. Er hat sich lockerer gemacht als früher, vermutlich auch, weil es gerade gut läuft für ihn. Seine SPD steigt in den Umfragen langsam, aber kontinuierlich, wenn auch von einem sehr niedrigen Niveau aus. Bei 19 Prozent liegt die Partei jetzt, fast gleichauf mit den Grünen. Womöglich geht sein jahrelang gehegter Plan ja doch noch auf. Der lautet grob: Im Endspurt überholt die SPD die Grünen noch, auch weil Scholz ein seriöser Kandidat mit der längsten Regierungserfahrung ist. Und dann wählt ihn ein rot-gelb-grünes Ampelbündnis zum Kanzler, weil die CDU sich mal in der Opposition erholen müsse. Vor ein paar Wochen haben viele darüber gelacht. Jetzt lächelt Scholz. Diese Reise soll natürlich zeigen, wie wunderbar er in Hamburg regiert hat. Deshalb muss sie auch in einem Hinterhof in Harburg beginnen, einem für Hamburger Verhältnisse benachteiligten Stadtteil. Hier steht das, was Scholz "mein Baby" nennt und was in Wahrheit den Namen Jugendberufsagentur trägt. "Das ist eine der wichtigsten Innovationen, die wir in Hamburg zustande gebracht haben", sagt der 63-Jährige. In dem Harburger Bürogebäude tun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Behörden alles dafür, dass nach der Schule "keiner verloren geht", wie einer sagt. Als Scholz 2011 Bürgermeister wurde, gingen in Hamburg wie im Rest der Republik ziemlich viele Jugendliche verloren. Sie verließen die Schule mit einem einfachen oder mittleren Schulabschluss, kamen aber nie in einer Berufsschule an. Wo sie geblieben waren, wusste niemand. Jetzt telefonieren ihnen die Mitarbeiter aus dem Harburger Haus hinterher, fragen regelmäßig nach, was man denn nun vorhabe und ob man dabei helfen könne. Freundliche Belagerung nennen sie das. Statt fast 2.000 Verschollenen im Jahr gibt es jetzt nur noch rund zehn. Dann erzählt Melissa davon, wie sie vor wenigen Jahren plötzlich zu Hause rausgeschmissen wurde. Wie die Menschen bei der Jugendberufsagentur ihr halfen, erst mal eine Krisenwohnung zu finden und Arbeitslosengeld II zu beantragen. Wie sie sie dann dabei begleiteten, ihr Abitur zu machen und jetzt eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau. Scholz hört zu, lächelt stolz. Dann sagt er: "Das bewegt mich sehr." Dass hier alle Behörden zusammenarbeiten und die richtigen Ansprechpartner immer nur ein paar Türen weiter sitzen, sei ein Modell für ganz Deutschland.
Marc Widmann
Sieben Jahre lang war Olaf Scholz Bürgermeister in Hamburg. Nun kehrte der Kanzlerkandidat zurück, um zu zeigen, wie gut er regieren kann. Er ist kaum wiederzuerkennen.
[ "Olaf Scholz", "Uwe Braun", "Jonas Walzberg", "Hamburg", "Harburg", "SPD", "CDU", "Kanzlerkandidat", "Stahl", "Bundestagswahlkampf" ]
hamburg
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2021-08-13T17:26:54+02:00
2021-08-13T17:26:54+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2021-08/olaf-scholz-spd-wahlkampf-tour-kanzlerkandidatur-hamburg?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Lkw-Unfälle mit Radfahrern: "Rechtsabbiegen ist eine der stressigsten Situationen"
Im Hamburger Stadtteil Stellingen ist Mitte März ein 48-jähriger Radfahrer gestorben, nachdem er von einem rechts abbiegenden Lastwagen überrollt wurde. Jedes Jahr sterben im Schnitt 28 Radfahrer in Deutschland, weil Lkw-Fahrer sie beim Abbiegen übersehen. In trauriger Regelmäßigkeit enden diese Szenen tödlich. Erst vor einem Monat starb in Berlin eine Radfahrerin, vor zehn Monaten wurde eine junge Mutter in Hamburg tödlich verletzt. Brenzlige Situationen mit Lastwagen aus Radfahrersicht kennen viele – wir haben einen Lkw-Fahrer gefragt, wie sich der moderne Stadtverkehr anfühlt. Er arbeitet für ein Hamburger Speditionsunternehmen und möchte anonym bleiben. Trauer und Entsetzen, Mitleid mit den Angehörigen. Das fühle ich, wenn ich höre, dass schon wieder ein Radfahrer tödlich verunglückt ist, weil er von einem rechts abbiegenden Lkw erwischt wurde – so wie gerade in Hamburg. Mein zweiter Gedanke gilt dem beteiligten Lkw-Fahrer: Junge, was ist da nur passiert? Hast du auch alles richtig gemacht? Die Seitenspiegel korrekt eingestellt, vorm Abbiegen mehrmals nach links und rechts geschaut? Und wie geht es dir jetzt damit? Ich finde es wichtig, immer beide Seiten zu betrachten. Das ist etwas, was mir in der öffentlichen Debatte nach einem solchen Verkehrsunglück oft fehlt: Ja, vermutlich hat der Lkw-Fahrer Schuld. Er wird diese Schuld sein Leben lang mit sich tragen. Doch um zu begreifen, wie es überhaupt zu diesen gefährlichen Szenen kommt und wie sich diese vermeiden ließen, muss man sich auch einmal in die Fahrer hineinversetzen. Für mich ist das Rechtsabbiegen eine der stressigsten Situationen im Straßenverkehr. Neulich war ich wieder auf einer viel befahrenen Straße in Hamburg unterwegs, bei leichter Dämmerung. Vor mir eine Kreuzung. Ich fahre langsam an, der Blinker rechts ist gesetzt, die Straße rechts neben mir ist frei. Ich schaue, ob links neben mir Pkw stehen, denn so ein Lastwagen schert beim Abbiegen sehr weit mit dem Heck aus, der Abstand sollte also nicht zu klein sein. Sieht alles gut aus, denke ich noch, schaue instinktiv aber wieder und wieder nach rechts, obwohl da gar nichts ist­ – zumindest sehe ich nichts. Doch dann, die Ampel schaltet auf Grün, schießt ein Radfahrer an mir vorbei nach vorn. Blitzschnell. Ich bin wie gelähmt. Hätte ich nicht so lange gewartet, hätte ich ihn womöglich umgefahren. Die Technik, die Unfälle vermeidet, kommt spät So etwas geht mir sehr nahe, ich muss mich dann erst einmal sammeln. Der Radfahrer befand sich im toten Winkel. Von meinem Fahrersitz aus konnte ich ihn nicht sehen, auch durch den Spiegel nicht. Gerade in Ballungsräumen, in Großstädten mit viel Radverkehr, erlebe ich solche Szenen sehr oft. Ich selbst habe dabei zum Glück noch keinen Unfall gebaut. Aber natürlich wird man mit jedem Unglück, das durch die Medien geht, angespannter und noch vorsichtiger, das Kopfkino schaltet sich dann sofort an. Je größer dein Fahrzeug, umso mehr Verantwortung trägst du. Du musst dich in die Perspektive anderer Verkehrsteilnehmer hineinversetzen, für sie mitdenken. Die Autos, die Radfahrer, die Fußgänger – du musst sie alle im Blick haben, das gehört einfach dazu. Doch einem Lastwagen sind auch Grenzen gesetzt: Ein 40-Tonner braucht nun mal seine Zeit beim Anfahren, er muss weit ausholen beim Abbiegen, und vor allem kann der Fahrer nicht mal eben aus dem Führerhaus steigen, um den toten Winkel einzusehen. Die Spedition, bei der ich arbeite, war das erste Hamburger Unternehmen, das auf Abbiegeassistenten gesetzt hat. Unsere Flotte umfasst 40 Lkw, 17 haben einen Abbiegeassistenten. Drei Lkw haben wir nachgerüstet, die restlichen hatten bereits ein fest verbautes System von Mercedes Benz. Wir werden jetzt nach und nach alle Lkw nachrüsten, gerade testen wir noch einzelne Systeme dafür. Warum das nicht schon viel früher passiert ist?
Annika Lasarzik
Immer wieder sterben Radfahrer, weil Lkw sie beim Abbiegen überrollen. Ein Lkw-Fahrer erzählt, wie er gefährliche Situationen auf der Straße erlebt.
[ "Verkehr", "Radfahrer", "Unfall", "LKW", "Fahrrad" ]
hamburg
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2019-03-21T13:19:05+01:00
2019-03-21T13:19:05+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-03/lkw-unfaelle-radfahrer-abbiegeassistent-toter-winkel-schuld?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Europa spricht: Hier spricht ganz Europa über die Pandemie
Read the English version of this article here. Was war das bisher für ein seltsames Jahr in Europa. Einerseits waren wir uns so nahe wie noch nie. Ob in Helsinki, Paris, Warschau oder Berlin: In allen Ländern erlebten die Bürgerinnen und Bürger fast zur gleichen Zeit, wie die Pandemie den Alltag veränderte. Fast jeder Europäer und jede Europäerin kennt heute jemanden, der das Corona-Virus hatte, viele haben Angehörige und Freunde an die Krankheit verloren. Fast jeder weiß, wie Social Distancing Beziehungen beeinflusst, wie Schulschließungen den Familienalltag erschweren . Und doch hat uns diese Pandemie auch entfremdet. Die wichtigen, teilweise kontroversen Entscheidungen zur Corona-Bekämpfung fielen auf nationaler Ebene, nicht in Brüssel. Und wegen der Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen sind wir abgeschottet wie lange nicht mehr. Selbst während der Sommerferien konnten wir uns oftmals nicht besuchen, um über das neue Leben in einer globalen Pandemie zu sprechen. Wann, wenn nicht jetzt, müsste Europa mit sich ins Gespräch kommen? Deshalb hat ZEIT ONLINE gemeinsam mit Medienpartnern aus 15 Ländern Europa spricht entworfen – eine Plattform, auf der sich politisch Andersdenkende aus ganz Europa zum virtuellen Vieraugengespräch treffen können. Seit Anfang Oktober finden Sie auf den Seiten von ZEIT ONLINE und den europäischen Partnermedien eine kleine Box. Darin stellen wir den Leserinnen und Lesern sieben möglichst kontroverse Ja-/Nein-Fragen, die derzeit in den meisten Ländern Europas – zum Teil hitzig – debattiert werden: Sollte der Schutz der Menschen vor dem Coronavirus immer an erster Stelle stehen, selbst wenn die Wirtschaft darunter leidet? Sollte in Europa eine Maskenpflicht an allen öffentlichen Orte gelten? Sollten europäische Städte autofrei sein? Mehr als 16.000 Menschen aus mehr als 30 Ländern haben sich bereits registriert. Wenn Sie die sieben Fragen beantworten und sich anschließend anmelden, wird sie der Europa-spricht-Algorithmus mit einem anderen Europäer zusammenzubringen, der über diese Fragen ganz anders denkt. Im November stellen wir Ihnen dann Ihre Gesprächspartnerin oder Ihren Partner vor. Sobald Sie beide dem Gespräch zugestimmt haben, können Sie per E-Mail Kontakt zueinander aufnehmen und sich für den 13. Dezember um 15 Uhr zu einem Videogespräch verabreden. Bei der Wahl der Plattform machen wir Ihnen gerne ein paar Vorschläge. Weil Europa spricht zeitgleich in vielen Ländern Europas stattfindet, kann es sein, dass Sie sich mit ihrem Gegenüber auf Englisch verständigen müssen. Wenn alles nach Plan läuft, werden sich Mitte Dezember einander bislang unbekannte Franzosen und Italienerinnen, Griechen und Slowakinnen, Deutsche und Schweden zum Zwiegespräch treffen. Viele werden vielleicht zum ersten Mal die Gelegenheit haben, nicht nur im eigenen Land, sondern auch über Grenzen hinweg über die Frage unserer Zeit zu debattieren: Wie wollen wir auf Dauer mit und in der Pandemie leben? Und wie könnte eine europäische Antwort auf diese Krise aussehen? Europa spricht basiert auf einem ZEIT-ONLINE-Projekt, das vor drei Jahren entstand: Deutschland spricht , eine Plattform, die politisch Andersdenkende in Eins-zu-Eins-Gespräche verwickelt. Aus der einstmals kleinen Idee ist mittlerweile die internationale Plattform entstanden, die in immer mehr Ländern der Welt zum Einsatz kommt: in Dänemark, Österreich, den Niederlanden, Italien oder Großbritannien. Mehr als 100.000 Menschen weltweit haben mittlerweile ein politisches Eins-zu-Eins-Gespräch geführt – allein in diesem Jahr meldeten sich mehr als 6.000 Menschen für Deutschland spricht an. Für Europa spricht haben wir bereits im vergangenen Jahr den Algorithmus so verändert, dass auch grenzüberschreitende Gespräche möglich sind. Mehr als 16.000 Menschen aus 33 Ländern meldeten sich 2019 an, um mit einer anderen Europäerin über striktere Grenzkontrollen, Klimaschutz oder Einwanderungspolitik in Europa zu debattieren. Tausende reisten damals zu Ihrem Gesprächspartner oder ihrer Gesprächspartnerin, rund 500 trafen sich bei einer Auftaktveranstaltung in Brüssel. Joanna Popiołek etwa, eine Universitätsangestellte aus Danzig in Polen, reiste mehr als 1.000 Kilometer, um sich mit Christoph zu treffen, einem Kundenbetreuer aus Deutschland. Beide hatten sich noch nie zuvor gesehen. Während Europa spricht redeten sie fast einen Tag lang über Migrationspolitik und das Verhältnis der EU zu Russland. Der Brite Tom Ross und der Deutsche Nils Nehring waren ebenfalls Fremde, bevor sie sich trafen. Weil beide Fußball lieben, wählten sie als Austragungsort jenes historische Spielfeld in Cambridge, auf dem die modernen Fußballregeln erfunden wurden. Sie stritten, vor allem über den Brexit, und berichteten anschließend, die Debatte sei "herrlich" gewesen. Die allermeisten Teilnehmer hingegen unterhielten sich schon damals per Videogespräch – was uns zuversichtlich stimmt, dass wir auch in Corona-Zeiten kontroverse und interessante Gespräche initiieren können. Damit die Tausenden Gespräche in diesem Jahr möglich werden, kooperiert ZEIT ONLINE mit einem großen Netzwerk an europäischen Medien: bTV Media group in Bulgarien, Calea Europeana in Rumänien, Delfi in Lettland, de Volkskrant in den Niederlanden, Der Standard in Österreich, Efimerida Ton Syntakton in Griechenland, Expresso in Portugal , France24 in Frankreich , Gazeta Wyborcza in Polen , HotNews in Rumänien , Kapital in der Slowakei , La Repubblica in Italien , LRT.lt in Lithauen , Mirror in Großbritannien , Phoenix in Deutschland , Politiken in Dänemark , Republik in der Schweiz . All diese Medien werden ihren Leserinnen und Lesern in den kommenden Wochen die gleichen sieben Fragen stellen, in der Hoffnung, ihnen interessante Partner und Partnerinnen aus ganz Europa vermitteln zu können. Mehr Austausch und Streit in Europa ist immer wichtig – zumal es bis heute an einer gemeinsamen Öffentlichkeit mangelt. In der Pandemie aber ist der Streit um den richtigen Weg wichtiger denn je. Er wird darüber entscheiden, wie Europa durch diese Pandemie kommt und wie das Leben in Europa langfristig aussehen wird. Werden Sie Teil dieser Debatte – und melden Sie sich an! Beantworten Sie dafür einfach die Fragen in der kleinen Box, die Sie in diesem Artikel finden.
Sara Cooper
Kontaktverbote und Maskenpflicht: In ganz Europa verändert Corona den Alltag. Wollen Sie mit einem anderen Europäer darüber debattieren? Wir stellen Ihnen jemanden vor.
[ "Europa", "Paris", "Helsinki", "Warschau", "Berlin", "Brüssel", "Dänemark", "Österreich", "Niederlande", "Italien" ]
gesellschaft
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2020-11-17T11:41:55+01:00
2020-11-17T11:41:55+01:00
https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-10/europa-spricht-2020-corona-pandemie-politik-wirtschaft-reisen?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Hamburg-Podcast "Elbvertiefung": Das Ende des Elends
Zwar gilt Hamburg als reiche Stadt. Wer aber durch die Mönckebergstraße in der Innenstadt läuft, durch das Schanzenviertel oder die Große Bergstraße in Altona, dem zeigen sich Bilder des Elends: Rund 2.000 Menschen leben in Hamburg auf der Straße, schätzt die Sozialbehörde, die Sozialverbände gehen von einer mindestens doppelt so hohen Zahl aus – mit steigender Tendenz. In der aktuellen Folge des Podcasts Elbvertiefung spricht Hamburg-Ressortleiter Florian Zinnecker mit ZEIT-Redakteurin Annika Lasarzik über die Ursachen der zunehmenden Obdachlosigkeit – und über die Frage, was langfristig und nachhaltig dagegen hilft. Der Hamburger Senat hat angekündigt, das Problem dauerhaft lösen zu wollen und bis 2030 die Obdachlosigkeit in der Stadt abzuschaffen. "Das ist sehr selbstbewusst formuliert", sagt Annika Lasarzik im Podcast. Denn eine wirksame Strategie habe die Stadt bislang nicht. Projekte wie " Housing first " gingen zwar in die richtige Richtung, scheiterten letztlich aber an einem altbekannten Hamburger Problem: dem Wohnungsmangel. Im Hamburg-Podcast sprechen Florian Zinnecker und Annika Lasarzik darüber, wie nah der Senat der geplanten Abschaffung der Obdachlosigkeit bis heute gekommen ist, ob das Ziel überhaupt realistisch ist und wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Außerdem sprechen sie darüber, warum die Obdachlosen in der Innenstadt größtenteils männlich sind, das Problem aber nicht nur Männer betrifft, welche Maßnahmen den Menschen auf der Straße auch kurzfristig und gerade im Winter helfen könnte und warum unseriöse Jobangebote an Menschen aus Osteuropa die Lage nicht unbedingt verbessern. Alle bisher erschienenen Folgen des Podcasts können Sie hier hören. Für Lob, Kritik und Anmerkungen schreiben Sie uns eine E-Mail an [email protected]
Florian Zinnecker
Bis zu 4.000 Menschen leben in Hamburg auf der Straße, auch jetzt im Winter. Der Senat will Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen. Was muss geschehen, damit das klappt?
[ "Hamburg", "Obdachlosigkeit", "Hamburger Senat", "Soziale Ungleichheit", "Armut", "Winter" ]
hamburg
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2024-01-20T06:00:03+01:00
2024-01-20T06:00:03+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2024-01/obdachlosigkeit-wohnungsmangel-hamburg-podcast-elbvertiefung?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Rolling-Stones-Ticketaffäre: Größter politischer Skandal in Hamburg seit Jahren
Es geht um den größten politischen Skandal in Hamburg seit vielen Jahren: Spitzenbeamte der Stadt, viele mit Parteibuch der regierenden SPD, sollen sich im Herbst 2017 zu Sonderbedingungen teure Eintrittskarten für ein Konzert der Rolling Stones verschafft haben. Womöglich haben sie zu diesem Zweck den Veranstalter unter Druck gesetzt, der auf die behördliche Genehmigung seines Konzerts angewiesen war. Nun hat die Hamburger Staatsanwaltschaft die nächste Anklage erhoben. Yvonne Nische, Sozialdemokratin und bis vor Kurzem designierte Leiterin des Bezirksamts Nord, wird beschuldigt, selbst Karten angenommen und zugelassen zu haben, dass einige ihrer Untergebenen es ebenfalls taten. Die ZEIT hatte vergangenes Jahr über den Vorgang berichtet. "Als Mitarbeiterin eines (anderen) Bezirksamtes kann ich nicht glauben, was ich da gelesen habe", schrieb hinterher eine Beamtin aus einer vergleichsweise niedrigen Besoldungsstufe in einem Leserbrief. "Jedes Jahr muss auch ich die 'Bekanntmachung über die Annahme von Belohnungen und Geschenken' abzeichnen" – eine Selbstverständlichkeit, wie die ZEIT-Leserin meinte. "Nun weiß ich, dass es eben keine Selbstverständlichkeiten sind – zumindest nicht für Führungskräfte." Unter Laien gehen die Ansichten auseinander, die Rechtslage ist allerdings ziemlich klar: Beamte dürfen allenfalls kleinste symbolische Zeichen der Anerkennungen annehmen, und das auch nur mit ausdrücklicher Genehmigung ihrer Vorgesetzten. "Die selbstlose, uneigennützige und auf keinen persönlichen Vorteil bedachte Führung der Dienstgeschäfte ist eine der wesentlichen Grundlagen eines am Wohl aller Bürgerinnen und Bürger ausgerichteten öffentlichen Dienstes", heißt es in der maßgeblichen Dienstvorschrift. Schon der Anschein möglicher Korruption muss sorgfältig vermieden werden. Im vergangenen Oktober war bereits die Gesundheitsstaatsrätin Elke Badde (SPD) in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden, nachdem gegen sie Anklage erhoben worden war. Ermittlungen laufen auch gegen den damaligen Bezirksamtsleiter sowie zwei andere Staatsräte. Weitere sechs Ermittlungsverfahren wurden gegen führende Mitarbeiter städtischer Unternehmen eingeleitet, wie aus einer Senatsantwort auf eine Anfrage der FDP-Bürgerschaftsfraktion hervorgeht. Eines der Verfahren wurde gegen eine Geldauflage von 2000 Euro eingestellt. Die Beschuldigten haben sich bisher zu den Vorwürfen nicht öffentlich geäußert. Vor allem dieser Umstand macht die Strafverfahren spannend, die nun anstehen: Was haben sich all diese erfahrenen Beamtinnen und Beamten bei ihrem Vorgehen gedacht? Endlich wird man es erfahren. Ein Insider der Konzertbranche hatte zu dem Vorgang eine klare Meinung: Es gehe um eine Petitesse, aber "irgendein Linker oder Grüner" müsse die Hamburger Beamten verpfiffen haben, sicherlich aus Neid: weil er selbst nicht bedacht worden sei. Yvonne Nische war im vergangenen Frühjahr zur Bezirkschefin gewählt worden, ihre Berufung war wegen der Ermittlungen aber ausgesetzt worden. Erst in der vergangenen Woche hatte sie ihren Rückzug von dem Posten bekanntgegeben. Dies ist ein Artikel aus dem Ressort ZEIT:Hamburg. Hier finden Sie weitere News aus und über Hamburg .
Frank Drieschner
Spitzenbeamte verschafften sich Karten für ein Konzert der Rolling Stones. Nun wurde Anklage gegen eine Frau erhoben, die eigentlich für Höheres vorgesehen war
[ "Korruption", "SPD", "Anklage", "Stadtpark" ]
hamburg
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2019-01-23T17:18:35+01:00
2019-01-23T17:18:35+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-01/rolling-stones-ticketaffaere-bezirksamtsleiterin-yvonne-nische?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
NS-Zeit: Was sein Leben stärker beeinflusste als die Nazis
Der Krieg ist verloren, aber noch lange nicht vorbei, als Wilhelm Simonsohn im Zug nach Wien sitzt. Es ist erst ein paar Monate her, dass der junge Pilot der Luftwaffe, 25 Jahre alt, sein Flugzeug in eine Baracke steuerte. Der Aufprall zertrümmerte sein Schultergelenk, fluguntauglich für Monate. Um seine Wunden zu heilen, gewährt ihm die Wehrmacht vier Wochen Kur. Im Jahr 1944 braucht Nazideutschland jeden Mann. In Hannover steigt eine junge Frau zu. In der Uniform des Reichsarbeitsdienstes fällt sie ihm erst nicht weiter auf: Ihre Füße stecken in klobigen Wanderschuhen, ihr Körper ist in einen bodenlangen Mantel aus grauem Tweed gehüllt, auf ihrem Kopf ruht ein schwarzer Hut. Er hievt ihren Koffer in das Gepäcknetz, sie bietet ihm einen roten Apfel an. Sie stellt sich als Elisabeth Mantow vor und nimmt ihren Hut ab, braune Locken fallen ihr ins Gesicht. Simonsohn lächelt. Fragt man Wilhelm Simonsohn 75 Jahre später im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld danach, was die wichtigste Erinnerung seines Lebens ist, erzählt er von diesem Moment. Er tut es so detailreich, als hätte sich das Treffen erst gestern ereignet, als hätte er Elisabeth Mantow gerade erst kennengelernt, ihre braunen Locken gerade das erste Mal gesehen. "Ich hatte oft Glück in meinem Leben, aber sie war mein größtes", sagt er. Er sitzt in seiner Wohnung, drei Zimmer, erster Stock, ein Rollator lehnt im Erdgeschoss, einer im Wohnzimmer. Der Fernseher direkt neben ihm. Bis eben lief noch eine NDR-Reportage, mit ihm als Protagonisten: Die Lufthansa-Technik in Hamburg-Fuhlsbüttel hatte ihn Anfang des Jahres die Tante Ju besteigen lassen, ein historisches Flugzeug, Baujahr 1932. Das letzte Mal hatte er darin im Zweiten Weltkrieg gesessen, als Flugschüler. Wilhelm Simonsohn ist einer der letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs. In Hamburg starb sein jüdischer Adoptivvater im Jahr 1938 an den Folgen eines KZ-Aufenthalts, in Warschau roch er 1939 die Leichen auf den Straßen, über Belgien schoss ihn 1943 ein englischer Kapitän ab. Wann immer sich die Bundesrepublik Deutschland ihrer schlimmsten Jahre erinnert, ist Wilhelm Simonsohn, der am 9. September 1919 von einer mittellosen Frau in Hamburg-Altona geboren wurde, ein gefragter Mann. Hamburger Lehrer laden ihn regelmäßig in ihren Unterricht ein. Journalisten regionaler und überregionaler Medien befragen ihn, wenn ein Jubiläum ansteht: Auschwitz-Befreiung im Januar, Hamburger Sturmflut im Februar, Überfall auf Polen im September. Simonsohn will nicht, "dass so eine Scheiße noch mal passiert" Am 29. Juli bekam er im Hamburger Rathaus das Bundesverdienstkreuz überreicht. "Im Alter von fast 100 Jahren setzt sich Herr Simonsohn unermüdlich für Demokratie und gegen Krieg, Unrecht und Gewalt ein", heißt es in der Begründung. Wilhelm Simonsohn erzählt von Erinnerungen, die manchen als die letzte Waffe gegen jene erscheinen, die über die Nazizeit sagen, sie sei nur ein "Vogelschiss in der gesamtdeutschen Geschichte" gewesen. Er will nicht, "dass so eine Scheiße noch mal passiert", wie er sagt. Doch wer ihm länger zuhört, merkt nach einer Weile, dass da neben all dem Leid des Krieges noch eine andere Geschichte gehört werden möchte. Eine, die immer wieder ausbricht, weil sie sein Leben weit mehr geformt hat als die Nazizeit. Es ist die Geschichte über jene Frau, die er damals im Zug kennenlernte. Er erzählt sie so: Der Zug rollt in Würzburg ein. Simonsohn muss dort aussteigen, um seinen Anschluss nach Wien zu erreichen. Er hat den Bahnsteig schon fast verlassen, da ruft die junge Frau ihm durch das heruntergeschobene Fenster hinterher: "Herr Soldat, Sie haben Ihre Braut vergessen!" Sie meint seine Maschinenpistole, die oben noch im Gepäcknetz steckt. Er dreht sich um, rennt zurück, und bleibt im Zug. Gemeinsam fahren sie nach Salzburg, wo er drei Tage mit ihr verbringt. So viel Zeit ist noch, bis die Luftwaffe ihn in Wien erwarten. Als er geht, versprechen sie sich, Briefe zu schreiben, zu telefonieren, wenn es geht. Er nennt Elisabeth nun Liesel, sie ist seine Freundin. Es dauert kein Jahr, die Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 ist nur noch ein paar Tage entfernt, als Simonsohn auf Liesel vor seinem Flugzeug in der Morgendämmerung wartet. Sie steigen in den Fieseler Storch ein, nur kurz können sie hoch, die Amerikaner beherrschen den Luftraum. Sie fliegen eine halbe Stunde, dann landet Simonsohn in der Nähe eines abseits gelegenen Bauernhofes.
Katharina Meyer zu Eppendorf
Wilhelm Simonsohn ist 99 Jahre alt, gerade wurde er geehrt, weil er an Schulen unermüdlich über das Grauen des Krieges aufklärt. Noch mehr aber prägte ihn eine Liebe.
[ "Nationalsozialismus", "Zweiter Weltkrieg", "Auschwitz", "Wilhelm Simonsohn", "Wehrmacht", "Bundesverdienstkreuz", "Zeitzeugnis" ]
hamburg
Article
2019-07-30T19:11:55+02:00
2019-07-30T19:11:55+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2019-07/ns-zeit-zeitzeuge-wilhelm-simonsohn-zweiter-weltkrieg?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f{mid}
Fußball-Weltmeisterschaft 2006: Beckenbauer wehrt sich gegen Vorwürfe
Die Anwälte von Franz Beckenbauer haben die Zahlung von 5,5 Millionen Euro im Zuge der Organisation der WM 2006 verteidigt. Es sei eine falsche Behauptung, dass Beckenbauer das Geld für die Weltmeisterschaft oder ein Ehrenamt erhalten habe, heißt es in einer Mitteilung der Juristen. Beckenbauer habe die Einnahmen aus seinen werblichen Aktivitäten für den von ihm damals geworbenen nationalen WM-Sponsor zudem "unverzüglich an seinem Wohnsitz in Österreich ordnungsgemäß versteuert". Die Anwälte reagierten damit auf einen Bericht des Spiegel , wonach Beckenbauer die Summe offenbar zunächst nicht melden wollte. Der DFB hatte dem Magazin bestätigt, dass die 5,5 Millionen Euro von Beckenbauer erst vier Jahre nach der Auszahlung versteuert wurden. Laut Beckenbauers Anwälten handelte es sich um eine Abzugssteuer, die nach einer Betriebsprüfung 2010 vom DFB gezahlt wurde. Diese werde fällig, wenn "Zahlungen an einen Steuerausländer geleistet werden". Beckenbauer habe das Geld nach Kenntnis der Betriebsprüfung unverzüglich erstattet. Die Juristen reagierten auch auf die von DFB-Präsident Reinhard Grindel geäußerte Kritik. Die Behauptung, dass Beckenbauer die Öffentlichkeit getäuscht habe, treffe nicht zu. Grindel hatte dem Organisationskomitee unter Verweis auf den Bericht vorgeworfen, "dass dort keine Transparenz geherrscht und die Öffentlichkeit in Teilen auch getäuscht worden ist." Laut Spiegel wurde der Deal, der die Zahlung an Beckenbauer möglich machte, bereits 2008 in einem Report der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG benannt. Demnach wurde in dem Bericht ein Sponsorenvertrag erwähnt, der 2004 zwischen dem DFB und dem Sportwettenanbieter Oddset geschlossen wurde. Oddset wurde damit einer von sechs nationalen Förderern für die Fußball-Wweltmeisterschaft 2006. Jeder der Förderer habe damals mehr als zwölf Millionen Euro an das Organisationskomitee gezahlt, berichtete der Spiegel . Im Falle Oddset habe es aber laut KPMG-Bericht noch einen sogenannten Sideletter zugunsten von Franz Beckenbauer gegeben. Dieser habe geregelt, dass Beckenbauer von den Millionen einen erheblichen Teil abbekommen sollte.
ZEIT ONLINE
Über seine Anwälte hat Franz Beckenbauer mitteilen lassen, dass bei der WM 2006 alles mit rechten Dingen zuging. An ihn geleistete Zahlungen habe er korrekt versteuert.
[ "Franz Beckenbauer", "Andreas Gebert", "Reinhard Grindel", "FC Bayern München", "DFB", "Fußball-WM" ]
sport
Article
2016-09-14T15:06:22+02:00
2016-09-14T15:06:22+02:00
https://www.zeit.de/sport/2016-09/fussball-weltmeisterschaft-2006-franz-beckenbauer-anwaelte-verteidigung?utm_content=zeitde_redpost+_link_sf&utm_campaign=ref&utm_source=twitter_zonaudev_int&utm_medium=sm&wt_zmc=sm.int.zonaudev.twitter.ref.zeitde.redpost.link.sf
Empfehlung der Ständigen Impfkommission: Heißt das jetzt impfen oder nicht?
Viele Eltern und Ärztinnen mögen sich ein klares Votum der Ständigen Impfkommission (Stiko) gewünscht haben. Das gab es aber nicht. Kindern mit Vorerkrankungen empfiehlt die Stiko, sich gegen das Coronavirus immunisieren zu lassen . Zudem denjenigen, die Kontakt mit Menschen haben, die schwer an Covid-19 erkranken könnten. Alle anderen können nur auf "individuellen Wunsch" der Eltern und nach ärztlicher Aufklärung geimpft werden. Eine generelle Empfehlung für Kinder zwischen fünf und elf Jahren will die Stiko explizit nicht abgeben. Antworten auf die wichtigsten Fragen. Kann ich mein Kind nächste Woche nun impfen lassen oder nicht? Ja, denn die Europäische Arzneimittel-Agentur (Ema) hat den Impfstoff von BioNTech/Pfizer bereits am 25. November für Kinder zwischen fünf und elf Jahren zugelassen. Das ging schneller, als viele dachten. In der Folge war der Impfstoff in der Dosierung für Kinder in der EU noch nicht lieferbar. Zwar wäre es theoretisch möglich gewesen, den Impfstoff für Erwachsene zu nehmen – der ist der gleiche wie für Kinder, nur höher konzentriert dosiert. Das allerdings war von der Zulassung nicht gedeckt und wäre eine sogenannte Off-Label-Impfung gewesen, die nur sehr wenige Ärzte anbieten. Der Hersteller BioNTech hat nun aber kurzfristig die ursprünglich für den 20. Dezember versprochene Lieferung der Dosierung für Kinder eine Woche vorgezogen. Ab Montag ist er verfügbar. Nun kommt die Einschränkung: Sie müssen einen Termin bekommen. Und das könnte durch die Entscheidung der Stiko eher schwerer als leichter werden. Denn viele Ärztinnen werden Kinder nicht einfach so impfen, schließlich sagt die Stiko: nur bei Vorerkrankung oder wenn andere im unmittelbaren eigenen Umfeld gefährdet sind. "Wir befürworten keine flächendeckende Impfkampagne für Kinder zwischen fünf und elf Jahren – etwa an Schulen", sagt Jakob Maske, Kinderarzt in Berlin und Sprecher des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte (BVKJ), im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Dafür müsse die Stiko den Impfstoff erst generell empfehlen. Maske sagt, es bestünde keinerlei medizinischer Druck, gesunde Kinder unter elf Jahren generell schnell zu impfen. Dafür sei die Krankheitslast zu niedrig. Er schätzt deshalb, dass ein Großteil der Ärzte Kinder vorerst sehr zurückhaltend impfen wird. Heißt die zurückhaltende Stiko-Äußerung, dass eine Impfung für mein Kind riskant wäre? Ganz klar: Nein. Die Zurückhaltung der Stiko hat gewissermaßen Tradition – und ist wissenschaftlich begründet. Es geht bei einer Impfung eben immer um eine Abwägung zwischen dem Risiko und dem Nutzen. Und die Stiko sieht bei Kindern von fünf bis elf Jahren "nur ein geringes Risiko für eine schwere Covid-19-Erkrankung, Hospitalisierung und Intensivbehandlung". Stiko-Mitglied Christian Bogdan, Direktor des Instituts für Klinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene am Universitätsklinikum Erlangen, drückte es im November gegenüber ZEIT ONLINE so aus: "Die nackte klinische Realität ist, dass die Kinderintensivstationen gerade wegen des RS-Virus voll sind, nicht wegen Sars-CoV-2-Infektionen." Gleichzeitig, so die Stiko heute, könne das Risiko seltener Nebenwirkungen aufgrund der eingeschränkten Datenlage derzeit nicht eingeschätzt werden. Die Rede ist hier von Entzündungen am Herzen, entweder in Form einer Herzbeutel- oder einer Herzmuskelentzündung – Myokarditis und Perikarditis genannt. Schon seit Längerem ist bekannt, dass mRNA-Impfstoffe die Krankheit hervorrufen können. Sie kann eigentlich sehr gut behandelt werden, wird ebenfalls durch zahlreiche Krankheitserreger verursacht und verläuft in den meisten Fällen ohne Symptome. Die Hersteller Moderna und BioNTech/Pfizer machten gemeinsam mit der Ema und dem Paul-Ehrlich-Institut bereits im Juli auf das Risiko aufmerksam, nachdem in Europa 145 Fälle einer Myokarditis bei mehr als 190 Millionen verabreichten Impfdosen registriert worden waren. Schweden, Finnland und Frankreich verabreichen daher den mRNA-Impfstoff von Moderna nicht mehr an Menschen unter 30 Jahren, Gleiches empfiehlt die Stiko auch für Deutschland . Noch ist unklar, ob und wie oft derartige Entzündungen bei Kindern zwischen fünf und elf Jahren vorkommen. Die Nebenwirkung ist so selten, dass in der klinischen Studie zur Zulassung des Impfstoffs (siehe Grafik) unter rund 1.500 Geimpften kein einziger Fall aufgetreten ist. Die Stiko wartet deshalb, bis andere Länder wie die USA etwas über die Häufigkeit sagen können. Stand 9. Dezember haben in den USA mehr als fünf Millionen Kinder zwischen fünf und elf Jahren mindestens eine Dosis BioNTech bekommen. Tritt ein Verdacht auf Nebenwirkungen auf, wird der in einem zentralen System erfasst, wie in der EU sowie in Deutschland. Auch wenn einer der bekanntesten Kardiologen der USA, Eric Topol, Anfang Dezember twitterte , noch sei ihm kein Fall von Myokarditis bei Kindern aufgrund der Impfung bekannt: Systematisch ausgewertet sind die Daten aus der Impfstoffüberwachung in den USA eben noch nicht. Die US-Seuchenschutzbehörde CDC vermutet zwar, dass Fünf- bis Elfjährige seltener von den Herzentzündungen betroffen sind als ältere Jugendliche, weil die Erkrankung bei den Jüngeren auch sonst deutlich seltener vorkommt. Wahrscheinlich sind hormonelle Veränderungen in der Pubertät speziell bei Jungen ein Risikofaktor. Sicher ist das aber nicht – deshalb ist die Stiko in Deutschland noch zurückhaltend. Wichtig ist: Die Herzentzündungen durch Impfungen verlaufen offenbar deutlich milder als durch andere Krankheiten hervorgerufen. Die meisten Jugendlichen zwischen zwölf und 17 mit dieser extrem seltenen Form von Nebenwirkung sind in den USA nach einem Tag wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Vor allem kann auch eine Corona-Infektion Herzmuskelentzündungen auslösen – und zwar deutlich wahrscheinlicher als eine Impfung. Aber geht es nicht einigen nach der Impfung erst mal schlecht? Richtig, aber das sind Impfreaktionen, keine Nebenwirkungen – nicht verwechseln. Impfreaktionen sind normal und bis zu einem gewissen Grad erwünscht. Sie zeugen davon, dass sich das Immunsystem auf den Krankheitserreger einstellt. Im Falle des mRNA-Impfstoffs von BioNTech bauen körpereigene Zellen Teile des Spikeproteins des Coronavirus nach, eines kleinen Teils an der Oberfläche des Erregers. Die Körperzellen präsentieren dem Immunsystem das fremdartige Protein, auf das sich Antikörper und Immunzellen anschließend spezialisieren. So funktioniert im Prinzip jede Immunreaktion und dabei kann man sich auch mal schlecht fühlen: Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen, Kopfweh, in seltenen Fällen trifft es einige auch länger. Jeder kennt mittlerweile die Geschichten aus dem Freundeskreis: Einige spüren den Impfstoff fast nicht, andere sind ein paar Tage ausgeknockt. So kann es auch Kindern gehen. Wie häufig diese Impfreaktion vorkommen, lässt sich an der Zulassungsstudie gut abschätzen (siehe Grafik). Muss ich Angst vor Langzeitfolgen haben? Bei der Frage gehen oft mehrere Dinge durcheinander. Impfungen können lang anhaltende Folgen haben, die Symptome treten aber sehr zeitnah auf – also Tage, maximal Wochen nach der Impfdosis. Dass sich erst in ein paar Jahren plötzlich Nebenwirkungen auftun, die bisher niemand bemerkt hat, ist so unplausibel , dass Warnungen davor am ehesten Panikmache sind. Dem gegenüber steht, dass eine Infektion mit dem Coronavirus selbst theoretisch Langzeitfolgen bei Kindern hervorrufen könnte. Das ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, lehrt die Geschichte anderer Viren. Eltern, die sich Sorgen vor sogenannten Langzeitfolgen machen, sind also womöglich gut beraten, ihre Kinder impfen zu lassen. Hat die Stiko auch die Gefahr von Long Covid berücksichtigt? Dazu steht in der aktuellen, eher knappen Mitteilung nichts. Mit Long Covid sind lang anhaltende, manchmal monatelange Symptome gemeint wie Kopfschmerzen, Müdigkeit oder anderes nach einer Corona-Infektion. Das würde für eine Impfung sprechen. Wie oft Long Covid bei Kindern vorkommt, dazu gibt es sehr widersprüchliche Zahlen. Noch Anfang des Jahres ergaben Studien aus England, dass fünf bis zehn Prozent der infizierten Kinder betroffen sein könnten. Unter Fachleuten gilt das heute als deutlich zu hoch, weil die Studien nicht unterschieden, ob die Beschwerden schlicht auf psychische Belastungen durch die Lockdowns zurückzuführen waren oder durch das Virus selbst. Das Universitätsklinikum Jena richtete als eines der ersten Häuser in Deutschland eine Ambulanz speziell für Kinder ein, die unter Long Covid leiden. Daniel Vilser, leitender Oberarzt, hatte bisher 30 bis 40 Fälle unterschiedlicher Grade bei Kindern zwischen fünf und elf Jahren. Er schätzt mittlerweile, dass rund ein Prozent aller infizierten Kinder an der einen oder anderen Form von Long Covid leidet – eine Zahl, die auch viele Kollegen für realistisch halten, sagt er. Nur der kleinste Teil davon wiederum leide auch unter wirklich schweren Folgen wie einer langen Fatigue, also chronischer Müdigkeit. Was ist über die Wirkung der neuen Corona-Variante Omikron auf Kinder bekannt? Erst seit wenigen Wochen weiß man, dass sich in zahlreichen Ländern eine neue Variante des Coronavirus verbreitet, die erstmals in Südafrika entdeckt wurde: Omikron. Angesichts seiner ungewöhnlich hohen Zahl an Mutationen und vereinzelter Berichte aus Südafrika kursierte das Gerücht, Omikron könnte junge Menschen besonders betreffen. Anlass waren unter anderem Berichte aus südafrikanischen Krankenhäusern, denen zufolge zunehmend infizierte Kinder behandelt wurden. Viele dieser Kinder waren allerdings wegen anderer Leiden in Behandlung. Außerdem ist bisher nicht bekannt, ob jene mit einem schweren Krankheitsverlauf tatsächlich mit der Variante infiziert waren. Die erhöhte Anzahl der Fälle deute vor allem darauf hin, dass sich Omikron derzeit extrem schnell in der Bevölkerung verbreite, erklärten Fachleute der New York Times . Darüber hinaus müssen Forschende nun genau beobachten, wie krank Omikron im Vergleich zu anderen Varianten macht. Genaues weiß man bisher nicht. Wird sich die Stiko nochmals klarer zu einer Kinderimpfung äußern? Ja, das wird sie, sobald weitere Daten vorliegen, schreibt die Kommission. Das könnte sich bis in den Januar ziehen. Ob es dann eine generelle Empfehlung gibt, ist deshalb noch völlig offen. Bei den Zwölf- bis 17-Jährigen jedenfalls folgte auf ein Jein am Ende doch noch ein Ja der Stiko für eine generelle Impfung.
Ingo Arzt
Die Stiko empfiehlt kranken Kindern zwischen fünf und elf Jahren die Corona-Impfung. Der Rest bekommt sie auf individuellen Wunsch. Was Eltern jetzt wissen müssen
[ "Johanna Schoener", "STIKO", "Pfizer", "BioNTech", "EMA", "EU", "Impfung", "Nebenwirkung", "Impfstoff", "Corona-Impfung" ]
gesundheit
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2021-12-09T20:11:29+01:00
2021-12-09T20:11:29+01:00
https://www.zeit.de/gesundheit/2021-12/stiko-empfehlung-corona-impfung-kinder?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Artenschutz: Mehr als ein Viertel der Insektenarten gefährdet
Mehr als ein Viertel der Insektenarten in Deutschland ist in ihrem Bestand gefährdet. Von insgesamt knapp 6.750 neu bewerteten Arten sind 26,2 Prozent gefährdet, wie aus der neuen Roten Liste des Bundesamts für Naturschutz (BfN) hervorgeht Trotz Erfolgen durch Naturschutzmaßnahmen bleibt laut BfN insbesondere bei den gewässergebundenen Arten der Anteil bestandsgefährdeter Insektenarten hoch. So sind 46,4 Prozent der Stein- und 40,5 Prozent der Eintagsfliegen im Bestand gefährdet. Arten dieser Gruppen bewohnen Binnengewässer und bevorzugen insbesondere naturnahe Gewässer und Uferbereiche. Zu den Käfergruppen mit besonders vielen bestandsgefährdeten Arten zählen Blattkäfer, Rüsselkäfer und Blatthornkäfer. Vor allem die Nutzungsänderung und der Verlust naturnaher Lebensräume führt den Angaben zufolge dazu, dass die Bestände dieser Arten zurückgehen. "Der hohe Anteil bestandsgefährdeter Arten unter den aquatischen Insekten zeigt dringenden Handlungsbedarf", sagte BfN-Präsidentin Sabine Riewenherm. Trotz der verbesserten Wasserqualität in den vergangenen 25 Jahren hätten sich viele Bestände noch nicht vollständig erholen können. Um die besonders gefährdeten wassergebundenen Insektenarten wie Libellen , Steinfliegen und Eintagsfliegen und ihre Lebensräume besser zu schützen, müsse unter anderem die Belastung der Gewässer weiter verringert werden. Landwirtschaft soll umweltfreundlicher werden, fordert der WWF "Das Insektensterben geht ungebrochen weiter", sagte Peter Weißhuhn, Experte für Insektenschutz bei der Umweltorganisation WWF Deutschland. Dabei seien die Gründe längst bekannt – Habitatverlust durch intensive Landwirtschaft, Flächenversiegelung, die Belastung des Bodens und der Gewässer mit Agrarchemikalien, die Auswirkungen der Klimakrise, invasive Arten und Lichtverschmutzung. Der Rückgang der Insektenbestände könne nur gestoppt werden, " wenn die Landwirtschaft als größter Flächennutzer in Deutschland insektenfreundlich wirtschaftet ". Dazu sei die Unterstützung der Politik gefragt. Rote Listen beschreiben die Gefährdung der verschiedenen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten und sind damit eine Art Inventur der Artenvielfalt. Sie werden etwa alle zehn Jahre vom BfN herausgegeben. Am neuen Band haben rund 130 ehrenamtliche Fachleute mitgearbeitet.
Manuel Bogner
Bei einigen Insektenarten nehmen die Bestände zu, die Rückgänge überwiegen jedoch deutlich. Das geht aus der neuen Roten Liste des Bundesamts für Naturschutz hervor.
[ "Artenschutz", "Artensterben", "Insekt", "Naturschutz", "Umweltschutz", "WWF", "Artenvielfalt", "Bundesamt für Naturschutz" ]
wissen
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2022-03-16T13:27:02+01:00
2022-03-16T13:27:02+01:00
https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2022-03/artenschutz-rote-liste-umwelt-insekten?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Geflüchtete aus der Ukraine: Nach dem Krieg kommt die Kälte
Unterkühlte Kinder, sorgende Mütter, frierende Alte im eisigen Wind. Manche von ihnen sind schon nachts gekommen, als das Thermometer unter null fiel. Als es hell ist, stehen dicht gedrängt einige Hundert Menschen vor dem Bürokomplex im Hamburger Stadtteil Wandsbek. Hier, im zentralen Ausländeramt, hat die Stadt eine Registrierungsstelle für die ukrainischen Flüchtlinge eingerichtet. Es gibt eine Plastikabsperrung vor dem Zugang, wie bei einer Straßenbaustelle. Sonst ist nichts vorbereitet. Das ist das Bild, das sich der Regisseurin Julia Hölscher bietet, als sie am vergangenen Mittwoch, den 9. März, die Theaterprobe ausfallen lässt und mit einer Gruppe von Schauspielstudierenden vor der Anlaufstelle für Flüchtige eintrifft. Ein Student hatte im Internet von einer Menschenmenge gelesen, die sich vor dem Amtsgebäude angesammelt haben sollte. Fünf oder sechs Nachbarn haben etwas zu trinken gebracht, Stühle aus ihren Wohnungen geholt, damit sich die Alten einen Moment setzen können. Zum Glück ist eine Baustelle in der Nähe. Auf der steht ein Dixi-Klo. Für die Studierenden ist klar: Hier muss etwas passieren! Sie rufen Freunde an, sammeln Geld über PayPal und rennen in die umliegenden Läden. In ihren Einkaufswagen liegen Windeln, Kindernahrung, Wurst, Brot, Käse, Wasser, Saft. Sie fahren zu Ikea, kaufen Decken, Decken, noch mehr Decken. Die Frauen wickeln ihre Kinder darin ein, wickeln die Großmütter ein, hüllen sich selbst in die Decken. Sie stehen ab mittags im kalten Schatten des Gebäudes. Wer sich wegbewegt, verliert vielleicht den Platz in der Schlange. Mütter und Großmütter wechseln sich beim Anstehen ab. Passanten stecken den jungen Helfern Geld zu, eine Frau drückt Julia Hölscher im Vorbeigehen 120 Euro in die Hand. Neben einer Erstaufnahmestelle in Hamburger Rahlstedt befindet sich hier in der Hammer Straße die einzige Registrierungsstelle für die ukrainischen Flüchtlinge, die die Senatsverwaltung eingerichtet hat. Hier sollen sich diejenigen melden, die schon eine, zumeist private, Unterkunft gefunden haben. Drei Monate werden den Flüchtlingen dafür eingeräumt. Doch erst mit der Registrierung bekommen sie auch etwas Geld und eine Krankenversicherung. Mit ukrainischen Hrywnja können die Menschen nichts kaufen, Banken wechseln ihre Geldscheine nicht ein. Einige von ihnen müssen zum Arzt und brauchen deshalb die Versicherung. Vor allem aber geht die Angst unter Flüchtlingen um, sie dürften ohne Anmeldung nicht in Hamburg bleiben, wo sie doch jetzt schon einen Platz gefunden haben. Das ist ein Gerücht, Folge ungenügender Information oder Verunsicherung nach der bisherigen Fluchterfahrung. Einige der Menschen suchen auch noch ein Bett, ein Sofa, eine Isomatte. Sie fragen die Studierenden. An dieser Adresse sind sie falsch, aber woher sollen Flüchtlinge das wissen, wenn sie nicht über den Hauptbahnhof gekommen sind, wo freiwillige Helfer des Arbeiter-Samariter-Bundes die Flüchtlinge empfangen und einweisen. Ab 14 Uhr ist das Amt geschlossen. Die Behördennummern für den Tag sind alle vergeben. Hunderte dieser Nummern werden täglich ausgegeben, die den abzuarbeitenden Amtsvorgang einleiten, mal für eine Person, mal für eine ganze Familie. Nachmittags erscheint ein Mitarbeiter des Malteser-Hilfsdienstes. Er kündigt für den nächsten Tag ein Catering durch seine Organisation an. Die Helferin Julia Hölscher denkt: "Dann brauchen wir morgen wenigstens dafür nicht mehr zu sorgen". Die Studierenden wollen mit Luftballons und bunter Kreide wiederkommen und mit den Kindern spielen. Als die bunte Schauspieltruppe am nächsten Tag wiederkommt, sieht es vor dem Amtsgebäude aus wie am Tag vorher. Frierende Kinder, frierende Mütter, frierende Alte und andere Frierende in langer Schlange vor der Behörde. Die Malteser sind mit einem Zelt und Getränken angerückt. "Eine Versorgung darüber hinaus (Lebensmittel et cetera) war nicht Teil unseres Einsatzauftrags", heißt es später aus der Hamburger Zentrale auf Anfrage. Wieder kaufen die Studierenden ein. Einer beschwert sich im Amt: Warum werden keine Dixi-Klos geordert? Die Studierenden haben eine WhatsApp-Gruppe ins Leben gerufen, Freunde und weitere Nachbarn sind dazu gekommen, sie haben Fahrer von Linienbussen angesprochen. Statt im Depot wollen diese in der Nacht einen Bus vor dem Amt abstellen. Andere Freiwillige kommen über einen Kontakt zu den Helfenden der Arbeitersamariter dazu, die bereits am Bahnhof die Flüchtlinge in Empfang nehmen. Inzwischen sind 170 Helfer dabei. Abläufe, Einteilungen, Schichtpläne, Nachfragen und immer neue Ideen, alles läuft über die WhatsApp-Gruppe: "Mache Waffeln mit Schoko", "brauchen noch Windeln" oder auch "Nika, Anna und ich organisieren Brot und sprechen lokale Bäckereien an. Morgen um 5-6 Uhr sind die Mädels vor Ort." Anna ist die jüngste, 14 Jahre und immer wieder in dieser Frühschicht. Ihre Eltern kommen aus Russland. "Wer hat den Hut auf?", fragt einer. Antwort: "Ist eine tagesaktuelle Angelegenheit." Das ist der Konsens. Jeder in der Gruppe ist auch Administrator. Angestoßen durch sieben Schauspielstudierende ist eine Gemeinschaft aus bis dahin einander zumeist Unbekannten entstanden, die demokratisch aus sich selbst organisiert für viele Stunden, frühmorgens, mittags, abends und auch nachts mit den Flüchtlingen dem eisigen Wind trotzt. Handschuhe werden gebraucht, Mützen, weitere Riesenstapel warmer Decken. "Wir haben auch in der Nähe alles leergekauft", sagt Julia Hölscher. Anruf bei Hanseatic-Help in Altona. Warme Kleidung? Holt sie Euch einfach ab! Zusammen mit den Maltesern basteln die Helfenden Bauchläden für Getränke und Snacks. "Praktisch", sagt die Schauspielerin Julia Nachtmann, "viele wollen den Platz in der Schlange nicht aufgeben." Und die Luftballons? Die Kreide? "Es war so schön, wenn die Kinder strahlen", sagt Julia Hölscher, "die Eltern strahlten dann auch." Die Kinder bemalen das Pflaster, sie malen ukrainische Flaggen und Raketen.
Kuno Kruse
Vor dem Amt für Migration in Hamburg warten seit einer Woche Flüchtlinge aus der Ukraine auf ihre Registrierung, manche nächtelang. Die Chronik der Überforderung
[ "Markus Scholz", "Julia Hölscher", "Christian Charisius", "Marcus Brandt", "Hamburg", "Hammer Straße", "Wandsbek", "Rahlstedt", "Charkiw", "PayPal" ]
hamburg
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2022-03-15T15:44:57+01:00
2022-03-15T15:44:57+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-03/gefluechtete-ukraine-hamburg-krieg?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Maskenpflicht an Hamburger Schulen: Den Überblick verloren
Am Sonntag, zwischen Marmeladebrötchen und Rührei, kam ich mir wie eine richtig schlechte Mutter vor. "Morgen müssen wir am Platz keine Masken mehr tragen!", sagte meine Tochter, breites Lächeln unter einem Bärtchen aus Milch. "Endlich, endlich, ich freu mich so." Und ich sagte, während sich ein Brötchen in meinem Hals in einen dicken Kloß verwandelte: "Ach Süße, das tut mir so leid, aber ich wollte dich bitten, sie aufzubehalten. Du weißt doch, wie es ist, überall die blöden Viren. Und genau dort ist es ja am gefährlichsten." Liebe Maskengegner und Maskengegnerinnen, Glückwunsch zu diesem Erfolg: Wegen eines simplen Stückchen Stoffs schreien Sie alle so laut, dass es der Schulsenator offenbar für Volkes Stimme hält. Und wir anderen, die inzwischen im Schlaf aufsagen können, was Aerosole sind und wo man sie findet, können wieder sehen, wie wir mit unserem Wissen in die irrationale Welt der behördlich verfügten Hygieneregeln passen. Will ich verantwortungsvoll und faktenorientiert handeln, also wie eine gute Mutter, muss ich eine schlechte Mutter sein. Ich muss meine Tochter traurig machen. Sie ist jetzt das wunderliche Anderskind ihrer Klasse. Und warum? Weil wieder mal Corona-Regeln nichts mit Corona-Wissen zu tun haben. Nein, nur weil man sitzt, hören die Viren nicht auf, ansteckend zu sein, wirklich nicht, nicht einmal, wenn man ganz fest daran glaubt. Sogar Gesundheitsminister Karl Lauterbach, nicht nur vom Fach, sondern auch von der FDP gezwungener Mitverursacher der neuen Spielräume, riet am Wochenende im Deutschlandfunk: "Bitte lassen Sie Ihre Masken derzeit noch auf, vor allem in geschlossenen Räumen." Und Klassenzimmer sind genau das: geschlossen. Orte, an denen viele Menschen lange zusammen dieselbe Luft atmen. Wo, wenn nicht hier, wären Masken geboten? Sie sind die einfachsten und wirksamsten Mittel gegen Übertragungen, FFP2-Masken senken das Ansteckungsrisiko um bis zu 80 Prozent, und die Inzidenz unter den Kindern, die liegt in Hamburg immer noch im mittleren vierstelligen Bereich. Ja, auch wenn ab und zu Fenster geöffnet werden oder Luftreiniger surren, ist das Risiko an keinem anderen Ort der Schule so hoch wie in der Klasse. Lauterbach erklärt in dem Interview auch, warum: Angesichts der Evolution von Sars-CoV-2 sind die Lüftungskonzepte nicht mehr up to date. Die beiden Omikron-Varianten sind viel ansteckender als die Vorgänger, also reichern sie sich viel schneller zu infektiösen Konzentrationen in der Raumluft an. Eigentlich sollte man sich darauf verlassen können, dass Schulen Wahrheiten, kein Wunschdenken vermitteln. Wenn es gar keine Maßnahmen mehr in der Schule gäbe, wäre es leichter zu ertragen, weil darin wenigstens konsequent. Stattdessen aber gibt es jetzt dieses Sammelsurium von So-tun-als-ob-Regeln: In der Klasse kommen die Masken ab. Sie sollen aber fest auf der Nase sitzen, sobald die Kinder durchs Schultor kommen, also draußen vor dem Gebäude, wo sich Aerosole in Bruchteilen von Sekunden verflüchtigen. In der Klasse kommen die Masken ab, aber Kuchen für Geburtstage, der ist weiterhin tabu, zu gefährlich, lieber Tütchen mit billigem, ungesundem Zuckerzeugs, das den Insulinspiegel durch die Decke jagt. Ja, die Masken in der Klasse kommen ab! Nein, natürlich dürfen Sie Ihr Kind nicht zur Klasse bringen. Nein, dass Sie eine FFP2-Maske tragen, das spielt dabei keine Rolle. Und es gibt sogar noch eine zweite Hochrisikosituation, in der man sich an den Schulen jetzt wieder ganz frei fühlen darf: beim gemeinsamen Singen. Ja genau, jene gesellige Veranstaltung, durch die der Begriff "Superspreading" Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch fand. Bin ich die Einzige, die angesichts dieses "vernünftigen und behutsamen Wegs", wie Ties Rabe das nennt, am liebsten sofort eine Melkerei für eine Herde Mäuse eröffnen würde?
Nike Heinen
In den Hamburger Klassenzimmern fällt die Maskenpflicht, auf den Gängen bleibt sie. Schulsenator Ties Rabe nennt das "vorsichtige Öffnung". Aber es ist totaler Quatsch.
[ "Schule", "Maskenpflicht", "Coronavirus", "Omikron", "Corona-Maßnahmen", "Karl Lauterbach", "Ties Rabe", "Hamburg" ]
hamburg
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2022-04-05T20:28:03+02:00
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https://www.zeit.de/hamburg/2022-04/maskenpflicht-hamburg-schule-ties-rabe?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Silencer im Nachtleben: "Im schlimmsten Fall spreche ich ein Hausverbot aus"
In der Reihe " Was wären wir ohne euch " stellen wir Menschen vor, die erstaunlichen Berufen nachgehen. Dorin Popa sorgt als Silencer vor Münchner Bars dafür, dass sich die Nachbarn nicht von zu lauten Gästen gestört fühlen. Dieser Artikel ist Teil der ZEIT am Wochenende , Ausgabe 39/2022. ZEIT ONLINE: Herr Popa, was unterscheidet einen Silencer von einem Türsteher? Dorin Popa: Der Silencer ist eine Münchner Sonderform des Türstehers. Sie ist 2010 entstanden, als in Bayern das Rauchverbot per Volksentscheid durchgesetzt wurde. Seitdem dürfen die Leute in der Gastronomie nicht mehr drinnen rauchen. Sie müssen dafür vor die Tür. Dabei unterhalten sie sich natürlich gerne mal laut. Als Silencer regele ich nicht, wer reindarf und wer nicht. Ich sorge davor für eine angemessene Lautstärke. Weil sich sonst die Nachbarn beschweren könnten. Hinzu kommt, dass es in Bayern ein ganzes Gewächs an Vorschriften gibt. Die gilt es einzuhalten. ZEIT ONLINE: Um was für Vorschriften handelt es sich? Popa: Etwa 80 Prozent der Münchner Bars befinden sich in Wohngegenden. Sie müssen ab zehn Uhr abends eine angemessene Lautstärke einhalten. Kein Singen, kein Grölen und bitte nicht anstoßen. Das Geräusch, das entsteht, wenn Glas auf Glas trifft, dringt sehr weit durch! Ab elf Uhr darf unter der Woche außerdem draußen nichts mehr konsumiert werden. Von April bis September ist es am Wochenende immerhin bis Mitternacht erlaubt. Ich bitte die Leute um Ruhe und sorge dafür, dass sie ihre Getränke drinnen stehen lassen. ZEIT ONLINE: Ein ziemlicher Spaßbremsenjob. Was reizt Sie daran, ihn dreimal die Woche neben Ihrer Arbeit als Redakteur bei einer Münchner Tageszeitung auszuüben? Popa: Ich arbeite einfach gerne nachts. Ich mag das Zusammenspiel aus Lichtern, Musik und Gesprächsfetzen. Ich mag, wie Leute nachts über ihre Grenzen gehen und Dinge machen, die sie sich in ihrem Alltag nicht zutrauen würden. ZEIT ONLINE: Wie sind Sie zum Silencer geworden? Popa: Ich war gerne Gast und kannte daher viele Türsteher. Einer bat mich, eine Schicht zu übernehmen, damit er einen Abend mit seiner Freundin verbringen konnte. So bin ich reingerutscht. Als ich meine Mutter pflegen musste, wurde eine regelmäßige Arbeit draus. Ein Nine-to-five-Job war in dieser Zeit nicht möglich. Irgendwann wurde ich auch als Silencer gebucht. ZEIT ONLINE: Welche Folgen hat es denn für eine Bar, wenn Gäste zu später Stunde zu laut sind oder draußen trinken? Popa: Das sind Ordnungswidrigkeiten, die bußgeldbewehrt sind. Wenn jemand nach Mitternacht mit einem Glas rausgeht und ein Nachbar oder eine Zivilstreife fotografiert das, kostet es die Bar beim ersten Mal 500 Euro. Im Wiederholungsfall sind es 5.000 Euro. Schlimmstenfalls kann es die Konzession kosten. ZEIT ONLINE: Wie viel Verständnis haben Sie für Nachbarinnen und Nachbarn, die sich wegen Lärmbelästigung beschweren? Popa: Vollstes. Man sollte generell rücksichtsvoll miteinander umgehen. Bei jemandem, der sich beschwert, heißt es oft: "Ja, warum zieht der denn auch mitten in die Stadt? Ist doch klar, dass es hier laut ist!" So einfach ist das aber nicht. Es gibt Leute, die schon in einem Viertel gewohnt haben, bevor es zur Partygegend wurde. Außerdem haben auch Neuzugezogene das Recht, nachts gut schlafen zu können. Natürlich gibt es trotzdem auch Anwohner, die überreagieren. ZEIT ONLINE: Inwiefern? Popa: Über dem Salon Irkutsk zum Beispiel wohnen welche, die einen Eimer kaltes Wasser auf die Gäste schütten, wenn es ihrer Meinung nach zu laut ist. Im Sommer vielleicht eine nette Erfrischung, im Winter nah an der Körperverletzung. Und es gibt welche, die sofort die Polizei rufen. Die Polizei hat wichtigere Aufgaben. Ich gebe so vielen Anwohnern wie möglich meine Handynummer, damit sie sich direkt an mich wenden. ZEIT ONLINE: Wie reagieren denn die Bargäste allgemein so auf Sie? Popa: Mein Job wäre in Berlin oder Hamburg vermutlich schwieriger. In München gibt es eine Türsteher-Kultur, von der ich profitiere. Sie hat ihre Ursprünge in den Siebzigern und Achtzigern. Die großen P1-Zeiten. Es war hier immer wichtig, den Türsteher zu kennen und zu respektieren. Man akzeptiert, dass er die Regeln macht. ZEIT ONLINE: Kommt es nicht auch mal zu Streit? Popa: Klar, kommt vor, dass sich Leute von mir schikaniert fühlen. Die schlimmste Zeit ist der Dezember, wenn die Weihnachtsfeiern stattfinden. Es kommen viele Leute in die Bars, die vorher schon irgendwo zusammen gegessen und getrunken haben. Unter Kollegen und Kolleginnen geht's immer darum, sein Gesicht zu wahren. Sie sehen die Gefahr, als schwach dazustehen, wenn sie meinen Anweisungen einfach so folgen würden, und gehen auf Konfrontation. ZEIT ONLINE: Wie gehen Sie mit solchen Situationen um? Popa : Im schlimmsten Fall spreche ich ein Hausverbot aus. So weit darf es aber gar nicht kommen. Eskaliert es, sind für mich nicht die Gäste schuld, sondern ich habe etwas falsch gemacht. Es ist meine Aufgabe, früh zu erkennen, wie sie drauf sind. Ich weise sie idealerweise schon auf ihre Lautstärke hin, wenn sie noch halbwegs nüchtern sind. Sind sie betrunken, sind sie nicht mehr formbar.
Johan Dehoust
Die besten Gespräche führt man draußen beim Rauchen? Nicht mit Dorin Popa. Als Silencer sorgt er vor Münchner Bars für Ruhe, damit sich die Nachbarschaft nicht beschwert.
[ "Dorin Popa", "Bayern", "ZEIT", "Hausverbot", "Volksentscheid", "Gastronomie", "München", "Nachtleben", "Nachbarschaft", "Polizei" ]
arbeit
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2022-09-24T12:29:51+02:00
2022-09-24T12:29:51+02:00
https://www.zeit.de/arbeit/2022-09/silencer-nachtleben-ruhe-club-bars?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Corona-Infektion bei Tieren: Kann mein Haustier mich anstecken?
Nicht nur Menschen können sich mit dem Coronavirus infizieren. Von Hauskatzen über Gorillas bis hin zu erkrankten Flusspferden häufen sich in den vergangenen Monaten die Berichte über Tiere, die positiv auf das Virus getestet wurden. In der Vergangenheit haben Infektionen bei Tieren bereits drastische Konsequenzen nach sich gezogen. Im Herbst 2020 wurden in Dänemark mehr als 17 Millionen Nerze auf Zuchtfarmen gekeult , weil sich das Virus unter den Mardern verbreitete. Zu Beginn dieses Jahres wurden in Hongkong etwa 2.000 Hamster eingeschläfert , nachdem die Besitzerin einer Tierhandlung und einige Tiere positiv auf das Virus getestet wurden. Was bedeutet das nun für infizierte Tiere in Zoo, freier Wildbahn oder zu Hause? Manch ein Tierbesitzer fragt sich vielleicht, ob der eigene Hund eingeschläfert werden muss. "Nein, das wäre eine ganz schlechte Idee", sagt Martin Beer, Veterinärvirologe und Leiter des Instituts für Virusdiagnostik des Friedrich-Loeffler-Instituts. Haustiere steckten sich in der Regel bei ihren Besitzern mit Corona an. Bisher gebe es keine bestätigten Fälle, in denen Menschen durch einen Haustierkontakt erkrankt sind. "Hund, Katze oder Zootier sind vielmehr die Opfer der Corona-Verbreitung unter uns Menschen." Die Spezialfälle Bei den Hamstern aus Hongkong und den dänischen Nerzen handele es sich um Spezialfälle, sagt Beer. Hongkong fährt eine No-Covid-Strategie. Da die Menschen durch die coronapositiven Hamster einer Infektionsquelle ausgesetzt waren, die es in der Region so eigentlich nicht gibt, wurden sehr harte Maßnahmen ergriffen. Zudem könne es hier eventuell tatsächlich zur Infektion von Menschen durch die importierten Hamster gekommen sein, sagt Beer. In Dänemark wurden nachweislich mehrere Personen beim Kontakt mit den Nerzen infiziert ( Frontiers in Microbiology: Fenollar et al., 2021 ). Außerdem handelte es sich hier um eine mutierte Version des Virus. Die Angst: Es könnte sich eine besonders gefährliche Variante entwickeln. Das bestätigte sich letztlich nicht ( Nature : Mallapaty, 2020 ). Dennoch ist genau eine solche Verbreitung des Virus in großen Tierpopulationen, sogenannten Tierreservoirs, eine potenzielle Gefahrenquelle für neue Ausbrüche. Warum Tierreservoirs in der Zukunft wichtig werden könnten Virusreservoirs können dann entstehen, wenn eine Tierart besonders empfänglich für eine Ansteckung mit dem Virus ist. Gleichzeitig muss es von dieser Art auch eine große Population geben und das Virus muss gut von einem Tier auf das andere übertragen werden können. Sind diese Bedingungen gegeben, kann das Virus über einen längeren Zeitraum in dieser Tierart zirkulieren. Eine Studie aus dem August 2019, noch vor dem ersten Ausbruch durch das neue Coronavirus Sars-CoV-2, beschreibt die Gefahr von Atemwegserkrankungen durch damals bekannte Coronaviren ( Internist: Corman et al., 2019 ). Dabei geht es auch darum, dass zwar seit 2004 keine Sars-1-Infektionen beim Menschen mehr bekannt sind, der Sars-Erreger aber weiterhin bei Tieren vorkommt und eine erneute Übertragung auf den Menschen denkbar wäre. Ein Vorteil in der aktuellen Covid-19-Pandemie ist, dass weltweit durch Impfungen und Erkrankungen viele Menschen inzwischen eine gute Immunabwehr gegen das Virus haben. Die schützt aber womöglich nicht gegen neue Varianten. Wenn das Virus für einen längeren Zeitraum in einem Tierreservoir zirkuliert, mutiert und dann wieder zurück auf den Menschen springt, könnte das einen Ausbruch mit einer potenziell gefährlicheren oder ansteckenderen Variante zur Folge haben. "Viren mutieren andauernd", sagt Jana Schroeder, Infektiologin und Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der Stiftung Mathias-Spital. Viele dieser Veränderungen bleiben unbemerkt. Die meisten Mutationen veränderten die Wirkung gar nicht oder seien ein Nachteil für das Virus und setzten sich überhaupt nicht durch, sagt Schroeder. "Nur in sehr seltenen Fällen entsteht bei einer Mutation eine Variante, die aus Sicht des Virus nützlich ist. Es ist ein bisschen so wie Lottospielen", erklärt Schroeder. "Das Virus in einer riesigen Nerzpopulation bedeutet auch: mehr Lottotickets und ein höheres Risiko für eine gefährliche Mutation." Forschende haben den Weißwedelhirsch im Blick Ernsthaften Grund zur Sorge gibt es laut Martin Beer bisher nicht. Das Virus verbreitet sich derzeit vor allem unter Menschen, und auch die meisten Mutationen entstehen beim Menschen, wobei sich tendenziell eher weniger gefährliche Varianten entwickeln, die oft schnell wieder verschwinden, weil sie evolutionär im Nachteil sind. Und auch mögliche Fälle, bei denen Tiere einen Menschen infizieren, seien keinesfalls mit den Anfängen der Pandemie und der allerersten Übertragung vermutlich von Fledermäusen, wahrscheinlich über einen Zwischenwirt, vergleichbar. "Derzeit gibt es auch keine Hinweise auf ein relevantes Reservoir – mit einer Ausnahme: Weißwedelhirsche." Der Weißwedelhirsch ist die am weitesten verbreitete Hirschart in Nordamerika, es gibt schätzungsweise 25 Millionen Tiere. Eine aktuelle Studie konnte bei 40 Prozent der Hirsche aus vier US-Bundesstaaten Antikörper gegen Corona nachweisen ( PNAS: Chandler et al., 2021 ). Laut einer weiteren Studie konnte das Virus zwischen Ende November 2020 und Januar 2021 bei einem Großteil der Proben von Hirschen aus Iowa in freier Wildbahn und menschlicher Haltung nachgewiesen werden ( PNAS: Kuchipudi et al., 2021 ). "Anscheinend hat das Virus hier schon sehr früh in der Pandemie einen Weg in die Population gefunden und die Daten sprechen dafür, dass es sich hervorragend ausgebreitet hat", sagt Martin Beer. Bisher gebe es jedoch keine Hinweise darauf, dass bei den Hirschen eine neue Variante entstanden sei. Selbst wenn das Virus in den Weißwedelhirschen irgendwann mutiert, muss das nicht unbedingt eine schlechte Entwicklung sein. Auf Dauer könnte sich das Virus so gut an den Hirsch anpassen, dass es für den Menschen gar nicht mehr so ansteckend ist und nicht mehr effizient zurück übertragen werden kann, so Beer. Wichtig sei es nur, die Virusevolution bei den Hirschen gut zu beobachten. Wie viele Tierarten können sich anstecken? Welche Tiere potenziell an Corona erkranken könnten, wird derzeit erforscht. Um in die Zelle zu gelangen, bindet das Coronavirus an ein Protein in der Zellmembran, den ACE2-Rezeptor. Eine aktuelle Studie vergleicht menschliche ACE2-Proteine mit den ACE2-Proteinen von Tieren. ( Proceedings of the Royal Society B : Fischhoff et al., 2021 ). Dafür haben die Forschenden die Sequenz von 299 ACE2-Rezeptoren von Wirbeltieren analysiert, darunter 142 Säugetiere. Ein Computer hat aus diesen Daten die Bindungswahrscheinlichkeit des Coronavirus an die ACE2-Rezeptoren von mehr als 5.000 Säugetieren berechnet. Je ähnlicher die Sequenz eines tierischen ACE2-Rezeptors dem menschlichen Rezeptor ist, desto leichter müsste sich das jeweilige Tier mit Corona anstecken.
Friederike Walch-Nasseri
Hunde, Katzen, Hamster: Auch Tiere können sich mit dem Corona-Virus infizieren. Was die Forschung über ihre Rolle in der Pandemie weiß
[ "Jakob Simmank", "Friedrich-Loeffler-Institut", "Siemens AG", "Omikron", "Haustier", "Mutation", "Pandemie", "Corona", "Tiere", "Coronavirus" ]
wissen
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2022-02-06T12:02:47+01:00
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https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2022-02/corona-infektion-tiere-haustiere-forschung?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
"Der goldene Handschuh": Horror mit Knackwurst
Fatih Akin macht jetzt Horror . Rechtzeitig zur 69. Berlinale hat der deutsche Regisseur den Bestseller Der goldene Handschuh von Heinz Strunk verfilmt. Das Buch erzählt die Geschichte des realen Frauenmörders Fritz Honka , der seine Opfer in den Siebzigerjahren auf dem Hamburger Kiez aufgabelte. Der Roman lebt von den bukowskischen Bewusstseinsströmen seiner Figuren: Prostituierten, Kriegsveteranen, Wirtschaftswunderverlierern, Obdachlosen. Die allermeisten von ihnen sind Alkoholiker und hängen den ganzen Tag in der Kneipe Zum Goldenen Handschuh herum – wie Honka. "Manche sitzen zwanzig, dreißig Stunden hier", heißt es im Roman. "Einmal hing einer zwei Tage und Nächte bewegungslos auf seinem Hocker, der war schon tot, wegen des Schichtwechsels hat aber keiner was gemerkt." Die Stelle hat Akin wörtlich in seinen Film übernommen wie überhaupt an vielen Stellen Dialoge der Vorlage. Es sind die besten Momente des Films. Die Menschen reden Hamburger Dialekt oder einen anderen, wenn das Leben sie aus ihrer Heimat nach St. Pauli verschlagen hat. Honka zum Beispiel kam aus Sachsen. 1951 ist er nach einem Selbstmordversuch aus der Ostzone geflohen und bald darauf in der Lüneburger Heide untergekommen bei einem Bauern, der es als erster Mensch gut mit ihm meinte. Doch das kleine Glück hielt nur zwei Jahre. Später hat ihn ein anderer Bauer so zugerichtet, dass Honka seine Zähne verlor und sein Gesicht deformiert blieb. Das steht alles im Roman. Fatih Akin hat sich dafür jedoch nicht interessiert. Er wollte nichts Biografisches, "keine Vergangenheit", sagt er im Interview nach der Filmvorführung. "Was weiß ich, warum der Honka so ist?" Seiner Ansicht nach war der Mann einfach "krank" und hatte "nicht mehr alle Tassen im Schrank". Also hat der Filmemacher alles Erklärende, Einordnende der Figur weggelassen. Zurück bleibt der blanke Horror. Noch abrupter als der Roman blendet Akin direkt in das grausige Geschehen um den ersten Mord, den Honka begeht. Aus aller Nähe und in aller Länge sehen wir, wie er sich abmüht, eine Frauenleiche in einen Plastiksack zu stopfen. Es klappt nicht. Obwohl Honka die Beine der Frau und ihren Leib zu einem Paket verschnürt. Also will er alles zersägen. Nach ein paar zusätzlichen Schlucken Schnaps fängt er an. "Es ist nicht so einfach, jemandem den Kopf abzuschneiden", sagt Akin. Ist es vermutlich tatsächlich nicht, und insofern sind das Geräusch und die Länge der Einstellung, in der Akin diesen Akt dann inszeniert, so was wie realitätsnah. Und jedenfalls nichts für schwache Nerven. Darauf einen Oldesloer Korn Akin liebt das Horrorgenre. Darüber sei er überhaupt erst zum Filmemachen gekommen, sagt er, "schon Kinder mögen diesen Horrorkram". Und der Serienmörder sei ja auch so eine populärkulturelle Figur. Vielleicht bewegt sich sein Hauptdarsteller Jonas Dassler deswegen wie einst Boris Karloff als Frankensteins Monster. Wobei Akin lieber Fassbinder als Referenz nennt, vor allem dessen Melodram Händler der vier Jahrezeiten von 1972. Wegen der präzisen Beobachtung der Zeit damals und der Ausleuchtung: viel Neonlicht, viel Zigarettenrauch. Die Tische im Goldenen Handschuh sind aus Resopal, die Vorhänge schwer und vom vielen Kippenqualm vergilbt, der Kaffee wird schwarz aus Tassen mit bunten Rändern getrunken, meist aber wird Oldesloer Korn gesoffen. Oder Fako, dann ist im Korn noch ein bisschen Fanta. Manchmal gibt's 'ne Knackwurst dazu. Akin hat ein unfehlbares Händchen dafür, dieses Milieu abzubilden; er erzählt auch gerne, dass er Zeitzeugen kennt, "Kiezleute", die sagen, genau so sei es gewesen. Reste dieser Szene existieren ja bis heute zwischen Hamburger Berg, Talstraße und Reeperbahn. Doch weil Akin seine Figuren jeder Geschichte beraubt hat, bleibt das Milieu vor allem Staffage, eine bis zum letzten Pin-up-Poster perfekte Kulisse für seinen Horrorfilm. Aus Geldmangel hätte Akin seine Romanverfilmung beinahe in die Jetztzeit verpflanzt, erzählt er. Heute sei den Leuten das Ende der DDR schließlich genauso präsent wie damals den Leuten das Ende des Zweiten Weltkriegs. Unterschicht gibt's immer. Mörder wie Honka auch. Schon möglich, dass der Film auf die gleiche Weise funktioniert hätte. Mit etwas weniger Schauwert. Dass der Film jetzt im Internationalen Wettbewerb der Berlinale läuft, ist für Akin sicherlich ein Glücksfall. Noch ist sein nächstes Projekt nicht ganz in trockenen Tüchern. Der Goldene Handschuh könnte da eine gute Empfehlung sein. Schließlich soll Akin eine Stephen-King-Vorlage verfilmen.
Wenke Husmann
Fatih Akin hat den Roman "Der goldene Handschuh" von Heinz Strunk verfilmt. Dass das Werk im Berlinale-Wettbewerb läuft, ist vor allem für den Regisseur ein Glücksfall.
[ "Fatih Akin", "Heinz Strunk", "Gerda Voss", "Jonas Dassler", "Fritz Honka", "Margarethe Tiesel", "Berlinale-Wettbewerb", "Berlinale", "Glücksfall", "Belletristik" ]
kultur
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2019-02-10T09:03:15+01:00
2019-02-10T09:03:15+01:00
https://www.zeit.de/kultur/film/2019-02/der-goldene-handschuh-fatih-akin-berlinale?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
USA : Plan zur Streichung von Studienschulden droht Scheitern vor Gericht
Das Vorhaben von US-Präsident Joe Biden zur Streichung von Studienschulden von rund 400 Milliarden US-Dollar könnte am obersten Gerichtshof des Landes scheitern. Die konservative Richtermehrheit am Supreme Court schien am Dienstag bei einer Anhörung der Auffassung zu sein, dass die Regierung mit der Maßnahme ihre Befugnisse überschritten hat. "Sollte der Kongress nicht überrascht sein, wenn eine halbe Billion Dollar aus den Büchern gestrichen wird?", fragte etwa der konservative Gerichtspräsident John Roberts. "Dieser Fall steht für äußerst wichtige Fragen zur Rolle des Kongresses." Der Kongress ist in den USA Herr über den Haushalt. Der ebenfalls konservative Verfassungsrichter Neil Gorsuch sagte, es gehe auch um eine Frage der "Fairness", zum Beispiel gegenüber Menschen, die ihre Schulden zurückgezahlt hätten und Menschen, die keine Schulden aufgenommen hätten. Biden hatte im vergangenen August angekündigt, Millionen von Menschen Studienschulden auf Bundesebene von jeweils bis zu 20.000 US-Dollar erlassen zu wollen. Die Regierung rechnet mit Kosten von rund 400 Milliarden US-Dollar (rund 378 Milliarden Euro). Die Regierung von Bidens Vorgänger Donald Trump hatte während der Corona-Pandemie die Rückzahlung von Studienschulden auf Eis gelegt. Sie berief sich dabei auf ein Gesetz aus dem Jahr 2003, das ein solches Vorgehen in "nationalen Notfällen" ermöglicht. Die Biden-Regierung argumentiert, das Gesetz erlaube auch eine Streichung von Studienschulden. Konservative Bundesstaaten zogen dagegen aber vor Gericht, der Fall landete schließlich vor dem Supreme Court. Die Biden-Regierung argumentierte bei der Anhörung am Dienstag, sie habe ihre Befugnisse nicht überschritten, sondern handle im Rahmen des Gesetzes von 2003. Von größter Bedeutung für 40 Millionen Menschen Biden selbst schrieb im Kurzbotschaftendienst Twitter, die Streichung der Studienschulden sei für 40 Millionen Menschen von größter Bedeutung, "während sie sich von der durch die Pandemie verursachten Wirtschaftskrise erholen". "Wir sind zuversichtlich, dass es rechtmäßig ist. Dafür kämpfen wir vor Gericht." Der Supreme Court, an dem konservative Richter eine klare Mehrheit haben, hat bis Ende Juni Zeit für ein Urteil. Rund 200 Demonstranten versammelten sich während der Anhörung vor dem Gerichtsgebäude und forderten eine Streichung der Studienschulden. "In Amerika sollte niemandem der finanzielle Ruin drohen, weil er eine verdammte Ausbildung will", sagte der linke Senator Bernie Sanders. Erziehung und Ausbildung von der Kita bis zur Universität sei ein Menschenrecht. Ein Hochschulstudium in den USA kann sehr teuer werden. Nach Angaben der US-Regierung haben derzeit 43 Millionen US-Bürger Studienschulden von 1,6 Billionen US-Dollar.
Katharina James
US-Präsident Joe Biden wollte den US-Bürgern die Rückzahlung von Studienkrediten zumindest teilweise erlassen. Der oberste Gerichtshof könnte das nun stoppen.
[ "Joe Biden", "USA", "Schulden", "Hochschule", "Geld", "US Supreme Court", "Supreme Court", "Studienschuld", "Studienkredit", "Oberster Gerichtshof" ]
politik
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2023-03-01T00:15:21+01:00
2023-03-01T00:15:21+01:00
https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-02/studienschulden-usa-joe-biden-supreme-court?wt_zmc=sm.int.zonaudev.twitter.ref.zeitde.redpost.link.x&utm_medium=sm&utm_source=twitter_zonaudev_int&utm_campaign=ref&utm_content=zeitde_redpost_link_x
Elbtower: Hier könnten 100.000 Vogelpaare nisten
Der Ort des Protestes war gut gewählt: Der Billhafen-Löschplatz in Rothenburgsort ist seit Langem ein Hotspot der Subkultur im Hamburger Osten. Immer wieder finden hier bei gutem Wetter spontane Raves statt, vor 20 Jahren war die kleine Landzunge der Picknickplatz der Künstlerinnen und Künstler vom Brandshofer Deich, die später das Gängeviertel besetzten. An diesem Samstag Anfang April erhebt sich der 100 Meter hohe Rohbau der Elbtower-Baustelle wie ein riesiges Bühnenbild über dem Billhafen-Löschplatz – die ideale Kulisse für die Aktion des Initiativenbündnisses AG Ost. Es ist bestes Frühlingswetter, aus den Lautsprechern ertönt der Ton-Steine-Scherben-Klassiker: "Halleluja, der Turm stürzt ein!" An die 300 Menschen sind gekommen, es gibt einen Stand mit Elbtower-Dosenwerfen, Menschen mit Bauhelmen tragen Schilder auf denen "Euer Ruin ist unser Gewinn" steht, oder "Power to the tower". "Wir wollen auf den Mangel von Räumen aufmerksam machen", sagte eine Sprecherin der AG Ost. In diesem Bündnis versammeln sich unterschiedliche Hamburger Initiativen aus Hammerbrook, Rothenburgsort, Grasbrook oder der Hafencity: Etwa Hallo e. V., die bis vor zwei Jahren im Kraftwerk Bille das Hallo-Festival veranstaltet hat, oder Mikropol e. V., die sich darum bemüht, auf dem Areal des ehemaligen Branntweinmonopols in Rothenburgsort ein Stadtteilzentrum zu ermöglichen, und das Mundhallen-Kollektiv, ein Verbund aus Künstlerinnen und Handwerkern, deren alte Halle 2020 abgerissen wurde und die sich seither von einem Ausweichquartier zum nächsten hangeln. Aber auch die von den Hafencity-Entwicklungsplänen bedrohte Rudervereinigung Bille ist bei der AG Ost dabei, ebenso wie die Initiative Dessauer Ufer, die dafür streitet, das in einem Lagerhaus auf dem Grasbrook, einer Außenstelle des KZs Neuengamme, ein Erinnerungsort entsteht. "Im Elbtower ist genug Platz für alle Initiativen und für mehr", sagt die Sprecherin. "Und wenn Hamburg sagt: Wir wollen eine lebendige Stadt, dann muss die Stadt auch etwas dafür machen." Ein Atelier mit Rooftop-Sauna? Oder doch besser ein riesiges Vogelhaus? Seit Ende Oktober 2023 steht die Elbtower-Baustelle still, von den geplanten 245 Metern sind erst etwa 100 Meter im Rohbau fertiggestellt. Ab August 2023 hatte Signa, der Konzern des österreichischen Immobilienmagnaten René Benko, der hinter dem Elbtower steckt, keine Rechnungen mehr bezahlt, inzwischen hat das Unternehmen Insolvenz angemeldet. Der unvollendete Rohbau des Elbtowers könnte "das Scheitern einer Stadtentwicklungspolitik von oben nicht treffender symbolisieren", sprach eine weitere Rednerin in einem vogelartigen Astronautenkostüm in das Mikrofon, und auch, dass man den "Tower der geplatzten Träume von Grund auf neu denken" müsse. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben die Initiativen schon mal ein Bauschild drucken lassen, auf dem steht, was sie aus dem Elbtower-Torso machen wollen: Einen "Standort für bedrohte Initiativen, Kultur und Stadtleben" soll aus dem Elbtower werden. In die unteren Geschosse könnten Ateliers und die Werkräume der Mundhalle kommen, in die obersten Geschossen ein Stadtteilzentrum und eine Rooftop-Sauna. Außerdem sollen eine Kantine, ein Co-Working-Space, eine Poliklinik Elbbrücken und eine Kita Elbblick Platz finden – und natürlich müsste auch der Anleger der Rudervereinigung Bille am Fuß des umgewidmeten Elbtowers liegen. Eine ganz andere Nutzung schlägt eine Initiative namens Birdtower Hamburg vor, die auch beim Protesttag dabei ist: Etwa 100.000 Vogelpaaren könne der Birdtower "genug Platz zum ungestörten Brüten in bester Lage" bieten und "unzählige Nisthilfen für verschiedenste Singvögel, von denen derzeit gut ein Fünftel in Hamburg als zumindest gefährdet eingestuft werden", erklärt eine Rednerin. Dass sich im Rohbau des Elbtowers Vögel einnisten – dafür braucht es womöglich gar keine Initiative. Inzwischen hat nicht nur die Muttergesellschaft Signa, sondern auch deren Tochter Elbtower Immobilien GmbH Insolvenz angemeldet. Schätzungsweise 500 Millionen Euro sind schon in dem Rohbau geflossen. Fachleute schätzen, dass die Signa-Gesellschafter und -Gläubiger einen Großteil der Summe abschreiben müssen, damit es sich für einen neuen Investor lohnen könnte, den Turm weiterzubauen. Doch zum Schleuderpreis will die insolvente Signa das Gebäude nicht hergeben. Gerade erst hat der Immobilienkonzern einen Notkredit über 100 Millionen Euro aufgenommen, um nicht in die Lage zu kommen, Immobilien in Notverkäufen hergeben zu müssen. Eine baldige Wiederaufnahme der geplanten Bautätigkeit ist also wenig wahrscheinlich. Bei der Stadt hofft man jedoch nach wie vor darauf, dass ein neuer Investor den Elbtower wie ursprünglich geplant zu Ende baut. Sollte sich aber kein Käufer finden, könnte ein Wiederkaufsrecht greifen, dass die Stadt sich beim Verkauf des Grundstücks ausbedungen hat. In diesem Fall bekäme Hamburg den angefangenen Turm relativ günstig. So furchtbar unrealistisch ist die Perspektive also gar nicht, dass aus dem gescheiterten Investorentraum ein gemeinnütziges Projekt für die umliegenden Stadtteile werden könnte.
Christoph Twickel
Wie geht man mit einem unvollendeten Bauwerk um? In Hamburg protestieren Menschen vor dem Elbtower für eine Planänderung – und fordern einen Ort für Künstler oder Vögel.
[ "Hamburg", "HafenCity", "Elbe", "Tierschutz", "Protest", "Immobilienmarkt" ]
hamburg
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2024-04-07T20:30:14+02:00
2024-04-07T20:30:14+02:00
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Flughafen: "Will ich das wirklich machen, bis ich keine Kraft mehr habe?"
In der Pandemie wurden an den Flughäfen viele Arbeitskräfte entlassen. Andere entschieden sich selbst, den Beruf zu wechseln. Wir haben ehemalige Angestellte von Airlines und Flughafendienstleistern gefragt, warum sie gegangen sind und warum sie heute nicht mehr an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren wollen. Hier erzählen drei von ihnen – anonym, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht zu beeinträchtigen. "Als ich angefangen habe, war Fliegen noch etwas Besonderes, jetzt muss es immer billiger werden" Ehemalige Duty-Managerin, 53 Jahre, Berlin Ich finde furchtbar, was da gerade an den großen Flughäfen geschieht , furchtbar für die Passagiere, aber auch furchtbar für die Angestellten. Ich habe über 30 Jahre in Berlin für eine große Airline gearbeitet – lange am Ticketschalter und zuletzt als Duty-Managerin. In dieser Funktion musste ich kontrollieren, dass alles läuft, vom Check-in über die Sicherheitskontrolle bis zum Beladen. Doch weil wir ständig unterbesetzt waren, musste ich oft retten, was kaum noch zu retten war. Das habe ich auch lange mit viel Herzblut gemacht, weil ich mich meinem Arbeitgeber verbunden fühlte. Doch wenn man morgens um fünf Uhr anfängt und schon 500 Leute in der Schlange stehen, die nur gestresst sind, dann ist das kein gutes Gefühl. Als ich angefangen habe, war Fliegen noch etwas Besonderes, jetzt muss es immer billiger werden und es wird an allen Ecken und Enden gespart. Trotzdem habe ich lange nicht darüber nachgedacht, den Job zu wechseln. Weil ich zu denjenigen gehörte, die schon sehr lange dabei waren, habe ich ein sehr ordentliches Gehalt bekommen, rund 5.000 Euro brutto mit allen Zulagen. Da beißt man auch mal die Zähne zusammen und macht weiter. Dann kam Corona und am Flughafen wurde es ganz leer. Als Duty-Managerin war ich trotzdem dort. Es war fast gespenstisch. Bei den wenigen Flügen, die es gab, hätte ich die Passagiere fast mit Handschlag begrüßen können. Gleichzeitig war aber unklar, wie es mit der Airline und mit meinem Arbeitsplatz weitergeht. Letztendlich wurde meine Abteilung ausgelagert und ich entlassen. Das ist jetzt ein Jahr her. Die ersten sechs Monate habe ich mir bewusst freigenommen, um mich von all dem Stress zu erholen. Jetzt gucke ich mich in Ruhe um. Generell könnte ich mir gut vorstellen, im Tourismus zu arbeiten, ich würde sogar an den Flughafen zurückgehen, aber nicht zu den Gehältern, die derzeit bezahlt werden. Wenn ich dort jetzt anfangen müsste, würde ich rund 2.200 Euro brutto bekommen. Dabei hätten die Airlines und Dienstleister sogar einen Vorteil, wenn sie ehemalige Kräfte wie mich einstellen würden. Zum einen haben wir mehr Erfahrung als Berufsanfänger, die man noch einlernen muss, zum anderen braucht man für die Arbeit eine Sicherheitsüberprüfung. Bis man die hat, dauert es oft vier bis sechs Wochen. Meine Prüfung läuft erst in zwei Jahren aus, ich könnte also schon morgen am Schalter sitzen. Bei den aktuellen Zuständen will ich das aber gar nicht. Auch für den Weg in den Urlaub nehmen meine Familie und ich in diesem Sommer lieber den Zug – zum ersten Mal seit 30 Jahren. Ich will mir dieses Chaos nicht antun, auch nicht als Passagierin. "Das war eine Knochenarbeit" Ehemaliger Ramp-Agent, 27 Jahre, Hamburg In der Corona-Zeit war ich für 14 Monate in Kurzarbeit. In dieser Zeit habe ich – von Ausnahmen abgesehen – null Stunden die Woche gearbeitet. Es war eine seltsame Zeit: Niemand konnte sagen, wann es weitergeht. Die Kurzarbeit war für uns in der Bodenabfertigung in diesem Moment unser Strohhalm. Doch nach mehr als einem Jahr des Hoffens habe ich mich dazu entschieden, den Job zu wechseln. Seit 2015 hatte ich am Hamburger Flughafen Flugzeuge beladen, außerdem das Beladen, das Betanken und das Boarding koordiniert. Personalmangel ist in diesem Bereich nichts Neues, gerade in der Urlaubszeit wurde es regelmäßig eng. Das war eine Knochenarbeit, vor allem, wenn man das Gepäck statt mit vier Menschen nur zu zweit verladen muss, weil Personal fehlt. Zudem ist der Job auch nicht familienfreundlich, wir haben im 6-3-System gearbeitet: Nach sechs Tagen Arbeit hatte man drei Tage frei. Natürlich kann man damit planen, aber am Wochenende ist man dann eben oft nicht für die Familie da. Außerdem haben wir im Schichtsystem gearbeitet. Die Frühschicht geht von fünf Uhr bis etwa 14 Uhr. Die Spätschicht endet dann um 23 Uhr, es sei denn, ein Flieger hat Verspätung, dann muss man warten. Wenn man das länger macht, merkt man, wie es den Biorhythmus stört.
Janis Dietz
An Flughäfen herrschen chaotische Zustände – weil Personal fehlt. Wie kam es dazu? Drei ehemalige Angestellte erzählen, warum sie der Luftfahrt den Rücken gekehrt haben.
[ "Wolfgang Rattay", "Flughafen", "Wetter", "Corona", "Flugverkehr", "Fachkräftemangel", "Freizeit", "Flugzeug" ]
mobilitaet
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2022-06-28T11:54:50+02:00
2022-06-28T11:54:50+02:00
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Köhlbrandbrücke in Hamburg: "Das ist ein echter Skandal"
Nun stellt sich die Frage, ob sich die Geschichte anders entwickelt hätte – und wenn ja, wie. Würde Hamburg heute noch so hart über die Zukunft der Köhlbrandbrücke streiten, über ihren Abriss, einen wohl milliardenteuren Neubau oder einen ebenfalls milliardenteuren großen Tunnel als Alternative, wäre das bislang unter Verschluss gehaltene Gutachten der Hamburger Hafenbehörde über den Zustand der Brücke gleich vor 15 Jahren öffentlich geworden? Oder hätte schon einer der vier Amtsvorgänger von Hamburgs Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard (SPD) entschieden, die Köhlbrandbrücke einfach zu sanieren und stehenzulassen, als Verkehrsader und Wahrzeichen der Stadt? Denkbar wäre vieles – auch der Erhalt der Brücke war jedenfalls von Anfang an eine Option, so geht es aus dem Gutachten des Instituts für Massivbau an der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH) mit einem Ingenieurbüro von 2008 hervor. 90 Millionen Euro, zusätzlich zur Instandhaltung, wurden damals für eine Komplettsanierung mit einem Neubau der Betonrampen veranschlagt. Bei einem vollständigen Neubau oder Tunnel ging es zuletzt um absehbare Kosten in Milliardenhöhe. Nur wurde die Option, die Brücke erhalten zu können, über all die Zeit nie bekannt. Solange, bis die ZEIT die ganzen Inhalte des Gutachtens nun öffentlich machte . Und das wirft neue Fragen auf, befeuert aber auch eine alte. Welche Entscheidung trifft die Stadt, wenn alle Möglichkeiten auf dem Tisch liegen? Die Regierungsfraktionen im Rathaus wollen zwar keine vorschnellen Schlüsse ziehen, aber eine schnelle Klärung der Lage herbeiführen. "Jetzt muss geprüft werden, ob die Aussagen des Gutachtens aus 2008 inzwischen überholt sind oder ob sich die Brücke tatsächlich mit einem überschaubaren Aufwand sanieren lässt", sagte der hafenpolitische Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Markus Schreiber. Auch dem Parlament lag das vollständige Gutachten bislang nicht vor. Die Fachsprecherin der Grünenfraktion, Miriam Putz, erhebt dieselbe Forderung. Sie betont, dass die Köhlbrandquerung ein "wichtiges Zukunftsprojekt für unsere Stadt und den Hafen" sei. Bei den Grünen wird begrüßt, dass die Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard schon nach ihrem Amtsantritt im Dezember 2022 ankündigte, alle Optionen noch einmal abzuwägen – was eine Sanierung zunächst aber nicht beinhaltete. Der Sprecher der Wirtschaftsbehörde, Martin Helfrich, verwies auf Anfrage der ZEIT am Freitag auf genau diese Prüfung, deren Ergebnisse etwa zum Jahresende vorliegen sollen. Er betont aber auch: "Nach allen bislang vorliegenden Erkenntnissen ist ein Erhalt der Köhlbrandbrücke mit laufender Instandhaltung nicht wirtschaftlich". Das gelte für alle vorstellbaren Varianten einer Sanierung. "Die in der damaligen Untersuchung genannten Angaben und Kostenschätzungen sind mittlerweile durch aktuellere Berechnungen überholt." Bereits zuvor war zu hören gewesen, Fachleute hätten bei zahlreichen Untersuchungen und Messungen an der Köhlbrandbrücke immer wieder prognostiziert, dass ab den 2030er-Jahren die Kosten der jährlichen Instandhaltung nicht nur eine absurde Höhe erreichen würden, sondern die alte Köhlbrandbrücke auch absehbar für den Schwerlastverkehr nicht mehr zu nutzen sei. Täglich fahren nach Angaben der Wirtschaftsbehörde etwa 15.000 Lastwagen über das Bauwerk im Hafen. Auch wenn die Wirtschaftsbehörde eine Sanierung nicht endgültig ausschließen will, ist deshalb davon auszugehen, dass nur eine weitere und extreme Kostensteigerung bei den Ersatzvarianten noch zu einem Sinneswandel führen könnten. Nach Voruntersuchungen werden für einen Tunnel als Köhlbrandquerung inzwischen 5,3 Milliarden Euro veranschlagt. Ob und wie viel günstiger ein neuer Brückenbau wäre, ist noch nicht gesichert. Selbst wenn beide Varianten sich als gar nicht vernünftig umsetzbar entpuppen würden, hätte die alte Brücke aber eben kaum oder keinen wirtschaftlichen Daseinszweck mehr, so die Einschätzung in Kreisen der SPD. Für die Hafenwirtschaft ist eine belastbare Köhlbrandquerung sehr wichtig, und sie präferiert klar einen Tunnel. Er soll mehr Kapazität bieten, beständiger sein, und anders als eine Brücke keine Höhenbeschränkung für große Containerfrachter mehr bedeuten. Unter den Bürgerschaftsparteien legte sich die CDU bereits auf einen Tunnel fest. Auch die AfD will die Frage der Köhlbrandquerung "vorrangig an den Bedürfnissen der Hafenwirtschaft" ausrichten, das gelte trotz der nun bekannt gewordenen Sanierungsoption. Beide werfen dem Senat eklatante Intransparenz vor. Der wirtschaftspolitische Sprecher der Linksfraktion, Norbert Hackbusch, bezeichnet eine Sanierung dagegen als "interessante Option". Er kritisiert deutlich, dass die Bürgerschaft nun davon überrascht worden ist, dass ein Erhalt von den Ingenieuren der TU Harburg damals für machbar gehalten wurde. "Im Wirtschaftsausschuss wurde es als unmöglich dargestellt, ohne das genauer zu belegen." Nach dem Bekanntwerden fordert er, alle Erkenntnisse zugänglich zu machen. Auch die Argumente der Wirtschaft für einen Tunnel müssten nun erst recht kritisch hinterfragt werden. In Senatskreisen ist davon die Rede, dass es für die Hamburg Port Authority (HPA) seit 2008 nahegelegen habe, sich für den erhofften Nutzen auf einen höheren Neubau oder Ersatz der Brücke zu konzentrieren. Die Verantwortung dafür, dass die Sanierungsoption in Vergessenheit geriet, sei beim damaligen CDU-Senat zu suchen, so wird nun beteuert. Der hätte die Alternative damals nicht kommuniziert, vielleicht das technische Gutachten auch gar nicht erst richtig gelesen. Die Hamburger CDU wittert ein Ablenkungsmanöver des Senats Der SPD-Hafenpolitiker Markus Schreiber verbreitet diese Schuldzuweisung bereits in deutlichen Worten. "Das Gutachten aus dem Jahre 2008 ist von den CDU-Wirtschaftssenatoren Gunnar Uldall und Axel Gedaschko dem Parlament gegenüber nicht transparent dargestellt worden. Im Gegenteil, es wurde so getan, als ein Neubau unbedingt nötig ist. Das ist ein echter Skandal und es muss aufgeklärt werden, warum dies nicht geschehen ist", sagte Schreiber. Auch die Grünen fordern Aufklärung über das Verhalten des damaligen Senats. Die so gescholtene CDU wittert dagegen ein Manöver des Senats, um vom "eigenen Planungsversagen im Hier und Heute abzulenken", wie Götz Wiese, der hafenpolitische Sprecher der Fraktion, sagte. Nach wie vor fehlten eine "belastbare Funktionsanalyse und eine echte Machbarkeitsstudie" zur Köhlbrandquerung, obwohl die SPD bereits im Jahr 2011 die Macht im Rathaus übernahm und auch die Wirtschaftssenatoren auswählte. Warum die Passagen in dem Gutachten zu einer möglichen Sanierung seitdem nicht auffielen oder nicht mitgeteilt worden sind, vermögen die Koalitionäre bislang nicht zu sagen. Mit der Maßgabe, nicht namentlich zitiert zu werden, wird aber darauf verwiesen, dass vor Melanie Leonhard mit Ian Karan, Frank Horch und Michael Westhagemann drei parteilose, ehemalige Wirtschaftsmänner die politische Verantwortung in der Behörde getragen hatten. Die neue Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard, so heißt es weiter, zeichne seit jeher aus, auch die Pläne des eigenen Apparats kritisch zu hinterfragen und sich alle nötigen Informationen zu verschaffen. Das gelte erst recht für ein "Jahrhundertprojekt" wie die neue Köhlbrandquerung. Angeblich soll Leonhard auch eher zu einer neuen Brücke tendieren, wenn diese günstiger ist als der zuvor schon avisierte Tunnel. Das Lob, dass Leonhard dafür vom Koalitionspartner erhält, kann man als beherzten Seitenhieb auf ihre Vorgänger verstehen. Zu der Frage, wie es mit dem Projekt der Köhlbrandquerung nun weitergehe, sagte die Grünenfachsprecherin Miriam Putz: "Mit der neuen Wirtschaftssenatorin stehen wir hierzu stets in einem guten und ehrlichen Austausch."
Christoph Heinemann
Die Reaktionen der Hamburger Politik auf die Veröffentlichung des Geheimgutachtens zur Köhlbrandbrücke zeigen: Die Debatte über deren Abriss wäre wohl anders verlaufen.
[ "Hamburg", "Hamburger Senat", "Infrastruktur", "SPD", "Hamburger Hafen", "Weiterdreh", "Teaser" ]
hamburg
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2023-07-30T11:44:37+02:00
2023-07-30T11:44:37+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2023-07/koehlbrandbruecke-hamburg-gutachten-abriss?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Rheinland-Pfalz: Zwei Polizisten bei Verkehrskontrolle erschossen
Bei einer Verkehrskontrolle im Landkreis Kusel in Rheinland-Pfalz sind in der Nacht zwei Polizisten durch Schüsse tödlich verletzt worden. Das teilte die Polizei in Kaiserslautern mit. Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa fahndet die Polizei nach einem polizeibekannten Tatverdächtigen. Er soll bereits in der Vergangenheit wegen Unfallflucht aufgefallen sein und einen Waffenschein besitzen. Wie die Polizei mitteilte, waren die beiden Beamten der Polizeiinspektion Kusel auf einer routinemäßigen Streifenfahrt, als sie auf der Kreisstraße 22 in Ulmet eine Verkehrskontrolle durchführten. Die Kollegen waren demnach auf einer Zivilstreife, trugen aber Uniformen und Sicherheitswesten. Als die Polizisten dann mit der Kontrolle begannen und näher an das Fahrzeug herangetreten waren, fielen die tödlichen Schüsse. Die 24 Jahre alte Polizeianwärterin und der 29 Jahre alte Polizeibeamte konnten noch selbst eine Funkmeldung absetzen. Wie der SWR berichtet, hätten sie mitgeteilt, dass sie totes Wild in dem Fahrzeug gefunden haben; später funkten sie, dass man auf sie schieße. Als dann Verstärkung am Tatort eintraf, kam für die Frau jede Hilfe zu spät: Sie war sofort tot. Der Mann habe zunächst noch gelebt, sei aber gestorben, als die Rettungskräfte eintrafen, berichtete ein Polizeisprecher. Beide stammten aus dem Saarland. Polizei bittet Bevölkerung um Mithilfe Derzeit untersucht die Polizei Spuren am Tatort, die Kreisstraße 22 ist bei Mayweilerhof und Ulmet voll gesperrt. "Da wird im Moment auf dieser Straße jeder Stein umgedreht", sagte eine Polizeisprecherin. Inzwischen wurde die Fahndung nach dem flüchtenden Tatverdächtigen auf das benachbarte Saarland ausgedehnt. Eine Beschreibung der Täter oder des benutzten Fluchtfahrzeuges liegen offiziell nicht vor. Auch die Fluchtrichtung ist offiziell noch nicht bekannt. Die Polizei bittet die Einwohner, im Landkreis Kusel keine Anhalter mitzunehmen. Zeugen, die etwas Verdächtiges wahrgenommen haben, werden gebeten, sich unter der Rufnummer 0631-3692620 mit der Polizei in Kaiserslautern in Verbindung zu setzen. Zudem seien Beamte als Ansprechpartner für die Bevölkerung in Ulmet vor Ort. Nancy Faeser: "Diese Tat erinnert an eine Hinrichtung" Der Sprecher des Polizeipräsidiums Westpfalz, Bernhard Christian Erfort, sagte dem SWR: "Die Kollegen hier sind sehr betroffen. Einige kannten die getöteten Beamten persönlich." Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) zeigte sich angesichts der Tat "tief erschüttert und voller Trauer". "Wir sind in Gedanken bei den Angehörigen und Liebsten der durch eine Gewalttat im Dienst verstorbenen Kollegen", sagte der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Jörg Radek. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer und Landesinnenminister Roger Lewentz zeigten sich schockiert. "Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen", heißt es in einer Mitteilung der beiden SPD-Politiker. "Die Tat ist entsetzlich. Es bestürzt uns sehr, dass zwei junge Menschen im Dienst ihr Leben verloren haben." Man habe Trauerbeflaggung angeordnet, für alle Streifenwagen sei Trauerflor vorgesehen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte: "Unabhängig davon, welches Motiv der Tat zugrunde liegt: Diese Tat erinnert an eine Hinrichtung, und sie zeigt, dass Polizistinnen und Polizisten jeden Tag ihr Leben für unsere Sicherheit riskieren." Ihre Gedanken seien bei den Familien, Freunden und Kollegen der Opfer. "Wir werden alles tun, um die Täter dingfest zu machen", sagte die SPD-Politikerin. Sie habe dem rheinland-pfälzischen Innenminister Lewentz jede Unterstützung angeboten, die für eine möglichst schnelle Festnahme der Täter und für die Ermittlungen benötigt werde.
Lisa-Marie Eckardt
In Kusel sterben zwei Polizisten auf Zivilstreife, als sie einen Wagen überprüfen. Der flüchtige Tatverdächtige soll polizeibekannt sein und einen Waffenschein besitzen.
[ "Sebastian Gollnow", "Kusel", "Kaiserslautern", "Ulmet", "Saarland", "Rheinland-Pfalz", "Kreisstraße", "Landkreis Kusel", "SWR", "Polizei" ]
gesellschaft
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2022-01-31T14:30:41+01:00
2022-01-31T14:30:41+01:00
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-01/zwei-polizisten-bei-verkehrskontrolle-in-rheinland-pfalz-erschossen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fgesellschaft%2F2022-11%2Flebenslange-haft-fuer-polizistenmoerder-von-kusel%3Futm_referrer%3Dhttps%253A%252F%252Fwww.zeit.de%252Fgesellschaft%252Fzeitgeschehen%252F2023-01%252Fpolizistenmoerder-kusel-verfahren-jagdwilderei
Oregon-Attentat: Alle paar Monate eine Massenschießerei
Ray Schoufler ist außer Atem. Seine Stimme zittert, als er in nüchternen Worten berichtet, was er gerade gesehen hat: verletzte Studenten, Überlebende unter Tischen, eine Kleinstadt in Angst. Sein Telefonat mit CNN gibt eine erste Ahnung davon, was am Umpqua Community College (UCC) geschehen ist. Anwohner beschreiben Roseburg als verschlafenes Nest, doch an diesem Mittwochmorgen wird es um 10.30 Uhr durch eine Gewehrsalve aus dieser Ruhe gerissen. Binnen einer Minute tötet ein 26-jähriger Amokläufer neun Menschen und verletzt sieben weitere . Augenzeugen berichten, der später durch Polizeischüsse getötete Schütze fragte seine Opfer nach deren Religion. "Bist du Christ? Gut, wenn du Christ bist wirst du in einer Minute deinen Gott sehen", zitiert CNN eine Augenzeugin. Dann eröffnete er wahllos das Feuer im Unterrichtsraum. 60 Sekunden lang habe sie Schüsse gehört, erzählt Lorie Andrews, die auf ihrer Veranda am Campus saß, als die ersten Streifenwagen zum Gebäude rasten. "Erst dachte ich, es ist Feuerwerk." Insgesamt vier Waffen soll der Schütze getragen haben. Minuten nach dem ersten Notruf konnten Polizei und FBI den Mann "neutralisieren", wie Feuerwehrsprecher Ray Schoufler es nennt. Der Täter überlebt nicht. Nach Angaben des ehemaligen UCC-Präsidenten John Olsen war nur ein unbewaffneter Sicherheitsmann auf dem Campus. "Wir hatten lange Diskussionen darüber, ob wir bewaffnete Sicherheitsleute brauchen", sagte er. "Aber auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten." An dem lokalen College sind etwa 3.000 Studenten eingeschrieben. Als Präsident Barack Obama wenige Stunden später im knapp 4.000 Kilometer entfernten Washington vor die Presse tritt, ist ihm seine Erschütterung anzusehen. "Eure Berichterstattung in den Medien und mein Statement auf diesem Podium sind zu einer Routine geworden", sagte Obama zu den Journalisten. Er erinnerte an besonders prominente Fälle in Columbine und Aurora (Colorado), Newtown (Connecticut), Tucson (Arizona) und Charleston (South Carolina). Roseburg ist bereits der 45. Amoklauf an einer US-Schule in diesem Jahr. Obama sprach den Familien sein Mitgefühl aus, machte aber klar: "Unsere Gedanken und Gebete sind nicht genug. Wir stehen kollektiv in der Schuld der Familien, die ihre Lieben verloren haben, weil wir nicht genug getan haben, um dies zu verhindern." Man dürfe es jemandem, der Schaden verursachen will, nicht "so leicht" machen an eine Waffe zu kommen, sagte er. Nach dem Amoklauf in Aurora hatte Barack Obama in einem BBC-Interview zugegeben, keine strengeren Waffengesetze einführen zu können sei die "größte Frustration" seiner Präsidentschaft. "Wir sind das einzige fortschrittliche Land der Erde, das diese Massenschießereien alle paar Monate erlebt", sagte Obama im Weißen Haus. Er erinnerte daran, dass Länder wie Großbritannien und Australien nach einem einzigen Amoklauf Gesetze erlassen haben, um Waffenbesitz zu kontrollieren. "Wenn Amerikaner bei Minenunglücken sterben, arbeiten wir daran, unsere Minen sicherer zu machen", sagte Obama. "Wenn Amerikaner in Überschwemmungen und Wirbelstürmen umkommen, machen wir unsere Gemeinden sicherer. Und um Terrorangriffe in den USA zu verhindern, geben wir mehr als eine Billion Dollar aus. Aber unser Kongress blockiert jede Bemühung, auch nur Daten darüber zu sammeln, wie man eventuell Waffenmorde verhindern könnte." 12.000 Tote im Jahr Wie das Magazin Vox in einer Grafik zeigt, kommen jährlich 12.000 Menschen in den USA durch Waffengewalt ums Leben, seit 2001 starb jedoch niemand mehr an einem Terrorangriff. Zuletzt hatte sich das Weiße Haus nach einem Amoklauf an einer Grundschule in Newtown, bei dem im Dezember 2012 20 Kinder und sechs Erwachsene getötet wurden, für ein Gesetz zur Waffenkontrolle eingesetzt. Das Gesetz hätte militärische Angriffswaffen für Privatbesitzer verboten und jeden Waffenkäufer verpflichtet, sich auf eine kriminelle Vergangenheit oder mentale Probleme hin überprüfen zu lassen. Doch die Initiative scheiterte am politischen Widerstand. Seitdem hat Obama keinen neuen Vorstoß gestartet. Unterstützer der Waffenlobby argumentieren, es sei unangemessen direkt nach einer Tragödie für strengere Waffengesetze zu streiten. So warf Lousianas Gouverneur Bobby Jindal Präsident Barack Obama vor, er versuche "auf billige Weise, politisch zu punkten", als er sich nach dem Charleston-Massaker für strengere Waffengesetze aussprach. Allerdings dürfte es mittlerweile schwierig sein, einen Tag ohne Tragödie zu finden wie eine Grafik der Washington Post mit Daten des Mass Shooting Trackers zeigt: Seit dem Newtown-Massaker gab es in den USA insgesamt 986 weitere Massenschießereien mit mindestens vier angeschossenen Menschen – im Schnitt eine pro Tag.
Christina Felschen
In den USA sind erneut zehn Menschen bei einem Amoklauf gestorben. Dutzende Angriffe gab es dieses Jahr. Ein frustrierter Präsident resigniert vor der Waffenlobby.
[ "Barack Obama", "Waffen", "Amoklauf", "USA", "Waffenbesitz", "Oregon", "Alaska", "Colorado", "South Carolina", "Texas" ]
gesellschaft
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2015-10-02T07:42:59+02:00
2015-10-02T07:42:59+02:00
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Fernwärmetunnel in Hamburg: Hermine fräst sich in Richtung Zukunft
Der Champagner tut nicht, was er soll. Seine Flasche will einfach nicht zersplittern. Mit weinrotem Kleid und weißem Helm steht Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) mitten im Hafen in einem Loch in knapp 30 Metern Tiefe. Der Wind zieht an diesem Herbstmorgen an ihrer Kleidung, die Politikerin zieht an einem Seil, und es passiert wenig. Mit einem leisen "Klonk" stößt die Champagnerflasche nun gegen eine Maschine aus Metall und bleibt dabei unversehrt. "Ich wusste das", stöhnt Fegebank leise und zieht erneut am Seil. Auch das endet ohne die erhofften Scherben. Träge löst sich die Flasche aus der Verankerung, kullert an der Maschine herab und verschwindet in der Tiefe im Matsch. Fegebank schaut ratlos. Und fragt: "Was ist jetzt mit der Flasche? Liegt die da irgendwo unten?" Deutlich tönen ihre Worte durch das Festzelt, wo mehr als 100 Gäste vom Regen geschützt der Taufe auf Bildschirmen zuschauen. Oben im Zelt also fangen die ersten an zu lachen, unten im Loch findet die Politikerin die Fassung wieder. "Ich taufe die Tunnelbohrmaschine auf den Namen Hermine", sagt sie: "Glück auf!" Hermine, das ist kurz für Hamburger Energiewerke Röhre mit neuer Energie, so heißt diese Tunnelbohrmaschine. Ausgedacht haben sich das Mitarbeiter der Hamburger Energiewerke. Es ist ein niedlicher Name für einen Koloss: Der Riesenbohrer ist 670 Tonnen schwer und ausgefahren etwa 280 Meter lang. Der Bohrkopf hat einen Durchmesser von viereinhalb Metern. Hermine kann enorme Kraft entfalten und die ist dringend nötig, um sich tief unter der Elbe durch die alten Schichten aus Mergel, Ton und Sand zu bohren. Hamburg Zweite Bürgermeister mag den Taufnamen. "Ich dachte bei dem Namen Hermine: Beste Freundin von Harry Potter, besonders plietsch und verfügt über besondere Zauberkräfte", sagt sie. In den Harry-Potter-Romanen – deren deutsche Übersetzung in Hamburg verlegt wird – löst Hermine meist hartnäckige Probleme. Tatsächlich erwarten sich die Grünen in der rot-grünen Hamburger Regierung enorm viel von diesem Bohrer: Hermine soll Hamburg in die grüne Zukunft fräsen und auch gleich noch die Klimawende ermöglichen. "Der Tunnelbau hat eine wichtige Bedeutung auf dem Weg zur Klimaneutralität", sagt Fegebank. Er sei "ein Symbol für das wichtigste Projekt der Hamburger Wärmewende." Denn in der schmalen Trasse unter dem Fluss sollen künftig keine Autos fahren oder Menschen spazieren wie in den anderen beiden Elbtunneln. Stattdessen soll dort Wasser fließen. In dem für Wartung begehbaren Gang soll Platz sein für zwei Fernwärmeleitungen. Durch die eine Röhre soll heißes Wasser vom Hafen aus in den Stadtteil Hamburg-Bahrenfeld strömen. Dort ist der Anschluss an das bereits bestehende Fernwärmenetz der Stadt. In der zweiten Röhre soll kaltes Wasser zurückkommen in den Hafen. Aus Sicht des Senats ist der knapp 1,2 Kilometer lange Tunnel nötig, damit Ende 2025 das Kohlekraftwerk Wedel abgeschaltet werden kann und der Betreiber, die Hamburger Energiewerke, dann weit weniger Kohlenstoffdioxid (CO₂) ausstoßen wird. Mit der Abschaltung will Hamburg künftig bis zu 360 000 Tonnen CO₂ pro Jahr einsparen. Bisher ist der städtische Versorger mit solchen Ausstößen einer der größten Klimasünder der Stadt. Künftig aber soll die Fernwärme statt aus Wedel durch den Tunnel aus dem Hafen kommen – und das überwiegend klimaneutral. Also ohne dass beim Erhitzen zusätzliches Treibhausgas wie CO₂ entsteht. Um all das zu gewährleisten, sind zuletzt etliche Vorhaben im Hafen angelaufen, um industrielle Abwärme aus Betrieben wie dem Stahlwerk von Arcelor Mittal, der Müllverwertungsanlage Rugenberger Damm oder dem Klärwerk Dradenau zu nutzen und sie durch den Tunnel in das Fernwärmenetz einzuspeisen. Die Kosten der neuen Elbtrasse belaufen sich geschätzt auf etwa 280 Millionen Euro. Bis der Bohrer am Ziel auf der anderen Flussseite ankommen wird, soll es zehn bis zwölf Monate oder sogar noch länger dauern. Denn Hermine arbeitet gründlich und langsam: Sie schafft nur bis zu dreieinhalb Metern pro Stunde. Wenn nicht etwas dazwischengerät, wie etwa ein Findling wie der Alte Schwede. Diesen Granitstein haben sie vor mehr als 20 Jahren bei Baggerarbeiten in der Elbe gefunden. Heute liegt er am Elbstrand und dient auch als Mahnung, dass sich die Elbe bei Eingriffen von Hamburgern durchaus widersetzen kann. Im Hafen, am Schacht nahe dem Lotsenhaus Seemanshöft in Waltershof, gehen sie an diesem Morgen lieber auf Nummer sicher. Weil Hermine eben ein Bohrer ist und kein Schiff, wie sie das sonst hier so taufen, belassen sie es nicht bei der Taufe als alleinigem Glücksbringer. Und so steht die grüne Politikerin Fegebank auch nicht allein tief unten vor dem Bohrer. Dort stehen auch der Hamburger Pastor Sieghard Wilm und eine Statue aus hellem Holz, groß wie Kleinkind. Das ist die heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute und Tunnelbauer. Oben im Zelt hatte der Pastor erst die Holzfigur gesegnet und dann die Hermine. Warum man ausgerechnet ihn darum gebeten hat? Für Pastor Wilm aus der Kirche nahe der Reeperbahn ist das völlig klar, er sagt: "Wer St. Pauli kann, der kann auch eine Tunnelbohrmaschine taufen."
Kristina Läsker
Hamburg bohrt einen dritten Elbtunnel. Nicht für Autos oder Fußgänger, sondern für die Energiewende. Heute wurde die Bohrmaschine getauft – was nicht auf Anhieb gelang.
[ "Fernwärme", "Hamburg", "Elbe", "Tunnel", "Energiewende", "Energieversorgung", "Fernwärmetunnel" ]
hamburg
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2023-11-02T17:33:40+01:00
2023-11-02T17:33:40+01:00
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"Harry Potter und das verwunschene Kind": Harry Potter und die Stunde der Wahrheit
Das Stück ist großartig. Echt gut gemacht. Sehr unterhaltsam. Wirklich ganz, ganz toll. Das jedenfalls behauptet der freundliche Herr, der an der Garderobe des Theaters auf dem Hamburger Großmarkt die Mäntel entgegennimmt. Der Rest ist durch seine Maske nicht recht zu verstehen, es soll wohl heißen: Er wünsche sehr viel Vergnügen, wirklich, das werde echt schön. So oder so ähnlich haben dies in den Tagen zuvor auch schon eine Reihe anderer Mitwirkender von Harry Potter und das verwunschene Kind geäußert, darunter Kollegen aus dem PR-Team sowie der Produzent. Was sollen sie auch sagen, könnte man meinen. Weil allerdings nach dem Mantelabgeben noch eine Menge Zeit ist, bis das Stück bei der Galapremiere am Sonntagmittag tatsächlich beginnt – ein paar Tage vorher wurde die Veranstaltung auf 2G-plus-Niveau hochgestuft, 1.670 Zuschauerinnen und Zuschauer müssen also einen Impf- oder Genesenennachweis vorzeigen, dazu ein Schnelltestergebnis, die Veranstalter raten eindringlich dazu, rechtzeitig da zu sein –, bleibt also mehr als genug Zeit, um über diese Vorabbegeisterung einmal nachzudenken. Denn letztlich hat die nur zwei mögliche Motive: ehrlicher Produktstolz – wer beruflich in der Unterhaltungsbranche zu tun hat, im privaten Hamburger Theatermarkt zumal, der musste mitunter schon solchen Murks verkaufen, dass man sich über unverhoffte Qualität auch mal ehrlich freuen kann. Das ist die eine Möglichkeit. Und die andere: Die sind nervös. Immerhin ist noch mehr Fallhöhe kaum zu haben: Von Juni 2016 an war Harry Potter and the cursed child im Palace Theatre im Londoner West End zu sehen, bis zum Beginn der Pandemie immer ausverkauft. Zwei Jahre später startete die Produktion am Broadway, wurde mit Preisen überhäuft und brach bald den Rekord der meisten je erzielten Ticketeinnahmen in einer Woche: 2,5 Millionen Dollar in sieben Tagen. Dann folgten San Francisco und das australische Melbourne, im nächsten Jahr sollen Toronto und Tokio dazukommen, wenn nicht noch eine neue Virusmutante dazwischenkommt. Die Hamburger Produktion ist die erste in einer Sprache, die nicht Englisch ist. So, könnte jetzt losgehen, alle sind doch da. Dauert aber noch, warum auch immer. Rund 42 Millionen Euro hat die deutsche Produktionsfirma investiert, um Harry Potter nach Hamburg zu holen. Die Hälfte des Geldes floss in den Umbau des Theaters, ein weiteres Viertel ins Marketing, der Rest – etwa 16 Millionen – in das Stück selbst. Aber was heißt das schon? Das Musical Das Wunder von Bern , einer der größten Flops eines in Hamburg stationierten Unterhaltungsbetriebs, hatte Produktionskosten in sehr ähnlichem Rahmen, auch die doppelte Summe hätte die Havarie wohl nicht abwenden können. Am 15. März 2020 hätte die Hamburger Premiere eigentlich stattfinden sollen. Am 13. März wurde sie abgeblasen und in der Folge mehrere Male verschoben . Glaubt man dem Produzenten, ist die Show auch jetzt schon auf Monate hin sehr gut verkauft. Damit sie keine Pleite wird, muss sie aber über viele Jahre laufen. Und ein schlechtes Stück, sagte der Produzent Maik Klokow vor dem ursprünglichen Premierentermin , könne er auch mit dem besten Marketing der Welt nicht verkaufen. Bis hierher ist der Erfolg der Hamburger Unternehmung keine künstlerische, sondern eine wirtschaftliche Frage. Davon, dass das Stück selbst gut ist, scheinen alle wie selbstverständlich auszugehen. Aber ist es das? Dann, endlich, geht das Licht aus im Saal, und das Stück, auf dessen Erfolg so hohe Wetten abgeschlossen wurden, beginnt.
Florian Zinnecker
Zwanzig Monate lang verhinderte die Pandemie den Start des Theaterstücks "Harry Potter und das verwunschene Kind" in Hamburg. Nun war Premiere. Und wie ist das Stück?
[ "Harry Potter", "Jens Balzer Martin Eimermacher", "Daniel Gerhardt", "Samantha Franson", "Ulrich Stock", "Hermine Granger", "Volker Hagedorn", "Hamburg", "Broadway", "Hogwart" ]
kultur
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2021-12-06T14:41:16+01:00
2021-12-06T14:41:16+01:00
https://www.zeit.de/kultur/2021-12/harry-potter-verwunschene-kind-theater?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Christian Drosten: "Die jungen, dreifach Geimpften können sich wieder frei bewegen"
DIE ZEIT: Herr Drosten, die letzten beiden Pandemiesommer haben wir verschlafen und uns nicht auf den Herbst vorbereitet. Was müssen wir diesen Sommer tun? Christian Drosten: Für Risikopatienten müssen wirksame Medikamente bereitliegen. Und man muss wahrscheinlich mit relativ milden Maßnahmen das Infektionsgeschehen kontrollieren. Dabei sind Masken in Räumen weiterhin eines der effizientesten Mittel. Die jungen, dreifach Geimpften können sich aber wieder frei bewegen – sie bauen, wenn sie sich infizieren, Immunität auf, auch für die Gemeinschaft. Natürlich gibt es Long Covid , aber bei Geimpften ist es deutlich seltener. Infektionen auf dem Boden der vollständigen Impfung – das ist keine Durchseuchungsstrategie. ZEIT: Wird das im Winter reichen? Drosten: Im Winter müssen wir sehr wahrscheinlich noch einmal härter eingreifen. Corona ist eben keine Grippe. Die meisten Menschen vergessen, dass sie in ihrem Leben viele Grippeinfektionen hinter sich haben, manche davon als harmlose Erkältung. Das führt dazu, dass eine Grippewelle von selbst ausläuft, weil – außer den Kindern – fast alle eine Immunität besitzen und daher weniger oder gar nicht ansteckend sind. ZEIT: Die fehlt bisher bei Corona. Drosten: Ja, die jetzige Immunität hilft im Herbst nicht mehr gegen Übertragung. Der R-Wert würde im November, wenn man das einfach laufen ließe, wieder auf 2 oder 3 hochschießen. Jeder Infizierte würde also zwei bis drei Menschen anstecken. Aktuell sind wir auch in einer Hochinzidenzphase. Und das wird bis Ostern so bleiben, wenn man nicht eingreift. ZEIT: Haben wir denn eine ausreichende Immunität, wenn wir uns jetzt im Sommer infizieren? Drosten: So viele Infektionen, wie man für eine Gemeinschaftsimmunität wie bei Influenza braucht, kann man in einem Sommer gar nicht haben. Das wird Jahre dauern, darum wird man auch noch jahrelang mit relativ milden Maßnahmen im Herbst und Winter die Inzidenzen kontrollieren müssen. Auffrischungsimpfungen im Herbst mit Fokus auf Risikogruppen können zusätzlich helfen, das Infektionsgeschehen im Rahmen zu halten. Denn die Impfung stellt den besten Schutz gegen schwere Erkrankungen dar. ZEIT: Wie muss der nächste Impfstoff aussehen? Reicht eine Vakzine-Variante gegen Omikron ? Drosten: Das wissen wir leider noch nicht. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass sich jetzt Omikron zu einer neuen Variante verändert und wir die Impfstoffe nur ein wenig anpassen müssen. Da können auch ganz andere Varianten eine Rolle spielen. ZEIT: Auch die schon fast vergessenen Alpha- oder Delta-Varianten? Drosten: Auch die – oder deren Nachfolger. Wir können nicht einfach nur auf die Immunisierung gegen Omikron setzen. Es kann sogar sein, dass wir uns damit einen Bärendienst erweisen, weil das Virus in eine andere Richtung mutiert. Es ist klug, sich auf unterschiedliche Szenarien vorzubereiten. ZEIT: Können wir denn einfach abwarten? Drosten: Wir haben einen Vorteil: Wenn wir auf der Nordhalbkugel in den Sommer gehen, erlebt die Südhalbkugel den nächsten Winter. Wenn dort immer noch Omikron die vorherrschende Variante ist, dann kann man mit einiger Sicherheit die Entscheidung treffen: Wir boostern mit einem an Omikron angepassten Impfstoff, und wir starten die Impfkampagne wieder bei den höchsten Altersgruppen, die besonders gefährdet sind. ZEIT: Es gab nun schon mehrere Nachweise von Deltakron, Mischvarianten von Delta und Omikron. Warum setzen die sich bisher nicht durch? Drosten: In einigen Fällen traten solche Rekombinanten nur in begrenzten Ausbrüchen auf. Andere scheinen im Moment linear anzusteigen, aber glücklicherweise noch nicht exponentiell. Dies muss man beobachten und auch ernst nehmen. Beispielsweise Delta mit dem Spike-Protein von Omikron, das gibt es schon. ZEIT: Die Pandemie haben zu Beginn viele Menschen als Weckruf betrachtet: Seht, was passiert, wenn wir in die Lebensräume von Fledermäusen vordringen – Artenschutz ist Pandemie-Prävention! Seht, was passiert, wenn wir Lieferketten global optimieren – es fehlen Schutzmasken! Seht, was passiert, wenn wir die Digitalisierung verschlafen – es fehlt eine Dateninfrastruktur! Sind wir heute besser auf einen Ausbruch vorbereitet? Drosten: Es sind jedenfalls allerlei Alarmglocken geläutet worden, manche aus Eigeninteresse besonders laut.
Andreas Sentker
Corona ist noch lange nicht vorbei. Trotzdem beendet Christian Drosten seinen Podcast. Hier erklärt er, warum – und wie wir uns auf den Herbst vorbereiten müssen.
[ "Christian Drosten", "Berlin", "Germany", "Charité", "Omikron", "Pandemie", "Corona", "Podcast", "COVID-19", "Sommer" ]
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2022-03-23T12:37:57+01:00
2022-03-23T12:37:57+01:00
https://www.zeit.de/2022/13/christian-drosten-corona-omikron-forschung?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Essohäuser: Aus Gegnern werden Partner
Da stehen sie, die Politiker und Stadtteilaktivisten, im wunderlichen Ambiente des Panoptikum-Wachsfigurenkabinetts am Hamburger Spielbudenplatz. Eingerahmt von den Figuren von Helmut Schmidt und Willy Brandt, im Hintergrund eine Wandtapete der Sacre Coeur de Montmartre in Paris. Gemeinsam haben sie ein Konzept erarbeitet, "Planbude" heißt es. Es soll dafür sorgen, dass auf dem Areal der abgerissenen Essohäuser ein "echtes, unverwechselbares Stück St. Pauli" entsteht, wie Andy Grote (SPD), Leiter des Bezirksamts Hamburg-Mitte, dem erstaunten Publikum erläutert. Die Essohäuser auf St. Pauli waren im vergangenen Jahr zum bundesweiten Symbol für Gentrifizierung und Verdrängung geworden. Im Frühjahr begannen unter heftigen Protesten die Abrissarbeiten. Und jetzt machen Politiker und St.-Pauli-Initiativen gemeinsam eine Pressekonferenz? Die Medienvertreter, eher an einen rustikalen Umgang zwischen Politik und Protest gewohnt, staunen nicht schlecht, als Christoph Schäfer, Künstler, Aktivist und Mitinitiator des "Planbude"-Konzeptes davon spricht, dass "Hausplanung eben nicht mit oberflächlichen Forderungen" funktioniert. Bis dato waren die Fronten klar definiert: Die Essohäuser-Initiative forderte hundert Prozent sozialen Wohnungsbau, Entschädigungen und ein Rückkehrrecht für die geräumten Wohn- und Gewerbemieter. Der Eigentümer des Areals, die Bayerische Hausbau, wollte sich nur auf den vom SPD-Senat für Neubauten empfohlenen Drittelmix einlassen– jeweils ein Drittel Eigentum, frei finanzierter und sozialer Wohnungsbau. Bei der Auswahl der Gewerbemieter wollte sich der Investor nicht reinreden lassen. Echte Beteiligung aller St. Paulianer Und jetzt? Sowohl die Initiative Essohäuser als auch die Bayerische Hausbau akzeptieren ein von der Stadt finanziertes und abgesegnetes Beteiligungskonzept zur Neubauplanung. Die Bayern "glauben an die Chancen" und das obwohl die Planbude-Crew "sich ganz wesentlich aus Akteuren der Stadtteilinitiativen zusammensetzt, die unseren Vorstellungen für die Zukunft des Areals ablehnend gegenüberstehen". Die Essohäuser-Aktivisten sehen "die große Chance, eine andere Form der Stadtentwicklung zu realisieren". Ganz neue Töne. Tatsächlich sieht das Planbude-Verfahren, das demnächst mit dem Aufstellen von zwei Containern an der Straßenecke Spielbudenplatz und Taubenstraße an den Start gehen wird, ziemlich anders aus als herkömmliche Beteiligungsprozesse. Statt öder Anhörungen oder folgenloser Ideensammlungen, in denen Post-Its auf Wandtafeln verklebt werden, soll es auf St. Pauli in Sachen Partizipation richtig abgehen. Jugendliche, Rentner, Menschen mit Migrationshintergrund und andere, die bei den üblichen Verfahren so gut wie nie mitmachen, sollen für die "Planbude" aktiviert und mitgerissen werden. Vorbild ist der Prozess, der zur Entstehung des Park-Fiction-Parks am benachbarten Pinnasberg führte. Damals zogen Aktivisten mit Modellen durch die Wohnungen und ließen die St. Paulianer kneten, basteln und zeichnen, um aus den Ideen ein Konzept für den Park zu entwickeln. "Die Wünsche verlassen die Wohnungen und gehen auf die Straße" hieß das Motto damals in den neunziger Jahren.
Christoph Twickel
Aktivisten und Politiker beschließen eine gemeinsame Planung für das Gelände der abgerissenen Essohäuser. Spielt der Investor mit?
[ "SPD", "St. Pauli", "Paris", "Helmut Schmidt", "Willy Brandt", "New York", "Bayern" ]
hamburg
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2014-07-22T19:44:06+02:00
2014-07-22T19:44:06+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2014-07/esso-haeuser-plaene/komplettansicht?=&%20icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
F.C. Gundlach: "Dass ich überlebt habe, war zweimal riesiges Glück"
Franz Christian Gundlach, geboren 1926 im hessischen Heinebach, fotografierte Weltstars wie Romy Schneider, Curd Jürgens, Jean-Luc Godard oder Cary Grant und prägte die deutsche Modefotografie. Seit den 80er Jahren konzentrierte er sich auf die Sammlung von Fotografien sowie Ausstellungen und wurde Stifter und Gründer des Hauses der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen. Am Freitag ist er im Alter von 95 Jahren gestorben. 2018 hatte er in einem seiner letzten Interviews mit der ZEIT über sein Werk und sein Leben gesprochen. Wir veröffentlichen dieses hier erneut: Ein Stadthaus in Harvestehude. Im unteren Stockwerk bereiten Mitarbeiter die nächste Ausstellung über den Meister vor, sie startet am 8. November beim Salon de la Photo in Paris. Im Obergeschoss, das er per Treppenlift erreicht, wohnt F.C. Gundlach , umgeben von Bildern. Er nimmt sich vier Stunden Zeit und verzichtet auf das Mittagessen. Eine Pause? Von wegen. "Wir ziehen das durch!" DIE ZEIT: Herr Gundlach, wie geht es Ihnen? F.C. Gundlach: Gut, danke. Aufgrund einer Makuladegeneration sehe ich allerdings schlecht. ZEIT: Ist das Sehen für einen Fotografen und Sammler nicht der wichtigste Sinn? Gundlach: Absolut, das ist für mich ein schwerwiegender Einschnitt. Aber ich bin dankbar, dass ich mich nach wie vor für die Fotografie einsetzen kann. Das hatte für mich immer oberste Priorität. (schlägt das Buch "F. C. Gundlach – Das fotografische Werk" auf) Kennen Sie das Buch? ZEIT: Ja. Das Titelbild zeigt ein Motiv aus Ihrer berühmtesten Serie: Models mit Badekappe vor den Pyramiden. Steht es für Ihre Arbeit? Gundlach: Ja, dieses Foto ist sicherlich mein bekanntestes. Ich werde immer wieder danach gefragt. Es entstand während einer großen Afrikarundreise 1966. Die Reise habe ich damals noch vorfinanziert, weil die Redakteure sich nicht trauten, das im Verlag zu beantragen. Wir sind nach Ägypten geflogen, es war im Januar. Wir fotografierten immer die Sommermode im Januar und Februar und die Wintermode im August. Wenn man in Gizeh ist, muss man die Pyramiden fotografieren, das gehört dazu. Bei der Redaktion kam das Bild anfangs gar nicht gut an, weil ich ja schließlich Bademoden in der Wüste fotografiert hatte. Weit und breit kein Meer. Also gab man der Strecke den absurden Titel Den ganzen Tag am Strand. Unter dem Titel wird es heute noch publiziert. (blättert weiter) Das hier ist vielleicht mein wichtigstes Bild. ZEIT: Romy Schneider. Gundlach: Ja. Ich kannte Romy nur aus den Sissi-Filmen. Wir trafen uns hier in Hamburg an einem regnerischen Novembersonntag im Jahr 1961. Sie war völlig verzweifelt. Sie hat einen neuen Film gemacht in einer tragischen Rolle, und die Leute haben es ihr nicht abgenommen. ZEIT: War es ein schlechter Film? Gundlach: Nein. Die Leute wollten einfach die Kaiserin sehen. Die waren so fixiert darauf. Romy war irrsinnig scheu. Und wenn sie fotografiert wurde, machte sie Faxen, um das zu kaschieren. Dann habe ich gesagt: Fahren wir in mein Studio. Sie brachte ein paar Klamotten mit, sie hat sich selbst geschminkt, niemand war dabei. Nur sie, mein Assistent und ich. Wir haben vier Stunden fotografiert. Dann wurde, ich sag es mal plakativ, aus Romy Schneider wieder Rosemarie Albach. Das war ihr Familienname. ZEIT: Wie haben Sie es geschafft, Romy Schneider davon abzubringen, weiterhin Faxen zu machen? Gundlach: Ich habe ihr die Chance gegeben, sie selbst zu sein. Wir waren ja nur zu dritt. Das war der Intimität der Situation geschuldet. Das Porträt hat sie dann Hunderte Male nachbestellt. ZEIT: Warum genau dieses? Gundlach: Weil sie sich so sah. Ihre Eltern waren geschieden, lebten nicht zusammen, waren Schauspieler. Das war nicht leicht. Die ganze Tragik dieses Menschen ist einfach schon in dem Bild drin. Eines Tages habe ich gesagt: Jetzt habe ich ihr so viele Bilder geschenkt, jetzt müssen wir eine Rechnung schicken. Dann haben wir eine Rechnung geschrieben, und irgendwann kriegte ich eine Überweisung aus Liechtenstein von einer Rosemarie Albach. ZEIT: Wie haben Sie die Situation so gestaltet, dass sie sich Ihnen geöffnet hat? Gundlach: Menschliche Kommunikation. Sie hat mir völlig vertraut. Das war die Basis. ZEIT: Ihr Bild hat Romy Schneider so gezeigt, wie sie ist. Aber ganz anders, als die Menschen sie damals sehen wollten. Gundlach: Twen war anfangs die einzige Zeitung, die das gedruckt hat. Die haben eine Doppelseite daraus gemacht.
Tomasz Kurianowicz
Der legendäre Fotograf F.C. Gundlach ist im Alter von 95 Jahren gestorben. 2018 gab er der ZEIT eines seiner letzten Interviews, das wir hier erneut veröffentlichen.
[ "Franz Christian Gundlach", "Romy Schneider", "Curd Jürgens", "Jean-Luc Godard", "Cary Grant", "Georg Baselitz", "Germany", "Heinebach", "Deichtorhallen", "Hamburger Deichtorhallen" ]
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2021-07-24T19:07:19+02:00
2021-07-24T19:07:19+02:00
https://www.zeit.de/2018/41/f-c-gundlach-fotograf-rueckblick-glueck?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Der Denunziant und sein Opfer
München Die nationalsozialistische Vergangenheit kann auch so bewältigt werden. Ein Studienprofessor, der seinen Freund an den Galgen geliefert hat, unterrichtet acht Jahre lang an einem Münchener Gymnasium Geschichte. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit entfernt ihn das Kultusministerium aus dem Unterrichtsdienst. Doch, nicht etwa für immer: Es versetzt ihn nach Landshut zu dem dortigen Schulbeauftragten des Ministeriums bei der niederbayerischen Regional-Regierung. Der Mann aber, der der Todesstrafe des Volksgerichtshofes nur entkam, weil er während eines Fliegerangriffs aus dem Gefängnis entfliehen konnte, wartet heute noch darauf, daß ihm der Staat eine Entschädigung zahlt. Bei den Kontrahenten dieses exemplarischen Falles handelt es sich um den Studienprofessor Dr. Franz Fischer und den früheren Leiter einer Theatergruppe, Hans Dellefant. Beide waren in dieselbe Schule gegangen. Lange Zeit danach tauschten sie ihre Gedanken aus. Am 29. Juli 1943 trafen sich die Freunde zufällig-auf der Straße wieder. Aus Fischer war unterdessen ein hoher HJ-Führer der Gebietsleitung München geworden. Dellefant kritisierte offen das nationalsozialistische Regime und sprach von einem "verbrecherischen System". Zwei Tage später holte ihn die Gestapo aus dem Bett. Noch hatte Dellefant Glück im Unglück. Zwar bestätigte sein Freund Fischer der Gestapo, was Dellefant wenige Tage zuvor über den "verlorenen Krieg" und die Nazis gesagt hatte. Doch ließ ihn die Gestapo nochmals laufen; erst am 3. Dezember 1943 nahm sie ihn dann endgültig in Haft. Ein Jahr später stand Dellefant vor dem NS-Gericht in München. Wie kaum anders zu erwarten, beantragte der Reichsanwalt die Todesstrafe. Nur dem Umstand, daß sein Anwalt die Aussetzung des Verfahrens durchsetzte, weil er eine Untersuchung des geistigen Zustandes seines Mandanten forderte, hat es Dellefant zu verdanken, daß er heute noch am Leben ist. Während eines Bombenangriffs auf München konnte er der Haftanstalt Stadelheim entfliehen. Wenn auch seine Freiheit zunächst nicht lange währte, weil ihn die NS-Schergen alsbald wieder aufgriffen, so ließ ihn sein Glück doch nicht im Stich: wiederum war es ein Bombardement, das ihm zur Flucht aus dem Polizeigefängnis in Nürnberg verhalf. Er tauchte nun endgültig unter. Als das Großdeutsche Reich besiegt war, versuchte Dellefant für die erlittene Unbill eine Entschädigung zu erhalten. Doch der Staat verwies ihn zunächst an seinen Denunzianten. Nur die übliche Haftentschädigung (150 Mark pro Monat) zahlte er ihm aus. Alle anderen Schäden – Sach- und Gesundheitsschäden – sollte Dellefant bei seinem Denunzianten einklagen. Das freilich war so einfach nicht. Zwar war Fischer von der Spruchkammer München wegen dieses Falles zunächst in die Gruppe der Hauptschuldigen eingestuft worden, und der heutige CSU-Bundestagsabgeordnete Wieninger, der Vorsitzende der Kammer, hatte damals die Denunziation in dem Spruch als "besonders verwerflich" gebrandmarkt. Nach mehreren Rechtszügen aber, die Fischer bis zum höchsten bayerischen Entnazifizierungsgericht trieb, landete er schließlich in der Gruppe der Belasteten. Hatte die erste Spruchinstanz noch sechs Jahre Arbeitslager und den Einzug des Vermögens verfügt, so kam er schon in der Berufungsverhandlung mit zwei Jahren Sonderarbeit und 30prozentigem Vermögenseinzug davon.
DIE ZEIT (Archiv)
Ein exemplarischer Fall für einen problematischen Umgang mit der NS-Vergangenheit: Ein Professor liefert seinen Freund an den Galgen – und unterrichtet jahrelang weiter.
[ "Franz Fischer", "Hans Dellefant", "München", "Landshut", "Nürnberg", "Kultusministerium", "Gestapo", "CSU", "Staatsanwaltschaft", "Galgen" ]
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1964-02-14T08:00:00+01:00
1964-02-14T08:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1964/07/der-denunziant-und-sein-opfer/komplettansicht
Peter Bichsel: Vom verfehlten Leben
Zum Tod des Schriftstellers Peter Bichsel zeigen wir diesen Text noch einmal. Er stammt von 1964, die damalige Rechtschreibung wurde übernommen. Wovon jeder Verleger träumt, worum sich jeder Lektor müht, worauf jeder Kritiker wartet und was leider nur selten bescheinigt werden kann – das ist diesmal dem literarischen Leiter des Walter-Verlages zu Olten in der Schweiz, Otto F. Walter, geglückt: die Entdeckung eines jungen, bisher gänzlich unbekannten und zugleich hochbegabten Schriftstellers. Er heißt Peter Bichsel, wurde 1935 in Luzern geboren, ist von Beruf Lehrer und lebt jetzt in einem Schweizer Ort namens Zuchwil, der winzig sein muß, da ich ihn in mehreren Atlanten vergeblich gesucht habe. Die ersten Arbeiten Bichsels, kleine Prosastücke, die meist nicht mehr als 40 bis 80 Druckzeilen umfassen, füllen kaum ein dünnes Heft. Aber dem Bild der zeitgenössischen deutschen Literatur fügen sie auf ebenso stille wie entschiedene Weise neue Züge hinzu. Diese Miniaturen haben ihr eigenartiges Maß in sich. Um Geschichten handelt es sich. Doch geschieht in ihnen nichts oder fast nichts. Idyllen scheinen es zu sein. Doch kennen sie keine Idyllik. Anekdoten lesen wir. Doch finden wir keine Pointen. Mit Provokationen haben wir es zu tun. Doch nicht die Worte dieses Autors wirken provozierend, sondern seine Pausen. Es ist die Diktion Bichsels, die sofort Sympathie und bald auch Vertrauen erweckt. Endlich jemand, der keine Originalität anstrebt, der nicht nach Effekten jagt und uns nicht mit stilistischen Kapriolen überrumpeln will, der nicht gewaltsam versucht, mit der Sprache aufzutrumpfen. Er verläßt sich auf den Wortschatz des Alltags. Er schreibt einfache, klare Sätze, denen etwas Solides anhaftet, wobei er das Risiko auf sich nimmt, daß man die Einfachheit seines Ausdrucks mit Dürftigkeit verwechselt und die Solidität für Biederkeit hält. Ihm gelingt es, einsilbig, bündig und wortkarg zu sein und doch immer den Eindruck der Künstlichkeit, der Affektation oder gar des Krampfes zu vermeiden. Im Gegenteil: Akkuratesse und Disziplin verbinden sich hier mit erstaunlicher Gelassenheit. Allerdings, Glanz, Bravour und Brillanz sind Bichsels Sache nicht. Aber man kann dieser Prosa eine, wie mir scheint, wichtigere Eigenschaft nachrühmen, der man in der heutigen deutschen Literatur nur in Ausnahmefällen begegnet: die Anmut der Natürlichkeit.
Marcel Reich-Ranicki
1964 gelingt Peter Bichsel der Durchbruch. Marcel Reich-Ranicki schrieb euphorisch über den "bisher gänzlich unbekannten und zugleich hochbegabten Schriftsteller".
[ "Otto F.", "Marcel Reich-Ranicki", "Otto F. Walter", "Peter Bichsel", "Walter Benjamin", "Robert Walser", "Schweiz", "Freiburg", "Olten", "Luzern" ]
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1964-10-16T08:00:00+01:00
1964-10-16T08:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1964/42/vom-verfehlten-leben/komplettansicht
Atomkraft - nein danke!
"Im Jahre zehn nach Tschernobyl wird es Zeit, über die Kernenergie neu nachzudenken", formulierte Gero von Randow in der letzten Ausgabe der ZEIT anläßlich des 9. Jahrestages des ukrainischen Super-GAUS. Warum soll ausgerechnet jetzt neu über die Atomenergie nachgedacht werden? Gibt es neue Argumente in der Sache? Gar neue Machtverhältnisse in der Politik? Nichts dergleichen. Vielmehr habe, so Gero von Randow, der Atomausstieg weltweit nicht stattgefunden, 60 Reaktoren seien seit dem Unglückstag von Tschernobyl weltweit zusätzlich ans Netz gegangen, 55 weitere seien im Bau. Vor allem Ostasien mache große Ausbauanstrengungen in der Atomenergie. Ein deutscher Ausstieg ändere an dieser Entwicklung nichts, im Gegenteil. Sieben deutsche Reaktoren lägen mit ihrer elektrischen Leistung nach wie vor an der Weltspitze, und dies sei ein Nachweis für den hohen deutschen Sicherheitsstandard. Der Atomausstieg in Deutschland bringe nur negative Folgen, vor allem für die kommenden Generationen, denn die Weltbevölkerung werde sich verdoppeln, und zur Deckung des zukünftigen Energiebedarfs könne weder auf fossile noch auf nukleare Energieerzeugung verzichtet werden. Zudem hielten die erneuerbaren Energieträger - Wasser, Wind und Sonne - noch lange nicht, was man an Energieerzeugung für einen wachsenden Weltenergiebedarf brauche. Schluß also mit dem "starren Nein zur Atomkraft", fordert von Randow. Es soll neu nachgedacht werden, und das ist ja bekanntlich immer gut. Freilich, es fällt auf, daß der Autor nicht ein einziges neues Argument als Frucht seines jetzigen Nachdenkens vorzubringen vermag und auch keine wesentlich veränderten Tatsachen, die wenigstens eine Neubewertung bekannter Fakten nahelegen würden. Das einzige wirklich neue Argument ist sehr schlicht: Neun Jahre sind rum seit dem Super-GAU von Tschernobyl, und nichts war es mit dem Atomausstieg! Nun ist dies aber kein Sachargument, sondern spiegelt lediglich die Machtverhältnisse in diesem Land wider. Wo aber, so fragt sich der geneigte Leser, sind die neuen Argumente? Den Atomausstieg gab und gibt es nicht? Betrachten wir uns doch einmal die Entwicklung der deutschen Atomindustrie in den letzten beiden Jahrzehnten. Was ist denn aus dem weiland hochgepriesenen "Brennstoffkreislauf" inklusive Wiederaufarbeitung und dem extrem gefährlichen Plutoniumbrüter geworden? Was aus Kalkar? Aus der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf? Und was wird morgen aus Biblis A, aus Stade, Würgassen, Obrigheim, Brunsbüttel und den anderen der ältesten und sicherheitstechnisch bedenklichsten deutschen Atomreaktoren werden? Sie werden, selbst wenn es in Bonn zu keiner Ausstiegsmehrheit kommt, einer nach dem anderen stillgelegt werden. Doch Kohl wird, das ist gewiß, nicht ewig Kanzler bleiben, und eine Ausstiegsmehrheit unter Beteiligung der Grünen im Deutschen Bundestag wird es irgendwann in der näheren Zukunft sicher geben. Mit der Atomenergie in Deutschland wird es dann zu Ende gehen, das ist gewiß. Betrachten wir uns weiter die vorgebrachten Sicherheitsargumente. Gero von Randow schließt von der erbrachten elektrischen Leistung eines Reaktors im Dauerbetrieb auf dessen Sicherheit. Welch ein Irrtum! Denn mit an der Spitze dieser Leistungsskala steht ausgerechnet der Reaktor Biblis A, eine wahre Goldgrube für seinen Betreiber, aber unter Sicherheitsgesichtspunkten ein höchst fragwürdiges Atomkraftwerk. Sicherheit in der Atomenergie ergibt sich nicht aus der Tatsache, daß nichts passiert ist, sondern aus der technischen Beherrschbarkeit möglicher Schadensfälle durch die Anlage. Mit Biblis A hatte ich vier Jahre als zuständiger hessischer Atomminister zu tun. Ich will dabei gar nicht von Kleinigkeiten reden. Etwa dem Betonmantel der Reaktorhülle, der so dünn ist, daß er kaum einem Flugzeugabsturz standhalten dürfte. Flugzeugabstürze gehören aber nach deutschem Atomrecht zum "Restrisiko". Im Falle einer Nachrüstung zahlt nicht der Betreiber, sondern der Staat mit Steuergeldern.
Joschka Fischer
Streit um die Kernenergie: Joschka Fischer antwortet auf Gero von Randows ZEIT-Leitartikel
[ "Atomausstieg", "Atomenergie", "Atomkraft", "Atomkraftwerk", "Ostasien", "Bundesrepublik Deutschland", "England", "USA", "Biblis", "Bonn" ]
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1995-04-28T14:00:00+02:00
1995-04-28T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1995/18/Atomkraft_-_nein_danke_
Leipzig, wie es wirklich war
Keine alltägliche Familie: Der Alte ist General der Volkspolizei, die Tochter im Baudezernat Architektin, der Sohn Hauptmann bei der Stasi. Das riecht nach Nomenklatura. Da aber alles zur Zeit der Götterdämmerung der DDR spielt und die Stadt Leipzig heißt, ist der Familie ein Personal beigegeben, das den dramatischen Knoten schürzt: Dem General Albert Bacher - zu Beginn der Haupthandlung, 1985, schon ein Jahr tot - seine ergebene Frau Marianne, die mal ein Verhältnis mit einem Republikflüchtling hatte. Der Tochter, Astrid Protter, steht ein friedlich mitlaufender Ehemann zur Seite, beschäftigt irgendwo in einem der Feld-Wald-Wiesen-Betriebe der DDR. Und dem Stasi-Hauptmann Alexander Bacher läuft ein himmlisch-schnuckeliges Wesen namens Claudia Engelmann über den Weg, das sich in der Umweltbewegung der DDR engagiert hat. Sie alle haben wieder Freunde und Bekannte, darunter jede Menge friedensbewegter Pfarrer, ein paar "Inoffizielle Mitarbeiter" der Stasi (prominentester ein Rechtsanwalt Schnuck), kurz jeder kennt irgendwie jeden im Ländle, alle zusammen bilden sie ein Biotop, das geradezu prototypisch für die gewesene DDR ist. Alles in allem eine reichlich abgedroschene Konstellation - dennoch ist das Buch mehr als Kolportage. Man braucht eine Weile, bis man begreift, wie Erich Loest es vermeidet, seine Chronik der letzten Jahre ganz und gar in die Niederungen des Kitsches zu lenken. Die Hauptarbeit dabei leistet die Geschichte selbst, die der 1926 in Sachsen geborene Autor nüchtern erzählt und in der Pathos und revolutionärer Schwung ganz fehlen. Dazu kommen die literarischen Kunstgriffe: Der Stasi-Hauptmann ist kein dämonischer Bösewicht, sondern einer jener leicht dicklichen Bürohengste, Handlanger der Macht, wie sie in Deutschland Tradition haben. Er beklagt verdrießlich die zunehmende Schlampigkeit der DDR-Gesellschaft, die allmählich auch auf die Arbeit der Stasi abfärbt. Angesichts der Dämlichkeit einiger IM könnte er aus der Haut fahren. Seine Vorgesetzten sind zwar sakrosankt, aber über ihre "Laschheit" ist er doch tief entsetzt. "Durchgreifen" müßte man, wie damals beim 17. Juni. Doch freilich ist da der große Bruder im Osten, der nicht mehr recht mitziehen will . . . Verharmlost Loest die Stasi? Gewiß nicht. Er malt sie nur nicht schwarz in schwarz. Wer glaubt, die Stasi literarisch gewissermaßen ständig bei Manifestationen ihrer Allmacht ertappen zu müssen, hat wenig von der vielberufenen "Banalität der Macht" begriffen. Andererseits sind auch die Gegenspieler von der Opposition keine reinen Lichtgestalten. In den oberen Rängen nicken die Pfarrer salbungsvoll lieber einmal zuviel als zuwenig, manche Kirchenleute kungeln mit Partei und Staat und wollen eher die Einrichtung Kirche retten als die Menschen, die sie eigentlich erst ausmachen. Unten werkeln sie wacker am Weinberg des Herrn. Eine Handvoll sind es, die wirklich Respekt abnötigen: Pfarrer, die mutig alle verteidigen, die bei ihnen Schutz suchen, die die Kirchen zu Stätten einer gewaltlosen Opposition machen. Loest zeigt, wie schwierig ihre Stellung war. Der Titel des Buches ist schließlich Programm: "Nikolaikirche". St. Nikolai ist Synonym für etwas, das über den Staat hinausreicht, und genau daraus bezieht der Roman seine Kraft - ungeachtet aller Momente des Kitsches. Erich Loest ist ein genauer Kenner seiner Stadt. Weder ihre Licht- noch ihre Schattenseiten sind ihm fremd. Er hat ihren Verfall genau protokolliert, hat die Ausweglosigkeit zuverlässig eingefangen, mit der die DDR zeit ihrer Existenz mal mehr, mal weniger zu kämpfen hatte. Erich Loest erzählt weniger Geschichte als Geschichten: retrospektive, gegenwärtige, imaginierte. Sie überfrachten das Buch. Es gibt keinen der grundlegenden, antagonistischen Konflikte der früheren DDR, der nicht irgendwo und irgendwie auftaucht. Oder zumindest beredet wird. Dabei legt Loest Handlungsfäden, die später nicht wieder aufgenommen werden. Es gibt eine interessante Passage, in der die Unterhaltung eines höheren Berliner Stasi-Offiziers mit Rechtsanwalt Schnuck geschildert wird. In kryptischer Rede wird dort eine langfristige Strategie bestimmter Stasi-Kreise angedeutet, die Oppositionsbewegungen der DDR so zu unterwandern, daß man sie auch später - was heißt später? - steuern könnte. Wer sich daran erinnert, daß dies im Falle Ibrahim Böhme fast geklappt hätte, dankt noch heute dafür, daß die Stasi-Akten zugänglich sind und offen gehalten werden. Loest allerdings läßt den Faden fallen. Schien das Ganze dem Autor doch zu unheimlich? Gerade die Erfahrungen Erich Loests mit der Stasi, die ihn nicht nur für sieben Jahre, von 1957 bis 1964, ins Zuchthaus brachte, sondern auch lückenlos bis zu seiner Ausreise 1981 überwachte, ließen wünschen, er wäre etwas ausführlicher geworden. Nicht sehr gnädig geht er mit einem bestimmten Typ des West-Intellektuellen um, der vor lauter Entspannung nicht mehr die Wirklichkeit der DDR wahrnehmen wollte - oder durfte. Zwar schildert er diese Spezies ohne Häme, sogar mit einer gewissen Sympathie, Verständnis bringt er nicht für sie auf. Zu warnen ist davor, das Buch als Schlüssel- oder gar Tatsachenroman zu lesen. Loest hat - wie schon in seinen Büchern "Völkerschlachtdenkmal" oder "Zwiebelmuster" - ohne Zweifel viel dokumentarisches Material verwendet, Handlung und Personen jedoch sind weitgehend Fiktion. In Pfarrer Ohlbaum glaubt man Züge von Christian Führer zu erkennen, einen der bekanntesten Pfarrer von St. Nikolai; natürlich taucht auch Kurt Masur auf, aber das sind im Grunde schon fast willkürliche Zuordnungen. Loests Figuren sind typisiert, sie personifizieren bestimmte Handlungs- und Denkweisen. Mag sein, daß der Schriftsteller hier noch mit Rudimenten des weiland sozialistischen Realismus zu kämpfen hat.
ZEIT ONLINE
Erich Loests Roman: Nikolaikirche
[ "Erich Loest", "Leipzig", "Buch", "DDR", "Ibrahim Böhme", "Kitsch", "Kurt Masur", "Rechtsanwalt", "Stasi", "Volkspolizei" ]
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1995-09-08T14:00:00+02:00
1995-09-08T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1995/37/Leipzig_wie_es_wirklich_war/komplettansicht
Der Traum wurde zum Alptraum
Im Rosario Center for Adult Education gibt Mrs. Vargas Englischunterricht für Neuankömmlinge. Die Volkshochschule liegt am Rande von Georgetown, dem schicksten Viertel von Washington und wahrhaft multikulturellen Zentrum der Eliten: Botschaftsangehörige aus aller Welt, die politische Klasse der Hauptstadt, mittendrin das Restaurant "Filomena", wo Helmut Kohl und Bill Clinton italienisch speisten. An drei Abenden in der Woche zeigt sich vor dem Rosario Center ein anderes Gemisch der Kulturen: zerbeulte Autos voller Südamerikaner, ängstlich davonhuschende Osteuropäer, alle eingehüllt in die Dieselschwaden altersschwacher Busse. Mrs. Vargas, puertoricanischer Herkunft und damit automatisch Inhaberin eines amerikanischen Passes, stellt ihren Schülern die Hausaufgabe, einen Aufsatz über den Rassismus zu schreiben. Mrs. Vargas sagt, sie habe eine "deutliche Meinung" zu dem Thema, verrät aber nicht, welche. Englisch, gepaart mit aktueller Politik: Nichts bewegt in den Vereinigten Staaten gegenwärtig die Gemüter mehr als der Freispruch für den schwarzen Footballer und Filmschauspieler O. J. Simpson und der vom Prediger des Hasses, Louis Farrakhan, angeführte "Marsch der Millionen Männer" auf Washington. Die beiden Ereignisse haben die Frage nach dem Miteinander der Rassen virulent gemacht. Mrs. Vargas läßt anklingen, daß die Wiege der Menschheit wahrscheinlich in Afrika lag, daß sich im Zuge der Evolution verschiedene Rassen entwickelt hätten. "Wie bitte?" räuspert sich vernehmlich der Schüler Arthur, ein junger Tscheche, "das kann doch wohl nicht wahr sein." Unbeirrt gibt Mrs. Vargas zu bedenken, daß schwarze Latinos es schwerer haben als alle anderen: Sprachprobleme, kein amerikanischer Paß und zugleich Opfer von Diskriminierung wegen ihrer Hautfarbe. Dies stachelt die Lateinamerikaner im Klassenzimmer an. "Teacher", schwingt sich einer zu der absurden Behauptung auf, "teacher, es gibt keine schwarzen Latinos." Paradoxes im Schmelztiegel: Auf der einen Seite hat erstmals ein Schwarzer, General Colin Powell, Aussichten, in das Weiße Haus einzuziehen; ein epochaler Durchbruch. Auf der anderen Seite steckt die Mehrheit der Farbigen unentrinnbar im Armenhaus, in einem Armenhaus zudem, das noch einmal säuberlich nach Etagen trennt. Oben wohnen jene, die wenigstens Staatsbürger sind und Englisch sprechen, ganz unten solche, die illegal eingewandert sind und sich allenfalls in ihrer unmittelbaren Umgebung auf Spanisch verständigen können. Jenseits der Mall, des von neoklassischen Fassaden gesäumten Boulevards zwischen dem Kapitol und dem Obelisken des Washington Monument, beginnt die andere Hauptstadt, Washingtons Südosten, in den keiner aus dem Nordwesten, dem diplomatischen Viertel, ohne Not geht. Gangsterbanden und Drogenhändler beherrschen dort die Straßen. Nachts schlafen im Southeast viele auf den Fußböden ihrer Wohnungen - aus Angst vor drive by shootings: Die Gangs beschießen Häuser, in denen sie Rivalen vermuten, aus schnell vorbeifahrenden Autos mit Maschinenpistolen. Morgens findet die völlig hilflose Polizei nur noch die weggeworfenen Magazine. So tumb sind die Killer, daß sie nicht einmal wissen, wie solche Magazine wieder zu laden sind. Schlau allerdings sind sie, wenn sie Crack anbieten, die Billigvariante von Kokain. Da schicken sie die Jüngsten vor, manchmal Zwölfjährige, die allenfalls mit einer Jugendstrafe rechnen müssen. Zu deren Initiationsritus gehört es, auf einen herannahenden Streifenwagen sofort zu schießen. Vor 32 Jahren führte Martin Luther King, der Baptistenpfarrer aus Atlanta, der Mahatma Gandhi nacheiferte, seinen Marsch auf Washington an. Er predigte die Gewaltlosigkeit, distanzierte sich von jenen, die schon damals "Black Power", schwarze Macht, forderten, und hielt seine Rede, die Geschichte machte: "I have a dream." King hatte einen Traum vom friedlichen Miteinander der Rassen. Dafür wurde er 1964 mit dem Friedensnobelpreis bedacht. Sein Marsch hatte, wie Angela Davis - ehedem Mitglied der militanten "Schwarzen Panther", heute Professorin in Atlanta - im skeptischen Vergleich zu Louis Farrakhans Männermarsch bemerkte, eine "Struktur". Jener Marsch von einer viertel Million Menschen war der Höhepunkt einer Bürgerrechtsbewegung, deren Ziele in den Folgejahren erfüllt wurden: Wahlrecht für alle, Schluß mit der Rassentrennung in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen.
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Von Martin Luther King zu Louis Farrakhan: In Amerika vertieft sich der Graben zwischen den Rassen
[ "Bill Clinton", "USA", "Louis Farrakhan", "Martin Luther", "Traum", "Jesse Jackson", "Kokain", "Republikaner (USA)", "Atlanta", "Alabama" ]
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1995-10-20T13:00:00+01:00
1995-10-20T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1995/43/Der_Traum_wurde_zum_Alptraum/komplettansicht
Der Frieden brauchte seinen Mut
Jerusalem Sie kommen am Tag und in der Nacht und verharren in stiller Andacht vor dem frischen, mit Blumen, Kränzen und Plakaten bedeckten Grab auf dem Herzlberg in Jerusalem. Sie zünden Gedächtniskerzen an, schreiben Gedichte und Briefe, singen leise Lieder und bitten Jitzhak Rabin um Verzeihung, daß sie ihn nicht rechtzeitig unterstützt und beschützt haben. Sie kommen aus allen Teilen des Landes. Sie versprechen, Rabins Werk fortzusetzen und sein politisches Erbe, den Frieden, zu erfüllen. Die schweigende Mehrheit des Landes bietet jetzt dem toten Regierungschef, was ihm im Leben nicht vergönnt war. Es ist ein endloser Strom von Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, junge und ältere, aber meistens Jugendliche, für die Rabin Vaterfigur und wahrer Sohn seines Landes war. Tausende strömen, Tag und Nacht, auch zu dem großen Platz vor dem Rathaus von Tel Aviv, der jetzt auch offiziell vom Platz der Könige Israels zum Jitzhak-Rabin-Platz umbenannt wurde. Es zieht sie immer wieder zu dem Ort, an dem Israels Ministerpräsident und Verteidigungsminister nach einer riesigen Friedenskundgebung seinen tragischen Tod von der Hand eines jungen nationalistisch-religiösen Fanatikers gefunden hat. Sie stehen auch stundenlang vor dem großen Wohnhaus im Tel Aviver Vorort Ramat Aviv, wo die Witwe Lea Rabin mit ihrem Mann zwanzig Jahre zu Hause war. Sie wollen so der Familie ihr Mitgefühl und ihre persönliche Trauer bekunden. Denn sie fühlen sich alle selbst betroffen, verlassen und verwaist. Die trauernde Witwe Lea Rabin bedankte sich für diese spontanen Solidaritätserklärungen vor ihrem Haus, aber sie sagte auch, wie schade es sei, "daß ihr nicht gekommen seid, als jede Woche Dutzende Rechtsextremisten hier gegenüber standen und meinen Mann ,Verräter` und ,Mörder` nannten". Wie gerne würde sie Jitzhak von diesen herrlichen Sympathiekundgebungen berichten. Im Tod hat Jitzhak Rabin den ihm gebührenden Platz in der Geschichte seines Landes und seines Volkes eingenommen. "Ein einziger in seiner Generation der 1948er", heißt es in vielen Nachrufen über das Jahr, in dem eine kleine Anzahl junger Männer wie Rabin den eben geborenen Staat mit unendlicher Tapferkeit, Aufopferung und Entschlossenheit gegen weit überlegene Armeen verteidigt und gerettet hat. Das ist ein Titel, der bisher Israels Staatsgründer David Ben-Gurion vorbehalten war.
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Jitzhak Rabin hat ein Leben lang für Israel gekämpft. Das verwaiste Volk will sein Testament erfüllen
[ "Israel", "Schimon Peres", "Jitzchak Rabin", "Lea Rabin", "Frieden", "Golda Meir", "Jassir Arafat", "Palästinenser", "Syrien", "Jerusalem" ]
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1995-11-10T13:00:00+01:00
1995-11-10T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1995/46/Der_Frieden_brauchte_seinen_Mut/komplettansicht
Leuchtende Vorbilder
Seit fast einem halben Jahrhundert hat es zwischen den Israelis und ihren arabischen Nachbarn Kriege gegeben, auch Kriegsgreuel. Auf beiden Seiten gab es Attentate, gibt es auch heute und künftig extreme Fundamentalisten, die sich mit ihrem Terrorismus auf Gottes Seite wähnen. Hier wie dort haben Soldaten im Bewußtsein des Rechtes ihrer Völker ihre militärischen Pflichten erfüllt. Jitzhak Rabin war einer der hervorragenden und erfolgreichen militärischen Führer, Anwar as-Sadat auf der Gegenseite desgleichen. Beide Soldaten sind im Laufe ihres Lebens zu Politikern und sodann zu Friedensstiftern geworden. Sadat war der begeisternde Vorreiter. Er mußte dafür, 1981 in Kairo, sein Leben geben. Vierzehn Jahre später ist der Friedenspolitiker Rabin in gleicher Weise zum Opfer geworden. Rabin und Sadat waren geschichtsbewußte Menschen. Dem einen waren die fünf Jahrtausende ägyptischer Geschichte geläufig, dem anderen die vier Jahrtausende jüdischer Geschichte. Beide lebten im Glauben an ihren Gott und ihre heiligen Schriften. Das schloß auch die ihnen gemeinsamen Propheten ein, auch Abraham und Moses. Für beide waren der Sinai und die 3000 Jahre alte Stadt Jerusalem Symbole von hoher religiöser Bedeutung. Auch wenn das Wissen über die gemeinsamen Wurzeln weitgehend vergessen worden ist, waren diese beiden Feinde dennoch Kindeskinder Abrahams. Rabin und Sadat waren beide davon überzeugt: Freiheit und Würde des Menschen gibt es nur im Glauben an Gott und an seine Gebote. Beide wußten sich gebunden an letzte Werte, die dem Menschen vorgegeben sind. Allerdings: Die sittliche Pflicht zur Achtung der Würde des anderen, auch des Feindes und seines Rechts auf Freiheit, war ihnen noch nicht in der Jugend bewußt, auch wohl noch nicht in ihrer Soldatenzeit. Diese Erkenntnis ist ihnen erst später zugewachsen, im Reifungsprozeß ihres Lebens. Die einmal gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens haben sie nicht wieder aufgegeben. Und weil ihnen die Tugend der Tapferkeit zu eigen war, konnten sie Führer zum Frieden werden. Die Morde an Sadat und Rabin geben am Ende doch auch eine Hoffnung. Denn ihr Opfer hat beide zu weithin leuchtenden Vorbildern werden lassen.
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Erst Anwar as-Sadat, jetzt Jitzhak Rabin
[ "Israel", "Jizchak Rabin", "Recht", "Anwar al-Sadat", "Attentat", "Bewusstsein", "Frieden", "Geschichte", "Glaube", "Hoffnung" ]
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1995-11-10T13:00:00+01:00
1995-11-10T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1995/46/Leuchtende_Vorbilder
Auf immer, mein Freund
Man nennt sie die Kerzenkinder. Niemand hatte sie geschickt, sie kamen von allein - die ungezählten Teenager, die sich nach der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin spontan am Tatort, vor seiner Privatwohnung in Ramat Aviv und vor seinem Amtssitz in Jerusalem versammelten. Dort hockten sie mit rotgeweinten Augen, tagelang, nächtelang, und zündeten Lichter an. Viele kommen auch jetzt noch. Der gewaltsame Tod Jitzhak Rabins hat die israelische Jugend in einem Maße erschüttert, wie es kaum jemand für möglich gehalten hätte. Trauergraffiti an den Häuserwänden sind adressiert an einen geliebten Großvater: "Wer wird jetzt auf uns aufpassen? Ich hätte gedacht, Du würdest immer hier sein." - "Sei stark dort oben." - "Wir lieben Dich, Rabin." Verblüfft versucht Israel, sich dieses Verhalten einer bisher als eher unpolitisch geltenden Jugend zu erklären. Doch wer genau hingesehen hat, konnte die Anzeichen für diesen Wandel schon bei der Friedensdemonstration unmittelbar vor dem Attentat erkennen. An diesem Abend umarmte Jitzhak Rabin den 22jährigen Rockstar Aviv Geffen liebevoll auf der Bühne. Ausgerechnet Aviv Geffen, mögen sich viele erwachsene Zuschauer gedacht haben. So sehr Tausende von Teenagern ihn anhimmeln, den Eltern ist dieser stets stark geschminkt auftretende populäre Sänger suspekt. In seiner Musik geht es um tiefe Gefühle - und um knallharte Provokation. Auf seiner jüngsten Platte, die im Mai erschien, hatte er unter anderem von einem "betrunkenen Ministerpräsidenten" gesungen. Das führte zum Eklat. Parteifreunde Rabins riefen nach Zensur. Er halte die Flagge hoch, sagte der Antiheld Aviv Geffen, "für die Schwachen, gegen die Gesellschaft, gegen die Regierung und gegen die Armee". Vor zwei Monaten waren sich Jitzhak Rabin und Aviv Geffen dann in einer Talk-Show begegnet - und hatten miteinander Frieden geschlossen. Geffen witzelte, Rabins Frau Lea habe sich bei einem seiner Konzerte vor Begeisterung die Kleider vom Leibe gerissen, worauf Rabin laut lachte: "Oh, davon hat sie mir gar nichts erzählt." Überhaupt war Jitzhak Rabin in den Wochen vor seinem Tod viel mit jungen Leuten zusammengetroffen. Der General und Friedensmacher wirkte dabei nach dem Eindruck vieler Beobachter weicher als sonst. Am Abend der Friedensdemonstration kam Geffen zu seinem Auftritt zu spät. Eigentlich hätte zum Abschluß nur mehr die Tikwa, die Nationalhymne, gespielt werden sollen. Doch Rabin selber bestand bei den Veranstaltern darauf, daß Geffen doch noch singen solle. Und der sang "Auf immer und ewig, mein Freund" - ein Lied, das er geschrieben hatte, als er vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall einen Freund verlor: "Ich komme zu dir und weine, / sei stark dort droben, / meine Sehnsucht ist / wie eine Tür, die in der Nacht sich öffnet. / Auf immer und ewig, mein Freund, / werde ich an dich denken, / und am Ende werden wir uns treffen, / das weißt du, / und ich habe Freunde, / doch auch sie vergehen vor deinem gleißenden Licht." Aus diesem Lied ist inzwischen ein nationales Trauerlied für Rabin geworden. Was so gespenstisch gewesen sei, sagt Aviv Geffen rückblickend: Es habe während des ganzen Abends eine so glückliche Stimmung geherrscht. "Aber ich wollte ein trauriges Lied singen. Für all die Leute, die im Kampf für den Frieden getötet worden sind und die den Frieden selbst nicht mehr erleben können." Zehn Minuten später konnte der Sänger die Schüsse des Mörders hören.
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Politisch wie nie zuvor: Nach Rabins Tod hat Israels Jugend ihr Thema gefunden — den Frieden. Ihr Held ist der Rocksänger und Pazifist Aviv Geffen
[ "Israel", "Jitzchak Rabin", "Jigal Amir", "Tom Segev", "Bob Dylan", "Achtundsechziger", "Frieden", "Jugendliche", "Mosche Dajan", "Jerusalem" ]
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1995-11-24T13:00:00+01:00
1995-11-24T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1995/48/Auf_immer_mein_Freund/komplettansicht
Gesichter fast immer wie eine Maske
arte, 21.-23. Dezember: "Der Kummer von Flandern" Der europäische Film war, nach der Stummfilmära, in seinen künstlerischen Spitzen ein Film der Dialoge und der "Aussage", war episch auch in seinen Bildern und ist es wohl immer noch. Das amerikanische Kino hat eine andere Entwicklung durchlaufen. So wichtig das Drehbuch für das Gelingen eines Werkes ist - man könnte einem amerikanischen Film, dem die Tonspur fehlt, leichter folgen als einem europäischen. In Hollywood wurde das Kino mimetisch. Die unwillkürlichen Reaktionen der Miene, des Atmens, der Hände erzählen hier die Geschichte. Das, was geredet wird, ist schon Kommentar oder Ausflucht. Welche Kinotradition sich besser dazu eignet, Literatur zu verfilmen, ist schwer zu entscheiden. Man sollte beide nicht gegeneinander ausspielen. Und man ist ja mit "Vom Winde verweht" ähnlich glücklich wie mit dem "Tod in Venedig". Dennoch hat man als Europäer das Gefühl, daß die Heimat der "großen" Romanverfilmung, die dem literarischen Werk dienen und ihm Bilder leihen will, Europa bleiben wird. In Amerika, so die Furcht, wird der Roman vom Film gefressen, und es wird ein ganz anderes Kunstwerk daraus, das keine Vorlage gebraucht hätte. Aber vielleicht ist das eine Fehleinschätzung. Claude Gorettas Verfilmung von Hugo Claus' Roman "Der Kummer von Flandern" hätte jedenfalls in Amerika nicht entstehen können. Der TV-Dreiteiler von insgesamt viereinhalb Stunden erzählt die Geschichte des Jungen Louis Seynaeve mit jener Freude am Wort und dem Wissen um seine Bedeutung als Stifter von Glück und Schrecken, die es so nur im europäischen Film gibt. Louis' Gesicht, wenn er den Erwachsenen zuhört, wenn er mit Furcht und Widerwillen kämpft, wenn er eine geheime Befriedigung unterdrückt, ist fast immer eine stille Maske; aber wenn er etwas zu sagen hat und das aus ihm rausbricht, blicken die Augen, zittert das Kinn. Und so geht es allen Figuren dieses Films: seiner Mutter Constance, seinem Vater Staf, der Großfamilie, den Lehrern und Nonnen. Hier spürt man, daß zu den Ahnen des Films auch das Theater gehört, und man genießt es. Louis ist im Jahre 1939, als der Film beginnt, ein Bürschchen von vierzehn, am Ende, als die Alliierten landen, ein junger Mann. Seine Heimat ist Flandern, sein Vater vorübergehend fasziniert vom Angebot der Nazis, das Land in ein neues Großgermanien heimzuholen. Auch Louis läßt sich mit der Nationalsozialistischen Jugend Flanderns ein; seine Mutter verfällt einem deutschen Funktionär. Aber dann bringt der Krieg die Familie zurück zu sich selbst und nach Belgien. Und Louis, viel zu früh mit Not und Grausamkeit bekannt gemacht, schultert den ganzen "Kummer von Flandern". Dieser sehr europäische Stoff hätte ohnehin in Hollywood kaum Interesse gefunden, er hat aber auch seine ästhetischen Wurzeln ganz und gar in Europa. Goretta ließ den Krieg und die Verwirrung der kleinen Leute aus der Perspektive eines Knaben Bild werden - mit viel Sinn für die Bedeutung der Enthüllung, der Initiation, der Entzauberung, wie Kinder sie durchmachen. Und immer spürte man dahinter das mächtige Prosawerk, das hier aufgeführt wurde: Literatur-Kino, Wort-Kino, das dennoch ganz Kino, beziehungsweise Fernsehen, war und auch durch die Miniaturisierung auf dem Bildschirm nichts von seinem Format verlor.
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1995-12-29T13:00:00+01:00
1995-12-29T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1996/01/Gesichter_fast_immer_wie_eine_Maske
Konjunktur auf schmalem Grat
War's das schon? Zum Jahreswechsel fragen sich viele Deutsche, ob der Aufschwung zu Ende ist, noch ehe er richtig begonnen hat. Statt eines kräftigen Wachstums mit spürbarem Abbau der Arbeitslosigkeit, wie es fast unisono für 1995 prognostiziert wurde, legte die Wirtschaftsleistung nur schwach zu, die Zahl der Erwerbslosen erhöhte sich sogar. Weil die Wirtschaft in den letzten Monaten dieses Jahres stagniert, in einigen Bereichen gar schrumpft, blicken viele Bürger besorgt ins neue Jahr. Die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Prognosen in den vergangenen Tagen korrigiert - nach unten. Dennoch: Für Schwarzmalerei besteht ihrer Ansicht nach kein Anlaß. Zwar ist die Konjunktur labil, geht das prognostizierte Wachstum kaum über die Marge der Schätzungenauigkeit hinaus, doch selbst Heiner Flaßbeck vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), ein ausgemachter Skeptiker, meint: "Man kann wirklich nicht sagen, daß ein Abrutschen in die Depression droht." Auch wenn die Meinungen im Detail auseinandergehen, in einem stimmen die Konjunkturforscher überein: "1996 werden die verbesserten Rahmenbedingungen durchschlagen" (Klaus-Werner Schatz, Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft). Dazu zählen die niedrigeren Zinsen, die weitgehende Korrektur der Mark-Aufwertung, die bevorstehende Steuerentlastung für kleinere und mittlere Einkommen und die vorsichtigere Lohnpolitik. Hinzu kommt, daß die Weltwirtschaft weiter wächst. Selbst wenn der Welthandel im kommenden Jahr etwas schwächer expandiert - eine Rate von 8,2 Prozent, wie von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vergangene Woche prognostiziert, spricht nicht für ein weltweites Rutschen in die Rezession. Doch so unbestreitbar die positiven Faktoren sind - sie werden nicht kräftig genug sein, um in Deutschland ein Wachstum von weit über zwei Prozent zu erreichen, wie es benötigt würde, um die Arbeitslosigkeit endlich zu verringern: ¨ Steuerentlastung: Ein großer Teil wird durch steigende Beiträge zur Renten-, Pflege- und Krankenversicherung aufgezehrt, so daß am Ende nicht viel mehr als eine Entlastung um rund zehn Milliarden Mark oder knapp 0,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes herauskommen wird. Das ist zuwenig, um die Konjunktur durch einen massiven privaten Nachfrageschub voranzutreiben. ¨ Außenwert der Mark: Völlig wettgemacht ist die starke Aufwertung vom Beginn dieses Jahres noch nicht, und niemand weiß, welche Kursbewegungen die Vorbereitung der Europäischen Währungsunion auslöst. ¨ Löhne: Noch ist das "Bündnis für Arbeit" von IG-Metall-Chef Klaus Zwickel nicht unter Dach und Fach, auch aus den Gewerkschaften kommen kritische Stimmen. Scheitert es, können Verteilungskämpfe nicht ausgeschlossen werden, selbst wenn sich ein so überzogener Abschluß wie 1995 nicht wiederholen dürfte.
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[ "Theo Waigel", "Bundesbank", "Günter Rexrodt", "Bundesregierung", "FDP", "Heiner Flassbeck", "Konjunktur", "Deutsche Bank", "Ifo-Institut", "Bündnis für Arbeit" ]
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1995-12-29T13:00:00+01:00
1995-12-29T13:00:00+01:00
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Willkommen im Jahr 2016
Dunkle Wolken über Spree-Athen. Die Berliner Republik steht vor einer schweren Entscheidung. Noch ist nichts endgültig. Aber es scheint ganz so, als sei die Beschaffung des neuen Kampfflugzeuges Peace-forever-3000 aus französisch-deutsch-chinesisch-nigerianischer Koproduktion schon abgemachte Sache. Die Nachfolgermaschine des Jäger 90, der sich ja leider als technisch völlig unzulänglich erwiesen hat, ist schon in der Modellierungsphase. Der nimmermüde Altgeneralinspekteur Naumann betonte jetzt aufs neue die "absolute Notwendigkeit dieser sicherheitspolitischen Maßnahme". Trotzdem wagen wir die Gegenfrage: Stimmt es wirklich, daß die Bedrohung aus dem All "stündlich zunimmt", wie Naumann meint? Noch konnten keine außerirdischen Maschinen im Anflug auf die Erde eindeutig identifiziert werden. Und wenn man auch konzediert, daß wir "auf alles gefaßt sein müssen" (Naumann) - 70,3 Milliarden Euro-Mark pro Vogel erscheinen uns denn doch etwas zu hoch beziehungsweise tief in die Tasche des Steuerzahlers gegriffen. Nichts für ungut! Aber darüber sollte Berlin wirklich noch einmal tüchtig schlafen!
DIE ZEIT
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[ "Republik", "Vogel", "Berlin" ]
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1995-12-29T13:00:00+01:00
1995-12-29T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1996/01/Willkommen_im_Jahr_2016
Trotz alledem?
Auf diese Biographie Rosa Luxemburgs, rechtzeitig zu ihrem 125. Geburtstag am 5. März herausgebracht, durfte man aus zwei Gründen gespannt sein. Zum einen: Seit der großen Arbeit Peter Nettls Mitte der sechziger Jahre sind zwar zahlreiche biographische Studien erschienen, aber keine erreichte auch nur annähernd das vom britischen Historiker markierte Niveau - sieht man einmal von dem Portrait der amerikanischen Autorin Elzbieta Ettinger aus dem Jahre 1986 (deutsche Übersetzung bei J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 1990) ab, deren Interesse sich allerdings auf das bislang vernachlässigte private Leben Rosa Luxemburgs, weniger auf ihre politischen Aktivitäten richtete. Seit 1989, mit der Öffnung der Archive in Ost-Berlin und in Moskau, gibt es eine völlig neue Forschungsfreiheit. Jetzt sind Quellenbestände zugänglich, die den Historikern, vor allem den westlichen, früher verschlossen waren. Was liegt näher, als erneut den Versuch zu wagen, Leben und Wirken der bedeutenden revolutionären Sozialistin in großem Zusammenhang darzustellen? Zum anderen: Die Autorin Annelies Laschitza hat sich bereits zu DDR-Zeiten nicht nur als Mitherausgeberin der Briefe und Werke Rosa Luxemburgs einen Namen gemacht; sie hat auch gemeinsam mit ihrem Kollegen Günter Radczun im Jahre 1971 eine Rosa-Luxemburg-Biographie veröffentlicht, die ganz auf der Linie des zur Staatsdoktrin erhobenen Marxismus-Leninismus lag und dem Nachweis diente, daß mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR "auch Rosa Luxemburgs Vermächtnis erfüllt" worden sei. Zu diesem Zwecke mußten allerdings die grundlegenden Differenzen zwischen Rosa Luxemburg und Lenin verwischt werden: "Gemeinsam, Seite an Seite" hätten "sie unbestechlich um die Erfüllung der historischen Mission des Proletariats gekämpft". Wie würde sich die Verfasserin nun, nachdem ihre Fixsterne, die DDR und die Sowjetunion, nicht mehr existieren, mit ihrer ideologisch verzerrten Darstellung von einst auseinandersetzen? Die hochgespannten Erwartungen werden enttäuscht, und dies gleich zweifach. Annelies Laschitzas Biographie öffnet nicht, wie es die Verlagswerbung verspricht, "einen neuen Blick auf Rosa Luxemburgs Leben und Werk". Zwar hat die Autorin in verschiedenen Archiven, auch in Moskau, das eine oder andere unbekannte Quellenstück aufgespürt, doch wirklich wichtige Funde, die zu neuen Erkenntnissen führen könnten, sind ihr nicht gelungen. Und was ihre eigene Rolle bei der Verfälschung des Rosa-Luxemburg-Bildes angeht, hält sich die Verfasserin merkwürdig bedeckt. Nur im Vorwort findet sich ein einziger Satz der Selbstkritik, der in seiner gewundenen, unaufrichtigen Formulierung nichts Gutes verheißt: "Manche, die wie Günter Radczun und ich Rosa Luxemburg anläßlich ihres 100. Geburtstags dem Verdammungsurteil Stalins über den ,Luxemburgismus' entrissen, verstrickten sich in Widersprüche, weil Rosa Luxemburgs Denken und Handeln vorwiegend an Lenin gemessen und formalem Heroenkult nicht genügend Paroli geboten wurde." Im weiteren Gang ihrer Darstellung macht Annelies Laschitza allerdings deutlich, daß sie dazugelernt hat. Die Unterschiede zwischen Lenin und Rosa Luxemburg werden nicht mehr künstlich harmonisiert; in der Kontroverse um innerparteiliche Demokratie 1904, um Einheit oder Spaltung der Arbeiterbewegung im Weltkrieg, um die Methoden der Bolschewiki in der Oktoberrevolution ergreift sie eindeutig Partei für die deutsche Sozialistin. Nachdrücklich beklagt sie jetzt, daß "von kommunistischer Seite" Rosa Luxemburgs vermeintlichen Irrtümern "jahrzehntelang Lenins Weisheiten entgegengestellt" wurden, doch verschweigt sie, daß sie selbst an der Verbreitung solcher "Weisheiten" nicht ganz unmaßgeblich beteiligt war. Verlag und Verfasserin spekulieren offenbar, vielleicht nicht zu Unrecht, auf die Vergeßlichkeit oder Blauäugigkeit des Publikums. Gewiß, über weite Strecken ist diese Biographie materialgesättigt und solide gearbeitet. Doch Glanz erhält sie eigentlich nur dann, wenn - was sehr häufig und sehr ausführlich geschieht - Rosa Luxemburg selbst zitiert wird, vor allem in ihren Briefen an ihre Liebhaber (Leo Jogiches, Kostja Zetkin, Paul Levi) oder ihre Freundinnen (Clara Zetkin, Luise Kautsky, Sophie Liebknecht). Zu Recht bescheinigt die Autorin der Briefschreiberin Rosa Luxemburg literarische Meisterschaft, doch leider hat sie sich selbst davon gar nicht inspirieren lassen. Im Unterschied zur springlebendigen Poesie der Luxemburg-Briefe, aber auch zur aggressiven Prosa der politischen Artikel kommt Laschitzas eigener Text recht schwerfällig daher, in einer grauen, floskelhaften Sprache. Zugegeben: Für jemanden, der so lange im Wissenschaftsbetrieb der DDR zugebracht hat, mag es schwer sein, sich von dem dort einst gepflegten Verlautbarungsjargon ganz freizumachen. Aber welcher Teufel hat die Autorin geritten, daß sie uns immer wieder wohlvertraute Klischees und Stereotypen der SED-Hausgeschichtsschreibung zumutet? Manche Passagen ihrer neuen Biographie unterscheiden sich in ihrem simplen Schwarzweißraster kaum von der alten. Das gilt zum Beispiel für die Formel vom "besonders reaktionären preußischen Militarismus", der angeblich die Politik des Kaiserreichs bestimmte; das gilt auch für die Charakterisierung der SPD als "revolutionäre Arbeiter- und Oppositionspartei", die erst durch die Machenschaften der "Opportunisten" - also der reformistischen Kräfte - auf die schiefe Bahn gebracht worden sei - bis hin zum "Verrat" vom 4. August 1914. Und natürlich stößt man auch auf die "werktätigen Massen" - wie auf Gespenster, die nicht zur Ruhe kommen können.
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Annelies Laschitzas Biografie über Rosa Luxemburg
[ "SPD", "Aufbau-Verlag", "Autor", "Biografie", "Clara Zetkin", "DDR", "Luxemburg", "Sowjetunion", "Wladimir Iljitsch Lenin", "Berlin" ]
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1996-03-01T13:00:00+01:00
1996-03-01T13:00:00+01:00
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Deutschland: Die Grünen vor der Drei-Länder-Wahl
Die Grünen servieren neuerdings Lachs. Lachs im Presseclub, wo Krista Sager ihre Hintergrundgespräche führt, Lachs auch in der Niedersächsischen Landesvertretung, wo Jürgen Trittin zum Gedankenaustausch bittet. Auch wenn die beiden Parteisprecher, uneins wie sie sind, seit Anfang des Jahres getrennt informieren, so laden sie doch gemeinsam dazu ein, am Aufstieg der Partei gewissermaßen sinnlich teilzuhaben. Die Journalisten sollen sich die grüne Erfolgsstory auf der Zunge zergehen lassen. Die Partei steht ja auch prächtig da. Sie wird, im Gegensatz zu anderen, immer größer (1995 stieg die Zahl der Mitglieder von 44 000 auf 46 000). Und sie zieht, auch darin hebt sie sich von der Konkurrenz ab, sorglos in die nahenden Landtagswahlen: In Baden-Württemberg liegen die Grünen bei vierzehn Prozent, und auch in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein blicken sie stattlichen acht bis zehn Prozent entgegen. Die Zeit des Zitterns scheint vorüber. In nur eineinhalb Jahren entwickelten sich die Grünen bundesweit von einer Siebenprozentpartei zu einer festen zweistelligen Größe. Joschka Fischer füllt die Wahlkampf-Säle wie kaum ein zweiter, und die quirlige Bundestagsfraktion löst breite Sympathie aus, nicht zuletzt, weil sie die alten Klischees abgestreift hat. Statt häkelnder IdealistInnen melden sich dort pfiffige Pragmatiker mit Schlips zu Wort und plädieren für ein staatsfernes Bafög wie Matthias Berninger, für strikte Haushaltskonsolidierung wie Oswald Metzger oder für eine sachliche Ausländerdebatte wie Cem Özdemir. Das grüne Projekt boomt. Aber wie lange noch? Den grünen Aufschwung umwehen erste Lüftchen von Stagnation, ja Rezession. Jenseits des Wahlkampfrummels legt manch ein Parteistratege die Stirn in Falten. "Wir leben über unsere Verhältnisse", heißt es im Umkreis von Fraktionschef Fischer, "das wird sich bald rächen". Grünen-Vordenker Hubert Kleinert drückt sein Unbehagen diplomatischer aus: "Vielleicht hat die Öffentlichkeit ein bißchen wenig auf unsere Schwächen geachtet". Gemeint ist: Der Vertrauensvorschuß für die Grünen schwindet. Nicht in den Ländern, dort würden die Bürger, wie ein Wahlkämpfer spottet, "auch eine Strohpuppe wählen, wenn sie nur grün angestrichen wäre". Aber in Bonn schlägt es durch: Hier verlangt man der Partei mittlerweile mehr ab als hübsche Ideen und kluge Fragen. Nützliche Antworten werden erwartet. "Der Neuerungseffekt ,Wir sind wieder da` hat ausgedient", räsoniert Krista Sager. Die Realpolitikerin ist sich mit Fischer und ausnahmsweise auch mit ihrem Sprecherkollegen Trittin darin einig, daß die Grünen als nunmehr etablierte Partei auf so wichtige Herausforderungen wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht länger mit linken Allgemeinplätzen reagieren dürfen. Der Mainzer Parteitag am Wochenende soll erste Signale setzen. Aber das Angebot an die Basis ist vage und bestätigt Sagers Diktum, daß die Grünen für Wirtschaftsfragen noch lange nicht "die erste Adresse" sein werden. Die fachlichen Defizite machen der Partei schon seit geraumer Zeit zu schaffen. In den Pressekonferenzen sitzen immer häufiger Wirtschaftsjournalisten, die nicht mehr wohlgefällig staunen, wenn ein Grüner das Wort "Makroökonomie" ausspricht. Die Grünen werden gewogen wie andere Parteien auch, und das tut mitunter weh: Als die Arbeitsmarktexpertin Marie-Luise Beck kürzlich ihr Konzept zur 27-Stunden-Woche vorstellte, fragten die Journalisten solange nach Deckungsvorschlägen, bis sie verzweifelt ausrief: "Ich bin doch keine Finanzexpertin!" Auch der siegesgewohnte Joschka Fischer mußte erfahren, daß sich der Wind gedreht hat. In seinem Debattenbeitrag zum Jahreswirtschaftsbericht brachten ihn gut präparierte Zwischenrufer aus der Regierungsfraktion so aus dem Konzept, daß Fischer - eine Premiere - als Verlierer das Pult verließ. Der Fraktionschef gibt sich Mühe, den Stimmungsumschwung mit dem Weitblick des Kapitäns einzuordnen: "Wir sind, wie das Meer sich bewegt, mal oben, mal unten." Reines Seemannsgarn ist das nicht. Keine Partei und keine Person, nicht mal Fischer, kann immer oben sein. Und zum Alarm schlagen besteht beileibe kein Anlaß. Der grüne Nimbus strahlt einfach etwas matter, und plötzlich ist der Blick frei für die Realitäten. Die, wenngleich schleppende, Sanierung der Sozialdemokratie führt vor Augen, daß es nicht die Stärke der Grünen, sondern die Schwäche der SPD war, die Fischer und seine Partei zum Oppositionsschlager machte. Heute merkt Oskar Lafontaine süffisant an: "Vom Fischer habe ich seit Mannheim nichts mehr gehört." Doch nicht nur die SPD, die politische Großwetterlage insgesamt hat die Grünen in diesiges Licht gerückt. Die Debatte über die deutsche Truppenbeteiligung in Bosnien, in der die Grünen eine überragende Rolle spielten, ist ausgestanden. Jetzt dreht sich alles um den Standort Deutschland, der von vielen Akteuren gerettet wird, nur nicht von den - in die Wirtschaftswelt kaum involvierten - Grünen. Zu allem Überfluß wankt auch die rotgrüne Machtperspektive, seit sich die SPD der Union gegenüber offenhält. Am meisten aber leidet das grüne Selbstverständnis unter der Einsicht, daß man vielleicht gar nicht so spannend ist, wie man immer dachte. Der Preis für das Angekommensein ist die Normalität. Das zeigte sich im vergangenen Herbst in Hessen, wo die ehemalige Umweltministerin Iris Blaul eine Filz-Operette aufführte, wie sie die einstmals verhaßten "Altparteien" nicht schmissiger hätten inszenieren können. Der Weg in die Glanzlosigkeit führt auch über Düsseldorf, wo eine Koalitionskrise die nächste ablöst und die Vision vom "rotgrünen Reformbündnis" wahlweise an Nachtflugverboten, an einer Flughafenerweiterung oder an 2,2 Kilometern Autobahn zerbrechen kann. Grüne Regierungskunst, gar kreativer Schwung ist derzeit nirgends zu besichtigen. Der schärfere Blick auf die Grünen, fürchten die Strategen, wird alsbald auch die personellen und strukturellen Probleme der Partei offenlegen. Unter Tausendsassa Fischer klafft ein gewaltiges Loch, in dem der Nachwuchs erst mühsam nach oben klettert. Die Generalisten in der Partei wie Krista Sager, Ralf Fücks, Hubert Kleinert oder Fritz Kuhn lassen sich an einer Hand abzählen; es ist die rechte. Auf der linken, die in der Basis noch immer den Ton angibt, findet sich außer Jürgen Trittin und vielleicht Ludger Volmer niemand, der über Renten, Asyl und Sicherheitspolitik gleichermaßen Bescheid weiß. "Unser größtes Problem", sagt ein Fischer-Vertrauter, "sind die unterentwickelten Netzwerke in die Wirtschaft und in die Verwaltungen hinein." Vor allem den Bundestagsabgeordneten fehlen die vier Jahre zwischen 1990 und 1994, in denen nur ein Häuflein Bündnis90-Parlamentarier die Stellung hielt. All das läßt sich meistern. Wie aber mit dem heterogenen Erscheinungsbild der Basis umgehen? "In manchen Ländern sind wir Volkspartei, in anderen entwachsen wir gerade eben der Szene", beschreibt Krista Sager die Lage. Es fällt immer schwerer, die unterschiedlichen Interessen und Weltbilder der Mitgliedschaft zu bündeln. Was verbindet den ländlichen Kommunarden, der sein Kind mit Schafswollwindeln wickelt, mit dem erfolgsorientierten Großstädter, der mit einer gelben Tonne vor der Tür vollauf zufrieden ist? Was haben ein Göttinger Autonomer und ein Münchner Software-Entwickler gemein? Die Grünen existieren schon längst nicht mehr. Je mehr die Partei in Bonn in die Pflicht genommen wird, desto kräfteraubender gestaltet sich die Integration des Milieus. Joschka Fischer, wie immer vorneweg, sucht schon nach einem "neuen Konsens", nach einer verbindenden "Mitte-Links-Formel". Was immer das sein mag, Korrekturen an der Substanz lassen sich am besten in üppigen Zeiten durchsetzen, in Lachszeiten, in denen nur Eingeweihte spüren, daß die dürreren Jahre näherrücken.
Jochen Buchsteiner
Jochen Buchsteiner schreibt über das Thema „[super_title]“. Lesen Sie jetzt „Deutschland: Die Grünen vor der Drei-Länder-Wahl“.
[ "Bündnis 90/Die Grünen", "Vertrauensvorschuß", "Wahlkampf", "Landtagswahl" ]
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1996-03-01T08:00:00+01:00
1996-03-01T08:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1996/10/gruene.txt.19960301.xml
Du bist am Ende. Kehre um
Fange die geneigte Leserin besser nicht mit dem letzten Band der Werkausgabe an - es könnte das Ende der Lektüre sein. Gewarnt ist man bereits in der "Vorbemerkung": "Dieses Buch wird dem Leser wenig Freude bereiten. Es wird ihn nicht einmal trösten und aufrichten, wie traurige Bücher es sehr oft vermögen... . Ja, um Irrwege handelt es sich in diesem Buch, und sein Thema ist die Hoffnungslosigkeit ... Hier ist einfach ein Mensch mit seiner Kraft am Ende ..." "Tod in Persien" ist so etwas wie ein literarisches Vermächtnis: Autobiographie, Reisebericht, Erzählung, Aufzeichnungen einer vergeblichen Frauenliebe, 1935/36 verfaßt von einer 27jährigen Schriftstellerin. Himmelschreiende Not, abgrundtiefe Verzweiflung, Hilferufe einer zu Tode Betrübten. Zerrissenheit, die süchtig machen kann. Die unglückliche Verfasserin: Annemarie Schwarzenbach. Eine bildschöne Frau, knabenhaft, androgyn, Muse der Literaten. "Merkwürdig", wunderte sich Thomas Mann bei ihrer ersten Begegnung in München, besorgt und ein wenig wohlgefällig zugleich, "wenn Sie ein Junge wären, dann müßten Sie doch als ungewöhnlich hübsch gelten." Ein Schriftstellerkollege, Roger Martin du Gard, schwärmte von "ihrem schönen Gesicht eines untröstlichen Engels", ihr Freund Klaus Mann sah sie zur "Schmerzenspose" erstarrt. Unnahbar, nicht zu erreichen, kaum zu berühren. Zerbrechlich wie eine Elfe. Melancholisch, lebensunfähig, todessehnsüchtig. 34 Jahre alt wurde die Unselige, 1942 starb sie nach einem Unfall. Der Mythos war geboren. Seit ein paar Jahren ist eine bemerkenswerte Schwarzenbach-Renaissance festzustellen, zunächst ausgehend von ihrer Heimat, der Schweiz. Eine fünfbändige Werkausgabe liegt abgeschlossen vor, die Literatur einheitlich gebunden, in zarte Pastelltöne verpackt, Gelb, Pink und Blau, schön anzusehen und ordentlich gemacht. Dazu, als Band drei und vier, zwei andersformatige Paperbacks: eine Auswahl aus dem Werk der politischen Journalistin, ihre Reportagen und Photographien aus aller Welt. Zwei Biographien sind in einem Jahr hinzugekommen, ein Briefband liegt vor, ein Taschenbuch, Erinnerungen von Zeitzeugen und Lebensgefährtinnen. Das überirdische Fabelwesen, zu Lebzeiten wenig bekannt, scheint gut in unsere Zeit zu passen. "Tod in Persien" gilt als Annemarie Schwarzenbachs düsterstes Buch, auswegloser und monomanischer noch als die überarbeitete Fassung, der sie, 1939, den Titel gab: "Das glückliche Tal". "Es war ein totes Tal, weit entfernt von der Welt, weit entfernt von Pflanzen und Bäumen - nur Stein statt dessen, und Glut, die sich darin festsog mit tausend Füssen." Ein Engel begegnet der Erzählerin, ein zweites Mal: "Ihr mögt dieses Tal in eurer leichtfertigen Art ,The happy valley` nennen, du aber weisst, dass es das ,Ende-der- Welt-Tal` ist. Hier musst du umkehren ... Du bist am Ende, aber dann ist die Hilfe am nächsten. Kehre um." Mehr als einhundert Seiten dauert dieses Ringen. Ein Parforceritt durch die Abgründe der menschlichen Seele, eine Tortur bis ans Ende der Welt, impressionistisch, assoziativ, schicksalsergeben. Schrecklich schön ist alles und ungeheuerlich überwältigend, der verlorene Mensch in einer bedrohlichen, öden Landschaft, "Welt-Ende-Kulissen". Das faschistische Europa ist fern, die Heimat gänzlich entrückt, namenlose Ungewißheit, Rausch der Einsamkeit, Drogen wohl auch, Sprache als einzige Hoffnung, Worte, nichts als Worte, lakonisch, klar, nur diese zweifelsfrei. "Ach, man wird ja nicht weinen.
ZEIT ONLINE
Annemarie Schwarzenbachs Werk in der Gesamtausgabe.
[ "Klaus Mann", "Thomas Mann", "Erika Mann", "Fotografie", "Band", "Erzählung", "Persien", "Reportage", "Tagebuch", "USA" ]
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1996-04-12T14:00:00+02:00
1996-04-12T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1996/16/Du_bist_am_Ende_Kehre_um/komplettansicht
Dynastie der Tabakkönige
R6 oder R1, West, Peter Stuyvesant, Ernte 23, Reval oder Roth-Händle - daß diese Marken alle von den Hamburger Reemtsma Cigarettenfabriken stammen, ist den meisten Rauchern vermutlich nicht bekannt. Den Brüdern Hermann Fürchtegott und Philipp Fürchtegott Reemtsma wäre das nur recht gewesen. Sie haben in den zwanziger Jahren das Zigarettengeschäft in Deutschland revolutioniert: Sie waren die Erfinder der Markenzigarette und der Zigarettenmarke. Nicht Reklame des Unternehmens allein sollte für Absatz sorgen, das Emblem selbst, Qualität und Image sind seither die Schlüssel für Verkaufserfolge. Und Philipp Fürchtegott, der Vater von Jan Philipp Reemtsma, erkannte: "Es gibt zwei Arten von Zigaretten: solche, die gehen, und solche, die nicht gehen." Und die meisten, das wußte der Altmeister der Marketingzunft, gehen nicht. Die beiden Reemtsma-Brüder, die 1917 als Teilhaber in die vom Vater Johann Bernhard in Erfurt gegründete Zigarrenfabrik Dixi eingetreten waren, hatten besonders viele gängige Marken im Programm: darunter die Ernte 23 sowie die R6, die als erste Reichsmarke galt unter einer Vielzahl von lediglich regional verbreiteten Glimmstengeln. 1923 verlegte die Familie, die aus Pewsum in Ostfriesland stammt, den Firmensitz nach Hamburg wegen des Freihafens und der verkehrsgünstigen Lage. Mitte der dreißiger Jahre war Philipp Reemtsma, der nach dem Tod des Vaters die Firmenleitung übernommen hatte, der unumschränkte Tabakkönig in Deutschland: 75 Prozent des Marktes wurden von der Hamburger Parkstraße im grünen Vorort Othmarschen beliefert. Nach dem Krieg knüpfte der Reemtsma-Clan an die alten Erfolge an. Die Traditionsmarken Gelbe Sorte, Eckstein und die aufpolierte Ernte 23 waren in aller Munde. Bevor er 1959 starb, sah Philipp Reemtsma noch den glanzvollen Start seiner neuesten Marke: Peter Stuyvesant traf mit ihrem Slogan "Der Duft der großen weiten Welt" die Wünsche und Sehnsüchte der Deutschen nach langen Jahren des Krieges und der politischen Isolation. Doch schon Ende der fünfziger Jahre - Hermann starb zwei Jahre nach seinem Bruder - ging die Firmenleitung in die Hände von angestellten Managern über. Die Familie zog sich in den Aufsichtsrat der 1921 zur Aktiengesellschaft umgewandelten Zigarettenfirma zurück. Seither wurde Reemtsma mehr verwaltet als unternehmerisch vorangebracht. Wichtige Marktentwicklungen wie die Einführung der Leichtzigaretten wurden verschlafen und das Vordringen der kräftigen amerikanischen Marken Marlboro und Camel Filter nicht rechtzeitig erkannt. Erst 1980 kam die Rettung. Jan Philipp, einziger lebender Nachkomme Philipp Reemtsmas, verkaufte gemeinsam mit der Mutter Gertrud sein Erbteil, insgesamt 53 Prozent. Sehr zielbewußt hatte der Erbe, der nur noch Bürger sein wollte, nach Käufern gesucht, die dem Werk seines Vaters, den er mit nur sieben Jahren verloren hatte, neue Impulse geben konnten. Auf die Hamburger Familie Herz, deren Kaffeefirma Tchibo zur Spitzengruppe ihrer Branche zählt, fiel seine Wahl.
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Die Familie Reemtsma
[ "Unternehmen", "Dynastie", "Reemtsma", "Anlageberater", "Aufsichtsrat", "Ernte", "Marlboro", "Vermögen", "Erfurt", "Hamburg" ]
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1996-05-03T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/1996/19/Dynastie_der_Tabakkoenige/komplettansicht
Mevlüde Genç: Drei Jahre nach Solingen: "Ich bin tot und lebe noch"
Am 29. Mai 1993 legten vier junge Deutsche in Solingen Feuer im Haus der Familie Genç. In den Flammen starben die Töchter Gürsün und Hatice, die Enkelinnen Hülya und Saime, die Nichte Gülistan. Warum ist Mevlüde Genç in Solingen geblieben? "Von hier aus wechselten meine Kinder ins Paradies", sagt sie. Ein Gespräch mit der Mutter der Opfer Mein Name erinnert an das berühmte Lied, das die Geburt des Propheten lobt. Ich heiße Mevlüde. Seit drei Jahren bin ich tot und lebe noch. Von wo kommen Sie? Ich komme aus dem Dorf Mercimek am Schwarzen Meer. Dort bin ich Mensch geworden, dort habe ich gelernt, daß die Welt nur zu ertragen ist, wenn man sie liebt. Die Frau zupft sich das Kopftuch in Form. Wir besaßen Felder, zogen Mais, Weizen, Zuckerrüben, Trauben. Wir hatten dreißig schöne Schafe und zwanzig Ziegen. Wir arbeiteten den ganzen Tag. Ich bin die älteste von sieben Geschwistern. Ich war drei oder vier, als mein Bruder Mustafa geboren wurde. An jenen Tag erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Was geschah damals? Wie gesagt: An diesem Tag wurde mir ein erster Bruder geboren. Ich konnte dieses Glück nicht fassen. Und ich bettelte und weinte so lange, bis mir die Großmutter das Kind in die Arme legte. Ich roch den Geruch des Neugeborenen, es roch nach Milch und Unschuld, und dieser Geruch berauschte mich so sehr, daß ich meinen kleinen Verstand verlor und mit dem Kind aus dem Haus rannte, um es allein für mich zu behalten. Wie viele lebten im Haus Ihres Vaters? Vielleicht zwanzig Menschen. Ständig wurde gekocht. Meine Aufgabe war es, den Brotteig ins Backhaus zu tragen. Auch war ich die Hüterin meiner Geschwister. Unsere Welt war klein und voller Staub, und mein größtes Glück war, wenn ich das viele Geschirr trocknete und die Mutter mir ins Gesicht lachte: Was wäre ich ohne dich, mein Mädchen. Gab es eine Schule in Mercimek? Ich besuchte sie fünf Jahre lang. Ich hatte meine Hefte in einer leeren, hölzernen Lokum-Kiste, wissen Sie, was Lokum ist? Eine türkische Süßigkeit. Ich war eine fleißige Schülerin, aber nach fünf Jahren sagte der Onkel, fünf Jahre seien genug. Ich bekam ein Abschlußzeugnis mit der Note "gut". Bis gestern habe ich es besessen. Bis gestern? Bis am 29. Mai 1993. Sie stöhnt. Es ist verbrannt. Wann hörten Sie zum ersten Mal von Deutschland? Auf dem Zuckerrübenfeld. Das war 1970. Ein Vetter half uns bei der Hackarbeit, und als wir uns setzten und aßen, erzählte er uns, das Arbeitsamt in Amasya, der Hauptstadt unserer Provinz, vermittle Arbeiter in ein reiches Land, das Almanya heiße. Er kenne jemanden, sagte der Vetter, der sei letztes Jahr nach Almanya gefahren und der trage heute Hemden aus Nylon. Wenn ich etwas fürchte, dann nur Gott. Ich sagte zu meinem Mann Durmuç: Laß uns in die Stadt fahren und unsere Namen in die Liste der Bewerber eintragen. Mein Mann antwortete: Aber ich bin doch der einzige Sohn meines Vaters. Als wir abends nach Hause kamen, erzählte mein Mann seinem Vater, Meister Halim, der Dorfschmied war, von den Versprechungen des Vetters. Meister Halim fragte: Söhnchen, was willst du denn in einem fremden Land? Wir hungern ja nicht, und der Blasebalg unserer Esse soll uns genügen. Da mischte ich mich ein: Meister Halim, sagte ich, laßt euren Sohn gehen. Laßt ihn die Welt schauen. Er geht ja nicht für immer. Durmuç Genç, der sein Dorf im Oktober 1970 verlassen hatte, die andere Welt zu erfahren, war auf Nachtschicht, als ihm kurz nach zwei Uhr morgens ein Vorarbeiter mitteilte, sein Haus brenne. Es war der 29. Mai 1993. Deutschland. Solingen. Untere Wernerstraße 81. In Brand gesteckt von vier jungen deutschen Männern. Also sind wir in die Stadt gefahren, im Frühjahr 1970, haben uns in die Liste eingetragen. Es war nicht Not, die uns dazu trieb, es war Neugier und Lebenslust. Aber als mein Mann Durmuç dann Bescheid erhielt, man habe eine Stelle für ihn, wurde ich traurig. Denn ich fuhr nicht mit.
Erwin Koch
Warum ist Mevlüde Genç in Solingen geblieben? "Von hier aus wechselten meine Kinder ins Paradies", sagt sie.
[ "Erwin Koch" ]
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1996-05-31T09:00:00+02:00
1996-05-31T09:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1996/23/genc.txt.19960531.xml/komplettansicht
Die verkannte Muttersprache
Unter dem Titel "Welche Sprache für Europa? Verständigung in der Vielfalt" stellt der französische Sprachwissenschaftler Claude Hagège vom Collège de France die Frage, ob eine der großen europäischen Sprachen die Befähigung zur Bundessprache in Europa habe. Hagèges Antwort: Nein. Und das Englische? In seiner internationalisierten angloamerikanischen Form sei es keine europäische Sprache mehr. Als "kleinster gemeinsamer Nenner für die unmittelbaren Kommunikationsbedürfnisse auf globaler Ebene" könne es nicht mit der Kultursprache Großbritanniens gleichgesetzt werden. Daher sei nicht einzusehen, daß die Sprache der Britischen Inseln in den europäischen Staaten erste schulische Fremdsprache sei. Und da das Unterrichtswesen souveräne Angelegenheit des Gesetzgebers ist, stellt Hagège die rhetorische Frage: "Könnte man in dieser Hinsicht nicht die Gesetze ändern?" Ja, der Mann ist Franzose. Man sieht die deutschen Landsleute wieder einmal überlegen lächeln. Die französische Sprachpolitik? Die Quoten für französische Filme und Chansons? Der gegenwärtige Feldzug gegen die Dominanz des Englischen im Internet? Wie weltfremd!
ZEIT ONLINE
Das Deutsche genoss einst den Ruf einer ausgezeichneten Wissenschaftssprache
[ "Europäische Union", "Kulturpolitik", "Frankreich", "Großbritannien", "Polen", "Europa" ]
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1996-09-06T14:00:00+02:00
1996-09-06T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1996/37/Die_verkannte_Muttersprache/komplettansicht
Nicht mehr alle träumen von Kuba
"La Revolución es nuestra vida!" "Die Revolution ist unser Leben" - diesen Leitsatz hat der 27jährige Pedro aus dem Süden Havannas bereits in der Schule gelernt und später am eigenen Leibe sattsam erfahren. Wie Millionen jungen Kubanern ermöglichte der Sieg der Revolution auch Pedro erstmals eine qualifizierte Berufsausbildung. Seine Stellung als ausgebildeter Techniker hat er jedoch mit dem Zusammenbruch der Ersatzteilversorgung vor zwei Jahren bereits wieder verloren. Heute arbeitet Pedro als "gelbe Maus" an den Ausfallstraßen von Havanna, wo er nicht vollbesetzte Fahrzeuge stoppt und ihre Inhaber in seiner Funktion als staatlicher Hoheitsträger dazu verdonnert, auf den freien Sitzplätzen einige der Menschen mitzunehmen, die aufgereiht in schier unendlichen Schlangen stundenlang und oft vergeblich darauf warten, daß ein Bus erscheint. Schule, Familienleben, Wirtschaft und Beruf - es gibt kaum einen Bereich, der sich seit 1959 dem Geist der kubanischen Revolution entziehen konnte. Und nun, da sich mit den Umwälzungen der späten achtziger Jahre im revolutionären Kuba die Rahmenbedingungen völlig veränderten, kann Pedro, der sich mit seinem Monatsverdienst von 200 Peso vielleicht eine gute Woche ernähren konnte, von Glück sagen, daß seine Lebensgefährtin eine Stelle als Zimmermädchen in einem der größeren Touristenhotels gefunden hat - eine begehrte Position im Havanna unserer Tage: nicht wegen der wertlosen Entlohnung in Peso, sondern wegen der Dollartrinkgelder der Touris ten. Wer diesen hunderttausendfachen Überlebenskampf in Havanna auch nur bruchstückhaft überblickt, wird gewahr, daß es keine härtere Schule des Kapitalismus gibt als den notleidenden Sozialismus kurz vor seinem endgültigen Zusammenbruch. Zwischen Prostitution und Kriminalität auf der einen, den verschiedenen Formen des Bettelns und den halblegalen Dienstleistungen auf der anderen Seite entfaltet sich in der Altstadt von Havanna das ganze Spektrum angenehmer und unangenehmer, hilfreicher oder bedrohlicher Aktivitäten - geleitet nur von einem einzigen Ziel: Dollar zu erhalten, damit das Leben weitergehen kann. Konnte sich bislang jeder Kuba-Besucher an den adretten und wohlerzogenen Kindern freuen, die sich nach dem obligatorischen Schulbesuch in einer geradezu rührenden Bravheit mit Pflasterspielen und Körperertüchtigungen verlustierten, entstehen nun auch in Havanna jene Kinder- und Bettlerbanden, die man von anderen Hauptstädten Lateinamerikas bis zum Überdruß kennt. Manchmal bis zu ein Dutzend Knaben, darunter kräftige junge Burschen, umkreisen vor dem Capitolino die Touristen und wissen in einem Gemisch aus Jammern und Nötigung den einen oder anderen Dollar von den erschrockenen Besuchern abzuzapfen.
ZEIT ONLINE
Havanna im 37. Jahr der Revolution
[ "Kuba", "Ernest Hemingway", "Unesco", "Lateinamerika", "Peso", "Revolution", "Indien", "Sowjetunion", "Spanien", "Havanna" ]
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1996-10-25T14:00:00+02:00
1996-10-25T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1996/44/Nicht_mehr_alle_traeumen_von_Kuba/komplettansicht
Worpswede - Paris und zurück
Geboren wurde sie vor 120 Jahren. Sie starb 1907. Und junge Frauen reden heute von Paula Modersohn-Becker, als hätten sie gerade im Café nebenan mit dieser Schwester im Geiste Beziehungsprobleme und die schwierige Übung erörtert, wie man mit Männern leben und doch seine eigenen Ziele verfolgen kann. Ältere haben das vor zwanzig Jahren getan. Sie winken nun ab und sagen "bekannt" und meinen allesamt das gleiche: daß Leben und Werk der Künstlerin hinreichend abgehandelt seien, vom Worpswede-Zauber mal ganz zu schweigen. Was zu kurz gesehen ist. Nicht allein des offenkundigen Interesses einer jüngeren Generation an der Gestalt der Malerin wegen, sondern auch, weil ein frischer, erfrischender Blick auf Säulenheilige nie schadet, ob sie nun der Kunst oder der Frauenbewegung oder gar beiden gehören. Eine Ausstellung in Bremen lädt gegenwärtig dazu ein und gestattet eine Revision der in nur knapp zehn Jahren entstandenen Arbeiten. Es ist eine Revision im wörtlichen Sinne. Man sieht etwas wieder, als authentisches Ereignis, nicht als Kalenderblatt. Daß man auch manches anders, ja neu sieht, ist der überraschende Vorzug einer Zusammenschau, die ihre Entstehung unterschiedlichen Quellen verdankt. Die Ausstellung versammelt den Besitz dreier bremischer Institutionen - der Kunsthalle, der Kunstsammlungen Böttcherstraße (ehemals Sammlung Roselius) und der Paula-Modersohn- Becker-Stiftung mit Werken aus dem Besitz der Tochter Tille Modersohn. Die Ausstellung findet in dem nach der Künstlerin benannten Haus in der Böttcherstraße statt, jenem expressiven Architektur-Ensemble, das der Bildhauer und Paula-Verehrer Bernhard Hoetger für den Mäzen Ludwig Roselius entwarf, der seinerseits einer der ersten Sammler der mit knapp dreißig Jahren Verstorbenen war. Daß sich aus solcher Situation weiterhin Kapital im Sinne lokaler Besucherzahlen schlagen läßt, ist selbstverständlich. Nur geht es den Veranstaltern dankenswerterweise nicht darum, der einzigen mit Bremen verbundenen Künstler-Persönlichkeit von internationalem Rang wieder einmal eine Art Heimspiel zu verschaffen. Der Zusammenschluß der Sammlungen demonstriert, daß sich hier eigentlich der Bestand eines der Künstlerin gewidmeten Museums offenbart - was die Stadtregierung so noch nicht sehen wollte. Und er dokumentiert die erstaunliche Entwicklung eines Werks. Einen Zugriff auf Malerei und Motive von besonderer Originalität. Eine Bildsprache, die heutigen Sehgewohnheiten in ihrer lapidaren Entschiedenheit entgegenkommt und die sich in den Studienblättern und unprätentiösen Malkartons mindestens so intensiv zeigt wie in den hier präsentierten Hauptwerken.
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Paula Modersohn-Becker: Eine Ausstellung als Plädoyer
[ "Kunst", "Paris", "Ausstellung", "Frauenbewegung", "Künstler", "Malerei", "Sammlung", "Worpswede", "Bremen", "Dresden" ]
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1996-11-22T13:00:00+01:00
1996-11-22T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1996/48/Worpswede_-_Paris_und_zurueck/komplettansicht
Spirituelle Bodyguards
Krippen und Kinderwagen, Schirme und Schuhe, Vögel und Falter, Autos und Flugzeuge, Glaskugeln und Kerzenhalter: Wie im Laufe der Jahrzehnte Weihnachtsbäume dekoriert wurden, zeigt die wohl umfassendste Ausstellung zum Thema historischer Christbaumschmuck. Unter dem Titel "Bäume leuchtend, Bäume blendend . . ." sind die glitzernden Exponate noch bis zum 23. Februar im Badischen Landesmuseum im Schloß Karlsruhe zu sehen. Mehr als 25 geschmückte Bäume demonstrieren, wie sich die Geschmäcker wandelten vom Biedermeierbaum, oft noch mit Eßbarem behängt, über die weiß dekorierte Jugendstiltanne bis zum Designer- oder Ökobaum der Gegenwart. Gestreift wird auch die Geschichte des Symbols, das zugleich immer auch Ausdruck des Zeitgeists war: Im Ersten Weltkrieg übersät mit nationalen Symbolen, mit U-Booten, Bomben und Zeppelinen, während an der nationalsozialistischen Jultanne Propagandamaterial und germanische Symbole hingen. Die Ausstellung ist täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr geöffnet, der Eintritt beträgt 5 Mark. Der informative Katalog ist während der Ausstellung für 39 Mark zu haben, dort werden natürlich auch die Engel erwähnt, die auf und im Christbaum ihren Platz finden. Um andere Engel dreht es sich seit Ende Dezember im oberbayerischen Kreuth. Im Zentrum für außergewöhnliche Museen in der Tegernseer Str. 22 wurde das erste Schutzengel-Museum der Welt eröffnet (zu besuchen täglich von 13 bis 18 Uhr). Weit über tausend handfeste Exemplare dieser spirituellen Bodyguards, dazu Weihwasserkessel und Hausaltäre sind zu besichtigen. Der Eintritt kostet 8 Mark und gewährt auch Zugang zur Nachttopf- oder zur Wolpertingersammlung.
DIE ZEIT
Lesen Sie jetzt „Spirituelle Bodyguards“.
[ "Ausstellung", "Auto", "Flugzeug", "Geschichte", "Museum", "U-Boot", "Vogel", "Weltkrieg", "Karlsruhe" ]
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1996-12-27T13:00:00+01:00
1996-12-27T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1997/01/Spirituelle_Bodyguards
Welche Armee soll's denn sein?
Verwegene Vorstellung: Könnte es sein, daß nicht Verteidigungsminister Rühe mit seinem ganzen Apparat die Zukunft der Bundeswehr definiert, sondern eine Handvoll SPD-Politiker mit Rudolf Scharping an der Spitze? So wenigstens hat es nach dem Schlagabtausch der letzten Tage den Anschein. Da konstatierte der SPD-Fraktionschef in einem Interview mit der Bild-Zeitung, Aufgaben, Umfang und Finanzen der Bundeswehr - auch Volker Rühe würde dem kaum widersprechen - paßten nicht mehr zusammen. Im übrigen müsse die Aufnahme osteuropäischer Demokratien in die Nato mit Abrüstungsschritten einhergehen. Scharpings Denkansatz: Bis 2005 solle die Bundeswehr auf unter 300 000 (von heute 340 000) Mann schrumpfen, der Wehrdienst auf sechs Monate (von heute zehn) reduziert werden. Derartige Erwägungen kommen nicht aus dem hohlen Bauch und sind auch nicht allein Scharpings Hirn entsprungen. In der Novemberausgabe des SPD-Intelligenzblattes Neue Gesellschaft hat der Bremer Bundestagsabgeordnete Volker Kröning ähnliche, detailliertere Überlegungen angestellt. Wie intensiv die Fraktion sich mit Sicherheitspolitik und Verteidigungsfragen befaßt, unterstreicht auch ein Papier von Anfang Dezember, in dem ihr außenpolitischer Sprecher Günter Verheugen und ihre Europaexpertin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Hinblick auf die gemeinsame Außenpolitik der EU für eine integrierte europäische Armee eintreten. Auch hier geht es um Umfang und Struktur der Bundeswehr: "Diese . . . Armee würde in den Mitgliedstaaten drastische Abrüstung ermöglichen . . . Vor diesem Hintergrund muß auch die Diskussion über die Wehrpflicht in Deutschland geführt werden."
DIE ZEIT
Mit ihren Bundeswehrplänen erntet die SPD unverdient Zorn
[ "Rudolf Scharping", "Volker Rühe", "Bundesregierung", "Nato", "SPD", "Günter Verheugen", "Heidemarie Wieczorek-Zeul", "Bild-Zeitung", "Bundeswehr", "Streitkräfte" ]
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1996-12-27T13:00:00+01:00
1996-12-27T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1997/01/Welche_Armee_soll's_denn_sein_
Ein Vulkan erwacht
Nikosia An der Mauer einer verfallenen Villa lehnt ein vier Meter hohes Metallkreuz, auf dem anstelle des Heilands die in Holz geschnitzte Insel Zypern prangt. Ein Dolch bohrt sich durch ihre Mitte. Längst hat sich der Rost in das Kreuz gefressen. Mehr als zwei Jahrzehnte mag es hier stehen, am letzten Haus vor dem Checkpoint Ledra Palace, dem einzigen offiziellen Übergang vom griechischen in den türkischen Teil Zyperns. So lange schon ist dieses kleine Land mit seinen knapp 800 000 Bewohnern in zwei Teile gerissen. Die Wunden bluten immer noch. Vor einer griechischen Flagge hält eine alte Frau, in Schwarz gehüllt, zwei vergilbte Photos hoch. Mit zittriger Stimme ruft sie jedem Vorbeikommenden zu: "Das ist mein Sohn, und hier Costas, mein Mann." Seit 1974, als die türkischen Invasionstruppen nach Nikosia vorrückten, fehlt von ihnen jede Spur - ebenso wie von mehr als 1600 anderen griechischen Zyprioten. Fast jedes Wochenende marschieren Angehörige dieser Vermißten - sie sind Flüchtlinge aus dem türkisch besetzten Norden - an den Checkpoint. Hier an der Grenze, im Herzen der geteilten Stadt Nikosia, wollen sie den Touristen ihre Ansicht der zypriotischen Geschichte und Gegenwart demonstrieren. "Türkische Mörder hinaus aus Zypern" prangt in riesigen Lettern auf einem Plakat. Wenige hundert Meter weiter, vorbei an Stacheldrahtzäunen und durchschossenen Häuserwänden, vorbei an dem einstigen Luxushotel "Ledra Palace", das heute Hauptsitz der UN-Friedenstruppen UNFICYP ist, zeigt sich die andere Welt. In einem Schaukasten erinnern Photos an Greueltaten, die zypriotische Griechen einst an der türkischen Minderheit begangen hatten. So viel ist auch hier klar: Zyperns Türken wollen mit den Griechen nichts mehr zu tun haben. Am Grenzübergang zur "Türkischen Republik Nord-Zypern" steht groß: "Nie wieder zurück zu 1963 bis 1974". Das war die Zeit der blutigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksgruppen, an deren Ende türkische Truppen einmarschierten. Und Rauf Denktasch, der Herrscher des Nordteils, unterläßt auch heute keinen Versuch, der Welt zu beweisen, daß Türken und Griechen nicht zusammenleben können. Für Zyperns Türken symbolisiert die "grüne (Demarkations-)Linie" Sicherheit und Würde für Zyperns Griechen hingegen steht sie für Leid und Bedrohung. Seit mehr als zwanzig Jahren gärt unter der ruhigen Oberfläche dieser Ferieninsel ein explosives Gemisch aus Schmerz und Haß, aus Vorurteil und Frustration, Ängsten und unbewältigten Träumen, aus Unkenntnis und der Unfähigkeit, zu verstehen, zu vergeben und zu vergessen. Ein furchtbarer Zwischenfall an der "grünen Linie" schreckte die Welt im August 1996 erneut auf: Zwei griechische Zyprioten wurden ermordet. Zypern, so warnte sein Präsident Glafkos Clerides, ist "kein schlafender Vulkan". Zyperns Griechen sind fest entschlossen: Sie wollen sich nicht mehr der türkischen Militärmacht wehrlos ausgeliefert fühlen - einer Streitkraft, die mit 35 000 Soldaten und 450 Panzern ein gutes Drittel der Insel besetzt hält. Achtzig F-16-Kampfflugzeuge stehen zudem noch auf dem nur drei Flugminuten entfernten türkischen Militärstützpunkt Adana bereit.
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Vor zwei Jahrzehnten marschierten die Türken in Nordzypern ein. Die Griechen wollen die Teilung nicht länger hinnehmen und rüsten auf
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1997-03-14T13:00:00+01:00
1997-03-14T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1997/12/Ein_Vulkan_erwacht/komplettansicht
Nach Indien!
"Über Forster ist leider nur eine Stimme, für Deutschland ist er nicht zu retten", schreibt der Anatom Thomas Sömmering an Georg Forsters Schwiegervater Heyne im Januar 1793. Im Juli desselben Jahres schreibt Forster an seine Frau: "Mein Unglück ist das Werk meiner Grundsätze, nicht meiner Leidenschaften." In diesen beiden Zitaten haben wir Georg Forsters Nachleben. Die "eine Stimme", die in Deutschland nie allein zu hören, aber doch tatsächlich lange die vernehmlichste gewesen ist, ist die derjenigen, die durch das Verhalten des Revolutionsfreundes Forster, der sich auf die Seite der Franzosen schlägt, als diese 1792 Mainz nehmen, skandalisiert sind. Die Gemäßigten meinen, daß er sich mit seinem offensiven Jakobinismus nur lächerlich mache: "Solche Kindereien, sich einen Schnurrbart zum Zeichen der Zufriedenheit über die Hinrichtung des Königs wachsen zu lassen, hätte ich ihm nicht zugetraut" (Sömmering). Für die weniger Gemäßigten bleibt er, vor allem im 19. Jahrhundert, das dafür die entsprechenden Affekte und Begriffe entwickelt, einfach der "Vaterlandsverräter Forster", als den ihn der Große Brockhaus noch lange führt. Daß man den anderen Georg Forster einmal entdecken würde, wundert nicht, und man tat es mit Vehemenz. Georg Forster wurde eine der Lieblingsgestalten der deutschen intellektuellen Linken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - von ihm wollte sie sich gerne herschreiben. Er hatte die Gelegenheit ergriffen, die ihr die historische Stunde nicht offerierte, hatte freiwillig, von Grundsätzen, nicht von Leidenschaften geleitet, wenn auch alles andere als leidenschaftslos für die Revolution optiert, die gesicherte Bibliothekarsstelle aufgegeben und war in den Jakobinerclub eingetreten. Und dieses nach was für einem Leben! Nicht aus der deutschen Provinz war er gekommen, mit James Cook war er um die Welt gesegelt, war auf Tahiti gewesen, hatte in London seine "Reise um die Welt" geschrieben, reiste durch Deutschland, ward angestaunt, aber niemand erkannte seine Talente. Er versorgt in wechselnden Stellungen seine Familie mehr schlecht als recht, aber schreibt eine wunderbare, leichte, elegante Prosa, ist ganz Aufklärung, einer der, wenn es um Pflanzen geht nicht minder als um die Klassenverhältnisse, nur seinen Augen traut. Die herrlichen "Ansichten vom Niederrhein", nicht nur ein Musterstück der Gattung Reisebeschreibung, ein Stück Geographie und Sozialgeschichte, sondern auch ein Dokument demokratischer Gesittung! Und schließlich eben als ruhige Konsequenz der Übertritt ins Französische, weil dort - trotz allem, was er nicht verkennen will - die Verwirklichung seiner Ideale ansteht. Er zieht der deutschen Misere den französischen Umsturz vor - aus Grundsätzen, wie er sagt, nicht aus Leidenschaft. Nach Klaus Harpprechts Biographie von 1987 hilft uns nun Ulrich Enzensbergers "Georg Forster. Ein Leben in Scherben" einen dritten Forster kennenzulernen. Ein Leben in Scherben - das ist einmal die Methode des Buches, das aus vielen Zitaten und wenigen überleitenden Texten des Verfassers montiert ist, wie ein Archäologe aus den unzähligen Scherben einige wenige auswählt und unter Glas zu einem rekonstruierenden Arrangement zusammenfügt. Es ist aber auch eine Aussage über Forsters Leben selbst: ein in Scherben gegangenes Leben, eines, das so viel Potential zeigt und so wenig Verwirklichtes.
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Ulrich Enzensbergers spannende Biographie des Weltumseglers und Naturkundlers, Schriftstellers und ersten deutschen Republikaners Georg Forster.
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1997-03-14T13:00:00+01:00
1997-03-14T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1997/12/Nach_Indien_
Haben Maschinen Bewußtsein?
Weiß Deep Blue eigentlich, daß er gewonnen hat? Hat er sich nach dem Triumph über Schachweltmeister Garri Kasparow gefreut, blinkten an seiner Anzeigetafel bunte Lämpchen auf? Dumme Frage, wird der Leser denken. So groß auch immer die Rechenkapazität des Computermonsters sein mag, so schnell seine Prozessoren auch die Verhältnisse auf den 64 Feldern zu berechnen vermögen, eines bleibt ihm doch verwehrt: ein Bewußtsein seiner eigenen Fähigkeiten. Tatsächlich haben die Wissenschaftler erst vor wenigen Jahren begonnen, sich der Erforschung dieses exklusiven Geisteszustandes zuzuwenden. Menschliches Bewußtsein, also die Fähigkeit zu subjektivem inneren Erleben, galt in der Naturwissenschaft und der Philosophie des Denkens lange Zeit als wenig seriöser Gegenstand. "Wenn man noch vor wenigen Jahren in einer Diskussion der Kognitionswissenschaften die Rede auf das Bewußtsein brachte, wurde das als ein Zeichen schlechten Geschmacks gewertet", meint etwa der Philosoph John Searle von der kalifornischen Universität Berkeley. "Die höheren Semester, immer auf die gesellschaftlichen Mores ihrer Disziplin ausgerichtet, verdrehten die Augen zur Decke und nahmen eine Miene milden Angewidertseins an." Auch was die Erforschung der künstlichen Intelligenz angeht, so kam es seit jeher nur auf den "output" eines Systems an. Der Turing-Test etwa, seit den fünfziger Jahren der ultimative Gradmesser Künstlicher Intelligenz, überprüft nur, inwieweit ein Computer in der Lage ist, menschliches Verhalten nachzuahmen. Gelingt es einem Computer, via Bildschirm mit einem menschlichen Gegenüber zu kommunizieren, so daß dieser nicht erkennen kann, ob sein Gesprächspartner aus künstlichen Prozessoren oder aus Fleisch und Blut ist, so hat der Rechner den Turing-Test bestanden, und man muß ihm Intelligenz zubilligen. Dieser behaviouristischen Betrachtungsweise hält John Searle entgegen, daß einer Maschine am Ende doch etwas Entscheidendes fehle: das Bewußtsein. "Das bloße Hantieren mit Symbolen genügt nicht für Fähigkeiten wie Einsicht, Wahrnehmung, Verständnis oder Denken." Selbst wenn ein künstliches Gebilde noch so perfekt menschliches Verhalten zu simulieren vermöge, so verbinde es damit doch niemals eine Bedeutung, wie es ein Mensch tue. Diese tiefe Kluft zwischen Mensch und Maschine hätten die Vertreter der künstlichen Intelligenz noch nicht einmal richtig bemerkt, meint auch der Pittsburgher Philosoph John Haugeland: "Bewußtsein - das ist ein Thema, welches in der Fachliteratur der Kognitionswissenschaft auffällig abwesend ist. Es liegt nahe, daß solch ein dröhnendes Schweigen ein häßliches kleines Geheimnis birgt... Könnte das Bewußtsein eine theoretische Zeitbombe sein, die im Schoß der KI tickt?" Mittlerweile hat sich die Lage jedoch geändert. In vielen Labors widmen sich gestandene Neurobiologen seit einiger Zeit diesem Phänomen. Vor allem im angelsächsischen Sprachraum haben auch die Philosophen dieses Thema wiederentdeckt einflußreiche Denker wie etwa der Materialist Daniel Dennett meinen schon "Bewußtsein, erklärt" zu haben (so der Titel eines seiner jüngsten Bücher). Und inzwischen unternehmen auch Computertheoretiker und Roboterforscher erste zaghafte Versuche, so etwas wie Bewußtsein zu simulieren. Zwar ist man noch weit von einer expliziten Theorie entfernt, doch einige grobe Konturen werden bereits sichtbar. So glauben heute viele Hirnforscher, daß sich höhere Geisteszustände wie Selbstbewußtsein oder auch der Eindruck eines freien Willens prinzipiell aus den physikalischen Vorgängen in unserem Gehirn erklären lassen. Sie deuten Bewußtsein als "emergente" Eigenschaft der biologischen Strukturen in unserem Kopf.
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Philosophen und Neurowissenschaftler suchen eine höchst menschliche Eigenart zu verstehen
[ "Baby", "Bewusstsein", "Garri Kasparow", "Gehirn", "Intelligenz", "Roboter", "Sinnesorgan", "San Diego" ]
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1997-05-23T14:00:00+02:00
1997-05-23T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1997/22/Haben_Maschinen_Bewusstsein_
Fidel Castros Fanclub
Frankreichs kommunistische Partei ist die einzige in Europa, die ihren Namen nicht verändert hat. Neben Italien ist Frankreich das einzige Land der Europäischen Union, in dem die Kommunisten an der Regierung beteiligt sind. Und Frankreich ist neben Italien das einzige Land, in dem jedes Jahr eine kommunistische Festveranstaltung - La Fête de l'Humanité - zum Volksereignis mit Zigtausenden Besuchern werden kann. Che Guevara und Fidel Castro sind hier noch ziemlich populär. Und deshalb ist Frankreich auch das einzige Land Europas, in dem die Veröffentlichung eines Buchs über die historischen Verbrechen des Kommunismus zu einem Eklat im Parlament führen kann. Am 12. November nutzten ein paar Abgeordnete der bürgerlichen Partei UDF die aktuelle Stunde in der Assemblée Nationale, um den Premierminister über die "85 Millionen Opfer des Kommunismus" zu befragen: "Was halten Sie von diesem Buch, Herr Jospin? Was wollen Sie tun, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die solche Verbrechen unterstützt haben?" Der Premierminister wählte in seiner Antwort starke Worte: "Die Revolution von 1917 gehört zu den großen Ereignissen unseres Jahrhunderts. Die Sowjetunion, was auch immer man über Stalin meinen kann, war unsere Verbündete gegen Nazideutschland. Ja, der Gulag und der Stalinismus müssen en bloc verurteilt werden, und womöglich haben die französischen Kommunisten dies zu spät getan. Aber für mich hat der Kommunismus zu tun mit der Volksfront, den Kämpfen der Résistance, den Regierungen von 1945 und 1981. Ich bin stolz, daß der Kommunismus in meiner Regierung vertreten ist." Die Abgeordneten aller linken Parteien dankten mit Standing ovations. Ein paar wütende Leute der bürgerlichen UDF verließen den Saal, die Gaullisten blieben. Jospin hatte die Rolle der kommunistischen Partei in diesem Jahrhundert hochgelobt, ohne die Opfer des Stalinismus auch nur zu erwähnen.
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Frankreichs Intellektuelle sind immer noch vom Kommunismus fasziniert
[ "Charles de Gaulle", "Fidel Castro", "Frankreich", "Kommunistische Partei", "Ernesto Che Guevara", "Faschismus", "Gulag", "Hitler-Stalin-Pakt", "Italien", "Jahrestag" ]
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1997-11-21T13:00:00+01:00
1997-11-21T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1997/48/Fidel_Castros_Fanclub/komplettansicht
Ums Kap der Guten Hoffnung nach Indien
Die folgende Nacht ankerten wir auf der Höhe des Rio do Infante, dem letzten Landstrich, den Bartolomeu Diaz entdeckt hatte, und am folgenden Tag segelten wir vor dem Wind die Küste entlang bis zum Abend, wo der Wind nach Osten umsprang." Mit diesen dürren Worten schildert das Tagebuch eines anonymen Expeditionsteilnehmers die entscheidende Phase einer der größten Entdeckungsfahrten der Geschichte - die Umschiffung Afrikas auf der Fahrt des Vasco da Gama nach Indien im November 1497, vor genau 500 Jahren. Am 8. Juli 1497 hatte die kleine Expedition mit ihren vier Schiffen den Seehafen von Lissabon, Rastello, verlassen - mehr als zwei Jahre später, Anfang September 1499 (das genaue Datum ist nicht bekannt), lief Kommandant da Gama mit seinem leckgeschlagenen Flaggschiff SÆo Gabriel wieder in jenen Hafen ein. Von 160 Männern kehrten nur 55 nach Portugal zurück in über zwei Jahren hatten die Überlebenden 24 000 Seemeilen hinter sich gebracht. Wie kam es zu dieser Fahrt von Portugal bis nach Indien? Die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, in dem wir nach heutiger Übereinkunft und aus der Perspektive des rückblickenden Besserwissers, das "Mittelalter" enden lassen, war eine Zeit des Aufbruchs und des Wettstreites. Der Landweg nach Indien und China war durch das Osmanische Reich blockiert, dem seit dem verheerenden Ende des letzten Kreuzzuges - er führte am 25. September 1396 zur völligen Vernichtung des christlichen Ritterheeres bei Nikopol - und seit der Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 niemand entgegenzutreten wagte, mochten die Päpste auch immer wieder zu neuen Kreuzzügen aufrufen. Was an Fernhandel mit dem Osten noch möglich war, fiel weitgehend unter das Monopol Venedigs, mit über 100 000 Einwohnern eine riesige Stadt, deren Handelskontore gewaltige Summen daran verdienten, daß es gelungen war, sich halbwegs mit den Türken zu arrangieren. Ganz anders stellte sich die Perspektive für die Länder im Westen Europas dar, für Portugal und für das aus der kastilisch-aragonesischen Allianz just eben entstehende Spanien, wo mit der Übergabe Granadas durch Fürst Boabdil am 2. Januar 1492 die Reconquista, die Befreiung des Landes vom Islam, zu Ende ging - freilich sehr zum Schaden des wissenschaftlich-kulturellen Niveaus der gesamten Region. In dieser Lage stand dem Fernhandel nur der Seeweg offen, den zu beschreiten schon der 1460 gestorbene portugiesische Prinz Heinrich "der Seefahrer" so energisch gefordert hatte (allerdings ohne selber je eine eigene Seereise unternommen zu haben). Über diesen Ausgriff nach Übersee gab es selbstredend sofort Streit zwischen den katholischen Königreichen. Der Papst, jedenfalls formell der Herr des Erdkreises, hatte zwar bereits 1481 die Welt mit einer waagerechten Linie großmütig in zwei Hälften geteilt und in der Bulle "Aeterni Regis" alles, was südlich der Kanarischen Inseln lag, Portugal zugesprochen. Hier in Afrika lockten nicht nur das "Goldland" und der Sklavenhandel, sondern vor allem die Chance, den riesigen Kontinent im Süden umrunden zu können und so ins märchenhafte Indien zu gelangen und sich die Hoheit über den Gewürzhandel anzueignen. König Johann II. von Portugal, seit 1481 inthronisiert, stellte nach etlichen Fehlversuchen im Jahr 1487 eine neue, besonders sorgfältig ausgerüstete Expedition zusammen. Wie es portugiesischer Brauch war, geschah alles unter größter Geheimhaltung. Drei Schiffe unter dem Kommando des Bartolomeu Diaz sollten Afrika südlich umsegeln. Zudem hatte der König schon im Mai desselben Jahres zwei mutige Emissäre auf dem Landwege in Marsch gesetzt: Pero de CovilhÆ sollte über Arabien nach Indien reisen, um dort die Schiffahrtsrouten der muslimischen Kapitäne auszukundschaften Alfonso de Paiva wurde beauftragt, über Äthiopien, wo man das Reich des sagenhaften "Priesterkönigs Johannes" vermutete, ins Innere Afrikas vorzudringen. Bei diesen Männern handelte es sich vermutlich um jüdische Neuchristen, des Arabischen kundig, mit amtlichen Pässen und einem Kreditbrief des Florentiner Bankhauses Medici versehen. In Aden (heute Hauptstadt des Jemen) trennten sich die beiden Abgesandten CovilhÆ gelangte tatsächlich nach Kalikut an der indischen Westküste (wo fast zehn Jahre später dann auch Vasco da Gama anlandete) und kehrte schließlich, nach einer langen Fahrt die Ostküste Afrikas hinunter bis ins heutige Mosambik, wohlbehalten nach Kairo zurück. Dort warteten Boten seines Königs auf ihn und befahlen ihm, die Mission des mittlerweile verstorbenen Paiva in Afrika fortzuführen. Dies tat er auch, doch endete seine Reise in einem Desaster, denn der äthiopische Negus begrüßte ihn zwar freundlich, stellte ihn aber sofort unter Hausarrest - dreißig Jahre später konnte CovilhÆ dortselbst, als rüstiger Greis, die nächste portugiesische Gesandtschaft begrüßen. Immerhin war sein handschriftlicher Bericht über die Zustände in Indien und Kalikut im Sommer 1491 aus Kairo nach Lissabon gelangt.
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Vor 500 Jahren begann die Globalisierung: Der Portugiese Vasco da Gama umsegelte mit einer kleinen Flotte die Südspitze Afrikas.
[ "Indien", "Vasco da Gama", "Globalisierung", "Portugal", "China", "Hoffnung", "Mosambik", "Papst", "Schiff", "Spanien" ]
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1997-11-21T13:00:00+01:00
1997-11-21T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1997/48/Ums_Kap_der_Guten_Hoffnung_nach_Indien/komplettansicht
Es gab einmal Regierungssprecher ...
HAMBURG. - Es gab einmal Regierungen in Bonn, die taten, was ihres Amtes ist, und regierten recht und schlecht. Vom rechten Regieren zumal erfuhr alle Welt mehr oder weniger ausführlich, jedenfalls aber regelmäßig durch einen Mann, der Regierungssprecher hieß. Obgleich der Regierungssprecher im Normalfall nur einer von vielen Sekretären des Staates ist, machte ihn sein Amt einstmals zu einer herausragenden Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, wenn es ihm gelang, die Entscheidungen der Regierung sowohl kundig mitzuteilen als auch glaubwürdig zu erklären. Der Amtsweg des Regierungssprechers war stets ein schmaler Pfad zwischen der Pflicht loyalen Dienstes für seine Regierung und dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Information. Es gab so manchen Absturz auf diesem Pfad. Aber die Liste jener Regierungssprecher, die die Balance heil bis zum nächsten Regierungswechsel durchstanden, ist lang. So verbindet sich mit Bundeskanzler Adenauer für viele noch heute sein gewitzter Regierungssprecher Felix von Eckardt. In der Kanzlerschaft Ludwig Erhards teilte Karl-Günther von Hase der Öffentlichkeit loyal mit, was vom Regieren mitteilenswert war. Auf dem Drahtseil der Informationspolitik der Großen Koalition des Bundeskanzlers Kiesinger bewegte sich virtuos ihr Sprecher Günter Diehl. Wer sich noch der Kanzlerschaft Willy Brandts erinnert, muß in seinem Gedächtnis nicht lange nach Conrad Ahlers kramen, dem altgedienten Journalisten als Regierungssprecher. Als adäquat wortmächtiger Sprecher des Kanzlers Helmut Schmidt ist Klaus Bölling noch nach fünfzehn Jahren gegenwärtig geblieben. Nun ist seit anderthalb Jahrzehnten Helmut Kohl Bundeskanzler, das weiß jeder. Aber wer war in dieser Zeit, wer ist heute sein Sprecher? Es gab eine ganze Reihe von Männern, die dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung vorstanden und für die Bundesregierung sprachen. Obgleich es zeitweise gleich drei Regierungssprecher gab, die für die Regierung Kohl sprachen (je einer aus den Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP), sind die Personen in diesem Amt für die Öffentlichkeit immer blasser geworden. Möglicherweise gibt es auch heute drei oder mehr oder auch weniger Regierungssprecher, wer weiß das schon, und wen interessiert es noch? Hat das mit dem allmächtigen Kanzler zu tun, in dessen Schatten alles in seiner Umgebung verblaßt? Hängt es damit zusammen, daß sich der Kanzler ein eigenes Büro für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, also eine PR-Abteilung geschaffen hat? Der Regierungssprecher jedenfalls, obgleich noch immer Staatssekretär und einem stark besetzten Amte vorstehend, hat nichts zu sagen. Wohl teilt er, wie Hörensagen es wissen will, dem Bonner Pressecorps gelegentlich etwas mit. Aber zu sagen hat er nichts.
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Heute erklären Parteisekretäre die Politik des Bonner Kabinetts
[ "Helmut Schmidt", "FDP", "Regierungssprecher", "CDU", "CSU", "Konrad Adenauer", "Willy Brandt", "Deutschlandfunk", "Kurt Georg Kiesinger", "Bundeskanzler" ]
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1997-11-28T13:00:00+01:00
1997-11-28T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1997/49/Es_gab_einmal_Regierungssprecher_
ZEIT ONLINE | Nachrichten, Hintergründe und Debatten
Er glänzt in Rot, Gold oder Grün, in Rosa oder Blau, mal üppig behängt mit Schleifen, Lametta und Kugeln, mal eher schlicht und naturbelassen - auch der Baum zum Fest präsentiert sich stets nach dem neuesten Trend. Was die aktuelle Tannenmode beispielsweise in der Jugendstilära vorschrieb, nämlich Weiß und Silber (unser Bild zeigt Maxund-Moritz-Anhänger aus dieser Zeit), ist in der Ausstellung "Christbaum und Gabentisch" zu sehen, die noch bis zum 10. Januar im Münchner Zentrum für Außergewöhnliche Museen (Westenriederstraße 41, Tel. 089/290 41 21) läuft. Sie erklärt den Wandel der Weihnachtsbräuche vom 17. Jahrhundert bis in die fünfziger Jahre unserer Zeit anhand Tausender historischer Objekte, darunter Schmuck und Bastelwerk, Kerzenhalter und Rauschgoldengel. Die Ausstellung ist täglich von 10 bis 18 Uhr, am 24. Dezember bis 12 Uhr geöffnet, der Eintritt kostet 8 Mark, das Begleitbuch "Die Geschichte des Weihnachtsbaums" von Manfred Klauda 18 Mark.
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1997-12-26T13:00:00+01:00
1997-12-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/01/21269
Bibliotheksinstitut weg & zu & ab
Also doch: Das Deutsche Bibliotheksinstitut (DBI) in Berlin wird geschlossen. Günter Beyersdorff, der Professor, der das Institut seit 1978 aufgebaut und geleitet hat, ist aus Protest zurückgetreten. Der Wissenschaftsrat von Bund und Ländern will die zentrale Service-Stelle für rund 15 000 öffentliche und wissenschaftliche Büchereien, in deren Verbundkatalog etwa 22 Millionen Titel gespeichert sind, nicht mehr fördern. Der Etat ist nur noch bis 1999 gesichert. Vor der Entscheidung ging ein Seufzen durch das Land: Nicht doch auch, nach all den Todesdrohungen für Bibliotheken, die Intensivstation des Büchereiwesens dichtmachen! Nach dem Todesurteil für das DBI hört man - aus Bibliothekskreisen - ganz andere Nachrichten. Das Institut habe notwendige Verbesserungen und Reformen nicht verwirklicht, sei verschlafen, wesentliche Aufgaben (Zeitschriftendatenbank, Verbundkatalog deutscher Bibliotheksdaten, bibliothekarische Auslandsstelle) seien inzwischen an anderen Institutionen (Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main, Staatsbibliothek Berlin) besser aufgehoben.
DIE ZEIT
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1997-12-26T13:00:00+01:00
1997-12-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/01/Bibliotheksinstitut_weg_&_zu_&_ab
Flambierter Umweltengel
Recycling ist gut für Ihr Gewissen, aber schlecht für die Umwelt. Mit dieser These provozierte vor kurzem das britische Wissenschaftsmagazin New Scientist seine Leser in einer Titelgeschichte und sah "grüne Orthodoxie in Flammen" aufgehen. Den notwendigen Zündstoff bezog das Magazin aus aktuellen Studien, insbesondere des Umwelttechnologen Matthew Leach vom Londoner Imperial College und von Richard Sandbrook, Direktor des Londoner Institute for Environment and Development. Diese Quellen seien ideologisch unverdächtig, Sandbrook war früher ein Aktivist von Friends of the Earth. Die britischen Forscher haben fünfzig internationale Studien ausgewertet und kommen zu dem Schluß, die in der Europäischen Union angestrebte Recyclingquote von achtzig Prozent des Papiers sei nur dann vertretbar, wenn man versteckte ökologische Kosten infolge von Schadstoffbelastungen, Transport oder Energiebedarf ignoriere. Würden solche Umweltbelastungen jedoch adäquat berücksichtigt, dann sinke die Recyclingquote gegen Null und die Verbrennung von Papier sei der beste Weg. Hierfür sprächen folgende Argumente: Der Papierrohstoff Holz ist in Nordamerika und Skandinavien überreichlich vorhanden, es wachsen bis zu dreißig Prozent mehr Bäume nach, als eingeschlagen werden. Das beliebte Klischee, Recycling schone den Wald, ist damit hinfällig. Die Papierherstellung aus frischen Fasern verläuft inzwischen wesentlich umweltschonender als früher, selbst der hohe Energieverbrauch läßt sich durch Verbrennen von Rinde und Holzabfällen weitgehend klimaschonend decken. Moderne Müllverbrennungsanlagen sind sauber, lassen sich in den Ballungszentren betreiben und erlauben so neben der Stromgewinnung die Nutzung von Heizwärme. Papierrecycling erfordert aufwendige Transporte, Sortiervorgänge und Reinigungsverfahren. So führt das Entfernen von Druckerschwärze und Farben (Deinking) aus Altpapier zu Sondermüll. Geht nun der geliebte Blaue Umweltengel in Flammen auf? Fragen wir das Berliner Umweltbundesamt, ob er noch eine Chance hat, der Hölle der Müllverbrennung zu entkommen. In Berlin werkelt man seit Monaten an einer Ökobilanz des Papiers. Leider wird dieses mit Spannung erwartete Standardwerk frühestens im Sommer nächsten Jahres fertig - und vor der Bescherung gibt es keine Kommentare. Ein bißchen Trost ist den beamteten Engelsschützern dennoch zu entlocken: Erste Zwischenbilanzen deuteten darauf hin, daß wir in der besten aller papiernen Welten leben. Mit ärgerlichem Gebrumm wird die britische Studie als grob vereinfachend angezweifelt. Viele Müllverbrennungsanlagen nutzten die Energie nur schlecht, gäben nur im Winter Heizwärme ab. Und die langen Transportwege für Altpapier spielten in der Ökobilanz keine so große Rolle.
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[ "Bundesregierung", "Umweltbundesamt", "Müllverbrennung", "Papierindustrie", "Recycling", "Studie", "Transport", "Berlin", "Nordamerika" ]
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1997-12-26T13:00:00+01:00
1997-12-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/01/Flambierter_Umweltengel/komplettansicht
"Hier dürfen Sie schweigen"
Pariser Platz, Berlin. Ein Ambulanzwagen der Feuerwehr-Geburtshilfe e.V. heult durchs Brandenburger Tor. Von der Baustelle des benachbarten Max-Liebermann-Hauses kreischen Motorsägen, gleich gegenüber, an der werdenden US-Botschaft, dröhnen Preßlufthämmer. Johlend springen Teenager aus dem Stadtrundfahrtbus und posieren zum Gruppenphoto. Dutzende fliegender Händler bieten Berliner Kuschelbären, DDR-Abzeichen und russische Pelzkappen feil, während ein Polizist in windschnittiger Radfahreruniform Wagen auflauert, die sich durchs autofreie Tor schummeln wollen. Und mittendrin orgelt der Leierkastenmann Altberliner Weisen. Der Pariser Platz, einst der repräsentative Eingangsraum der Stadt Berlin, zeigt sich derzeit chaotisch: Großbaustelle, Warenumschlagsort und Touristentaubenschlag. Gedudel, Gewusel, Gebrodel nicht zu knapp. Der Lärmpegel kennt nach oben hin keine Grenzen. Ein Ort für starke Nerven. Im Grunde zum Davonlaufen. "Raum der Stille" steht an der Eingangstür des nördlichen Wachhauses des Brandenburger Tors. "Treten Sie ein, hier dürfen Sie schweigen ..." lockt der schlichte Wegweiser. Im Vestibül mahnt eine hellblaue Wand erneut zur "Stille", jetzt in sieben Sprachen. Linkerhand fällt eine bunte Collage ins Auge: "Toleranz" mit Gesichtern in verschiedenen Hautfarben, das Kunstwerk einer Berliner Schulklasse. Ein Plakat verkündet "Frieden" in rund zwei Dutzend Sprachen von arabisch, über polnisch und spanisch bis japanisch, und darunter steht das "Gebet der Vereinten Nationen": "Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn ..." In einer lärmschluckenden Schleuse zwischen zwei getönten Glastüren hängt das weiße Relief eines Frauenkopfs, die Augenlider fest geschlossen, der Zeigefinger zum "Pst" auf den Mund gelegt. Dahinter beginnt das eigentliche Reich der Stille. Ein karger Raum, dreißig Quadratmeter groß, der mit beigefarbenen Nesselvorhängen von der Außenwelt abgeschirmt ist. Zehn Stühle, zwei Sitzkissen, zwei Beistelltische, ein Farn. Der handgewebte Wandteppich, das zentrale Objekt des Raums, wird von einer Halogenlampe effektvoll angestrahlt: Senkrechte helle Fäden durchschneiden die dunkelbraune Fläche - eine Lichtschneise in der Finsternis. Ja, es ist still im Raum, obwohl er nicht schallisoliert ist wie ein Hörfunkstudio. Stimmengewirr und Motorengeräusche dringen gefiltert durch. Ein ungewöhnliches Fleckchen in Berlins Mitte, das sich der pulsierenden Umgebung verweigert. Ein Ruhepol zum Durchatmen, Meditieren, Beten. Oder zum Ausruhen, um die müden Füße rasten zu lassen vom harten Berliner Pflaster.
DIE ZEIT
Wo Touristen im lauten Berlin ein bißchen Ruhe finden
[ "Vereinte Nationen", "Berliner Senat", "Dag Hammarskjoeld", "Berlin" ]
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1997-12-26T13:00:00+01:00
1997-12-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/01/Hier_duerfen_Sie_schweigen/komplettansicht
Klingeling
Der hinlänglich bekannte Appell aus der Weihnachtsgeschichte und die besänftigende Aufforderung "Fürchtet euch nicht!", wird für uns dieses Jahr im Leeren verhallen. Denn wir haben allen Grund, uns zu fürchten vor dem, was über uns kommen wird, sobald quer durch die Republik die Gabentische abgeräumt sind und Tausende hoch beglückt ihr Wunschpräsent in Händen halten, das Geschenk des Jahres - ein Handy. Die Luft wird erfüllt sein von Klingeln, Klirren und Piepen, von grellen und manchmal auch annähernd melodiösen Tönen, von jenem ganzen Bitte-herhören-Getöse, mit dem die zeitgeistliche Dumpfquasselei über all ihre wehrlosen Opfer triumphiert. Es bedarf keiner besonderen Hellsicht für die Gewißheit, daß diesmal selbst die himmlischen Heerscharen ihr Kommen per Mobiltelephon ankündigen, bevor sie brausend herniederfahren zur Erde. Und zwar ungeachtet der Gefahr, daß es einen solcherart in seiner Navigationssicherheit gestörten Stern von Bethlehem bei seiner Bruchlandung durchs Dach der Herberge hauen könnte. Würden die Beschenkten am Heiligen Abend ihr Handy mit ins Bett nehmen wie als Kind den Teddybären, es wäre reine Privatsache und mitnichten kritikwürdig. Doch ein Handy will ausgeführt werden, es muß Gassi gehen, weil sein Besitzer unerbittlich Publikum braucht. Und weil er einen unzähmbaren Spaß an dem hat, was sein anspruchsloses Gemüt für originell hält, drängt es ihn, von einem betont unüblichen Ort aus zu telephonieren. "Rate mal, wo ich bin!" - diesen in freudiger Erregung hervorgestoßenen Satz werden wir an den Feiertagen allüberall zu hören bekommen. Sei's während eines Stadtbummels, sei's an der Glühweinbude oder in den öffentlichen Toiletten. "Ich stehe hier gerade an der U-Bahnhaltestelle..." Ja, mein Bester, da stehst du nun und kannst nicht anders. Gott helfe dir, oder, besser, er helfe uns! Nun sollten die Weihnachtsurlauber nicht glauben, sie hätten sich diesem Funkrummel durch schlaue Flucht in die Ferne entzogen! Von wegen! Strandauf, strandab wird es unter karibischer oder fernöstlicher Sonne schlimmer piepen als in allen Mäusenestern dieser Welt. In den Wintersportorten kann man die neuen Handybesitzer von Schlitten und Carvingskiern telephonieren hören, ja, selbst noch aus dem Inneren der zu Tal sausenden Lawinen wird es tönen: "Oma, du wirst nicht glauben, wo wir jetzt sind ..."
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1997-12-26T13:00:00+01:00
1997-12-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/01/Klingeling/komplettansicht
Na, dann guten Ruck!
Seit 1977 pflegt die in Wiesbaden ansässige Gesellschaft für deutsche Sprache eine schöne Tradition. Jeweils zum Jahresende kürt sie das "Wort des Jahres". Ausgewählt wird unter den Wörtern, die dem gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Leben der vergangenen zwölf Monate ihren Stempel aufgedrückt haben. Leider häufen sich in den letzten Jahren die Wörter, denen eine eher negative Konnotation anhaftet: Politikverdrossenheit (1992), Sozialabbau (1993), Sparpaket (1996) spiegelten die depressive Stimmung im Land. Nein, auch dieses Jahr haben wir nicht ernstlich auf eine Trendwende zu hoffen gewagt. Gewonnen hat der "Reformstau". Armes Deutschland. Dabei lag das Rettende so dicht auf: Der "Ruck durch die Gesellschaft", den der Bundespräsident in den vergangenen Monaten immer wieder angemahnt hat, er belegte, wiewohl es noch gar nicht geruckt hat, bereits den zweiten Platz. Da kommt der Reformstau aber mächtig ins Grübeln, was? Rucki, zucki! Schon 1998 könnte es soweit sein. Das läßt hoffen. Vom prägenden Wort zum prägenden Politiker. Kein Zweifel, Großbritanniens strahlender Premierminister Tony Blair hat es geschafft. Und hierzulande steht Gerhard Schröder in den Startlöchern, es ihm nachzutun. In der neuen Ausgabe der Woche hat er Blair schon mal portraitiert - mit viel Lob. Tritt man dem niedersächsischen Ministerpräsidenten zu nahe, wenn man aus dem Text auch ein wenig Eigenwerbung herausliest? Schröder über Blair: "ein Parteirebell", der "das Fenster zur Wirklichkeit aufstieß" der "aus dem breiten Strom der Modernisierungsideen in seiner Partei handfeste, realistische und überprüfbare Projekte" formte der "Beharrungsfähigkeit durch faszinierende Visionen ersetzt - weil er glaubwürdig ist". Kein Zurück zu Dogmatismus, Larmoyanz und ideologischer Verbohrtheit fordert Gerhard Schröder im Namen Tony Blairs. Das ist nicht überraschend. Nur die schönen Max-Weber- und Karl-Mannheim-Zitate, mit denen der mögliche Kanzlerkandidat so virtuos hantiert, machen ein wenig stutzig. Sollte hier am Ende gar ein Ghostwriter am Werk gewesen sein? Wegen der Glaubwürdigkeit?
DIE ZEIT
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[ "Tony Blair", "Gerhard Schröder", "Bundespräsident", "Ministerpräsident", "Politikverdrossenheit", "Premierminister", "Sparpaket", "Strom", "Wiesbaden" ]
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1997-12-26T13:00:00+01:00
1997-12-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/01/Na_dann_guten_Ruck_
Ressourcen verschleudert
DIE ZEIT: Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen befürchtet, daß der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) das Geld ausgeht. Ist eine Umstellung auf das Prinzip der Privatversicherung (PKV) die Rettung? HERBERT REBSCHER: Nein. Außerdem halte ich eine solche Systemumstellung in unserer Gesellschaftsordnung für nicht machbar. ZEIT: Warum nicht? REBSCHER: In unserem Solidarsystem sind zu viele Sozialtransfers enthalten. Ein Viertel des Beitrags dient der Alterslast, deren Finanzierung über Prämien nur über einen langen Zeitraum aufzubauen ist. Ein weiteres Viertel dient dem Familienlastenausgleich, den beitragsfrei mitversicherten Familienmitgliedern. Über die Hälfte des heutigen Beitragsaufkommens hat also schlichte Umverteilungsfunktionen, die sozialpolitisch gewollt sind und in der Privatversicherung keinen Platz hätten. ZEIT: Brächte die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze genügend Geld in die Kassen? REBSCHER: Ja, das schafft aber auch Akzeptanzprobleme. Man kann nicht beliebig für die gleiche Leistung eine unbegrenzte Beitragssumme schöpfen, zumal die erhöhte Selbstbeteiligung im Krankheitsfall schon heute zunehmend auf Widerwillen stößt. Zu befürchten wäre eine noch stärkere Abwanderung von jungen und gesunden Versicherten in die PKV. Privatversicherten müßte dabei schon aus verfassungsrechtlichen Gründen auch die Rückkehr in die GKV erlaubt sein. Weil nur die Älteren wegen der niedrigeren GKV-Beiträge zurückkehren würden, hätten wir einen doppelten Entsolidarisierungseffekt. Das wäre eine Aderlaß für die Krankenversicherung. Deshalb: Finger weg von der Beitragsbemessungsgrenze. Allerdings müssen wir über die Versicherungspflichtgrenze, also über die Frage diskutieren, welche Personengruppen zur Finanzierung des Gesamtsystems beizutragen haben.
DIE ZEIT
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[ "Geld", "Gesundheitswesen", "Kapitalflucht", "Krankenversicherung", "Rationalisierung" ]
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1997-12-26T13:00:00+01:00
1997-12-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/01/Ressourcen_verschleudert/komplettansicht
Afrika & Barock
Alles wird schlechter? Klar. Müssen wir nicht drüber reden. Zwar ... Aber ... Also. Kommt uns doch schon fast als Neujahrsböller auf den Tisch Band 8, mit dem Datum 1998, der Zeitschrift Welfengarten. Wir werden nicht müde, dieses "Jahrbuch für Essayismus", herausgegeben von den beiden Germanisten der Universität Hannover, Leo Kreutzer und Jürgen Peters, auszurufen. Und: Es ist im achten Jahr noch üppiger geworden. Im Welfengarten, so der Name des Barock-Parks in Hannover-Herrenhausen, marschieren keine Professoren oder Assistenten - hier wird promeniert. Und da sich Hannover zur Heimat für Forscher aus Afrika entwickelt hat, klagt Alain Patrice Nganang (Yaoundé): "Gegenüber Asien und Amerika ist Afrika als Figur des Anderen kaum präsent im Werk Brechts", gibt es eine Erzählung von Elias Onwuatudo Dunu (Nsukka) und eine Studie über "Herders Konzept kultureller Identität und sozialer Entwicklung" von Aloone Sow (Yaoundé). Afrika sei uns fern? Wie fern ist dann, selbst in einer aus Hannover kommenden Zeitschrift, eine Erzählung auf Plattdütsch? Petra Feil aus Friedrichskoog schreibt einen wunderbaren hoch-/platt-deutschen Mischtext über das Leben hinterm Deich: "Dodenstill kümmt di dat vör, aver dat is ni so." Das Schönste - und ein neues Genre in diesem Schmöker: fünf Gerichtsreportagen, in denen zwischen Fußballverletzung und Fixer-Elend deutsche Wirklichkeit 98 eingefangen ist. Wer in den Welfengarten geht, versteht Deutschland besser. (Revonnah Verlag, Hannover 200 Seiten, 25 Mark)
DIE ZEIT
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1998-02-13T13:00:00+01:00
1998-02-13T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/08/Afrika_&_Barock
Buch & Schrift
Seit ein paar Monaten heißt das vor fünfzig Jahren gegründete Institut für Buchwesen der Universität Mainz, die aus gutem Grund nach Johannes Gutenberg benannt ist, Institut für Buchwissenschaft. Seit 1985 kommt aus Mainz eine Zeitschrift, die alles erforscht und vorstellt, was mit Buch und Schrift zu tun hat - und weiterhin Zeitschrift für Buchwesen heißt. So macht sie ihrem Namen Ehre: Myosotis heißt im Griechischen - Vergißmeinnicht. Das neue Heft der zweimal jährlich erscheinenden Zeitschrift bringt Essays über Buchwissenschaft, das Antiquariatsdorf Hay-on-Wye, Buntpapier, aber auch über Computerzeichen (Leibnizstraße 5, 55118 Mainz 64 S., Abb., 20 Mark).
DIE ZEIT
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1998-02-20T13:00:00+01:00
1998-02-20T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/09/Buch_&_Schrift
Berichtigung & Ergänzung
"Das Urteil über Jünger hat sich grundlegend verändert: Er galt als Repräsentant einer antimodernistischen Literatur und einer antidemokratischen, reaktionären Ideologie ...", stand vergangene Woche in Richard Herzingers Artikel über Ernst Jünger zu lesen (ZEIT Nr. 9/98, Seite 14). Leider sind bei der Texterfassung zwei kleine Wörter verlorengegangen, und schon hat sich der Sinn völlig verändert. Jünger galt nicht mehr als Repräsentant einer antimodernistischen Literatur, sollte es heißen. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. - Jürgen Busches Buch über Helmut Kohl, aus dem wir im selben Dossier einen Auszug brachten, ist im Berlin Verlag erschienen und kostet 39,80 Mark.
DIE ZEIT
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1998-02-26T13:00:00+01:00
1998-02-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/10/Berichtigung_&_Ergaenzung
Aki Takase & Rudi Mahall
DUET FOR ERIC DOLPHY Eric Dolphy starb in Berlin. Als man den schwarzen Jazzmusiker während einer Europatournee im Juni 1964 ins Krankenhaus einlieferte, ahnte keiner etwas von der Zuckerkrankheit, die ihn kurz danach umbringen sollte. Charles Mingus, der bei einem Konzert in Bremen dem Publikum noch vorwarf, es rieche hier nach KZ-Asche, verdächtigte die deutschen Faschisten, sie hätten Dolphy krepieren lassen. Ein unberechtigter Vorwurf, wie sich später herausstellte: "Dolphy hatte", wie Zeitzeuge Joachim-Ernst Berendt schrieb, "eine Art Zuckerkrankheit, die nur bei Schwarzen auftritt - um deren Diagnose und Therapie sich das ,weiße' medizinische Establishment deshalb nicht schert. Insofern war er ein Opfer der Rassendiskriminierung." Am 29. Juni 1964 endete die kurze Karriere des Multiinstrumentalisten, der die Flöte jazzfähig machte, dem Altsaxophon den expressiven Schrei entlockte und - der Baßklarinette Leben einhauchte. Allein ihr Klang ist ein Versprechen: dieses warme Grunzen und menschliche Sprechen, der süffig schlürfende Schmatz, das nervöse Entenquaken, das Glucksen und Gurgeln. Kaum vorstellbar, daß nach Eric Dolphys Baßklarinetten-Hymnen über Mingus' "What Love" oder Billie Holidays "God Bless The Child" jemand versuchen könnte, sich auf diesem Instrument Dolphy zu nähern. Rudi Mahall, schlaksiger Deutscher Anfang Dreißig, wagt die Blasphemie, spielt Dolphy-Kompositionen, eine ganze CD lang, die Baßklarinette in warmem Einklang mit sich selbst. Seine Partnerin ist Aki Takase, japanische Pianistin, Liebhaberin großer Dialoge - mit Gunther Klatt oder David Murray, mit Maria JoÆo oder ihrem Mann Alexander von Schlippenbach. Und der Coup gelingt. Sie extrahieren Themen, Stimmungen und Tonfälle, treten eher zurück, als sich zu produzieren. Eine kurze Exposition, eine Erklärung zum Thema, danke, der andere kommentiert, selten länger als acht Takte. Fast spartanisch kurz sind die Titel: altmodische Schellack-Portionen, das längste Stück währt vier Minuten - sie vermeiden den Fehler, mit der epischen Dauer der Originale, mit deren Spannungsbögen zu konkurrieren. Es sind lichte Momentaufnahmen voller Wachheit und Intensität. Und beide - das macht sie zu nachgeborenen Verwandten Dolphys - stehen mit einem Bein in der traditionellen Moderne, tänzeln mit dem anderen über dem Abgrund der Avantgarde. Ein harmonisch verwehtes "Something Sweet, Something Tender", ein über Be und Bop hüpfendes "Les", eine linear am Bach laufende "Miss Ann" - jenseits von Takase/Mahall verführt diese Musik dazu, den großartigen Menschen und Collage-Virtuosen Dolphy wieder zu finden.
DIE ZEIT
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1998-03-19T13:00:00+01:00
1998-03-19T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/13/Aki_Takase_&_Rudi_Mahall/komplettansicht
Ebbe & Flut
Weit im Norden, zwischen Nässe und Nichts, wurden zum allerersten Mal Politiker unter dem Namen "Grüne" in ein Parlament gewählt: 6,0 Prozent der Stimmen und zwei Kreistagsmandate errang die Grüne Liste Nordfriesland bei den Kommunalwahlen des Jahres 1978. Keine schleswig-holsteinische Landesregierung wagte es seither, Atomkraftwerke ins Wattenmeer zu bauen. Politische Erfolge gab es auch auf Bundesebene, wo die offizielle Grünen-Gründung zwei Jahre später stattfand. Doch der Wähler ist unstet, der nordfriesische zumal: Am vergangenen Wochenende wies er die inzwischen erfolgsverwöhnte Antiparteien-Partei aus der Vertretung ihres Ur-Wahlkreises. Landesweit sank das Kommunalwahlergebnis der Grünen von 10,3 Prozent (1994) auf 6,8 Prozent. Selbst unter Berücksichtigung lokaler Besonderheiten Nordfrieslands - dort leben weniger Postmaterialisten, dafür aber mehr naturschutzgebeutelte Muschelfischer als in Frankfurt oder Berlin - läßt sich aus diesem Ergebnis eine einfache Tatsache ablesen: Die Grünen sind eben eine Partei, und mit den Parteien geht es, je nach Qualität ihrer Politik und den Prioritäten ihrer Wähler, auf und ab. So wie mit Ebbe und Flut vor den Deichen Nordfrieslands, im hohen Norden des Landes, dort, wo alles anfing.
DIE ZEIT
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1998-03-26T13:00:00+01:00
1998-03-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/14/Ebbe_&_Flut
"Ich bin ein Spätzünder"
Hamburg, wo sie es am schönsten findet. Über Nacht hatten die Krokusse zu blühen begonnen, an den Zweigen der Trauerweiden längs der Außenalster zeigte sich mit Macht das erste Grün. Wie zu dieser Jahreszeit üblich, begannen in den umliegenden Straßen Menschen an den Faltdächern ihrer Cabrios zu nesteln. Frühling im Norden! Doch Esther Schweins schien dem Wetter nicht zu trauen. Für den Alsterspaziergang hatte die 27 Jahre alte Schauspielerin über den Blazer ihres Herrenanzugs vorsichtshalber noch eine Daunenjacke gezogen. Der Schal, den sie um den Hals trug, sah aus wie eine Federboa, nur etwas zurechtgestutzt auf eine praktische Länge. Eine Sonnenbrille aber hatte sie mitgenommen. Sie steckte in ihrem Haar, dessen sirenenhaftes Rot, wenn überhaupt, nur in der Signalfarbe der Gefahrenbojen draußen auf dem Wasser eine Entsprechung fand. Am Samstag abend ist Esther Schweins im ZDF in der Hauptrolle eines Krimis zu sehen. "Drei Tage Angst", so lautet der Titel. Im Herbst spielt sie, ebenfalls fürs ZDF, die Chefin eines Sicherheitsdienstes, viermal neunzig Minuten. Allmählich ist wohl Schluß mit den Albernheiten. Seit fünf Jahren erheitert sie die Republik als Comedy-Göttin der "RTL Samstagnacht". Ende April ist die Zeit um, der Esther Schweins einen außergewöhnlichen Ruf verdankt. Nach Einschätzung der Fernsehwoche ist sie "die erotischste Frau im deutschen Fernsehen", denn als Schauspielerin verkörpere sie den "Trend zur sympathisch-natürlichen Sinnlichkeit". Zum selben Urteil kam das Hamburger Gewis-Institut. Im vergangenen Jahr hat die "Gesellschaft für erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung" im Bundesgebiet 1089 repräsentativ ausgewählte Personen im Alter von sechzehn bis sechzig Jahren befragt. Ergebnis: Wieder Platz eins, im geschlagenen Feld Iris Berben, Veronika Ferres und Arabella Kiesbauer. Was empfindet sie selbst angesichts solchen Lorbeers? "Nichts", sagt Esther Schweins. Wenn sie spazierengeht, dann hier am Alsterufer. Schon wegen des Hundes, einer Bordeaux-Dogge, "diesem Relikt" aus einer früheren Beziehung. "Damit sorgt er dafür, daß ich gesund bleibe."
ZEIT ONLINE
Ein Alsterspaziergang mit der Schauspielerin Esther Schweins
[ "Fernsehen", "Esther Schweins", "Hildegard Knef", "RTL", "Arabella Kiesbauer", "Harley-Davidson", "Iris Berben", "Wolfgang Borchert", "USA", "Bochum" ]
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1998-04-08T14:00:00+02:00
1998-04-08T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/16/Ich_bin_ein_Spaetzuender/komplettansicht
Loher & Hannover
Das Schauspiel Hannover in der Prinzenstraße, das als einziges deutsches Theater Besucher jeden Tag im eigenen Haus in ein schönes Museum und Archiv einladen kann, hält seinen Autoren die Treue. Nicht nur werden die Stücke der Hausautorin Dea Loher auf die Bühne gebracht, sondern die junge Autorin wird auch - und gleich mit einem Doppelheft - geehrt in der von Brigitta Weber und Carsten Niemann herausgegebenen Schriftenreihe des Theatermuseums, die sich unter der schlichten Adresse prinzenstraße schon einen Namen gemacht hat. Jens Groß und Ulrich Khuon dokumentieren auf 256 Seiten, mit Textauszügen, Aufsätzen, einem Klappmodell der Aufführung "Tätowierung" und vielen Photos das gesamte Werk der Autorin (Prinzenstraße 9, 30159 Hannover 24 Mark).
DIE ZEIT
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1998-04-16T14:00:00+02:00
1998-04-16T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/17/Loher_&_Hannover
Beins, Pfleiderer & Wilson
YARBLES Eine Platte für Millionen ist dies nicht ihre Auflage beträgt nur 1500 Exemplare - und ob die sich verkaufen werden? Da schreien nun wieder alle laut auf, die sich Sting und Aziza Mustafa Zadeh in diese Kolumne wünschen, die Sachen, die sie ohnehin schon kennen und von denen sie nicht genug kriegen können. Dem Drängen auf Popularität wird aber heute nicht nachgegeben: Auch Musik für wenige hat ihr Recht, und Bewunderung verdienten doch gerade die Nichtstars , die Lebenskünstler sein müssen, um als Künstler existieren zu können. Burkhard Beins zum Beispiel, auf dem Coverphoto der unrasierte Herr in der Mitte: Fürs tägliche Brot fährt er Taxi in Berlin, was keine Schande ist, ihm bloß Zeit am Schlagzeug stiehlt. Als er mit dem Saxophonisten Martin Pfleiderer (Musikwissenschaftler, links) und dem Kontrabassisten Peter Niklas Wilson (Musikwissenschaftler, rechts) am vorvergangenen Sonntag im klitzekleinen Hamburger Monsuntheater die CD "Yarbles" vorstellte, da kamen zu diesem lange angekündigten Konzert gerade zwanzig. Warum es so wenige seien, das wisse man nie, sagt Wilson: Ist es das schöne Wetter? Waren die Plakate schlecht geklebt? Nun, vielleicht liegt's an der Musik!
DIE ZEIT
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1998-04-29T14:00:00+02:00
1998-04-29T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/19/Beins_Pfleiderer_&_Wilson/komplettansicht
"du" & die Elbe
du - nur du allein: Es ist ein Wunder, wie sich diese wunderbare Schweizer Zeitschrift immer wieder neu erfindet. Das Mai-Heft (mit dem sich übrigens der langjährige Chefredaktor Dieter Bachmann verabschiedet) haben die Zürcher einem ihnen fernen Strom gewidmet: der Elbe. Die Autorenliste liest sich wie der Auszug aus einer Anthologie (bundes)deutscher Gegenwartsliteratur: Heinz Czechowski, Kurt Drawert, Thomas Kling ... Und so reisen wir auf der schönen und auf der häßlichen Elbe, auf der Caspar-David-Friedrich- und Kokoschka-, auf der Richard-Wagner- und Wim-Wenders-Elbe. Wahrlich: Ein "Fluß durch die Zeit", elegisch photographiert von dem jungen Jörn Vanhöfen aus dem Talentelabor in Essen (96 Seiten, 20 Mark).
DIE ZEIT
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1998-05-14T14:00:00+02:00
1998-05-14T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/21/du_&_die_Elbe
Aufstand bei Maigret & Co.
Wir sind selbst schuld", sagt Lulu grimmig. "Seit Jahren schuften wir sechzig Stunden in der Woche. Kümmern uns nicht um unsere Rechte. Fragen nicht nach Überstunden. Nix mit Gewerkschaft. Und jetzt wollen sie Beamte aus uns machen. Das können sie haben." Lulu arbeitet bei der Pariser Kriminalpolizei. Seit mehr als drei Monaten streikt er, pardon: macht Dienst nach Vorschrift. Hält sich bei Verfolgungsjagden ans Tempolimit. Kommt pünktlich und geht pünktlich. Keine durchwachte Nacht mehr in rauchigen Bars. Da bleibt der Kitzel aus und der Erfolg auch. Solch biedere Arbeit ist Lulu, das braucht er gar nicht auszusprechen, stinklangweilig. Lulu will aber immer noch nicht vor der jüngsten Gehaltsreform für Inspektoren kapitulieren. Sie kostet ihn, so rechnet er vor, netto 1441 Franc (rund 400 Mark) im Monat - obwohl er brutto doch gerade eine kräftige Erhöhung bekommen hat. Lulu ist nicht allein mit seinem Ärger. Die Hälfte der Pariser Inspektoren und Kommissare, 1500 Mann, so schätzt ihre Gewerkschaft, arbeitet seit Anfang März im Bummelstreik. Im ersten Monat ist die Zahl der Delikte um 12,7 Prozent gestiegen. Bekannt wurde die Sache erst kurz vor dem Auftakt der Fußballweltmeisterschaft. Ein paar Offiziere sorgten dafür, daß ihr Unmut am Vortag einer Begegnung mit ihrem Dienstherrn, dem strammen Innenminister Jean-Pierre Chevènement, publik wurde. Sie rechneten fest damit, daß Chevènement irgendwie einlenken würde. "Er ist besser als seine Vorgänger", sagt ein Kollege von Lulu. "Ehrlich, fleißig. Aber dann hat er bloß einen Vortrag gehalten, was er im letzten Jahr so alles gut gemacht hat. Und dann: Ciao, meine Herren!" Von Geld, und um Geld geht es, keine Rede. Bislang bekamen französische Polizeioffiziere zusätzlich zu ihrem Gehalt jeden Monat einen Umschlag mit Bargeld zugesteckt. Der Umschlag war in Paris und Umgebung dicker als in der Provinz. Er war als Entschädigung gedacht für Ausgaben, zu denen man einfach keinen Beleg verlangen kann: den Whisky im Ganoventreff, den Hunderter für den Spitzel. Über das Geld mußten die Polizisten keine Rechenschaft ablegen, sie mußten es nicht versteuern und keine Sozialabgaben zahlen. Auch nicht, wenn etwas übrigblieb. Das ist nun vorbei. Statt des Umschlags gibt es erhöhte Gehaltszuschläge. Das heißt: ein hübsches Bruttogehalt und nebenbei oftmals eine höhere Steuerklasse. Netto also einen Verlust. Die Polizeigewerkschaft Snop hat die Zuschläge namens aller 17 000 Angestellten ausgehandelt. Die Unterschiede zwischen Paris und der Provinz, sowohl bei der Arbeit wie bei den Kosten, hat die Gewerkschaft bei den Verhandlungen mit dem Innenministerium entweder vergessen oder vernachlässigt. Schließlich sind die Pariser in der Minderzahl. Bitter macht die Polizisten auch, was in Frankreich jeder weiß: An den höchsten Stellen der Verwaltung, im Elysee wie in den Ministerkabinetten, sind Barzuschläge gang und gäbe. Die unmittelbaren Mitarbeiter des Staatspräsidenten, des Premierministers und der anderen Minister - auch des Innenministers - bekommen allesamt eine Prämie in bar, zusätzlich zum Gehalt und ohne Beleg. Ob sie sie freiwillig in der Steuererklärung angeben? In Zeiten, da es überall im Lande moralischer zugehen soll als früher, passen solche Handgelder zwar schlecht ins Bild. Bislang war aber noch nicht zu hören, daß auch Kabinettsmitglieder in Zukunft darauf verzichten müßten.
DIE ZEIT
Die Pariser Kriminalpolizei streikt - und außer den Gaunern merkt es keiner
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1998-06-18T14:00:00+02:00
1998-06-18T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/26/Aufstand_bei_Maigret_&_Co_
Badmarsh & Shri:
Keine Musik ist so komplex, so kompliziert, so klassisch wie die indische. Dennoch wird sie dort von sehr vielen Menschen verstanden. Indische Musiker sind für ihre Virtuosität weltbekannt. Wenn auf dem Subkontinent im Konzert die Götter herbeigespielt werden, entsteht mehr spirituelles Miteinander zwischen Künstler und Publikum als irgendwo anders. Aber die Musikindustrie in Bombay setzt auf eher anspruchslosen Hindi-Pop, der vor allem auf Musikkassetten vermarktet wird (die CD ist im armen Indien noch keine Massenware): Filmmusiken und Liebesschnulzen, die sogar Lautsprecherboxen zum Weinen bringen. Innovative Produktionen, egal, aus welchem Bereich, haben es dort schwer. Deshalb kommt neue indische Popmusik meist aus dem Londoner Untergrund, wo gerade die nächste Generation indischer Einwanderer ihr Leben zwischen den Kulturen künstlerisch verarbeitet. Dort haben Badmarsh und Shri, zwei junge Musiker indischer Abstammung, eine neue Variante der west-östlichen Begegnung erfunden: DJ trifft Tabla-Trommler. Ein von der Old School inspirierter Plattenreiter trifft einen klassisch ausgebildeten Instrumentalvirtuosen. Die Moderne, die Konserve, das Zitat, der elektronische Strom, der durch Schaltungen fließt, der Klang der Technik, die unser Leben prägt - all das trifft auf die Tradition, die Natur, das Original. Von der Tabla sagt man, sie ziele direkt auf das dritte Auge des Menschen. Das Instrument nimmt in der indischen Klassik etwa die Stellung des Klaviers in der westlichen Musik ein. Beide Musiker wollen ihre Zuhörer bewegen - der House-DJ und Drum-&-Bass-Künstler Badmarsh, aufgewachsen in East End, will ihre Beine zum Tanzen bringen der klassisch ausgebildete Tabla-Spieler Shri, aufgewachsen in Bombay, zielt auf ihre innere Aufmerksamkeit. Mühelos hält sein Spiel den Attacken der elektronischen Tanzmaschine stand, so typisch klingen die hölzerne Tabla und die metallene Dharan. Miteinander schaffen beide Musiker auf "Dancing Drums" ein pulsierendes, und bewegungsreiches, oft auch entspanntes Geflecht, eine Synthese aus leichten Tablas und schwerem Schlagzeug, immer wiederkehrenden Baßfiguren, Flöten- und Sitartönen. Rhythmische Figuren führen einen Moment lang ein Eigenleben, egal, wie sie erzeugt wurden. Dann und wann schauen kleine Melodien aus den Rhythmen hervor, dazu allerlei Geräuschminiaturen von Rap über TripHop, wie unter Wasser aufgenommen, Schalmeienklänge, ironische Jazz-Phrasen auf der Sitar und Maschinendröhnen bis zum Kinderlied im Hinterhof mit Akkordeonbegleitung. Alles, sogar das Gewicht des Schlagzeugs und der Breakbeats, scheint dabei um eine Achse zu schweben: Badmarsh und Shri haben in ihrer Musik das Schwere nach außen gerückt und die Mitte leicht gemacht.
DIE ZEIT
DANCING DRUMS
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1998-06-18T14:00:00+02:00
1998-06-18T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/26/Badmarsh_&_Shri_
Schach dem Leben
Der Urgroßvater war ein wohlhabender Tuchhändler aus Königsberg. Der Großvater ein mittelmäßiger, aber erfolgreicher Komödienschreiber in Wien. Sein Vater ein Trinker und Stehgeiger in den Wiener Beiseln und Heurigen. Er selbst, Carl Haffner, spielte immer nur Schach und blieb immer nur Sohn. Fern vom Schachbrett kommt er nur bei seiner Mutter Maria, einer Toilettenfrau mit Herz, und bei seiner geliebten Halbschwester Lina, einer Klavierspielerin ohne Ehemann, zur Ruhe. Carl Haffner ist ein Schachgenie. Er ist ein Besessener, der über dem Spielen das Leben vergißt, der kaum spricht und kaum ißt, woran er schließlich auch zugrunde geht. Der erste Roman des sechsundzwanzigjährigen Steirers Thomas Glavinic erzählt von der Austragung einer Schachweltmeisterschaft im Jahre 1910 zwischen dem asketischen, bescheidenen, naiven Carl Haffner (Karl Schlechter heißt der Modell stehende historische Großmeister) und dem amtierenden Weltmeister und gebildeten Weltbürger, dem berühmten, selbstbewußten Emanuel Lasker, dessen Name noch heute über die Schachwelt hinaus bekannt ist. Zehn Partien werden gespielt, fünf in Wien und fünf in Berlin. Die Öffentlichkeit nimmt regen Anteil, die Säle sind zum Bersten gefüllt, die Zeitungsberichte überschlagen sich, der Wettkampf nimmt dramatische Züge an. Es ist interessant zu sehen, was Thomas Glavinic aus dem teilweise historisch verbürgten Stoff macht. Man wirft den deutschsprachigen Schriftstellern gerne vor, sie verstiegen sich in extreme gedankliche Höhen, überanstrengten sich sprachlich und formal und gäben keinen Pfifferling auf rund erzählte Geschichten. Bei Thomas Glavinic ist es genau andersherum. Er hat seine Figuren und seine Geschichte so fest in der Hand und führt sie so sicher durch das tiefe Tal der vielfältigen literarischen Optionen, als ob er ein Urmuster des spannenden psychologischen Erzählens rekonstruieren wollte. Er hat alles, was zu einer klassischen Novelle gehört, versammelt, er hat einen übersichtlichen Plan, stark kontrastierende Figuren, eine überdeutliche Erzählabsicht, er entledigt sich seiner Aufgabe brav und schematisch wie ein Musterschüler, der all die Sperenzchen der modernistisch schlingernden Überflieger satt hat. Ich kann es wie die Alten, scheint er sagen zu wollen, ich kann schreiben wie einer aus der "Welt von gestern", und bei Stefan Zweig und seiner "Schachnovelle" habe ich gut aufgepaßt. Das erste Kapitel entfaltet die Wettkampfsituation und stellt den gehemmten Carl Haffner und seine aufgekratzte, lebemännische Entourage vor. Die erzählte Zeit umfaßt mehr oder weniger einen Abend. Das zweite geht drei Generationen in der Familiengeschichte zurück und erzählt im Zeitraffer eine mit dramatischen Höhepunkten gespickte Saga mit k. u. k. Flair bis zur irdischen Ankunft des Helden. Elendes Ende eines christlich selbstlosen Schachspielers Und so klappert das Schema weiter zwischen Rückblenden in die Tiefe der Zeit und der Familienneurosen und dem tumultbegleiteten Wettkampfgeschehen hin und her. Schließlich vereinigen sich die Linien. Haffner hat nach vier Remis die fünfte Partie gewonnen, für die letzten fünf geht die Reise nach Berlin.
ZEIT ONLINE
Thomas Glavinic' erster Roman: "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden"
[ "Roman", "Emanuel Lasker", "Schach", "Remis", "Robert Schneider", "Stefan Zweig", "Berlin", "Wien" ]
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1998-06-25T14:00:00+02:00
1998-06-25T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/27/Schach_dem_Leben/komplettansicht
Carla Bley & Paul Haines
ESCALATOR OVER THE HILL Irgendwann hätte man das Werk vielleicht als Meilenstein vergessen. Glänzende Goldschrift auf mattem Gold, drei Schallplatten in der Box mit dem verstaubt surrealen Titel "Escalator Over The Hill - A Chronotransduction". Jazz-Oper nannten es die einen, Oratorium und Singspiel andere, einstimmig attestierten sie ihm Singularität, Unaufführbarkeit und tiefe Bedeutung. Nun gingen die Komponistin Carla Bley und der Librettist Paul Haines auf Reisen, führten das Instrumentalwerk 1997 in Köln und 1998 im Rahmen einer kleinen Europa-Tournee auf, veröffentlicht das Bleysche Watt-Label die gefeierte Originalaufnahme in digitaler Qualität mit goldenem Beiheft: Respekt, ein bißchen Nostalgie und helle Begeisterung. Der Traum der späten sechziger Jahre wird hörbar: die Hoffnung auf eine neue Sprache, die Sehnsucht, die offene Dreierbeziehung zwischen Jazz, Rockmusik und Avantgarde zu verwirklichen, die Klarheit von Linda Ronstadt mit der Dramatik von Jack Bruce und der Kühle von Warhols Viva zu verknüpfen, das Feuer des Free Jazz unter die einlullenden Mantras und dunklen Gedichte zu legen. Vor allem schleicht sich Europa ins Jazz-Programm. Im New Yorker Kaffeehaus wird nicht nur allerlei von Satie und Weill und Eisler serviert, selten war "Sgt. Pepper's Band" dem Jazz so nah. Carla Bley, 1938 geborene Borg, kurzfristig mit dem Solitär Paul Bley verheiratet, später Muse, Komponistin, Arrangeurin und selbst Pianistin, hatte dem männlichen Jazz Stoff geliefert: tragende Melodien, genügend singbare Noten, um sie sich einzuprägen, wenig genug, um die eigene Improvisation nicht zu ersticken, die Suite "A Genuine Tong Funeral" zum Beispiel, die bis heute als CD vermißt wird. Als ihr der Dichter Paul Haines kleinere, geistesverwandte Arbeiten schickt, entsteht der Plan zu einer Oper, beginnen 1968 die Aufnahmen zu "Escalator", die sich - bedingt durch Geldnot und anderweitige Verpflichtungen der Musiker - bis 1971 hinziehen: hellwache Fahrt auf einer musikalischen Rolltreppe, vorbei an Bildern, Musikstilen und Stimmen. Doch während der Gestus des Textes nach dreißig Jahren so schwer verdaulich wie früher bleibt - "Stop refusing to explain / Give up explaining" -, verblüfft die Mimik der Musik noch heute. Die Hotel Lobby Band bläst ihre Schunkelballaden gegen die elektronische "Phantom Music", die Gitarrensoli John McLaughlins in "Jack's Traveling Band" stehen neben der Trompetenlyrik Don Cherrys aus der weltmusikalischen "Desert Band". Dazu das himmelhoch kreischende Tenorsaxophon Gato Barbieris oder die Revolutionsromantik Charlie Hadens. P.S. Seltsame Blüte des Fortschritts: Wo auf Vinyl, Seite 6, die Nadel in der Auslaufrille mit elektronischem Dauerton auf den Anfang verweist, summt jetzt die CD exakt 17 Extraminuten. Dann ist Schluß.
DIE ZEIT
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1998-09-03T14:00:00+02:00
1998-09-03T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/37/Carla_Bley_&_Paul_Haines/komplettansicht
Fliegen & floppen
Besser hätte es gar nicht gehen können. Gerade mal zwei Jahre ist es her, daß sie die Ärmel aufkrempelten in der Berliner "Baracke", einer ehemaligen Baubude, die zum 99-Plätze-Ableger des Deutschen Theaters mutierte: die meisten frisch von der Schauspielschule, lauter junge Theaterbesessene um den Regisseur Thomas Ostermeier und den Dramaturgen Jens Hillje. Zwei Jahre sind eine verteufelt kurze Zeit. Andere Berufsanfänger hätten sie gerade mal als Schnupperphase genutzt, Gelegenheit, die Mühen der Ebene zu erkunden - dem "Baracken"-Team reichte sie zum erfolgreichen Gipfelsturm. Über Nacht avancierte ein lokaler Geheimtip zum Kultort, der Kultort zum Hauptstadt-Hit. Raketensteil ging's aufwärts, nichts für Schwindelanfällige: erst die Doppeleinladung zum Theatertreffen 1998, dann der (Hilfe-)Ruf der Schaubühne - Ostermeier, übernehmen Sie! (Ostermeier wird übernehmen, gemeinsam mit Sasha Waltz, der Kollegin vom Tanz, Amtsantritt im Jahr 2000.) Hat noch irgendwas gefehlt? Richtig: die offizielle Krönung in der Kritikerumfrage von Theater heute. Nun, im noch druckfrischen Jahrbuch, wird sie nachgeliefert: Die Baracke ist jetzt auch kritikstatistisch "Theater des Jahres 98". Ein Bühnenmärchen, das den wunderbaren Titel trägt: "Die Kleinen werden die Größten sein ..." Besser hätte es gar nicht gehen können? Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Zwar gilt auch fürs Theater: Schöner ist es, sich am Erfolg abzuarbeiten, als gar keinen zu haben. Doch der Preis ist hoch. Tag und Nacht im Schaufenster der Öffentlichkeit, das halbe Premierenpublikum mit dem Kugelschreiber im Anschlag - so lebt sich's gefährlich. Es kam, wie es - irgendwann - kommen mußte: Dem Höhenflug folgt ein Absturz. Unter der Gürtellinie, Ostermeiers jüngste Produktion, ist ein Flop, eine herbe Enttäuschung. Der Regisseur hat die irgendwo zwischen Kafka und Rührstück irrlichternde Dreipersonenparabel des Amerikaners Richard Dresser mit Slapstick, Klamotte und Streichquartett länglich aufgemotzt - ein kraftloser Stilmix zum diffusen Thema "Der Mensch ist des Menschen Wolf". Es war, als Auftakt zum Schwerpunktthema "The Next Generation" der Berliner Festwochen, wieder eines dieser englischsprachigen Stücke, für die die "Baracke" so etwas wie der deutsche Brückenkopf geworden ist - kein Vergleich jedoch mit Ostermeiers starken Arbeiten wie Messer in Hennen und Shoppen und ficken. Dennoch: Vom Zukunftskonzept der Autorenwerkstatt nach englischem Vorbild darf sich die "Baracke" jetzt nicht abbringen lassen. Theater braucht Experimentierräume, braucht die Lust am Ausprobieren. Und genau dies läßt sich vom neuen britischen Stückeboom, von den vital zeitgenössischen, brutal authentischen Schmuddel- und Schnoddergeschichten des New writing lernen: Bühnentexte müssen nicht für die halbe Ewigkeit, sie dürfen auch mal nur für drei, vier Jahre haltbar sein. Gerade die überzogenen Ansprüche an Gegenwartsautoren haben viel zur Erstarrung des deutschsprachigen Theaters beigetragen. Dringender Appell also an Ostermeier und Co.: Nerven behalten - und sich nicht in das lähmende System von Erwartungsdruck und Sicherheitsdenken hineinziehen lassen. Sonst hat man rasch ausgespielt.
DIE ZEIT
Berlins "Baracke" ist Theater des Jahres '98
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1998-09-10T14:00:00+02:00
1998-09-10T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/38/Fliegen_&_floppen
Belle & Sebastian
THE BOY WITH THE ARAB STRAP Ein schmachtender Knabe, ein geheimnisvolles Potenzmittel und die französische Fernsehserie Belle et Sébastien als Namensgeber. Das ist der aktuelle Britpop-Hit, der die englischen Independent-Charts anführt. Und gemessen am deutschen Medieninteresse, muß er irgend etwas haben, das ihn von Tony Blairs langweiligen Lieblingen unterscheidet. Mehr Eleganz, mehr Folk entfalten die sieben Musiker um den Sänger und Songschreiber Stuart Murdoch allemal: von Simon & Garfunkel bis zur wahren Größe des zu Lebzeiten verkannten Melancholikers Nick Drake, die Beach Boys, Donovan, Velvet Underground, Peter, Paul & Mary - alle, die jemals tiefe Traurigkeit durch zartschmelzende Arrangements und entrückten Gesang zum Schweben brachten, kommen vor. Geigen, Flöten, Bläser, Synthesizer, Hammondorgel und natürlich Handclapping - doch die einzelnen Stimulanzien gleiten aneinander vorbei. Die lyrische Tiefe der Songtexte, in denen sich quälende Selbstzweifel in Alltagsgeschichten verlieren, scheint nur momenthaft auf. Dem Hörer, verführt durch zuckrig-charmante Melodien, entgeht nicht, worauf er sich eingelassen hat: kunsthandwerkliche Harmonieschemata, die schon immer - zu gut - funktioniert haben. So ist die ephemere Glockenhelligkeit von Sängerin Isobel Campbells Stimme im Grunde unerträglich, das Jungens-Image des dreißigjährigen Stuart Murdoch nichtssagend. Die latente Faszination, die sich gleichwohl einstellt, ist kaum einer zukunftsweisenden Qualitätssteigerung im Britpop geschuldet als vielmehr der Fähigkeit von Belle & Sebastian, den Hörer unaufmerksam zu machen, ihn zum Flaneur werden zu lassen. Wunderbar zu hören auf dem Walkman beim Herbstspaziergang oder, noch besser, während der Zugfahrt: Nonstop-Pop zum Dahintreiben, nichts wird wirklich greifbar. Die Atemlosigkeit der zu langen Verszeilen, das im Vordergrund herumrührende Schlagzeug puschen die nach Moll modulierten musikalischen Bestandteile in ein ihnen widerstrebendes Tempo. Ein spröder Charme, die leicht überhöhte Geschwindigkeit der neunziger Jahre, die das, was man finden könnte - wenn man wollte -, nicht freigibt. Die Leichtigkeit, mit der hier die düsteren Gefühle hochgehalten werden wie Schönwetterwölkchen an einem zu schwarzen Himmel, entspricht einem Lebensgefühl, das den Blues nur noch von ferne kennt und letztlich ohne ihn auskommen muß.
DIE ZEIT
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1998-10-15T14:00:00+02:00
1998-10-15T14:00:00+02:00
https://www.zeit.de/1998/43/Belle_&_Sebastian/komplettansicht
Pompernikel & Bernini
Der Reisende versucht das Beste aus seiner Lage zu machen. Zuweilen kann er aber ein gewisses Befremden nicht ganz unterdrücken: "An diesem Tage wollten wir unsere Reise ganz gemütlich fortsetzen. Und so saßen wir schließlich in bunter Reihe neben einem Ochsen in rauchiger Hütte und taten uns an schimmligem Schwarzbrot gütlich, das der Westfale ,Pompernikel' nennt und mir weder für Bauer noch Bettler die geeignete Speise scheint." Die leicht ausfällige Wendung gegen das heute allgemein noch geschätzte Produkt westfälischer Backkunst mag sich Zeitläuften und Herkunft des Reisenden verdanken. Denn wir schreiben den 18. März 1644, und unser Verächter des Pumpernickels ist Italiener, genauer: ein Aristokrat aus Siena in Diensten der römischen Kurie. Sein Name: Fabio Chigi. Beruf: Geistlicher und päpstlicher Nuntius in Köln. Sein Auftrag: die offizielle Friedensvermittlung zwischen den katholischen Mächten nach nunmehr fast dreißig Jahren Krieg in einem kriegsmüden Europa. Sein Ziel: die Stadt Münster in Westfalen, gemeinsam mit Osnabrück Stätte der Friedensverhandlungen. Als Chigi am 19. März 1644 mit fünfzehnköpfigem Gefolge in Münster einzieht, wird er von der Stadt mit Jubel, Kanonendonner, Trommelwirbeln und Prozessionen empfangen. Denn "unermeßlich, o Mimigarda (Münster), ist dein Verlangen nach Frieden als Folge fürchterlicher Kriege und nach dem Legaten des Heiligen Stuhls, auf daß er die zerstrittenen Könige zum Friedensvertrage führe". So wenigstens dichtet der Nuntius selbst über die Erwartungen, die ihn begleiten und empfangen. Der 45jährige Wahlrömer ist nämlich kein puristischer Theologe. In Rom gilt er als ausgezeichneter Versemacher, als gewiefter Jurist und Kenner der Antike. Man schätzt ihn als weltläufig, diplomatisch und dennoch überzeugten Kurialen - ein geschickter Gesandter wie Machiavelli, aber kein Machiavellist. Sein bedeutendster Förderer, Papst Urban VIII., hatte ihn 1639 mit der wichtigen Kölner Nuntiatur betraut und ihn auch für das westfälische Friedenswerk als beste Besetzung empfunden. Der Papst war jedoch nach der Abreise Chigis von Köln nach Münster gestorben, ein Nachfolger wegen des quälenden Sommerkonklaves zunächst nicht in Sicht. Und als er dann mit Innozenz X., einem Römer aus dem Pamfili-Clan, überraschend im September gefunden wurde, erwies es sich, daß er den Nuntius mit der wichtigsten diplomatischen Mission der neueren Kirchengeschichte nicht persönlich kannte. Dennoch beließ der neue Papst seinen Botschafter in Westfalen. Zu deutlich sprachen Empfehlungen der Kurie und die klaren, stilistisch gewandten, hin und wieder von ironischen Versen begleiteten Berichte Chigis für ihn. Ein Breve im Oktober 1644 bestätigte den Botschafter ausdrücklich und nannte ihm noch einmal seine Aufgaben: Förderung des Friedens, ohne daß Kirche und Glaube in Gefahr gerieten. Noch deutlicher: die Rechte und das Wohl der Kirche ("iura et salus ecclesiae") seien mit aller Macht und Unerschrockenheit zu verteidigen und nötigenfalls sogar der Rückzug vom Kongreß jedem Zugeständnis in dieser Hinsicht vorzuziehen; denn "menschliche Belange müssen hinter dem zurücktreten, was man Gott schuldet". Die Diplomaten sind wie Knaben beim Murmelspiel So sieht Chigi sich von Beginn an in die Quadratur des Kreises verwickelt: Er soll den Frieden fördern, die Einheit der Katholiken wahren und zugleich den Protestanten kein einziges kirchenrechtliches Zugeständnis machen. Angesichts der politischen und militärischen Verhältnisse, mit denen er zugleich zu rechnen hat, ein schier hoffnungsloses Unterfangen. Steht doch die "Schutzmacht aller Protestanten" - Schweden - unverrückbar nicht nur in den bereits seit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) den Anhängern der Confessio Augustana zugerechneten norddeutschen Ländern des Reiches, sondern auch tief im Nordwesten, bis in die unmittelbare Nachbarschaft der beiden Kongreßstädte. Und sind zudem die katholischen Mächte keineswegs als Verbündete in diesem langen Krieg aufgetreten, sondern in Gestalt Frankreichs auch als Gegner der Katholiken. Ein leibhaftiger Kardinal - Richelieu - Seite an Seite mit dem schwedischen "Antichristen" gegen die Schutzherren des wahren Glaubens, gegen den Kaiser und den König von Spanien! Chigi ist alles andere als blind gegenüber der Tatsache, daß der Religionskrieg längst in eine tiefgreifende Auseinandersetzung von "Staaten" umgeschlagen ist. Daß "Staatsräson", diese Erfindung von Häretikern wie Machiavelli und Agnostikern wie Thomas Hobbes (dessen Hauptwerk zu diesem Thema, der Leviathan, drei Jahre nach dem Friedensschluß erscheinen sollte), zum wesentlichen Akzent der Konfessionen zu werden beginnt. "Hier", berichtet er schon bald nach Rom, "wachsen die Mühen der Diskussionen, die Sitzungen - aber die Sache kommt nicht voran. Der Kopf ist häufig so erhitzt von Verhandlungen und Ofenwärme, daß ich allenfalls zwei Zeilen schreiben kann. - Der Name des Herrn sei gebenedeit."
DIE ZEIT
Die Kunst, Frieden zu stiften und Rom neu zu bauen - ein Portrait desVerhandlungskünstlers und späteren Papstes Fabio Chigi
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1998-10-29T13:00:00+01:00
1998-10-29T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/45/Pompernikel_&_Bernini/komplettansicht
Frankensteins Fernsehen
Seahaven ist eine kleine, überschaubare Stadt, blitzbunt und sauber wie im Reiseprospekt. Die Einwohner kennen keine Sorgen, ihr Frohsinn wirkt programmiert. Im Land des Lächelns herrscht Eintracht zwischen individuellen Glücksvorstellungen, lebhaftem Konsum und Ökologie: ein Lebensraum als Themenpark, als ideales Werbeumfeld. Es scheint, als wäre Seahaven die von Drehbuchautor Andrew Niccol imaginierte Endstufe einer gesellschaftlichen Entwicklung, deren aktueller Stand von den großen Freizeit-und Einkaufszentren in Osaka oder Oberhausen und von der künstlichen Disney-Wohnstadt Celebration in Florida markiert wird. Aber so weit wagt sich der Sozialprophet dann doch nicht vor. Seahaven ist nämlich kein Ort mit wirklichen Menschen, sondern eine gewaltige Fernseh-Location. Die Reihenhäuser sind nur Kulissen, die Bevölkerung besteht aus Schauspielern. Ihr tägliches Tun ist der Stoff einer beliebten TV- Serie, die seit 10 909 Tagen auf einem eigenen Kanal ausgestrahlt wird - live und ohne Unterbrechung. Die Truman Show, der Name dieser Serie, ist auch der Name des Films; und Truman Burbank der Name des Helden. Ganz recht: true man aus Burbank, dem Filmstudio-Stadtteil der Warners und anderer Hollywood-Brüder. Truman (Jim Carrey) ist der einzige Akteur dieser Show, der nicht spielt, sondern ist . Er wurde gleichsam für die Serie gezeugt, geboren und erzogen - und bis heute nicht über die speziellen Bedingungen seiner Existenz aufgeklärt. Der Slogan der Serie lautet: On the air, unaware . Truman ist leibhaftig, was die Kulturkritik sonst immer nur als Theorie-Phantom beschwören kann: ein "Geschöpf der Mediengesellschaft". Sein Produzent (Ed Harris) gilt als der Welt größter Televisionär und trägt einen ebenso sprechenden Namen. Christof, Schöpfer und Lenker des Truman. Angesichts der gegenwärtigen Realität technischer Bilder (und ganz im Gegensatz zu Andrew Niccols jüngstem Science-fiction-Coup Gattaca) nimmt sich der Zukunftsentwurf dieses Films eher bescheiden aus. Seine Medienvision entspricht ungefähr einer Verschmelzung von Lindenstraße , Versteckter Kamera und JenniCAM , jener Internet-Web-Site, auf der sich eine amerikanische Studentin live beim Leben zusehen läßt. Weltweit als wichtiger Schritt der Selbstreflexion im US-Kino gefeiert, fällt Die Truman Show aber auch hinter die populäre Mediendebatte der sechziger Jahre zurück. In Marshall McLuhans spekulativer und Andy Warhols angewandter Theorie zum Öffentlichkeitswandel, in Jim McBrides klassischem "truthmovie" David Holzman's Diary oder in der TV-Serie Twilight Zone kann man durchwegs aufregendere (und heute noch treffendere) Beiträge zur Genese und Verunsicherung des Medienmenschen finden. Doch dieses Potential des Stoffs wird ohnehin recht bald zur Nebensache. Dem Regisseur Peter Weir ist es um Höheres zu tun - und wie so oft in seinem Werk, zuletzt etwa in Fearless , gewinnt sein Hang zu Mythos und Metapher auch hier die Oberhand. Weirs Märchen von Christof und Truman ruft zuerst das Bild von Dr. Frankenstein und dessen Monster wach (die Medien als Schöpfer des künstlichen Menschen) und dann die mächtige Erzählung von Prometheus, der sich auflehnt gegen die Götter, um die Menschen aus der Unmündigkeit zu führen. Truman Burbank wird sich der Enge seines vorbestimmten Lebens langsam bewußt und wagt den Schritt hinaus aus Christofs Kosmos. Durch den gemalten Horizont von Seahaven tritt er im Schlußbild ins Freie - was immer dies "Freie" auch sein möge. Statt wie im Mythos oder in der wirklichen Welt (dort schlagen die Götter nämlich immer zurück) endet die prometheische Anstrengung bei Weir in einer hausbackenen, straffreien Pose der Rebellion, die für die Zuschauer der TV-"Truman Show" und der Truman Show ebensoviel Happy-End und kalkuliertes Pathos bereithält wie zuvor der selige Zustand der Gefangenschaft. Welches Wissen, welches Feuer, welche Aufklärung könnte Truman den Menschen da draußen wohl bringen? Vielleicht die Nachricht von einer Verschwörung der Medienleute gegen das authentische Leben? Wer die großen Erzählungen anzapft, sollte einen guten und gegenwartsrelevanten Grund dafür haben - aber Weir hat sich zur Welt jenseits von Seahaven kein Bild und keine Gedanken gemacht. "Dort draußen ist es genauso wie hier", sagt Christof, und der Film ist ganz seiner Meinung. Die Truman-süchtigen Mengen vor den TV-Schirmen, die Weir manchmal zeigt, sind der einzige Hinweis darauf, wie er das Reale und die Menschen "dort draußen" betrachtet: kein anderes, kein zweites Bild, um zu einer Idee zu gelangen, sondern more of the same. In seiner bewußten - auch stilistischen - Angleichung an die Show-Welt, von der er erzählt, läuft der Film wie sein Held gegen eine dumpf widerhallende Wand. Dann geht die Tür auf. Vielleicht tobt auf der anderen Seite der ruhigen Seahavener See gerade ein tropischer Sturm oder ein zapatistischer Aufstand. Oder zumindest das Kino. Aber wir wissen es nicht. Die erstickende Truman Show ist zu Ende gegangen. Jetzt könnte ein richtiger Film beginnen.
Alexander Horwath
Medienkritik als Medienevent: Peter Weirs Film "Die Truman Show"
[ "Fernsehen", "Oberhausen", "Florida", "Osaka" ]
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1998-11-12T13:00:00+01:00
1998-11-12T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/47/199847.truman_.xml
Genetik für Gourmets
Lieber Herr Siebeck, ich schreibe Ihnen, um Sie zu belehren. Das mögen Sie wahrscheinlich nicht, aber es ist an der Zeit, daß Ihnen mal jemand erklärt, was Gentechnik ist, da Sie sich schon mehrmals in recht sonderbarer Weise über "genetisch veränderte Lebensmittel" aufgeregt haben. Ich sollte vielleicht, damit Sie den Rest des Briefes noch lesen, erklären, daß ich Ihre Beiträge meistens mag und daß ich gerne esse und gerne koche, allerdings sicher nicht so gut wie Sie, da haben Sie mir etwas voraus. Beruflich habe ich mit Genforschung (aber nicht mit Gen-Food) zu tun, da habe ich Ihnen etwas voraus. Ich bin der Ansicht, und das möchte ich Ihnen auch genau erklären, daß die Gentechnik, entgegen Ihren Aussagen, ganz besondere Möglichkeiten im Vergleich zur herkömmlichen Pflanzenzucht hat, gerade wenn es um Geschmacksfragen geht. Allerdings hat sie diese meines Erachtens noch nicht überzeugend eingesetzt. Was sind Gene? Gene enthalten die Bauanleitung für alle Stoffe in einer Pflanze. Eine Pflanze hat etwa 20000 verschiedene Gene. Jede Pflanzenzelle enthält alle diese Gene in doppelter Ausführung, je eines von der Mutter, und eines vom Vater. Die Information in diesen Genen gleicht einem Rezept, das, ausgeführt, einen Pflanzenstoff ergibt (es gibt also 20000 Produkte der Pflanzengene, die meisten kennt man noch gar nicht). In den einzelnen Zellen sind jeweils nur die Stoffe vorhanden, die dort gebraucht werden, also Blattgrün in den Blättern, Gift in den Knollen, Aromastoffe in den Früchten. Entsprechende Gene verschiedener Pflanzen sind ähnlich, aber nicht identisch. Deshalb sind auch die Stoffe nicht identisch und die Pflanzen jeweils anders. Was unterscheidet Kultur- und Wildpflanzen? Wildpflanzen setzen sich meist gut durch, weil ihre Gene Abwehrstoffe produzieren: Beim Wildapfelbaum werden etwa die Rostpilze von irgendeinem Gift in den Blättern abgeschreckt, der Apfelstecher findet die Schale zu hart, die Äpfel zu bitter, kein Mensch ißt sie freiwillig, weil sie holzig, klein und sauer sind. Ein kultivierter Apfelbaum hat Bitterstoffe, Holziges, Säure et cetera meist verloren - dafür hat der Apfel Aroma, Saft und Süße, er schmeckt uns. Aber Apfelstecher, Rost, Vögel und Nachbarbuben mögen ihn ebenfalls. Faulen tut er auch schnell, weil die Schale so dünn ist und leicht Fäulnisbakterien eindringen können. Worin unterscheiden sich die Gene von Wild- und Zuchtapfelbaum? Der Zuchtbaum hat viele Eigenschaften des wilden Vorfahren verloren: viele Gene für Bitter- und Kampfstoffe, die ihn widerstandsfähig gegen Fraßfeinde und Infektionen machen. Gut für den Feinschmecker, schlecht für die Pflanze. Deshalb muß der Baum geschützt und beschnitten werden, damit seine Äste die großen Früchte tragen können. Man spritzt auch besser, wenn nicht viele Äpfel verwurmt sein sollen.
DIE ZEIT
Gentechnik und Geschmack passen gut zusammen. Ein offener Brief anden Feinschmecker Wolfram Siebeck
[ "Genetik", "Christiane Nüsslein-Volhard", "Gentechnik", "Pflanze", "Pilz" ]
Article
1998-11-19T13:00:00+01:00
1998-11-19T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/48/199848.genfood_.xml/komplettansicht
Sprachkünstler auf hohem Seil
„Die Sprache des Dritten Reiches scheint in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen.“ Ein deutscher Bundestagspräsident verfehlt die rechten Worte bei einer Rede, die der Opfer des Massenmordes an den Juden gedenken soll. Nur die Worte? Ein Bundeskanzler gebraucht einen Ausdruck, der den Niedergang der deutschen Parteienkultur vor 1933 heraufbeschwört und während der Nazizeit negativ besetzt blieb: „Volksverhetzung“. Ein bayerischer Innenminister erfindet sogar ein Wort in tiefbraunem Geist: „durchraßt“. Und dann schreibt in der linken tageszeitung ein 37jähriger Autor, eine Disco sei „gaskammervoll“, und Anselm Kiefers Bilder – „Kellerbunkermuff mit KZ-Schornsteinruߓ – hätten in Amerika „bei jüdischen Kennern und Sammlern den furiosesten Kauftrieb“ erregt. Was ist das? Eine zufällige Serie von sprachlichen Entgleisungen im Rahmen des Üblichen – aus dem Unterbewußtsein hochschwappende Reste nationalsozialistischer Bilder und irgendwann, irgendwie inhalierter Denkmuster? Daß Politiker über die Sprachtrümmer der Vergangenheit stolpern, gehört hierzulande schon fast zur Tagesordnung: ein Jenninger aus Unbeholfenheit, die Alt-Nazis aus Überzeugung, die Inhaber höherer Ränge aus Kalkül. Aber wie kommt es, daß in einem Blatt der Linken, das traditionell den Antifaschismus adoptiert hat, solche Begriffe und Gedanken auftauchen? Zynismus? Provokation? Oder ist da ein neuer Antisemitismus am Werk? Anders als die Politiker, die sich mit Leerformeln davonstehlen und unter massivem Druck sofort und umstandslos „bereit“ sind, „diesen Begriff zu streichen“ (Kohl), oder sogar „gerne bereit, auf diesen Begriff zu verzichten“ (Stoiber), machte es sich die taz alles andere als leicht: Seit drei Wochen führt die Redaktion, auf mittlerweile zehn „Debattenseiten“, eine heftige Auseinandersetzung um Sprache, ihren öffentlichen Gebrauch, um Bewußtsein – stellvertretend für jene, deren Selbstkritik so beklagenswert unterentwikkelt ist. Der Vorgang: In der taz vom 17. Oktober erscheinen zwei Artikel des freien Mitarbeiters Thomas Kapielski; die zuständigen Redakteurinnen hatten die Texte ohne Bedenken ins Blatt gehoben. Erst zwei Wochen später, durch Leserbriefe aufmerksam gemacht, reagiert die Gesamtredaktion. Eine Vollversammlung wird einberufen. Der Autor ist nicht anwesend, die Redakteurinnen rechtfertigen sich ungeschickt bis trotzig, für eine Entschuldigung sehen sie keinen Anlaß. Im Gegenteil: Von ihren Kollegen bedrängt, treibt eine der beiden die Ungeheuerlichkeit noch weiter: „Gaskammervoll ist kein Naziwort, die haben das ganz anders genannt. Wir lachen doch auch mal heimlich über Judenwitze, wenn keiner dabei ist“. Mit 16 zu 11 Stimmen wird am Ende beschlossen, auf dem nächsten nationalen Plenum aller taz -Mitarbeiter am 3. Dezember einen Antrag auf Kündigung der beiden Kolleginnen zu stellen.
ZEIT ONLINE
Stoiber, Kohl und die taz: Sprachliche Entgleisungen oder neuer Antisemetismus?
[ "Wiglaf Droste", "Antisemitismus", "DDR", "Plenum", "Rolf Dieter Brinkmann", "Sprachstörung", "Victor Klemperer", "USA", "Auschwitz" ]
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1998-11-26T13:00:00+01:00
1998-11-26T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1998/49/Sprachkuenstler/komplettansicht
Der Staat soll aufhören
Von 1790 an studierte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling im Tübinger Stift Philosophie und Theologie. Er teilte dort mit seinen Studienkollegen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Hölderlin das Zimmer. In dieser Zeit entstand ein kurzer Text, der in einer Abschrift Hegels überliefert ist, für dessen Autor aber Schelling gehalten wird. Das Fragment ging unter dem Titel Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus in die Philosophiegeschichte ein. Offenbar ist die Schrift das Ergebnis erhitzter Debatten der drei Studienfreunde. Unter dem Eindruck der von ihnen enthusiastisch begrüßten Französischen Revolution planten sie die Umwälzung der Philosophie zum Zwecke der Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Es gelte, eine Ethik zu begründen, die "nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate" sein werde. "Die erste Idee" sei "natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt - aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts." Nach zweihundert Jahren technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts, nach den verheerenden Versuchen, die Welt gemäß geschlossener ideologischer Wahnbilder zu ordnen, wirkt das hybride Pathos, mit dem die Feuerköpfe aus der schwäbischen Provinz die grenzenlose Selbstermächtigung des Menschen verkündeten, zugleich befremdlich naiv und erschreckend. Doch wenn wir am Vorabend der Jahrtausendwende Bilanz ziehen, stellen wir erstaunt fest, wie nahe wir der Verwirklichung ihrer Visionen gekommen sind - wenn auch unter anderen Vorzeichen, als sie es vermutet haben. Führende Naturwissenschaftler wie der amerikanische Biologe Edmund O. Wilson (Die Einheit des Wissens, Berlin 1998) erwarten, daß die Forschung im kommenden Jahrhundert den genetischen Code vollständig entschlüsseln und die physiologische Basis menschlicher Geistestätigkeit in den Funktionsabläufen des Gehirns offenlegen wird. So werde es möglich, nicht nur die Gesetzmäßigkeiten der Natur, sondern auch der menschlichen Kulturentwicklung im ganzen zu erklären. Es würde dann nur noch eine einzige Wissenschaft existieren, die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften umfaßt. Grenzenlos scheinen die Möglichkeiten, die sich aus solchem Allwissen ergeben. Schon scheint es realistisch, qua Gentechnologie die biologische Konstitution des Menschen zu verändern, Krankheiten weitestgehend zu besiegen und den Prozeß des Alterns erheblich zu verlangsamen, wenn nicht ganz zu stoppen. Das Programm der Tübinger Stiftler wäre dann eingelöst: "Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen." Es ist, als feierte die von der Ideologiekritik längst dekonstruierte Ganzheitssehnsucht in den Vorhaben der modernen Wissenschaften eine machtvolle Auferstehung. Doch in einem gravierenden Punkt unterscheiden sich die naturwissenschaftlichen Allmachtsvisionen von den Phantasien der idealistischen Philosophen. Zwischen dem Wachstum des Wissens und der moralischen Vervollkommnung des Menschengeschlechts besteht kein unauflöslicher Zusammenhang, wie es der deutsche Idealismus geglaubt hat. Im Zentrum des allmächtigen Ichs sah er ein moralisches Subjekt wirken, das die Welt nach den Maßgaben einer wohltätigen Vernunft ordnen und harmonisieren werde. Die Gehirnforschung aber ist im Begriff, mit diesem Mythos von einer immateriellen ethischen Substanz im menschlichen Geist endgültig aufzuräumen. Alles Denken löst sich in einen Prozeß physiologischer Reaktionen, in ein biochemisches Zusammenspiel von Milliarden von Nervenzellen auf. Die "absolut freien Geister" werden einem Paradoxon ausgeliefert sein: Daß der Mensch alles über sich und seine Welt wissen und gerade deshalb seinen erhabenen Standort im Universum für immer verloren haben wird. Der menschliche Geist schwingt sich zum Beherrscher des Universums auf, doch er hat dafür keinen höheren Auftrag, sondern ist selbst nur das Resultat blinder evolutionärer Prozesse und Zufälle. Zum Gebrauch der immensen Macht des homo sapiens gibt es keine ethische Anleitung, keine Maßstäbe, die nicht selbst Produkte des organisierten Chaos in seinem Gehirn wären. Verwirklicht die Einheit des Wissens die idealistische Vision von der Omnipotenz des Selbstbewußtseins, so behalten doch zugleich auch die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, behält La Mettrie recht, der im Menschen eine Art biologische Maschine ohne metaphysischen Kern sah. Die Frage, ob die exorbitante Ausweitung ihres Wissens der Menschheit zum Wohl oder Wehe gereichen wird, ist offener denn je. Die kulturpessimistische Furcht vor der Explosion unseres Erkenntnisvermögens stützt sich auf die beunruhigende Tatsache, daß der Mensch kraft seines hochentwickelten Gehirns Welten bewegen kann, in seiner emotionalen Ausstattung jedoch auf dem Niveau seiner Frühgeschichte verbleibt. Eine machtbesessene Diktatur, die potentiell unsterbliche Übermenschen mit dem Gefühlsapparat von Sammlern und Jägern produziert und über eine zur Perfektion gebrachte Vernichtungstechnologie verfügt, ist der ultimative Alptraum dieses fortschrittsskeptischen Denkens. Der Sieg des menschlichen Geistes über den Tod könnte in diesem worst case scenario mit der Auslöschung allen Lebens auf der Erde zusammenfallen.
ZEIT ONLINE
Die neuen Utopien sind die alten: In den Szenarien für das neue Jahrtausend werden visonäre Entwürfe von einst wieder aktuell.
[ "Ernst Nolte", "Georg Wilhelm Friedrich Hegel", "Karl Marx", "Ulrich Beck", "Friedrich Hölderlin", "Gehirn", "Paul Virilio", "Unsterblichkeit", "Berlin" ]
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1998-12-30T13:00:00+01:00
1998-12-30T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1999/01/Der_Staat_soll_aufhoeren/komplettansicht
Die Zukunft der Nationalstaaten
Als ein britischer Anthropologe gegen Ende der Kolonialzeit einige Dörfer im südlichen Sudan besuchte, wunderte er sich, daß ein friedliches soziales Leben möglich war, obwohl niemand irgendeine formale Autorität auszuüben schien. Zwar gab es hier und da alte Männer mit Leopardenfellmützen, die bei Streitfällen als rituelle Schlichter auftraten. Das Leopardenfell jedoch gab ihnen keinerlei Macht, neue Regeln des Zusammenlebens aufzustellen und durchzusetzen. Einige Jahrzehnte später können wir dasselbe Bild maßstabsvergrößert betrachten. So ist es heute die ganze Welt, die nach Ansicht der meisten Beobachter zum globalen Dorf zusammenschrumpft, und wieder dürfen wir wie jener Anthropologe bestenfalls von einem Zustand geordneter Anarchie auf der Welt sprechen. Angesichts einer solchen Situation versucht der Bremer Politikwissenschaftler Michael Zürn in seinem Buch, Wege aus der Staatenanarchie zu weisen. Zunächst nimmt er die ältere Metapher vom globalen Dorf auf neue Weise ernst. Die Welt befindet sich demnach im Strudel einer einzigartigen kulturellen und politischen Angleichungsdynamik. Daraus ergibt sich, so der naheliegende Schluß, ein steigender Bedarf an neuen internationalen Institutionen, deren Träger weitaus mehr leisten müssen als die Leopardenfellchefs im Sudan. Zuletzt werden Gründe genannt, warum die Bildung derartiger Institutionen nicht nur notwendig und wünschenswert, sondern auch machbar und wahrscheinlich ist. Der erste Schritt dieses anspruchsvollen Programms besteht im Versuch nachzuweisen, daß sich die globale Gesellschaft zunehmend "denationalisiert". Die These der Denationalisierung und der fortschreitenden Herausbildung kultureller Gemeinsamkeiten jenseits der alten Frontverläufe zwischen Völkern und Erdteilen richtet sich gegen eine pessimistische Linke, die den Kern der Globalisierung allein in wachsender sozialer Ungleichheit sieht, sowie gegen die nicht minder pessimistische Annahme eines bevorstehenden globalen Kulturkampfes. Die meisten internationalen Krisen, deren Zeugen wir heute sind, erscheinen in dieser Perspektive als Vereinigungskrisen und als Ergebnis von Verzögerungseffekten, die uns veranlassen, die neue Welt immer noch mit den Kategorien von gestern zu ordnen. Die Argumente Zürns überzeugen allerdings hauptsächlich dann, wenn er sich auf die OECD-Staaten beschränkt. Trotz des Anspruchs, Aussagen über den gesamten Erdkreis zu machen, ist es meistens nur die westliche Welt, die in ein helles Licht getaucht wird. So rundet sich die Erde doch wieder zur Scheibe mit Japan als ihrem Mond. Wer beschränkt künftig die Willkür der Regierungen und des Marktes? Kaum bestreitbar ist dagegen, daß problemorientierte politische Integrationsformen jenseits des Nationalstaats eine gute Sache sind und daß sie sich gelegentlich auch realisieren lassen. Der Nationalstaat ist nicht mehr die einzige Form, in der sich gesellschaftliche Handlungszusammenhänge und Identifikationsmuster bündeln, ohne daß darum jenes Globalisierungschaos ausbricht, das Carl Schmitt und seine heute überwiegend linken Schüler immer wieder gerne an die Wand gemalt haben. Zwar möchte auch Zürn das Auseinandertreten von Staat, Volk und Territorium durch die Ausdehnung des Geltungsbereichs politischer Regelungsbefugnisse unter Kontrolle bringen. Allerdings soll dazu weder der klassische Nationalstaat wiederbelebt noch eine weltumspannende Dublette desselben geschaffen werden. Der Autor vermeidet sorgfältig jeden Anklang an ältere Weltstaats-Utopien und entziffert statt dessen in den Schiedsgerichten der Welthandelsorganisation oder den Vertragsstaatenkonferenzen der großen UN-Konventionen sichtbare Vorboten einer noch embryonalen Weltverfassung. Dabei werden internationale Institutionen, die nationalstaatliche Hoheitsrechte einschränken, um das Spiel der Marktkräfte zu erleichtern, von solchen Institutionen unterschieden, die gleichermaßen den Nationalstaat wie auch den Weltmarkt in seiner Willkür beschränken und positiv auf die Gestaltung der Gesellschaftswelt einwirken. Beispiele sind die länderübergreifenden Regelwerke zur Bekämpfung des "sauren Regens", zum Schutz der Ozonschicht sowie zur Verhütung der Verschmutzung der Meere durch Öltanker.
ZEIT ONLINE
Der Bremer Politikwissenschaftler Michael Zürn entwirft eine globale Regierungslehre
[ "Nationalismus", "WTO", "Dorf", "Ozonschicht", "Suhrkamp-Verlag", "Japan", "Sudan", "Frankfurt am Main", "Kalifornien" ]
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1998-12-30T13:00:00+01:00
1998-12-30T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1999/01/Die_Zukunft_der_Nationalstaaten/komplettansicht
Sind wir nicht alle etwas @?
Alle reden vom Jahr 2000, aber 1999 ist viel wichtiger. Schließlich bricht das letzte Jahrhundert der Menschheit an. Im Jahre 2099 wird die letzte Einheit der biomolekularen Datenverarbeitung aufgeben, sich das Gehirn scannen lassen und auf die "andere Seite" überwechseln, zu den Maschinen. Jedenfalls nach dem Fahrplan, den Ray Kurzweil in seinem neuen Buch Homo S@piens (Kiepenheuer & Witsch) entwickelt. Laut diesem Plan bekommen die Menschen nach und nach Ersatzorgane, bis sie vollends zu Maschinen geworden sind, wie es der Originaltitel treffend zum Ausdruck bringt: The Age of Spiritual Machines. Ray Kurzweil ist kein Unbekannter. In der Computerei hat er eine Reihe wichtiger Erfindungen gemacht. Als Schüler entwickelte er das Programm, mit dem die Hitliste der amerikanischen Colleges erstellt wird, sowie TextBridge, das erste universelle Schrifterkennungsprogramm. Es folgten eine sprechende Lesemaschine, ein Musik-Synthesizer und das Spracherkennungssystem Voice Xpress. Fast alle Kurzweil-Produkte sind heute in ihrem Bereich Marktführer. Was immer Kurzweil als Erwachsener auch entwickelte - es war dafür konzipiert, menschliche Behinderungen auszugleichen: Blinde, Gehörlose, Legastheniker und haptisch Geschädigte waren mit ihren Problemen der Ausgangspunkt seiner Erfindungen. Selbst ein Gedichtschreiber für Menschen mit Poesie-Problemen findet sich in seinem OEuvre. Vor diesem Hintergrund ist seine Grundannahme zu verstehen, daß die Technik zuerst die "Kontext-Schwäche" von Behinderten ausgleicht und dann, bei wachsenden Chip-Leistungen, den ganzen Menschen ersetzt. Denn bei Lichte betrachtet sind wir eine einzige Ansammlung von Kontext-Schwächen. Auch in Kurzweils Buch geht es um eine Behinderung, eine philosophische. Fast ohne Rückgriff auf die westliche Philosophie plaudert er in dem Buch mit einer gewissen Molly Bloom über die großen Themen: Was ist der Sinn des Lebens, was ist Zeit? Etwas anders als im Ulysses erfährt diese Molly eine Verwandlung. Am Ende ist sie ein Computerprogramm in einer alptraumgeplagten Megamaschine, für die Kurzweil einen Anti-Depressions-Algorithmus entwickeln will. Besonders eingehend beschäftigt sich Kurzweil mit dem Unabomber-Manifest des Theodore Kaczynski, der mit seinen Bombenattentaten gegen die Universalmaschine kämpfen wollte. Die Bewunderung für Kaczynski gipfelt in dem schönen Plot, daß gerade die Forderungen der "Neoludditen" nach lebenslangem Lernen die Machtübernahme der Maschinen erst ermöglichen. Diese schaffen sich sogar eine eigene Religion, deren Stifter und Prophet der Programmierer Phil Zimmermann ist. Im Menschenzeitalter, dessen Ende bei Kurzweil 1999 eingeleitet wird, entwickelte Zimmermann mit PGP ein Verschlüsselungsprogramm gegen das staatliche Ausschnüffeln der digitalen Privatsphäre. Hundert Jahre später wird sein Programm die letzte Waffe sein, mit der Computerprogramme ihre Individualität retten können. Mit seinen Thesen steht Homo S@piens nicht allein da. Ähnlich spekuliert auch der Robotiker Hans Moravec in seinem neuen Buch Robot: Mere Machine to Transcendent Mind (siehe die Umfrage auf der gegenüberliegenden Seite). Erinnert sei auch an den Psychologen Peter Russell, der uns seit einiger Zeit auf dem Weg zum globalen Gehirn wähnt. Bei ihm sind die Netze der Telekommunikation nichts anderes als die Nervenbahnen eines neuen Wesens, das in Kürze zum Leben erwachen wird. Bekannt ist auch der Namensvetter von Kurzweils Molly, der Paläopsychologe Howard Bloom, dessen Geschichte des globalen Gehirns im Internet-Magazin Telepolis nachzulesen ist. Doch ist Ray Kurzweil der einzige, der radikal Moores Gesetz bemüht, das die exponentielle Zunahme der Prozessorleistung "wissenschaftlich" berechnet. Aber warum beginnt das letzte Jahrhundert der Menschheit 1999 und nicht beim großen Datumswechsel im Jahr 2000? Nun ja, an diesem Tag werden die Maschinen spuken und klabautern - und die Vorstellung von ihrer Machtübernahme könnte gar zu lächerlich wirken.
DIE ZEIT
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[ "Kiepenheuer & Witsch", "College", "Gehirn" ]
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1998-12-30T13:00:00+01:00
1998-12-30T13:00:00+01:00
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Eine Theologie der Wahrheit
"Die These lautet, dass jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß." So eröffnet George Steiner seinen langen Essay Von realer Gegenwart (Hanser Verlag, München 1990), der weniger eine logische als eine literarische Beweisführung unternimmt. Mit demselben Satz hätte Robert Spaemann seinen kurzen Traktat Gottesbeweise nach Nietzsche einleiten können, der sich in einer Sammlung zu Ehren Dieter Henrichs findet. Hier aber wird keine literarische, hier wird eine logische Konstruktion versucht. Ein Gottesbeweis nach Nietzsche - wie sollte das gelingen? Er kann nur, sagt Spaemann, als ein argumentum ad hominem vorgebracht werden. Man muss vom Menschen her argumentieren, gerade so, wie Nietzsche in seiner Religionskritik verfahren ist. Man muss zeigen, welche Stellung dem Gedanken an Gott im Verständnis des Menschen zukommt. Wenn wir uns als wahrheitsfähige, unserer selbst bewusste und einander verpflichtete Personen verstehen wollen, so lautet Spaemanns Argument, müssen wir die Annahme der Existenz Gottes machen. Denn sie allein sichert die Existenz einer unabhängig unserem Erkennen bestehenden Wirklichkeit. "Es bedarf der Wirklichkeit Gottes, um uns die Intelligibilität des Seins, also die Erfüllung dessen zu verbürgen, was wir meinen, wenn wir von ,Wahrheit' sprechen." Wollen wir unser Denken und Sprechen ernst nehmen, meint Spaemann, müssen wir uns als Kinder Gottes verstehen. "We never really advance a step beyond ourselves" - auf diesem Satz von David Hume errichtet Spaemann das Gegenmodell zu seiner eigenen Überlegung. Er sieht die heutige Kultur in einem ungeheuren Narzissmus befangen, die auch das geistige Leben auf eine Verfolgung naturaler Antriebe reduziert. Die erkenntnistheoretische Folge sei eine totale Funktionalisierung des Wirklichen. Die wahre Welt reduziert sich hier auf die Welt, die uns etwas angeht, die zur Verfügung unserer Naturbeherrschung steht. Hier bietet allein die Zuflucht zum Absoluten Rettung, "weil der Gottesgedanke den Raum einer wahren Welt eröffnet, der größer ist als unser Bewußtseinsraum und der nicht als dessen Funktion gedacht werden kann". Diese Rettung jedoch wäre profaner zu haben. Wir könnten uns mit anderen gar nicht verständigen ohne einen Bezug auf Objekte und Ereignisse, die nicht in der Verfügung unseres Denkens stehen. Nur weil es Objekte gibt, die ein von unserem Verhalten unabhängiges Verhalten zeigen, können wir uns im Denken und Sprechen für andere verständlich auf etwas beziehen. Zur verstehbaren Rede gehört, dass die Beteiligten wechselseitig den jeweiligen Gegenstand der Rede ausmachen können. Wären diese Gegenstände nichts weiter als Konstruktionen der jeweils Redenden (oder ihrer Sprachen), so gäbe es kein für die anderen erkennbares Worüber ihrer Rede. Spaemann fasst die Gedanken Gottes als den Bezugspunkt allen Denkens auf, wo es ausgereicht hätte, die Stellung von Gedanken zu der von ihnen erfassten Realität zu erläutern. Dass es des syntaktischen und semantischen Arrangements einer natürlichen Sprache bedarf, um zu erkennen, wie etwas ist, untergräbt diesen Bezug auf eine äußere oder innere Wirklichkeit nicht. Denn wie immer die Konventionen einer Sprache ausfallen mögen, innerhalb ihrer Regeln ist ein Satz zutreffend oder unzutreffend, gemessen an der durch den Satz hervorgehobenen Beschaffenheit der Sachen, auf die er gemünzt ist. Wenn sich diese Regeln ändern, wie es häufig geschieht, lassen sich die alten Sätze auf eine wahrheiterhaltende Weise in neue übersetzen. Indem das Denken innerhalb seiner sprachlichen Artikulation über die Beschränkung auf bestimmte Sprecher, bestimmte Formulierungen und bestimmte Sprachen hinausreicht, reicht es in das Geschehen einer nicht von ihm gemachten Wirklichkeit hinein. Wo es ganz bei sich ist, ist es schon über sich hinaus. Mehr Transzendenz braucht es für einen Anspruch auf Wahrheit nicht. Spaemanns Argument ist nur schlüssig, wenn man es von seiner theologischen Ambition befreit. Robert Spaemann: Gottesbeweise nach Nietzsche In: Marcelo Stamm (Hrsg.): Philosophie in synthetischer Absicht Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998; 627 S., 98,- DM
ZEIT ONLINE
Robert Spaemanns Traktat »Gottesbeweise nach Nietzsche«
[ "Philosophie", "Theologie", "David Hume", "George Steiner", "Hanser Verlag", "Sprache", "München", "Stuttgart" ]
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1999-11-04T13:00:00+01:00
1999-11-04T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/1999/45/Eine_Theologie_der_Wahrheit
Bündnis Sahra Wagenknecht: Unschärfe als Programm
Sahra Wagenknecht ist eine Viertelstunde zu früh. Um 12.45 Uhr steigt sie am Montagmittag die Treppen zum großen Saal der Bundespressekonferenz hinauf, wo sie die Gründung ihrer Partei bekannt geben will. Hinter ihr hat sich eine Horde von Kameraleuten und Fotografen aufgebaut. Wagenknecht wendet sich ihnen freundlich zu, sie sollen ihre Bilder kriegen. Dann fällt ihr auf, dass das vielleicht doch nicht so gut kommt: sie so ganz allein auf den Fotos. Schnell winkt sie ihre fünf Getreuen herbei, die sich neben ihr aufbauen. Dass Wagenknecht trotzdem heraussticht, dafür sorgt schon ihr Kostüm: Während alle anderen dunkle Farben tragen, trägt sie Knallrot. Wenige Stunden zuvor hat das neue politische Projekt von Wagenknecht die letzte Hürde genommen: In einem Berliner Hotel wurde die Partei Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit offiziell gegründet. 44 Anhänger waren dabei, ein Teil habe früher der Partei Die Linke angehört, anderen Parteien oder gar keiner. Es seien Gewerkschafter, Ärzte, Sozialarbeiter, Professoren, Abgeordnete und Theologen darunter, berichtet Wagenknecht, als sie schließlich auf dem Podium sitzt. Sie und ihre Begleiter bilden die Führungsspitze der künftigen Partei. Anders als noch im Oktober angekündigt, will Wagenknecht nun doch auch den Vorsitz übernehmen . Offenbar ist man zu dem Eindruck gekommen, dass alles andere merkwürdig aussehen könnte, schließlich trägt die Partei ihren Namen. Allerdings hat Wagenknecht eine Co-Vorsitzende ausgewählt, die frühere Fraktionschefin der Linksfraktion, Amira Mohamed Ali. Bisher wenig Prominenz Mit auf dem Podium sitzt außerdem der Bundestagsabgeordnete Christian Leye, der Generalsekretär werden soll, der Professor für Bauprozessmanagement und Unternehmer Shervin Haghsheno, der das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden übernehmen soll, sowie die beiden Spitzenkandidaten für die anstehende Europawahl, der ehemalige Düsseldorfer SPD-Bürgermeister Thomas Geisel und der frühere Linkenabgeordnete Fabio De Masi. In den nächsten Tagen werde man weitere interessante Parteimitglieder vorstellen, heißt es vielversprechend. Doch Namen will man vorerst keine nennen – Wagenknecht ist schließlich Medienprofi und weiß, wie man im Gespräch bleibt. Da verschießt man nicht sein ganzes Pulver beim ersten Auftritt. Ein Blick auf die künftige Führungsriege zeigt allerdings auch: In Bekanntheit oder politischem Gewicht kann es keiner in der Parteispitze mit Wagenknecht aufnehmen. Für eine gewisse Aufregung hatte in den vergangenen Tagen vor allem die Beteiligung von De Masi gesorgt, hatte er doch lange behauptet, kein politisches Mandat mehr anstreben zu wollen. Unter anderem die Beharrlichkeit von Wagenknecht habe ihn schließlich doch umgestimmt, sagt er nun. De Masi hatte sich in der Vergangenheit als Finanzpolitiker und durch seine hartnäckige Aufklärungsarbeit unter anderem in Zusammenhang mit dem Cum-Ex-Finanzskandal einen Namen gemacht. Einer breiteren Öffentlichkeit dürfte er allerdings auch er weitgehend unbekannt sein. Dass die neue Partei auch weiterhin vor allem auf die Strahlkraft Wagenknechts setzt, macht schon allein der Name deutlich. Dieser entspricht nun doch genau dem, den bereits der im Oktober gegründete Verein trug. Etwas Besseres fiel der Parteispitze offenbar trotz ausgelobten Ideenwettbewerbs nicht ein. Langfristig allerdings solle die Fixierung auf ihre Figur zumindest im Parteinamen überwunden werden, kündigt Wagenknecht an. Schließlich wolle man für die Partei eine dauerhafte Perspektive. Und dass sie nicht die nächsten 30 oder 40 Jahre an deren Spitze stehen werde, das verstehe sich schon aufgrund ihres Alters. Vor allem die Mischung ist anders Ob es so weit kommt, ob die Partei tatsächlich mehr wird als eine politische Eintagsfliege – das allerdings muss sich erst noch zeigen. In manchen Umfragen waren der Partei bundesweit bis zu zwölf Prozent vorausgesagt worden, in anderen sind es allerdings nur drei Prozent . Tatsächlich ist das, was Wagenknecht vorhat, ein bisher ungekanntes politisches Experiment: Will sie doch gleichermaßen Wähler von ganz links wie von ganz rechts anziehen. Dabei dient eigentlich keiner der politischen Programmpunkte wirklich als Alleinstellungsmerkmal, das meiste findet sich auch in den Programmen anderer Parteien: Die Forderung nach einer Entflechtung von Konzernstrukturen oder die nach höheren Steuern für Reiche kennt man von SPD und Grünen, die Forderung nach einer Begrenzung der Zuwanderung kennt man von Union und AfD, die pazifistische Friedenspolitik von ihrer früheren Partei Die Linke. Neu ist lediglich die Mixtur. Dass dieser Spagat, den Wagenknecht vorhat , nicht einfach wird, zeigt sich bislang vor allem in der Unschärfe des Programms. Zur Parteigründung wurde das bereits im Oktober vorgestellte Manifest, das gerade mal vier Seiten umfasst, nur unwesentlich überarbeitet. Und so schnell wird es wohl auch nicht mehr Inhalte geben. Wagenknecht sagt, die neue Partei wolle ihr Programm ganz basisdemokratisch erstellen: Man wolle die Programmatik gemeinsam mit denen entwickeln, die in ihrem Alltag von den Problemen betroffen sind und oft besser als hauptamtliche Politiker wüssten, welche Veränderungen ihnen wirklich helfen.
Katharina Schuler
Nach monatelangen Vorbereitungen hat Sahra Wagenknecht ihre Partei gegründet. Inhaltlich bleibt vieles offen. Interessant ist, was das Bündnis nicht sein will.
[ "Sahra Wagenknecht", "Amira Mohamed Ali", "Bündnis Sahra Wagenknecht", "SPD", "Europawahl" ]
politik
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2024-01-08T19:08:06+01:00
2024-01-08T19:08:06+01:00
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-01/buendnis-sahra-wagenknecht-partei-gruendung?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Hamburg: Die Köhlbrand-Verschwörung
Die Nachricht beginnt hanseatisch flapsig: "Moin Frau M." Dem Kopf des elektronischen Dokuments lässt sich entnehmen, dass der Verfasser am 12. Dezember 2017 um 17.24 Uhr auf die Sendetaste gedrückt hat, es dürfte ein großer Moment für ihn gewesen sein. Eine jahrelange, viele Millionen Euro teure Untersuchung war abgeschlossen, er hatte sie betreut und präsentierte nun das Resultat. Es ging um einen Ersatz für die angeblich marode Köhlbrandbrücke, die wichtigste Straßenverbindung im Hamburger Hafen. Was sollte an ihrer statt entstehen: eine neue Brücke – oder ein Tunnel? Wer die Debatte verfolgt hat, wird nun keine Überraschung erwarten, es ist ja alles längst bekannt: wie die Planer der Hafenbehörde HPA jahrelang gezeichnet und gerechnet haben, wie sie sich schließlich für einen Tunnel als eindeutig beste Lösung entschieden – und wie sich Schimpf und Schande über sie ergoss, weil sie angeblich außerstande waren, den schwierigen Baugrund unter dem Köhlbrand ins Kalkül zu ziehen und darum die Baukosten eines Tunnels um mehrere Milliarden Euro unterschätzten. Die Nachricht an Frau M., die Vorgesetzte des Verfassers in der Hafenbehörde, geht weiter wie folgt: "... wie vereinbart sende ich Ihnen hiermit den Zwischenbericht zur ›Machbarkeitsstudie 1 Brücke/Tunnel‹, aus welchem eine klare Empfehlung zur Vorzugsvariante ›Brücke‹ hervorgeht." Hoppla. Die Legende vom Tunnel als eindeutig beste Lösung aus damaliger Sicht ist eine hoch offizielle Angelegenheit. Der Senat hat sie gegenüber der Bürgerschaft vertreten, sie war die Geschäftsgrundlage für Gespräche mit dem Bund über eine Aufteilung der Baukosten. War all das womöglich gelogen? Eine E-Mail lässt sich leicht fälschen, doch das Dokument, das der ZEIT-Redaktion anonym zugespielt wurde, enthält mehr: Trassenpläne, Kostenaufschlüsslungen, Varianten- und Untervariantenvergleiche. Frage an die zuständige Hamburger Wirtschaftsbehörde: Trifft es zu, dass die Gutachter der HPA ursprünglich eine Brücke für die weitaus beste Lösung hielten? Antwort: Nein. Und, nach Hinweis auf ein HPA-internes Papier, welches das Gegenteil beweist: Dazu könne man nichts sagen. Seit die ZEIT erstmals über das Schicksal der Köhlbrandbrücke und die Geheimniskrämerei der Behörden berichtet hat, haben einige bislang geheime Dokumente ihren Weg in die Redaktion gefunden. Außerdem war ein HPA-Mitarbeiter zu offenen Antworten gegen die Zusage bereit, seine Anonymität zu wahren. Nach seiner Darstellung versucht die Behörde systematisch, die Öffentlichkeit über ihre Ziele und Methoden im Unklaren zu halten. Strategisch wichtige Papiere, sagt der Mitarbeiter, würden nur bis zum Entwurfsstadium ausgearbeitet, damit sie nicht veröffentlicht werden müssten. Das muss nicht stimmen, und die Wirtschaftsbehörde bestreitet es. Tatsache ist allerdings, dass der ZEIT im Verlauf dieser Recherche der Zugang zu zahlreichen Dokumenten mit der Begründung verweigert wurde, sie hätten das Entwurfsstadium nicht überschritten. Längst geht es im Streit um die Köhlbrandquerung nicht mehr nur um den Umgang mit einem geheimen Gutachten vor 15 Jahren (siehe ZEIT:Hamburg Nr. 32/23). Es geht um die Frage, ob hier nur die Hafenbehörde oder einige ihrer Abteilungen außer Kontrolle geraten sind – oder ob der Senat sich in Gestalt der HPA ein Werkzeug geschaffen hat, mit dem er hinter dem Rücken von Öffentlichkeit und Bürgerschaft eigene Ziele verfolgt, ohne darüber Rechenschaft abzulegen. Mehr als fünf Milliarden Euro würde ein Tunnel unter dem Köhlbrand kosten, die Stadt Hamburg hat versucht, einen Großteil dieser Kosten den Steuerzahlern aus ganz Deutschland aufzubürden. Dass eine neue Brücke deutlich billiger und der Erhalt der vorhandenen Köhlbrandbrücke wahrscheinlich noch viel billiger wäre, durfte offenbar niemand erfahren . Studiert man die internen Papiere der Hafenbehörde, bekommt man einen Eindruck davon, wie skrupellos Bürger, die Vertreter der Bundesregierung und die Medien getäuscht wurden. "Alles spricht für einen Tunnel", titelte das Hamburger Abendblatt 2018, inspiriert durch Argumente der HPA. In Wirklichkeit hielten die von der Behörde mit dem Variantenvergleich beauftragten Experten des Düsseldorfer Planungsbüros Spiekermann den Bau eines Tunnels für "wirtschaftlich nicht vertretbar", so steht es in ihrem Bericht aus dem Jahr 2017. Und mehr noch: "Unter rein volkswirtschaftlichen Aspekten wäre der vollständige Verzicht auf eine Querung des Köhlbrandes sinnvoller als die Tunnellösung."
Frank Drieschner
Geheime Dokumente zeigen: Die Hamburger Hafenbehörde wollte unbedingt einen milliardenteuren Tunnel durchsetzen – und hat darum die Öffentlichkeit systematisch getäuscht.
[ "Täuschung", "Hamburger Hafen", "Tunnel", "Hamburg", "Städtebau", "Deutschland", "ZEIT", "Hafenbehörde", "Baukosten" ]
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2023-09-27T12:18:30+02:00
2023-09-27T12:18:30+02:00
https://www.zeit.de/2023/41/koehlbrandbruecke-ersatz-hamburg-hpa-tunnel?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Corona-Infektionen in Hamburg: Warum die Zahlen so unterschiedlich sind
Bis ein Fall auf der Straße Einzug in die Behördenstatistik findet, vergehen mehrere Tage. Vor allem deswegen, weil der Zugang zu PCR-Tests kompliziert ist, und weil auch die Auswertung im Labor immer noch 24 Stunden dauern kann. Sind die Neuerkrankungen dann in Hamburg behördlich erfasst, vergeht noch einmal erstaunlich viel Zeit, bis sie von den Statistiken der Bundesländer in die zentrale Statistik am Robert Koch-Institut (RKI) finden . Laut Hamburger Behörde liegt das vor allem an den versetzten Erfassungszeiträumen. Hamburg erfasse Fälle von neun Uhr bis neun Uhr am Folgetag und melde dann unmittelbar die neuen Werte. Das RKI erfasse von null Uhr bis 24 Uhr und melde erst einen Tag später. Eine Sprecherin erklärt den Vorteil: "In Hamburg wird die Berechnung somit am Morgen angestellt, damit nach Dienstschluss noch eingegebene Werte ebenfalls mit berücksichtigt werden können." Ausgerechnet beim zentralen Wert der Pandemiekontrolle, der Sieben-Tage-Inzidenz, sind die Unterschiede zwischen Hamburg und Berlin deutlich. Das verdeutlicht die Lage am 1. März, mittags um 12.30 Uhr: Auf der Hamburger Corona-Zahlen-Website findet sich der Inzidenzwert von 80,3 – ein hoher Wert, die Tendenz ist seit Tagen steigend. Beim RKI wirkt die Lage weniger dramatisch, dort stehen, am selben Tag um 8.20 Uhr aktualisiert, nur 71 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Wäre tatsächlich der Meldezeitraum das einzige Problem, dann müsste auch hier der Wert 80 stehen. Hamburg hatte am Freitag eine Inzidenz von 79,7 ausgegeben, das RKI veröffentlicht gerundete Zahlen ohne Kommastellen. Tatsächlich scheint es der Wert zu sein, der in Hamburg am 23. Februar berechnet wurde: 71,4. Sowohl RKI als auch Hamburger Behörde legen bei der Berechnung der Inzidenz den Tag zu Grunde, an dem das zuständige Gesundheitsamt Kenntnis über den jeweiligen Fall erlangt hat. Aber immer wieder müssen Coronazahlen im Nachhinein korrigiert werden, weil die erfassten Fälle zwar in Hamburg getestet wurden, aber nicht in Hamburg ihren Hauptwohnsitz haben. Oder andere Bundesländer geben Fälle nach Hamburg zurück, weil die Neuinfektionen in der Hansestadt gemeldet sind. Hinzu kommen Daten zu falsch-positiven Tests: Sie werden offenbar oft zunächst erfasst, dann Tage später wieder aus der Statistik herausgerechnet. Was ist ein Corona-Toter? Ein anderer mathematischer Graben zwischen Hamburg und Berlin wurde Ende vergangenen Jahres geschlossen: Zum 1. Januar hat Hamburg seine Sonderauffassung davon aufgegeben, was als "Corona-Tod" zählt. Vorher wurden nur diejenigen Infizierten in die Corona-Statistik aufgenommen, bei denen das Institut für Rechtsmedizin die Infektion mit Sars-CoV-2 als unmittelbare Todesursache bestätigt hatte. Das verhinderte nicht nur die Vergleichbarkeit der Zahlen – in Berlin beispielsweise wird jeder Tote mit bestätigter Infektion aufgenommen –, sondern warf vor allem bei Menschen mit Vorerkrankungen inhaltliche Fragen auf: Eine klare Trennung dessen, was nun die Vorerkrankung und was die Infektion verschuldet, ist gar nicht sinnvoll möglich. Die Lage auf den Intensivstationen Was auf den Intensivstationen passiert, wird inzwischen von den Krankenhäusern selbst sehr genau erfasst. Angeregt hat diese Zählung die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Im dortigen Register melden alle Krankenhäuser, die Intensivstationen betreiben, freie und belegte Betten und Patientinnen und Patienten an Beatmungsplätzen an – das RKI ist auch daran beteiligt. Jeden Vormittag werden die Tabellen aktualisiert, je nach dem, was in der vergangenen Nacht passierte. In der Hamburger Statistik tauchen diese Werte dann erst nachmittags auf. Die große Unbekannte wird immer größer Bei aller Kritik an den Corona-Statistiken, ihren Verzögerungen und ihrer methodischen Unterschiede ist zu berücksichtigen: Sie geben ohnehin nur ein verzerrtes Abbild des echten Infektionsgeschehens wieder. Sind Hürden für PCR-Tests hoch, dann sind die Zahlen dort deutlich zu niedrig. Auch die Strategie, nach der die Gesundheitsämter Ausbrüche verfolgen, hat einen großen Einfluss: Je spärlicher nach einem Ausbruch getestet wird, desto weniger Neuinfektionen werden entdeckt. Hinzu kommt: Die Ergebnisse von Schnelltests, die nach der Zulassung der Selbsttests eine immer größere Verbreitung bekommen, werden noch überhaupt nicht statistisch erfasst.
Nike Heinen
Die Corona-Statistik der Hamburger Gesundheitsbehörde unterscheidet sich teils erheblich von den Zahlen des Robert Koch-Instituts. Das ist nur begrenzt nachvollziehbar.
[ "Andrea Böhm", "Hamburg", "Z", "Sansibar", "Tansania", "RKI", "Gesundheitsbehörde", "Corona", "SARS-CoV-2", "Virus" ]
hamburg
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2021-03-02T19:48:45+01:00
2021-03-02T19:48:45+01:00
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Karl Lagerfeld: Chapeau!
Hamburg hat einige Wahrzeichen: den Michel. Die Elbphilharmonie. Vielleicht muss man auch das Musicalhaus des Königs der Löwen dazurechnen, auch wenn die hiesigen Kulturbürger nicht unbedingt stolz sind auf ihr sehr gut vermarktbares Musiktheater. Und: Karl Lagerfeld. Natürlich war der weltberühmte Modedesigner schon in den Siebzigerjahren Franzose geworden, Chef erst von Chanel, dann von Fendi, schließlich Gründer seiner eigenen Marke Lagerfeld beziehungsweise KL. Aber er kam aus Hamburg, war Sohn eines reichen Unternehmers und einer Firmenerbin, Zögling eines strengen und extrem bildungsbeflissenen Großbürgertums. Seine letzte Metiers-d’Art -Schau, bei der die für Chanel arbeitenden Handwerksbetriebe zeigen konnten, was sie draufhaben, von Stickerei über Kürschnerei bis Häkelkunst, fand in der Elbphilharmonie statt. 2017 war das, ein spektakulärer Abend. Die anschließende Party fand in einer umgebauten Fischhalle statt. 500 Gäste saßen in einer Hafenkulisse, die man aus den Dreißigerjahren in die Gegenwart gebeamt zu haben schien. Nur, dass eben alles Chanel atmete. Selbst die Pseudokaffeesäcke, die dekorativ umherlagen, waren mit dem legendären "CC" gebrandet. Lagerfeld kehrte vergangenen Mittwoch noch einmal in seine Heimatstadt zurück. Nicht leibhaftig natürlich, 2019 ist er gestorben, aber er lebt weiter in seinem Stil, seinen Kreationen und in der Erinnerung seiner Weggefährten. Sébastien Jondeau ist vielleicht einer der wichtigsten. Der 1975 in Paris geborene Sohn eines Möbelspediteurs war 20 Jahre lang Lagerfelds persönlicher Assistent, seine Muse, sein Ideengeber und, so dachte man, auch sein Freund. Bei der Vorstellung von Jondeaus Erinnerungsbuch ( Ca va, cher Karl? , Insel Verlag) fragte Christiane Arp genau danach: Wie war es, mit Lagerfeld befreundet zu sein? Jondeau korrigierte sie so höflich wie entschieden: Lagerfeld sei ein Vater für ihn gewesen. Man sei mit dem Vater nicht zwangsläufig befreundet. Man respektiere ihn. Arp, die ehemalige Chefredakteurin der deutschen Vogue , moderierte das Treffen im Vier Jahreszeiten mit einer Mischung aus Selbstironie, Nonchalance und enormer Sachkenntnis. Sie selbst hatte von einigen markanten Begegnungen mit Lagerfeld zu berichten. Wie sie für ihn nach einem Fotoshooting eine Bootsfahrt auf der Elbe organisierte, damit er sein Elternhaus vom Wasser aus sehen konnte. Und wie er die ganze Crew des Schippers aufs Deck bat für ein Foto. Alle seien begeistert gewesen von der Liebenswürdigkeit dieses als arrogant und verstiegen geltenden Modegenies. Bücher, Mode, die hanseatische Kultur: sie verschmolzen im Parlando von Jondeau und Arp zu einem Eindruck der Eleganz und Könnerschaft. Das anwesende Publikum, darunter einige Damen in waffelgemusterten Chanel-Jäckchen, amüsierte sich auf angemessen dezente Weise. Jondeau erwies sich als eine Fundgrube von Anekdoten. Darunter jene, wie er Assistent bei einem Fotoshooting am Strand Claudia Schiffer durch die Gegend tragen musste. Das Model konnte auf seinen hochhackigen Schuhen nicht durch den Sand staksen, ohne einzusinken oder umzuknicken. Er habe an diesem Tag ein Brillantarmband, das Lagerfeld ihm geschenkt habe, verloren. Verzweifelt habe man Stunden lang nach dem Schmuckstück gesucht. Zerknirscht habe er, Jondeau, seinem Chef die Sache gebeichtet. Zwei Tage später habe ihm Lagerfeld ein Geschenk überreicht: das gleiche Band, in zweifacher Ausführung, um ihn zu trösten. Lagerfeld, ein großzügiger Förderer, der wusste, wie schwer es sein konnte, ihm gerecht zu werden und der seine Vertrauten und Freunde nach Möglichkeit nicht mit seinem Ruhm belasten wollte. Mit Sébastien Jondeaus Auftritt im Vier Jahreszeiten wurde Lagerfeld nun noch ein wenig mehr Wahrzeichen von Hamburg. Chapeau.
Daniel Haas
Sébastien Jondeau stellt in Hamburg sein Buch über Karl Lagerfeld vor. Wo? Natürlich im Vier Jahreszeiten. Ein Ortstermin inmitten waffelgemusterter Chanel-Jäckchen.
[ "Karl Lagerfeld", "Literatur", "Mode", "Kulturbetrieb", "Biografie", "Elbphilharmonie", "Chanel", "Christian Charisius", "Christiane Arp", "Felix Jud" ]
hamburg
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2022-05-17T17:04:49+02:00
2022-05-17T17:04:49+02:00
https://www.zeit.de/hamburg/2022-05/sebastien-jondeau-karl-lagerfeld-hamburg?&icode=01w0040k0059Inhemanew2104&utm_medium=email&utm_source=elbvertiefung&utm_campaign=zplus&utm_content=&wt_zmc=emanew.int.zabo.elbvertiefung.zplus....x
Corona-Infektion: "Ach komm, du hast nur einen Infekt"
Als ich aufwache, fühle ich mich wie in Watte gepackt, mein Kopf dröhnt, die Glieder schmerzen. Ich drehe mich auf die Seite – und mich überkommt ein Hustenanfall. Trockener Husten. An einem gewöhnlichen Tag dächte ich jetzt: Mist, wo habe ich mir das denn eingefangen, gut, bleibe ich eben zu Hause. Nur sind dies keine gewöhnlichen Tage. Das wird mir jetzt, da sich ein stechender Schmerz auf meine Brust legt, sehr bewusst. Deshalb dürfte klar sein, was mir stattdessen durch den Kopf schießt. Misstrauisch horche ich in meinen Körper hinein. Bin ich kurzatmig? Habe ich Fieber? Ich würde jetzt wirklich gern über meine Nervosität lachen. Aber zum Lachen ist mir gar nicht. Außerdem muss ich eh schon wieder husten. Ich bin Anfang 30 und einigermaßen fit, ohne Vorerkrankungen. Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen. Selbst wenn ich mich mit dem Coronavirus infiziert haben sollte: Jüngere Menschen stecken das gut weg, oder? Im schlimmsten Fall habe ich eben ein paar schlechte Tage. Bloß keine Panik aufkommen lassen, meine Güte. Aber das wohlige Gefühl der Überlegenheit gegenüber "der Panik" will sich diesmal nicht einstellen. Denn das Gedankenkarussell fährt längst seine Runden. Ich denke daran, dass ich gerade bei meinen Eltern zu Besuch war, mein Vater ist fast 70 und herzkrank. Ich denke an die schwangere Freundin, die ich noch vor ein paar Tagen traf, und überhaupt an all die Leute, mit denen ich vielleicht unwissentlich Kontakt hatte. Wer könnte mich, wen könnte ich angesteckt haben, trotz ständigem Händewaschen? Wie lang war noch mal die Inkubationszeit? Einatmen. Ganz ruhig. Ausatmen. Husten. Ich will nicht ganz untätig bleiben und rufe meinen Hausarzt an. Ansage vom Band: "Aus Sicherheitsgründen ist der Praxisbetrieb eingeschränkt, wir bieten nur noch Video- oder Telefontermine an. Hinterlassen Sie dafür eine Nachricht nach dem Piepton oder füllen Sie unser Onlineformular aus. Kommen Sie nicht in die Praxis. Bei Verdacht auf Corona melden Sie sich beim Arztruf." Der Arztruf ist besetzt Alles klar, ich rufe den Arztruf an. Die Leitung ist besetzt. Tee aufsetzen, warten, noch mal probieren: besetzt. Tee trinken, husten, wieder probieren: besetzt. Das geht eine Weile so. Zweifel beschleichen mich. Wahrscheinlich bin ich eine von all jenen, die jetzt unnötigerweise die Leitungen blockieren, denke ich, und komme mir wahnsinnig blöd vor. Die Sache ist nur: Abgesehen von der Sorge um meine Eltern würde mein Freund gleich zur Arbeit fahren, ohne Verdachtsfall im näheren Umfeld gestattet ihm sein Arbeitgeber kein Homeoffice. Wäre es nicht verantwortungslos, ihn hinfahren zu lassen? Ich versuche es beim Hamburger Gesundheitsamt. Anruf, besetzt. Anruf, besetzt. Anruf, Warteschleife, juhu! Oh, doch wieder aus der Leitung gefallen. Und noch mal, und noch mal. Ich taste meine Stirn ab – ist die wärmer als sonst oder bilde ich mir das ein? Das Thermometer sagt: 38,0. Zwischendurch schaue ich immer wieder in den Erklärungen der Weltgesundheitsorganisation nach, inwiefern sich die Symptome von einer simplen Erkältung unterscheiden. Denke mal: "Ach komm, du hast nur einen Infekt. Jetzt nerv nicht die Behörde, die haben schon genug zu tun." Und denke dann an südkoreanische Tests, die nahelegen, dass junge Menschen die häufigsten Überträger von Covid-19 sind, wenngleich sie meist nur milde Symptome zeigen. Und jetzt? Klar ist die Abgrenzung zwischen den Erkrankungen nicht, eine Eigendiagnose traue ich mir nicht zu. Und jetzt? Will ich im Zweifel jemanden nerven oder verantwortungslos handeln? Und dann, nach fünf Stunden, komme ich doch noch durch. Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamts begrüßt mich in einem freundlichen Singsang, fragt nach meinen Symptomen und möchte wissen, ob ich aus einer der Risikoregionen komme.
Julia Meisenbacher
Kurz nach dem Aufwachen wird unsere Autorin von einem trockenen Hustenanfall geschüttelt. Ein Grund zur Sorge? Der Ärzteruf: besetzt, über Stunden hin. Und jetzt?
[ "Infekt", "Ärzteruf", "Hustenanfall", "Corona", "Coronavirus", "Covid - 19", "Quarantäne", "Infektion", "Symptom", "Fieber" ]
hamburg
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2020-03-17T08:41:14+01:00
2020-03-17T08:41:14+01:00
https://www.zeit.de/hamburg/2020-03/corona-infektion-sars-cov-2-arzt-kontakt?wt_zmc=emanew.int.zabo.zelbv.keine..text.allgemein.x&utm_medium=email&utm_source=zelbv&utm_campaign=keine&utm_content=Inhalt__text_allgemein_x&wt_cc3=01w0015k0000Inhemanew1901f%7bmid%7d
Das große Versprechen
Berlin Hufe klackern, Hacken knallen, Säbel rasseln. Wenn Berlin die Jahrhundertwende feiert, dann wird aufmarschiert und strammgestanden. Viel kann man an diesem Neujahrsmorgen noch nicht sehen, denn das neue Jahrhundert hat die Stadt in dichten Nebel gehüllt - ganz so, als hätten sich die Alkoholdämpfe der Nacht noch nicht verzogen. Verschwommen bleiben die Umrisse des Kaisers, seiner Generäle und Admiräle, der Leibregimenter und Leibkompanien samt Fahnen und Standarten, als sie sich gegen elf Uhr in der Ruhmeshalle des Zeughauses zum Feldgottesdienst und zur Neuweihe der Fahnen der Regimenter versammeln. Die Truppen aus den Berliner Garnisonen haben Aufstellung genommen - von der Schlossbrücke bis zum Denkmal Friedrichs des Großen, das inmitten der Nebelschwaden etwas gespenstisch wirkt. Den Weihespruch des evangelischen Feldpropstes und die Salutschüsse nehmen sie alle - außer Friedrich natürlich - auf Knien und mit entblößtem Haupt entgegen. Die Szene bekommt ein paar Stunden später in den Gesprächen auf der Straße einen Namen: "Jahrhundertkniebeuge". Doch zunächst tritt der Kaiser auf: seine erste Ansprache im neuen Jahrhundert. Da steht er mit dem Band des Schwarzen Adlerordens über dem Mantel, den kaputten linken Arm an den Leib gepresst, und donnert den Offizieren seine Vision der "Marine-Ära" entgegen. "Wie mein Großvater für sein Landheer, so werde auch ich für meine Marine unbeirrt in gleicher Weise das Werk der Reorganisation fort- und durchführen", ruft er, "damit auch sie gleichberechtigt an der Seite meiner Streitkräfte zu Lande stehen möge und durch sie das Deutsche Reich auch im Auslande in der Lage sei, den noch nicht erreichten Platz zu erringen." Noch in diesem Jahr soll das zweite Gesetz zur Flottenerweiterung kommen, um England Konkurrenz zu machen. Den anwesenden Admirälen schwillt die Brust. Draußen ruft die Menge "Hurra", auch ohne ein Wort von der Rede verstanden zu haben, und die Polizeimannschaften haben einiges zu tun, damit die Leute vor lauter "Kaiserkieken" nicht außer Kontrolle geraten. Wem das Herz noch nicht heftig genug pocht, der kommt bei der anschließenden Parade auf seine Kosten oder studiert Wilhelms Worte an das Heer, verkündet in der Festnummer des Armeeverordnungsblattes. "Mögen dann nach dem Willen der Vorsehung auch neue Stürme über das Vaterland hinbrausen und seinen Söhnen abermals das Schwert in die Hand drücken." Fast meint man, aus dem gegenüberliegenden Palais Wilhelms Mutter, die sich in Andenken an ihren verstorbenen Mann Kaiserin Friedrich nennt, seufzen zu hören. "Wilhelm hat mal wieder eine Rede losgelassen mit viel Gedröhn", pflegt sie bei den verbalen Ausritten ihres Sohnes auf zukünftige Schlachtfelder zu sagen. Dessen Untertanen sind ihr ebenfalls suspekt, wie aus dem Kreis ihrer Vertrauten immer wieder nach außen dringt. Schließlich finde die Mehrheit der Deutschen den "straffen Despotismus" Wilhelms wunderschön. Aus den Untertanen schlau zu werden ist nicht so einfach. Die Berliner Illustrierte Zeitung hat es mit einer Umfrage versucht und 27 Fragen an 6000 Leser verschickt. Zum größten Dichter des alten Jahrhunderts erklärt die große Mehrheit Goethe, zum größten Erfinder Thomas Edison, zum wichtigsten Ereignis die Einigung des Deutschen Reiches. Das wichtigste Buch ist ihnen das Konversationslexikon (die Bibel kommt auf Platz zwei), der größte Denker nicht etwa Schopenhauer oder Hegel, sondern Generalfeldmarschall von Moltke. Die Jahre nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich 1871 halten die meisten für die schönste Zeit. Für die Zukunft, so ist ebenfalls in der Illustrierten zu lesen, wünschen sich der Berliner und die Berlinerin Elektrizität nebst "Frieden für die Welt".
DIE ZEIT
Silvester 1899 - mit Kaisertreuen, Rompilgern, walisischen Bergarbeitern und Pariser Salonlöwen unterwegs in das neue Jahrhundert
[ "Alfred Dreyfus", "Frankreich", "England", "Großbritannien", "Papst", "Russland", "USA", "Weltausstellung", "Berlin", "Paris" ]
Article
1999-12-29T13:00:00+01:00
1999-12-29T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/2000/01/Das_grosse_Versprechen/komplettansicht
Endstation Amtsgericht
die zeit: Frau Ministerin, seit fast hundert Jahren wird darüber geklagt, die Deutschen prozessierten zu viel, das Gerichtswesen sei zu kompliziert und die Justiz zu langsam. Alle ihre Vorgänger haben versucht, dies zu ändern - und sind gescheitert. Warum sollte Ihnen jetzt die Reform der Justiz gelingen? Herta Däubler-Gmelin: Weil wir nicht mehr an den Symptomen herumdoktern, sondern sorgfältig die Strukturen erneuern: Am 1. Januar tritt die vorgerichtliche Streitschlichtung in Kraft, und wir beginnen mit der Reform des Zivilverfahrens. Mein Gesetzentwurf wurde gerade versandt, sein Ziel ist mehr Bürgernähe, mehr Effizienz, mehr Transparenz. zeit: Das haben Ihre Vorgänger auch jedes Mal angekündigt. Däubler-Gmelin: Nein, denen ging es dabei mehr ums Sparen. Ständig wurden die Streitwertgrenzen erhöht mit der Folge, dass heute gegen Urteile über einen Streitwert von 1500 Mark keine Berufung mehr möglich ist. So wurden im Laufe der Zeit immer mehr Urteile einer weiteren Überprüfung entzogen. Außerdem ist vieles komplizierter geworden, auch die Richter werden ungleich belastet, vor allem die Amtsrichter müssen heute die größte Bürde tragen. Wir ändern das jetzt, betonen die Streitschlichtung und sorgen dafür, dass die Bürger schneller zu ihrem Recht kommen. Zudem wird nicht mehr die Höhe des Streitwerts über die Einlegung von Rechtsmitteln bestimmen, sondern die Frage, ob in der ersten Instanz Fehler gemacht wurden. Vor allem aber stärken wir die Eingangsgerichte und bauen die zweite Instanz um. Kurz: Amts- und Landgerichte werden Eingangsgerichte, das Oberlandesgericht wird Berufungsinstanz, der Bundesgerichtshof entscheidet nur noch Grundsatzfragen und wahrt die Rechtseinheit. Der künftige Instanzenzug wird also drei- statt wie bisher vierstufig sein. zeit: Wo liegt da der Gewinn? Däubler-Gmelin: Überall. Fangen wir bei der Stärkung des Eingangsgerichts an.
DIE ZEIT
In Deutschland wird zu viel und zu lange prozessiert. Jetzt soll die größte Justizreform seit mehr als 100 Jahren Abhilfe schaffen. Doch Richter und Anwälte haben Widerstand angekündigt. Ein ZEIT-Gespräch mit Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin
[ "Herta Däubler-Gmelin", "Bundesgerichtshof", "Justiz", "Karin Schubert", "Landgericht", "Reform", "Großbritannien", "Sachsen-Anhalt" ]
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1999-12-29T13:00:00+01:00
1999-12-29T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/2000/01/Endstation_Amtsgericht/komplettansicht
Historische Reform
Rechtzeitig zum neuen Jahr hat Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin den Verbänden, ihren Kollegen im Kabinett und in den 16 Bundesländern einen dicken Brief zugesandt: den "Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses". Wenn das, was auf 70 eng bedruckten Seiten steht, in die Tat umgesetzt wird, dann ist das die wohl größte Gerichtsreform seit 120 Jahren, seit den Reichsjustizgesetzen von 1879. Seither wurden die Verfahrensrechte vielfach geändert. Doch die Prozesse wurden dadurch statt kürzer immer länger und komplizierter. Das soll jetzt anders werden. Der Kern der Reform: Die Amts- und Landgerichte sind künftig nicht nur die erste, sondern auch die wichtigste Instanz. Hier sollen die Richter den Rechtsstreit möglichst ein für alle Mal erledigen. Hier werden die Zeugen gehört und die Beweise aufgenommen, hier werden deshalb die meisten Richter gebraucht - und selbstverständlich die fähigsten. Über Berufungen entscheidet künftig ausschließlich das Oberlandesgericht, hier kann der Prozess dann - anders als bisher - nicht noch einmal neu aufgerollt werden. Der Bundesgerichtshof wird nur noch für grundsätzliche Fragen und die Rechtseinheit zuständig sein. Richter und Anwälte werden umdenken müssen. Sie haben denn auch bereits Widerstand angekündigt. Ab Mitte Januar ist der Gesetzentwurf für alle im Internet unter: www.bmj.bund.de zu lesen.
DIE ZEIT
Lesen Sie jetzt „Historische Reform“.
[ "Brief", "Bundesgerichtshof", "Herta Däubler-Gmelin", "Internet", "Kabinett", "Landgericht", "Prozess", "Reform", "Richter", "Widerstand" ]
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1999-12-29T13:00:00+01:00
1999-12-29T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/2000/01/Historische_Reform
Morgen wird alles anders!
Wir nähern uns dem Jahreswechsel und bitten Sie, sich anzuschnallen. Steht der Millennium-Champagner im Eis? Liegt die Millennium-Zigarre mit dem goldenen Deckblatt bereit? Sind Millennium-Kaviar und Millennium-Lachs gerichtet? Haben Sie auch die Tabletten gegen den Millennium-Kater nicht vergessen? Ist die Millennium-Kotztüte zur Stelle, für den Fall, dass Ihnen vom ganzen Millennium-Gequatsche schlecht wird? Natürlich wird Ihnen schlecht. Niemand übersteht dieses Geplärre unbeschadet, dem in den letzten Wochen und Monaten jeder Mensch ausgesetzt war. Das einmalige Ereignis muss gebührend gefeiert werden! Auf dem Rodeo Drive, in der Wüste, am Nordpol, an Bord der Europa, im Petersdom, Unter den Linden. Und immer sind sie dabei, der Millennium-Champagner und der Millennium-Kaviar, wenn die Millennium-Uhr auf die Sekunde genau den einmaligen ZEITpunkt anzeigt. Man gönnt sich ja sonst auch was, doch wegen des einmaligen Ereignisses greifen wir diesmal in die Vollen. Kostet das Millennium-Menü beim Starkoch A. 999 Mark pro Person, so hat er Pech gehabt. Sein Kollege B. verlangt 1899 Mark, einschließlich Millennium-Champagner und Millennium-Kaviar, da gehen wir hin. Wenn wir uns nicht doch noch für die Millennium-Gala im Grandhotel entscheiden - wir sind ja FLEXIBEL. Das Fernsehen wird dabei sein und viel Prominenz, angeführt vom stadtbekannten Haareschneider, die das einmalige Ereignis gemeinsam feiern wollen. Und wir werden sagen können: Wir sind dabei gewesen! Wenn unsere Enkel und Urenkel uns später fragen: Wo wart ihr in der Nacht des Millenniums?, dann soll es uns nicht so ergehen wie damals beim Fall der Mauer, als wir ächzend vorm Fernseher saßen, in banger Vorahnung von dem, was dann auch kam. Diesmal macht uns nur die Vorstellung Sorge, der Millennium-Kaviar könne ausgehen oder der Millennium-Champagner versiegen. Deshalb lautet unser erster guter Vorsatz fürs neue Jahrtausend: immer genügend Champagner und Kaviar im Haus haben, das nächste Millennium darf uns nicht unvorbereitet treffen.
DIE ZEIT
Wo wart ihr, werden uns unsere Enkel einmal fragen - und unsere Antwort wird über cool oder spießig entscheiden -, wo wart ihr in der Nacht des Millenniums? Und trotzdem, meint der Kolumnist, noch wichtiger werdenunsere Vorsätze fürs neue Jahrtausend sein. Zum Beispiel: Beim Buchen eines Hotels immer die richtigen Fragen zu stellen
[ "Müll", "Petersdom", "Rodeo", "Trüffel", "Europa", "Nordpol" ]
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1999-12-29T13:00:00+01:00
1999-12-29T13:00:00+01:00
https://www.zeit.de/2000/01/Morgen_wird_alles_anders_
Neues von links
Während die Regierungslinke ihre großartigen Projekte vorantreibt (etwa die Zivilisierung der Türkei mittels Waffenverkaufs), tut sich Neues auf Seiten der Nichtregierungslinken. In Christoph Spehrs Die Aliens sind unter uns! findet es seinen derzeit interessantesten Ausdruck. Das Gewebe seines politischen Essays besteht aus Parabeln über Herrschaft, Widerstand und Befreiung. Das halb literiarsche Verfahren hat seinen Charme. Spehr kann so mit Gedanken experimentieren, ohne sie begründen zu müssen. Seine "Aliens" sind eine dominante Zivilisation andere Zivilisationen sind die angepassten Normalos (die "Zivilisten"), die Faschisten und natürlich die Guten, die Widerstand leisten (der "Maquis"). Darin soll keine Verschwörungstheorie liegen, darauf insistiert Spehr, schließlich trage jeder Mensch ein paar "alienistische" Gene mit sich herum gleichwohl, die Alien-Metapher kann nun einmal als Beschreibung des personifizierten Bösen gelesen werden. Die zweite Schwäche liegt darin, dass Spehr nicht in der Lage ist, den von ihm beschworenen Ausbeutungsprozess darzulegen. Allenthalben schreibt er dunkel von "Aneignung fremder Arbeit und Natur", eine Chiffre für Klassenherrschaft, aber gerade die Dechiffrierung wäre interessant gewesen: Wer herrscht über wen und warum?
DIE ZEIT
Lesen Sie jetzt „Neues von links“.
[ "Norm", "Postmoderne", "Essay", "Türkei", "Widerstand", "München" ]
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1999-12-29T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2000/01/Neues_von_links/komplettansicht
ad acta (1) Die Berliner Republik
In den neunziger Jahren lautete der verzichtbarste Begriff zweifellos Berliner Republik. Als Worthülse geisterte er durch allerlei Betrachtungen, wie, wann und wohin sich das politische Klima wohl wandeln würde, wenn die Damen und Herren Volksvertreter sich erst intensiver mit dem berühmten Spreegeist namens "Dit kenn wa nich, det ham wa nich, det kriegn wa ooch nich rein" konfrontiert sähen. Als Schöpfer der Vokabel wurde Johannes Gross gehandelt (1995), wahlweise auch Edzard Reuter (1994), aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss man hinzufügen, dass in dieser Zeitung schon 1993 die Rede von der Berliner Republik war, das erste Mal noch ohne, das zweite Mal in Gänsefüßchen. Bis zum Beweis des Gegenteils darf man also sagen: Klaus Hartung ist schuld. Woran? Daran, dass alle glauben, mit dem Umzug würde sich irgendwas ändern. Zum Beispiel das Niveau der Auseinandersetzung. Oder die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Oder auch nur der Stil. Dabei ist Berlin, wenn überhaupt, bloß in einem Punkt wirklich Hauptstadt - Hauptstadt breitester Bräsigkeit, manifestiert durch tiefsten Provinzialismus, wie er tiefer nicht mal in St. Augustin bei Bonn gelebt wird. Dass sich daran durch die Neuzugänge aus dem Westen viel ändern wird, steht nicht zu befürchten. Sie werden sich flugs bei ihrem jeweiligen Lieblingsitaliener zusammenrotten, und ob sie das nun in Charlottenburg, Treptow oder Mitte tun, ist so was von vernachlässigenswert, dass die Frage, wo Eberhard Diepgen seine Schlipse kauft, fast schon eine intellektuelle Herausforderung darstellt. Bonn heißt in Zukunft eben Berlin, wie Raider übrigens seit längerem Twix heißt, aber es ist immer noch dieselbe Schokolade.
DIE ZEIT
Lesen Sie jetzt „ad acta (1) Die Berliner Republik“.
[ "Eberhard Diepgen", "Edzard Reuter", "Hauptstadt", "Johannes Gross", "Klima", "Republik", "Berlin", "Bonn", "Charlottenburg", "Oder" ]
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1999-12-29T13:00:00+01:00
1999-12-29T13:00:00+01:00
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