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Eintopf für Groß & Klein
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Er heißt Harald, und zwar: der höfliche Harald, weil das eleganter klingt aber besonders höflich ist er eigentlich gar nicht. An einem Tag, an dem ein böser Wind weht, schickt ihn seine Mutter von zu Hause fort: Es sei jetzt Zeit, ein Held zu werden, sagt sie, und er soll nicht wiederkommen, bis er einer geworden ist. Und er soll dann auch eine Braut mitbringen. Harald ist aber erst neuneinhalb Jahre alt und er hat nur ein paar alte Kekse und fünf Mark dabei. Das ist der Anfang, zweite Seite, um genau zu sein, des neuen Buches von Sybille Lewitscharoff, die vor zwei Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis für ein Buch über einen seltsamen Menschen namens Pong bekam. Nun schreibt sie also auch für Kinder, aber für solche zwischen neuneinhalb und neunundneunzig, wie der Klappentext behauptet. Das ist, wie man zugeben muss, sehr schwierig. Für Kinder sollen gute Geschichten drin sein in einem Buch und gute Bilder. Für Erwachsene braucht es dagegen immer etwas, worüber sie nachdenken und sich amüsieren können, damit sie sich nicht langweilen. Bei diesem Buch kommen Erwachsene zu ihrem anspruchsvollen und kurzweiligen Vergnügen nur dann, wenn sie mindestens Alice im Wunderland gelesen haben und sich auch sonst literarisch ein bisschen auskennen. Dann können sie Zitate zuordnen, die Strickmuster der Geschichten verfolgen und den satirischen Zuschnitt mancher Figuren richtig würdigen. Wenn beispielsweise die drei Mäuse - Sidonie-Isabell, Sidonie-Karamell und Sidonie-Grisaline, Mäuse treten traditionsgemäß ja oft in Dreiergruppen auf - ihren Leitsatz von Dreimaligkeit verkünden, der da lautet: "... eine Maus ist eine Maus ist eine Maus, und zwar zu Wasser, zu Lande und in der Luft." Gertrude Stein und Kriegspropaganda in einen Satz gefasst! Erwachsene finden so etwas manchmal witzig. Und es gibt auch Bilder. Die Autorin hat sie selbst gemalt, dreifarbig, in Schwarz-Grau-Rot. Manche sind lustig, manche ein bisschen grauslich und manche einfach nur Muster. Ornamental, wie die Erwachsenen dazu sagen würden.
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DIE ZEIT
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Sybille Lewitscharoff hat ein Kinderbuch geschrieben
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2000-01-27T13:00:00+01:00
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2000-01-27T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2000/05/Eintopf_fuer_Gross_&_Klein/komplettansicht
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Höft & Wessel: Neustart nach Systemstörung
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Jeder, der Bahn fährt, kennt Höft & Wessel - oder vielmehr eines der Produkte: den mobilen kleinen Ticketautomaten, aus dem der Schaffner den Last-Minute-Fahrschein zieht. Auch wer am Flughafen am Selbstbedienungsterminal der Lufthansa eincheckt, nutzt eine Entwicklung des hannoverschen Unternehmens. Ticketing, Mobile Datenerfassung, elektronischer Zahlungsverkehr sind lukrative Geschäftsfelder. Sie verhalfen Michael Höft und Rolf Wessel, die immerhin auf eine 20jährige Unternehmensgeschichte verweisen können, im Juli 1998 zu einem guten Start am Neuen Markt. Doch die Anleger unterschätzten die Risiken des Geschäfts. Das Unternehmen arbeitet stark projektorientiert, das heißt, man wickelt vor allem individuelle Kundenaufträge ab. Das bindet Kapazitäten und erschwert die Kalkulation, denn die Projekte erfordern hohe Vorleistungen und ziehen sich häufig über Jahre hin. Zudem scheinen die beiden Gründer - der eine Physiker, der andere Architekt - mit der kaufmännischen Führung des rasch wachsenden Unternehmens zunehmend überfordert. Und für die Pflege von Investor Relations haben sie offenbar erst recht kein Händchen: Als Höft & Wessel im Frühjahr 1999 enttäuschende Quartalsdaten vorlegt und die Aktie kräftig fällt, rügt das Unternehmen per Pressemitteilung lediglich die "übertriebene Reaktion von Marktteilnehmern". Als ein halbes Jahr später der erwartete Gewinn ausbleibt, rasselt der Kurs im Sturzflug nach unten. An einem Tag verliert die Aktie mehr als ein Drittel ihres Werts. Ungeschickt versucht Rolf Wessel noch, das Desaster als "reinigendes Gewitter" herunterzuspielen. Tatsächlich hat wohl eher der Blitz eingeschlagen. Der Jahresabschluss 1999 weist statt des prophezeiten Gewinns von deutlich mehr als fünf Millionen Mark einen Fehlbetrag von acht Millionen aus. Der Umsatz, der um rund 50 Prozent hätte steigen sollen, stagniert, wenn man den Kauf der britischen Metric-Group herausrechnet. Was war passiert? Höft & Wessel hatte auf die rasche Verbreitung der Geldkarte gesetzt und mit hohem Aufwand neue Terminals für bargeldlose Zahlungen entwickelt. Die Plastikkarte mit dem aufladbaren Chip soll die lästige Kleingeldsuche, etwa am Automaten, überflüssig machen. Doch das neue System findet nur mäßig Akzeptanz. "Die Kreditwirtschaft hat sich völlig verschätzt", sagt Horst Rüter, Consultant Payment-Systems beim Euro-Handelsinstitut (EHI) in Köln. "Man hat sich am Erfolg anderer Karten orientiert, doch tatsächlich lädt bisher nur ein Prozent der Verbraucher den Chip überhaupt auf." Folge: Bei Höft und Wessel gehen reihenweise Stornos ein, fest eingeplante Aufträge bleiben aus. Die Gründer haben aus dem Misserfolg mittlerweile die Konsequenz gezogen: Heute leitet Werner Andexser, zuvor Geschäftsführer bei der Robert Bosch GmbH, das Unternehmen Höft und Wessel wechselten in den Aufsichtsrat. Zugleich will sich das Unternehmen mehr auf das Produkt- statt auf das risikoreiche Projektgeschäft konzentrieren. Zur neuen Strategie passt, dass Höft & Wessel pünktlich zur Cebit den Hyper Viper vorstellte, einen Minicomputer mit drahtlosem Internet-Anschluss. Inzwischen ging die erste Großbestellung mit einem Volumen von 20 Millionen Mark ein.
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Höft & Wessel: Neustart nach Systemstörung“.
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2000-05-04T14:00:00+02:00
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2000-05-04T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/19/Hoeft_&_Wessel_Neustart_nach_Systemstoerung/komplettansicht
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Weltausstellung hui & pfui
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Auch wer Massenauftriebe wie Weltausstellungen meiden möchte, muss sich allmählich dafür interessieren. Werden wir Steuerzahler für die Expo 2000 in Hannover mit Millionen oder gar Milliarden blechen müssen? Hilfe kommt zu rechter Zeit: Weltausstellungen - Prunk, Pleiten, Protzereien, 1851-93 heißt ein Hörbild, das alles an Schrecken und Aufgeblasenheit übertrifft, was wir über die Weltperle in niedersächsischer Sumpflandschaft bisher lesen können. Zu wenige Besucher? In Chicago, 1893, wären 250 Tausend Besucher täglich nötig gewesen, aber es trödeln gerade mal 100 Tausend ein. Irgendwie scheinen die Geldgeber doch auf ihre Kosten gekommen zu sein. Hätten sie sich sonst in Hannover wieder versammelt (außer Amerika)? Man denkt an Theodor Fontane, der im Mai 1856 in London Quartier nimmt. Der Einzelgänger aus Neu-Ruppin ist plötzlich hingerissen: "Auch der Masse und dem bloßen Raum" (der Kristallpalast ist 560 Meter lang, elfmal so groß wie das Schiff des Kölner Doms) "haftet ein gewisser Zauber an." Doch dann hält Fontane mit Kritik nicht zurück: "Gewerbe ist gut. Kunstausstellungen sind auch gut. Zoologische und botanische Gärten, Museen und Galerien, Kunst- und Rüstkammern sind gut, alles ist lobenswert. Aber ein furchtbares Durcheinander aller dieser Dinge ist eine geistige Parforce-Tour, eine begriffliche Verwirrung ... Dieses Chaos verwirrt." Dabei macht sich Fontane, ein Grüner vor der Zeit, schon Gedanken, was denn mit den teuren Bauten nach der Expo vor anderthalb Jahrhunderten geschehen soll. Ein paar Jahre zuvor war ein anderer Berliner Theaterkritiker nach London geschippert
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DIE ZEIT
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2000-06-21T14:00:00+02:00
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2000-06-21T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/26/Weltausstellung_hui_&_pfui/komplettansicht
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Büßen & Ballern
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Wer sündigt, soll Buße tun, sagt eine alte Regel. Für Hollywood-Regisseure gilt sie nur mit Einschränkungen. Zwischen Filmemachern und Zuschauern ließe sich wohl auch schwer Einigkeit darüber herstellen, welches Werk denn als Sünde zu gelten hat. Jedenfalls sind kaum Fälle bekannt, wonach ein Regisseur missratene eigene Produktionen bereut und anschließend gelobt hätte, seinen Ruf durch ein gutes Werk wiederherzustellen. Joel Schumachers Makellos allerdings wirkt tatsächlich wie ein Stück Abbitte für zurückliegende Fehler. Schumacher hat nicht nur eine beachtliche Reihe lärmender Nichtigkeiten hinter sich (darunter die beiden letzten Batman-Filme), sondern hat im Verlauf der neunziger Jahre auch gleich dreimal ein Hoch auf die Selbstjustiz inszeniert (zum Beispiel mit Die Jury oder 8 mm). Nun aber will er Toleranz und Nächstenliebe predigen und wirft ein mitfühlendes Auge auf zwei Loser. Der vereinsamte Sicherheitsbeamte Walt (Robert De Niro) wird von einem Schlaganfall getroffen und muss therapiehalber nebenan bei der Dragqueen Rusty (Philip Seymour Hoffman) Gesangsstunden nehmen. Zwei, die sich hassen, sollen sich schätzen lernen und einander eine Stütze sein. Wie schön. Wie einfach. Wie durchsichtig. Schumacher ahnt es selbst. Aber statt seine Story noch etwas zu vertiefen, verbreitert er sie bloß und baut noch einen Drogenkrimi an. Prügeln, Jagen, Schießen - dem Action-Profi fällt offenbar kein anderes Sofortmittel gegen drohende Langeweile ein. Zwei halbe Geschichten können einander keine Stütze sein. Wer büßen will in Hollywood, dem muss man wohl als Erstes das alte Spielzeug wegnehmen.
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DIE ZEIT
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2000-07-06T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/28/Buessen_&_Ballern
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Und natürlich >Easy Rider<. Mein Gott, drei Jahrzehnte ist das her. Damals war ich wirklich ganz oben - mit 33! Jeder macht mal einen Fehler
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Ich bin unzufrieden. Ich habe viel zu wenig erreicht. Es gab vielleicht eine Hand voll großer Momente in meinem Leben. Ich meine wirklich große Momente, Momente der Klarheit, Momente, in denen du dir sagst: Ja, das ist ein Stück von dir. Blue Velvet war so ein Moment. Auch True Stories. Und natürlich Easy Rider. Mein Gott, drei Jahrzehnte ist das her. Damals war ich wirklich ganz oben - mit 33! Easy Rider wurde ein Kultfilm, Symbol für eine ganze Generation. Jeder macht mal einen Fehler. Ich habe mich mit der Rolle arrangiert: Man hat mir gesagt: Du bist ein Rebell, ein Mythos. Okay, bin ich eben ein Rebell. In gewisser Weise war ich das ja auch, nur anders, als die meisten denken. Natürlich verstand ich mich damals als politischer Künstler, oder sagen wir: als einer, der sozialen Protest äußern wollte. Neunundsechzig, das war die Zeit der Berkley-Bewegung, des free-speech-movement, die Zeit von Martin Luther King. Ich war da mitten drin. Oft bin ich gefragt worden: Warum hast du nur weiße Helden in deinem Film und keine schwarzen? Klar hätte ich auch einen Schwarzen mitspielen lassen können, aber mir ging es nicht um die Schwarz-Weiß-Geschichte. Ich wollte vom Rassismus insgesamt erzählen, von Intoleranz. Und unter der litten alle Nonkonformisten, jedenfalls damals, Ende der Sechziger. Drei Amerikaner, die ihre Freiheit auslebten, die anders aussahen, die nicht Auto, sondern Motorrad fuhren, die Drogen nahmen, statt zu arbeiten - und die deswegen sterben mussten. Das war Easy Rider, und das war Amerika , diese kriminelle Gesellschaft, die Mörder wie Billy the Kid zu einem nationalen Helden erkoren hatte. Und trotzdem: Das wirklich Rebellische an mir war eigentlich nur, wie ich gearbeitet habe, wie ich meinen Film gemacht habe, wie ich gebrüllt und Türen eingetreten habe, alles gegen die großen Studios mit ihrem großen Geld und ihren schlechten Ideen. Ja, ich habe einen Traum: Filme machen. Ich hatte viel zu wenig Gelegenheit dazu. Mein zweiter Film hat meine Karriere als Regisseur beendet. The Last Movie. In Cannes haben sie ihn ausgezeichnet. Aber in Amerika kamen nur drei Kopien in die Kinos, und nach ein paar Tagen haben sie ihn rausgenommen. Schluss, aus und vorbei, auch für mich. Zwölf Jahre kam nichts mehr. Ich war einfach von der Bildfläche verschwunden, versunken in einem Meer von Drogen. Zwölf Jahre, in denen ich mich vollstopfte mit dem ganzen Zeug, während die anderen Regisseure, die richtig groß werden sollten, ihren Einstieg fanden: Francis Ford Coppola , Martin Scorsese , Steven Spielberg .
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Und natürlich >Easy Rider<. Mein Gott, drei Jahrzehnte ist das her. Damals war ich wirklich ganz oben - mit 33! Jeder macht mal einen Fehler“.
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"Dennis Hopper",
"Francis Ford Coppola",
"Film",
"Martin Luther",
"Martin Scorsese",
"Steven Spielberg",
"USA",
"Wim Wenders",
"Droge",
"Easy"
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2000-08-03T14:00:00+02:00
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2000-08-03T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/32/_Und_natuerlich_>Easy_Rider<_Mein_Gott_drei/komplettansicht
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Jazz & !!??
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Gerne wäre man der Erste gewesen, der diese Musik in den Himmel gelobt, der erklärt hätte, dass dem Jazz eine nordische Sternstunde - grob gezählt ein und eine halbe Stunde - hinzugefügt wurde. Als hellhöriger Pionier könnte man gelten, der jenseits aller Diskurse und Trends wieder zur reinen Musik fand. Leider zu spät, und doch gibt es - nicht sehr überzeugende - Entschuldigungen. Ein Pianist wie Bobo Stenson, der seit über dreißig Jahren im Hintergrund spielt, zeigt sich nicht so offensichtlich. Einen schwedischen Ehrgeizlosen, einen sideman, der viele begleitete - darunter Stan Getz oder Sonny Rollins -, einen, der offenbar noch immer an die Macht der Tiefe und musikalischen Treue glaubt, den übersieht man leicht. Alle paar Jahre veröffentlicht das Bobo Stenson Trio ein Album, verbeugt sich kurz und verschwindet wieder hinterm Vorhang. Dem verehrten Publikum mag der Ansager etwas von Anklängen ans Bill Evans - und Keith Jarrett Trio erklären, von transparenter Melancholie und Ruhe, er würde hier nur an der Oberfläche kratzen. Serenity - das meint Gelassenheit - vibriert vor Intensität. "Der Anfang der Musik", schrieb John Berger in einem Roman, "war ein Geheul, das einen Verlust beklagte. Das Geheul wurde zu einem Gebet, und aus der Hoffnung in dem Gebet entstand die Musik, die ihren Ursprung niemals vergessen kann. In ihr sind Hoffnung und Verlust ein Paar." Ein raunendes Erzählen am Klavier wechselt mit einem endlosen Singen der rechten Hand ab, die linke bleibt beinahe unhörbar, bis der Bass von Anders Jormin an sie erinnert, sie ersetzt und den Klang dunkel poliert. Und vor und hinter allem: das tanzende Schlagzeug von Jon Christensen, der - falls das möglich erscheint - Zwischenräume spielt, der Schatten über die Töne wirft oder sie mit metallischem Wischen aufhellt. Unglaublich, die Musik swingt, scheint stillzustehen, schwebt. So verschränkt das Ineinanderspiel ist, so weit gestreut sind die Vorgaben: von eigenen Kompositionen und Klangaphorismen bis zu Liedern von Hanns Eisler, Charles Ives, Alban Berg oder dem Kubaner Silvio Rodriguez. Wie selbstverständlich - und sie kennen ihr Klaviertrio-Genre - spielen sie aus dem Material heraus, finden zu einer Parallelität aus Swing, Song und Avantgarde, die sich fühlen, kaum lernen lässt (2 CDs ECM 1740/41). Vielleicht sollte man jetzt Trioalben wie Reflections (1993) und War Orphans (1997) wieder hervorholen, möglicherweise Bobo Stensons Aufnahmen mit Tomasz Stanko, Jan Garbarek, Don Cherry oder Terje Rypdal aus anderer Perspektive hören, ganz sicher aber ist Serenity ein Zeugnis der Unseld-Treue des Produzenten Manfred Eicher zu seinen Musikautoren.
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DIE ZEIT
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Bobo Stensons Klaviertrio
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Article
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2000-08-24T14:00:00+02:00
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2000-08-24T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/35/Jazz_&_
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Kafka und der Schmuserocker
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Darauf, dass Jon Bon Jovi und Franz Kafka eng miteinander verwandt sind, kann wahrscheinlich nur ein überreizter Postmodernist kommen oder aber der knallhart kalkulierende Supercomputer des größten Online-Shops unseres Planeten. Der E-Commerce-Gigant Amazon hat so einen Computer, und der rechnet rund um die Uhr unser aller Literatur- und Musikgeschmack aus. Weil ihn diese Aufgabe allein nicht ausfüllt, rechnet er inzwischen sogar aus, wie Musik- und Literaturgeschmack zusammenhängen. Und wenn überhaupt irgendjemand dazu imstande sein sollte, dieses Geheimnis zu lüften, dann wohl Amazon: Schließlich hat diese Firma nicht nur ein geradezu existenzielles Interesse an unseren kulturellen Vorlieben, ihr stehen dafür auch noch Millionen digital gespeicherter Geschmacksentscheidungen zur Verfügung und einige Milliarden Börsendollar, mit denen sie sich ein paar ganz gute Rechner und Programmierer leisten kann. All das zusammen schafft die Möglichkeiten für ein einzigartiges Experiment. Die neuesten Zwischenergebnisse dieses Großprojektes lassen sich bei Amazon.de jederzeit besichtigen: Wer dort nähere Informationen über ein Buch anklickt, bekommt nicht nur ein paar ähnliche Bücher empfohlen, sondern neuerdings auch gleich drei möglichst artverwandte CDs unter der Überschrift Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch diese CDs gekauft. Zustande kommen diese Vorschläge durch einen Prozess namens collaborative filtering - jedes Buch, jede CD hat eine interne Kennnummer, der Computer durchforstet alle Bestellvorgänge nach den häufigsten Kombinationen. Dabei lässt sich feststellen: Von Buch zu Buch sind diese Empfehlungen immer völlig erwartbar und plausibel. Wer etwas von Kafka liest, liest vielleicht auch noch was anderes von Kafka oder andere moderne Klassiker wie James Joyce oder Robert Musil. Dagegen fällt bei Amazons Querverweisen von Büchern auf CDs auf: Diese Empfehlungen sind fast immer unerwartbar. Da führt Nietzsches Zarathustra zum Buena Vista Social Club, Goethes Faust zu den Chemical Brothers und eben Kafkas Prozeß zur neuen Bon-Jovi-CD Crush. Das wiederum heißt: Entweder ist Amazons Supercomputer einfach noch nicht so weit. Oder aber, was viel unheimlicher wäre: Wir sind noch nicht so weit wie der Computer. Vielleicht weiß er ja etwas, was wir nicht wissen? Das will dringend näher untersucht werden. Beim Überfliegen von Amazons Buch-CD-Kombinationen blitzt nach der ersten Schrecksekunde fast immer ein kleines Plausibilitätsfünkchen auf. Das macht die Lektüre dieser Vorschläge so angenehm. Man kann sich dann immer fragen: Wie ist der Rechner jetzt bloß wieder darauf gekommen? Oder auch: Kenne ich auch jemanden, der sowohl Tolstoj als auch R.E.M. mag? Der Supercomputer schon. Aber der kennt ja offenbar sogar gleich mehrere Kunden, die sich für Dürrenmatt und Britney Spears interessieren oder sogar für die Kombination von Oscar Wilde und Tina Turner. Lesern von Thomas Manns Zauberberg empfiehlt er aufgrund seiner ganz speziellen Menschenkenntnis die Greatest Hits von Whitney Houston. Ernst Jüngers In Stahlgewittern assoziiert Amazons Rechner mit der - aha! - Metal-Band Metallica. Es ist also kaum noch zu übersehen, dass hier eine höhere Intelligenz waltet. Wir Menschen sollten uns die Mühe machen, sie etwas besser zu verstehen. Hier ein erster Anlauf, Fallbeispiel 1 - Die Bibel & Die Toten Hosen Unsterblich: Natürlich, der CD-Titel, aber auch sonst: sowohl die Bibel als auch die Toten Hosen kommen mit einem gewissen Bombast daher. Beide haben zahlreiche stadiontaugliche Hymnen hervorgebracht. Beide blicken schon auf eine recht lange Tradition zurück. Eine andere Tote-Hosen-CD trägt den Titel Opium fürs Volk, auf ihr tauchen sogar Bibelzitate und das Vaterunser auf - q.e.d.! Da passt einfach alles. Durchaus denkbar ist sogar, das einige Hosen-Fans überhaupt erst vom Hosen-Sänger Campino auf die Bibel aufmerksam gemacht worden sind. Fallbeispiel 2 - Arthur Schopenhauer Aphorismen zur Lebensweisheit & der Mission Impossible 2-Soundtrack: Schopenhauer selbst stand mehr auf Mozart und spielte gern die Querflöte. Der Mission Impossible-Soundtrack bietet größtenteils derben Metal-Rock. Das scheint erst mal nicht recht zusammenzupassen, jedoch: Gemahnen nicht diese Dumpfrock-Exzesse in ihrer ganzen kraftvollen Rockigkeit an den unwiderstehlichen Groove der Schopenhauerschen Sprachgewalt? Ehrlich gesagt: nein. Bleiben, jenseits der Musik, die starken inhaltlichen Parallelen: Mission Impossible wäre ein durchaus passender Titel für die Aphorismen zur Lebensweisheit gewesen, basiert doch dieses Spätwerk auf der Prämisse, dass menschliches Glück sowieso unerreichbar ist (Wie ich in meinem Hauptwerk nachgewiesen habe, so Schopenhauer im Vorwort). Während jedoch Schopenhauer wegen der Unmöglichkeit der Glücksmission den Totalrückzug aus dem Leben empfiehlt, um wenigstens dem Unglück zu entgehen, stürzt sich Tom Cruise im gleichnamigen Film mit beachtlichem Optimismus in seine mission impossible. Mit seinem willensstarken Aktionismus erreicht Cruise dann zwar, fürs Erste jedenfalls, sein Ziel - aber ist er danach auch wirklich glücklich im Sinne Schopenhauers? Die Antwort kennt vermutlich nur der Supercomputer von Amazon. Fallbeispiel 3 - Franz Kafka Der Prozeß & Bon Jovi Crush: Die kafkaesken Aspekte des Bon-Jovi-OEuvres sind bisher nur wenig gewürdigt worden. Im ganzen Internet gibt es der Suchmaschine Google zufolge aber immerhin 45 Seiten, auf denen sowohl von Bon Jovi als auch von Franz Kafka die Rede ist. Wenn auch nicht ein einziges Mal im selben Zusammenhang, geschweige denn im selben Satz. Das gibt's nur bei Amazon, und hier, und weil es so selten ist, gleich noch einmal: Bon Jovi und Franz Kafka. Abgesehen davon, dass das Kafkaeske natürlich sowieso überall ist, demnach sicher auch irgendwo bei Bon Jovi, fällt schon auf, wieweit überdurchschnittlich oft in Bon Jovis Texten, gerade auf der CD Crush, das Thema Traum eine Rolle spielt. Und vom albtraumhaften Prozeß ist es nun wirklich nicht weit zum Bon-Jovi-Song Say It Isn't So mit seinem Refrain: Tell me it's a nightmare/ Please wake me up/ Say it isn't so. Genau das fragte sich übrigens auch Gregor Samsa, als er sich eines Morgens in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt sah. Was ist mit mir geschehen?' dachte er. Es war kein Traum. Wie allerdings, auf der musikalischen Ebene, jemand mit einem Sinn für Kafkas stille, karge Schönheit den überladenen Kommerzrock Bon Jovis ertragen soll, bleibt auch weiterhin rätselhaft. Da hilft auch das verbindende Element des Albtraumhaften nicht weiter. Eine Erklärung könnte natürlich darin liegen, dass viele Bon-Jovi-Fans in der Schule zum Kafka-Lesen genötigt werden und beim Beschaffen der Lektüre gleich ein Gegengift dazubestellen, zum Ausgleich. Das wäre eigentlich auch die einzige Erklärung für
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DIE ZEIT
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Welche Musik hört jemand, der den Prozeß liest? Sie werden es nicht glauben, was der Computer des Online-Buchhändlers Amazon darauf antwortet. Ein Blick in die Seele des Kulturkonsumenten
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"Franz Kafka",
"Marcel Proust",
"Arthur Schopenhauer",
"Microsoft",
"Google",
"Whitney Houston",
"DaimlerChrysler",
"James Joyce",
"Campino",
"Michel Houellebecq"
] |
Article
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2000-08-24T09:00:00+02:00
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2000-08-24T09:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/35/Kafka_und_der_Schmuserocker/komplettansicht
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Ich habe einen Traum
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Mit theatralischer Geste winkt er während des Interviews regelmäßig einen seiner drei Butler zu sich: Wasser! Wasser! Meine Kehle! Oder er wendet sich an eine seiner Assistentinnen: Diese Hitze! Mein Gott! Mit einem Mini-Ventilator surrt eine der Frauen vor des Maestros Gesicht, während die andere den Schminkkasten vorbereitet, um Pavarotti für den Fotografen zurechtzumachen. In Pesaro, einem kleinen Ort an der Adriaküste, hat es an diesem Nachmittag 36 Grad. Und so verlegt der Tenor das Gespräch bald auf seine Veranda, die im Schatten hoher Pinien steht. Eine leichte Brise kommt auf. Schnell, meinen Schal! Es hat etwas mit der Verdauung zu tun. Nur wenn ich mit leerem Magen ins Bett gehe, habe ich Albträume. So wie diese Woche. Ich hatte richtig Hunger, wollte aber nichts mehr essen vor dem Schlafengehen. Mitte September gehe ich für vier, fünf Tage zu Doktor Chenot in die Kur. Ich will mich dort in guter Form präsentieren oder zumindest guten Willen zeigen. Und halte mich deshalb beim Essen derzeit etwas zurück. Liedermacher Lucio Dalla hat mich vor ein paar Jahren überredet, mit ihm abzuspecken. Auch er hat so seine Probleme mit dem Übergewicht. Ist zudem kleiner als ich. So wie auch Maradona, der einstige Fußballgott in Neapel. Wenn man klein ist, fällt jedes Kilo doppelt ins Gewicht. Von Maradona hat Lucio die Adresse von Doktor Henri Chenot bekommen, der wirklich toll ist. Dass Maradona dennoch eine Kugel geworden ist, Lucio eine geblieben und ich Kilos verloren habe, die immer noch im Bereich liegen, die eine herkömmliche Waage nicht erreicht, hat nichts mit unserem Arzt zu tun. Wir sind, das muss ich leider eingestehen, einfach Vielfraße. Zumindest kann ich das von mir behaupten. Ich habe nicht viele Laster. Aber vor einem Teller Fettuccine alla panna, einem Ossobuco mit Polenta kann ich einfach nicht Nein sagen. Und wenn ich es doch mal schaffe, wenigstens abends der Versuchung zu widerstehen, dann passiert's eben: Ich schlafe schlecht, bin unruhig, wache am Morgen darauf todmüde auf. Oder bereits mitten in der Nacht. Im schlimmsten Fall habe ich einen Albtraum. Es ist immer derselbe. Ein Albtraum, der mit Essen eigentlich nichts zu tun hat. Vom Essen träume ich, wenn ich wach bin, was den Vorteil hat, dass solche Träume jeweils sofort realisierbar sind. Ein Griff in den Kühlschrank, und schon geht er in Erfüllung. Im Bett aber stehe ich Todesängste aus. Mit einem Schrei bin ich vorletzte Nacht wach geworden, saß kerzengerade im Bett, war völlig verschwitzt. Ich sah dieses Mädchen vor mir, eingeschlossen in einem Fahrstuhl. Sie war verzweifelt, schrie um Hilfe, hatte Angst. Sie versuchte, den Fahrstuhl zu verlassen. Immer wieder. Doch sie schaffte es nicht. Das Licht war ausgegangen, sie fürchtete sich glaubte, ersticken zu müssen.
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ZEIT ONLINE
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Am Tag schwelgt Luciano Pavarotti in Fettucine und Ossobuco. Des nachts träumt er davon, leicht wie eine Biene umherzuschwirren.
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"Traum",
"Klassik",
"Luciano Pavarotti",
"Biene",
"Bühne",
"Flugzeug",
"China",
"USA",
"Bologna",
"Europa"
] |
Article
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2000-09-07T14:00:00+02:00
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2000-09-07T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/37/Traum-Pavarotti/komplettansicht
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1 Mann = 230 Stimmen & 90 Chöre
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Das ist selten: Einer macht sich selber Konkurrenz. Noch hat Peter Steins Aufführung von Goethes Weltgedicht Faust I und II bei der Expo in Hannover kaum begonnen (bis zum nächsten Jahr in Berlin, dann in Wien), schon gibt es eine Hörbuch-Edition, nein - nicht der Theaterproduktion, sondern der Lesung von Peter Stein. Um sein gigantisches Vorhaben zu finanzieren, ist Stein in den letzten Jahren durch Europa gereist und hat tagelang, nächtelang das ihm ans Herz gewachsene Werk Goethes vorgelesen - vorgespielt. Das kann selbst der Hörer sagen, der die sechs Kassetten oder sieben Compact-Discs in sein Abspielgerät schiebt. Wir hören, begleitet von Gekicher, Gelächter, Beifall und aufmerksamem Schweigen, den Mitschnitt einer Lesung in den Kammerspielen München, 1999. 480 Minuten Goethe. Acht Stunden Faust II. Ja geht das denn? Es ist ein Vergnügen. Alle, die mit dem von Lehrern, Germanistikprofessoren (und Theaterkritikern) weitergeschwätzten Todesurteil aufgewachsen sind, Faust II sei Goethes letzter Heuler, ein ungenießbares Alterswerk, eine Schwarte für Bibliothekare und "weltfremde Buchstabierer" und "Oberlehrer-Drama" dazu: Wacht auf! Macht die Ohren auf! Hört Peter Stein zu! Mit dieser Lesung könnte, endlich, Goethes Faust, jenseits aller Versuche theatralischer Darbietung, als großes Gedicht, als zwischen Lyrik, Drama, Tragödie, Komödie, Weihespiel und Farce munter wechselndem Revue-Spektakel, als einzigartiges Glitzerwerk deutscher Dichtung gewonnen werden. Peter Stein liest - nein: inszeniert, im Lesen, Goethes Drama-Gedicht. Hat man je solche Fülle an Tönen gehört? 230 Figuren macht der Rezitator, der zum Regisseur, zum Spieler wird, lebendig. Dazu die Menschen, Elfen, Grillen, Nymphen, Geister - von neunzig Chören. Mit Peter Stein hören, lesen, verstehen wir oft vieles neu. Der große Monolog Fausts, der zu Beginn des zweiten Teils nach langem Heilschlaf in "anmutiger Gegend" erwacht, endet mit einem - für Goethes Weltsicht charakteristischen - Vers. Menschen sind nicht geschaffen, die Schöpfung, die Welt unmittelbar zu verstehen. Faust muss den Blick von der aufgehenden Sonne abwenden. Nur im Regenbogenspiel des Wasserfalls kann er Sonne und Götterkraft schauen. "Am farbigen Abglanz haben wir das Leben."
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „1 Mann = 230 Stimmen & 90 Chöre“.
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2000-09-14T14:00:00+02:00
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2000-09-14T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/38/1_Mann_=_230_Stimmen_&_90_Choere/komplettansicht
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Volk & Welt
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Über die Unpolitischen Erinnerungen Erich Mühsams schreiben Sie: "Wie gut, dass es noch Verlage wie die Edition Nautilus gibt, die uns nun die Skizzen und Porträts (...) wieder zugänglich macht." Der Nebelvorhang vor der DDR scheint auch in Ihrer Redaktion so dicht zu sein, dass das Literatur-Feuilleton noch immer nicht alle gesamtdeutschen Daten beisammen hat. Der einst große DDR-Verlag Volk & Welt brachte bereits 1978 erst zwei Bände, dann 1984 noch einen Band Erich Mühsam heraus, und zwar: Gedichte/Prosa/Stücke und Publizistik/Unpolitische Erinnerungen (Berlin 1978) sowie Streitschriften/Literarischer Nachlass (Berlin 1984). Außer den Unpolitischen Erinnerungen sind im zweiten Band noch 87 andere Beiträge sowie der Persönliche Rechenschaftsbericht über die Entstehung der bayerischen Räterepublik enthalten. Die drei Bände beinhalten rund 2170 Seiten Texte von Erich Mühsam und 245 Seiten Anmerkungen, Register und Beiträge über ihn. Die drei Bücher kosteten seinerzeit 49,20 Mark. Peter Uhrbach Markkleeberg
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DIE ZEIT
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Volker Ullrich: "Erich Mühsam ,Unpolitische Erinnerungen'", ZEIT Nr. 39
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Article
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2000-10-12T14:00:00+02:00
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2000-10-12T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2000/42/Volk_&_Welt
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Dichter & Schwerenöter
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Die Mischung ist explosiv. Ein junger, sensibler Mann, ein echter Soldat, Kampfflieger sogar, mit Kriegseinsätzen. Feingeist und Macho, empfindsam, aber hart im Nehmen. Als Schriftsteller ebenso genial wie grauenhaft. Er liebt die schiefen Bilder. Er ist äußerst kitschanfällig. Er produziert Weisheiten weit unter Trivialitätsschwelle. Er stemmt steile Formulierungen, die beim Lesen schwindlig machen. Zugleich, oft noch im gleichen Absatz, folgen Passagen von erregender Intensität. Er hat unvergessliche Figuren geschaffen, subtile Empfindungen differenziert beschrieben, eigensinnige Bilder entwickelt. James Salters Roman Lichtjahre ist auf Deutsch 1998, dreiundzwanzig Jahre nach der amerikanischen Originalausgabe erschienen. Ich hätte nach wenigen Seiten das Buch ein für allemal weggelegt, hätte ich - damals - nicht öffentlich darüber sprechen müssen. Als ich es dann aber fertig gelesen hatte, zugegeben einige Tränen in den Augenwinkeln, von Seite zu Seite mehr und am Ende fast hemmungslos begeistert, da war ich Salter-Fan und zugleich resistent geworden gegen alle - oft nur zu berechtigte - Kritik an diesem, dem vielleicht ungewöhnlichsten amerikanischen Schriftsteller, zumindest der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. In den Romanen Lichtjahre und Ein Spiel und ein Zeitvertreib bildet Salter die Mentalitäten eines sozialen Milieus, der oberen Mittelschicht, mit äußerster Genauigkeit ab. Die Konstellation der Lichtjahre hat etwas von der Dignität einer griechischen Tragödie. Es ist die (kontingente, blödsinnig zufällige, also in keiner Weise notwendige) Unausweichlichkeit des Schicksals, die Leben und das bereits greifbare Glück zerstört. Wer solche Geschichten schreibt, darf sich - sagen wir - wenigstens hin und wieder auch mal im Ton vergreifen. Zumal der Autor, gerade in dieser Hinsicht, ein Kind seiner Zeit geblieben ist. Salter verbindet den muskelprotzenden Stumpfsinn Hemingways mit der lyrischen Dichte Carson McCullers, Don DeLillos Wucht mit der Einfühlsamkeit des jungen Capote. Er ist der letzte - echte - Mann aus den fünfziger Jahren, der auch heute noch schreibt, zum Teil wie in den fünfziger Jahren. Ein Fossil aus alten Zeiten und dadurch der Zeit enthoben. Dieses Buch ist allen Frauen unter vierzig zu empfehlen Ungeheuerliche Sätze der einen wie der anderen Art finden sich jetzt auch wieder in Salters Autobiografie, die in diesem Herbst, drei Jahre nach der amerikanischen Ausgabe unter dem Titel Verbrannte Tage. Erinnerung auch auf Deutsch erschienen ist. Da schreibt ihm beispielsweise ein Freund aus der Militärakademie, gerade 21 Jahre alt geworden: "Seit wir uns getrennt haben, bin ich einen weiten Weg gegangen, und ich bedauere jeden Schritt ..." Und da schreibt er selbst über die Ehefrau Roman Polanskis, die später ermordete Sharon Tate, fast schon tollkühn: "Sie bleibt für mich eine Art Hera, ein Sinnbild der Ehe. Sie war vielleicht keine besonders gute Hausfrau, aber sie hatte ein reines Herz, und ihr Körper war ein Gedicht. Man fühlte, daß sie einen Mann in jeder Hinsicht glücklich machen konnte."
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DIE ZEIT
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Der empfindsame amerikanische Erzähler James Salter als Kampfflieger und Frauenheld
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Leena, Pekka & die Welt
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Eine Heldin über eine Strecke von entscheidenden Jahren und Bänden treu zu begleiten, von der Schuleinführung im ersten Band bis zur abgeschlossenen Adoleszenz im letzten, ist ein Lektürevergnügen, das lange brachlag. An mangelndem Interesse seitens der Leser kann es nicht gelegen haben, wie sonst erklärte man sich den halb verlegenen Rückgriff auf bemooste Dauerbrenner, Vorvorkriegsware, immer mal wieder neu aufgelegt. Vielleicht musste erst jemand kommen wie die aus Kokkola stammende Marjaleena Lembcke, um - unbelastet, vom Hautgout der altdeutschen Serienmädchen-Tradition - das Genre aufzuwerten und zu bereichern um den Wärmegrad des Authentischen und die Würze einer etwas anderen Lebensweise. 13 Jahre (ca. 1950-1963) finnischer Familiengeschichte werden von der ältesten Tochter Leena erzählt, die im sechsten und nunmehr letzten Band 18 Jahre alt ist. Weihnachten, Silvester, Geburtstage, diverse Umzüge, Mittsommer mit plötzlich grassierender, allseitiger Verliebtheit, Unfälle und Krankheiten, Existenzsorgen und Auswanderungspläne, nicht zuletzt eine lange Reise - an alldem durfte der Leser teilhaben. Was Wunder, dass einem Leena und Matti, Tuomo, Oskari, Sonja und Baby Saku nebst Eltern und Mummo, der besten aller Großmütter, von Band zu Band näher rückten, besonders aber Bruder Pekka, Hauptperson des vierten Bandes Als die Steine noch Vögel waren. Hier nun gerät man gleich zu Anfang mitten hinein in die genüsslich-ausführlichen Vorbereitungen zum Muttertag. Trotz der ärmlichen Verhältnisse im zehnköpfigen Haushalt treiben die Vorstellungen und Pläne, was man der Mutter schenken könnte, je nach Temperament üppige Blüten. Die Geschenke sind denn auch "die allerschönsten, die ich je gesehen habe, und ihr seid die wunderbarsten Kinder auf der Welt und ich bin die glücklichste Mutter der Welt, weil ich eure Mutter bin". So unbeschwert und von innen heraus beglänzt kann es schwerlich weitergehen, der ältere Leser ahnt es schon, man befindet sich auf dem Wellenberg vor dem Wellental. Ein kurzer Urlaub der Eltern, ohne Kinder, wird ins Auge gefasst und von diesen aufgeregt begrüßt als zu nützende Chance für allerlei Aktivitäten an der Grenze zur Anarchie. Leena etwa plant, vom überantworteten Haushaltsgeld umgehend erst mal eine neue Bluse abzuzweigen. Doch dann werden die Eltern Opfer eines Autounfalls. Als sie endlich aus dem Krankenhaus entlassen werden, ist der Sommer lange vorbei, Kuh und Schweine sind verkauft, und die Mutter ist nicht mehr wie vorher. Sie weint viel, schläft viel, verschwindet und muss gesucht werden. Leena verdrängt ihre Angst. Hatte die Familie nicht schon andere Schicksalsschläge überwunden? Hatten sie nicht immer wieder Glück gehabt im Unglück? Elektroschocks sollen helfen und erreichen doch nur, dass die Mutter dem Leben, das sie bewältigen soll, noch fremder und verlorener gegenübersteht. "Während ich meiner Mutter einen Osterstrauß kaufte, ging sie auf den Gleisen einem Zug entgegen. Sie wurde von dem Zug überfahren." Lapidarer kann man den Sachverhalt nicht benennen. Doch in solcher Knappheit schwelt der nie verwundene Schock. Wie einer damit umgeht, ist nicht vermittelbar. Kein Begräbnisprotokoll verwässert den Schluss, der dem Erinnern glücklicher Augenblicke gewidmet ist. Der Platz der Verschwundenen im Gedächtnis ihrer Familie wird warm gehalten werden. * Marjaleena Lembcke: Abschied vom roten Haus Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2000 153 S., 24,- DM (ab 12 Jahre)
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DIE ZEIT
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Marjaleena Lembckes rührend-witzige Geschichte einer finnischen Familie findet mit dem sechsten Band zu ihrem Ende
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Plopp & Blues
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An Herrn BDI-Präsidenten Hans-Olaf Henkel - Verehrtester! Vor ein paar Tagen, da waren Sie im Radio im Rahmen einer Art Forum o. dgl. zu hören, da erwähnten Sie, wie Sie einmal, noch in Bonn, im Bundeskanzleramt saßen und auf Schröder warteten, da plötzlich machte es plopp - ja, was da kam, war die Rohrpost! Publikum röhrt, wie auch Sie vermutlich innerlich, frenetisch auf niemand weiß genau, warum: vermutlich über die vorberlinerisch prämoderne Antiquiertheit dieses politischen Lebens. Das jetzt aber ganz anders wird mit Ihnen und Ihrer neuen Zwischenautobiografie samt Menschheitsanweisung Die Macht der Freiheit, für deren Zeitungsannoncen Sie, BDI-Henkel, sich dieser Tage mit einem Foto von zumindest schon mächtig freizeitmäßiger Aufgeknöpftheit zeigen und im Rahmen eines fitnessroomgestählten Haupts ohne ein Milligramm Fett zu viel - ganz in jenem Sinn, in dem Sie der Öffentlichkeit schon zuvor und werweiß sogar ein bisschen zwanghaft erläuterten, dass Sie der größte Fan Cha rlie Parkers seien und wie dessen Saxofon das Gefühl für Blues in meinem Blut hätten. Präsident Henkel: Wenn Sie uns demnächst auch noch einreden wollen, dass Sie keineswegs der prototypisch funktionierende Funktionär, sondern der genuine und ontogenetische Aussteiger, ja der substanziell idealtypische Späthippie seien: dann geht es aber nicht mehr mit einer Warnglosse ab. Dann setzt es was. Einen Farbbeutel. Oder zumindest einen Plopp-Tritt in Ihren phylogenetischsten und allerbluesmäßigsten Teil. Aber echt!
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Plopp & Blues“.
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Schule der Langsamkeit
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Im europäischen Krisenjahr 1933 machte sich ein junger Mann aus gutem Hause auf den Weg, um den Kontinent von Nordwesten nach Südosten zu Fuß zu durchqueren. Er war achtzehn, als er in Rotterdam aufbrach, und vier Jahre unterwegs, bis er Konstantinopel erreichte. Diese Wanderung machte ihn schon früh zur Legende, und die zwei Bände, in denen er von seiner Reise elegant wie gelehrsam berichtete, nahmen sich seither viele Reiseschriftsteller zum Vorbild. Ob Paul Theroux oder Bruce Chatwin, sie alle bezogen sich auf A Time of Gifts und Between the Woods and the Water, deren Verfasser ihnen das verwirklicht zu haben schien, was sie selber propagierten: die "nomadische Lebensform". Patrick Leigh Fermor lebt heute, im Alter von 85 Jahren, auf der Mani, dieser rauen, erhabenen Landschaft am Peloponnes, und sein Haus in Kardamily ist das Ziel zahlloser englischer Pilger. Das wiederum hat nicht nur mit dem Ruhm des Autors zu tun, der auch zwei Griechenlandbücher, Mani und Rumeli, veröffentlicht hat, die zum Handgepäck jedes gebildeten Engländers gehören, der in die Ägäis fährt. Nein, Leigh Fermor ist in England und in Griechenland nicht nur als großer Reisender, sondern auch als Kriegsheld eine geradezu populäre Gestalt. Während des Zweiten Weltkriegs von der Royal Army als Verbindungsoffizier auf Kreta eingesetzt, hatte er auf der von der Wehrmacht besetzten Insel den Kontakt zu den Partisanen herzustellen und sie in ihrem Kampf gegen die Okkupanten zu unterstützen. In einem verwegenen Handstreich setzte Leigh Fermor damals den deutschen Befehlshaber von Kreta, General Kreipe, gefangen, eine Husarentat, die nach 1945 in englischen Filmen und griechischen Büchern verklärende Darstellung fand. Im Film spielte Dirk Bogarde die Rolle des tollkühnen Autors, der ganz anders schreibt, als man nach all den Anekdoten, die von seinem Abenteurertum künden, glauben würde in Griechenland wiederum waren es die Kombattanten des Widerstands, die in ihren Erinnerungsbüchern des noblen englischen Offiziers gedachten. Zumal George Psychoundakis, ein Schäfer und Partisan, hat in seinem vielgelesenen, auch ins Englische übersetzten Buch The Cretan Runner höchst Rühmendes über ihn berichtet. Aber auch ein düsteres Kapitel im Leben Leigh Fermors findet sich in den Aufzeichnungen des Schäfers, der den verschiedenen Gruppen des kretischen Widerstands als Kurier diente. 1943 hatte Leigh Fermor in einem Versteck beim Putzen des Gewehres versehentlich dem griechischen Partisan Yanni Tzangarakis ins Bein geschossen der junge Mann war wenig später an seiner Verwundung gestorben, hatte dem Engländer vor Zeugen das letale Missgeschick aber noch ausdrücklich verziehen. Damit es in diesem Gebiet mit seiner archaischen Sozialstruktur zu keiner Blutrache komme, war Leigh Fermor dann Pate der Nichte von Tzangarakis geworden und so der Familie seines Freundes und Opfers beigetreten. Nach dem Krieg blieb er in dem Land, für dessen Befreiung er gekämpft und in dem er einen Freund getötet hatte. Dieser kursorische Überblick über die Mythen, die sich um das Leben Leigh Fermors ranken, ist notwendig, wenn man dem deutschsprachigen Publikum einen Mann vorstellen möchte, der im angelsächsischen Raum die höchste Verehrung genießt, bei uns aber nahezu unbekannt geblieben ist. Dabei hat es mehrere Versuche gegeben, sein Werk ins Deutsche zu übersetzen doch während er in England als bedeutender Schriftsteller gilt, wurde er hierzulande als vermeintlicher Sachbuchautor ins Rennen geschickt. In England wäre das nicht weiter schlimm, in Deutschland aber verzeiht man zwar den Hang zu schlechter Lyrik, nicht aber die Vorliebe für geistverdächtige Genres wie den Essay, das Reise- oder Tagebuch, die Biografie oder historische Studie. Rumeli und Mani waren auf Deutsch 1972 und 1973 im Otto Müller-Verlag erschienen während das Erste seit Jahren vergriffen ist, soll immerhin das Zweite, das im englischen Original viele Dutzend Auflagen erreichte, im nächsten Frühjahr neu aufgelegt werden. Damit es bis dahin und bis sich endlich ein Verlag Leigh Fermors Wanderung vom Ärmelkanal zum Bosporus sowie seiner anderen Reisebücher annimmt, nicht zu lange dauert, kann man sich jetzt in einem merkwürdigen, schmalen Buch ein Bild von ihm machen. Reise in die Stille ist keines seiner Hauptwerke, aber doch eines, das viel von dem spröden Charme dieses Autors hat. Da sich neuerdings depressiv verstimmte Manager und ausgebrannte Besitzer von Fettlebern gerne in Klöstern zum Seminar treffen, um sich die Freuden der Stille und Askese zu teilen, ist dem Büchlein aus dem Jahr 1957 sogar unerwartete Aktualität zugewachsen.
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ZEIT ONLINE
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Patrick Leigh Fermor: Der legendäre Reisende, Abenteurer, Untergrundkämpfer und Schriftsteller
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"Schule",
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2000-11-16T13:00:00+01:00
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Brandherd
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Mal ehrlich: Hat Ihnen Weihnachten Spaß gemacht? Früher, da gab es unter dem Christbaum leuchtende Kinderaugen und Bauklötze aus deutschen Eichen. Aber in Globalisierungszeiten müssen natürlich hoch technische Geräte aus dem fernen Orient herangeschleppt werden, die dann alle nicht funktionieren. Man konsultiert die Bedienungsanleitung ("Herzlichen Gluckwunschen") und findet folgende Hinweise: ACHTUNG! GEFAHR! VORSICHT! Achten Sie mal drauf. Allein das neue Philips-Faxtelefon enthält zwölf verschiedene Warnhinweise über rauchende Gummimatten, Blitzschläge und das Austreten ätzender Flüssigkeiten. Auf dem neuen ICE-Auto-Kassettenradio steht: "ACHTUNG Ein Reparatur-Anspruch besteht nicht, wenn die Fehler durch unsachgemäße Behandlung (siehe Gebrauchsanweisung) entstanden sind." Und so weiter. Männer, die zuvor Berge versetzen konnten, hat solcherlei Lektüre schon zu jammernden Bündeln reduziert. Da halten wir inne und denken an die Menschen, die uns bisher eher fremd waren: die Verbraucherschützer. Jawohl, plötzlich schließen wir Leute wie Karl Lucks vom Kieler Institut für Schadensverhütung ins Herz: "Jedes Gerät, das mit einer Steckdose verbunden ist, stellt einen potenziellen Brandherd dar." Unser Held ist David Jenkins von der Königlichen Britischen Gesellschaft für die Vermeidung von Unfällen ("Augenschäden durch Weihnachtsbäume", "Verzehr unverdaulicher Geschenkverpackungen", "Rutschgefahr auf Bratenfett"). Im Verlangen nach Rettung suchen wir also im Internet die Nummer der Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein: "Kein Anschluss unter dieser Nummer." Verbraucherzentrale Niedersachsen: "Die Rufnummer ist unvollständig. Klack piep piep piep." Verbrauchertelefon der Uni Trier: "Sie rufen sicher an, weil Ihnen eine schlechte Gebrauchsanweisung den Spaß an Ihren Weihnachtsgeschenken verdorben hat. Im neuen Jahr stehen wir wieder für Sie bereit." WARNUNG. Dann könnte es zu spät sein.
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Brandherd“.
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Brandherd
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Das Gespenst geht nicht mehr um
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Nach dem Schwarzbuch des Kommunismus (1997) nun Le siècle des communismes ("Das Jahrhundert der Kommunismen") - ein Pariser Rezensent verglich die beiden Bücher mit einer vorabendlichen Soap-Opera und einem Themenabend bei Arte. Vor drei Jahren erschien das Schwarzbuch des Kommunismus, für das Verleger und Herausgeber - schon bevor es auf dem Markt war - mit lauten Parolen warben: "Kommunismus = 100 Millionen Tote", "Kommunismus = Verbrechen". Zumindest die Rechnung des Verlegers ging auf. Das Buch verkaufte sich 200 000-mal, obwohl viele Beiträge auf bescheidenem Niveau argumentierten und die wissenschaftlich Arbeitenden unter den Autoren sich vom Herausgeber öffentlich distanzierten. Der Plural im Titel des zweiten Buches ist programmatisch zu verstehen: Die 23 Autoren basteln nicht an dem von François Furet zur Kampfparole ausstaffierten Gespenst "des" Kommunismus weiter, sondern untersuchen die verschiedenen Gesellschaften, in denen sich die herrschenden Partei- und Staatsapparate zu einer kommunistischen Ideologie bekannten (und dabei die Idée fixe eines homogenen "Marxismus-Leninismus" pflegten). Auch "der" Antifaschismus geht - wie Bruno Gruppo zeigt - nicht in seiner Funktion als kommunistische Herrschaftslegitimation auf. Der Unterschied zwischen den beiden Büchern ist kein gradueller, sondern ein prinzipieller. Statt einer Ideologiegeschichte, die "den" Kommunismus zu einer von Intellektuellen ausgeheckten und von Verbrechern "verwirklichten Ideologie" reduziert, liefert das zweite Buch differenzierte Ansätze zu einer Sozialgeschichte von kommunistisch dominierten Staaten und Gesellschaften. Nationale Besonderheiten sowie soziale und wirtschaftliche Spezifika kommen dabei ebenso zu ihrem Recht wie die unterschiedlichen Traditionen und Herrschaftspraktiken in verschiedenen historischen Phasen. Die Autoren bagatellisieren dabei keineswegs die dominante Rolle, die Terror und andere Gewaltformen unter diesen Regimes spielten, aber sie verfallen nicht in die nach 1989 modisch gewordene Verkürzung, Geschichte allein aus Polizei- und Geheimdienstarchiven zu rekonstruieren und Geschichtsschreibung in eine Verbrecher- und Verschwörerstory zu verwandeln. Sie betreiben vielmehr - wie Le Monde schrieb - die fällige Rückwendung vom "polizeimäßigen" auf den "wissenschaftlichen Blick" in die Geschichte. Alexis de Tocqueville beschrieb, in welcher Hinsicht das Ancien Régime die Gewaltpraxis der Französischen Revolution prägte. Ähnliches gilt für den Einfluss der zaristischen auf die bolschewistische Herrschaft, die man durch den Vergleich nicht rehabilitiert, sondern besser verstehen und erklären lernt. Anders als viele Schwarzbuch-Autoren, denen der Vergleich zwischen Kommunismus und Nazismus unter der Hand zur Gleichsetzung beider Herrschaftssysteme geriet, demonstrieren die Mitarbeiter des neuen Buches die Schwäche aller Varianten der so genannten Totalitarismustheorie. Das defizitäre Vorgehen, Staaten und Gesellschaften exklusiv von ihren ideologischen Diskursen her zu beleuchten, bewirkt, dass diese Theorien selbst "essentiell ideologisch werden" (Michel Dreyfus/Roland Lew). Nicolas Werth, der am Schwarzbuch mitwirkte, aber sich von dem manichäischen Herausgeber Courtois distanzierte, lobt die Autoren für ihre Einsicht, "je mehr man Kommunismus und Nazismus vergleicht, desto stärker springen die Unterschiede ins Auge". Michel Dreyfus u. a. (Ed.):
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Das Gespenst geht nicht mehr um“.
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"Alexis de Tocqueville",
"Kommunismus",
"Paris"
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Das Jahr der Biopolitik
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Darius, König von Persien, war neugierig und unternahm ein Experiment. Er versammelte eine Schar Griechen und fragte sie: Wie viel müsste ich euch geben, damit ihr die Leichen eurer verstorbenen Väter esst? Helle Empörung, ganz wie Darius vermutet hatte. Sodann ließ er Leute vom indischen Stamm der Callatiae antreten, die, so berichtet es Herodot, die Sitte pflegten, die Körper ihrer Eltern zu verspeisen: Wie viel müsse er ihnen geben, fragte Darius, wenn sie die Leichen nicht essen, sondern stattdessen verbrennen würden? Da erhob sich großes Geschrei. "So fest verwurzelt sind die Sitten", kommentiert Herodot (Historiae, 3.38.1). So fest verwurzelt sind die unterschiedlichen Sitten der Nationen, dass Hubert Hüppe, Bundestagsabgeordneter der CDU, den Briten "Kannibalismus" vorwarf: Mit diesem Wort kommentierte der stellvertretende Vorsitzende der Expertenkommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" den Beschluss des britischen Unterhauses, das Klonen von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken zu erlauben (siehe Wissen, Seite 35). Starke Worte sind üblich in der "Biopolitik". Der Begriff, mehr als ein Dutzend Jahre alt, beschreibt ein Ansinnen, das mit dem Fortschritt der Medizin heikler und anspruchsvoller wird: Die Politik soll nichts Geringeres als den Umgang der Gesellschaft mit dem Leben regeln. Das umstrittenste biopolitische Thema der vergangenen Jahrzehnte war die Abtreibung. Nicht minder komplex war die Debatte um das Transplantationsgesetz und die Frage, wann ein Mensch als tot gilt, auf dass ihm Organe entnommen werden dürfen. Mit der fortschreitenden Forschung häufen sich die Probleme und damit auch die Fragen. Biopolitik wird zum Dauerthema: Dürfen Mediziner zu Forschungszwecken Zellverbände benutzen, aus denen sich - im Prinzip - auch menschliche Föten entwickeln können? Nach welchen Kriterien sollen Krankenhäuser darüber entscheiden, wen sie retten und wen nicht? Welche Erkenntnisse der Gentechnologie, welche Lebewesen dürfen patentiert werden? Können Arbeitgeber oder Versicherungen verlangen, dass bestimmte Gentests durchgeführt oder deren Ergebnisse offen gelegt werden? Wie reagiert die Politik darauf, dass Deutsche ins Ausland fahren, um sich bei der Selbsttötung helfen zu lassen? Oder um ein Kind zu bekommen, das im Reagenzglas gezeugt und vor der Implantierung auf Erbkrankheiten untersucht wurde? Jedes Mal heißt es: Die Politik ist gefragt. Offenbar erinnert sich die Gesellschaft daran, dass die Politik für allgemein gültige Entscheidungen stärker legitimiert ist, als die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kirche oder als es Interessenverbände sind. Die Politik, der gern Bedeutungsverlust nachgesagt wird und die angeblich zum Annex der globalisierenden Triebkräfte geworden ist - auf sie kommt es eben doch an. Denn sie macht die Gesetze. Wie soeben in London. Und wie demnächst in Frankreich: Premierminister Lionel Jospin bereitet ein Gesetz vor, das dem britischen im Wesentlichen gleichkommen soll. Dann wäre es auch in Frankreich zulässig, mit menschlichen Stammzellen zu arbeiten, die nach der Methode Dolly gewonnen wurden: Es wird der Kern aus der Körperzelle eines Erwachsenen herauspräpariert und in eine entkernte Eizelle gesteckt
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DIE ZEIT
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Menschliche Klone, Gentests, Sterbehilfe: Der Staat soll die Menschenwürde schützen. Aber auf welche Ethik können sich Politikerberufen?
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"CDU",
"Jürgen Habermas",
"Lionel Jospin",
"Peter Struck",
"Bioethik",
"Embryo",
"Frankreich",
"Hubert Hüppe",
"Julian Nida-Rümelin",
"Belgien"
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Das_Jahr_der_Biopolitik/komplettansicht
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Ein Provisorium
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Es gibt, hat Robert Musil einmal bemerkt, zwei große Geisteslagen, die einander ausschließen, bekämpfen und doch seltsam geschwisterlich nebeneinander bestehen. Die eine bemüht sich um Exaktheit und arbeitet sich an den Tatsachen ab. Die andere hat nichts als hohe Werte und Wahrheiten im Sinn, die, wenn nicht ewig, so doch abendländisch, haltbar und würdevoll sind. Und nur ein heilloser Pessimist möchte behaupten: Die Erkenntnisse der einen seien nicht tief genug und die der anderen nicht eigentlich wahr. Denn was finge man am Jüngsten Tag, "wenn die menschlichen Werke gewogen werden", mit drei oder auch dreißig Abhandlungen über Ameisensäure an? Aber was wüsste man umgekehrt vom Jüngsten Tag, "wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!" Musil hat bis auf Widerruf eine Diskursökonomie beschrieben, die vom 19. Jahrhundert ins 21. herüber reicht und darin besteht, dass zwei unterschiedliche "Kulturen" gegeneinander à la baisse spekulieren und doch insgesamt und gemeinsam gewinnbringend sind. Denn was der eine, der exakte oder wissenschaftliche Geist, an ehrwürdigen Gesetzen und Gewissheiten verbraucht, füllt der andere mit Wertfragen und Bedenklichkeiten auf. Und was der zweite, der moralische oder eigentliche Geist, an Elan, an Welt- und Wirklichkeitsbezug verloren hat, reicht der andere sogleich in Form von Visionen und Science-Fiction nach. Arbeitsteilig hat man sich mit einer Art Lastenausgleich arrangiert, der dafür einsteht, dass sich die Welt fortwährend modernisiert und doch stets die alte und wiedererkennbare bleiben darf. Der Streit über den Menschen sollte politisch, nicht ontologisch sein Dass allerdings dieses glücklich verzinste Kapital zweier widerstreitender Kulturen nicht ohne Kursverlust zirkuliert, zeigt die Rede vom Menschen. Denn der Mensch, von dem man seit dem 19. Jahrhundert mit ansteigender Aufregung spricht, ist in dieser Haushaltung zu einer schwierigen oder gar unmöglichen Sache geworden. Sosehr man nämlich im Menschen seit Menschengedenken jenes Bildnis erkennt, das allein, zuverlässig und bis auf weiteres gegen jede Tierheit oder Bestialität schützt, sosehr konnte man von einer anderen Seite dieses Bild nur auf die bilderstürmerische Art retten. Es erscheint als eine Art Diskursunfall. Die Humanitas, die sich seit zweihundert Jahren im anthropologischen Eifer mit sich selbst auseinander setzt, hat sich selbst dabei auseinander gesetzt und den Menschen verloren. Mit einer Wissenschaft vom Menschen, von seinen Milieus, seinem Leben und seinen weitläufigen Herkünften, mit dieser Wissenschaft geht die Rechnung nicht mehr auf. Willensfreiheiten hat man mit Gewöhnungen, moralische Regungen mit konditionierten Reflexen und die zivilisierte Empfindsamkeit mit einer mehr oder weniger gelungenen Anpassungsleistung quittiert. Und wenn man auch heute noch ebenso gefahr- wie ratlos das eine wie das andere zugleich behaupten darf, so scheint doch das Menschliche am Menschen zu einer Klammer für Unvereinbarkeiten und somit monströs oder wenigstens provisorisch geworden zu sein.
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DIE ZEIT
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Der Erfolg der Bio-Wissenschaften macht den Menschen zu einer Unschärferelation
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"Robert Musil",
"Science Fiction",
"Genom"
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Ein_Provisorium/komplettansicht
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Haste mal 'ne Mark?
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Die Kur steht fest. Alle Gutachten und Gegengutachten haben am Ende nur die Einsicht bestärkt, dass es anders nicht weitergehen kann. Doch scheint unsicher, ob der Patient auch begriffen hat, was auf ihn zukommt. Das nächste Jahr noch, ein letztes, wird die D-Mark im Umlauf bleiben dann wird den Deutschen entzogen, was ihnen Trost, Ablenkung und Betäubung in allen Kümmernissen versprach. Ob der Euro, der die Mark ablösen soll, auch nur die lindernde Wirkung von Methadon entfalten kann, ist mehr als fraglich und selbst wenn, wird er doch den Kick vermissen lassen, den die Deutschen in der Härte ihrer Währung fanden. Vor zwei Jahren, als das 50-jährige Jubiläum der Mark begangen wurde, da schien dem Volk noch klar, dass der Verzicht nicht leicht würde in die Feierlichkeiten mischte sich etwas Banges, über die eigene Courage Erschrockenes, das von der Zukunftsgewissheit anderer europäischer Nationen abstach, die ihre Währung ebenfalls aufgeben müssen. Welcher Italiener weinte vorsorglich der Lira nach? Der Vergleich ist, nur weil die Lira gern als schwach galt, keineswegs abwegig. Er hinkt nur deshalb, weil die Erotik des Geldes, die alle Völker kennen, in Italien keine Erotik der Währung ist. Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer D-Mark hat, so lässt sich wohl kaum bestreiten, obsessive Züge. Es ist nicht der gelassene Stolz der Amerikaner, deren Geld überall auf der Welt gern gesehen und genommen wird, weil es so etwas wie die Supermacht unter den Währungen ist. Es ist im Gegenteil eine eifersüchtige Liebe, die sich der Deutsche über den Umweg seiner Währung, wider die historische Erfahrung internationaler Ächtung, am Ende selbst zugute kommen lassen wollte. Wie ein Dollar aussieht, weiß buchstäblich jedes Kind. Das kann man von der D-Mark nicht behaupten gegenüber England, Frankreich, Amerika, die als Hegemonialmächte überall bekannt sind, konnte Deutschland plötzlich in den Rang eines größeren Krämerladens abrutschen, von dem man anderorts nur die Produkte, zum Beispiel die großen Autos, kennt. Offenbar ist aber der Produktstolz, so sehr er zum deutschen Seelenleben gehört, nicht geeignet, den gekränkten Währungsstolz zu heilen. Die Währung wird augenscheinlich als Niederschlag eines Allgemeineren erlebt, eher von Tugenden und Werten als von bloßem Industriefleiß. In der Härte der Mark sah der Deutsche seine Disziplin, seine Ordnung, wahrscheinlich das Wohleingerichtete seiner Verhältnisse überhaupt gespiegelt. Manches spricht dafür, dass er sie als Zeugnis, womöglich Zentrum seiner Kultur sah, nachdem alle eigentlich kulturellen Werte und Traditionen von der nationalsozialistischen Katastrophe verschlungen waren. Alles, was sich ehedem als deutsch von den Nachbarn überhaupt abgrenzen ließ, geriet unter den Verdacht des Sonderwegs zu Auschwitz. Die Differenz, ohne die es keine Identität geben kann, wurde selbst für böse erachtet.
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DIE ZEIT
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Nicht mehr lange. Die Währung war uns Ersatz für nationale Identität. In einem Jahr ist es aus mit ihr
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"Aberglaube",
"Courage",
"D-Mark",
"DDR",
"Droge",
"Erotik",
"Inflation",
"Kur",
"Währung",
"England"
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Haste_mal_'ne_Mark_
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Mehr Konsum als Kultur?
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Die großen Herbst- und Winterauktionen sind gerade vorüber, da glitzern am Horizont schon die Versteigerungen von Schmuck und Juwelen, die neben Impressionisten und teuren Möbeln zu den umsatzstärksten Bereichen gehören. Bis Februar aber ist zunächst Pause im Betrieb, und es darf in Ruhe der Frage nachgegangen werden, wohin sich der Kunstmarkt an der Schwelle zum nächsten Millennium bewegt ob er am Ende seine ästhetische Instanz an die Luxusgüterindustrie abgibt. Mit diesen und anderen Thesen setzt sich das gerade erschienene Buch des Kunstmarkt-Experten Christian Herchenröder auseinander (Kunstmärkte im Wandel, Verlag Wirtschaft und Finanzen, 68,- DM). Es gibt nicht viele Bücher, die dem Außenstehenden Durchblick in den zunehmend von Verflechtungen und Fusionen gezeichneten Kunstmarkt vermitteln. Er ist zwar mit seinem Volumen von schätzungsweise 15 Milliarden Dollar im Jahr 1999 weltweit winzig im Vergleich mit Branchen wie der Automobilindustrie, aber mit einer unvergleichlichen Aura versehen. Doch scheint sie zunehmend mit Lifestyle und Konsum verwechselt zu werden. Die Sammler werden von den großen Auktionshäusern nicht nur mit opulenten Katalogen umworben. In den mehrfach im Jahr erscheinenden Hochglanzmagazinen wird das Kulturgut zwischen Werbung von Luxusmarken und Gesellschaftsklatsch angeboten. als gehöre jeder Kunde in den erlauchten Kreis der Berühmten und Reichen, stehe sozusagen auf Du und Du mit Paul McCartney, Claudia Schiffer oder Prinz Charles. Und kein Wunder: Phillips gehört seit Ende 1999 der französischen Luxuswarengruppe LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy) und Christie's dem französischen Wirtschaftsmagnaten und Sammler François Pinault. Allerdings war es die Aktiengesellschaft Sotheby's, die den Event- und Lifestyle-Rummel ins Rollen gebracht hatte. Hinter der Hand geben die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Häuser zu, diesen Boom sogar eher peinlich zu finden, weil sich ernsthafte Sammler von dem Konsum-Gehabe zunehmend abgestoßen fühlen und ihr Rückzug zu befürchten sei. Auf viele solche Auswüchse verweist der Autor in seiner Analyse des vergangenen Jahrzehnts, das nach dem ungeheuren Boom der achtziger Jahre über sieben magere Jahre hinweg zu dem "ökonomisch regenerierten Markt" von heute führte. Er weiß, worüber er schreibt: Seit dreißig Jahren verfolgt Christian Herchenröder für das Düsseldorfer Handelsblatt das Geschehen auf Kunstmessen und Auktionen zwischen New York, London und Paris auch das hinter den Kulissen. Sachlich, kenntnisreich, ohne Schnörkel und Sensationsgehabe, mit vielen Hintergrund-Informationen und Zahlen schlägt er ein paar Schneisen in das unwegsame Kunstmarktgelände. Manchmal wünschte man sich aber, er wäre mit seinem großen Hintergrundwissen nicht immer ganz so diskret umgegangen.
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DIE ZEIT
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Wohin sich der Kunstmarkt entwickelt: Christian Herchenröders skeptische Bilanz
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"Paul McCartney",
"Claudia Schiffer",
"Elton John",
"Karl Lagerfeld",
"LVMH",
"USA",
"Europa",
"London",
"New York",
"Paris"
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Mehr_Konsum_als_Kultur_
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Mit Volldampf ins Nirwana
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Im Herbst fielen die Zustimmungswerte des japanischen Premierministers Yoshiro Mori unter 20 Prozent. Da war sich die politische Klasse in Tokyo einig, dass der Regierungschef den Winter im Amt nicht überleben würde. Doch siehe da: Es ist kurz vor Neujahr, und Mori steht einem neuen Kabinett vor, das am vergangenen Sonntag den Haushalt 2001 für das am 1. April beginnende Geschäftsjahr verabschiedete. So dampft die Wirtschaftslokomotive Japan, die vor zehn Jahren noch die ganze Welt vor sich herschob, weiter mit Volldampf ins Nirwana. Mit jedem Tag rückt das Niemandsland näher, in dem der Staat nicht mehr handlungsfähig sein wird - mit jedem Tag, an dem die Börsenkurse weiter sinken, mehr Firmen ihren Bankrott anmelden, die Banken neue Kreditlöcher stopfen und der Staat den Schuldenberg weiter auftürmt, der längst höher ragt als jeder andere dieser Welt. Ein "System der Verantwortungslosigkeit" hatte der große japanische Philosoph Masao Maruyama einst den japanischen Militarismus im Zweiten Weltkrieg genannt. Ein solches System, in dem niemand die Kosten für die Zukunft benennt, keiner dem Leben über die eigenen Verhältnisse Einhalt gebietet, scheint das Kaiserreich heute erneut zu beherrschen. Keiner verkörpert das System besser als ein 81-jähriger Mann. Kiichi Miyazawa war schon Anfang der fünfziger Jahre bei der Unterzeichnung des amerikanisch-japanischen Friedensvertrages dabei, diente in den Siebzigern als Finanzminister und Anfang der Neunziger als Premierminister. Damals sanken seine Zustimmungswerte unter zehn Prozent. Doch heute macht Miyazawa, vor zwei Jahren erneut zum Finanzminister gekürt, munter weiter - gemäß dem Motto: "Nach uns die Sintflut." Früher galt es in Japan als Pflicht der Alten, den Jungen reinen Wein einzuschenken. Damit begründete man ein in Politik und Wirtschaft bis heute fortbestehendes Senioritätsprinzip. Doch der Greis Miyazawa predigt dem Land auch zu diesem Neujahrsfest unablässige Verschwendungssucht. "Wir werden zukünftigen Generationen hohe Schulden hinterlassen", erklärte der Minister seinen neuen Haushaltsentwurf, der dem alten aufs Haar glich. "Aber wir können unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedingungen noch keine Reform der Fiskalpolitik starten." Wie soll das weitergehen? Die Börse nähert sich ihrem Tiefststand seit der Rezession der neunziger Jahre. Der Konsum umfasst 60 Prozent des zweithöchsten Bruttosozialprodukts der Welt - wie soll er in der Überflussgesellschaft, die das übervölkerte Japan prägt, weiter steigen und die Wirtschaft aus dem Tal holen? Ökonomen verzweifeln an den hohen Sparraten der Japaner, die der Wirtschaft nicht zugute kommen. Doch wofür das viele Geld ausgeben? Nur der Staat weiß immer, wofür er Milliarden zum Fenster hinauswerfen kann: noch ein Superschnellzug in die hinterste Provinz, noch eine Flughafenerweiterung, noch ein Brückenbau. Für all das sind im Haushalt 2001 erneut die Mittel vorgesehen. Damit die regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) auch die Oberhauswahlen im nächsten Sommer übersteht, muss die unproduktive Bauindustrie weiter gepeppelt werden, die ein Zehntel der arbeitenden Bevölkerung ernährt. So einfach ist die Rechnung fürs neue Jahr. Die weitere Zukunft klammert sie in voller Verantwortungslosigkeit aus. Schon errechnen ausländische Experten den Zeitpunkt, an dem der Lokomotive im Nirwana der Dampf ausgeht. Für das Jahr 2005 prognostiziert David Asher vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) Japans Staatsbankrott. Im Jahr 2015 sieht eine neue Studie des amerikanischen Geheimdienstes CIA das Land mit dem Bruttosozialprodukt hinter China zurückfallen. "Tokyo hat bisher nicht den Willen gezeigt, die nötigen schmerzhaften wirtschaftlichen Reformen durchzusetzen, die den Niedergang seiner Führungsrolle in Asien stoppen könnten", konstatiert der Bericht des National Intelligence Council in Washington trocken.
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DIE ZEIT
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Japan kommt nicht aus der Krise heraus
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"Kiichi Miyazawa",
"Japan",
"Bauindustrie",
"Brückenbau",
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Mit_Volldampf_ins_Nirwana/komplettansicht
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Reformer ohne Plan
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Wetten, dass ...? Wetten, dass spätestens am Neujahrsmorgen eine unsägliche Debatte von neuem anheben wird? Zwar ist der "Brotpreis der Moderne", wie der Benzinpreis gerne genannt wird, ordentlich gesunken Benzin und Diesel sind wieder fast so billig wie zu Beginn des Jahres 2000, bevor die Wut über die Spritkosten im Land grassierte. Doch was der erstarkende Euro, der in Europa milde Frühwinter und die sinkenden Rohölnotierungen den Verbrauchern jüngst an Segnungen bescherten, wird Finanzminister Hans Eichel in wenigen Tagen wieder einkassieren: Auf seine Rechnung werden die Tankwarte den Autofahrern dann rund sieben Pfennig mehr pro Liter abnehmen - die Ökosteuer, Stufe drei, wird gezündet. Höhere Preise zahlen Verbraucher höchst ungern. Und weil der ADAC sowie Bild & Co. die Autofahrer ohnehin vom Fiskus allzu arg geschröpft sehen, wäre die parlamentarische Opposition mit Dummheit geschlagen, würde sie die Gunst der Stunde nicht nutzen, um Rot-Grün erneut in die Enge zu treiben. Wenn der von der Union mitverschuldete Rinderwahn nicht sämtliche anderen Umwelt- und Verbraucherthemen verdrängt, könnte die Truppe um die CDU-Chefin Angela Merkel die rot-grüne Regierung tatsächlich an einem wunden Punkt treffen. Denn was unter der Regentschaft Gerhard Schröders bisher energiepolitisch auf den Weg gebracht wurde, ist Stückwerk geblieben zu einem ansehnlichen Mosaik fügt es sich keineswegs. Was vor allem fehlt, ist ein langfristiger Plan für die Energiepolitik. Wirtschaftpolitik hat es mit Knappheiten zu tun. Das gilt auch für diesen Bereich. Deshalb muss der geplante Umgang mit Knappheiten im Zentrum des längst überfälligen Energieprogramms stehen. Knapp sind aber nicht in erster Linie die Ressourcen, Kohle oder Öl beispielsweise begrenzt ist vor allem die Aufnahmefähigkeit der Umwelt für die bei der Energienutzung entstehenden Überbleibsel, namentlich für klimaschädliches Kohlendioxid (CO2). Die Energiepolitik braucht deshalb eine ökologisch überzeugende Ausrichtung. Ohne eine solche Vorsorgestrategie drohen Überraschungen, wenn nicht gar Katastrophen.
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DIE ZEIT
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Die rot-grüne Energiepolitik ist bisher Stückwerk geblieben - ihr fehlt die langfristige Perspektive
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"Angela Merkel",
"Hans Eichel",
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"Werner Müller",
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"Energiepolitik",
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"Europa"
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Reformer_ohne_Plan/komplettansicht
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Schwein, patriotisch
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Was ein guter Deutscher ist - pflegte mein Großvater zu sagen -, der klettert wenigstens einmal im Jahr auf den Bismarckturm. Was ein Bismarckturm ist, liebe Kinder, könnt ihr nicht wissen, weil der Jauch im Fernsehen nicht danach fragt. Einen Bismarckturm gab es früher in jeder Stadt. Das war ein gemauerter, runder Turm ohne Fahrstuhl, auf den einmal im Jahr die Schulklassen der Unterstufe hinaufgejagt wurden, damit sie gute Deutsche würden und einen Rundblick auf die Heimat werfen konnten. (Wer Bismarck war, kriegen wir ein anderes Mal.) Auch in der Gastronomie gibt es so etwas wie Bismarcktürme. Das Hofbräuhaus in München ist ein Bismarckturm, weil wer sich dort hinhockt und etwas bestellt, sofort ein guter Bayer wird. (Nur ein besoffener Bayer ist ein guter Bayer!) Ein anderer Bismarckturm steht in Zürich. Er heißt Kronenhalle und unterscheidet sich vom Hofbräuhaus dadurch, dass wer dort isst, ein guter Schweizer wird, auch ohne Bier aus Literkrügen. Einmal im Jahr will ich unter guten Schweizern sein und gehe in die Kronenhalle. Vorher überfalle ich eine Bank, von denen es in Zürich viele gibt, damit ich die Rechnung in der Kronenhalle bezahlen kann. Dort kostet ein kleines Gläschen Weißwein nämlich mehr als ein großer Krug voll Bier im Hofbräuhaus, ohne dass man den Göttertropfen loben möchte. Die guten Schweizer müssen alle Bankräuber sein, denn die Preise in der Kronenhalle sind ihnen offensichtlich egal. Die Kneipe ist mittags und abends rappelvoll. Kneipe ist nicht das richtige Wort, weil ja auch die Brasserie Lipp in Paris keine Kneipe ist, sondern eher ein Pariser Bismarckturm. Ihr gleicht die Kronenhalle sehr, wenn man die gesellschaftlichen und gastronomischen Zustände vergleicht, die dort herrschen. In beiden Küchen wird nur das Allernötigste getan, um den Notarzt draußen zu halten. In beiden Etablissements zahlt man für einen Kartoffelsalat so viel wie woanders für ein Trüffelomelette. Hier wie dort sitzen die guten Patrioten mit Vorliebe und die Touristen mit Verwunderung. Sie wundern sich, dass die berühmten Autoren, die bekannten Politiker, die Verleger und Künstler so aussehen, wie sie aussehen, und niemand sich übers Essen beschwert. Und beide Brasserien sind ein so typischer und unverwechselbarer Bestandteil der Stadt, dass diese nachhaltig beschädigt würde, wenn es diese Adressen plötzlich nicht mehr gäbe. Das Geheimnisvolle an der Kronenhalle in Zürich ist ihre Beliebtheit bei Jung und Alt. Wie gesagt: Die Küche ist schlecht, die Weine taugen auch nicht viel, die Preise sind zu hoch, und einen freien Tisch zu bekommen ist kaum leichter als die Besteigung eines Bismarckturms. Es kann also nur die patriotische Erfüllung sein, die die Schweizer in der Kronenhalle finden und die sie dorthin treibt. Manche Leute behaupten, es seien die Bilder. Tatsächlich hängen an den Wänden ein paar Prachtschinken der modernen Malerei. Aber ihnen geht es wie den Haaren auf meinem Kopf: Sie werden von Jahr zu Jahr weniger.
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DIE ZEIT
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Einmal im Jahr überfällt unser Kolumnist eine Bank, leistet sich einen zähen Schweinebraten mit unpassenden Beilagen und denkt viel über Bismarck nach. Kurz: Er besucht die Kronenhalle in Zürich
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"Irland",
"Schweiz",
"Isar",
"Paris"
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Schwein_patriotisch/komplettansicht
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Sittenbild mit Sitte
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Zwei Jahre lang wurde in Nürnberg die Ausstellung vorbereitet. In sechs Monaten, zum 80. Geburtstag des Künstlers, sollte die Eröffnung sein. Der Katalog stand vor der Drucklegung, die Geheimhaltung schien perfekt. Aber jetzt, in allerletzter Minute sozusagen, ist der schmutzige Plan doch aufgeflogen. Der Verwaltungsrat des Germanischen Nationalmuseums hat das Projekt fürs erste gestoppt. Denn dieser Künstler, ein gewisser Willi Sitte, war ein berühmter, man wagt es kaum auszusprechen: Maler der DDR! Er bekannte sich zum Kommunismus, auch nach der Wende noch. Er gehörte sogar, wie dem Verwaltungsrat erst jetzt bekannt wurde, dem ZK der SED an, er war Vorsitzender des Verbandes Bildender Künstler, hat manch dissidentischen Künstler unterdrückt und behindert. Willi Sitte war jener Willi Sitte, den man 1994 mit knapper Not am Einzug in die Berliner Nationalgalerie gehindert hatte. Und nun hätte er fast den Sprung nach Nürnberg geschafft! Da sieht man mal, was kommunistische Sabotage noch immer leistet. Ach! Es ist schwer zu sagen, worüber man sich mehr ärgern und mokieren soll, über die späte Entdeckung der Identität Willi Sittes durch den Nürnberger Verwaltungsrat oder über die infantile Rachsucht, mit der noch immer die sozialistische Kunst der DDR nach den Mustern des Kalten Krieges behandelt wird. Gewiss, es ist Staatskunst was sollte sie auch sonst sein? Aber ist es deswegen unzulässig, sie nicht nur einer politischen, sondern auch einer ästhetischen und kunsthistorischen Betrachtung zugänglich zu machen? Ist Staatskunst immer schlechte Kunst? Die Marktkunst des Westens immer gute Kunst? Was haben unsere politischen Präferenzen einerseits, der moralische Charakter des Künstlers andererseits überhaupt mit dem Rang seiner Kunst zu tun? Zensur ist keine Antwort. Fragen muss man stellen.
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DIE ZEIT
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Nürnberg entdeckt den Antitotalitarismus
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"Willi Sitte",
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"Kunst",
"Künstler",
"Zensur"
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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2000-12-28T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/01/Sittenbild_mit_Sitte
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Die Gene des Geistes
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Die Überwachung ist lückenlos. Den Eingang der Chauvet-Höhle in der französischen Ardèche sichern Stahltüren, Videokameras und Wachpersonal. Penibel regeln innen Klimaanlagen Feuchtigkeit, CO2-Gehalt und die Temperatur der Luft. Sensoren prüfen die Mikrobendichte und warnen vor Pilzsporen. Schon der Schweißdunst und die Bazillenfracht einiger Besuchergruppen könnte beschädigen, was die Fachleute als "Sixtinische Kapelle der Vorzeit" werten: Über 400 Gemälde auf 500 Meter Höhlenwand - Wildpferde, Büffel, Rhinozerosse, Löwen, Mammuts, porträtiert mit vollendeter Maltechnik. Manche sind 32 000 Jahre alt. Tief unter der Erdoberfläche, wohl 20 000 Jahre von der Menschheit vergessen und erst 1994 wiederentdeckt, erstreckt sich dieses einzigartige Zeugnis vom Beginn des menschlichen Geistes. Was befähigte unsere Vorfahren zu diesen Meisterwerken? Schließlich hatte Homo sapiens schon Hunderttausende von Jahren existiert, ohne dass er mehr als primitives Steinwerkzeug - Handäxte, Faustkeile und Schabgerät - hinterlassen hätte. Schlagartig, ohne vorheriges Anzeichen für eine gemächliche Aufwärtsentwicklung, scheinen Technik und Kultur des Menschen in der steinzeitlichen Kulturrevolution vor 40 000 Jahren explodiert zu sein. Als die Maler in der Höhle zum Pinsel griffen, hatte sich der dramatische letzte Akt der Menschwerdung vollzogen, eine Entwicklung, die zunächst Kunst und Handwerk, Sprache, Schrift und Religion entstehen ließ, später die Kultur der Sumerer und Babylonier zum Blühen brachte und schließlich Raumfahrt, Internet und Quantentheorie hervorbrachte. Weder Klimaverschiebungen noch Umweltveränderungen können nach Meinung der Fachleute den Umschwung erklären. "Offenbar verfügte der Mensch plötzlich und in vollem Umfang über alle heutigen Geisteskräfte", sagt der Anthropologe Ian Tattersall vom Museum of Natural History in New York. "Die menschliche Kultur entstand aus dem Nichts." Die Initialzündung für den "Big Bang der Kultur" vermuten die Experten inzwischen im Gehirn selbst. Waren es möglicherweise Veränderungen der Erbanlagen, die das Gehirn des Menschen in der Steinzeit umkrempelten und ihn zum Siegeszug über den Planeten anstachelten? Nun, seit das menschliche Erbgut entziffert in den Datenbanken ruht, hat die Suche nach Erbfaktoren, die dem Aufschwung des Kulturwesens Mensch zugrunde liegen, im Ernst begonnen. Ihr Halblitergehirn ermöglicht Affen ein komplexes Sozialleben
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ZEIT ONLINE
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Was macht den Menschen aus? Antwort suchen Genforscher im Erbgut des Schimpansen.
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"Chromosom",
"Evolution",
"Gehirn",
"Genforschung",
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"Berlin",
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"Colorado"
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2001-01-25T13:00:00+01:00
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2001-01-25T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/05/Die_Gene_des_Geistes/komplettansicht
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Der Karneval des Bösen
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Es scheint, ein unsichtbarer Dramatiker habe sich vorgenommen, ein einziges Thema zweimal zu verarbeiten. Ein Stoff für zwei Stücke. Eine Geschichte doppelt in den Weltenlauf geworfen: als Tragödie und als Komödie. Zwei Deutungen ein und derselben Wirklichkeit. Weinkrämpfe und Lachsalven, einander übertönend. Im Saal 337 des Strafjustizgebäudes Hamburg wird das Stück von der Entführung des Jan Philipp Reemtsma in seinen beiden Fassungen aufgeführt. Hier das stimmlos vorgetragene Martyrium des Opfers, geschildert bis in die subtilste Verästelung der Angst. Dort in lockerem Ton die Schwänke und Anekdoten der Täter, die zeigen, woraus die Kehrseite des Grauens besteht - aus Eseleien, Streitereien, Hanswurstereien. Von Angesicht zu Angesicht sitzen sie nun einander gegenüber in der Stunde, die die Stunde der Gerechtigkeit sein soll. Hier der Entführte, Jan Philipp Reemtsma, der tragische Star. Dort der wahrscheinliche Kopf der Erpresserbande, Thomas Drach, der selbstzufriedene Narr. In der Person Reemtsmas hat ein Opfer in seiner reinsten Form auf der Bank der Nebenklage Platz genommen. Seine fast liturgische Aufarbeitung der eigenen Qual in seinem Buch Im Keller hat die große Öffentlichkeit seinerzeit hineinblicken lassen in den Kosmos der Todesangst. Und sie hat den Autor berühmter gemacht, als sein Geld oder die an ihm verübte Entführung es vermochten. Kaum je wurde das Erleben eines Verbrechens penibler seziert und reflektierter formuliert als in Reemtsmas literarischen Erinnerungen an die 33 Tage seiner Geiselhaft. Reemtsma sucht Gerechtigkeit und gibt sich mit dem Recht zufrieden Darin unterscheidet sich seine Entführung von der anderer Prominenter wie der des Aldi-Erben Theo Albrecht (1971), des Industriellensohns Richard Oetker (1976) oder der Kinder des Drogeriekönigs Anton Schlecker (1987). Die Entführung des Jan Philipp Reemtsma ist die Entführung schlechthin. Weil ein ganzes Land sie - durch Reemtsmas intelligenten Bericht - nacherleben konnte, wuchs ihre Dimension zu nationaler Größe. 33 Tage Geiselhaft, öffentlich gemacht für ein Millionenpublikum. Was folgte, war ein Perspektivwechsel. Ein Land, das sich 25 Jahre lang mit der Resozialisierung von Tätern abgemüht hatte, besann sich jetzt auf die Opfer von Verbrechen. Als deren Schutzpatron gilt seither Jan Philipp Reemtsma. Kein antiliberaler Haudrauf, der auf Rache sinnt, sondern einer, der Gerechtigkeit sucht und weiß, dass er sich mit dem Recht zufrieden geben wird. Aber alles, was Recht ist, soll auch geschehen. Deshalb hat er einen Aufsatz verfasst: Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters - als Problem. Und deshalb sitzt er nun schon im dritten Prozess und fixiert mit Blicken den Letzten seiner Entführer. Keinen Prozesstag in eigener Sache hat der Nebenkläger Reemtsma in all den Jahren bisher versäumt.
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ZEIT ONLINE
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Der Multimillionär Jan Philipp Reemtsma muss mitansehen, wie seine
Entführer das Grauen, das er überlebte, vor Gericht als Possenspiel
inszenieren
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"Friedrich Dürrenmatt",
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"Richard Oetker",
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2001-01-21T13:01:00+01:00
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2001-01-21T13:01:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/05/Karneval-des-Boesen/komplettansicht
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Freiheit für Harry P.
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Keine andere literarische Figur hat Kinder auf der ganzen Welt in den vergangenen Jahren mehr beschäftigt als Harry Potter. Landauf, landab verkleiden sie sich als Hexen und Magier, schnitzen sich Zauberstäbe und schminken einander mit Mutters Lidschatten Harrys Blitznarbe auf die Stirn: Es trat die Kopfgeburt der Autorin Joanne K. Rowling millionenfach ins wahre Leben. Im Internet gibt es unzählige liebevoll gestaltete Harry-Potter-Homepages. Schüler übersetzten um die Wette den vierten Band der Erfolgsreihe, Harry Potter und der Feuerkelch - auch diejenigen, die des Englischen nicht mächtig sind, sollten schneller, als der deutsche Verlag es schaffte, erfahren, wie es mit Harry weiterging. Diese Zeugnisse von Leserliebe und Kreativität, von offenkundiger Freude an ihrer Geschichte müssten ganz im Sinne der Autorin sein. Gleichwohl hat Joanne K. Rowling die Vermarktungsrechte für Harry Potter dem amerikanischen Unternehmen Warner Bros., einer Konzerngesellschaft von AOL/Time Warner, verkauft. Es war, als hätten Kinderträume plötzlich einen Preisstempel erhalten. Der internationale Lizenzgeber für Harry Potter geht inzwischen juristisch gegen Kinder-Homepages vor, als gelte es, gefährliche Konkurrenten aus dem Feld zu drängen: Und tatsächlich gefährdet nichts Marketing-Kampagnen so sehr wie die Eigenwilligkeit von Zielgruppen. Auch die fantasievollen nationalen Umsetzungen der Romanfigur sollen einem Einheitsknaben weichen. Warner Bros. wird in seiner globalisierten Kinderliebe dafür sorgen, dass auf den Markt pünktlich zum Start des Harry-Potter-Films im Herbst Plastikbesen und Drei-D-Figuren aus Giesharz, Gameboy-Editionen und sprechende Spardosen niederprasseln. Und zwar ganz gleich, ob man damit spielen kann oder nicht.
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ZEIT ONLINE
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Die unendliche Geschichte vom Raub der Fantasie
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"Joanne K. Rowling",
"AOL",
"Friedrich Schiller",
"Harry Potter",
"Pippi Langstrumpf",
"Time Warner",
"Warner Brothers",
"USA"
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2001-03-08T13:00:00+01:00
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2001-03-08T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2001/11/Freiheit_fuer_Harry_P_
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Weltsprache Deutsch
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Mit Festschrift, einer großen Ausstellung in Berlin und, nicht zu vergessen, einer Sonderbriefmarke feiert eine der großen deutschen Kulturinstitutionen in diesen Tagen Geburtstag. Vor 50 Jahren, am 9. August 1951, wurde in München das "Goethe-Institut e.V. zur Fortbildung ausländischer Deutschlehrer" gegründet. Allerdings: Ein bisschen geschummelt ist das Datum schon. Denn die Geschichte oder Vorgeschichte der zu Recht hoch gelobten Einrichtung reicht viel weiter zurück. Schon in den Dreißigern nämlich war ein erstes Goethe-Institut von Franz Thierfelder ins Leben gerufen worden. Thierfelder, 1896 in Deutschbora in Sachsen geboren, promovierter Germanist, promovierter Volkswirt und gelernter Journalist dazu, war seit 1928 Generalsekretär der "Deutschen Akademie" in München das erste Goethe-Institut wurde denn auch 1932 als eine Abteilung innerhalb dieser Akademie gegründet. Doch anders als beim Deutschen Akademischen Austauschdienst, der im vergangenen Jahr seinen 75. Geburtstag feierte, erscheint es tatsächlich ratsam, die Geschichte des Goethe-Instituts auf 50 Jahre zu reduzieren. Denn 1945 hatten die Amerikaner die Deutsche Akademie, und damit auch das Institut, kurzerhand aufgelöst. Und das - vielleicht etwas überstürzt, aber gewiss nicht ganz ohne Grund ... Die "Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums/Deutsche Akademie", wie die offizielle Bezeichnung lautete, war 1923 von Professoren der Münchner Universität, vor allem dem Kirchenhistoriker Georg Pfeilschifter, dem Geopolitiker Karl Haushofer und dem Historiker Hermann Oncken eingerichtet worden. Sie residierte zunächst am Odeonsplatz, von 1932 an im Maximilianeum. Ziel war es, nach dem verlorenen Weltkrieg das kulturelle Selbstbewusstsein der Deutschen wieder zu stärken. Zugleich sollte die Akademie in der internationalen Arena deutsche Kultur propagieren. Keine Kurse für "Untermenschen" Aus dieser doppelten Aufgabe rührte der Zwittercharakter des Vereins mit dem pompösen Namen: Mit seiner "wissenschaftlichen Abteilung" gab er sich als Gelehrtengesellschaft, welche die Deutschen mit ihrem kulturellen Erbe besser vertraut machen wollte. Mit seiner "praktischen Abteilung" hingegen betrieb der Verein Kulturarbeit im Ausland. Um der neuen Einrichtung das nötige Renommé zu verschaffen, stellte man ihr in Anlehnung an die 40 "Unsterblichen" der Pariser Académie Française einen 100-köpfigen Senat zur Seite: angesehene, politisch zumeist nationalkonservative und ausschließlich männliche Vertreter aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Militär. Die anfänglich hochfliegenden Pläne der Gründer der Akademie (die am 5. Mai 1925 offiziell ihre Arbeit aufnahm), diese zur zentralen Organisation der nichtamtlichen auswärtigen Kulturpolitik zu machen, zerschlugen sich rasch.
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ZEIT ONLINE
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Das Goethe-Institut feiert seinen 50. Geburtstag. Doch so ganz stimmt das Datum nicht, denn schon im "Dritten Reich" gab es ein Institut gleichen Namens
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"Joseph Goebbels",
"Goethe-Institut",
"Joachim von Ribbentrop",
"Polen",
"Waffen-SS",
"München",
"Sowjetunion",
"Balkan",
"Bayern",
"Berlin"
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2001-08-09T14:00:00+02:00
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2001-08-09T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2001/33/Weltsprache_Deutsch/komplettansicht
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Wenn die Helfer Hilfe brauchen
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Wohl wieder der alljährliche Christbaumbrand, dachte Michael Kämpfer von der Freiwilligen Feuerwehr Sindlingen, als er am Heiligabend kurz vor Mitternacht ausrücken musste. Doch am Einsatzort gab es keinen Brand zu löschen. In der Kirche des Frankfurter Stadtteils hatte eine 49-jährige Frau zwei Handgranaten gezündet. Wo die weggesprengte Kirchenbank gestanden hatte, lagen nun verstreut die Teile ihrer Leiche. Seit dem Ereignis sind mehr als vier Jahre vergangen. Doch das Bild hat sich Kämpfer für immer eingeprägt. "Ich könnte heute noch jeden Brocken einzeln da hinlegen", sagt der 37-Jährige. Vor der Kirche versuchte Feuerwehrfrau Andrea Schröder eine Frau wiederzubeleben, die in den Blumenbeeten lag. Irgendwann drehte die Helferin das Opfer um - der Rücken der Frau war nur noch ein riesiges, klaffendes Loch. Sie starb. Drei Tote und 16 Verletzte waren die Bilanz der blutigen Weihnacht. Die Erinnerung an solche grausigen Szenen ist gefährlich. Unbetreut tragen zahlreiche Helfer Spätschäden davon. 18 Prozent der deutschen Feuerwehrleute leiden nach einer Untersuchung der Universität Trier von 400 repräsentativ ausgewählten Einsatzleuten an einer posttraumatischen Belastungsstörung, unter den Altgedienten sind es noch mehr. In regelmäßigen Albträumen während der Nacht durchleben sie die grauenvollen Szenen immer wieder von neuem, am Tag suchen die Bilder sie als so genannte Flashbacks heim, gegen die sie sich nicht wehren können. Sie wagen sich nicht mehr in die Nähe des Ortes der Katastrophe, erschrecken bei nichtigen Anlässen, schlafen schlecht und können sich nicht mehr konzentrieren. Fünf Prozent der Polizisten in fünf untersuchten Revieren und sogar 36 Prozent der Rettungsdienstkräfte von zehn untersuchten Wachen haben laut Ergebnissen der Universität Hamburg mit solchen Problemen zu kämpfen. Früher wurde alles verschwiegen Lange Zeit ignorierten die Oberen der Rettungsdienste solche Spätfolgen. Die Männer und Frauen mussten eben irgendwie mit ihren Erlebnissen fertig werden. Nicht einmal im Kollegenkreis unterhielten sie sich über ihre Erfahrungen.
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ZEIT ONLINE
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Nach Katastrophen fällt es den Einsatzkräften oft schwer, den Schrecken seelisch zu verarbeiten. Ein US-Psychologe entwickelte eine Methode, die dabei helfen kann.
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"Deutsche Bahn",
"Universität Köln",
"Verteidigungsministerium",
"Gymnasium",
"Island",
"Kultusministerium",
"Universität Hamburg",
"Australien",
"Jugoslawien",
"München"
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2001-08-09T14:00:00+02:00
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2001-08-09T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2001/33/Wenn_die_Helfer_Hilfe_brauchen/komplettansicht
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Der Tod bei der Arbeit
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Dass das Kino eine Kunst sei, die dem Tod bei der Arbeit zusieht, ist einerseits vollkommen wahr und andererseits eine Phrase, die alles und nichts besagen kann. Wahrscheinlich nicht anders verhält es sich mit dem kleinen Bruder dieses Satzes, der behauptet, das Kino sei eine Kunst, die den Menschen und den Dingen beim Älterwerden zusieht. Sean Penns dritte Regiearbeit aber nimmt diese Möglichkeit, diese Verurteilung des Kinos sehr ernst. Den Anlass dafür, nein, gewiss sehr viel mehr, bildet eine neue Version des Stoffes von Friedrich Dürrenmatt, der als Roman den Titel Das Versprechen trägt. Ursprünglich war im Auftrag des Produzenten Lazar Wechsler eine Erzählung zum Thema Sexualverbrechen an Kindern entstanden, und das Drehbuch, das Dürrenmatt dann für den von Ladislav Vajda inszenierten Film schrieb, der "leider" (so Dürrenmatt) den Titel Es geschah am hellichten Tag bekam, war vor allem als "Warnung" gedacht, ein Stück mutiger Aufklärung im Jahr 1958. Der Film wurde trotz Heinz Rühmann und trotz einer, sagen wir: nicht unproblematischen Psychologisierung des Täters einer der unheimlichsten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Penn überträgt die Geschichte in den Bundesstaat Nevada. Aus Kommissar Matthäi wird Detective Jerry Black (Jack Nicholson), der während seines letzten Diensttages in "jenen Fall verwickelt wird, der ihn plötzlich leidenschaftlich werden ließ". Die Leiche eines kleinen Mädchens wurde im Wald gefunden. Ein Junge hat den vorbestraften Indianer Toby Jay Wadenha (Benicio del Toro) verstört vom Tatort flüchten sehen, so glaubt man schnell, den Schuldigen gefunden zu haben. Schwieriger scheint es, den Eltern die traurige Mitteilung vom Tod ihres Kindes zu überbringen. Da gelingt Penn ein furchtbar genaues Bild, das zeigt, wie er die Möglichkeiten seines Stoffes und seine eigenen Erzählabsichten miteinander zu verbinden weiß. Jerry trifft die Mutter auf ihrer Truthahnfarm. Mitten im Lärm der aufgeregten Tiere muss Nicholson seine Nachricht überbringen. Da fasst der Regisseur mit einer Art finsterer Zärtlichkeit vieles zusammen, das hart arbeitende Amerika der Provinz, Lautstärke und Gestank, die verhärmten Gesichter des Ehepaars, das Leid, das Menschen treffen kann. Man versteht in diesem einen Bild eine Kultur, in der nur die Familie, die Arbeit und eine trostarme Form der Bigotterie existieren. Jerry gibt ein Versprechen ab, ein Versprechen, das der Polizist vielleicht nicht nur diesen beiden verzweifelten Menschen gibt, sondern auch vielem, was hinter ihnen liegt. "Bei meinem Seelenheil verspreche ich, Jennys Mörder zu finden." Es ist ein Versprechen, von dem er erst nach und nach begreift, dass es größer ist als er selbst. An die Schuld des Indianers glaubt er nicht. Jerry strengt eigene Ermittlungen an und kommt durch alte Zeichnungen des Opfers auf eine Spur. Er mietet eine heruntergekommene Tankstelle, nimmt Lori (Robin Wright Penn) und ihre kleine Tochter Chrissy auf, die ihm zum Lockvogel für den Mörder wird. Der Plot ist so klar, dass wir uns auf die Bilder und die Menschen einlassen können. Das Ende aber kommt, obwohl Penn uns darauf vorbereitet, selbst dann wie ein Schock, wenn man aus dem Roman weiß, dass die Sache nicht so ausgehen kann wie in Es geschah am hellichten Tag.
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ZEIT ONLINE
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Sean Penn verfilmt Dürrenmatts "Versprechen".
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2001-10-11T14:00:00+02:00
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2001-10-11T14:00:00+02:00
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D O K U M E N T A T I O N: Schulbildung in Deutschland
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Am 1. Juli wird veröffentlicht, wie gut die einzelnen Bundesländer in der Bildungsstudie abgeschnitten haben. DIE ZEIT berichtet in loser Folge über Fakten, Argumente und Gerüchte im Vorfeld. Der Pisa-Countdown (4): Bildungspolitik wird zum Wahlkampfthema, alle wollen mitreden. Zwei neue Studien heizen die Debatte weiter an: Wenn Eltern Schule machen Mehr Leistung, Wissen, Disziplin wünschen sich die Deutschen. Nur ändern soll sich nichts Von Ulrich Schnabel Der Pisa-Countdown (3): Mittlerweile 23 Delegationen deutscher Bildungspolitiker haben Finnland einen Besuch abgestattet, um sich zu informieren, wie man die Schulausbildung verbessern kann. Reinhard Kahl berichtet aus Finnland: Finnische Lektionen In Helsinki geben sich deutsche Bildungspolitiker die Klinke in die Hand. Vom Pisa-Sieger lässt sich lernen, wie Schule Spaß macht Der Pisa-Countdown (2): Hochschullehrer Bernd Janssen plädiert für eine Erneuerung der Lehrerausbildung: Raus aus der Uni! Die Lehrerausbildung darf keine Nebensache sein - ein Plädoyer für wissenschaftliche Pädagogische Hochschulen Der Pisa-Countdown (1): Reinhard Kahl berichtet, wie die Verantwortlichen sich und die Öffentlichkeit auf die Veröffentlichung der Rangliste der Bundesländer vorbereiten: Furcht vor der roten Laterne Keiner will der Letzte sein beim ersten innerdeutschen Bildungsranking. Unter Schulpolitikern aller Parteien wächst die Nervosität - Gerüchte heizen die Stimmung auf Nach dem Anschlag von Erfurt wurden auch Fragen danach laut, wie die Schulen mit derartigen Gewaltausbrüchen umgehen können, ob und wie es möglich ist, Alarmsignale bei Schülern rechtzeitig zu bemerken und entsprechend zu reagieren. In einem Interview nahm der Bildungsforscher Wolfgang Edelstein Stellung. Dazu ein Porträt des Forschers von Reinhard Kahl.
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DIE ZEIT
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Nach dem
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2017-06-15T14:23:23+02:00
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3ø48'2"Ost/47ø11'56"Nord
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Nein, nicht Frankfurt am Main ist das Herz des Euro. Tief in Gallien schlägt es, in den blauen Bergen der Bourgogne, dem Morvan. In Montreuillon. Aus Paris kam auch die Nachricht. Im vergangenen Sommer meldete sich das nationale Radio France Inter beim Bürgermeister. Der fiel aus allen Wolken: Ich habe zuerst gedacht, die wollen sich über uns lustig machen. Das war gelinde formuliert. Spätestens seit Molière, der seinen Mägden den Dialekt des Morvan in den Mund legte, gelten in Paris die Burgunder als Trottel. Es war kein Scherz. Am 30. August kam die offizielle Bestätigung: Das geografische Zentrum von Euroland hat die genauen Koordinaten 3ø48'2"Ost/47ø11'56" Nord - offiziell errechnet vom französischen kartografischen Institut géographique national. Das Herz des Euro schlägt mitten im Wald. Im Reich der Rehe - einen Wildkatzensprung nur bis nach Château Chinon, der einstigen Hochburg Mitterrands. Als reichte er postum seinem Euro-Gevatter Kohl nochmals die Hand - in Montreuillon. Die Mitte von Euroland liegt - Ironie der Geschichte - in den Gefilden, die sich im Mittelalter Burgund nannten. Und ausgerechnet in Montreuillon ereignete sich damals das, was bis heute noch ein europäisches Nachspiel hat. In diesem Tal, wo die Route nach Santiago de Compostela auf ihrem Weg zur Loire die Yonne kreuzt, lange bevor diese sich in die Seine ergießt, schlug Ludwig XI. am 20. Juni 1475 Karl den Kühnen, Herzog von Burgund. Auftakt für Jahrhunderte währende Kleinstaaterei in Europa, der erst der Dreißigjährige Krieg ein vorläufiges Ende setzte. Diese Schlacht am Monte Rumillionis besiegelte auch die Einheit dessen, was heute Frankreich ist. Heute nun, wo die Europäische Währungsunion die Frage nach der politischen Struktur Europas aufwirft, wo erneut die Auseinandersetzung zwischen föderalem und zentralstaatlichem Ansatz aufflammt, rückt ausgerechnet Montreuillon wieder in den Mittelpunkt. Sonderbar genug für die 310 Menschen, die hier leben. Denn Montreuillon ist ein Dorf, in dem allenfalls die Kirche auf die lange Geschichte hinweist. Aber die Glocke läutet den Angelus elektrisch, ein Dorfpfarrer existiert schon lange nicht mehr. Den Ton gibt heute die Sirene an, die jeden Samstag um 12 vom Turm des Rettungszentrums aufheult. Das Dorf ist stolz auf seine pompiers - 28 Feuerwehrleute stark, alle freiwillig, darunter ein halbes Dutzend Frauen. Na ja, als sie 1989 ihr neues Rettungszentrum einweihten, tuschelten die Älteren, sie löschten wohl nicht nur Brände und ihren Durst wohl kaum mit Wasser.
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DIE ZEIT
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In den blauen Bergen der Bourgogne liegt die geografische Mitte von Euroland. Zu Besuch in einem kleinen gallischen Dorf, das gerne vielfeiert, nur nicht den Euro
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2001-12-27T13:00:00+01:00
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7 Tage mit Jürgen Laarmann
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Weil ich als Nightlife-Kolumnist arbeite, erwarten alle, dass Silvester für mich die Nacht des Jahres ist, und jeder ruft an, was ich mache. Keine Ahnung. Es gibt in Berlin kein zentrales Szene-Event, wo man sich trifft. Jedes Jahr das gleiche Theater mit dem nervigen 12-Uhr-Break mit zwangslustigem Anstoßen, fadenscheinigen Vorsätzen und semi-ergriffenen Umarmungen. Ich mag das Ritual nicht. Mir ist egal, neben wem ich zum Jahresgong stehe. Die Tage zwischen den Jahren dagegen mag ich sehr: Alles ist relativ ruhig, man kann erledigen, wofür vorher die Zeit fehlte. Am DONNERSTAG gehe ich morgens ins Redaktionsbüro und scanne die Presse, die Newsserver, die Jahresendausgaben von allen Zeitschriften. Eine Idee finde ich nur dann gut, wenn sie nicht schon woanders steht - von daher muss man Bescheid wissen. Mittags treffe ich die Designerin Susanne Deeken, eine alte Freundin, die auf Weihnachts-Berlin-Besuch ist. Sie lebt in London, arbeitet in Paris und New York. Es ist immer eine Freude, Menschen zu treffen, die Berlin von einem internationalen Standpunkt aus beurteilen können. Hat Berlin zu den großen Metropolen aufgeschlossen? Oder bilden wir uns das nur ständig ein? Eine ehrliche Meinung hilft in diesem Fall mehr als Höflichkeit. Abends zeige ich ihr vielleicht das Cookies, clubmäßig der place to be. Manche fragen, ob ich immer an meine nächsten Kolumnen oder Texte denke und ob das Ausgehen für mich dann Arbeit sei. Ich sehe das anders. Arbeitszeit ist für mich nicht unangenehmer als Freizeit. Wenn man am nächsten Tag über etwas, das man erlebt oder erfahren hat, schreiben kann, ist es doppelt schön. Andererseits laufe ich nicht wie Rainald Goetz mit einem Blöckchen rum und schreibe immer jedes Zitat und jede Idee auf. Auch laufe ich nicht am Abend mit Palmtops oder Communicators herum. So toll diese Geräte sind, so doof sieht es aus, wenn man damit in Restaurants oder Discos hantiert. Wenn überhaupt, gibt's für mich nur die bewährte Telefonnummer-auf-Bierdeckel-Schreibmethode. Der FREITAG ist Aufräumtag im Büro, die Jahresendbereinigung steht an. Wir verschicken Belegexemplare, der Systemadministrator überprüft die Rechner, wir haben einen Termin beim Steuerberater. Mein Bruder checkt die Quittungen. Am Nachmittag machen wir eine Jahresabschlussbesprechung mit den freien Mitarbeitern und gehen dann essen. Wir probieren gerne neue Restaurants aus. Diesmal das Crowns, englische Küche - why not?
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DIE ZEIT
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2001-12-27T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/01/7_Tage_mit_Juergen_Laarmann/komplettansicht
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Berlin? Dann doch lieber Amerika
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Sie haben leider Recht mit der Feststellung, "wie vergleichsweise klein die Zahl derer ist, die wie Richard von Weizsäcker angesichts der rot-roten Annäherung zu ,Respekt vor den Wählern' raten". Ich bin weder Mitglied noch Sympathisant der PDS, aber ich frage mich, welches Demokratieverständnis einige Protagonisten auf der politischen Bühne haben, das ihnen erlaubt, ein Wählervotum von 22,6 Prozent zu ignorieren und einer demokratisch gewählten Partei, die dem Grundgesetz verpflichtet ist, die Mitwirkung an politischer Gestaltung zu versagen. Die Berliner Demokraten sollten die Chance nutzen, die politische Realität anzuerkennen und unsere Hauptstadt zum Symbol der Wiedervereinigung zu machen, die bis heute nicht wirklich vollzogen ist. Dr. Helmut Viemann, per E-Mail Rot-Rot ist doch nun wirklich keine Notlösung. Die Ampelkoalition wäre das wohl eher gewesen. Ich will nur hoffen, dass die PDS nicht den gleichen Fehler begeht wie zurzeit die Grünen: Machterhalt um den Preis der eigenen Glaubwürdigkeit. M. Kaßube, Berlin Der Hauptstadt der Bundesrepublik kann nichts Schlechteres passieren als diese rot-rote Koalition. Man dachte, aus der Geschichte lernen zu können. Wehret den Anfängen. Gysi ist scheinheilig, was man daran sieht, dass er die Überwachung der Kommunistischen Plattform durch den Verfassungsschutz unterbinden will. Schade für die Stadt, schade für unser Land. Christian Bock, per E-Mail
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DIE ZEIT
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Werner A. Perger: "Guten Appetit, Klaus!", ZEIT Nr. 51
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2001-12-27T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/01/Berlin_Dann_doch_lieber_Amerika
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Berlin, Economy-Class (26)
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KADEWE: Die sechste Etage dieses Jumbo-Kaufhauses birgt die wohl größte Auswahl an Delikatessen und Studentenfutter, die man in Europa findet. Vom ordinären Wurstsalat bis zur frischen Gänsestopfleber, von Sushi und Sashimi, die ein japanischer Koch routiniert zubereitet, bis zu Kohlrouladen, Kaviar und Käsesandwiches kann der hungrige oder genussgeile Kunde alles verkasematuckeln, wonach ihm der Sinn steht. Die Austerntheke gehört zu meinen Lieblingsplätzen, denn wer dort zwischen Creuse-, Limfjord- und Loch-Fyne-Austern zu unterscheiden weiß, kann kein ganz schlechter Mensch sein, auch wenn er als Getränk oft genug 'ne Witwe bestellt. Es ist eben die große Welt, die sich hier trifft. Schon allein der frisch geräucherte Aal für 14,75 e, der zusammen mit Spargelsalat aus der Dose, zwei Wachteleiern, rot-grüner und kalter Gemüsekoalition, Apfelmeerrettich sowie Schwarzbrot und Butter serviert wird, allein diese seltene und kompakte Delikatesse ist einen Umweg durch das Labyrinth der Edelkonserven wert. Aber eine halbe Portion genügt völlig, andernfalls wird ein Linie Aquavit für 3,25 e fällig! Nach den Austern wäre ein Besuch bei den Antipasti eine Steigerung, weil man sich hier den ganzen mediterranen Kleinkram auf den Teller packen lassen kann, was möglicherweise heute unter den Begriff Downloaden fällt. Nur einen Abstecher in die Weinabteilung sollte man sich verkneifen, weil dort alle Flaschen herumstehen, die man zu gern im eigenen Keller hätte, aber nicht bezahlen kann. Auch im Schlaraffenland gibt es Türen, auf denen geschrieben steht: Nur für Besserverdienende! KaDeWe, Tauentzienstraße 21-24, 6. Etage, Schöneberg
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Berlin, Economy-Class (26)“.
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https://www.zeit.de/2002/01/Berlin_Economy-Class_26_
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Der Weg in die Normalität
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Dachten wir nicht, auch der Schreiber dieser Zeilen, wir wüssten so ziemlich alles über den großen Mann der deutschen Sozialdemokratie, das zu wissen sich lohnt? Eine fromme Täuschung. Der siebte Band der so genannten Berliner Ausgabe von Willy Brandts schriftlicher Hinterlassenschaft steckt auch manchem der Weggefährten des Kanzlers dieses und jenes Licht über die Jahre 1966 bis 1974 auf: die Übergangsphase der Großen Koalition, in der Brandt das Amt des Außenministers und Vizekanzlers versah, und die Epoche seiner Kanzlerschaft, die im Mai 1974 durch seinen Rücktritt jäh zu Ende kam. Eine knappe Frist von viereinhalb Jahren, die dennoch die Bundesrepublik so tief geprägt haben wie vor ihr nur die lange Regentschaft Konrad Adenauers und danach, dank der europäischen Fortschritte und der Wiedervereinigung, das Regime Helmut Kohls, das sich freilich zugleich als eine dumpfe Ära geistiger und moralischer Auszehrung dahingeschleppt hat. Einige der Überraschungen bei der Lektüre von Brandts Reden, Interviews und Aufzeichnungen mögen sich aus unserer Vergesslichkeit, vielleicht auch aus merkwürdigen Verdrängungen erklären. Wohl erinnern wir uns mit Unbehagen an die so stürmisch umkämpften Notstandsgesetze, die von der Großen Koalition verabschiedet wurden. Aber erst durch die Bundestagsrede des Außenministers Brandt am 30. Mai 1968 wird uns ins Gedächtnis gerückt, was den jüngeren Zeitgenossen ohnedies niemals deutlich wurde: dass die Vorbehaltsrechte der einstigen Besatzungsmächte den Kommandeuren der alliierten Truppen "in einem Notstandsfall einen fast unbegrenzten Handlungsspielraum" gewährten. Die Siegermächte aber hätten der Bundesregierung das Recht übertragen können, "den Ausnahmezustand über das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu verhängen ..., ohne die durch unsere Verfassung gesetzten Grenzen beachten zu müssen". Mit anderen Worten: Der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokraten warb für die Notstandsgesetze, um einen Zustand der Rechtlosigkeit zu beenden und ein Kernelement der staatlichen Souveränität zurückzugewinnen. Die Motive für seine Zustimmung zum so genannten Radikalenerlass waren dieser Argumentation verwandt: Brandt wollte die Willkür im Umgang mit den vermeintlichen oder tatsächlichen Feinden der Demokratie durch gemeinsame Richtlinien des Bundes und der Länder eindämmen. In einem "Hintergrund-Gespräch" mit Bonner Journalisten am 6. August 1973 bemerkte er dazu freilich auch mit einer schönen Portion Sarkasmus, es gebe kein im Grundgesetz verbrieftes Recht, dass ein DKP-Mitglied als Richter amtieren könne Rechtsanwalt sei ja auch ein schöner Beruf. Allerdings stellte er rasch genug fest, dass der Wille zur fairen und generösen Regelung des stachligen Problems von bürokratischer Kleingeisterei überwuchert wurde - eine Einsicht, der er durch die Revision seiner einstigen Entscheidung gerecht zu werden versuchte. Fairness war in der Tat eines der bestimmenden Elemente seines Wesens: Siehe den Brief an Eugen Gerstenmaier, wenige Tage nach dem Rücktritt des Bundestagspräsidenten geschrieben. Zwar weist er darauf hin, dass der starrsinnige Schwabe "bei mehr als einer Gelegenheit schlecht beraten" gewesen sei, doch vor allem wolle er ihn wissen lassen, "dass sich an meiner Wertschätzung dessen, was Sie gegen Hitler und für Deutschland ... und im Dienst an unserer Bundesrepublik geleistet haben, nichts geändert hat". Die Mahnung an die Partei, Kurt-Georg Kiesingers trübes Mitläufertum im "Dritten Reich" nicht als Wahlkampfmunition zu nutzen, war nicht nur von nüchterner Taktik, sondern von der Scheu vor persönlichen Verletzungen diktiert, wie sie Willy Brandt nahezu täglich zu ertragen hatte. Es fragt sich freilich, ob solche Noblesse in der "Berliner Republik" noch existent ist. Und wer auf der Regierungsbank, unter den Abgeordneten der Koalition und der Opposition wäre fähig, ein so hoch differenziertes Gespräch über die Linien der Geschichte (nicht nur der politischen) zu führen, wie es der geistreiche Deutsch-Franzose Joseph Rovan und Brandt im Sommer 1973 miteinander zuwege brachten? Auch das ist rar geworden: Brandts Bereitschaft, sich selber, seinen Freunden, seinen Feinden die eigenen Schwächen und Irrtümer einzugestehen.
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DIE ZEIT
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Glanz und Schatten über der Bonner Republik: Eine Wiederbegegnung mit Willy Brandt vor und während seiner Kanzlerschaft
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Deutsche Entwicklungen 2001 POLITIK
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Mit diesem Foto beginnt jede meiner vielen hundert Fotodateien des Jahres. Aus irgendeinem Grund, einem technischen, kann ich es nicht löschen. Immer wieder: GREGOR GYSI, auf seinen Büchern sitzend Egal wo man hinkam, die anderen Kameras waren meist schon da Viele Ostdeutsche werden diesen Text nie vergessen. UDO LINDENBERG selbst offenbar schon: zur Sicherheit beim Auftritt ein Teleprompter Kann man die Phrase des Jahres auch in eine Wegbeschreibung zum Berliner CAFÉ EINSTEIN/OST einbauen? Aber ja: Seit dem 11. September ist das Einstein nicht mehr von der Neustädtischen Kirchstraße aus zu erreichen, die wegen Botschaftsnähe gesperrt ist MAINHARDT GRAF NAYHAUSS weiß ziemlich viel über deutsche Politiker. Er schreibt in Bild die Kolumne Berlin vertraulich Das Kind eines Berliner Restaurantbesitzers krabbelte unter dem Tisch herum, an dem JOSCHKA FISCHER saß, als er von Parteimitgliedern mit einem Farbbeutel beworfen wurde. Nun: Rahmen, Glaskasten, Restaurantattraktion. Zu lesen wars, vertraulich, bei Nayhauss.
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DIE ZEIT
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Geistiger Wegbereiter
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Da übernimmt ein junger Historiker, Ingo Haar, die Datierung einer Rundfunkrede von Hans Rothfels aus dem Bundesarchiv Koblenz, nach der sie im Jahre 1933 gehalten worden sei, und der Berliner Ordinarius Heinrich August Winkler findet heraus, dass die Rede schon im Januar 1930 ausgestrahlt worden war. Im Grunde geht es aber nicht um eine umstrittene Datierung der Rede, sondern um Denken und Wirken des Redners in den dreißiger Jahren. Haar hatte Rothfels als führenden Vertreter eines "Volkstumskampfs im Osten" dargestellt. Der 1891 geborene Rothfels, hoch dekorierter Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, hatte in Königsberg einen Kreis von Schülern um sich versammelt, die einen völkischen Ansatz der Geschichtswissenschaft vertraten und auf dieser Basis für den Volkstumskampf eintraten. Rothfels' Position lässt sich durch reiches Quellenmaterial einwandfrei belegen. So betonte er auf dem Göttinger Historikertag 1932, dass die Gründung des polnischen Nationalstaats auf einer lebensfremden Doktrin beruhe, ein, so Haar, deutliches Plädoyer für die Zerschlagung des polnischen Staates. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Rothfels mit solchen Vorstellungen, die er auch nach 1933 vertrat, die nationalsozialistische Eroberungspolitik geistig mit vorbereitete. Dr. Dieter Schmidt-Sinns Meckenheim
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DIE ZEIT
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ZEITLESE: "Kapitaler Fehler", ZEIT Nr. 50
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"Geschichtswissenschaft",
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Hau'n um!
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Franz Beckenbauer hat es überliefert: Als taktische Einstimmung auf das Match der deutschen Fußballnationalmannschaft soll der frühere Bundestrainer Helmut Schön in der Kabine oft nur einen Satz gesprochen haben: "Geht raus und spielt." Die Mannschaft ging raus, spielte und wurde zwischen 1972 und 1974 zur besten, die die Deutschen je hervorbrachten. Daran hätte sich der Regisseur Peter Ensikat erinnern sollen, als er Thomas Brussigs Fußballtrainer-Monolog Leben bis Männer am Deutschen Theater Berlin inszenierte. Der Helden wie wir-Autor hatte eine präzise, in Passagen fast geniale Vorlage geliefert: einen linientreuen, ballbesessenen ostdeutschen Macho-Melancholiker und seinen Lieblingsschüler Heiko, den kompromisslosen Verteidiger an der Außenlinie von Staat und Spielfeld, dem das Kommando "Hau'n um!" zum Schicksal wird: von der Kindermannschaft, Knaben, Schüler, Junioren - bis "Männer". Dann kommt 1989, der Aufstieg steht an. Und der Mauerschützenprozess. Mit Jörg Gudzuhn als Fußballlehrer hat Ensikat einen Schauspieler, der weiß, wann er den Ball flach halten muss. Nur die Regie hetzt ihn von Kalauer zu Kalauer. Doch, wie man seit Netzer weiß, lassen sich große Spieler vom Trainer nur bedingt beeinflussen. So rettet Gudzuhn eine bereits verloren geglaubte Partie.
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DIE ZEIT
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Logenplätze im Gelände
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Von all den Beifahrern, die während der Testtage im Land Rover zustiegen, muss der 14-jährige Lucas K. als der Kundigste gelten. Bei Autos kennt er sich aus. Nicht nur, dass er auf ein Stichwort hin präzise den Kaufpreis nennt, die Zahl der Zylinder und auch die Beschleunigungswerte memoriert. Das Schöne ist, Lucas K. nähert sich dem Thema vorurteilsfrei. Ohne ideologische Scheuklappen, dafür mit reichlich Begeisterung, das Ergebnis einer frühen Neigung. Kaum auf der Welt kriegten seine Augen schon damals ein Leuchten, wenn er auf Reisen, von seinem Kindersitz aus, einen Mercedes oder BMW erkannte. Dann schürzte er seine Lippen und stieß ein begeistertes da Auttooh hervor. Da Auttooh - die ersten Worte. Großartig. So lernte er sprechen, so legte er sich fest. Auf Jahre. Auf 14 Jahre bis jetzt. Immer im Thema. Was also würde einer wie er sagen, wenn jetzt ein Land Rover Freelander vorübergehend zur Familie stieße? Nobel! Er sagte es so dahin. Kurz hat sein Blick die gedrungene Silhouette des Freelanders gestreift, seine Hand den grobstolligen Ersatzreifen an der Hecktür berührt. Dann legte er sich wieder fest: Geile Karre. Punkt. Wie diese jungen Leute so sind. Ganz anders als Erwachsene jedenfalls, die es gelernt haben, die Dinge zu wägen. Und wenn sie damit endlich fertig sind, fällen sie ihr Urteil. Was ja ganz vernünftig sein kann, im Falle eines Geländewagens jedoch überhaupt nicht weiterbringt. Wer zum ersten Kennenlernen einen wie den Freelander im fahlen Licht einer norddeutschen Laterne umschreitet, der sollte besser alles vergessen: Die urbane Wirklichkeit einer Großstadt wie Hamburg zum Beispiel, wo die Straßen mehrheitlich aus Asphalt und Beton bestehen. Wo es kaum Kiesgruben und Steinbrüche gibt auf dem Weg zur Arbeit, auch keine Berge, allenfalls von militanten Wandervögeln bewachte Forste draußen am Rande der Stadt. Warum also einen Geländewagen? Es gibt ernst zu nehmende Zahlen, nach denen gut 98 Prozent der so genannten SUV, der Sport Utility Vehicles, in ihrem ganzen Leben nicht für eine Sekunde Bekanntschaft machen mit Geröll oder Schlamm. Stattdessen sitzen die Fahrer in ihrem SUV und bewältigen Jungfernstieg oder Leopoldstraße mit permanentem Allrad. Warum? Darum! Wer sich auf den Land Rover ganz einlassen will, wird sich zunächst mit der Bedienungsanleitung des Fahrzeuges gewissenhaft vertraut machen. Und was er findet, auf Seite 129, ist das lesenswerte Kapitel Fahren im Gelände: Gehen Sie KEINE unnötigen Risiken ein, und seien Sie immer auf das Schlimmste gefasst. Selten genug, in durchnormierter Zeit einmal eine solche Ansprache zu erleben. Schnörkellos.
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ZEIT ONLINE
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Hier finden Sie Informationen zu dem Thema „Land Rover Freelander TD4“. Lesen Sie jetzt „Logenplätze im Gelände“.
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https://www.zeit.de/2002/04/Logenplaetze_im_Gelaende/komplettansicht
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Waidmanns Unheil
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Unter Jägersleuten ist es kein Geheimnis, dass die Pirsch gefährlich sein kann, auch für den Menschen. Wenn diese Woche in Düsseldorf die Messe Jagd & Hund das Ende des Jagdjahres einläutet, sind wieder vier bis fünf Jäger im Feuer geblieben, und um die 800 Menschen wurden verletzt, zum Teil schwer. Den letzten, einen Rechtsanwalt und Notar, erwischte es Mitte Januar bei einer Treibjagd in der Nähe von Limburg. Wie es dazu kam, dass einer seiner 20 Jagdfreunde den Hobbyjäger am hellichten Mittag mit einer Kugel niederstreckte, ermittelt nun die Polizei. Die menschlichen Verluste lagen auch diesmal im gewohnten Rahmen: Drei bis acht tödliche Jagdunfälle erfassen die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften pro Jahr - die Jagdverbände führen tunlichst keine Statistiken über Ungeschick und Ableben ihrer Mitglieder. Eine relativ geringe Quote, meint Peter Conrad, Jagdexperte und ehemaliger Jagdreferent des Landes Rheinland-Pfalz, im Verhältnis zu anderen Freizeitaktivitäten - wenn man bedenkt, welche gefährlichen Waffen Jäger tragen. Manchen Nimroden genügt schon der Hochsitz, um sich zu Tode zu bringen. Sie krachen mit einer morschen Sprosse in die Tiefe, rutschen bei feuchtem Wetter von der Leiter. Oder die morsche Kanzel bricht unter ihnen zusammen. Sind tatsächlich Waffen im Spiel, ist es ein Fall für die deutsche Versuchs- und Prüfanstalt für Jagd- und Sportwaffen, die Gutachten bei Jagdunfällen erstellt. Eine typische Konstellation sind die drei Jäger aus Bad Driburg bei Paderborn, die im Oktober in einem Maisfeld saßen und auf Wildsauen lauerten. Es wurde dunkel, aber irgendwann sah einer der drei doch noch etwas und schoss. Es war keine Sau, es war sein Freund, der - anders als ausgemacht - durchs Maisfeld auf ihn zugekommen war.
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ZEIT ONLINE
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Die Jagdsaison geht zu Ende. Und wieder hat das Waidwerk nicht nur Tiere zur Strecke gebracht: Drei bis acht Jägersleute werden jedes Jahr erschossen, einige hundert werden durch verirrte Kugeln und Schrothagel verletzt. Auf der Fährte eines erstaunlichen Phänomens
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2002-01-31T13:00:00+01:00
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2002-01-31T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/06/Waidmanns_Unheil/komplettansicht
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E S S A Y: Rechtlos im Niemandsland
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Das Flüchtlingslager Woomera, in der Wüste Südaustraliens gelegen, ist ein "Höllenloch". Wem die Flucht aus dem Lager gelingt, der wird in der Hitze verdursten. Für die Bearbeitung der Asylanträge lassen sich die australischen Behörden Zeit, viel Zeit, manchmal Jahre. Ob die Zwangsinternierung der "Angeschwemmten", darunter viele Kinder, internationales Recht verletzt, ist umstritten. Das Rote Kreuz äußerte "große Besorgnis" über die Behandlung der "Illegalen". Nachdem die Flüchtlinge vor zwei Wochen in den Hungerstreik getreten waren, sich den Mund zugenäht und mit Selbstmord gedroht hatten, lenkte die australische Regierung ein. Nun sollen die "Illegalen" verlegt werden. In Italien fordern konservative Politiker, die Küstenpolizei solle Schusswaffen gegen Flüchtlingsboote und "Illegale" einsetzen. Die katholische Kirche erinnert daran, dass Flüchtlinge Menschen seien. Auch die Flüchtlinge in der spanischen Enklave Ceuta in Nordmarokko sind in den Augen des Gesetzes Nobodys, Illegale, Staatenlose. Nicht alle wurden in ihrer afrikanischen Heimat politisch verfolgt; zurücktreiben können die spanischen Behörden die Flüchtlinge nur, wenn sie deren Herkunftsländer kennen. Als Rechtlose, ohne Papiere, nach Marokko abgeschoben, drohen den Flüchtlingen Misshandlungen. Strittig ist auch der rechtliche Status der Taliban- und Al-Qaida-Gefangenen auf dem amerikanischen Stützpunkt Guantánamo in Kuba. Die amerikanische Regierung betrachtet sie als "ungesetzliche Kämpfer", eine Rechtsformel, die aber die Genfer Konvention gar nicht kennt. Laut US-Justizminister Ashcroft "diskutiert" die Regierung noch, wie die Al-Qaida-Kämpfer rechtlich zu behandeln sind. Als Kombattanten der Taliban? Als Terroristen, die von einem (völkerrechtswidrigen) Militärtribunal abgeurteilt werden? Als Kriegsgefangene, die nach dem Ende der Kriegshandlungen sofort freizulassen wären? Bis zur Klärung werden die gewaltbereiten Gefangenen der Weltöffentlichkeit mit Ketten, schwarzen Brillen und verstopften Ohren vorgeführt: als rot verhüllte Körper in engen Käfigen, zwischen Recht und Unrecht, Land und Meer. Das sind keine Einzelfälle. Überall, auch am Wohlstandsgürtel des weltweiten Westens, wuchern rechtliche Dunkelzonen, in denen der Übergang zwischen legal und illegal, Rechtlosigkeit und Unrecht gleitend ist. In einigen Niemandsländern haben Menschen nicht einmal das Recht, Rechte zu haben. Rechtsfreie Räume entstehen vor allem in Gebieten, wo der Terror des Krieges und der Horror des Friedens nicht mehr zu unterscheiden sind: in den no go areas Afrikas, in all den innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Dauerkonflikten, an den Rändern zerfallender Nationen. Bloß ein Körper. Ein Nichts Ob in den unklaren Zwischenzonen jemand als Mensch oder als überflüssiger Körper behandelt wird, hängt oft nur am seidenen Faden des Rechts und seiner Durchsetzung. Die Frage aber, welches Recht zur Anwendung kommt, unterliegt der Willkür des lokalen Souveräns. Im Zweifelsfall ist eine Kiste mit chinesischen Bohnen durch die "Lex Mercatoria", das eng geknüpfte Netz internationaler Rechtsbeziehungen, besser geschützt als ein Schiff mit Flüchtlingen, das aus den schwarzen Löchern der Weltgesellschaft auftaucht und "nach Fremdeinwirkung" auf hoher See für immer verschwindet. Während Warenströme weltweit von einem faszinierenden Regelwerk kanalisiert sind, bleibt Menschen in den Indifferenzzonen des Rechts nur das "nackte Leben". Streng genommen sind auch die "Illegalen" Träger von Menschenrechtstiteln; faktisch besitzen sie nur ihre Rechtlosigkeit. Die Bemerkung des amerikanischen Justizministers Ashcroft, die Regierung "diskutiere noch" darüber, welches Recht in Guantánamo zur Anwendung komme, ist eine präzise Definition für die neue Indifferenz des Rechts. Souverän verfügt die lokale, mit sich selbst "diskutierende" Macht über Ausnahmezustand und Rechtszustand. Es gilt das Recht, das im Augenblick der Entscheidung gesetzt wird. Bis dahin haben die Gefangenen nur ihr Leben; sie werden das sein, was der jeweils gewählte Rechtsbegriff aus ihnen macht. In wessen Namen auch immer, auch im Namen der "unendlichen Gerechtigkeit".
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ZEIT ONLINE
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Die Gefängniskäfige von Guantánamo, Flüchtlingslager in Australien
und anderswo zeigen: In der Weltgesellschaft entstehen Nischen der
Rechtlosigkeit. Dem Menschen bleibt dort nur das nackte Leben.
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"Niklas Luhmann",
"Immanuel Kant",
"Katholische Kirche",
"Recht",
"Essay",
"Flüchtling",
"Frankfurter Flughafen",
"Internationaler Strafgerichtshof",
"Körper",
"Suhrkamp-Verlag"
] |
Article
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2002-02-07T13:00:00+01:00
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2002-02-07T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/07/200207_fluechtlinge_xml/komplettansicht
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A U T O M O B I L: Ein schönes, schweres Erbe
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Ferdinand Piëch zeigt sich in seinen letzten Tagen als Chef des VW-Konzerns großzügig. Anfang vergangener Woche durfte sein designierter Nachfolger Bernd Pischetsrieder in Genf den teuersten Volkswagen aller Zeiten - mit Namen Phaeton - präsentieren. Diese Geste kann sich der "Gastarbeiter aus Österreich" (Piëch über sich) leisten. Als der ehrgeizige Enkel des legendären Käfer-Konstrukteurs Ferdinand Porsche im Jahre 1993 das Regiment in Wolfsburg übernahm, stand der Konzern mit seinen ineffizienten Fabriken und den Sanierungsfällen Seat und Skoda am Rande des Abgrunds. Jetzt zieht der scheidende Sanierer eine Rekordbilanz: Mehr als fünf Millionen Fahrzeuge lieferte der Konzern im Jahr 2001 weltweit aus, erlöste nahezu 90 Milliarden Euro, und das Ergebnis nach Steuern erreichte, gemessen am internationalen Standard IAS, mehr als 2,9 Milliarden Euro. Die einstige Käfer-Marke hat Erzrivalen wie Ford und Opel beim Image abgehängt. Drei von zehn in Deutschland verkauften Autos kommen aus dem VW-Konzern; mit seinen großen Marken Audi, Seat, Skoda und VW ist das Unternehmen Marktführer in Europa, dominiert mit VW und Audi auch den chinesischen Markt; VW schließlich ist wieder die meistverkaufte deutsche Automarke in den USA. Und doch: Schon das laufende Jahr wird für seinen Nachfolger Pischetsrieder zur Bewährungsprobe. Als BMW-Chef war er in München über den missglückten Expansionsversuch mit Rover gestolpert, in Wolfsburg muss er beweisen, dass er einen Multimarkenkonzern in schwierigem Umfeld neu auszurichten vermag. "Der Start war sehr gut, aber die große Herausforderung liegt noch vor uns", sagt Pischetsrieder über die Etablierung des Phaeteon in der Oberklasse, wo Mercedes, BMW, Audi, Jaguar und Lexus den Weltmarkt unter sich aufteilen. Doch die Herausforderung geht weit darüber hinaus: Auf den beiden wichtigsten Märkten des VW-Konzerns, in Westeuropa und in Nordamerika, stockt die Autokonjunktur. In den USA tobt seit Monaten ein vom Branchenprimus General Motors angezettelter Rabattkrieg um Marktanteile. Der amerikanische Markt war aber bislang für VW besonders profitabel. Und zugleich fehlt es in Westeuropa an neuen Käufern. Konkurrenten wie Ford oder Fiat versuchen schon mit Lockangeboten, die Absatzerosion zu stoppen. Und im Herbst droht die von der EU-Kommission forcierte Liberalisierung des Autohandels im europäischen Binnenmarkt die Preise zu drücken. VW wäre auch da besonders betroffen. Bei der Wolfsburger Stammmarke kommen spezifische Probleme hinzu. Die Basis des Geschäfts bilden drei Modellreihen: der Kleinwagen Polo, die Modelle Golf/Bora in der so genannten unteren Mittelklasse und der Passat in der Mittelklasse. Während der neue Polo im Aufwärtstrend liegt, müssen sich Golf und Passat, die erst 2003/04 erneuert werden, gegen jüngere Konkurrenten wehren. Fiat Stilo, Toyota Corolla oder Peugeot 307 gewinnen neuerdings sogar Vergleichstests gegen den langjährigen Klassenprimus Golf. Ähnlich ergeht es dem Passat, der sich auf der einen Seite gegen Kleinableger der Nobelmarken wie die C-Klasse von Mercedes, zum anderen gegen den Ford Mondeo und demnächst den vorab viel gelobten Opel Vectra kämpfen muss. Absatzdellen bei den zentralen Modellen kann VW nur schwer auf anderen Märkten ausbügeln. Ausgerechnet in den wachstumsträchtigsten Nischen hat der Konzern bislang wenig zu bieten. Dies gilt für Cabrios und sportliche Geländewagen genauso wie für Vans in der Art des Opel Zafira und des Renault Espace. Zu allem Überfluss fingen sich die Wolfsburger in den vergangenen Monaten bei der Marke VW in einschlägigen Qualitätsratings des Öfteren enttäuschende Rangplätze ein. Bernd Pischetsrieder will gegensteuern. Die Qualitätsprobleme glaubt er schon gelöst zu haben, zudem soll die Oberklassenlimousine Phaeton positiv auf das ganze Unternehmen ausstrahlen. Und anstatt ähnlich geartete Kombis oder Stufenhecklimousinen in allen vier großen Konzernmarken anzubieten, sollen künftig mehr Cabrios, Vans oder modische Allradler neue Kunden gewinnen.
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ZEIT ONLINE
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Bernd Pischetsrieder muss die vielen Marken im VW-Konzern neusortieren. Die Basis des Geschäfts bilden drei Modellreihen: derKleinwagen Polo, die Modelle Golf/Bora in der so genannten unterenMittelklasse und der Passat in der Mittelklasse. Während der neuePolo im Aufwärtstrend liegt, müssen sich Golf und Passat, die erst2003/04 erneuert werden, gegen jüngere Konkurrenten wehren
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"Bernd Pischetsrieder",
"Ferdinand Piëch",
"VW",
"Audi",
"BMW",
"Ford",
"Fiat",
"Opel",
"Bentley",
"Bugatti"
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2002-03-14T13:00:00+01:00
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2002-03-14T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/12/200212_vw_neu_xml/komplettansicht
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Halldór fra Laxnesi, Poëta
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Das Tempo, das der isländische Bauernsohn Halldór Gudjónsson vorlegt, ist wahrhaft rasant. Bereits als Siebenjähriger hat er die Vision, die sein Leben dem Schreiben zuführt. Auf dem elterlichen Hof Laxnes kennt er Kunst eigentlich nur in Gestalt des gelegentlichen Violinspiels seines Vaters, doch das hindert ihn nicht, sich in Büchern zu vergraben und sich störrisch allen bäuerlichen Arbeitspflichten zu widersetzen. Zwölf ist er, als eine Zeitung einen Gedichtzyklus und eine Tierzeitschrift eine Erzählung von ihm druckt als Konfirmand legt er ein 600-Seiten-Skript zur Seite als Siebzehnjähriger lässt er auf Kosten des Vaters sein erstes Buch drucken und geht ins Ausland, nach Dänemark zunächst. Auf seiner Visitenkarte und an seiner Tür steht: HALLDÓR FRA LAXNESI, POÓTA. Der Dichter Halldór Laxness, wie er sich fortan nennt, zieht aus, um "für die Welt zu singen", in jenen Worten zu singen, die er sich aneignet, wo immer sie ihm begegnen. Die Bauernromane Hamsuns hat er verschlungen, doch die Verherrlichung des Landlebens geht ihm, der es nur zu gut kennt, schnell auf die Nerven er ist versessen auf die Zivilisation, auf die Moderne, auf die Welt. Mit Staunen liest man in Halldór Gudmundssons konziser Biografie, dass in der Hauptstadt Reykjavøk vor 100 Jahren nur 6000 Menschen lebten: Das ist keine Metropole, die einem landflüchtigen Kopfmenschen etwas zu bieten vermag. Umwölkt von der neuesten Poesie Laxness zieht durch Europa, findet Berlin "teuflisch gemütlich", versucht nach Amerika einzureisen, wird jedoch von den Behörden abgewiesen, da er kein Geld vorzuweisen hat. Die Lektüre von Nietzsche und Freud, Strindberg und Weininger verstärkt den Hang zu Selbstverherrlichung und Größenwahn, den sein Biograf dem jungen Laxness attestiert, doch einen Lebensweg hat er noch nicht gefunden. In einer Erzählung, die er als Neunzehnjähriger schreibt, steht der Satz: "Ich rufe das Wort Gott
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ZEIT ONLINE
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Dichter von Kindesbeinen an: Eine Biografie und eine Werkausgabe des isländischen Schriftstellers Halldór Laxness, aus Anlass seines 100. Geburtstages
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"Sarah Kirsch",
"Hollywood",
"Island",
"USA",
"Dänemark",
"Gesang",
"Luxemburg",
"Sowjetunion",
"Berlin",
"Europa"
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2002-04-18T14:00:00+02:00
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2002-04-18T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/17/Halldor_Laxness/komplettansicht
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D A S M A S S A K E R: "Mal so richtig aufräumen"
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Vor zwei Jahren, an einem 26. Februar, war Ron in einen Autounfall verwickelt. Zwei Menschen starben. In zwei Jahren, am 26. Juni, soll der Junge mit der Baseballmütze eigentlich Abitur machen. Aber nach dem 26. April 2002 glaubt er, es sei wohl besser, an einem 26. zu Hause zu bleiben: Jedenfalls, das weiß er jetzt schon, werde er am 26. Juni 2004 nicht aus der Tür gehen. Ron, aus der Klasse 10a, ist einer von sieben Schülern aus dem Gutenberg-Gymnasium, die ein paar Tage nach der Tat im Erfurter Rathaus zusammensitzen. Sie sind vor den Psychologen geflohen. "Die sagen, ich sei in Sicherheit und labern mich zu", sagt Robert aus der 10c, "aber solange die den zweiten Täter nicht haben, bin ich nicht in Sicherheit." Mit zitternden Händen halten sie die Zigaretten, qualmen eine nach der anderen. Immer wieder fängt einer an zu weinen. Sie umarmen sich dann, streicheln sich beruhigend. Viele von denen, die jetzt auf sie einstürzen, sind ihnen zuwider, besonders die Reporter, die sie mit ihren Kameras attackieren, aber auch die Betreuer, die ihnen doch nur helfen wollen. "Wir brauchen die Psychologen nicht", sagt Ron, "man will nur zu seinen Freunden." Das ist überall in Erfurt zu sehen: Gruppen von Schülern, aber auch einander fremde Erwachsene bilden Kreise, brechen in Tränen aus, suchen Halt aneinander. Keiner vermag eine Antwort zu geben, aber alle fragen immer wieder: Warum? Manfred Ruge gehörte zu den Ersten, die an den Ort des Grauens kamen. Der Oberbürgermeister kennt Christiane Alt, die Direktorin des Gymnasiums, schon lange. Gerade im vergangenen Jahr hatten sie viel miteinander zu tun. In Erfurts Partnerstadt Mainz wurde das Gutenberg-Jahr gefeiert. Da gab die Schule ein Buch über den Erfinder des Buchdrucks heraus, das Ruge unterstützte. Am Nachmittag des schrecklichen Freitags zog Frau Alt ihn in das Schulhaus, das zu dieser Zeit nur Sanitäter und Polizisten betreten durften. "Ich muss Ihnen das zeigen", sagte sie. Mehr nicht. Ruge zögerte. Erst als die leitende Notärztin und der Chef der Feuerwehr ihn begleiteten, wagte er sich in das Gebäude. Ruge ist eigentlich ein beherzter Mann. Er trägt einen kleinen goldenen Stecker im linken Ohr. Zu DDR-Zeiten sollte eines seiner Kinder wegen eines solchen Ohrrings von der Schule fliegen. Aus Protest ließen sich die anderen drei Geschwister auch Ohrringe stechen - und Manfred Ruge auch. "Meine Frau ist Goldschmiedin." Als Ruge nach der Wende das Stasi-Gebäude mitbesetzte, da war ihm auch mulmig, aber er ging einfach rein. Er ahnte, dass das, was er jetzt im Gutenberg-Gymnasium sehen würde, schlimmer als alles sein würde, was er bisher erlebt hatte. Das Sekretariat. Da liegt hinter der geöffneten Tür die Schulsekretärin Anneliese Schwertner. Sie ist nur flüchtig zugedeckt. Die Tür zum Zimmer der stellvertretenden Schulleiterin steht ebenfalls offen. Rosemarie Hajna sitzt noch auf ihrem Stuhl, Kopf und Oberkörper liegen auf dem Schreibtisch. Sie wurde durch einen Kopfschuss getötet. Ruge kann erkennen, dass die Schüsse aus nächster Nähe abgefeuert wurden. Er geht weiter. An manchen Türen sieht er Kreidekreuze. Er öffnet eine dieser Türen. Da liegt ein Lehrer. Auf dem Boden verstreut Bücher, Hefte, Stifte, Ranzen. Ruge schafft es bis zur ersten Etage: Dann war es einfach zu viel. Christiane Alt schien ihm viel gefasster. "Aber", sagt er, "ich habe Angst um diese Frau, gar zu starke Personen gehen nicht kaputt, sie explodieren." Die Direktorin hatte Glück. Ihre Bürotür war geschlossen. Der Täter hat sie einfach nicht aufgemacht. Was da genau passierte, vermag noch niemand zu sagen: "Wir stehen doch alle unter Schock."
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DIE ZEIT
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Der Mörder Robert S. und seine Welt: Die Website, die Waffen, die
Zeugen
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"Robert Steinhäuser",
"Bernhard Vogel",
"Kultusministerium",
"Lehrer",
"Schule",
"Schüler",
"Erfurt",
"Thüringen",
"Leipzig"
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Article
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2002-05-02T14:00:00+02:00
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2002-05-02T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/19/200219_erfurt.xml/komplettansicht
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Kein Titel, keine Arbeit
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Lächelnde Pfarrer, nachdenkliche Studenten, tanzende Jugendliche - die 16-seitige Hochglanzbroschüre der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers will gute Laune ausstrahlen. Gemeinsam mit den Landeskirchen von Bayern, Hessen und Nassau, Kurhessen-Waldeck, Nordelbien und Württemberg versuchen die Hannoveraner, in den kommenden Monaten Schüler oder Studienanfänger davon zu überzeugen, Pfarrer zu werden. Denn immer weniger junge Menschen studieren Theologie, in einigen Jahren droht Pfarrermangel. "Unsere Landeskirche braucht engagierten und qualifizierten Nachwuchs", schreibt die Landesbischöfin Margot Käßmann im Geleitwort der Broschüre. Und sie macht Hoffnung: "Die Einstellungschancen sind heute glücklicherweise deutlich besser als in den letzten Jahren." Nicole Gneiting nützt diese Zuversicht nichts. Sie ist zum falschen Zeitpunkt in der falschen Landeskirche mit ihrer Ausbildung fertig geworden. Im Februar schloss sie ihr berufsvorbereitendes Vikariat in der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) ab - eine Stelle als Pfarrerin bekam sie nicht. Was andere Landeskirchen schon hinter sich haben, hat nun Westfalen erreicht: Erstmals übernahm die EKvW nicht alle Vikare in den Pfarrdienst. In Gneitings Augen mehr als Pech, sie fühlt sich schlecht informiert. Als sie 1989 mit dem Studium anfing, sei keine Rede davon gewesen, dass der Weg in den Beruf verbaut sein könnte, erinnert sie sich. Und auch später noch habe sie dies nicht ahnen können. In der freien Wirtschaft sei eine Auswahl normal, bei der Evangelischen Kirche bislang nicht. "Man kam mit dem Ersten Theologischen Examen automatisch ins Vikariat, anschließend wurde man in den Probedienst aufgenommen." 13 Jahre hat Gneiting in ihre Ausbildung investiert. Sie begann mit einer Sprachenschule, musste für das Studium Hebräisch und Griechisch lernen. Im Frühjahr 1997 absolvierte sie ihr Erstes Theologisches Examen. Damals begann die Zitterpartie. "Ich hatte eine mündliche Zusage auf einen Vikariatsplatz in ein bis anderthalb Jahren", berichtet sie. Ende 1998 wurde der positive Bescheid plötzlich zurückgezogen. Nun sollte ein so genanntes Assessment Center darüber entscheiden, wer in das Vikariat gehen dürfe. Eine Kommission prüfte jeweils acht examinierte Studenten. Nach Kurzvortrag, Gruppengespräch und Einzelgespräch, deren Bewertung mit der Examensnote verrechnet wurde, stand fest, wer bleiben durfte. Die Hälfte des Jahrgangs konnte sich einen anderen Job suchen. Nicole Gneiting bestand die Prüfung. "Zu Beginn des Vikariats hat die Kirchenleitung dann zugesagt, von 30 Vikaren 20 in den Probedienst zu übernehmen", sagt sie. 5 Vikaren war das zu riskant, sie suchten sich einen anderen Beruf. Die anderen freuten sich, stiegen doch scheinbar ihre Chancen. Dann die Ernüchterung: "Plötzlich hieß es, dass nur noch zwei Drittel weiterkommen, was bei einer kleineren Gruppenzahl natürlich automatisch weniger Pfarrer bedeutet." Nach dem zweiten Examen mussten sich die Vikare einem Auswahlgespräch stellen. Die Kriterien seien dabei nie offengelegt worden, kritisiert Gneiting. Sie selbst landete im Aus.
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ZEIT ONLINE
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Statt auf der Kanzel landen viele Vikare der Evangelischen Kirche im Aus
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"Arbeit",
"Kirche",
"Ausbildung",
"Bewerbungsgespräch",
"Margot Käßmann",
"Bayern",
"Hessen",
"Württemberg"
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Article
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2002-05-29T14:00:00+02:00
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2002-05-29T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/23/Kein_Titel_keine_Arbeit/komplettansicht
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wissen: Schulbildung-Spezial
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Im Dezember 2004 werden die Ergebnisse von PISA II (2003) veröffentlicht, und wieder gibt es für die Deutschen Grund zur Enttäuschung: Im Vergleich mit 31 Industriestaaten landen Deutschlands Schüler in der unteren Hälfte der Leistungstabelle. Deutschlands Schüler haben sich auch in der zweiten PISA-Studie nicht verbessert. Die PISA-Aufgaben kamen wie immer aus den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Neu dabei: das so genannte Problemlösen. Hier sollen die Schüler Wissen aus verschiedenen Fächern nutzen. Eine Kostprobe liefert „Dazugelernt“ . Thomas Kerstan hat sich ebenfalls mit den Inhalten der Studie auseinandergesetzt. „Wie viele Kalorien braucht ein Lehrer?“ , fragt er und analysiert den veränderten Prüfungskatalog, der prüft, inwieweit die Schüler am Ende der Pflichtschulzeit über Fähigkeiten verfügen, ohne die sie später im beruflichen und gesellschaftlichen Leben keine Chancen haben. Bereits 2001 gab es für die deutschen Bundesländer einen PISA-Schock: Wie damals auf die Studie reagiert wurde, zeigt der Artikel „Wandel ohne Vision“ von Martin Spiewak. Im Gespräch mit Manfred Prenzel , dem Leiter der deutschen Pisa-Studie 2003, geht es um Verbesserungsansätze für die Schule. Was können Lehrer, Eltern und Kultusminister tun, fragen Martin Spiewak und Thomas Kerstan. Vonseiten des Klassenbesten, den Finnen, gibt es subversive Reformvorschläge : Deutsche Schüler sollen von den Vorzügen des finnischen Systems überzeugt werden: „Kiitos, Finnland!“. Zu Beginn des Schuljahres im August 2004 machte die Politik Druck: Überall wurden neue Schulgesetze und Lehrpläne wirksam. Mancherorts herrschte Reformeuphorie, anderswo regierte das Chaos. Lehrer und Eltern waren verunsichert, vorsichtige Aufbruchsstimmung kämpfte gegen trübe Resignation. Doch unser Blick in deutsche Klassenzimmer zeigte: Hier wurde die Reform entschieden und nicht in den Ministerien. Lesen Sie unser Spezial in Ausgabe 37/2004: Schule im Aufbruch Schüler dürfen dem reformfaulen Bildungssystem nicht länger geopfert werden, deshalb gehört das Sitzenbleiben weitgehend abgeschafft (30/2004). Im Übrigen gibt es auch Schulreformen, die wenig kosten und sich schnell umsetzen lassen. Experten und Betroffene präsentieren zehn Ideen für eine bessere Schule (29/2004). Die Hauptschule ist das Sorgenkind im deutschen Schulsystem: Der schulische Makel beschreibt zwei Hauptschulkarrieren in Deutschland (33/2004). Renate Hendricks ist Vorsitzende des Bundeselternrats und urteilt im Gespräch mit der ZEIT über unser Schulsystem: Eltern werden ruhig gestellt, Schüler sitzen gelassen, und die Lehrer hocken in goldenen Käfigen (22/2004).
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ZEIT ONLINE
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ZEIT-Artikel, Zahlen, Grafiken und Analysen zum Thema Schule, den vergleichenden Bildungsstudien und zu den anstehenden Bildungsreformen. Außerdem: welche Funktionen haben zukünftig unsere Kindergärten wahrzunehmen?
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wissen
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Article
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2002-12-04T12:40:00+01:00
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2002-12-04T12:40:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/27/Wissen/pisaeindex.html
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Von der Fibel überfordert
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In den Finger geschnitten, Kopfschmerzen, Brille vergessen - Analphabeten sind Meister der Tarnung. Hanna im Bestseller Der Vorleser lässt sich lieber als Verbrecherin bloßstellen als outen. Denn "wer nicht lesen und nicht schreiben kann, gilt als dumm", sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer vom Bundesverband Alphabetisierung in Münster. 80 000 Schüler ohne Abschluss spuckt die Schule jährlich aus. Viele von ihnen können nicht schreiben. Die Unesco spricht von vier Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland. Das sind Menschen über 15 Jahre, die Lesen und Schreiben trotz Unterricht wieder verlernt oder nie richtig beherrscht haben. Die Reutlinger Professorin für Sprachbehindertenpädagogik Iris Füssenich ist überzeugt, dass Analphabetismus nicht unbedingt ein Zeichen mangelnder Intelligenz ist. "Wer in den beiden ersten Schuljahren nicht Lesen und nicht Schreiben lernt", sagt sie, "hat einfach den Anschluss verpasst." Keine Chance mehr. Die Gründe sind vielfältig. Lese- und schreibschwache Kinder kommen fast durchweg aus "bildungsfernen Familien in sozialer Randständigkeit", sagt Rudolf Kretschmann, Professor für Lernbehindertenpädagogik an der Uni Bremen. Aus Migrantenfamilien, kaputten Beziehungen, sozial schwachen Familien, in denen nicht vorgelesen wird, wo kein Memory und kein Puzzle gespielt wird und keine Bücher im Regal stehen - wesentliche Bestandteile, um Sprachbewusstsein zu schaffen. Rund zehn Prozent der Schulanfänger sind nach Kretschmanns Erhebungen mit dem Buchstabenlernen aus Fibeln überfordert. Sie kommen nicht mit, verlieren die Lust, entwickeln Ängste, Lernblockaden, und "nach wenigen Monaten ist die Schule nicht mehr ihre Veranstaltung". Um solchen Lernschwierigkeiten vorzubeugen, werden in England und in den USA für sozial schwache Familien mit Kindergartenkindern family-literature-Kurse angeboten. Gezielt diese animieren die Eltern zum Schreiben und Lesen, damit sie ihren Kindern helfen können. Das Hippy-Programm (Home Instruction Program for Preschool Youngsters), entwickelt von der Hebroner Universität und jetzt auch hierzulande probeweise im Einsatz, hilft ausländischen Eltern, ihr Vorschulkind mit Sprach- und Wahrnehmungsspielen auf die Schule vorzubereiten. Erfolgreiche Versuche laufen in Bremen und München.
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ZEIT ONLINE
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Hier finden Sie Informationen zu dem Thema „Analphabetismus“. Lesen Sie jetzt „Von der Fibel überfordert“.
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"Unesco",
"Analphabetismus",
"Einschulung",
"Neurologie",
"England",
"USA",
"München",
"Würzburg"
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Article
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2002-07-18T14:00:00+02:00
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2002-07-18T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/30/Von_der_Fibel_ueberfordert/komplettansicht
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Die Glücksmaschine
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Es ist ein Gefühl, als würde dich der Chef schon loben, wenn du morgens einen Stift in die Hand nimmst. Als würde er vor Begeisterung juchzen, wenn du den Rechner startest. Als würde er dir beim Eintippen der ersten E-Mail-Adresse die Füße küssen, dir bei der Formulierung eines kleinen Gedankens das Gehalt erhöhen und dich auf dem Weg zum Mittagstisch befördern. Ha, lacht der Leser bitter, der vielleicht einmal im Jahr von unmaßgeblicher Seite ein gequältes Lob abbekommt. Jibbet doch gar nicht! Ich aber sage: Jibbet! Nicht den Chef. Das Gefühl. Neulich, eines Montags, kam aus der fernen Schweiz ein Mann zu mir, parkte seinen Volvo-Kombi vor meinem Haus, öffnete den Kofferraum und zog ein seltsames Fahrgerät hervor. Es hatte Räder wie ein Fahrrad, eine Verkleidung wie ein Rennmotorrad und Sponsorenaufkleber wie ein Skispringer. Der Mann, er stellte sich als August vor, sagte: Steig auf und fahr los! Ist frisch geladen. Ich stieg auf und fuhr los. Fuhr sich so na ja, das Teil. Halt wie ein 25 Kilo schweres Fahrrad. Doch dann war da ein Knispeln. Danach ein Raspeln, das sich zu einem Brausen steigerte. Und mir war, als setzte ein Rückenwind ein, wie ich nie einen Rückenwind erlebt hatte: Er blies umso stärker, je schneller ich fuhr! Plötzlich stand 35 auf dem Tacho. Entsetzt wichen Alte, Hunde und Inlineskater vom Radweg. Ich schaltete einen Gang hoch und fuhr 40. Vielleicht sollte ich einstreuen, dass ich ein völlig ungeübter Rennradfahrer bin, dem 30 Stundenkilometer das höchste der Gefühle bedeuten, im Flachen, ohne Wind. Und es war flach und windstill. Je schneller ich wurde, umso mehr Belohnung wurde mir zuteil. Auf Pausen reagierte das Rad mit Pause, auf Engagement aber mit Engagement, ach was: Überengagement. Bei Tempo 50 wechselte ich sicherheitshalber auf die Straße, trat lustig in die Pedale und zischte über den Asphalt, merkte gar nicht, dass eine Schnellstraße begann, doch ich war ja schnell, sehr schnell, fuhr beinahe mühelos 65, und wäre ich jetzt trainiert gewesen und ein Fahrradass, dann hätte ich vielleicht 70, 80, ja 100 Sachen erreichen können! Sagte mir August später. Als ich wieder daheim war. Kaum außer Atem und doch ein bisschen trainiert. Aufgekratzt. Meine Güte, was war das gewesen? Wenn mich die Polizei angehalten hätte, das hätte eine schöne Diskussion gegeben. Was ist das, bitte schön, für ein Fahrzeug? - Na ja, am ehesten ein Fahrrad ... mit Elektromotor, wie wir am Hinterrad sehen. Na gut, vielleicht doch eher ein Mofa. - Und wo ist das Versicherungskennzeichen? Wo ist der Integralhelm? - Ich kann doch nicht mit Integralhelm Fahrrad fahren! - Aber 65 Stundenkilometer! Haben wir gemessen.
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ZEIT ONLINE
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In letzter Zeit fühlte sich unser Autor etwas antriebslos. Doch dann brachte ein Fahrrad neuen Schwung ins Leben
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[
"Siemens AG",
"Toyota",
"Volvo",
"Australien",
"E-Bike",
"Fahrrad",
"Franken",
"Schweiz",
"Stromverbrauch",
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2002-07-25T14:00:00+02:00
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2002-07-25T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/31/Die_Gluecksmaschine/komplettansicht
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R Ü C K B L I C K: Nylons und Revolte
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Natürlich war dies eine Täuschung. Aber merkwürdig: Wir scheinen die Illusionen der postbourgeoisen Arrieregarde jener Jahre in unsere Köpfe einzementiert zu haben. Die Vorurteile müssten aufgesprengt werden, sie müssten einer geschärften Sensibilität der historischen Wahrnehmung weichen, wenn wir die Realität jener seltsamen Epoche durchdringen wollen, von der wir damals fürchteten, dass sie die zweite "zwischen den Kriegen" sein könnte. Die Klischees, die seit den späten sechziger Jahren in Umlauf sind - von einem Buch ins nächste verschleppt, von einem Feuilleton in zehn andere multipliziert, verkleben uns nur den Blick. Die Wirklichkeit war komplizierter. Zu Anfang hockten mehr als eine Million Nazis, Halbnazis, Viertelnazis in den Internierungslagern der Westalliierten, dann nach wenigen Monaten nur noch 200 000, schließlich noch einige 10 000 - bis die Besatzer meinten, das verheerte Land lasse sich ohne die "Ehemaligen" nicht verwalten (und schon gar nicht wieder bewaffnen). Die Vergangenheit, die man verlegen die jüngste nannte, schien rasch abgeschüttelt zu sein: Der Kalte Krieg wischte so manches aus dem Gedächtnis. Im Jahre 1951 kam die Bundesregierung beim Verfassungsgericht in Karlsruhe um das Verbot der Sozialistischen Reichspartei und der Kommunistischen Partei ein. Gegen die Neonazis entschieden die Herren in den roten Roben ohne Aufenthalt; das Verfahren gegen die KPD aber schleppte sich bis zum August 1956 dahin. Es nährte den Verdacht, dass die bundesdeutsche Justiz sich lieber der Linkenhatz hingebe, als die Mörder von gestern zu stellen, die unbelästigt ihrer Arbeit nachgingen oder mit der harmlosesten Miene der Welt ihre Rente verzehrten. Auch die Blutrichter des "Dritten Reiches" präsentierten sich ungerührt in den alten Funktionen, als sei nichts geschehen - nirgendwo, niemals. Ihre Kollegen sahen sich nicht veranlasst, auch nur den Versuch einer Selbstreinigung zu unternehmen: Dies war der schwärzeste Schatten, den jene Jahre hinterließen, denen Walter Dirks in den Frankfurter Heften nur wenige Monate nach der Gründung der Bundesrepublik mit seiner Formel vom "Zeitalter der Restauration" einen Stempel aufprägte, den sie nicht mehr loswurde, bis auf den heutigen Tag. Wie Frauen die Macht errangen - und sie wieder verloren Das Verdikt hängt der Epoche an. Die konsensuelle Verdammung wird kaum je infrage gestellt. Der Konformismus der sechziger und siebziger Jahre, der die angepassten Gesinnungen der Fünfziger mit rabiatem Ungestüm beiseite räumte, bestimmt das Bild der Nachkriegsgeschichte. Allerdings fragt man sich bei der Lektüre des Aufsatzes von Dirks, ob dem sanften Bußprediger aus der bündisch-katholischen Jugendbewegung bei Niederschrift seiner Anklage ganz gegenwärtig war, dass zu jener Zeit mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, mehr als eine Million Ausgebombte, die Heere abgerissener Heimkehrer und Millionen Arbeitsloser - insgesamt gewiss ein Viertel, eher ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung - am Rand des Hungers existierten, in der Regel nur ein Notdach über dem Kopf, ausgezehrt an Leib und Seele. Die Statistiken zählten 3,8 Millionen Behinderte und an die 3 Millionen Witwen, deren Renten eine elende Bestätigung ihrer Armut waren. An den Deutschen vollzog sich, ob schuldig oder nicht, in den Jahren des Krieges und Nachkriegs die radikalste soziale Umwälzung, die das Land seit dem Dreißigjährigen Krieg heimgesucht hatte. Es gab in Wirklichkeit wenig zu restaurieren. Die Leute wollten überleben, sonst nichts. Theodor Heuss, der erste Bundespräsident - wahrhaftig kein Nazi, auch kein Reaktionär, sondern ein wohlmeinender Altliberaler - hätte es niemals gewagt, den 8. Mai 1945 einen Tag der Befreiung auch für die Deutschen zu nennen, wie es Richard von Weizsäcker drei Jahrzehnte später im Dienst der Wahrheit auf sich nahm. Doch die Jungen begannen zu verstehen, dass das karge Brot der Freiheit nährender war als das Kommissbrot, das ihnen die Diktatur vorgesetzt hatte. Sie entdeckten, dass die Luft der Freiheit, die den Modergeruch der Kerker und den Gestank der Verwesung zu verscheuchen begann, von Energien erfüllt sein konnte. Es ist wahr: Die Leute schufteten, sofern sie Arbeit hatten, sie rackerten sich ab, sie waren am Abend erschöpft und nicht allzu gesprächig (oder sie soffen sich in den Zustand der Bewusstlosigkeit). Aber die Jungen - nicht nur sie - atmeten auf. Die Fenster, die Türen zur Welt öffneten sich, und der Reichtum der Kulturen, von dem die Deutschen in ihrem Volksgefängnis fast zwei Jahrzehnte abgeschnitten waren (gleichviel ob sie zum Wachpersonal oder zum Heer der Bewachten gehörten) brach in die engen Stuben ein. Hernach ging die Legende um, über die Anfangsjahre habe sich rasch das bleierne Schweigen der Naziväter gelegt, nahezu jede Regung freier Rede und freien Daseins erstickend. Die gestauten Ressentiments der Kriegsgeneration hätten die Atmosphäre des jungen demokratischen Staatswesens bis ins Mark vergiftet, von Beginn an. Unter der Last der Verdrängung sei jeder schöpferische Impuls verdorrt. Die Musen hätten sich vor dem inhumanen Gesetz der Leistung in die hintersten Winkel der Seele geflüchtet. Muff und Muckertum, ein verlogener Moralismus, ja eine radikale Triebunterdrückung zugunsten bourgeois-autoritärer Disziplin hätten keine unbefangene Regung des Eros geduldet, vielmehr sei versucht worden, die Frauen in die Reviere Kirche, Küche, Kinder zurückzudrängen, obschon sie in den Kriegs- und Nachkriegsjahren die Männer, die draußen in einem Erdloch vegetierten, auch in den klassisch maskulinen Berufen ersetzt hatten.
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ZEIT ONLINE
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Im Rückblick stehen die Fünfziger keineswegs für Muckertum oder
Muff - eine Apologie unserer Gründerjahre
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"Konrad Adenauer",
"Willy Brandt",
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"Fritz Erler",
"Reichstag",
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"Epoche"
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2002-08-08T14:00:00+02:00
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No more Miles & More
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Die Zeit: Sie fordern die Abschaffung aller Vielflieger-Bonusprogramme. Ist das angesichts allseits gelockerter Rabattbestimmungen und überall wachsender Punktesammelei zeitgemäß? Michael Kirnberger: In den globalen Airline-Allianzen sind solche Programme heute weltweit üblich, von den über 270 IATA-Airlines hat fast jede ihr eigenes. Deshalb ist unsere Forderung wahrscheinlich nicht von heute auf morgen umzusetzen. Wir können uns gut vorstellen, die erflogenen Meilen als Rabatt zwischen Fluggesellschaft und Unternehmen direkt auf die Flugpreise anzurechnen und diese damit zu reduzieren. Zeit: Verteuern Vielfliegerprogramme das Reisen für alle Passagiere? Kirnberger: Ein Meilenprogramm kostet die Airlines verdammt viel Geld. Experten schätzen 300 Millionen Euro pro Jahr, für eine große Gesellschaft dürfte das noch zu niedrig sein. Die für Meilensammler freigehaltenen Plätze können nicht verkauft werden, und auch viele Prämien vom Alukoffer bis zum Audi in der Sonderverlosung kosten eine Menge. Ohne Meilenprogramme könnte das Fliegen viel billiger werden. Zeit: Wie sind Vielfliegerprogramme juristisch einzuordnen? Welche Rechte und Pflichten entstehen dem Meilensammler gegenüber seinem Arbeitgeber? Kirnberger: Bonusmeilen sind nichts anderes als ein Kundenbindungsprogramm, ein bilateraler Vertrag zwischen Karteninhaber und Fluggesellschaft. Die Geheimhaltung ist mit einer PIN gesichert. Es liegt an dem Unternehmen, ob es vom Mitarbeiter die Herausgabe der Meilen verlangt. Juristisch gehören sie den Mitarbeitern, die sie erflogen haben, aber viele Unternehmer appellieren an ihre Angestellten, dazu beizutragen, die Kosten zu senken und ihre Meilen dienstlich einzusetzen. Nur etwa zehn Prozent unserer 400 Mitgliedsfirmen verpflichten jedoch ihre Mitarbeiter per Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder, wie der Deutsche Bundestag, per Unterschrift unter die Reisekostenabrechnung, ihre Meilen dienstlich zu nutzen. Ich wäre sehr gespannt, was passiert, wenn mal ein Angestellter deswegen vor Gericht gehen würde. Das ist bis heute nicht geschehen.
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „No more Miles & More“.
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Erforscht & Erfunden
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Star Wars im Fettgewebe. Mit rüttelnden Kanülen und mit großen Saugern sind die Schönheitschirurgen schon gegen das Fett ausgerückt. Nichts bleibt unversucht bei fülligen Hüften und Bäuchen. Jetzt lässt ein kolumbianischer Doktor mit der Laserkanone den Speck wie Butter an der Sonne schmelzen. Rodrigo Neira vom Centro Médico Imbanaco in Cali stellte seine Methode auf einem Internationalen Symposium gegen Fettsucht in Buenos Aires vor. Mit einem Laser (15 Milliwatt) bestrahlt Neira die Problemzonen 40 Minuten lang von außen. Der Lichtwerfer öffnet Poren in den Fettzellen, die dann ihren flüssigen Inhalt leichter abgeben. Nach der Bestrahlung lasse sich das Fett mit einer Minikanüle leicht absaugen. Gib dem Auto Zucker. Glucose könnte demnächst nicht nur unseren Gehirnen, sondern auch unseren Autos Energie liefern. Wissenschaftler der Universität von Wisconsin konnten mit einem Platinkatalysator Wasserstoff aus Glucose freisetzen (Nature, Bd. 418, S. 964). Die Ausbeute war groß genug, um gegenüber bestehenden Verfahren konkurrenzfähig zu sein. Bisher wird zur Wasserstoffgewinnung Erdgas oder Petroleum verwendet. Da Glucose ein Hauptbestandteil tierischen und pflanzlichen Materials ist, könnten Bioabfälle wie Stroh oder Holzbrei diese Quellen ersetzen. Wider die Abwehr.
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DIE ZEIT
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2002-08-29T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/36/Erforscht_&_Erfunden/komplettansicht
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Die blutigen Grenzen des Islam
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DIE ZEIT: Vor fast zehn Jahren schrieben Sie The Clash of Civilizations, einen Artikel in Foreign Affairs, der weltberühmt und 1996 zum gleichnamigen Buch wurde, das in 32 Sprachen übersetzt worden ist. Hat der 11. September Sie bestätigt? Samuel Huntington: In gewisser Hinsicht schon. ZEIT: Nine-eleven war doch die perfekte Illustration Ihrer These. Es war nicht ein Krieg zwischen Staaten wie im 19. Jahrhundert oder Ideologien wie im 20., sondern der Angriff einer privat operierenden islamistischen Gruppe gegen ein Sinnbild der westlichen Zivilisation, Amerika. Huntington: Richtig, das waren Leute, die sich dezidiert mit einem Zweig islamischer Zivilisation identifizierten. Osama bin Laden hat auch von einem "Kampf der Kulturen" gesprochen. ZEIT: Für ihn war das ein "Krieg gegen Christen und Juden". Huntington: Genau. Obwohl es ein begrenzter clash war. Gleich nach 9/11 habe ich gesagt: Dies darf nicht in einen Kampf zwischen dem Westen und dem gesamten Islam ausarten. Ein wirklich weltweiter Zusammenstoß würde es nur werden, wenn islamische Regierungen und Gesellschaften sich hinter bin Laden stellten. ZEIT: Im Golfkrieg haben noch Araber aufseiten Amerikas gegen den Irak gekämpft. Jetzt aber, da ein zweiter Irak-Krieg heraufzieht, steht fast die gesamte muslimische Welt gegen Amerika und gegen Israel sowieso - beides prototypische Repräsentanten des Westens. Der clash of civilizations zeigt sich also in seiner ganzen Schärfe. Huntington: Das Potenzial für einen echten Clash besteht. Im Kampf der Kulturen ist gar noch zweierlei hinzugekommen: die Eskalation zwischen Indien und Pakistan und die zweite Intifada. Muslime rings um die Welt identifizieren sich mit den Palästinensern ... ZEIT: ... und der clash weitet sich aus. Ihre These hat seinerzeit viel Kritik erfahren. Jetzt klingt sie überzeugender denn je. Die Liste der Zivilisationskonflikte wird immer länger: Muslime gegen Hindus in Indien, gegen Christen in Nigeria, gegen Juden in Nahost ... Huntington: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Ära der Weltkriege, die zweite die Ära des Kalten Krieges. Im 21. hat die Ära der Muslim-Kriege begonnen. ZEIT: Was heißt das, "Muslim-Kriege"? Huntington: Einmal jene, die Sie schon erwähnt haben. Dazu kommen Tschetschenien, Aserbajdschan, Afghanistan und Zentralasien, Kaschmir, Philippinen, Sudan und natürlich Nahost. Es sind all die Kriege, wo Muslime gegen Nichtmuslime wie auch untereinander kämpfen. ZEIT: Dann ist es wohl kein "Kampf der Kulturen", sondern einer zwischen einer Kultur, dem Islam, und allen anderen. Ein berühmter Satz in Ihrem Artikel lautet: "Der Islam hat blutige Grenzen." Huntington: So ist es. ZEIT: Warum?
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ZEIT ONLINE
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"Im 21. Jahrhundert hat die Ära der muslimischen Kriege begonnen." Samuel Huntington im Gespräch mit der ZEIT
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"Europäische Union",
"Samuel Huntington",
"Islam",
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"Russland",
"USA",
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"Irak",
"Iran"
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2002-09-05T14:00:00+02:00
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2002-09-05T14:00:00+02:00
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A N T I T E R R O R: Die Bomber von Bali
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Als die Twin Towers vor Jahresfrist 3000 Menschen in den Tod rissen, raunte so mancher, dass die Amerikaner den Terror irgendwie "verdient" hätten. Gilt das auch für die Australier, die größte Gruppe der Opfer von Bali? Mussten sie auch dafür "bestraft" werden, dass sie die Welt mit ihrem way of life überziehen? Oder die Franzosen, deren Tanker Limburg vor Aden attackiert wurde? Und die Deutschen von Tunis? Tatsache ist, dass der Terrorist keine Schuldigen braucht - im Gegenteil. Er will so viele Unschuldige wie nur möglich treffen, um so viel Angst und Schrecken wie nur möglich zu verbreiten, ob in Bali, New York oder Tel Aviv. Er will die Opfer auch nicht für ihr Tun, sondern für ihr Sein strafen - weil sie Amerikaner, Juden oder Westler sind. Verhalten lässt sich ändern, Sein nicht, und deshalb kann es mit dem Terror keine Kompromisse geben. Soll denn der Westen aufhören, der Westen zu sein? Dem islamistischen Terror passt weder die Trennung von Kirche und Staat noch die Freiheit der Frau. Folglich kann dieser Terror nicht besänftigt, sondern nur gestoppt werden. Das hat zuletzt Indonesien lernen müssen, das geglaubt hatte, seine muslimischen Extremisten mit sanfter Hand zügeln zu können. "Wir alle müssen nun verstehen", doziert Außenminister Wirajuda, "dass die Gefahr hierzulande real ist." Natürlich ist sie das, und sie wird real bleiben - überall in der Welt, wo Menschen sich zusammenballen, ob in Discos, Flugzeugen oder Stadien. Die Gefahr bleibt real, solange Terroristen EMail, Handys und Banken nutzen können, solange es TV-Sender wie al-Dschasira gibt, der zu einer Art Chatroomder Terror-Internationale geworden ist und in dem al-Qaida regelmäßig (echte?) Botschaften bin Ladens an die Getreuen verlesen lässt. Multinationale des Terrors Wie man den Antiterrorkrieg gewinnt? Der einfachste Teil war die Vertreibung der Taliban. Die hatten Afghanistan praktisch an alQaida verpachtet - als Trainingscamp, Munitionslager und Rückzugsgebiet. Doch ist "Krieg" die falsche Metapher. Krieg wird gegen einen Feind mit Adresse und Gesicht geführt, und die Multinationale des Terrors hat weder die eine noch das andere. Der Feind ist keine Armee, sondern eine Verbrecherbande (die wähnt, Gott zu dienen). Folglich ist der richtigere Begriff nicht "Krieg", sondern "Polizeiarbeit".
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ZEIT ONLINE
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Terror überall? Nicht, wenn sich alle Demokraten gemeinsam wehren.
Die Waffen, mit denen man den Antiterrorkrieg gewinnt, sind nicht
zuvörderst die aus Stahl, sondern Wissen, Geld und Diplomatie.
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"George W. Bush",
"Bali",
"Al-Dschasira",
"Bankenaufsicht",
"Botschaft",
"Diplomatie",
"Krieg",
"TV-Sender",
"Taliban",
"Vertreibung"
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2002-10-17T14:00:00+02:00
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2002-10-17T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/43/200243_leit_2_xml/komplettansicht
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Kleiner Ratgeber für Merkel & Co.
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In den letzten Jahren hat sich in Deutschland ein auffälliger Wandel des "Zeitgeistes" vollzogen, den man als die Rückkehr einer konservativen Agenda in die gesellschafts- und kulturpolitische Debatte bezeichnen könnte. Dieser Wandel geht quer durch die politischen Lager und Parteien, von rechts bis links in der Tat ist das Ausmaß des Konsenses, der in vielen Grundfragen auf einmal zu herrschen scheint, verblüffend. Es geht um die Wiederentdeckung und Hochschätzung von Werten und Konzepten, die vor nicht allzu langer Zeit als verstaubt, altmodisch, überholt, als "konservativ" im schlechten Sinne oder gar reaktionär gegolten hatten. Die Unionsparteien haben sich diesen Zeitgeistwandel bisher kaum zunutze machen können. Nach ihrer Wahlniederlage allerdings und auf der Suche nach einem zeitgemäßen Profil sollten sie sich damit vielleicht einmal etwas näher befassen. Die neue Konservativität kann man an vier Beispielen verdeutlichen. Erstens: die Wiederentdeckung der Familie als Grundeinheit der Gesellschaft und Gegenstand der Politik. In den achtziger und neunziger Jahren konnte man glauben, Familie - ob mit verheirateten oder unverheirateten Eltern - werde zu einem Sonderfall sozialer Lebensformen, den sich nur noch wenige und dann auch nur für begrenzte Zeit zumuten wollten. So, wie sich in den vergangenen Jahrhunderten schon viele traditionelle Sozialsysteme und Bindungsformen aufgelöst hatten, schien auch die Familie im Grunde ein Relikt einer vorindividualistischen Gesellschaftsordnung zu sein. Erst in der radikalen Unabhängigkeit des Individuums und seiner "Selbstverwirklichung" konnte sich demnach das Versprechen der Moderne erfüllen. Hier hat sich ein fundamentaler Wandel angebahnt. Es ist deutlich geworden, dass eine Gesellschaft als Single-Gesellschaft nicht existieren kann. Sie kann es demografisch ohnehin nicht, sie kann es schon mittelfristig finanziell nicht, sie kann es aber vor allem moralisch nicht. Kinder und die Verantwortung für ihre Erziehung gewinnen wieder ihren Stellenwert zurück. Zweitens: die Wiederentdeckung von Ethik und Religion. Lange Zeit schien es so, als sei das Verschwinden der Religion, einschließlich religiöser oder quasireligiöser Ethiken, nur noch eine Frage der Zeit. Bestenfalls eine radikale Privatisierung der Religion werde übrig bleiben im weiteren Verlauf einer Modernisierung, die schon seit vielen Jahrhunderten immer auch Säkularisierung, Verweltlichung, gewesen ist. Inzwischen hat nicht nur die Existenz des islamischen Fundamentalismus deutlich gemacht, dass mit Religion auch in der Politik des 21. Jahrhunderts zu rechnen ist. Wichtiger noch, in unseren "hausgemachten" Problemen wie der Entwicklung der Gen- und Biotechnologie empfinden wir das Bedürfnis nach einer religiösen Vergewisserung über die Grundlagen des menschlichen Lebens. Jürgen Habermas hat in seiner Frankfurter Friedenspreisrede mit Blick auf den 11. September ebenso wie auf die Gentechnik von der "postsäkularen Gesellschaft" gesprochen. Drittens: das Bedürfnis der Bürger nach innerer und privater Sicherheit. Lange Zeit ist übersehen worden, dass die Sicherheit des Bürgers und nicht zuletzt sein subjektives Sicherheitsgefühl die unverzichtbare Grundlage einer stabilen Ordnung gerade auch in der Demokratie sind. Im Ursprung der modernen Staatstheorie steht Thomas Hobbes' Leviathan: der Staat, der die Bürgerkriegsparteien in Schach hält und jene Befriedung und Sicherheit gewährleistet, ohne die eine freie Entfaltung bürgerlichen Handelns nicht möglich ist. Gerade in Deutschland haben wir genügend Erfahrungen mit einem "Leviathan" gemacht, der zum autoritären Staat, zum Polizeistaat, zum Staat der Diktatur geworden ist. Auch deshalb haben sich viele gescheut, die staatlich garantierte Befriedung der Gesellschaft zu groß auf die Fahne zu schreiben. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, dass auch die "Zivilgesellschaft" nicht ohne diese elementare Sicherheitsfunktion auskommen kann. Viertens: die Kritik der neuen Massenkultur. Wir alle sind Traumatisierte einer Kulturkritik - einer Kulturkritik der Moderne, die lange Zeit, besonders vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, zum Fundament des konservativen Denkens gehörte. Kulturelle Innovationen wurden skeptisch beargwöhnt oder sogar politisch bekämpft, von der expressionistischen Kunst bis zur Jazzmusik. Das galt besonders, wenn diese Innovationen aus dem Westen, zumal aus Amerika, kamen. Schließlich haben wir, zum Glück, die Verwestlichung akzeptiert und mit ihr eine innovative Kultur der Moderne, die immer wieder Grenzen überschreitet. Dabei ist jedoch ein Gefühl dafür abhanden gekommen, dass bestimmte Formen der populären, der Massen- oder Jugendkultur den Grundwerten einer freiheitlichen und zivilen Gesellschaft massiv zuwiderlaufen. Inzwischen findet auch hier ein Stimmungswechsel in eine Richtung statt, die man früher nur als konservativ denunziert hätte. Es wird wieder möglich - und vielleicht sogar nötig - "Kulturkritik" zu betreiben, also ein urkonservatives Geschäft wiederzubeleben diesmal jedoch nicht gegen Demokratie und liberale Ordnung, sondern in ihrem Interesse und zu ihrem Schutz. Was ist der gemeinsame Nenner dieser vier Beispiele? Die Veränderungsdynamik der modernen Gesellschaft macht eine politische Agenda wieder aktuell, die sich aus den Traditionen des Konservativismus herleiten und begreifen lässt.
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DIE ZEIT
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Die Eindämmung der Ego-Gesellschaft. Oder: Warum Konservative nicht von gestern sein müssen
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2002-10-24T14:00:00+02:00
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2002-10-24T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2002/44/Kleiner_Ratgeber_fuer_Merkel_&_Co_
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Die lieblose Liebe
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Es kostet einige Mühe, sich in diesen Berg von Geschichten hineinzukämpfen, man tut es staunend und bewundernd, verwirrt und zuweilen auch verärgert. Staunend darüber, mit wie wenig Aufwand, mit welcher stillen Intensität es Ford wieder gelingt, Menschen und ihre Situationen, Konflikte, Ängste, Hoffnungen in sein Erzählen und in den Kopf des Lesers hineinzubewegen. Verwirrt, weil dieser große Erzähler immer dann rührend oder peinlich hilflos, wie ein zweit- oder drittklassiger Autor wirkt, wenn er sich ins Kommentieren und Sinnieren verliert. Ärgerlich schließlich, dass ein bewährter Übersetzer wie Frank Heibert diesmal bei der geringsten Schwierigkeit ins Straucheln gerät und serienweise statt deutschen Textes ein steif verquastes Kauderwelsch, ein Americano-Alemano-Esperanto abgeliefert hat. Doch nach einer Weile lösen sich all diese Widersprüche und Ärgerlichkeiten in nichts auf. Und das nicht etwa, weil Richard Ford nun makellos und lückenlos nur noch erzählte oder weil sein Leser nachsichtig über alle Unebenheiten hinwegläse oder der Übersetzer plötzlich wieder des Deutschen so mächtig schiene wie des Amerikanischen. Nein, es ist noch einfacher, noch rätselhafter: Die Fordsche Erzählvitalität setzt sich durch gegen alle Handicaps, konzentriert auf ein einziges Thema, und das hat sie nun wie den Leser fest an der Angel. Denn hier wird kein Konvolut von kurzen und langen Geschichten, keine Musterschau Fordscher Erzählkünste angeboten, sondern zehnmal etwas immer Gleiches und doch vollkommen Verschiedenes erzählt und verhandelt: Ehebruch und Untreue, diesen Musterfall eines Konflikts zwischen Anarchie und Ordnung, zwischen dem Ausnahmezustand der Lust und den Kontinuitäten und Verbindlichkeiten eines friedlichen, lange währenden und auch langweilenden Zusammenlebens. Was zunächst, so feierlich formuliert, eine Oktave zu hoch klingt. Denn Fords US-Menschen, diese Frances und Howard und Tom und Sallie und Roger, scheinen wenig geplagt von Schuldgefühlen und schon gar nicht von Sündenbewusstsein, wenn sie frei wildernd sich ihren Anteil sichern am sexuellen Angebot. Jenseits der Ehe - und von Spaß Man macht Sex, man hat Sex und längst begriffen, dass das auch und gerade jenseits der Ehe und diesseits von Liebe den erwarteten Spaß abwirft. Fords Buchtitel Eine Vielzahl von Sünden scheint also ironisch-melancholisch an etwas zu erinnern, was in diesen zeitgemäßen Seelen längst erloschen ist.
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Reinhard Baumgart
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Der große amerikanische Autor Richard Ford erzählt von der Untreue im Zeitalter des Sex
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"Ford",
"Arizona",
"Louisiana",
"St. Louis"
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2002-11-07T13:00:00+01:00
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2002-11-07T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/46/Die_lieblose_Liebe/komplettansicht
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medica 2002: "Als hätte ich meine Seele verkauft…"
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Genau dieses Image des Verkäufers klebt am Arzt in der Pharmabranche. Als wäre er ein besser gestellter Pharmareferent, der sich durch Einschleimen und Klinkenputzen profiliert. "Mit diesem negativen Bild haben wir zu kämpfen", sagt Thomas Weihrauch, Direktor der internationalen medizinischen Strategie von Bayer, "dabei arbeiten die Ärzte im Unternehmen hauptsächlich in der Forschung an neuen Medikamenten, der Arzneimittelsicherheit und an der Entwicklung von Therapiestudien." In den USA oder in England hätten die Wissenschaftler ein unverkrampfteres Verhältnis zur Pharmaindustrie als in Deutschland, so Weihrauch. Doch in den letzten 20 Jahren ist auch hierzulande das Interesse unter den Ärzten für dieses Gebiet gewaltig gestiegen. Immerhin arbeiten derzeit bundesweit 2000 Mediziner in diesem Industriezweig. Demnächst könnte sich sogar eine Facharztausbildung für Pharmazeutische Medizin europaweit etablieren. In Großbritannien gibt es sie bereits: Dort legen die Ärzte nach zwei Jahren klinischer Erfahrung und vier Jahren strukturierter Ausbildung im Pharmabereich ihre Facharztprüfung ab. Ein ähnliches Curriculum existiert auch in der Schweiz. Wird in einem weiteren EU-Land dieser Facharzttitel akkreditiert, könnte kurzfristig auch in Deutschland diese Weiterbildung eingeführt werden. 50000 Euro Einstiegsgehalt Bis es so weit ist, rekrutiert die Pharmaindustrie entweder Studienabgänger oder Klinikaussteiger. "Ein Chirurg, der schon über 1000 Bypass-Operationen hinter sich hat und jetzt von seinem Beruf gefrustet ist, hat bei uns schlechte Chancen", sagt Thomas Weihrauch. Denn sie seien kein Auffangbecken für gescheiterte Existenzen. Am liebsten stelle er Internisten, Kinderärzte oder klinische Pharmakologen ein, die sich im Idealfall bereits seit längerem für Arzneimittel interessieren. Wer einmal den Sprung in die Industrie gewagt hat, kehrt nur selten in den Alltag am Krankenbett zurück. Bei Bayer – so Weihrauch – gebe es eine Fluktuationsrate unter den Ärzten von gerade einmal sechs Prozent – und der Großteil davon gehe zu einer anderen Firma. Meist lockt die Konkurrenz mit einem attraktiven Angebot. Die Aufstiegsmöglichkeiten sind in der Industrie vielfältiger als im Krankenhaus. Das Einstiegsgehalt promovierter Mitarbeiter liegt derzeit bei gut 50000 Euro, je nach persönlichem Einsatz und Leistung kann sich das Einkommen rasch nach oben entwickeln.
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ZEIT ONLINE
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Hohe Gehälter und gute Arbeitsbedingungen locken Ärzte in die Pharmaindustrie. Dafür müssen sie mit dem Image des Pillenverkäufers leben
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2017-12-12T17:14:03+01:00
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2017-12-12T17:14:03+01:00
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https://www.zeit.de/2002/47/C-Med-Pharma/komplettansicht
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Wenn Geschichten zerfallen
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Illustratoren leiden an sich selbst Nun könnte es sein, dass wir das Wort wieder aus der Mottenkiste herausholen und es neu bewerten müssen – im Interesse der Kinder und der Kinderliteratur. Wer den Bilderbuchmarkt beobachtet, entdeckt eine Tendenz, Bilderbücher zu publizieren, die das Kind als Adressaten längst hinter sich gelassen haben. Keine Spur mehr von Linearität der Erzählung, keine Rede mehr von zusammenhängenden Bildern; stattdessen werden Konstruktion und Dekonstruktion von Texten und Bildern vorgeführt. Nicht mehr Einheitlichkeit des Stils und Geschlossenheit der Form sind ästhetische Merkmale, sondern, im Sinne postmoderner Entgrenzung, Nonlinearität der Erzählung und Brechung der Bildstile. Die Erzähler in diesen Büchern leiden an sich selbst und verrätseln ihre Geschichten, die Illustratoren verlieren ihre Bildsprache und machen sich auf die Suche nach den Scherben der Kulturgeschichte. Ein erstes Beispiel: Jörg Müller, einer der Großen des Illustrationsgeschäftes, gerade 60 Jahre geworden, erzählt in seinem jüngsten Bilderbuch (Das Buch im Buch im Buch, 2001) von seinem Leben als Illustrator. Es ist die traurige Geschichte vom Zustand eines erfolgreichen Künstlers, der an sich selbst zweifelt. Wir entdecken den "Bilderbuchmaler" mitten im Labyrinth der optischen Täuschungen, verloren in den eigenen Bild-Ideen. Nur die kindliche Hauptfigur vermag ihn zu erlösen. Müllers Buch besticht durch eine raffinierte Rauminszenierung, durch die Umgestaltung des Buches in ein facettenreiches Spiegelkabinett – aber erzählt er noch eine Geschichte für Kinder? Ganz ähnlich die Ausgangslage bei Roberto Innocenti und Patrick Lewis (Das Hotel zur Sehnsucht, 2002). Der Ich-Erzähler sitzt trübsinnig an seinem Zeichentisch und hat seine Fantasie verloren. Er macht sich auf eine Reise durch die Kultur- und Literaturgeschichte. Der gebildete erwachsene Leser und Betrachter entdeckt mit Interesse viele bekannte Figuren, Motive und Genres: ein Hotel, entlegen und düster wie aus Hitchcocks Psycho, dann den einbeinigen John Silver aus Stevensons Schatzinsel , Kommissar Maigret, einen Westernhelden, Huckleberry Finn; auch Andersens Kleine Meerjungfrau erscheint als Zitat. So entwickelt sich die erzählte Geschichte aus Bruchstücken und Fragmenten, zwischen denen der Erzähler umherwandert und seine Identitätskrise durchlebt. Soll dieses Patchwork aus kulturellen Fragmenten eine Geschichte für Kinder sein? Ein drittes Beispiel: In David Wiesners Die drei Schweine (2002) wird dem Betrachter vor Augen geführt, dass Bilder nichts anderes als Konstruktionen sind, nur erdachte Gebilde, die wie ein Kartenhaus zusammenstürzen können. So ziehen die drei heimatlosen Schweine-Helden durch eine Bilderwelt, die keine Sicherheit mehr bietet. Auch die erzählte Geschichte erweist sich als Illusion, als Fake, denn am Ende landen die drei wieder dort, wo sie starteten. Die Suche nach dem Kern Waren vormals die ästhetischen und pädagogischen Grenzen um das Bilderbuch allzu eng gezogen, so sind sie in den genannten Beispielen radikal durchbrochen. Es scheint, dass sich die fortschrittliche These, wonach ein gutes Bilderbuch keinen Unterschied zwischen kindlichem und erwachsenem Adressaten kennt, in postmodernen Zeiten als fragwürdig erweist. Wenn Kinderliteratur den Kindern im Bilderbuchalter keine zusammenhängenden Geschichten mehr erzählt, sondern ihnen nur Scherben und Bruchstücke vorsetzt, wenn Bilder sich auflösen und zerfallen, stellt sich die Frage nach dem Kindgemäßen neu. Dann wird man genauer nachfragen müssen, unter welchen entwicklungspsychologischen Voraussetzungen Kinder Bilder und Texte wahrnehmen, erleben und verarbeiten. Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich sollten Autoren und Illustratoren nicht nach kinderpsychologischem und pädagogischem Plan schreiben und illustrieren; wenn ihnen aber Texte und Bilder nur noch als Versatzstücke dienen, wenn alles mit allem vermengt wird, gerät das Bilderbuch zur Spielmasse, aus der sich jeder, Erwachsener wie Kind, auf seine Weise bedienen kann. Das mag amüsant und unterhaltsam sein; doch der Anspruch der Kinderliteratur, junge Leser und Betrachter an die symbolischen Formen literarischen Erzählens und bildnerischen Darstellens heranzuführen, bleibt so auf der Strecke. Dass Kinder in erzählten Geschichten nach einem Kern suchen, nach – ebenso ästhetisch – verlässlichen Aussagen, an denen sie sich abarbeiten können, sollte wieder in Erinnerung gerufen werden. Literatur für Kinder ist nicht zu verwechseln mit Literatur für Erwachsene. Ein Missverständnis, das beiden Seiten schadet: den Kindern, die diese Konzepte nicht verstehen, und den Autoren und Illustratoren, die auf dem Buchmarkt falsch platziert sind. Bücher wie Das Hotel zur Sehnsucht gehören in die Abteilung "Illustrierter Roman" und nicht in die Bilderbuchecke. Der Buchmarkt braucht spannende, kreative und kritische Bilderbücher, aber sie müssen auch für Kinder geschrieben und gezeichnet und somit im positiven Sinne kindgemäß sein. Der ungeliebte Begriff kehrt zurück.
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Jens Thiele
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Brauchen wir wieder "kindgemäße" Bilderbücher, die ihre Leser an die Hand nehmen?
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2002-11-28T08:00:00+01:00
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2002-11-28T08:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2002/49/KJ-Bilderbuch2/komplettansicht
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»Gut gemacht, Jimmy«
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Es trifft zu: Harry Truman, der einstige Farmer und Kurzwarenhändler aus dem Mittleren Westen, liebte die Oper und das Konzert, er klimperte selber mehr lust- als kunstvoll auf dem Klavier, komponierte den Missouri-Waltz, der ein musikalischer Primitivscherz ist, und er hauchte seiner vergötterten Tochter Margret eine unglückliche Liebe zu den Arien von Verdi und Puccini ins Gemüt, die sie leider der Öffentlichkeit nicht vorenthielt. Eine höhnische Kritik in der Washington Post erboste den Präsidentenvater so sehr, dass er dem Autor in einem Leserbrief eine Tracht Prügel anbot, was seinen Beziehungen zu den Medien nicht förderlich war. Den jüngeren Roosevelt und John F. Kennedy stand der Sinn, trotz der illustren Zirkel von Akademikern und Literaten, mit denen sie sich umgaben, eher nach der leichteren Muse, während Dwight D. Eisenhower kaum je bemerkt haben dürfte, dass außer Militärmärschen, Kirchenchorälen und Nationalhymnen andere Möglichkeiten der Musik existierten. Nur während der Amtsjahre (1977 bis 1981) von James Earl Carter, dem in der kommenden Woche der Friedensnobelpreis verliehen wird, war das Oval Office von den festlichen Klängen der Barockmeister und vom Schmelz romantischer Kammermusik erfüllt: Der Präsident war ein treuer Hörer der Klassikwellen des Public Radio – Ministationen, die sich nicht mehr als 15 Redakteure und Techniker leisten konnten und dennoch (oder darum) die schönsten Programme lieferten. Ein wunderlicher Bürger, dieser baptistische Laienprediger aus dem tiefsten Süden, den die etablierte Elite der Hauptstadt bald genug voller Misstrauen und mit einem Gran Verachtung musterte, so entzückt sie zu Anfang die »köstliche Einfachheit« seines Stils bewundert hatte. Keinem Präsidenten vor ihm war es jemals eingefallen, die Meile vom Capitol zum Weißen Haus nach der feierlichen Vereidigung per pedes apostolorum einherzumarschieren – ohne Panzerlimousine, um die Gefahr eines Anschlags offensichtlich wenig besorgt, damit er in dieser festlichen Stunde dem jubelnden Volk so nahe wie möglich blieb. In den Salons von Georgetown, auf den Redaktionsfluren der New York Times und der Washington Post , in den Büros der Think-Tank-Matadore und der Politprofessoren aber begann man die Stirnen kraus zu ziehen, als der Mann aus Plains in Georgia sich des Abends im Cardigan und ohne Krawatte ans Kaminfeuer setzte, um mit den Fernsehzuschauern über die Probleme der amerikanischen Gesellschaft und der weiten Welt zu plaudern. Mit wahrem Entsetzen wurde registriert, dass er seine Frau Rosalynn, seit jeher die engste Partnerin seiner Gedanken und seiner Pläne, von Zeit zu Zeit an den Sitzungen des Kabinetts teilnehmen ließ. Wohl war den First Ladys im Protokoll und vor allem in der öffentlichen Fantasie eine prominente Funktion zugewiesen, doch die Damen hatten sich nach traditionellem Verständnis mit der Organisation von Staatsbanketten, Exkursen ins Feld der Kultur, der Dekoration des Weihnachtsbaumes und ihren karitativen Aufgaben zu begnügen. Schon Eleanor Roosevelt hatten die konservativen Gralshüter nie verziehen, dass sie sich als die wichtigste Partnerin ihres Mannes, ja als eine eigenständige politische Persönlichkeit etablierte, und Hillary Clinton, die es später wagte, ein Programm für die Reform der Krankenversicherung vorzulegen, drohte in einem Sturm der Empörung unterzugehen. Aber auch Rosalynn Carter, der ihre kühl-disziplinierte Zurückhaltung den Titel »eiserne Magnolie« eingetragen hatte, bekam die Ressentiments der »rich and beautiful« zu spüren, die ihr die klare Intelligenz so wenig verziehen wie die Herkunft aus einem ärmlichen Milieu.
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ZEIT ONLINE
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In der kommenden Woche erhält der frühere US-Präsident Carter den Friedensnobelpreis. Das Porträt eines Mannes und einer denkwürdigen Familie von Klaus Harpprecht
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"Jimmy Carter",
"Helmut Schmidt",
"John F. Kennedy",
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"Pippi Langstrumpf",
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"Europa",
"Georgia",
"Washington D.C."
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2002-12-05T13:00:00+01:00
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50 Jahre Fernsehen
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60 Prozent der Deutschen wollen auch Weihnachten vor allem eines: fernsehen. So hat es eine Umfrage ermittelt, und es gibt keinen Grund, an der Zahl zu zweifeln. Sie zeigt nur die Selbstverständlichkeit, mit der das Medium über unseren Alltag herrscht, seit es vor 50 Jahren seinen Siegeszug begann. Das Jubiläum ist uns Anlass, hier und auf den folgenden Seiten einige Facetten dieser Herrschaft zu beleuchten. Zur Kenntnis der Wirklichkeit gehört heute die Kenntnis des Fernsehens. Wer nur Zeitungen liest, ist vielleicht besser informiert, aber eine entscheidende Information fehlt ihm: Er weiß nicht, worüber die fernsehende Mehrheit informiert ist. Nachrichten, Personen, Zeitstimmungen werden zu einer kritischen Größe erst im Fernsehen. Das ist der Grund, warum die Parteien um Einfluss in den Sendern ringen und das ist der Grund, mit dem sich heute noch die Existenz eines öffentlich-rechtlichen Fernsehens neben dem privaten rechtfertigen ließe. Das zentrale Politikum einer Demokratie dem bloßen Profitinteresse des Kapitals zu entziehen, wäre die Zwangsfinanzierung durch Gebühren wert. Unglücklicherweise haben sich die Landessender für eine andere Begründung entschieden. Sie suchen die Legitimation in der Zuschauerquote. Für eine gern gesehene Sendung, so hoffen sie, werden auch Gebühren gern gezahlt. Die Quote, die ursprünglich zur Festsetzung der Werbegebühren diente, verstehen die öffentlich-rechtlichen Sender als Plebiszit über ihre Daseinsberechtigung. Damit verkehrt sich der Sinn der Gebühren ins Gegenteil: Recht verstanden, müssten sie Erlösung von der Quote bedeuten und Ermunterung zu moralischer Unabhängigkeit. Tatsächlich gibt es eine solche Unabhängigkeit heute nur in den Zeitungen, obwohl diese von privatem Kapital abhängen. In Zeitungen ist es üblich, unpopuläre Meinungen zu vertreten, wenn sie moralisch geboten scheinen und übrigens selbst dann, wenn mit dem Verlust von Abonnenten sicher zu rechnen ist. Wann hätte je ein Sender gesagt, ich pfeife auf den Zuschauer, weil es um humane Standards geht? In den Sendern, auch den öffentlich-rechtlichen, herrscht ein angstvoller Blick auf die Quote, der jede Courage, jeden Ehrgeiz im Keim erstickt.
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DIE ZEIT
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Mit dem Erfolg kam der Opportunismus
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"Fernsehen",
"Sender",
"Sendung"
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2002-12-23T13:00:00+01:00
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Das Imperium schlägt sich selbst
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Das Imperium schlägt zurück. Oder sind es die Jedi-Ritter, die hier zurückkehren - leicht ramponiert, aber mit dem Herzen am rechten Fleck? Seit der beschleunigte Kapitalismus seinen Crash erlebte, seit der großen Pleite in der New Economy und an der Börse wähnen sich die Kritiker freier Märkte im Aufwind. Ihre Argumente, ihre Wut und Verachtung richten sich gegen den "Neoliberalismus". Jedenfalls gegen das, was sie darunter fassen: eine "ideologische Weltmacht - scheinbar alternativlos", die sich den schrankenlosen Kapitalismus zum Ziel gesetzt habe, wie die Volkswirte Herbert Shui und Stephanie Blankenbrug in einem neuen Buch zum Thema formulieren. Gegen dieses Feindbild treten gerade in Deutschland viele Kritiker an, um die Errungenschaften von dreißig Jahren expansiver Sozialpolitik zu verteidigen. Einig sind sie sich deswegen längst nicht. In der Politdebatte ist der Begriff "neoliberal" eine Sache des Standpunkts. Für Michael Sommer, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, sind es beispielsweise die Gegner des gewerkschaftsfreundlichen Koalitionsvertrages, den müde Vertreter von Rot und Grün im Herbst zusammenzimmerten. Der ehemalige SPD-Vormann Oskar Lafontaine findet vor allem neoliberal, was sein Lieblingsfeind Gerhard Schröder so macht. Und das ging nach seiner Interpretation natürlich und vollends nach hinten los. Die PDS hat das Meckern über die "neoliberale Politik der SPD" (Lothar Bisky) ohnedies zur Perfektion getrieben. Und man sieht: Lafontaine sucht sich seine Freunde, wo er sie finden kann. Joschka Fischer, grüner Außenminister, meiert die FDP gern als neoliberal ab - das ist besonders beliebt. Die rot-grüne Politik in Berlin würde er dagegen nie derart bezeichnen. Wohl aber Amerika: Dort habe der Neoliberalismus sein "ökonomisches und moralisches Debakel" erlebt, betonte er mehrmals davon sollten die Deutschen lernen. Umweltminister Jürgen Trittin führt die Logik weiter: "Die Grünen sind die einzige moderne Alternative zum weiteren Ausbau des weltweiten Neoliberalismus." Ja dann. Übrigens weist auch die Union auf Verlangen die Idee weit von sich, man könnte neo... Sie wissen schon.
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DIE ZEIT
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Politiker schießen auf den Neoliberalismus - und treffen die Ökonomie
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"Gerhard Schröder",
"FDP",
"Joschka Fischer",
"Oskar Lafontaine",
"SPD",
"Willy Brandt",
"Jürgen Trittin",
"Lothar Bisky",
"Michael Sommer",
"Computernetz"
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2002-12-23T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/01/Das_Imperium_schlaegt_sich_selbst/komplettansicht
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Ein großer Staatsmann und sein Urenkel
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Es geht nicht um die Frage, ob die Türken Europäer sind. Vielmehr geht es auch in den Beiträgen der beiden Autoren um die Frage einer EU-Erweiterung unter möglicher Einbeziehung der Türkei. Und in ihren Antworten haben sie bereits der Arbeit des europäischen Konvents unter Giscard d'Estaing vorgegriffen, denn genau genommen lautet die Frage doch: "Welche politischen, sozialen und ökonomischen Ziele definieren die EU?" Reicht es aus, nach den europäischen Wurzeln zu fragen, wie es die Autoren ganz selbstverständlich tun, oder müsste man die konstituierenden Grundlagen der Union in den Vordergrund stellen? Dann wäre das Ziel nicht mehr nur eine paneuropäische Union, sondern eine panföderale Union, die auch für andere Gesellschaftsformen offen ist. Helmut Schmidt liefert einen triftigen Grund für eine panföderale Union, wenn er "die gemeinsamen Wurzeln in Abraham und Moses" hervorhebt. Eine vergleichende Religionswissenschaft ist relativ mühelos in der Lage, die Ähnlichkeiten in den Aussagen der verschiedenen Religionsgründer nachzuweisen und die geringen Unterschiede zu relativieren. Allerdings muss man sich dieser Aufgabe stellen, um mehr Toleranz und Verständnis im Umgang zu begründen. Die Union ist erst durch die kulturelle Vielfalt und den Verständigungswillen untereinander so stark geworden. Warum soll das nicht in einem noch größeren Maßstab fortgesetzt werden können? Michael Thumann liefert einen weiteren triftigen Grund für eine panföderale Union, denn deren "Völker drängt es nicht mehr 'nach Europa', seitdem sie Mitglieder im Klub sind". Bislang war die Union besonders in wirtschaftlicher, aber auch in sozialer Hinsicht für jedes Mitgliedsland ein Erfolgsmodell. Dieser Erfolg wird auch in Zukunft seine Anziehungskraft entfalten. Insbesondere die bevorstehende Konstitution der Union wird für viele Länder ein Vorbild für ihre eigene Entwicklung sein. Wir werden es nicht verhindern können, dass sich auch außerhalb Europas ein Wettbewerb um die fortschrittlichste Demokratie entfaltet, mit dem Ziel der Integration in die Union. Haben wir denn ein moralisches Recht, den aufstrebenden Demokratien diese Integration vorzuenthalten? Reinhard Rohlfs, Aschau im Chiemgau Mit der Aufnahme der Türkei in die EU hätte Europa Probleme von großer Sprengkraft. Mit einem Male stünden Konfliktzonen wie Armenien, der Iran, der Irak, Tschetschenien ... und das israelisch-palästinensische Problem direkt vor der EU-Haustür. Darüber hinaus: Wer garantiert, dass eine nur mühsam von den türkischen Militärs aufrechterhaltene Trennung von Staat und Religion auch in Zukunft für eine halbwegs stabile Demokratie in der Türkei sorgen wird? Ich jedenfalls möchte dazu in einem Referendum befragt werden. Michael Merkle, Heilbronn Helmut Schmidt ist ein großer Staatsmann des 20. Jahrhunderts - und inzwischen auch ein sehr alter Mann. Selbst Bismarck hätte die gegenwärtige Situation nicht treffender beschreiben können, finde ich.
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DIE ZEIT
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"Sind die Türken Europäer?" - Michael Thumann: "Ja, sie gehören in die EU", Helmut Schmidt: "Nein, sie passen nicht dazu", ZEIT Nr. 51
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"Helmut Schmidt",
"Armenien",
"Europa",
"Irak",
"Iran",
"USA",
"Asien",
"Dortmund"
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2002-12-23T13:00:00+01:00
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Handeln und helfen
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die zeit: Wie wird ein Lehrer steinreich? Michael Benner: Das ist nicht schwer: Vor sechs Jahren habe ich mit Schülern der Waldorfschule Märkisches Viertel in Berlin die Mineralienhandelsgesellschaft Steinbrücke GbR gegründet. Zweimal im Jahr fahren wir auf Messen und kaufen für bis zu 7000 Euro Mineralien ein, die wir dann gewaschen, gewogen und ausgezeichnet in einem Baucontainer auf dem Schulgelände lagern. zeit: Und was machen Sie mit Ihrem Schatz? Benner: Wir verkaufen die Mineralien auf Schulbasaren und Märkten und erwirtschaften so im Schnitt einen Gewinn von 3000 Euro. Im Gegensatz zu anderen Schülerfirmen ist Steinbrücke gewerblich gemeldet, und die Betreiber lernen, betriebswirtschaftlich zu arbeiten. zeit: Was bedeutet der Name Steinbrücke? Benner: 80 Prozent aller in Europa verkauften Mineralien stammen aus so genannten Entwicklungsländern und werden dort in neokolonialem Wirtschaftsstil gehandelt. Die Mitarbeiter in den Gruben, in den Schächten leiden unter sehr schlechten Arbeitsbedingungen, erhalten zu wenig Lohn und keine Sozialabsicherung. Unser Name bedeutet eine doppelte Brücke. Einmal kommen die Mineralien zu uns, zum anderen geben wir die Gewinne aus unseren Verkäufen zu 100 Prozent in die Herkunftsländer zurück. zeit: Wie machen Sie das?
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Handeln und helfen“.
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"Brücke",
"Entwicklungsland",
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ICH HABE EIENEN TRAUM
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Schon das 28. Mal Weihnachten ohne einen Bruder. Keine Rückbesinnung auf Kloppereien in der Kinderzeit um die cooleren Geschenke oder auf nasse Augen, weil er mir - natürlich nur versehentlich - meinen Schokoladenweihnachtsmann weggegessen hatte. Keine gemeinsamen Erinnerungen an die Nervosität vor der Bescherung unter einem glühenden Baum. Was hätte ich ihm alles geschenkt! Matchbox-Autos, Feuerzeuge, Fußballschuhe, die garantiert falschen Krawattennadeln, ein Parfum von Boss und eine Platte von Simply Red. Ach: Hätte ich einen Bruder gehabt, wäre mir vor Weihnachten nie bang gewesen. Und heute? Eltern, Freunde und Bruders Kinder könnten wir am Heiligen Abend zu einer Großfamilie zusammenschmieden, wir würden nach andächtigen Minuten eine Sause feiern im Münchner Schnee mit Bier und Jagertee. Weihnachten auf italienisch ... Als kleines Mädchen war ich ganz verrückt nach einem großen Bruder. Sieben Jahre älter als ich sollte er sein, den Namen Tim oder Nick haben, mich beschützen, jeden Blödsinn mitmachen und mich verteidigen gegen meine Eltern, wenn mein Temperament mit mir durchging. Daraus wurde nichts. Ich wuchs als Einzelkind auf, schoss keine Bälle in Scheiben, war gut in der Schule, zweifelte nicht am Sinn des Lebens und probierte keine Drogen aus. Mein Traumbruder wäre heute 35 Jahre alt, hätte blonde Haare, blaue Augen und ein garagenbreites Kreuz. Er gäbe sich cooler, als er in Wirklichkeit ist, er würde ab und an Marihuana rauchen, ein Medizinstudium hinter sich haben und sich mit Freunden umgeben, die alle auf Fußball stehen. Ich wüsste, wie man Karten spielt und dabei immer ein As im Ärmel hat ich wüsste, wie man Luthers Satz Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmecket? so verwendet, dass es niemals peinlich würde. Vor allem hätte ich die Erfahrung, wie es ist, sich an einen großen Bruder zu schmiegen, ihn zu riechen, ohne Gefahr zu laufen, missverstanden zu werden. Dem traumhaft guten Verhältnis zu ihm wären allerdings schwere Zeiten vorausgegangen. Mit sieben Jahren war ich ein schreckliches Mädchen mit Hang zur überkippenden Stimme und dem grässlichen Hobby, Bildchen von Popstars zu sammeln. Mein 14-jähriger Bruder hätte diese kindlichen Reviere längst verlassen und begonnen, nach Pubertät zu stinken. Seine Tennissocken, Unterhosen, Shirts und Jeans hätten wild verstreut überall herumgelegen, und ich wäre mit Schnippigkeit und gespieltem Ekel an diesen Stillleben vorübergegangen. Die achtziger Jahre. Er hätte Depeche Mode gehört und Yazoo, wäre mal kurz bei Breakdancern ein- und bei Mode-Punkrockern ausgestiegen. Strasssteine hätten sich unter seinem Bett gefunden, und als ihn meine Mutter beim Nägelbemalen mit schwarzem Lack erwischt hätte, wäre ihr die Hand ausgerutscht. Mein Bruder. Ich wäre so stolz auf ihn gewesen, dass meine Klasse den Quasijungen, den ich eine Zeitlang abgab, nicht hätte ertragen müssen.
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „ICH HABE EIENEN TRAUM“.
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"Depeche Mode",
"Mädchen",
"Popstar",
"Porsche"
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2002-12-23T13:00:00+01:00
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Mit 17 ging er von der Schule - Wer war's?
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Mit 17 ging er von der Schule - ohne jede Prüfung Er wurde während eines Luftangriffs geboren und musste den Rest der Nacht zum Schutz vor herabfallendem Deckenputz unter dem Bett der Mutter verbringen. Die Mutter war die jüngste von fünf Töchtern eines Offiziers auf einem Bergungsschiff. Es gab fünf Frauen, die meine Familie waren. Fünf starke, intellektuelle, schöne Frauen. Eine war meine Mutter. Meine Mutter wurde einfach mit dem Leben nicht fertig. Und sie hatte einen Mann, der zur See abhaute, und es war Krieg, und schließlich wohnte ich bei ihrer älteren Schwester. Später schrieb er dann: Dieses Bild von mir als Waise ist Müll, weil ich von meinem Onkel und vom Tantchen gut behütet wurde ... Also diese Frauen waren fantastisch ... Die Männer waren schlichtweg unsichtbar in der Familie ... (die Frauen) wussten immer genau, was ablief. Die Männer wussten nie, nie, nie Bescheid. Und das war meine erste feministische Erziehung. Er fühlte sich trotz allem einsam. Rückblickend schrieb er: Leute wie ich erkennen ihr sogenanntes Genie mit zehn, neun, acht Jahren. Ich fragte mich immer: >Warum hat mich niemand entdeckt? Sehen sie nicht, dass ich klüger bin als alle in der Schule? Dass die Lehrer auch doof sind? Dass sie nur Informationen hatten, die ich nicht brauchte?< Er wurde zum Rebellen ohne Warum, Wogegen und Wofür. - Da kam Elvis, der mich süchtig machte ... Ich betete ihn an. Ein Waschbrett ersetzte das Schlagzeug, und der Bass wurde aus einem Besenstiel, einer Teekiste und einer Wäscheleine gebastelt. Als er mit 15 zwei oder drei Akkorde beherrschte, gründete er mit seinen engsten Freunden eine Band. Sie konnten keine Noten lesen und schrieben nur die Wörter auf und die Gitarrenakkorde. Die Melodien behielten sie im Kopf. Als sie auf einem Gartenfest spielten, lernte er einen Konkurrenten kennen, der besser Gitarre spielte, der besser sang und der viele Texte behalten konnte, während er immer improvisieren musste. Aber er merkte bald, dass sie beide sich ergänzten. Sie taten sich zusammen.
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DIE ZEIT
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Lesen Sie jetzt „Mit 17 ging er von der Schule - Wer war's?“.
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"Paul Johannes Tillich",
"Paul Tillich",
"Gerhard Wehr",
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"Deckenputz",
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"Bergungsschiff",
"Kunstschule",
"Tantchen",
"Wäscheleine"
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https://www.zeit.de/2003/01/Mit_17_ging_er_von_der_Schule_-/komplettansicht
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Die Liebe vergeht, heimlich siegt die Trauer
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Es gehört zum Ritual des internationalen Literaturbetriebs, dem subtilste Formen der Herablassung nicht fremd sind, darauf hinzuweisen, dass die Schriftstellerin Siri Hustvedt (Die Verzauberung der Lily Dahl) die Frau des inzwischen weltberühmten New Yorker Autors Paul Auster ist. Auch sei sie sehr schön. Das stimmt zwar, doch nach der Lektüre ihres neuen Buchs Was ich liebte drehen wir die Etikettierung einfach einmal um. Was ich liebte ist ein gebildeter und kunstvoll konstruierter, mithin altmodischer - oder heißt es nicht besser: klassischer? - Künstler-Roman, der vom Gestalten und Sehen erzählt, von den heimlichen Verwandlungen, die uns der Anblick mancher Bilder zufügt, aber auch von der Fremde, die sich langsam, aber unaufhaltsam in Freundschaft und Ehe drängt. Und schließlich erzählt er von Verlassenheit, Erblindung und dem Skandal des Todes. Es ist ein unzeitgemäß ernstes Buch über den Kummer des Lebens. Trost - wenn dieser denn die eigentliche Leistung von Literatur sein sollte - erwächst aus der Gewissheit des Lesers, eine meisterhafte Reflexion über das allmähliche Schwinden von Liebe in den Händen zu halten. Ein kleiner Trost. Eine Wolke vor den Augen Dem Buch fehlt alles, was es populär wie die Korrekturen von Jonathan Franzen machen könnte: Zynismus, Satire, brillante Boshaftigkeit - dabei erzählt es doch von New York, dieser zynischen, lachenden, boshaften Hauptstadt der Moderne. Hustvedts Kammerton hingegen ist der von Trauer und Vergangenheit. Seine zurückhaltend gezeichneten historischen Folien sind das große Verbrechen, der Holocaust und die Schicksale jener Familien, die ihm nach Amerika entkommen konnten. Der Erzähler des Romans, der sich über zwei Jahrzehnte hinweg erstreckt, ist der Kunsthistoriker Leo Hertzberg, Sohn jüdischer Emigranten aus Berlin. Die Faszination von Goyas Schreckensbildern bindet ihn an den Kontinent seiner Väter. Seine Frau Erica ist Anglistin, beide lehren an New Yorker Universitäten. Sie führen eine erotisch risikolose Ehe, eine Art Gemeinschaftsreferat mit nur einer Fußnote, der Geburt des Sohnes Matthew. Ihre gemeinsamen Freunde sind der charismatische Künstler Bill Wechsler und dessen gefühlsarme Frau Lucille. Deren zerebrale Ehe stammt offenkundig aus den Kurzgeschichten des New Yorker. Kurz nach der Geburt ihres Sohnes Mark trennt sich das Paar, und an Lucilles Stelle tritt die begehrenswerte Violet, zuvor noch Modell des Malers. Sie und Leo werden am Ende allein in der Stadt zurückbleiben.
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ZEIT ONLINE
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Siri Hustvedt schreibt den großen New-York-Roman.
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"Roman",
"Siri Hustvedt",
"Liebe",
"Anorexie",
"Paul Auster",
"Wissenschaftsgeschichte",
"USA",
"New York",
"Berlin",
"Manhattan"
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2003-01-16T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/04/Die_Liebe_vergeht_heimlich_siegt_die_Trauer/komplettansicht
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Globalisierung: Der Mann, der Davos erfand
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Ein steckbrieflich gesuchter Radikaler war dieser Spengler, ein militanter deutscher Vaterlandsverräter, Hungerleider obendrein, der sich nach dem endgültigen Scheitern der europäischen Demokratiebewegung 1849 nur mit knapper Not über die Grenze retten konnte. Doch auch in der Schweiz lauerten die Spitzel aus Wien und Berlin. „Der Sozialismus“, meldeten sie 1855 nach Wien, mache in der Schweiz „glänzende Geschäfte“. Der „aus der Revolutionsperiode in Dresden bekannte Flüchtling J. Semper, bisher in London“, sei „zum Professor der Baukunst an der polytechnischen Schule in Zürich ernannt worden“. Außerdem erhielten jetzt drei der „eingefleischesten Hochrothen“, die eigentlich nach Amerika auswandern hätten sollen, „besondere Einladungen, diesen Entschluß aufzugeben und in der Schweiz sich niederzulassen“. Just zu diesen drei „eingefleischesten Hochrothen“ zählte auch Alexander Spengler aus Baden – der Mann, der den Höhenluftkurort Davos begründen sollte. Geboren wurde er 1827 in Mannheim, als erstes von neun Kindern, der Vater war Lehrer. Alexander durfte studieren, bezog die liberale Universität in Heidelberg – und politisierte sich rasch. Als im Juni 1848 im Neckarstädtchen der Demokratische Studentenverein verboten wurde, zogen die Studenten aus der Stadt, die schwarz-rot-goldene Fahne voran, und ließen sich aus Protest einige Tage nebenan im pfälzischen Neustadt nieder. Spengler galt als einer der Führer der „aufständischen Akademiker“. Womit er ein besonderes Risiko einging, denn im Vergleich zu seinen Kommilitonen war er ein armer Schlucker. Er musste Miete, Brot und Seife bei seinem Vermieter abstottern und blieb auf ein Stipendium aus dem badischen Schul- und Sapienzfonds angewiesen. Baden verlangt, Spengler aus der Schweiz auszuweisen Aber der 22-jährige Jurastudent war ein glühender Revolutionär. In einem außerordentlichen Aufgebot dem 4. Badischen Infanterieregiment als Rekrut zugeteilt, wählten ihn seine Kameraden nach der Demokratisierung der Armee im Mai 1849 zum Leutnant. Im badischen Freiheitskampf diente er dem jungen Oberbefehlshaber Franz Sigel (ZEIT Nr. 34/02) als Verbindungsoffizier. Der Aufstand für Recht und Verfassung scheiterte, die Soldaten der Preußen und des Reichskorps unter der Führung des Prinzen Wilhelm, des späteren Kaisers WilhelmI., warfen die Demokraten nieder. Alexander Spengler floh mit Sigels revolutionären Truppen am 11. Juli 1849 in die Schweiz. Kaum war der Traum von der Freiheit in Blut erstickt, schwärmten schon die Spitzel aus, um alles über die junge Elite zu erfahren, die außer Landes gegangen war. Besonders die Schweiz geriet ins Visier der deutschen Staatsicherheitsorgane, und die (de facto unter preußischer Kuratel stehende) Großherzoglich-badische Regierung übte kräftigen Druck auf das Nachbarland aus, alle politischen Flüchtlinge in die USA abzuschieben. So forderte die badische Gesandtschaft Anfang der 1850er Jahre vom Bundesrat in Bern, auch Alexander Spengler aus der Schweiz zu „entfernen“. Immer wieder tauchte der Name Spengler in den Spitzelberichten auf; denn der Medizinstudent engagierte sich weiterhin politisch, machte im „Flüchtlingsunterstützungscomité“ mit, erteilte Fechtunterricht und war Fechtmeister an der Universität. Oft saß er im Zürcher Café Littéraire und diskutierte mit Gottfried Kinkel und anderen geflohenen Demokraten. Für das badische Innenministerium war Spengler „einer der rührigsten und thatenlustigsten Flüchtlinge“ in der Schweiz. Mit besonderem Argwohn verfolgte Karlsruhe, dass die „aufständischen Akademiker“ in Zürich viele der damals 1200 deutschen Wanderarbeiter und Handwerksburschen um sich scharen konnten. Seit dem Wintersemester 1850/51 hörte Spengler in Zürich Medizin; Freunde aus Graubünden, die zusammen mit ihm in Heidelberg studiert hatten, luden ihn in ihre Heimat ein und kämpften mit Erfolg für sein Bleiberecht. Im September 1853 trat er, nach seinem Zürcher Studium, zum Examen beim Bündner Sanitätsrat an, bestehend aus vier Medizinern und einem gewählten Politiker. Er bestand – und schloss am 10.November 1853 seinen Vertrag mit der Landschaft Davos. Er erhielt 600 Franken im Jahr Wartgeld und für jeden Krankenbesuch bei Tag 85 Rappen, in der Nacht das Doppelte. Davos zeigte sich hoch erfreut, wieder einen Arzt zu haben: In den vergangenen Jahrzehnten war die Stelle immer nur unregelmäßig besetzt; die Landschaft entschloss sich sogar zur Einführung einer besonderen Steuer, um das Gehalt Spenglers berappen zu können.
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ZEIT ONLINE
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Wie der linksradikale Asylant Alexander Spengler aus einem stillen Alpenwinkel den Ort machte, in dem diese Woche wieder die Welt konferiert.
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"Globalisierung",
"Davos",
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"Flüchtling",
"USA",
"Berlin",
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"Mannheim",
"Zürich",
"Karlsruhe"
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Irland: Sieh mal, die Front!
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Der Hass ist so alt wie der Kampf zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. So alt wie die 400 Jahre währende Hegemonie der Engländer, ihre Apartheitspolitik und der gnadenlose Teufelskreis aus Repression, Rebellion und Rache. Die aktuelle Phase der unablässig hin- und herwogenden Fehde zwischen den katholischen, proirischen Republikanern und den protestantischen Loyalisten wütet seit 1968 in der britischen Provinz. Auch der vor fast fünf Jahren als »Karfreitagsabkommen« zusammengeschusterte Friede hat die troubles nicht zur Ruhe kommen lassen. Im Gegenteil. Wo früher Schwerter klirrten und Musketen krachten, belauern und bekriegen sich heute terroristische Gangs mit Plastiksprengstoff und halbautomatischen Pistolen. In den vergangenen 30 Jahren starben mehr als 3500 Menschen bei solchen troubles in Nordirland. Und nirgendwo hat sich der Konflikt tiefer in die sozialen Grundfesten eingeätzt als im Belfaster Nordwesten. Hier zerfranst die konfessionelle Topografie, stoßen die relativ homogenen Siedlungsgebiete im Osten und Westen der nordirischen Hauptstadt wie Kontinentalplatten aufeinander. Von Straße zu Straße wechseln die Parteien, aber jedes Ghetto ist definiert, wird leidenschaftlich verteidigt. Ein sicheres Rezept für ein endloses Katastrophenszenario, in dem schon winzige Funkenschläge der Provokation tief sitzende Aversionen entzünden. Die Katastrophe lässt sich mittlerweile bequem besichtigen. Für rund 20 Euro chauffieren Taxifahrer wie Norman Touristen anderthalb Stunden lang durch die Viertel um die katholische Falls und die protestantische Shankill Road – Frontberichterstattung inbegriffen. Die beiden mit einem Abstand von 400 Metern parallel verlaufenden Magistralen bilden die Nahtstelle zwischen den verfeindeten Lagern West-Belfasts. Paramilitärische Verbände und der gärende Volkszorn stehen sich hier jeweils unmittelbar gegen-über. Jetzt werden die Trouble Tours sogar von der nordirischen Zentrale für Fremdenverkehr beworben. In einer ihrer Broschüren spricht sie von »eindrucksvollen Erlebnissen, die sich Belfast-Besucher nicht entgehen lassen sollten«. Die ersten Terrortouristen waren backpackers aus Amerika und Australien in den späten neunziger Jahren. Niemand traut sich in den Garten, auch nicht bei schönem Wetter Nieselregen stäubt aus einem schmutzigen Himmel auf die buckligen Taxis, die sich am Westrand der City zusammengerottet haben. Von ihrem Parkplatz zum viktorianischen Pomp der Innenstadt sind es nur wenige Gehminuten, doch im Schatten schmuddeliger Industriemauern und Wettbüros wirkt das Ödland wie aus einer anderen Welt. Die schwarzen Gefährte gehören zur IRA-nahen Falls Road Taxi Association. Sie wurde in den siebziger Jahren gegründet, als man so lange öffentliche Busse entführte und als Barrikaden für Straßenkämpfe benutzte, bis deren Verkehr schließlich eingestellt wurde. Seitdem sind die einst in London und Liverpool zusammengekauften Taxis die wichtigsten Verkehrsmittel für die katholischen Stadtteile West-Belfasts. Gelenkt werden sie nicht selten von haftentlassenen IRA-Terroristen, die für viele andere Jobs nicht mehr infrage kommen. Und im weiter nördlich gelegenen Gebiet um die Shankill Road kurven die protestantischen Pendants einer probritischen Organisation. Auch sie verlassen ihr konfessionelles Revier so gut wie nie. »Zu gefährlich«, sagt Norman, der früher auch für die Falls Road Taxi Association durch die Katholikenviertel kreuzte, bis er sich mit ein paar Freunden selbstständig machte. Heute bietet Norman organisierte Touren in beide Teile an. Sightseeing mit Touristen ist vor allem in den Sommermonaten einträglicher als der reguläre Betrieb. Normans Tour startet gleich hinter dem Treffpunkt seiner ehemaligen Kollegen, wo ein Autobahnzubringer die City wie ein Machetenhieb durchtrennt. Aus dem Schnitt rinnt die Falls Road als Strom niedriger Backsteinhäuser in Richtung Westen. Kleine Läden, Coffeeshops und Fish-and-Chips-Buden geben der Straße auf den ersten Blick den gedrungenen Charme eines alltäglichen working-class-Boulevards. Dass sie dies nicht ist, zeigt ihre Funktion als Freiluftgalerie. Die meisten Giebelwände zieren Malereien in den irischen Farben Grün, Weiß und Goldorange. Sie sind Fanale wütenden Stolzes: Keltische Symbole und gälische Parolen füttern das republikanische Ego, Bibelszenen kräftigen die katholische Seele, und Schwadronen von überlebensgroßen Kerlen mit Sturmkappen und Schnellfeuergewehren im Anschlag signalisieren Kampfbereitschaft. Man sieht historische Motive wie die gespenstischen Gestalten des Great Famine, der großen Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb von fünf Jahren ein Achtel der irischen Bevölkerung unter den Augen ihrer Besatzer dahinraffte. Und immer wieder leuchtet das Bildnis von Bobby Sands in den Straßenzügen auf. Seine Locken und sein mattes Ikonenlächeln lassen den Anführer des Hungerstreiks von 1981, während dessen zehn IRA-Gefangene ihr Leben ließen, wie einen modernen Christus aussehen. So konservieren die murals, die Tragödien vieler Generationen im Kollektivbewusstsein, als seien sie alle erst gestern geschehen. Gegenüber einem Madonnengraffito ragt der Divis Flats Tower in die Höhe. Ein bis an die Zähne bewaffnetes, von einem Hubschrauberlandeplatz gekröntes Monster, das aus zahllosen Augen in das Viertel starrt. Auf dem Dach des Wohnturms haben Polizeieinheiten der Royal Ulster Constabulary Stellung bezogen und observieren das Leben zu ihren Füßen mit Präzisionskameras. »Wenn du dich hier öfter aufhältst, wissen sie, wohin du gehst, woher du kommst und mit wem du dich triffst. Sie kennen deine Schuhgröße, deine Augenfarbe, und sie wissen, wann du rasiert bist und wann nicht«, sagt Norman und kurbelt das Autofenster herunter. Mit gestrecktem Arm hält er seine Zigarettenschachtel ins Freie. »Und jetzt sehen sie auch, welche Marke ich rauche.« Norman lächelt nicht, als er dies sagt. Er meint es ernst. Die Frage, ob auch Bekannte von ihm auf dem gerade links liegenden Milltown Cemetery liegen, ignoriert der hagere Mann mit den roten Haaren und der etwas zu großen Nase. Statt einer Antwort wuchtet er laut den nächsten Gang ins Getriebe. Der Friedhof an der Falls Road ist ein sensibles Thema. Auf ihm sind ehemalige IRA-Mitglieder begraben und werden dort wie Märtyrer verehrt. » Killed in action« steht auf ihren Grabsteinen, » assassinated« oder » no surrender«. Nur wenige wurden älter als 30 Jahre.
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ZEIT ONLINE
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Es ist die Fahrt durch einen Albtraum – durch den Westen von Belfast, wo Protestanten und Katholiken sich bekämpfen. Der Schauplatz lässt sich bequem besichtigen
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2003-01-23T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/05/Belfast_neu/komplettansicht
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Gute Bahn, Böse Bahn: Teasertitel
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Ankunft Frankfurt Flughafen am 31.12.02 um 7.00 Uhr morgens. Hinter mir liegen 11 Stunden Flug und 7 Stunden Zeitverschiebung (Canada). Die Zollabfertigung geht wider Erwarten schnell - also Beeilung, es könnte für den früheren Zug nach Hause reichen. Und da stand tatsächlich der 7.54 Uhr ICE nach Basel (AC 872) abfahrbereit. Hier gab es kein Überlegen - Koffer rein und los! Meine Platzkarte für den späteren Zug wollte ich der Bahn großmütig schenken. Jäh wurde ich von den beiden Zugbegleitern aus meinem Wohlbefinden gerissen: Meine Karte galt nicht für diesen Zug, als Frühbucher hatte ich einen Rabatt eingeräumt bekommen. In Mannheim sollte ich den bis auf weitere zwei Fahrgäste l e e r e n Großraumwagen verlassen und auf meinen "gebuchten" Zug, der zwei Stunden später kommen würde, warten. Ich bat, argumentierte und protestierte schließlich, verlangte den Zugdienstleiter zu sprechen. Aber das hätte ich besser gelassen! Was sich nun abspielte, ist so bizarr, dass es im Rückblick fast unglaublich erscheint: Mit einer beispiellosen Unhöflichkeit wurde ich von besagtem Dienstleiter dazu verdonnert, den gesamten Fahrpreis für die Fahrt Flughafen/Freiburg zu entrichten - ungeachtet meiner Bereitschaft, auf den Frühzahler-Rabatt zu verzichten und bis zum normalen Preis für die Fahrten Freiburg/Frankfurt und zurück aufzuzahlen (noch immer der leere Großraumwagen, kein Nachteil für irgend jemand durch meine Anwesenheit in diesem Zug). Ich hatte keine Chance - völlig entnervt und vor Erschöpfung unfähig, weiter um Einsicht zu bitten, wollte ich nun tatsächlich in Mannheim aussteigen. Das jedoch wusste der gestrenge Herr zu verhindern mit den Worten: Das können Sie mal versuchen, dann hetze ich den Grenzschutz auf Sie! Und nun fragt sich der Fahrgast, ob das das Image der "neuen Bahn" sein soll ...
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ZEIT ONLINE
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Dann hetze ich den Grenzschutz auf Sie!
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/06/bahn_cp_03
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GUTE BAHN, BÖSE BAHN: Teasertitel
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Das reibungslose Funktionieren unserer Eisenbahnen gilt als Symbol für Verlässlichkeit und planvolles Vorankommen. Der Zug als Sinnbild gesellschaftlicher Normalität. Dies aber nur, solange nicht Individuen den Zug besteigen, die ohnehin schon Sand im Getriebe sind und die die gleichmäßige Fahrt eines Intercity stören. Es gibt bedauerlicherweise in dieser Gesellschaft Kinder, die aufgrund ihres fehlangepassten, hyperaktiven oder aggressiven Verhaltens, zumeist als Folge von falscher oder fehlender Erziehung, an entsprechende Sonderschulen verwiesen werden. Dort sollen sie nun mit Hilfe einer besonderen Pädagogik und Didaktik wieder auf den rechten Weg gebracht, quasi nacherzogen werden. Nachdem meine Kollegin und ich innerhalb des Klassenraumes und unter Einbeziehung der näheren Schulumgebung alles Mögliche an beeinflussenden Maßnahmen mit Blick auf diese Rasselbande unternommen und versucht hatten, kam die Krönung des diesjährigen Schulprogramms: Eine einwöchige Klassenfahrt nach Sylt. Diese gameboygeschädigten, sozial verwahrlosten Kids sollten, so unsere Absicht, an der frischen Nordseeluft, bei gemeinsamen Strand- und Wattwanderungen oder beim ruhigen Gezockel der Kutschpferde auf Hooge zu neuen Erfahrungen und Erkenntnissen kommen. So waren wir also mit jener unruhigen Schar Zehnjähriger von Köln nach Westerland unterwegs. Insgesamt zwölf Jungen. Und jeder von ihnen zählte, von den Notwendigkeiten der Beaufsichtigung her gesehen, für drei. Wir besetzten mehrere nebeneinanderliegende Abteile. Es war im Mai. Ein warmer, sonniger Tag. Natürlich konnten wir die Kids nicht länger als eine halbe Stunde in den Abteilen halten. Sie fühlten sich offenbar eingesperrt und produzierten schon nach wenigen Minuten die ersten Konflikte und Streitereien. Sie wollten natürlich auf den Gang. Wir vertrösteten sie auf später. Sie versuchten es erneut und nervten immer mehr. Schließlich ließen wir sie raus. Es ging auch gar nicht anders. Sie tigerten auf und ab. Dann öffneten einige die Fenster. Wir schlossen die Fenster wieder und machten auf die möglichen Gefahren aufmerksam. Schließlich büchsten uns die ersten aus und entkamen in die benachbarten Großraumwagen. Angelika, meine Kollegin, jagte in die eine, ich in die andere Richtung, um unsere Schützlinge wieder einzusammeln. Marita, die mitreisende Sozialpädagogin, hielt die Stellung vor den Abteilen. Zunehmend außer Atem eilte ich durch die Gänge der vollbesetzten Wagen. Weiter vorne sah ich einen Blondschopf verschwinden. Ich balancierte weiter zwischen Clubreisetaschen und Mephistoschuhen hindurch. Hinter mir schlossen sich zischend die Glastüren. Der Weg durch die Wagen schien unendlich.
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ZEIT ONLINE
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Zwischenfall im Zug
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/06/bahn_mr_04/komplettansicht
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GUTE BAHN, BÖSE BAHN: Was hat ein Inter-Regio mit einem Ostfriesenwitz gemeinsam?
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Eigentlich nichts. Aber wenn man Glück hat, kann man einen echten Ostfriesenwitz im Inter-Regio erleben. Und das war so: In der Zeit, als ich noch öfter der Bahn den Zuschlag erteilt habe - und nicht umgekehrt - also in der Zeit, als es noch den guten alten blauen Interregio gab, der jetzt von einem weiß-roten IC abgelöst wurde, habe ich folgende kleine Begebenheit erlebt: Auf dem Weg von Köln nach Düsseldorf benutzte ich den IR Richtung Emden. Dieses Fernziel registrierte ich spätestens, als mir der unverkennbar ostfriesische Dialekt des Zugchefs auffiel. Es war wirklich ein sympathischer Zugchef, der auch Zeit für ein Pläuschen hatte. Und da ich in der nächsten Woche einen antiken Stuhl mit im Zug transportieren wollte, nutzte ich die Gelegenheit den freundlichen Herrn zu fragen, ob dies eigentlich im Zug erlaubt sei (heute würde ich dies übrigens allein aufgrund der überfüllten Züge gern regelmäßig anwenden...): Ich habe da mal eine Frage. Ich müßte demnächst einen Stuhl im Zug transportieren. Ist so ein ungewöhnliches Gepäckstück eigentlich zulässig?" Der Schaffner runzelte die Stirn und überlegte ein paar Sekunden. Es schien ein sehr komplexes Problem für ihn zu sein: Hmm...Von Köln nach Düsseldorf?. Ich wunderte mich: Nein, aber der Weg ist doch sicher egal - oder?. Jau, erwiderte der Zugchef, aber ICH würde nichts dagegen sagen.... Da mußten wir beide herzhaft lachen. - Danke, liebe Bahn, dass es immer noch nette Menschen auf deinen Zügen gibt. Aber warum hast Du die netten Interregios abgeschafft und durch die teureren ICs ersetzt?
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/06/bahn_sr_01
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gute bahn, böse bahn: Taxi nach Bonn
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22. Dezember. Mein Mann und ich, wir wohnen in Frankfurt, haben die Absicht, beim Schwiegervater in Duisburg vorbeizuschauen, um dann spät am Abend zur Schwiegermutter nach Bonn zu weiterzufahren. Seit es die neue ICE-Verbindung gibt, geht das ja auch sehr schnell. Nun gut, teuer, aber wir haben noch alte Bahncards - keine Lust darauf, die Dauer eines Meetings eine Woche im voraus antizipieren zu müssen, um dann am Bahnhof mit folgender Durchsage belohnt zu werden: "Der ICE sowieso hat dreißig Minuten Verspätung. Reisende ohne Zugbindung können aber auch den IC nehmen, der hier gleich vorbeikommt. Reisende mit Plan&Spar stehen bitte weiterhin dumm rum." Wir kommen aus der S-Bahn und suchen unseren ICE auf der Anzeigetafel. Er steht dort auch, nur leider versehen mit dem Kommentar "Zug fällt aus". Wie bitte? Und was jetzt? Das Reisezentrum ist brechend voll. Praktischerweise ist einen Tag vorher meine Bahn comfort-Karte angekommen, also testen wir doch gleich mal den Bahn comfort-Schalter. An dem natürlich auch alle normalen Kunden bedient werden, die sich einfach mal so dort angestellt haben - wodurch es für echte Bahn comfort-Kunden nur unwesentlich schneller geht als am normalen Schalter. Der Herr vor uns hat das gleiche Problem wie wir. Die Dame am Schalter: "Was für ein Zug soll da ausfallen? Ja, wenn das da steht, wird das schon stimmen." Auf bohrendes Nachfragen telefoniert sie rum, erreicht niemanden, läuft weg, kommt schließlich wieder und verkündet, der Zug aus Köln sei nicht angekommen, deswegen könne er auch nicht zurückfahren, und Ersatzzüge habe man nicht. Aber in einer halben Stunde fahre ja der nächste ICE in die Richtung. Wir begeben uns zum Gleis, wo der Zug schon bereitsteht. Erfreulicherweise ist im ganzen Wagen nichts reserviert. Der Zug füllt sich. Eine Minute vor Abfahrt flammen plötzlich überall elektronische Reservierungsleuchten auf. Erklärung einer genervten Zugbegleiterin: Der Zugführer musste erst die Diskette mit den Daten suchen. Die Hälfte der Fahrgäste geht wieder auf Platzsuche. Kurz vor Köln die Durchsage: Wir fahren heute ausnahmsweise nicht über Deutz, sondern über Hauptbahnhof. Wodurch sich die Fahrtzeit weiter verzögert. Schließlich kommen wir in Duisburg an, essen mit dem Schwiegervater zu Abend, landen um halb elf wieder am Hauptbahnhof und wollen einen D-Zug nach Bonn nehmen. Der dummerweise - laut Bildschirmanzeige - über 60 Minuten Verspätung hat. Wie im übrigen alle anderen Züge in die Richtung auch. Wir gehen zum Fernbahnsteig, auf dem die Züge Richtung Süden fahren. Dort sind nur Regionalzüge ausgeschildert. Ich warte mit dem Gepäck, während mein Mann Auskunft sucht. Das Reisezentrum ist geschlossen. Der Servicepoint macht gerade zu und weiß nichts, aber: "Ist doch Eisregen". In Duisburg ist kein Eisregen. Und die Züge aus Amsterdam, Berlin und Hamburg sind alle gleichermaßen verspätet. Wir warten. Keine Durchsage, keine Information. Irgendwann kommt ein ICE nach Köln, der nur 30 Minuten Verspätung hat. Wir steigen ein, schließlich ist Köln schon mal eine ganze Ecke hilfreicher als Duisburg. Der Schaffner kommt und verkündet, er müsse ICE-Aufpreis kassieren, wir hätten ja nur D-Zug-Tickets. Wir protestieren. Er ist überrascht, als er hört, dass erhebliche Störungen herrschen, und erkundigt sich beim Zugführer. Schließlich kommt er zurück und erklärt, die Störungen existierten anscheinend tatsächlich (ach!), das mit unseren Tickets sei also in Ordnung, und den Regionalzug nach Bonn würden wir auch erreichen. Kurz vor Köln eine Durchsage des Zugführers über die Anschlusszüge. Für uns beruhigend: Es besteht Anschluss an den Regionalexpress nach Koblenz über Bonn, Abfahrt 23.56 Uhr. Wir kommen um 23.55 Uhr am Gleis an, schnappen unser Gepäck und sprinten los. Die Treppe zum Bahnsteig hoch - der Zug steht am Gleis. Mein Mann drückt den Türknopf. Die Tür bleibt geschlossen. Dummerweise lassen sich die Türen bei diesen komischen neuen Zügen nicht mit Gewalt öffnen (er hat's getestet). Der Zug setzt sich in Bewegung und verschwindet. Wir stehen fassungslos da. Nächster Zug nach Bonn: 1 Uhr morgens. Es reicht uns. Wir begeben uns zum Servicepoint (in Köln ist der immerhin um die Zeit noch besetzt) und regen uns erst mal so richtig auf. Irgendwann fordert mein Mann: Ich will ein Taxi nach Bonn bezahlt haben! Der Mensch am Schalter zuckt die Schultern und telefoniert seinen Vorgesetzten herbei. Der will uns erst mal abwimmeln. Wir merken aber, da ist was zu machen, und insistieren, mit dem Verweis darauf, dass die Verbindung im Zug angesagt worden ist. Schließlich füllt der Vorgesetzte einen Gutschein aus, schreibt die Zugnummer des ICE darauf und kommentiert, das sei dann deren Problem. Völlig erstaunt machen wir uns auf dem Weg zum Taxistand. Zwischendurch gabeln wir noch eine Mitreisende aus unserem ICE auf, die ebenfalls nach Bonn will - Taxigutscheine gibt es natürlich nicht für alle, sondern nur für die, die sie lautstark genug verlangen.
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ZEIT ONLINE
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"Bonn",
"Bahn",
"Bahncard",
"ICE",
"S-Bahn",
"Köln",
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/06/bahn_sr_02
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Gute Bahn, Böse Bahn: surf und rail - Ein gutes Angebot, doch sooo unflexibel
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Ich hatte ein surf und rail -Ticket Nürnberg-Hamburg in der Tasche. Wieder einmal wollte ich den Besuch in Hamburg mit einem Besuch meiner Freundin nahe Bremen verbinden. Ich wollte von Nürnberg nach Bremen, dann zwei Tage später per Auto mit meiner Freundin nach Hamburg und von dort einen Tag später zurück nach Nürnberg. Da diese Kombination mein Ticket nicht zuließ (trotzdem beide Strecken gleich viel kosteten), ich aber die Bahn dem Auto vorziehen und umweltfreundlich und kostengünstig reisen wollte, musste ich leider einschlafen... Der Zug Nürnberg-Hamburg war ein Doppelzug, der vordere Zugteil fuhr nach Hamburg, der hintere nach Bremen. Ich setzte mich in den Wagen nach Bremen (versehentlich). Kaum saß ich, wurde ich ein Opfer der neuen kundenorientierten Bahnbetreuung. Der Zugbegleiter und der Herr der Bahnbefragung waren sehr darum besorgt, dass ich doch spätestens in Hannover in den vorderen Zugteil umsteigen möge. Soviel Kundenservice konnte ich heute nicht gebrauchen, da ich doch versehentlich im falschen Zug sitzenbleiben wollte mit dem Hintergedanken, dass nach Hannover der Zug nicht mehr hält und ich so bequem (weil eingeschlafen) nach Bremen käme. Göttingen hatten wir passiert; „also beim nächsten halt müssen Sie..." Ich verließ meinen Platz, denn meinen Plan mußte ich nun ändern und ging einige Wagen vor, um einen geschützen Platz zu finden. Ich setzte mich in einen freien Doppelsitz und bekam sehr schnell schwere Augen. Das Abkoppeln der Züge in Hannover dauerte ewig, aber ich muß irgendwie doch eingeschlafen sein und verpaßte tatsächlich das Umsteigen in den vorderen Zug. Der Zug fuhr wieder an, ich „schlief“ immer noch. „Fahrkartenkontrolle“. Ich quälte mich hoch und fragte mit verschlafenen Augen: „Sind wir schon in Hannover durch?“ (So hatte ich mir meine Taktik zurechtgelegt). "Wir haben soeben den Bahnhof verlassen", war die Antwort. „Das nennt man Pech“ sagte ich und der nette Zugbegleiter nannte mir freundlicherweise die nächsten Verbindungen von Bremen nach Hamburg, die ich mir brav aufschrieb. In Bremen angekommen, empfing mich meine Freundin auf dem Bahnsteig. Sie wollte mich begrüßen. "Nicht hier", sagte ich etwas in Hektik, „ich muß doch zurück nach Hamburg“. Wirklich ein gutes Angebot, diese surf und rail -Tickets. So vielseitig und flexibel einsetzbar. Nur das schnelle Einschlafen muß man beherrschen.
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ZEIT ONLINE
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/06/bahn_sr_15
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gute bahn, böse bahn: Der Schaffner erzählt
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Stuttgart am späten Nachmittag - Annette und ich erwischten gerade noch rechtzeitig den Zug von Stuttgart in Richtung Passau. Es war Frühling, Mai, ich freute mich aufs Land und die hellgrünen Wiesen am Fenster... Wir hatten glücklicherweise den Interregio erwischt und standen noch etwas außer Atem auf dem Gang des Zuges, der sich nun langsam in Bewegung setzte. Auf der Suche nach einem Sitzplatz trafen wir - noch im Gang stehend - auf einen fränkischen Kontrollschaffner. Während wir unsere Fahrscheine suchten, fragte er uns, ob wir hier zugestiegen waren - was wir kopfnickend bejahten... „Ach ja“, begann er „dieses Hin- und Herfahren auch immer...“, also, er sei heute ganz früh schon von Nürnberg weg und dann auch den ganzen Tag unterwegs gewesen, und man komme ja auch so nirgends wirklich an, nicht?! „Ähm – bitte?“ konnten wir, dem fränkischen Dialekt auf der Spur kommend, Verständnis signalisieren. Jedoch nur kurz, denn der eben begonnene Monolog ließ sich nun gar nicht wieder stoppen: „Und das Wochenende war auch katastrophal, denn die Frau ist seit zwei Monaten ausgezogen und nahm das Kind mit, das ist schwer! ... so ein Zustand und die Tage werden einem lang...!“ Die Haltestellen schwirrten vorbei (dazwischen auch die Wiesen), auch die Sitzplätze waren schon längst erkämpft. Wir waren schon viel zu sehr inmitten der traurigen Situation unseres Kontrollschaffners gefangen, als das wir noch das Thema „Fahrscheine“ andeuten konnten. Nach ungefähr zwanzig Minuten - kurz vor unserem Ziel - verabschiedete er sich mit den Worten: „Aber morgen geht’s eben auch weiter, gell?“. Nickend sahen wir Ihm nach. Er knipste uns zwar nicht in die Ohren, aber ich habe Ihn trotzdem nicht vergessen.
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ZEIT ONLINE
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/06/bahn_sr_18
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gute bahn, böse bahn: "Mir ist in der Bahn was voll lustiges passiert"
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Roger, Michel und ich haben ein super spontanes Konzert im Zug von Nürnberg nach Regensburg gegeben. Uns war es langweilig und so beschlossen wir, die Leute um uns ein bisschen zu unterhalten. Als wir dann merkten, dass das ganze Abteil schaut und zuhört, ergriffen wir die Initiative. Das war so ein Doppeldecker-Zug. Obwohl die Leute unterschiedlich alt und aus den verschiedensten sozialen Schichten waren, schafften wir es, sie auf die Gänge zu bringen und mit uns "Drah di rum", "Hu Jambo" und "Rubidudabdab" zu tanzen und singen. Beim Lied "A eignes Land bauen wir uns auf" machten wir dann, kaum zu glauben, eine Polonaise durch drei Zugabteilungen mit ca. 40 Leuten, die alle kräftig beim Refrain mitsangen. Roger voraus, Michel in der Mitte und ich am Schluss. Der Schaffner schaute nur verwundert. Er hatte uns ja vor einer halben Stunde noch gesehen, wie alles im kleinen Kreis anfing. Im ersten Stock drei Wagons in Fahrtrichtung und im unteren Stock wieder zurück. Dazwischen blieben wir in einem Abteil stehen und sangen alle Strophen. Doch das ganze war so lustig, dass die Leute sich in den anderen Wagons anschlossen und mit uns durch den Zug zogen. Roger, Michel und ich klinkten uns dann aus und die lange Menschenschlange wurde ein Selbstläufer. Wir haben Ihnen eine Fröhlichkeit auf den Weg gegeben, die sie jetzt weitertragen! Das wahr ein so schönes Erlebnis, wenn man sieht, was man mit seiner Musik alles erreichen kann.
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ZEIT ONLINE
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"Mir ist in der Bahn was voll lustiges passiert"
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"Konzert",
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"Regensburg"
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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2003-01-30T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/06/bahn_sr_20
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Wirtschaft: Der wichtigste Preis der Welt
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Für den Fall, dass in Deutschland das Öl knapp wird. Vorkriegszeit ist Albtraumzeit. Der Horror könnte so aussehen: Ein Angriff auf den Irak, und als Antwort jagen Terroristen in Saudi-Arabien die Pipelines in die Luft. Bomben auf Bagdad, und in Rotterdam und Houston explodieren die Raffinerien. Raketen auf Saddams Palast, und in ganz Nahost brennen die Ölquellen. Das Schlimme an solchen Schreckensszenarien ist: Sie brauchen gar nicht Wirklichkeit zu werden, um Wirkung zu zeigen. Denn Erdöl wird an der Börse gehandelt, und dort bestimmen nicht Fakten den Preis, sondern Erwartungen, Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten. Seit Monaten gehen Ölkonzerne, Benzinhändler und Investmentbanken von einem baldigen, aber kurzen und erfolgreichen Krieg im Irak aus. Schon das hat den Ölpreis auf über 30 Dollar je Barrel (159 Liter) steigen lassen. Sollte es tatsächlich zum Krieg kommen, dieser aber nicht so glatt verlaufen wie ein Videospiel, dürfte Öl sehr schnell viel teurer werden. Die HypoVereinsbank rechnet mit 70 Dollar pro Barrel und mehr. Profispekulanten könnten den Preis zusätzlich in die Höhe treiben, sagt Wolfgang Wilke, Rohstoffexperte der Dresdner Bank. Dann würde sich zeigen, was drei Jahrzehnte nach der ersten Ölkrise heute gern verdrängt wird: Die Weltwirtschaft ist noch immer eine Ölwirtschaft. Was haben sich Professoren, Politiker und Journalisten in den vergangenen Jahren doch für hübsche Wörter einfallen lassen: Wissensgesellschaft. Dienstleistungsgesellschaft. New Economy. Begriffe, die den Eindruck erwecken, das Wohl der modernen Welt hänge an Computern, Call-Centern und klugen Konzernchefs.
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ZEIT ONLINE
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Die Menschheit kommt nicht los von der schwarzen Droge: Dreißig Jahre nach der ersten Ölkrise ist die Wirtschaft abhängiger denn je
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"Energie",
"Goldman Sachs",
"Opec",
"Diesel",
"Dollar",
"Erdöl",
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"Golf",
"Irak",
"Joseph Stiglitz"
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2003-02-13T13:00:00+01:00
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2003-02-13T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/08/85l_2fProsperit_8at/komplettansicht
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Wer soll das bezahlen?
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Die Herausforderung trifft die weltweite Rückversicherungsbranche (an deren Umsatz deutsche Rückversicherer mit über einem Viertel den größten Anteil stellen) in einer schwierigen Situation. In den vergangenen Jahren hat ein harter Preiskampf die Margen in engen Grenzen gehalten, die Rückschläge an den Aktienmärkten haben das Vermögenspolster der Rückversicherer deutlich geschmälert. Es besteht die Gefahr, dass zukünftige Megaschäden die Kapazität der Branche übersteigen werden. Die Rating-Agentur Moody's gab kürzlich bereits einen „negativen langfristigen Ausblick“ für die Rückversicherungsbranche insgesamt. Erfreulicherweise reagieren aber große Rückversicherer – wie die Swiss Re und besonders die Münchener Rück – auf das spezifische Gefahrenpotenzial der globalen Klimaveränderung mit Umsicht und Eigeninitiative: Sie gehören zu den kompetentesten Stimmen in der klimapolitischen Debatte und setzen sich energisch für eine wirksame Klimapolitik ein. Immer mehr Dürren Der Zusammenhang zwischen Erwärmung der Erdatmosphäre und extremen Niederschlägen ist ähnlich wie jener zwischen Rauchen und Lungenkrebs. Am Krebs wie am Klimawandel verstehen wir vieles nicht, und Lungenkrebs kann ebenso ohne vorheriges Zigarettenrauchen entstehen wie eine Jahrhundertflut ohne Klimawandel. Beim Lungenkrebs verstehen wir den grundlegenden Mechanismus aber gut genug, um die Tabakindustrie für Gesundheitsschäden zur Kasse zu bitten. Aus den Daten der vergangenen 100 Jahre und aus vielfältigen Modellrechnungen für die nächsten 100 Jahre wissen wir auch, dass drastische Niederschlagsereignisse häufiger und intensiver werden, wenn die Erdatmosphäre wärmer wird. Denn sie gleicht einem gewaltigen Pumpwerk, das vom Meer stetig Wasserdampf hochpumpt, um dieses Wasser an wenigen Orten in unterschiedlichen Schüben wieder fallen zu lassen. Durch die globale Erwärmung wird dieses Pumpwerk beschleunigt, und die verstärkten Extremniederschläge erzeugen verheerende Überschwemmungen. Zugleich verlagern sich manche Niederschlagsgebiete, sodass in einigen Gebieten – wie 2002 im Südwesten der USA – Dürren häufiger werden. Die Menschheit ist dabei, so viel fossile Brennstoffe zu verbrennen, dass die Atmosphäre in wenigen Generationen mehr Treibhausgase enthalten wird als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Für die Politik ist ein Jahrhundert eine lange Zeit, aber auf der für das Klimasystem relevanten geologischen Zeitskala könnten die nächsten 100 bis 200 Jahre den abruptesten Wandel seit Millionen von Jahren bedeuten. Dadurch bürden wir unseren Nachfahren Risiken auf, die kaum zu verantworten sind. Zusätzlich zu Dürren und Extremniederschlägen sind vor allem vermehrt Sturmfluten zu erwarten. Außerdem bedroht der durch die globale Erwärmung bewirkte Anstieg des Meeresspiegels den Lebensraum von Hunderten Millionen Menschen. Die Mehrheit der Menschheit lebt schließlich in Küstenregionen. Klimaschäden lassen sich ohne Nutzung des Versicherungsprinzips nicht vernünftig abfedern. Aus vielen Untersuchungen ist bekannt, dass die Erwartung, der Staat werde im Katastrophenfall die Schäden abgelten, dazu führt, dass mögliche und nötige Vorsorgemaßnahmen unterlassen werden. Deshalb braucht es privatwirtschaftliche Versicherungsverträge, die Anreize für Vorsichtsmaßnahmen geben, nicht zuletzt in Form vertraglich vereinbarter Selbstbeteiligung.
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ZEIT ONLINE
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Finanziellen Schutz vor den Folgen des Klimawandels können Versicherungen nicht allein gewährleisten/Von Carlo C. Jaeger, Detfef F. Sprinz und Klaus Hasselmann
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2003-02-13T13:00:00+01:00
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2003-02-13T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/08/Klimasch_8aden_neuneu/komplettansicht
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Leben: Der Friedenskämpfer
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Der Mann mit dem weißen Haar hat eine leichte Bräune im Gesicht, und wenn er den Telefonhörer abnimmt und einen Wunsch äußert, tut er das ruhig, fast beiläufig; er weiß, man kommt seinen Wünschen nach. Jürgen Todenhöfer, stellvertretender Vorstandschef des Medienkonzerns Burda, ist einer der einflussreichsten Manager Deutschlands. Neuerdings ist er gleichermaßen Reiz- wie auch Symbolfigur in der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Man glaubte, Menschen wie Jürgen Todenhöfer, 62, zu kennen. Es sind Menschen, die nicht die Öffentlichkeit suchen, sondern andere nach vorn schieben, einen wie Focus- Chefredakteur Helmut Markwort, der durch Talkshows tingelt, damit sich den Zuschauern mit seinem Gesicht auch sein Zeitschriftentitel einprägt. Es sind Menschen, die in einer Welt leben, aus der man nur manchmal etwas erfährt; vor einigen Jahren lief ein Film im Fernsehen, der Todenhöfer im Urlaub mit Michael Jackson zeigte und wie er seinen Freund Thomas Middelhoff, damals noch Bertelsmann-Chef, nach einem Unfall beim Skifahren ins Krankenhaus fuhr. Man kann sich irren. Jürgen Todenhöfer, CDU-Mitglied, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: Wer weint schon um Abdul und Tanaya? Die Irrtümer des Kreuzzugs gegen den Terror . Es ist ein Buch, in dem der Autor keinen Zweifel daran lässt, dass er die Amerikaner als Deutschlands wichtigste Freunde betrachtet. Todenhöfer will dem islamistischen Terror nicht die Tötung von fast 3000 Menschen im World Trade Center verzeihen, er will auch die Gefährlichkeit und Brutalität des irakischen Diktators Saddam Hussein nicht leugnen. Aber ein Angriffskrieg gegen den Irak, wie ihn George Bush plant, sei nicht nur völkerrechtswidrig, sondern ein lebensgefährlicher Rückfall in eine barbarische Urzeit. In seinem Büro sagt Todenhöfer Sätze, die fast wortgleich in seinem Buch stehen, die von ihm auch schon in Zeitungen zu lesen waren. »Es könnte sein, dass wir 30 Tage Bomben auf den Irak mit 30 Jahren Terrorismus bezahlen.« Todenhöfer ruft nach einer politischen Lösung. Man müsse verhandeln, »notfalls auch mit dem Teufel«. Denn da sind die Opfer jedes Krieges: die Menschen. Todenhöfer erzählt Geschichten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Afghanistan und im Irak. Er prangert an, dass in Afghanistan bis zum Jahresende 2001 allein durch die Bombardierung der Städte Kunduz und Kandahar vermutlich mehr als 6000 Zivilpersonen ums Leben kamen. Und dass im Irak, wo nach Schätzungen an den Folgen der Sanktionen seit 1991 über eine halbe Million Kleinkinder gestorben seien, bei einem Angriff auf das Land Zehntausende weiterer Todesopfer zu erwarten seien. Es geht in Todenhöfers Buch darum, dass man Politik nicht allein aus macht-, strategie- oder geopolitischen Erwägungen heraus machen darf. »Wir haben nicht das Recht«, schreibt Todenhöfer, »die Moral aus der Außenpolitik zu verbannen.« Und in dem Buch geht es auch ein bisschen um Jürgen Todenhöfer.
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ZEIT ONLINE
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Jürgen Todenhöfer, Burda-Manager und CDU-Mitglied, ist zur Symbolfigur der deutschen Kriegsgegner geworden. Warum gerade er?
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"Franz Josef Strauß",
"George W. Bush",
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"Hubert Burda",
"Jürgen Todenhöfer",
"Bundesregierung",
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2003-02-13T13:00:00+01:00
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2003-02-13T13:00:00+01:00
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Reise-Hits: Die Zurückgebliebenen
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Es sind Männer ohne Frauen und ohne große Zukunft. Wie sie den Hang am Ende der Nacht wieder hinaufkommen wollen, ist unklar. Aber wir sind auf der wilden Seite der Insel, und Polizeikontrollen gibt es nur auf der flachen Westseite. Dort, jenseits des subtropisch überwucherten Inselberges Pico Alto, liegen der Flughafen und die Inselhauptstadt Vila do Porto. Dort drüben ist die Zivilisation. Hier im Osten sind Hügel, Kuhweiden, Wälder, Blumenteppiche: eine Landschaft aus erstarrten sattgrünen Wellenkämmen. Allgäu, Irland, Schweiz, Madeira, alles gemischt und überströmt von einer weichen, duftenden Luft. Wenn hier zwei Autos zusammenstoßen, bleibt die Polizei fern; denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Unfallgegner Verwandte sind. Dann fährt der Fahrtüchtigere den weniger Fahrtüchtigen im weniger kaputten Auto zum Arzt und sagt: Doktor, hier ist mein Vetter, er ist schon wieder von der Leiter gefallen. Der Mann, der mich in dieser Sturmnacht mit den Regeln des Insellebens vertraut macht, heißt Willy. Willy ist ein weiser, langmähniger Schwabe Ende 40 und von ganzem Herzen ein Mann der östlichen, anarchischen Inselhälfte. Ein Rock ’n’ Roller. In Deutschland chauffierte Willy einen TV-Übertragungswagen des Süddeutschen Rundfunks zu den Fußballstadien der Bundesliga und zu den Stadthallen, aus denen Verstehen Sie Spaß? gesendet wurde. Später fuhr er ein Müllauto. Vor ein paar Jahren packte er zusammen mit seiner Frau Sabine die ganze Habe in einen riesigen Container und verschiffte ihn auf die Azoren. Auf Santa Maria, der drittkleinsten und wärmsten Insel des Archipels, wurden die beiden heimisch. Es ist der sicherste Ort im nördlichen Atlantik. Die fatalistische Lebensweisheit der Azorer – "Alle zehn Jahre ein Erdbeben und alle hundert Jahre ein Vulkanausbruch" – gilt hier nicht. In Santa Maria gibt es keine Vulkane und (bislang) keine Erdbeben. Hier kauften Sabine und Willy einen kleinen alten Hof und stellten ihren Container daneben. Den Hof rissen sie ab und errichteten ein Haus auf dem alten Grundriss (die Bauvorschriften sind streng). Immer im Frühjahr fliegt Willy nach Deutschland zurück; in seinem Laster fährt er alte Autoreifen zur Wiederverwertung in die ärmeren Gegenden Europas. Dabei verdient er genug, um auf den Azoren überwintern zu können. Sabine bleibt derweil allein auf Santa Maria. Jetzt fragt Willy mich, was ich hier zu suchen hätte, noch dazu im November. Er habe schon gehört, dass hier ein verrückter Deutscher unterwegs sei, so was spreche sich rum: In Santa Maria gebe es ja keinen richtigen Tourismus, nur im Sommer ein paar Taucher. Die einzigen Reisenden, mit denen die Insulaner behelligt würden, seien die Auswanderer, die gelegentlich für ein paar Wochen die alte Heimat besuchten. "Also, was bist du für einer?", fragt Willy. "Ein Spion, der sich auf die falsche Insel verirrt hat?" Auf Terceira, 260 Kilometer nordwestlich, gibt es nämlich eine amerikanische Militärbasis, und dort, so Willy, warteten die Kampfflieger darauf, dass Bush den Marschbefehl gen Bagdad gebe. Santa Maria liegt vor Chile, aber auch im Südpazifik Ich zucke zusammen und versichere, dass mich die Poesie hierher geführt habe, genauer: der deutsche Schlager. Ich suche einen Ort der Sehnsucht, Santa Maria, die Insel aus Roland Kaisers Lied. Mein Atlas kennt zwar noch zwei andere Inseln dieses Namens, aber die kommen kaum infrage: Santa Maria vor der chilenischen Küste ist seit über hundert Jahren von keinem Menschen mehr gesichtet worden, und Santa Maria im Südpazifik hat sechsmal so viel Regen wie London. Also bin ich auf die Azoren gereist.
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Peter Kümmel
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Scharenweise verlassen junge Leute die Azoren. Doch wer auf den höchsten Berg von Santa Maria steigt, versteht all jene, die nicht wegwollen.
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"Roland Kaiser",
"Peter Kümmel",
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"Madrid",
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2003-03-06T08:00:00+01:00
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2003-03-06T08:00:00+01:00
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Aktuelle Bibliografie
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Über den „Ausbruch“ des Krieges gegen den Irak werden die Historiker künftig nicht streiten müssen. Denn offen liegt zutage, dass dieser Krieg von langer Hand vorbereitet und zielstrebig ins Werk gesetzt wurde. Selten zuvor sei das Völkerrecht so skrupellos gebrochen und die Weltöffentlichkeit so schamlos hinters Licht geführt worden – das ist der Tenor eines aufschlussreichen Gesprächs, das der Journalist Andreas Zumach mit Hans von Sponeck , bis Februar 2000 Leiter des UN-Hilfsprogramms in Bagdad, geführt hat: Irak – Chronik eines gewollten Krieges (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003; 158 S., 7,90 Euro). In einer scharfsinnigen Analyse zeigt Harald Müller , Professor für Internationale Beziehungen in Frankfurt am Main, dass von einer „Zeitenwende“ nach dem 11. September 2001 nicht gesprochen werden könne, die Terrorangriffe vielmehr der US-Regierung die Möglichkeit eröffneten, ihre Vision von einer Weltordnung, der sie allein die Regeln vorgibt, zu verwirklichen: Amerika schlägt zurück (Die Weltordnung nach dem 11. September; Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2003; 288 S., 12,90 Euro). Einblicke in die innere Verfassung der Bush-Administration, ihrer Obsessionen und Phobien, vermittelt das nun auch ins Deutsche übersetzte Buch des Washington Post- Reporters Bob Woodward: Bush at War – Amerika im Krieg (DVA, Stuttgart/München 2003; 400 S., 24,90 Euro). Dass der amerikanische Präsident seine hegemonialen Ziele mit einer Art religiöser Besessenheit verfolge, glaubt Peter Pilz , Grünen-Abgeordneter im österreichischen Parlament, nachweisen zu können: Mit Gott gegen alle (Amerikas Kampf um die Weltherrschaft; DVA, Stuttgart/München 2003; 287 S., 22,90 Euro). Die Verquickung der Geschäfte des Bush-Clans mit der Politik der US-Regierung im Nahen und Mittleren Osten nimmt der französische Enthüllungsautor Eric Laurent aufs Korn: Die Kriege der Familie Bush (S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003; 255 S., 16,90 Euro). Ob damit schon „die wahren Hintergründe des Irak-Konflikts“ erklärt sind, wie der Untertitel verspricht, steht dahin. Kenntnisreich in die Geschichte des Iraks, des von den Briten nach 1918 geschaffenen Staates, führt ein die amerikanische Journalistin Sandra Mackey: The Reckoning. Iraq and the Legacy of Saddam Hussein (W. W. Norton & Company, New York 2002; 415 S., 19.50 $). Ein stimmiges Bild des irakischen Diktators Saddam Hussein, seiner Herkunft und seines Aufstiegs, seiner Verbrechen und seiner einst sehr engen Zusammenarbeit mit dem Westen zeichnet der britische Journalist Con Coughlin: Saddam Hussein (Porträt eines Diktators; List Verlag, München 2002; 496 S., 24,- Euro). „Wie konnte dieses noch vor wenigen Jahren vom Westen gehätschelte Land zum Schrecken der Welt werden?“, fragt Peter Heine , der an der Humboldt-Universität lehrende Kenner der islamischen Welt, der in einem knappen Abriss die Hintergründe des gegenwärtigen Konflikts beleuchtet: Schauplatz Irak (Verlag Herder, Freiburg 2002; 159 S., 8,90 Euro). Aufrufe gegen den Krieg – von Schriftstellern, Vertretern der Friedensbewegung und der Kirchen – versammelt der Band Karl-Heinz Harenberg/Marc Fritzler (Hrsg.): No War (Krieg ist nicht die Lösung, Mr. Bush!, Knaur, München 2003; 302 S., 7,90 Euro). Was kommt nach Saddam Hussein? Lesenswert ist, was der Nahost-Experte Volker Perthes in dem von Bernd W. Kubbig herausgegebenen Band: Brandherd Irak (US-Hegemonialanspruch, die UNO und die Rolle Europas; Campus, Frankfurt a. M. 2003; 300 S., 18,90 Euro) über die „Nachkriegsszenarien und Neuordnungsphantasien“ mitzuteilen weiß. Die Vorstellung einer Demokratisierung der Region sei „von einem gehörigen Maß Wunschdenken – oder auch Hybris – getragen“.
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Krieg gegen den Irak
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"Saddam Hussein",
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"Irak",
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"Friedensbewegung",
"Humboldt-Universität",
"Krieg",
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2003-03-27T13:00:00+01:00
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https://www.zeit.de/2003/14/Akt_Biblio
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Tipps und Termine
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Deutschlands innovativste Lehrer sucht der Deutsche Philologenverband (DPhV) gemeinsam mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Stiftung Industrieforschung. Beim Wettbewerb Unterricht innovativ an den weiterführenden Schulen werden die besten Unterrichtskonzepte mit bis zu 5000 Euro prämiert. Die Unterrichtsmodelle werden im Internet veröffentlicht und können damit von allen Lehrern genutzt werden. Einsendeschluss ist der 30. April. Informationen unter www.dphv.de Bildung für alle Kinder der Welt bis zum Jahr 2015 fordert die Global Campaign for Education. Zu einem Weltrekordversuch für die Unterrichtsstunde mit den meisten Teilnehmern rufen deshalb die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Hilfsorganisation Oxfam auf. Der Versuch für die weltweit größte gleichzeitig abgehaltene Unterrichtsstunde findet am 9. April 2003 statt. Die Schulstunde musss einem einheitlichen Lehrplan folgen. Anmeldeformulare gibt es unter www.gew.de oder www.oxfam.de Popmusik und Musikbusiness sind die ersten beiden Studiengänge an der Pop-Akademie Baden-Württemberg, die zum Wintersemester in Mannheim startet. Die Studiendauer beträgt sechs Semester mit staatlich anerkanntem Bachelor-Abschluss. Die Studiengebühren betragen 500 Euro pro Semester. Bewerbungsschluss ist am 30. April. Unterlagen können angefordert werden unter Fax 07221/9965333 oder E-Mail [email protected] Informationen über Bildung und Ausbildung in 30 europäischen Ländern bietet www.ploteus.net , das neue Internet-Portal der Europäischen Kommission. Die Links sind in mehrere Gruppen aufgeteilt: Lernmöglichkeiten, Bildungssysteme, Austausch, Kontakt und Übersiedlung in ein anderes Land.
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Deutschlands innovativste Lehrer gesucht, Bildung für alle Kinder der Welt gefordert, Studiengänge Popmusik und Musikbusiness starten, neues Internet-Portal mit Infos zu Buildung und Ausbildung
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"Ausbildung",
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Milieu der Angst
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Es gab die mafiose Verquickung von Politik, Geschäft und Verbrechen auch in Kroatien, wo der hochkarätige Gangster Mladen Naletiliƒ, genannt „Tuta“, dank dubioser Waffengeschäfte zum General befördert wurde und dann Benzin über die Front hinweg an die serbischen Kriegsgegner lieferte. Es gab sie ebenso in Montenegro, dessen Haushaltsbudget zum großen Teil über staatlich organisierten Zigarettenschmuggel finanziert wurde. Und es gab sie in Albanien, in dessen Hafenstadt Durres der Chef des mächtigsten Mafia-Clans zum Polizeichef aufstieg. Doch in Serbien hat sie wohl die tödlichsten Konsequenzen gehabt. Seit 1991 blieben an die 150 Morde im zwielichtigen Milieu zwischen Politik und Mafia ungeklärt. Es starben ein ehemaliger Präsident, ein Verteidigungsminister, zwei Polizeichefs, vier Führer paramilitärischer Formationen und einige Dutzend Unterweltgrößen. In den Publikationen über die Kriege der neunziger Jahre im früheren Jugoslawien ist die mafiose Dimension des Geschehens – Paolo Rumiz (Masken für ein Massaker, Kunstmann 2000) bildet da eine der seltenen Ausnahmen – nur am Rande behandelt worden. Mappes-Niediek leugnet nicht, dass es ethnische Konflikte gab. Doch er mahnt zur Vorsicht. War die Vertreibung der serbischen Minderheit aus dem Kosovo nach dem Einmarsch der Nato wirklich Folge einer kollektiven Rache der lange geknechteten albanischen Mehrheit? Der Autor behauptet, dass sie vielmehr das Werk krimineller Albaner war, die auf materielle Vorteile aus waren: Die Mehrheit schwieg und deckte die Täter, weil ihre Angst vor deren Macht größer war als ihr Vertrauen in einen funktionierenden Rechtsstaat. In Mazedonien hat die Intervention des Westens verhindert, dass sich die Scharmützel zwischen albanischer Guerilla und mazedonischen Sicherheitskräften zu einem Krieg auswuchsen. So schien es jedenfalls. Mappes-Niediek begründet seinen Verdacht, dass von albanischer Seite gezündelt wurde, um Tributzahlungen zu erzwingen und sich Einflusszonen zu sichern. „Nicht ein verhetztes Volk war der Akteur, sondern die ans Tageslicht gekrochene Unterwelt.“ Die Mafia gedeiht im Milieu der Angst, sie fürchtet rechtsstaatliche Verhältnisse, wie die EU sie auch im eigenen Interesse auf dem Balkan anstrebt. Doch die Stabilisierung der Region kann langfristig nur in der europäischen Integration gelingen. Was Serbien betrifft, schreibt Mappes-Niediek: „Ein Zoran Djindjiƒ in Belgrad bekommt für seine schmerzhaften Reformen nur so lange eine Mehrheit, wie er glaubhaft machen kann, sie enthielten den Schlüssel zum Anschluss an die EU. Glauben die Wähler das nicht mehr, ist er politisch tot.“ Die Mafia kam dem Wähler zuvor.
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Über die Verquickung von Politik, Geschäft und Verbrechen auf dem Balkan
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"Europäische Union",
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"Guerilla",
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"Verteidigungsminister",
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https://www.zeit.de/2003/14/P-Balkan
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Wer lenkt den Leitstern?
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Und das hat auch einen politischen Grund. An diesem Donnerstag wollen die Verkehrsminister der EU nämlich endgültig über den Aufbau von Galileo, einem eigenen europäischen Satellitennavigations-System, entscheiden. Grundsätzlich wurde Galileo zwar schon vor einem Jahr beschlossen, ein Streit zwischen Italien und Deutschland um die Frage, wer die industrielle Führung bei der Entwicklung übernimmt, hat den Beginn der Arbeiten jedoch bis jetzt verzögert. Franco Bonacina, Sprecher der Europäischen Raumfahrtagentur, Esa, versichert zwar, der Einfluss des Irak-Krieges auf die europäische Entscheidung sei „sehr, sehr gering“. Und doch könnte eine Verschlechterung des amerikanischen GPS-Systems aus militärischen Gründen genau das Argument sein, das für die Überwindung des deutsch-italienischen Konflikts noch nötig ist. Damit könnte das Ende des amerikanischen Monopols auf die Technik hinter dem Milliardenmarkt der Satellitennavigation eingeläutet werden. GPS wird nicht nur von Autofahrern geschätzt. Vor allem im Vermessungswesen und in der Logistikbranche ist die Himmelsnavigation weltweit unverzichtbar geworden. Große Speditionen steuern ihre Fahrzeugflotten mit GPS, in Häfen werden Container damit geortet. Fahnder spüren gestohlene Autos mit GPS auf, Blinde können sich in fremder Umgebung damit orientieren. Besonders weit verbreitet ist die Satellitennavigation in der Schifffahrt – kaum noch ein Schiff ist auf den Weltmeeren ohne GPS-Empfänger unterwegs. „GPS spielt rund um die Welt eine Schlüsselrolle als Teil der globalen Informations-Infrastruktur“, heißt es denn auch in der offiziellen Erklärung zur Verfügbarkeit von GPS während des Irak-Krieges, „die US-Regierung nimmt ihre Verantwortung ernst, allen zivilen und kommerziellen Nutzern den bestmöglichen Service anzubieten – sowohl in Konflikt- als auch in Friedenszeiten.“ Allerdings fehlt in der Erklärung auch nicht der Hinweis darauf, dass GPS seit den siebziger Jahren als „Dual-use-System“ mit dem Hauptziel aufgebaut wurde, „die Effektivität der Militärstreitkräfte der USA und ihrer Alliierten zu erhöhen“. Deshalb werde man die Nutzung durch den Feind verhindern und sich so einen militärischen Vorteil am Kriegsschauplatz sichern. Technisch geschieht dies durch Störsender in Flugzeugen, die den Empfang der zivilen GPS-Signale in einer eng umgrenzten Region verhindern können (jamming), oder indem die Satelliten-Signale beim Überflug der Kriegsregion absichtlich verfälscht werden (spoofing). Beides würden wir in Europa nicht bemerken. Auch die Bauern brauchen GPS Die USA könnten aber auch zur Erhöhung der Ortungsgenauigkeit möglichst viele GPS-Satelliten über dem Irak konzentrieren – was für den Rest der Welt eine sinkende Verfügbarkeit und Genauigkeit der Ortung bedeuten würde. Und schließlich könnte selective availability wieder genutzt werden. Diese künstliche Verschlechterung der zivilen GPS-Signale sorgte bis zu ihrer Abschaltung durch Präsident Clinton im Mai 2000 dafür, dass eine Ortung nur mit 200 Meter Genauigkeit möglich war – und nicht wie beim Militär mit 20 Metern. Doch dies wird bisher von offizieller Seite ausgeschlossen: „Selective availability wurde seit Mai 2000 nicht mehr genutzt, und die US-Regierung hat auch keine Absicht, es jemals wieder zu tun.“ Aber schon längst verlassen sich nur noch die billigsten Navigationsgeräte ausschließlich auf die Satelliten. Die besseren Systeme für Autos zum Beispiel kombinieren die GPS-Angaben mit den Daten des Kilometerzählers. GPS wird dann tatsächlich nur noch von Zeit zu Zeit benötigt, etwa um den Aufenthaltsort des Autos nach einer Fahrt mit der Fähre oder dem Zug festzustellen. Auch die moderne Landwirtschaft ist ohne Satellitennavigation kaum noch denkbar. Von 2005 an müssen alle Bauern in der EU ihre Nachweise über genutzte und brachliegende Flächen in Form elektronischer Geodaten abliefern. „Im letzten Golfkrieg haben wir sehr deutlich eine Verschlechterung der GPS-Signale beobachtet“, sagt Florian Kloepfer vom Kuratorium für Technik und Bauwesen in der Landwirtschaft, das im Auftrag der Bundesregierung den Einsatz der Geoinformationstechnik in der Landwirtschaft erforscht. Schon im Kosovo-Krieg seien die Auswirkungen jedoch geringer gewesen. Der Grund dafür liegt vor allem im Einsatz so genannter Referenzsignale. Zahlreiche europäische Funkstationen senden Signale aus, mit denen die GPS-Satellitendaten abgeglichen werden können. Die Europäer betreiben sogar einen eigenen Satelliten namens Egnos, mit dessen Hilfe sich unscharfe GPS-Daten korrigieren lassen. „Mit Referenzsignalen kommen wir in Deutschland inzwischen auf 60 bis 70 Zentimeter Genauigkeit“, sagt Patrick Noack von der Firma geo-konzept, einem bayerischen Hersteller von Navigationssystemen. Selbst bei einer Konzentration der GPS-Satelliten über dem Irak bleibe die Kapazität des Systems hierzulande völlig ausreichend.
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In Kriegszeiten wird das Monopol der Amerikaner in der Satellitennavigation besonders deutlich. Jetzt entscheiden die Europäer über ihr eigenes System
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Drei Wünsche
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Die Sendersuche am Radio morgens im Bad verläuft täglich nach demselben Schema: …konnten keinen Konsens über eine neue Resolution im Sicherheitsrat… – krrrkfiedeldü – …die Beseitigung von Kurzstreckenraketen… – krrrkfiedeldü – Chirac und Blair – krrrk und aus. Ich kann’s nicht mehr hören. Ich berufe mich auf den Überdruss als erlaubte Reaktion auf Wiederholungen, die irgendwann jede Nachricht ihres Inhalts berauben. Die Westhalbkugel dreht sich mal wieder im Kreis eines hundert Jahre alten Konflikts, und wir diskutieren selbst in so angespannter Lage die Rotationsschwankungen des Schwungrads, nicht aber den Antriebsmechanismus. Völkerrecht und internationale Politik in ihrem Miteinander und Gegeneinander zirkulieren um den immer gleichen Kern: Auf der einen Seite stützt sich unsere Kultur in ihren religiösen und politischen Fundamenten auf das höchste Gebot von der Gleichheit aller Menschen. Andererseits ist das schlechte Gewissen darüber, weltweit das Gegenteil dieser Gleichheit zu praktizieren, zu einem modernen Fegefeuer geworden. Unterbewusst empfinden wir die Angriffe der so genannten Terroristen als Attacken von schlecht Verdienenden gegen die besser Verdienenden, als eine pervertierte Art der Selbstverteidigung. In der westlichen Heilsvorstellung aber sind die Schwachen im Recht. Jeder zweite Hollywoodfilm, von Krieg der Sterne bis Herr der Ringe, zeigt mutige Einzelkämpfer, die sich gegen ein militärisch hochgerüstetes System zur Wehr setzen. Sie haben das Gute auf ihrer Seite, und zum Happy End führt sie die Bereitschaft, ihr Leben für eine große Sache zu opfern. David und Goliath: die christliche Ur-Idee des gerechten Kampfes. Nun sind wir Goliath und wissen es. Wir, im gerechten Glauben das Prinzip der Gleichheit propagierend, sehen uns von einer Handvoll durchgedrehter Einzelkämpfer angegriffen und müssen eingestehen, dass wir uns in diesem Konflikt beim besten Willen nicht mit Luke Skywalker oder Frodo identifizieren können. Was uns wirklich angreift, ist die Angst, dass die »Gegenseite« strukturell im Recht sein könnte – nicht gemessen an ihren Methoden oder Motiven, wohl aber aufgrund ihrer Unterlegenheit. Mit zwei gleich starken, sich verfeindet gegenüberstehenden Blöcken konnten wir leben. Mit dem Kampf der Mücke gegen den Elefanten können wir es nicht. Amerika stilisiert die gegnerische Seite mithilfe von Saddam-Satan zu einer Macht, deren Bekämpfung sich legitimieren lässt. Die Deutschen finden, dass Goliaths Präventivverteidigung von Natur aus etwas Anrüchiges hat. Keiner der Wege löst den metaphysischen Konflikt, keiner der Beteiligten bringt ihn wirklich zur Sprache. Wir wollen nicht von Terroristen in die Luft gesprengt werden. Wir wollen nichts von unserem Wohlstand abgeben. Und wir wollen unser friedliebendes Selbstbild nicht infrage stellen. Das sind drei Wünsche auf einmal. Und in ein paar Monaten, wenn auch dieser Golfkrieg vergangen und vergessen ist, werden wir trotz vieler Radiosendungen und unzähliger bedruckter Zeitungsseiten sagen müssen: Schön, dass wir nicht darüber gesprochen haben. * Von Juli Zeh erschien zuletzt: »Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien« (Schöffling)
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Juli Zeh findet die Figur des Goliath nicht besonders sympathisch
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Unser Ziel ist Ihr Vergnügen!
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Wakey, wakey, campers! »Stehen Sie mit einem Lachen auf. Ein schöner neuer Tag beginnt!«, schepperte es frühmorgens um sieben aus den Lautsprechern. Danach war an Langeweile nicht mehr zu denken. Am Pool wurden die täuschend echte Marilyn Monroe gewählt und der König des Frittenfressens gesucht, die Besucher prämierten die glänzendste Glatze oder das hässlichste Gesicht, abends auf der Bühne nahm Mister Beinbehaarung einen Plastikpokal in Empfang, und Männer, die im Laufe einer Urlaubswoche die meisten Barthaare gesammelt hatten, erhielten einen Bonus für den nächsten Aufenthalt bei Butlin’s. Billy Butlin hielt, was er den Menschen versprach: Unser Ziel ist Ihr Vergnügen! Dieser Satz wurde zum Leitspruch der insgesamt neun Camps, Butlin soll ihn auf einer Kirmestrommel entdeckt und erst Jahre später erfahren haben, dass es sich um ein Zitat aus Shakespeares Sommernachtstraum handelt. Es war eine mühselige Arbeit für die Fotografen des Postkarten-Verlegers John Hinde, die bonbonfarbenen Butlin-Retorten auf Hochglanz zu konservieren. »Jedes Jahr kam der Auftrag, uns graute davor«, sagt Edmund Nägele, der damals für John Hinde fotografierte. »Allein die Kabel für die Blitzlichter zu verstecken erforderte in der maroden Anlage größte Finesse. Da konnte es schon mal passieren, dass einer von uns durch die dünne Eternitdecke in einen Raum darunter stürzte.« Heute sind diese Fotos, die in der Berliner C/O Galerie gezeigt und von dem englischen Fotografen Martin Parr kommentiert werden, nicht nur Dokumente einer britischen Institution, sondern auch eine stille Kritik an der systematischen Manipulation, an der marketingtechnischen Regulierung der Gefühle sowie an dem Versprechen, dass jeder Mensch ein Recht auf Urlaub hat. Und so hat sich der postmoderne Massentourismus auch weiterentwickelt: Er diktiert dem Verbraucher sein Reiseziel nicht mehr nach der Region oder der Insel, sondern nach der Summe der gebotenen Attraktionen. Hinter den bonbonbunten Bildern, die die Homogenität der Gruppe unterstreichen, verschwinden die Differenzen und das Schicksal des Einzelnen. Dieser Eindruck korrespondiert mit einem geradezu sozialistischen Grundprinzip, dem diese Camps unterworfen waren: Jeder zahlte das Gleiche, bekam das gleiche Essen, die gleiche Unterkunft, jeder wurde gleich behandelt. Und jeder, der in das Gesicht des anderen blickte, sah im Grunde nicht mehr als sich selbst. Dieses Prinzip wandte Billy Butlin bereits auf dem Rummelplatz Olympia Park in London an. Er hatte seine Karriere als Kirmeskerl begonnen, und wer an seiner Bude beim Ringwerfen gewann, erhielt als Einheitsprämie einen Wellensittich – am Ende eines Sonntagnachmittags zogen die Menschen mit kleinen Käfigen nach Hause. Billy Butlin war in aller Munde. Drei der neun Camps haben sich in die Jetztzeit retten können, alle anderen sind zu Ruinen heruntergekommen, das Gras wuchert auf den stillgelegten Anlagen, die ein gutes Beispiel für den Ressourcen- und Landschaftsverbrauch des Tourismus sind. Sobald kein Geld mehr zu machen ist, zieht er einfach weiter. Eines der ersten Camps war Bognor Regis an der Südküste Englands. Voller Stolz erwähnt Butlin in seiner Biografie A Showman to the End, dass er es selbst designt hat. Wer heute nach Bognor Regis fährt, kommt in ein armes Dorf, in dem an jedem dritten Reihenhaus das Schild eines Immobilienmaklers hängt. Dem Einzelhandel geht es nicht gut, aber in den Zoofachgeschäften klingeln die Kassen. In Bognor Regis gibt es auch ein Kleintierhospital, und ein paar hundert Meter weiter reckt sich ein weißes zeltartiges Gebäude mit vier Spitzen zum Himmel: der Skyline-Pavillon, das Herz des Butlin-Camps. In dem Pavillon tutet und blinkt es bis spät in die Nacht, Mädchen hüpfen stundenlang auf Trampolinen, Jungs zielen im House of the Dead mit Gewehren auf Screens und schießen dem Feind das Hirn aus dem Kopf, während die Eltern mit Bierpullen dahinter stehen und die Kinder anfeuern. Viele Besucher haben Tattoos und einen schlechten Zahnarzt. Und es gehört zum Wesen dieser Menschen, auch in diesen noch kalten Frühlingstagen bauchnabelkurze T-Shirts zu tragen und dabei nicht zu frieren. Auch Terry Major, der Bruder des ehemaligen britischen Premierministers, hat bei Butlin’s jahrelang Urlaub gemacht. Es ist ein Urlaub zwischen Jahrmarkt und Spielhalle, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich die schäbigste Ferienanlage auf Mallorca gegenüber dem Butlin’s in Bognor wie ein Fünf-Sterne-Resort und ein Disneyland wie eine Kathedrale der Hochkultur ausnehmen. Wer Simon Cooper, den Accomodation Manager des Camps, fragt, ob sich denn schon mal ausländische Reisegruppen hierher getraut haben, erhält zur Anwort: »Ja, letztes Jahr war die erste Gruppe aus dem Ausland da.« »Aha, und woher kam die?« »Aus Nigeria«, sagt Simon Cooper. Man kann nun nicht gerade behaupten, dass die Butlin’s Holiday Camps nicht schon damals eine kontroverse Diskussion ausgelöst hätten. Einige Zeitungen sahen sie als gesellschaftlichen Beitrag zur »Brave New World democracy«, andere geißelten sie als »Bienenkorb der Sittenlosigkeit«, in denen die Damen »gefärbten Distelfaltern« glichen, wobei man nicht genau weiß, ob dieser Satz ein Affront gegen die Damen oder einer gegen die Distelfalter ist. Die London Evening News beschrieb Butlin selbst als »einfachen kleinen Mann, der zur Schüchternheit neigte und jung genug war, sich auf seinen eigenen Karussells im Kreis zu drehen«. Billy Butlin, der mit Vornamen eigentlich William Edmund hieß, war in Südafrika geboren worden. Er wollte dem gemeinen Volk etwas Gutes tun, wenngleich er lieber Gäste der gehobenen Klasse zu seinen Kunden gezählt hätte. Dass sich tatsächlich mal ein bekannter Politiker in diese Spaßzentralen verirrte, vergaß Butlin in seiner Biografie nicht hinreichend zu betonen. Man gewinnt beim Lesen jener Zeilen den Eindruck, dass es sich bei Butlin um einen Vertreter jenes Menschenschlages handelte, die stets und äußerst geschickt vorgeben, mehr zu sein, als sie tatsächlich sind: Er verkaufte sein Entertainment wie Hochkultur und rühmte sich damit, schon im Buckingham Palace gewesen zu sein. Aber jeder denkende Mensch wird damals gesehen haben, dass es sich bei seinen Camps um nichts anderes handelte als das, was Wilhelm Busch einst so beschrieben hat:
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ZEIT ONLINE
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Billy Butlin’s Holiday Camps in England sind das proletarische Pendant zum Club Méditerranée. In den Siebzigern erholte sich hier die britische Arbeiterklasse. Fotos aus dieser Zeit werden in der Berliner C/O Galerie ausgestellt. Wer eines dieser Camps heute besucht, wird zum Sklaven des Entertainments
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"England",
"Marilyn Monroe",
"Wilhelm Busch",
"Club Méditerranée",
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"London",
"Frankfurt am Main"
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https://www.zeit.de/2003/14/butlin/komplettansicht
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Das Filmkonzert: CineStar Live und DIE ZEIT präsentieren:
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Ein Jahr ist es her, dass die Filmwelt einen ihrer größten Regisseure verloren hat: Billy Wilder. Zu Ehren des unvergessenen Meisters der hintergründigen Komödie präsentieren "CineStar Live" und "DIE ZEIT" ein Film-Konzert zum Stummfilmklassiker "Menschen am Sonntag". Vom 24.4. bis 5.5.03 entführen das Musiker-Duo "Piano meets Vibes" und Saxophonist Jens Tolksdorf in neun CineStar-Filmpalästen in eine berauschende Klangwelt, welche die Zeitlosigkeit des Meisterwerkes in Schwarz-Weiß betont. Seit über 14 Jahren ist das Musiker-Duo "Piano meets Vibes" - Nils Rohwer und Jens Schliecker - mit seinen Kompositionen und kreativen Improvisationen auf den Konzertbühnen Europas unterwegs. Mit ihrer musikalischen Re-Interpretation der Klassiker "Metropolis" und "Die Pest in Florenz" begeisterte das Duo u.a. die Besucher der Fritz-Lang-Retrospektive auf der Berlinale 2001. Mit einer stilsicheren Gratwanderung zwischen modernen und klassischen Musikelementen nahmen sich die beiden Musiker gemeinsam mit Saxophonist Jens Tolksdorf nun des Stummfilmklassikers "Menschen am Sonntag" aus dem Jahre 1930 an. Der im März 2002 an den Folgen einer Lungenentzündung verstorbene Billy Wilder schrieb das Drehbuch zu der halbdokumentarischen Chronik eines Sonntags im Berlin der Weimarer Republik. Mit Klavier- und Vibraphonklängen, Schlagzeug sowie Blas- und Percussion-Instrumenten untermalt das Künstler-Trio den Stummfilm nicht nur musikalisch, sondern erweckt ihn zu neuem, zeitgemäßem Leben. Das Film-Konzert "Menschen am Sonntag - Hommage an Billy Wilder" findet jeweils ab 20 Uhr in den folgenden CineStar-Filmpalästen statt. Die Eintrittskarten kosten 8,50 (Parkett) bzw. 9,50 (Loge). 24.04. Lübeck , Lichtspiele Hoffnung, Tel. 0451-70 30-100 25.04. Rostock , CineStar Capitol Filmpalast, Tel. 0381-776 99-99 27.04. Berlin Potsdamer Platz, CineStar Original, Tel. 030-26 06 62-60 28.04. Leipzig , CineStar - Der Filmpalast, Tel. 0341-33 66-333 30.04. Erlangen , CineStar - Der Filmpalast, Tel. 09131-810 08-0 01.05. Frankfurt/Main , CineStar Metropolis, Tel. 069-955 06-444 02.05. Mainz , CineStar - Der Filmpalast, Tel. 06131-20 68-444 04.05. Dortmund , CineStar - Der Filmpalast, Tel. 0231-84 05-444 05.05. Bielefeld , CineStar - Der Filmpalast, Tel. 0521-56 07-0 Mehr Info auf der Website www.cinestar.de Menschen am Sonntag
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ZEIT ONLINE
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"Menschen am Sonntag". Zu Ehren von Billy Wilder in einer exklusiven Neu-Vertonung des Stummfilm-Meisterwerks von 1930
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"Billy Wilder",
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https://www.zeit.de/2003/14/meamso
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Schwarze Löcher über Afrika
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Ausgerechnet in der namibischen Steppe, etwa 100 Kilometer südwestlich von Windhoek, wollen die Heidelberger Forscher modernste Wissenschaft betreiben: Mit vier Teleskopen, deren erstes im vergangenen Herbst in Betrieb ging, suchen sie nach hoch energetischer Strahlung aus dem All. Sie hoffen, unter anderem auch das Rätsel der so genannten Gammablitze zu lösen. In Namibia wecken die Teleskope naturgemäß andere Hoffnungen: „Dieses Projekt kann zu einem Wendepunkt werden“, sagt Riaan Steenkamp, der als Physiker an der University of Namibia arbeitet. „Namibia bekommt jetzt erstmals Anschluss an die Wissenschaft der Ersten Welt.“ Dass die Teleskope im Kohmas-Hochland stehen, hat vor allem technische Gründe. Anders als auf der Nordhalbkugel ist hier der Blick zu den Sternen noch weitgehend ungetrübt. In Namibia, das fast dreimal so groß ist wie die Bundesrepublik, aber nur so viele Einwohner wie München hat, ist die „Lichtverschmutzung“ kein Thema. Außerdem erlaubt das Klima, die Anlage das ganze Jahr über zu betreiben. Eine Eisschicht, die bei einem ähnlichen Projekt auf Gran Canaria die Teleskope lahm legte, ist im südlichen Afrika nicht zu befürchten. Und nicht zuletzt gab den Ausschlag, dass die Max-Planck-Forscher in der University of Namibia (UNAM) in Windhoek einen Kooperationspartner vor Ort fanden. Nun sind an dem Projekt über 70 Wissenschaftler von 19 Instituten aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Armenien, Tschechien und Südafrika beteiligt – und zwei Techniker aus Namibia. „Man muss realistisch sein“, sagt Riaan Steenkamp achselzuckend. „Noch haben wir einfach nicht mehr zu bieten.“ Der Beitrag der Namibier bestand bisher in erster Linie darin, bei den Verhandlungen mit Behörden und Politikern zu vermitteln. Über seine eigene Rolle macht sich Steenkamp, der das Projekt für die UNAM am Fachbereich Physik betreut, keine Illusionen. „Ich bin der Projektleiter, ganz einfach, weil ich der Einzige bin“, sagt er und grinst. Der 35-jährige Namibier hat in Südafrika über kosmische Strahlung promoviert und lehrt seit 1994 an der UNAM. Früher frustrierte ihn der Job: „Hier ist es unmöglich, sich als Wissenschaftler weiterzuentwickeln. Es geht immer nur um die Anwendung bereits vorhandenen Wissens. Forschung findet nicht statt.“ Doch 1999 schöpfte er wieder Hoffnung. Damals wandte sich das Max-Planck-Institut für Kernphysik erstmals mit dem HESS-Projekt und der Bitte um Zusammenarbeit an seine Universität. HESS steht für High Energy Stereoscopic System und ist zugleich eine Hommage an den österreichischen Forscher Victor Franz Hess, der 1912 erstmals die Existenz kosmischer Strahlung nachweisen konnte und dafür 1936 den Nobelpreis für Physik erhielt. „Das, was optische Teleskope nachweisen, entspricht – übertragen auf eine Klaviatur – nur einer Oktave“, erklärt der Heidelberger Projektleiter Werner Hofmann. „Das gesamte Spektrum der Strahlung aus dem Weltall umfasst aber etwa 70 Oktaven. Das kann man sich als ein 15 Meter langes Klavier vorstellen. Mithilfe der Teleskope kann man sozusagen die höchsten Töne hören, ganz rechts auf der Tastatur.“ Bevor jedoch die Suche nach den höchsten Tönen in Angriff genommen werden konnte, war Diplomatie gefragt: Zum bestehenden Staatsvertrag zwischen Deutschland und Namibia, der vor allem kulturelle Abkommen, beispielsweise für das Goethe-Institut, regelt, wurde ein Zusatzprotokoll erarbeitet. Für die Wissenschaftler ging es besonders um Abmachungen, die ihnen Hindernisse am Zoll ersparen würden. Die namibischen Regierungsvertreter bestanden darauf, Wissenschaftler und Techniker aus Europa zur Zahlung von Einkommenssteuer in Namibia zu verpflichten. „Das war ein Punkt, von dem sie nicht abgerückt sind“, erzählt Heinrich Völk, Direktor am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik. „Wir sind darauf eingegangen, weil es für uns kein konkretes Problem war.“ Durch das im Staatsvertrag festgehaltene Doppelbesteuerungsabkommen müssen die Beteiligten in der Heimat nicht zusätzlich Steuern zahlen, wenn sie es schon in Namibia getan haben. Die Verhandlungen seien „eine echte Herausforderung“ gewesen, sagt der deutsche Botschafter in Windhoek, Harald Nestroy. „Die Verantwortlichen mussten überzeugt werden, dass das Projekt im Einklang mit namibischen Gesetzen steht und dem Land außerdem Nutzen bringen wird.“ Eine nicht ganz leichte Aufgabe. So sorgte anfangs zum Beispiel der Begriff high energy für Stirnrunzeln. Im Umweltministerium fürchtete man, dass schädliche Strahlung aus dem All auf die Erde heruntergeholt werden würde. Auch das Wort „Kernphysik“ löste unangenehme Assoziationen aus. „Wie viele andere Entwicklungsländer scheint auch Namibia unmoralische Angebote für die Lagerung radioaktiven Mülls bekommen zu haben“, sagt Völk. „Wir hatten Mühe, deutlich zu machen, dass wir damit nichts zu tun haben.“
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ZEIT ONLINE
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Deutsche Physiker wollen in Namibia die rätselhaften Gammastrahlen erforschen. Die Einheimischen haben ganz andere Vorstellungen von der Mission
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"Afrika",
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https://www.zeit.de/2003/15/N-Namibia/komplettansicht
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Gibst du mir, nehm ich dir
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Das ist lange her. Heute entwerfen in Doha, im Hauptquartier der alliierten Streitkräfte, die Generäle ihre Einsatzbefehle. Und in Genf, wo am Sitz der Welthandelsorganisation WTO die Verhandlungen laufen, zählen die Diplomaten die Rückschläge. Längst denken die Industrieländer wieder zuerst an sich. Beispiel Patentschutz: Als einziges WTO-Mitglied blockiert Amerika eine Vereinbarung, die armen Staaten billig Medikamente verschaffen soll. Beispiel Landwirtschaft: Bis vergangenen Montag sollten sich die Unterhändler in Genf auf einen Vorschlag zum Abbau von Agrarzöllen und -subventionen verständigen – die Basis eines für die Entwicklungsländer profitableren Welthandels. Der Termin verstrich, eine Einigung blieb aus. Ist das nur der bei politischen Verhandlungen übliche Schaukampf, der am Ende doch noch in einen Kompromiss mündet? Das glauben die Optimisten. Die Verhandlungen seien trotz aller Konflikte auf einem guten Weg, heißt es etwa im Umfeld des europäischen Handelsbeauftragten Pascal Lamy in Brüssel. Oder ist das Blockieren und Bremsen der erste Kollateralschaden des Irak-Kriegs? Lassen die Streitereien zwischen Amerika und Kontinentaleuropa die WTO-Verhandlungen und die Hoffnung auf eine gerechtere Globalisierung scheitern? Das fürchten die Pessimisten. Es sei naiv zu glauben, die Weltlage habe keinen Einfluss auf die Verhandlungen, meint Walden Bello, Leiter der Dritte-Welt-Organisation Focus on the Global South in Bangkok. „Die nationalen Interessen treten wieder in den Vordergund“, sagt Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs. Nirgends wird das so deutlich wie beim Streit um Patente. In Doha zeigten sich Europäer und Amerikaner noch kompromissbereit. Sie willigten ein, das so genannte TRIPS-Abkommen zu modifizieren, das den Erfindern von Medikamenten einen 20-jährigen Patentschutz gewährt. So lange ist es anderen Ländern verboten, billigere Versionen der oft sehr teuren Arzneien zu importieren. Die Originale aber sind für viele Länder der Dritten Welt kaum zu bezahlen. Zwar erlaubt ihnen das TRIPS-Abkommen, die Imitate selbst herzustellen, aber Ländern wie Uganda, Angola oder Mali nützt das wenig. Die haben Millionen Aids- und Lungen-Kranke, doch keine eigene Pharmaindustrie. Deshalb sind sie auf den Import der billigen Imitate angewiesen. Jedes Jahr sterben weltweit rund 15 Millionen Menschen an heilbaren Krankheiten. In Doha kündigten Nord und Süd an, das Problem zu lösen. „Damals hielten wir das für einen echten Fortschritt“, sagt Thomas Luppe von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Doch jetzt scheitert die Neuregelung an den USA, die durch den Handel mit kopierten Arzneien die Profite amerikanischer Pharmaunternehmen gefährdet sehen.
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ZEIT ONLINE
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Der Krieg behindert eine gerechte Globalisierung: Im Welthandel sucht der Norden nur noch seinen Vorteil
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"George W. Bush",
"Europäische Union",
"WTO",
"Doha",
"Hilfsorganisation",
"Irak-Krieg",
"Oxfam",
"Thomas Straubhaar",
"USA",
"Angola"
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2003-04-03T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2003/15/US-Solo/komplettansicht
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Analyse: Hohes Risiko, hoher Gewinn
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Der Vorsprung der amerikanischen Militärtechnik – von den Fachleuten vollmundig als revolution in military affairs gehandelt, aber bisher kaum erprobt – hat im Irak ein eindrucksvolles Zeugnis ausgestellt bekommen. Von mehr als 20000 abgeworfenen Bomben und 750 Marschflugkörpern waren 70 Prozent präzisionsgesteuert, zehnmal mehr als im Golfkrieg von 1991. Auch die Patriot-Boden-Luftabwehrraketen, die vor zwölf Jahren noch als Komplettausfall verbucht werden mussten, haben diesmal funktioniert – wenn auch nicht gegen die gefürchteten (aber nie eingesetzten) Scud-Flugkörper, sondern nur gegen vergleichsweise langsamere Kurzstreckenraketen. Der Haken aller Präzisionstechnik: Gegen Irrtum und Versagen ist sie nicht gefeit. Reporterberichte aus dem Irak – zumal aus Bagdad, wo „Regimeziele“ wie Paläste, Parteizentralen und Kommandostellen ins Fadenkreuz genommen wurden – zeichnen dennoch ein Bild von erstaunlicher Genauigkeit, ja politischer Korrektheit. Selbst im Iran notierten die Ajatollahs, dass die Angreifer Moscheen und schiitische Heiligtümer verschonten. Ermöglicht wurde dies durch eine bisher noch nicht gesehene Zusammenarbeit und elektronische Vernetzung von Kommandotruppen am Boden, die als bewegliche Feuerleitstelle agierten, unbemannten Drohnen, Aufklärungsflugzeugen, Satelliten und Offensivwaffen (Bomben, Marschflugkörper, Artillerie). Und das alles 24 Stunden am Tag, weitgehend unabhängig vom Wetter. Beim Bombenangriff auf das Restaurant im Bagdader Mansur-Distrikt am 7. April, wo die Späher ein Treffen der irakischen Führungsspitze vermuteten, vergingen zwischen dem Befehl der Flugleitstelle und dem Abwurf der vier gewaltigen Bomben (je 970 Kilo) exakt 12 Minuten. (Der Erfolg ist unbekannt; doch ein ähnlicher Anschlag in Basra, auf Saddams Giftgasmörder Ali Hassan al-Madschid, bekannt als „Chemical Ali“, gelang.) Die veralteten irakischen Waffensysteme, zumeist noch aus sowjetischer Produktion, waren dieser Kombination von Feuerkraft und Genauigkeit, von Masse und Klasse, nicht gewachsen. Die technische Entwicklung wiederum erlaubte eine außerordentlich vielseitige und flexible Taktik. Das Schema war klassisch: gezielte Ausschaltung der irakischen Luftabwehr in den UN-Flugverbotszonen, weit vor Kriegsbeginn; Beeinflussung der gegnerischen Psyche durch Drohungen, E-Mails, Anrufe, Kapitulationsangebote und Flugzettel; Luftoperationen zur Einschüchterung und „Aufweichung“ (Militärsprech für: kampfunfähig bomben); und Bodenoperationen zur endgültigen Entmachtung und Vertreibung des Gegners. Alles andere als klassisch waren dagegen Reihenfolge und Ausgestaltung. Die Bodenoffensive begann zeitgleich mit den Schock-und-Ehrfurcht-Bombardements. Zu diesem Zeitpunkt waren Tausende Kommandotruppen bereits damit beschäftigt, strategische Ziele im Westen (Flughäfen und potenzielle Scud-Stellungen) und im Süden (Ölfelder, Häfen) zu sichern, im Norden bereiteten sie die Landung von US-Fallschirmjägern vor: Die Special Forces spielten eine so große und vielseitige Rolle wie nie. Auch die Bodentruppen wurden anders eingesetzt als bisher üblich. In relativ kleiner Zahl (125000 insgesamt) und ungewöhnlich leicht bewaffnet, sprinteten sie in einem Gewaltmarsch auf die Großstädte Basra und Bagdad zu, an strategischen Zwischenzielen vorbei, Flanken und Nachschublinien weitgehend schutzlos.
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ZEIT ONLINE
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Um schnell siegen zu können, schlugen Amerikaner und Briten eine härtere Gangart ein als geplant .
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"Gewinn",
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"Bagdad",
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Montagsdemos: Der sächsische Weltfrieden
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Warum sind heute viel weniger Leipziger unterwegs als an den vorigen Montagen? Die Saukälte. Frost im April! Weil der Bush sein Ding sowieso durchzieht. Die Leute sind wohl ä bissl kriegsmüde. Die schlimmen Fernsehbilder immerzu. Und da schalten sie ihren Protest gleich mit ab? So könnt mer sagen. Warum sind Sie heute dabei? Weil Krieg nur Tote bringt, weil Bush und seine Helfer für mich Mörder sind, sagt die Jugendarbeiterin Nancy Seckelmann. Weil ich nicht tatenlos zu Hause sitzen will, sagt die Schülerin Nora Kühnert. Weil man in der Demo klasse Zigaretten schlauchen kann, sagt der Punk Martin Felsberg. Ich hab vorher in Kopenhagen gelebt, sagt die Studentin Katharina Grammel. Die Dänen haben nicht so die Tradition, auf die Straße zu gehen. Da sagen auch viele: Saddam Hussein hat viel Schlimmes getan, ganz gut, dass wer was dagegen unternimmt. Aber ich finde den Krieg völkerrechtlich ’ne Sauerei. Und welches Land ist als nächstes dran? Ich bin absoluter Pazifist, sagt Wolfgang Dölz, der Mann mit dem Transparent-Klassiker. SCHWERTER ZU PFLUGSCHAREN, damit war ich 1987 beim Olof-Palme-Friedensmarsch in Meißen dabei und 1989 hier in Leipzig, und es ist immer noch aktuell. Es gibt keine gerechten Kriege. Die Gewalt erleiden die Unschuldigen. Brauchst gar nichts aufzuschreiben, sagt der FC-Sachsen-Fan. Druckt einfach die Reden von dem Führer ab. Phänomenal, da ist alles drin. Bürgerstolz mit Luthertrotz In Leipzig lebt ein Mann, der wurde 1989 zur Revolutions-Ikone. Pfarrer Christian Führer, Jahrgang 1943, kam 1980 an St. Nikolai und installierte dort die Friedensgebete. Aus diesen montäglichen Andachten erwuchsen jene gewaltigen Volksumzüge, die dem SED-Regime sein Ende wiesen. Seither pflegt Leipzig eine Autosuggestion: Auf uns schaut die Welt. Und wenn die Welt voll Teufel wär – schon einmal haben wir, gewaltlos und wider alle Wahrscheinlichkeit, einen Allmachtsgötzen gestürzt. Demokratie, das heißt in Leipzig Bürgerstolz mit Luthertrotz – eine romantische Hoffnungskraft, die sich immer wieder auf die Straße und in Pfarrer Führers Kirche rufen lässt. Im Nikolai-Schiff drängt sich das Montagsvolk zwischen Baugerüsten. Besinnung. Ein alter Usbeke spielt Laute, ein Texaner singt Kaddisch. Dann Auftritt Führer in der ruhmbedeckten 89er Jeansweste. Er nennt uns Friedensfreunde, er enthüllt und bestärkt, er entwindet George Bush die Gottgesandtheit, er zitiert die neuen Heiligen dieser Protestantentage: den Papst, den Oscar-Preisträger Michael Moore, den Vietnamkriegs-Colonel und heutigen Bischof Robert Bowman aus Florida, der seinem Präsidenten schrieb: „Wir sind Zielscheibe der Terroristen, weil wir gehasst werden. Und wir werden gehasst, weil unsere Regierung hassenswerte Dinge getan hat.“ Krieg für Demokratie? Welch Hohn! Krieg wird um Macht geführt, das ist Pfarrer Führers zweite Gewissheit. Die erste: Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein. Am verwerflichsten aber sei der Präventivkrieg. Fortan könne sich jeder Terrorist auf die USA berufen.
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ZEIT ONLINE
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Moralisten contra Pragmatiker: Der Krieg geht zu Ende – in Leipzig wird weiter demonstriert
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"George W. Bush",
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https://www.zeit.de/2003/17/Montagsdemos/komplettansicht
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Mogelpackung Wettbewerb
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Doch die vermeintliche Vielfalt in den Fußgängerzonen und Einkaufszentren ist eine Illusion. Viele bekannte Geschäfte gehören längst zu wenigen großen Handelskonzernen. Die aggresssiv werbenden Elektromärkte Saturn und Media Markt beispielsweise sind vereint unter dem Dach ihrer gemeinsamen Muttergesellschaft Metro – des umsatzstärksten deutschen Handelsunternehmens mit Sitz in Düsseldorf. Im Prinzip ist es also vollkommen egal, welcher Metro-Tochter die Kunden ihr Geld geben – es landet ohnehin irgendwann in der Bilanz der Holding. Das gilt übrigens nicht nur für Saturn und Media Markt, sondern auch für die Kaufhof-Warenhäuser, Praktiker-Baumärkte, die Extra-Supermärkte und andere Anbieter. Metro ist nur einer von mehreren Oligopolisten. Auch der KarstadtQuelle-Konzern aus Essen und die Douglas Holding aus Hagen sind Platzhirsche in der City. Zu KarstadtQuelle gehören nicht nur Warenhäuser und der bekannte Versandhändler, sondern gleich ein ganzes Konglomerat anderer Läden: die Bekleidungskette SinnLeffers beispielsweise und der CD-Händler WOM. Jogger rüstet der Konzern über Runners Point aus, wer vornehmere Sportarten bevorzugt, wird bei Golf House fündig. Urlaub schließlich verkauft KarstadtQuelle in den Reisebüros von Neckermann und – gemeinsam mit der Lufthansa – bei Thomas Cook. Die Douglas Holding hingegen bietet alles, was man für ein exklusiveres Shopping-Wochenende braucht. Armbanduhren von Juwelier Christ oder Düfte aus der Douglas-Parfümerie gefällig? Kein Problem. Auch wer in der Buchhandelskette Thalia nach aktuellen Bestsellern sucht oder sich bei Hussel ein paar Pralinen einpacken lässt, tut der Douglas Holding etwas Gutes. Und das Imperium der Ladenketten wird weiter wachsen. Vorstandschef Henning Kreke hat es Mitte April bereits angekündigt. Marcus Rohwetter
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ZEIT ONLINE
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Die Vielfalt der Einkaufstüten täuscht - viele Marken gehören zu wenigen Konzernen
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"Lufthansa",
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"Reisebüro",
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2003-04-24T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2003/18/Handelskonzentration_Kasten
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Die Bamian-Buddhas als Punktwolke
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Die Spezialisten, die seitdem die identitätsstiftenden Bauwerke mit ihren Laserscannern erfassen, kümmern sich von Haus aus eher um die Oberfläche unseres Planeten: Es sind Vermessungsingenieure. Die Technik für die dreidimensionale digitale Erfassung von Oberflächen liefert eine altgediente Disziplin der Geowissenschaften, die Fotogrammetrie. Sie wurde vor 150 Jahren von einem französischen Oberst zur Kartografierung von Geländeprofilen entwickelt und galt früher unter Studenten als etwa so aufregend wie das Kataster- und Liegenschaftswesen. Doch das hat sich drastisch geändert. Die ersten Fotogramme zeigten libysche Oasen – mangels Flugzeugen noch von hohen Dünen aus aufgenommen. Um die Jahrhundertwende erlaubte die Ballonfotogrammetrie, praktisch jede Geländeform zu erfassen. In Handarbeit mussten die Luftbilder zu Kartenblättern kombiniert und ausgewertet werden, mühselige Kleinarbeit. Erst der Computer beschleunigte die Fotogrammetrie – und ließ sie auch für Anwendungen außerhalb der Geowissenschaften attraktiv werden. Ob es um den Wetterbericht oder die (Re-)Animierung verstorbener Hollywood-Größen geht – mittlerweile sind die Nutznießer der avancierten Fotogrammetrie ebenso zahlreich wie illuster. Warf Buddhas Gewand Falten? Das spektakulärste Vorhaben, das sich derzeit fotogrammetrischer Techniken bedient, ist die geplante Rekonstruktion der Buddha-Statuen von Bamian. Die 2001 von afghanischen Taliban-Fundamentalisten zerstörten, 38 und 53 Meter hohen Statuen sollen in Originalgröße wiederaufgebaut werden. Das Afghanistan Institut und Museum in Bubendorf (Schweiz) prüfte – auf afghanische Bitten hin, wie sein Leiter, Paul Bucherer-Dietschi, betont – die technische Realisierbarkeit des Projektes. Das Ergebnis lässt hoffen: Zufällig hatte ein österreichischer Fotogrammetrieexperte die Statuen 1970 mit hochauflösenden Spezialkameras aufgenommen. Und zufällig lehrt an der ETH Zürich ein Spezialist, der mehrfach historisches Kulturgut anhand von Fotos rekonstruiert hat. Armin Grün, Chef des Lehrstuhls für Fotogrammetrie und Fernerkundung, hat sich schon während seiner Assistentenzeit an der TU München um zerstörte Kirchtürme verdient gemacht. Weder für die kriegsbeschädigte Münchner Asamkirche noch für die Würzburger Universitätskirche waren Baupläne zu finden. Grün fertigte trotzdem „Blaupausen“ der nicht mehr existierenden Gebäudeteile an – anhand alter Amateurfotos. Mit kräftiger Rechnerunterstützung gelang es Grün auch, auf Grundlage der alten Fotoplatten aus Afghanistan ein genaues virtuelles 3-D-Modell herzustellen. Die „wiederauferstandenen“ Buddhas kann man im Internet von drei Seiten betrachten und drehen. Ein kleines reales Modell (26 Zentimeter hoch) steht mittlerweile in Bubendorf. Die Rekonstruktion der steinernen Statuen soll in Angriff genommen werden, wenn das nötige Geld beisammen ist. 50 Millionen Dollar wird die Realisierung kosten. Das Prinzip der Fotogrammetrie: Zwei Bilder, aus unterschiedlicher Perspektive aufgenommen, werden an einem 3-D-Betrachter so übereinander geschoben, dass ein dreidimensionales Bild entsteht. Eine „schwebende“ Raummarke kann nun zu beliebigen Punkten verschoben werden, um deren Höhe zu bestimmen. Die digitale Fotogrammetrie erzeugt 3-D-Modelle fast automatisch, wenn die Eigenschaften und Positionen der verwendeten Kameras bekannt sind. Diese müssen nicht unbedingt wie früher vor Ort gemessen, sondern können errechnet werden. Werden die verschiedenen Aufnahmen digital übereinander gelegt, erhält man die Raumkoordinaten jedes fotografierten Bildpunktes.
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ZEIT ONLINE
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Mit dem Verfahren der Fotogrammetrie sollen zerstörte Gebäude und Heiligtümer rekonstruiert werden
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"Geowissenschaft",
"Toshiba",
"Afghanistan",
"Schweiz",
"USA",
"Hamburg",
"Zürich"
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2003-04-24T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2003/18/T-Fotogrammetrie/komplettansicht
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60 Sekunden für die Liebe
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Australier investieren neuerdings in käufliche Liebe. Die passenden Aktien bietet ihnen das Unternehmen The Daily Planet – ein Bordell in Melbourne. Dessen Anteilscheine sind fast schon klassische Blue Chips: Sex verspricht Gewinne auch in schlechten Zeiten. Am ersten Handelstag trieb die Lust der Spekulanten den Kurs um mehr als 100 Prozent nach oben und verschaffte dem Freudenhaus einen Wert von 3,75 Millionen australischen Dollar. Daily Planets Chef Andrew Harris will mit seinem Bordell die Welt erobern, und zwar auf Franchise-Basis. Erst Perth, Brisbane und Sydney „und dann der Rest“, verspricht er. Wie das bekannte Hard Rock Café könnte es die Planeten der Liebe bald überall geben: Bangkok, Chicago, Reykjavík und Jerusalem. Merchandising soll die Geschäfte zusätzlich antreiben, mit Boxershorts, Hot Pants und Bettwäsche. Am Ende kommt es vielleicht zur sexuellen Kulturrevolution, und käufliche Liebe wird gesellschaftlich anerkannt. Doch Vorsicht! Harris hat keinen Weg gefunden, aus Sex einen Börsenwert zu machen. Bestand der Firma ist lediglich die Immobilie, ein Fünf-Sterne-Hotel, in dem „sexuelle Dienste zugelassen sind“. Aus der Traum vom Anlegerglück, das Bordell entpuppt sich als schnöde Immobiliengesellschaft. Deren Aktien sind in mancher Hinsicht zwar auch klassische Blue Chips – aber doch solche, bei denen jegliche Fantasie erschlafft. John F. Jungclaussen
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ZEIT ONLINE
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Lesen Sie jetzt „60 Sekunden für die Liebe“.
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"Unternehmen",
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2003-05-08T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2003/20/Kolumne_20_unten
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Auf die japanische Art
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Trotz des negativen Börsenumfelds konnten nämlich einige Titel kräftig zulegen. Eine Studie der US-Investmentbank Morgan Stanley liefert den Beweis: Die beste japanische Aktie konnte von 1990 bis 2002 einen Kurszuwachs von 528 Prozent verbuchen, während der breite japanische Aktienindex Topix um 70 Prozent fiel. Selbst der auf dem 20.Rang in der Rendite-Hitliste platzierte Titel konnte immerhin noch 80 Prozent Wertsteigerung vorweisen. Warum einzelne Unternehmen in der Deflation gewinnen und andere verlieren, wird über die Auswirkungen sinkender Preise für die Wirtschaft verständlich. Auf der Nachfrageseite ist zu beobachten, dass angesichts immer günstiger werdender Angebote Verbraucher und Unternehmen größere Anschaffungen und Investitionen lieber hinauszögern. „Betroffen wären dann vor allem die Gebrauchs- und Investitionsgütersektoren wie etwa die Bau- oder Automobilindustrie“, sagt Roland Ziegler, Aktienstratege bei der ING BHF Bank. Wobei Ausnahmen die Regel bestätigen: So konnte sich der japanische Autohersteller Toyota trotz Deflation gut behaupten. Dafür gibt es zwei Gründe. In der Branche gilt Toyota als sehr kostengünstiger und profitabler Hersteller, der sinkende Preise besser verkraften kann als die Konkurrenz. Dazu kommt, dass der schwache Yen einen regelrechten Turbolader für das Exportgeschäft des Konzerns darstellte. Als klassische Deflationsgewinner gelten hingegen Titel aus wenig konjunkturempfindlichen Branchen wie Versorger- oder Pharmawerte. Doch es kommt nicht nur auf die Branche, sondern auch auf das einzelne Unternehmen an, vor allem auf seine Verschuldungssituation. Denn in der Deflation gilt der Grundsatz, dass Geldbesitzer gewinnen und Schuldner auf der Verliererseite stehen. Der Grund: Durch Preisverfall werden Bargeld und Guthaben wertvoller – aber auch der Wert der Schulden nimmt zu. Zwar sparen verschuldete Unternehmen kurzfristig Geld durch niedrigere Zinsen. Aber wenn die Gewinne unter Druck geraten und die als Kreditsicherheit dienenden Immobilien- und Sachwerte dem Preisverfall ausgesetzt sind, droht schnell der Abstieg in die zweite Schuldnerliga. In diesem Mechanismus liegt auch die Gefahr für Banken und Versicherungen in Phasen der Deflation. So können Geldinstitute unter Druck kommen, wenn grundschuld- und aktiengesicherte Kredite faul werden und die Sicherheiten nicht mehr für die Deckung des Ausfalls ausreichen. Die Versicherer wiederum sitzen in der Renditefalle: Weil sie ihre Leistungszusagen einhalten müssen, aber die mageren Zinseinnahmen oft nicht einmal den Wertverfall des Aktien- und Immobilienportfolios ausgleichen, schwindet die finanzielle Substanz wie Butter in der Sonne. Die Probleme der japanischen und mittlerweile auch einiger schweizerischer und deutscher Assekuranzen liefern das Praxisbeispiel zur Theorie. Vorteil für Finanzwerte Gleichwohl warnen Experten davor, das japanische Beispiel als Prototypen für die Aktienentwicklung in der Deflation zu betrachten. „Japan ist eher ein Sonderfall, weil dort die Probleme der Deflation durch finanzpolitische Fehlentscheidungen verstärkt wurden“, betont Burkhard Varnholt, leitender Investmentstratege bei Credit Suisse Private Banking. So reagierte die japanische Notenbank viel zu spät mit Zinssenkungen auf den konjunkturellen Einbruch, sodass sich nun trotz Nullzins die Deflation wie ein hartnäckiges Virus einnisten konnte. Zu den weiteren japanspezifischen Problemen zählen das Ausmaß der Spekulationsblase am Immobilienmarkt und die Tatsache, dass die großen Banken ihre Probleme im Kreditgeschäft über Jahre vertuscht haben. Selbst wenn in Europa eine Deflation kommen sollte, würden Banken- und Versicherungsaktien zwar stark darunter leiden, jedoch nicht in dem dramatischen Ausmaß wie in Japan. Eine lockere Zinspolitik der Notenbanken, oft noch in Verbindung mit staatlichen Ausgabeprogrammen zur Ankurbelung der Konjunktur, kann eine Deflation stoppen und in die so genannte Reflation umkehren. Über die Belebung der Nachfrage zieht die Wirtschaft wieder an, der Preisverfall wird beendet, und es entsteht eine neue Inflation.
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ZEIT ONLINE
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Unternehmensgewinn? Gutes Produkt? Günstige Prognose? In der Deflation zählen beim Aktienkauf ganz andere Dinge
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"Toyota",
"Aktie",
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"Deflation",
"Geldpolitik",
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"Japan",
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2003-05-15T14:00:00+02:00
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Der Puppenmeister
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In Haiti wird oft und gern über Zombies gesprochen, doch sobald ein Außenstehender genauer nachfragt, herrscht eisiges Schweigen. Zombies gehören zur dunklen Seite des Voodoo und flößen selbst Anhängern des afrokaribischen Kults, der Überreste der Sklavenreligionen mit der christlichen Heiligenverehrung der Kolonialherren vermischt, Angst ein. Tektek, der auf naive haitianische Kunst spezialisierte Maler, dessen Bilder schon in Amerika und England zu sehen waren, ist rituell mit der Liebesgöttin Erzuli Freda verheiratet und trägt ihren Ring, ein massives Schmuckstück mit rubinrotem Stein. Es hat Tage gedauert, bis Tektek sich zur Suche nach den Untoten überreden ließ. »Die Griffe der Särge bringen viel Geld«, sagt Tektek leise, während er auf dem Friedhof in seinen blauen Badeschlappen über die verstreuten Kleider von Verstorbenen hüpft. »Die Diebe verkaufen sie wieder an die Bestattungsunternehmen.« Dazu müsste man die Särge wohl kaum aufbrechen. »Grabbeigaben und Zahngold«, gibt Tektek zögernd zu und wirft einen flüchtigen Blick auf Erzulis Ring. »Auch Leichenteile. Sie werden in der Schwarzen Magie verwendet.« Um Zombies zu machen? Tektek schweigt. Sein Ringfinger zittert, und der Rubin scheint kurz aufzuleuchten. Das bunte Taptap quält sich durch die staubigen, drückend heißen Straßen Ein paar Gräberstraßen weiter flackern schwarze Kerzen an einem massiven Steinkreuz. Es verkörpert Baron Samedi, den Totengott. Feuer brennen, beißender Rauch steigt auf. Ein kopfloses Huhn zuckt am Boden. Sein Blut klebt am Kreuz. Der süßliche Duft des Todes hängt in der Luft. Ein Bokor, ein Schwarzmagier, nimmt eine Stoffpuppe zur Hand. Sie hat kein Gesicht, doch zwischen den Beinen sind Penis und Schamhaar angenäht. Der Bokor umwickelt die Puppe mit Schnüren und Drähten und vergräbt sie vor dem Kreuz. Sein Auftraggeber, ein betont aufrecht gehender Mann in blau-weiß gestreiftem Hemd, tritt mit dem linken Fuß die Erde fest. »Wenn der Bokor eine Puppe von dir macht und sie vergräbt, vergräbt er dich«, flüstert Tektek. »Du bist so gut wie tot.« Mord also, Mord auf Distanz, mit spirituellen Mitteln, Mord auf haitianische Art und als solcher auch im Strafrecht der Voodoo-Insel festgeschrieben. Doch niemand scheint jemals dafür verurteilt worden zu sein. Die Polizei braucht Beweise. Die Mordwaffe: eine Stoffpuppe? Eine Zauberformel? »Das perfekte Verbrechen«, sagt Tektek in der ihm eigenen Art. Und während das Opfer irgendwo nichtsahnend seinem täglichen Leben nachgeht, umrundet der Auftraggeber das Kreuz, peitscht es mit einem Seil und stößt kurze, spitze Laute aus. Der Bokor folgt ihm, schüttelt die Rassel, singt ein Totenlied – weggetreten, taumelnd, die Augen weit aufgerissen. Er spuckt Schnaps auf das Kreuz. Sonnenstrahlen brechen sich in der Gischt und bilden einen Regenbogen. »Er wird sterben!«, schreit der Bokor auf Kreol. »In zwei Tagen ist er tot! Tot! Bezahl mich nicht, wenn er in zwei Tagen noch lebt!« Wie soll das funktionieren? Führt der Bokor hier ein Ritual durch und verlässt danach den Friedhof, um das Opfer eigenhändig zu erschießen, zu erstechen, zu vergiften? »Der Bokor hat den Mann bereits getötet«, sagt Tektek verärgert und streichelt Erzulis Rubinring, als bitte er ihn für die alberne Frage um Verzeihung. »Gerade eben, vor unseren Augen. Das Opfer hat keine Chance mehr.« Schwarze Magie solcher Art stehe am Anfang jeder zombification, erklärt Tektek leise. Nach einer Zeremonie solle man allerdings besser nicht mit einem Magier sprechen. Er sei noch heiß, aufgeladen von dunkler Macht, unberechenbar. In Haiti ist die Wirklichkeit oft merkwürdiger als die Fiktion. Es gibt Schätzungen, wonach jährlich bis zu tausend Personen von ihren Familien oder Freunden als zurückgekehrte Zombies anerkannt werden, als Menschen, die gestorben sind, begraben wurden und später wieder auftauchen. Selbst Wissenschaftler diskutieren darüber, ob Zombies tatsächlich existieren. Während die einen glauben, es handle sich um herumirrende geistig Verwirrte und bei deren Identifikation durch Verwandte schlichtweg um Verwechslungen, vermuten andere, dass die Bokor ihre Opfer in einen todesähnlichen Zustand versetzen, mit Tetrodotoxin, einem Gift, das aus lokalen Kugelfischen gewonnen wird. Es soll durch die Haut in den Körper dringen und die Lebensfunktionen derart drosseln, dass der »Tote« im Sarg eine gewisse Zeit zu überstehen vermag. In der Nacht nach der Beerdigung bricht der Bokor nach dieser unbewiesenen Theorie den Sarg auf und wiederbelebt sein Opfer, möglicherweise mit Extrakten aus dem Stechapfel (Datura stramonium). Jenseits wissenschaftlicher Erklärungsversuche ist die Angst vor einer zombification in Haiti so groß, dass manche Angehörige ihre Verstorbenen zur Sicherheit ein zweites Mal töten – durch Strangulation oder eine starke Giftinjektion. Ein Leben als Zombie soll ihnen so erspart bleiben.
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In Haiti sind Zombies keine Gestalten aus Horrorfilmen. Die meisten Haitianer glauben fest an lebende Tote. Eine Spurensuche im Land des Voodoo
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"Haiti",
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"Port-au-Prince"
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2003-05-22T14:00:00+02:00
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Von Gott verbrüht
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Man muss nur ganz fest wollen. In Kopfspielen hat Thees Uhlmann das schon ausprobiert. Wer es schafft, zehnmal die Zähne genau in dem Moment aufeinander schlagen zu lassen, da die weißen Mittelstreifen der Autobahn unter der Motorhaube verschwinden, bekommt garantiert keinen Streit. Und Wünsche sind seit 1999 in munterer Folge in Erfüllung gegangen: Erst wurde Uhlmann Roadie seiner Lieblingsband Tocotronic, sodann verfasste er Tour-Tagebücher über dieses verhuschte Leben mit seinen Heroen. Jetzt ist das dritte Album seiner eigenen Band Tomte erschienen. Die Kritik attestiert dem Sänger und Songwriter Qualitäten eines Textergotts. Wenn das kein verspätetes Tellerwäschermärchen aus der Hamburger Schule ist: Jetzt, wo die großen Diskursschleifen um eine neue, offensive Sprache im deutschen Pop schon wieder von gestern sind, wird emotional richtig rein gemacht. Von den Übereltern Tocotronic und deren Nöligkeit hat Uhlmann sich insoweit entfernt, als er noch einmal bei Adam und Eva anfängt: beim Guten und Echten im Rock, bei der verzweifelten Lebensfreude und der freudigen Verzweiflung und all den anderen Bruchstellen, die die Beobachtung des eigenen Werdens gebiert. Hinter all diesen Fenstern ist ein Coming-of-Age-Album geworden, das davon erzählt, wie das Leben so ist, wenn man nicht mehr 17 ist und in Cuxhaven Hardcore-Musik entdeckt. Seit fünf Jahren halte ich mein Herz in kochendes Wasser, doch es scheint nichts zu nützen, denn so abgebrüht bin ich noch lange nicht. Heiliger Bimbam, ist das ein Pathos! Und so poetisch. Thees Uhlmann singt Kalendersprüche für die Indie-Jugend. Er hat das Tocotronic-Tagebuch damit gespickt (Von HipHop lernen heißt enge Klamotten tragen), er packt sie serienweise in seine Songtexte. Die Themen: Leben retten, wos nur geht, über seine Grenzen reflektieren, Freunde umarmen, aber bitte nie ohne das richtige Gitarren-Schrumm-Schrumm (Grand Hotel van Cleef/Indigo). Beziehungen werden aber auch hanseatisch geknüpft. Tomte haben einen Song über einen Tocotronic-Tour-T-Shirt-Verkäufer gemacht, und Tocotronic nahmen für ihr letztes Album ein Stück auf, das man am liebsten gleich Tomte ins Stammbuch geschrieben hätte: Hi Freaks. Doch während Tocotronics charmante Slogans zu republikweiten Szene-Hits wurden, schmilzt die Welt bei Tomte auf Familienfotogröße zusammen. Im Hause Uhlmann raunt es mit religiösem Ernst: Schreit den Namen meiner Mutter, die mich hielt, schreit den Namen meines Vaters, der mich machte zu einem glühenden Verehrer der Sachen des Lichts. Von Gott verbrüht, der tiefsinnigste Titel, spielt mit dem Gedanken, für einen anderen sterben zu wollen, Endlich einmal ist ein Lied über Uhlmanns Beziehung zu seinem Hund. Mein Leben ist von Lust-Angst bestimmt, sagt Uhlmann. Es gibt so viele Dinge, die nach vier Jahren zerschlissen sind. Nur mein Hund ist da. Für diese Konstante in meinem Leben bin ich dankbar. Aber Goo, der Hund, der unschuldigerweise den Namen eines Sonic-Youth-Albums trägt, hats auch nicht leicht. Wenn er die Elbe riecht, wird er ganz unruhig und macht diese nervigen Fiepsgeräusche. Als Sample vielleicht auf dem nächsten Album erhältlich. Von Bach bestaunt In Frankreich entzückt er den Sonnenkönig, in Wien ehrt ihn der Kaiser, ab 1698 wirkt der Geiger Johann Paul von Westhoff im Range eines Kammersekretärs am Weimarer Hof. Da mag ein junger Kollege sein Spiel bestaunt haben Johann Sebastian Bach. Mehr noch, raunen manche, Westhoffs Sechs Solosuiten für Violine sollen Bach den Weg gewiesen haben. Werke von 1696, die erst 1971 in einer ungarischen Bibliothek ausgegraben wurden. Das Missing Link zu Bachs singulärem Sechserpack? Muss die Musikgeschichte umgeschrieben werden? Alles halb so wild. Anregend für Bach war die Geigerszene um 1700 ohnehin, in der etliche Solisten Schwierigstes beherrschten und komponierten. Aber was Bach gelang, schaffte keiner. Westhoff war zwar der Erste, der Suiten von Tanzsätzen gleich als Zyklus konzipierte, aber trotz fingerbrecherischer Mehrstimmigkeit bleibt das bei ihm kleinformatig, kurzatmig, von engem Horizont. Der Geiger Friedemann Amadeus Treiber hat jetzt Westhoffs Solosuiten brillant und stilsicher zum ersten Mal auf CD aufgenommen (Podium, WOW-019-2, zu bestellen unter Tel. 0721/686361). Beim Hören fallen exotische Stellen auf: Es gibt da unverhoffte Einbrüche geradezu romantischer Harmonik, dann wieder Quintenstrenge wie von Franz Ignaz Biber. Fast hält man es für möglich, dass die Musik ein Fake ist und vielleicht gerade deswegen nur von einem einzigen existierenden Druckexemplar in Ungarn geraunt wird. Was nicht stimmt: Es gibt, wovon das Booklet nichts weiß, noch ein Exemplar, im Brüsseler Konservatorium. Die Autorenschaft steht also außer Zweifel, und die Musikgeschichte bleibt, wie sie ist. Vom House befreit Jazz? Wer House und Techno liebt, schüttelt sich. Das ist Kopfmusik, die keinen Sog entfaltet. Umso größer die Überraschung, wenn sich nun ein anerkannter DJ den Klängen einer längst vergangenen Epoche zuwendet. Matthew Herbert aus London, der selten auf weniger als zwei Kontinenten gleichzeitig anzutreffen ist, hat für sein neues Album eine Big Band zusammengetrommelt: Trompeter, Saxofonisten, Posaunisten, eine Rhythmusgruppe und sogar Sängerinnen! Seine 20 Musiker multipliziert mit einem Altersschnitt von 45, so rechnet Herbert vor, das ergebe 900 Jahre musikalischer Erfahrung. Das Ensemble enthalte ungleich mehr Klang als eine randvolle Sample-CD mit 700 Megabyte. „Und“, fügt er hinzu, „es gibt ein Gefühl von Gemeinschaft, das in der elektronischen Musik fehlt.“ So weit ist es nun? Weg mit den Knöpfen und Kabeln, zurück zu Händen, Lippen und Lungen? Aber wie spielt man Computerklänge unplugged? Dafür hat auch Herbert noch keine Lösung gefunden; seit einiger Zeit propagiert er so viel Verzicht wie möglich. Als Futter für seinen Sampler verwendet er ausschließlich eigene Aufnahmen, bevorzugt von Geräuschen, die sich politisch deuten lassen, wie zum Beispiel das Zertreten einer Big-Mac-Schachtel.
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ZEIT ONLINE
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Tomte, Paul von Westhoff, Matthew Herbert, Jane Ira Bloom und Seeed
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"Johann Sebastian Bach",
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"London",
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2003-06-05T14:00:00+02:00
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https://www.zeit.de/2003/24/Von_Gott_verbr_9fht/komplettansicht
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Eine Überdosis Politik: Der Fall Möllemann
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Wahrscheinlich wäre Jürgen Möllemann heute noch am Leben, hätte es im Mai 2002 die Karsli-Affäre nicht gegeben. Damals holte der nordrhein-westfälische FDP-Vorsitzende den Landtagsabgeordneten der Grünen in die Düsseldorfer FDP-Fraktion. Karsli hatte sich hemmungslos über Israel geäußert. Und Jürgen Möllemann begann mit dem antisemitischen Tabu zu spielen. Die Wogen schlugen hoch. Aber Möllemann ließ sich nicht beeindrucken, im Gegenteil. Statt seinen Fehler zu revidieren, wiederholte er ihn. Er kritisierte auf infame Weise Michel Friedman. Und er brachte unmittelbar vor der Bundestagswahl ein Flugblatt millionenfach unter die Wähler, in dem noch einmal Ariel Scharon, Michel Friedman und die israelische Politik angegriffen wurden. Hatte er wirklich geglaubt, für seinen letzten goßen Anlauf zur Macht alle Möglichkeiten ausreizen zu müssen? Vielleicht hat sich das Leben von Jürgen Möllemann stets um die Frage des angemessenen Ortes gedreht. Vielleicht machte er deshalb meist diesen ruhelosen, leicht flackernden Eindruck. Immer jedenfalls gab es ein Ziel, das er ins Auge fasste, einen Platz, den er für sich beanspruchte und um den er kämpfte. Jürgen Möllemann war ein hartnäckiger Kämpfer, wenn es darum ging, sich mit seinen Ansprüchen durchzusetzen. Oder zu scheitern. Ganz zu Anfang seiner Bonner Jahre hatte das alles noch etwas Jugendlich-Spaßiges. "Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen heute mitteilen", schrieb da der Parlaments-Neuling an Bundestagspräsidentin Annemarie Renger, "dass ich mich aus organisatorisch-technischen Gründen außerstande sehe, mein Mandat als Abgeordneter des 7. Deutschen Bundestages in angemessener Weise wahrzunehmen." Der FDP-Neuzugang vermisste sein Abgeordnetenbüro. Er musste bei einem Kollegen gastieren, weil die stark geschrumpfte Unions-Fraktion nur widerwillig auf angestammte Räume verzichten wollte. Es überrascht nicht, dass der Brief damals schnell den Weg an die Öffentlichkeit fand. Allzu lange wollte Jürgen Möllemann eben nicht damit warten, sich in Bonn bekannt zu machen. Und am Tag nach Willy Brandts Regierungserklärung am 20. Januar 1973 erhielt auch der 27-Jährige sein eigenes Büro. Seither gehörten die Platzkämpfe Möllemanns zum politischen Alltag der Bundesrepublik. Drei Jahrzehnte lang: vom einfachen Abgeordneten zum Minister bis zum Vizekanzler unter Helmut Kohl. Und dann der lange Weg zurück. Mit immer neuen Anläufen, hochfliegenderen Ambitionen und tieferen Abstürzen. In diesen Jahren ist Jürgen Möllemann für die deutsche Politik zum Phönix aus der Asche geworden. Randständigkeit war ihm eine schwer erträgliche Vorstellung. Noch bevor er mit Politischem auf sich aufmerksam machte, stach bereits der Spaß des Jungpolitikers an Spektakel und Selbstinszenierung hervor. Schon 1972 warb Jürgen Möllemann mit dem Fallschirm für seine politische Karriere. Er machte Wahlkampf zu Pferde, zu Wasser oder als Flugblatt verteilender Dauerläufer: Er musste eben "Popularitätsdefizite ausgleichen". Er wurde zum Inbegriff des ungeniert PR-orientierten Politikers, der unterhaltsam-provokativ und witzig, gelegentlich aber auch nur laut und marktschreierisch daherkam. Das bescherte ihm früh eine paradoxe Erfahrung: Die Prominenz, die ihm seine rastlose Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache eintrug, gefährdete zugleich sein Ansehen als ernst zu nehmender Politiker. Schnell hatte sich der junge Bundestagsabgeordnete Expertise in der Bildungspolitik, dann im Bereich Sicherheits-, Außen- und Europapolitik verschafft. Aber das wurde von seinen vielfältigen, oft auf Effekt berechneten Aktivitäten eher verdeckt. Als 1982 seine eigentliche politische Karriere begann, war Jürgen Möllemann eine der schillernden Figuren des Bonner Betriebs geworden. Zwanzig Jahre später in seinem letzten Buch hat er den Typus scharf kritisiert, dem er selbst so früh entsprach. "Diese Sorte Politiker ist der Ruin des Landes. Sie haben keine politischen Ziele, sondern inszenieren nur sich selbst. Bei ihnen ist der Weg tatsächlich das Ziel." Fiel ihm gar nicht auf, dass sich das wie eine Selbstcharakterisierung las? Er hatte schließlich seinen prominenten Beitrag zur Entwicklung des bundesdeutschen Polit-Entertainments geleistet. Nun pries er sich als Problemlöser der neuen Art. War es nicht eher ein Ausweis von Naivität gewesen, nach der politischen Substanz zu fragen, die in der Möllemann-Show augenzwinkernd präsentiert wurde? Inhalte wirkten bei ihm nie wie die Hauptsache, eher wie das Material, ohne das die Inszenierung nicht auskam.
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Matthias Geis
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Ein deutscher Meister der medialen Selbstinszenierung sprang aus einem Flugzeug und starb beim Aufprall.
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"Guido Westerwelle",
"Hans-Dietrich Genscher",
"FDP",
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"Willy Brandt",
"Grüne",
"Klaus Kinkel",
"Martin Bangemann",
"Otto Graf Lambsdorff",
"Wolfgang Gerhardt"
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2003-06-12T14:00:00+02:00
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Messer im Wind
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Der Meeresbiologe Rainer Knust schwärmt bereits von Fino 1. Alle zwei Wochen wird er vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut mit einem Hubschrauber hinausfliegen zum Borkumer Riff auf die signalgelbe Messstation. Genau hier sollen sich schon in zwei Jahren die Windräder des ersten deutschen Offshore-Windparks drehen. Die Plattform reckt einen 100 Meter hohen Mast über den Meeresspiegel. Ihr Fundament ruht in 30 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund und ist dort mit mächtigen Pfählen verankert, die ihrerseits 28 Meter tief im Boden stecken (siehe Zeichnung). Falls das Wetter mitspielt, wird die zerlegte Plattform noch in dieser Woche an ihren Standort geschleppt. Schon Ende des Monats soll sie aufgerichtet und betriebsbereit sein. Bei jedem künftigen Besuch warten dann auf die Wissenschaftler Plankton- und Sedimentproben, die ein automatischer Kran gezogen hat, sowie ganze Computerfestplatten voller Messdaten über Wind, Wellen und Wetter. Seit Jahren erforscht Rainer Knust die ökologischen Auswirkungen künftiger Offshore-Windparks, basierend auf viel Theorie und wenig konkreten Daten. Mit Fino soll sich das nun ändern, das Bundesforschungsministerium spendiert dafür neun Millionen Euro. Ein knappes Dutzend Forschungsinstitute misst und experimentiert auf dem Borkumer Riff. Im Visier der Forscher sind nicht nur Fische und Kleinstlebewesen am Meeresgrund. Ein Radar erfasst Schiffe und vorbeiziehende Vögel. Wellengang, Strömung, Temperatur und Salzgehalt werden registriert, ebenso die Kräfte, mit denen Wind und Wellen am Fundament der Plattform zerren. Man verspricht sich wichtige Informationen über die ökologischen Auswirkungen, aber auch für die Konstruktion und Wirtschaftlichkeit künftiger Offshore-Windparks. So sind für die Investoren dauerhafte Windmessungen in 100 Meter Höhe besonders wichtig. Denn dort oben sollen sich die Achsen ihrer gewaltigen 5-Megawatt-Windräder drehen. Bisher gibt es für den Seewind in solchen Höhen nur Prognosen, hochgerechnet aus Messungen an Land und auf Feuerschiffen. Demnach lägen die Erträge von Offshore-Windanlagen stolze 40 Prozent höher als jener an Land. Mit der Energieausbeute würde man gern Investoren locken – doch sicher ist diese Prognose nicht. Weltweit gibt es keine dauerhaften Windmessungen 100 Meter über Meer. „Zwischen 60 und 80 Meter Höhe passiert in der Atmosphäre etwas sehr Interessantes“, sagt Thomas Neumann, Leiter des Forschungsprojekts beim Deutschen Windenergie-Institut. Ab dieser Höhe weht der Wind weitgehend ungebremst vom Boden oder Wasser. „Wir sind sehr gespannt, ob wir dort oben wirklich deutlich weniger Turbulenzen haben.“ Denn Luftwirbel verschlechtern die Energieausbeute und erhöhen die Belastung der Anlagen, sind also doppelt kostenwirksam. Nicht nur Langzeitwerte, auch Extremwerte interessieren Forscher und Betreiber. Für die Standfestigkeit von Windanlagen sind zuverlässige Schätzungen der größten Welle und stärksten Böe wichtig, die je zusammentreffen könnten. Auf 17 Meter wird die „Jahrhundertwelle“ bisher geschätzt, hinzu kämen Orkanböen mit Geschwindigkeiten von bis zu 180 km/h. Seewind, das unbekannte Kind Jens Niebank entwirft Windmühlentürme, die solche Belastungen aushalten und obendrein an ihrer Spitze eine 350 Tonnen schwere Last aus Generator, Rotorblättern und Notunterkunft tragen. Der gelernte Schiffbauingenieur und rund 80 seiner Kollegen arbeiten auf vertrautem Gelände, dem der Pleite gegangenen Bremer Vulkan Werft. Jetzt stehen sie im Lohn der Stahlbaufirma SSC. Sie verbauen hier inzwischen wieder so viel Stahl wie einst die Werftarbeiter, allerdings nicht für Schiffe, sondern für 30 Meter lange Segmente von Windmühlentürmen.
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In der deutschen Nord- und Ostsee sollen Tausende Windmühlen entstehen, die mit der Kraft von zwanzig Atommeilern Strom erzeugen
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"Energie",
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"Dänemark",
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Ein Platz an der Sonne
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Drinnen, im Haus von Chris Pearlman, verteilen Ventilatoren eisgekühlte Luft. Es ist sieben Uhr morgens, das Außenthermometer zeigt 31 Grad. Ein fetter Mischlingshund rennt japsend durch das Wohnzimmer und stiert nach der Leine, jetzt ist die einzige Zeit, zu der man noch rausgehen kann. Das Tier ist dreizehn Jahre alt und viel zu schwer, sein Herz verträgt das Klima von Sun City nicht besonders. Chris Pearlman quetscht den Saft aus ein paar Orangen und rührt Honig in eine Schale Magerjogurt. Sein Cholesterin ist hoch, der Arzt hat gesagt, er soll ein bisschen aufpassen. Chris Pearlman ist 82. Seine Frau ist vorletztes Jahr gestorben, nach 47 Jahren Ehe. Neulich hatte er eine Verabredung, aber es ist nichts daraus geworden, leider. »Es wäre schöner, wenn ich jemanden hätte, für den ich morgens Frühstück holen kann«, sagt er. »Aber das kommt schon noch.« Chris Pearlman zuckt mit den Schultern. »Es ist nur eine Frage der Einstellung« , sagt er dann. »Das ganze Leben ist nichts weiter als eine Frage der Einstellung.« In Sun City hat man vor allem die Einstellung, dass Altsein eine großartige Sache ist. Dafür ist Sun City berühmt geworden: eine Stadt in der Wüste Arizonas, 1960 vom Bauunternehmer Del Webb eröffnet, perfekt angepasst an die Bedürfnisse älterer Menschen. Hierher darf nur ziehen, wer die 55 Jahre schon überschritten hat. Die Häuser sind großzügig geschnitten und ordentlich aufgereiht wie in einem Ferienpark, die Straßen breit und sauber. Im Zentrum gibt es Fitnessanlagen und Schwimmbäder. Golfplätze sorgen für Grün. Ein Großteil der Bewohner hat mit Arthritis und Rheuma zu kämpfen, da ist es gut, dass in Sun City fast nie Regen fällt. Inzwischen gibt es auch in anderen Teilen des Landes Sun Cities, vor allem im Süden, in Florida und Texas, wo das Klima ähnlich gelenkschonend ist. Hier, in Arizona, kamen 1972 und 1996 die Stadtteile Sun City West und 1996 Sun City Grand dazu. Ungefähr 90000 alte Menschen leben heute in dieser Retortenstadt, und es werden immer mehr. Der nächste Stadtteil ist längst geplant, sein Name: Festival Ranch. Das Leben in Sun City soll eine immer währende Party sein, Gegenprogramm zu einer Realität, die aus drohender Altersarmut und miserablen Zukunftsaussichten besteht. Für die, die hier leben, ist es nicht mehr nur wichtig, den Tod zu überlisten. Den Bewohnern geht es vor allem darum, das wirkliche Leben auszutricksen. Es ist inzwischen zehn Uhr, der Hund schläft in der Nähe der Veranda. Chris Pearlman geht ins Fitnessstudio. Dort läuft ein Kurs, der speziell die Bauch- und Pomuskulatur trainiert. Die Trainerin heißt Barbara und ist 69 Jahre alt. Vierzig Jahre Erfahrung im Bereich Fitness haben ihren Körper trocken und zäh gemacht. »Gutes Aussehen ist uns natürlich wichtig, oder, liebe Freunde?«, fragt sie. »Oh, ja«, macht der Kurs. Doris Burg, 73, ist vor vier Jahren nach Sun City gezogen, nachdem ihr Mann gestorben war. Seitdem schwitzt sie mindestens dreimal die Woche im Fitnessclub, obwohl ihr Körper seine alte Form einfach nicht zurückgewinnen will. »Trotzdem lohnt es sich«, lächelt sie. »Ich habe erst hier verstanden, dass Sport wichtig ist, wenn man jung bleiben will.« Nebenan übt eine andere Gruppe Kickboxen. Auf der dazugehörigen Broschüre wird gewarnt: »Achtung, Girls! Keine kostenlose Makeup-Auffrischung nach diesem Kurs.« Über die Wirtschaftskrise, die derzeit wohl die gesamte westliche Welt verunsichert, spricht in Sun City niemand. In den lokalen Zeitungen, dem Sun Cities Independent oder der Daily News Sun, taucht nichts auf, was mit Politik oder Wirtschaft zu tun hat, stattdessen gibt es Berichte von der Wahl des Golfclub-Präsidenten oder über neue Errungenschaften aus der Welt der Medizin. Der örtliche Fernsehsender berichtet über Scrabble-Spiele oder Kurse für Holzarbeit und dass sich kürzlich eine Billard-Mannschaft für Witwen gegründet hat. »Ich muss nicht wissen, was in der Welt vermeintlich Wichtiges passiert«, sagt Erika Bimmel, die mit ihrem Mann wegen der Golfplätze und der ruhigen Lage hergezogen ist. Erika Bimmel ist 74 Jahre alt, hat Handicap acht, und sie sagt: »Ich habe genug Elend da draußen gesehen. Mir reicht es einfach.« Auf den Kabelkanälen laufen Sportsendungen oder Streifen wie Enough mit Jennifer Lopez oder Life or something like it, ein Schmachtfetzen mit Angelina Jolie. Es gibt viele Realitäten. In Sun City hat man die gewählt, die den Bewohnern am besten gefällt.
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Eine überalterte Gesellschaft: In Sun City in der Wüste Arizonas leben und arbeiten nur Menschen über 55. Sie versuchen, Spaß zu haben – und schaffen sich ihre eigene Realität.
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2003-06-26T14:00:00+02:00
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2003-06-26T14:00:00+02:00
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Wege in die Kunst
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Die Münchner Galerie Wittenbrink hat ihr Budget für teure Messeauftritte gegen die Anmietung eines Ladens in bester Verkaufslage an der Theatiner Straße eingetauscht. In der feinen Ladenpassage Fünf Höfe fallen die ausgestellten Gemälde, Fotos und Installationen aus dem Rahmen. Es sind Hingucker zwischen Edelklamotten und anderen Luxusgütern. „Mehr noch“, sagt Hanna Wittenbrink, „es kommt zu Gesprächen mit einem Publikum, an das wir bisher sonst nie herankamen und das anschließend über die persönlichen Kontakte auch die etwas abgelegenere Galerie aufsucht.“ Raus aus dem White Cube in andere, von keiner Schwellenangst abgeschottete Räume: eine Möglichkeit, neue Käuferschichten zu aktivieren. Bereits 1994 organisierte die Kölner Galeristin Gabriele Rivet im Amsterdamer Hilton – gemeinsam mit 57 internationalen Kunsthändlern – die Art Hotel. Kunst sollte an Orte transportiert werden, wo es noch keine Infrastruktur dafür gibt. Die Idee machte für vier Jahre auch in New York Schule. Bis 1998 nutzten Galeristen Zimmer und Suiten des Gramercy Park Hotels, um Kunst in bewohnten Räumen vorzuführen. Später zog man dann an den Pier zur neu formierten Armory Show um. European Art Expo nennt sich eine Initiative des früheren Geschäftsführers des Bundesverbandes deutscher Galerien, Bernd Fesel. Mit seiner Firma Art Services hat er sich selbstständig gemacht. 16 Galerien – davon je eine aus der Schweiz, aus Österreich und den Niederlanden – werden vom 12. bis 20. Juli im NRW-Forum Kultur und Wirtschaft zum Thema Fotografie Arbeiten in der Preisklasse von 250 bis 2500 Euro anbieten. Mit einem Konzept zum Abbau von Hemmschwellen, mit kleinen Preisen und vor allem auch kleinen Eintrittspreisen (2,– Euro, Schüler bis zu zwölf Jahren frei) wendet sich die Veranstaltung an ein Nachwuchspublikum – Party und Art-After-Work-Treffs inklusive. Im europäischen Raum will sich das Art-Expo-Unternehmen jeweils an zugkräftige Großausstellungen andocken. Abendliche Öffnungszeiten bis 22 beziehungsweise 24 Uhr sollen junge, neue Interessenten an die Kunst heranführen. Es ist ein Pilotprojekt, das an die Düsseldorfer Helmut-Newton-Retrospektive im NRW-Forum angelehnt ist. Ob sich so ernsthafte Beziehungen zu Kunst und Kunstkauf aufbauen lassen, wird sich zeigen. Die Gunst eines anderen Großunternehmens, der am 29. Oktober startenden Art Cologne, wollen die Kölner Unternehmer Andreas E. Lohaus und Walther M. Gehlen nutzen. Inspiriert von der in New York und London erfolgreichen „Affordable Art Fair“ implantieren sie parallel zur Messe ihre art.fair in den 3000 Quadratmeter großen Hallen des Palladiums im Kölner Norden (30. Oktober bis 2. November, www.art-fair.de). Keck wirbt die Verstaltung mit den 55 noch nicht veröffentlichten Galerien, davon angeblich 35 Prozent aus dem Ausland. Die ausgestellten „Originalkunst“-Werke stammen von Künstlerinnen und Künstlern unter 40 und kosten weniger als 5000 Euro. Die Öffnungszeiten bis 22 Uhr wenden sich an Berufstätige. In einer lockeren Feierabend-Atmosphäre, zwischen Jazz-Lounge und Coffee-Bar, wird Kunst feilgeboten. „Enjoy contemporary art“, heißt der Slogan dazu. Die Initiatoren kommen beide nicht aus der Kunstszene, haben „aber viel Erfahrung mit Events, Organisation, Marketing und Unternehmensberatung“, wie Geschäftsführer Lohaus sagt. Einen umgekehrten Weg will die in Köln lebende Kunstgeschichtlerin Kerstin Meyer-Bialk mit ihrer gerade im Juni eingetragenen Ich-AG gehen. Sie möchte mit konzentrierten themen- oder stadtteilbezogenen Führungen das Interesse wieder dahin lenken, wo Kunst aufgebaut und gefördert wird: in die Galerien. Ihre Klientel spricht sie über die gehobene Hotellerie sowie über Firmen an ([email protected]). Viele Galerien und auch Online-Anbieter nutzen inzwischen das Internet als Informations- und Vertriebsquelle. Bei www.bigart.de ist die Kunst praktisch in Kategorien einsortiert. Eine individuelle Beratung wird zusätzlich angeboten. Bei www.artax.de kann man von A bis Z unter Hunderten von Kunstwerken wählen. Als Kunde darf man Vorzugspreise für „das Angebot der Woche“ in Anspruch nehmen. „Wenn ein neuer Interessent den Weg in unsere Galerie findet“, sagt der Hamburger Galerist Holger Priess, „ist er meistens über das Internet dazu angeregt worden.“
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ZEIT ONLINE
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Mit neuen Vermittlungsformen sollen Besucher in die Galerien gelockt werden
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