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»Der Senat missbraucht Künstler und Kreative«
Da stehen sie. Die modernen Hochhäuser aus Stahl, Beton und Glas; viel Glas. Es gibt gut ausgeleuchtete Indoor-Gärten, in denen immergrüne Bäume ein Ambiente erzeugen, das die gestressten Top­verdiener kurz verschnaufen lässt. So sieht es aus, in Hamburgs Innenstadt zwischen Binnenalster und Axel-Springer-Platz. Doch irgendetwas passt nicht in die Glaspalast-Skyline. Nur einen kurzen, schmalen, gepflasterten Weg entfernt liegt das Gängeviertel. Heruntergekommene, ver­schimmelte Häuser aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stehen hier, bepinselt, bunt beschmiert und besprüht – Street Art vom Feinsten. Zehn der zwölf Bauten gehörten der stadteigenen Woh­nungsgenossenschaft Saga. Die Genossenschaft ließ die historischen, denkmalgeschützten Gebäude einfach vergammeln. Eine Plane am Dach schützte die Fassade notdürftig vor Feuchtigkeit. Seit August haben insgesamt 200 Leute das Areal zu Atelier- und Wohnräumen umfunktioniert. Das Motto der Besetzung lautet: Komm in die Gänge. Das Kollektiv wehrt sich damit gegen die Pläne des niederländischen Investors Hanzevast, der die Wohnungen von der Stadt vor zwei Jahren gekauft hat und seinem Nutzungskonzept zufolge 80 Prozent davon abreißen will. Doch die Sympathien liegen nicht beim Sanierer. Ob Welt, Hamburger Abendblatt oder Bild – man steht auf der Seite der Besetzer. Da werden Überschriften getextet wie »Hier ist alles so schön verrucht«. Punkbands kommen plötzlich zu Wort und dürfen im Abendblatt über das Ausster­ben der Off-Szene in St.Pauli, Altona und im Schanzenviertel klagen. Bild echauffiert sich über den Investor aus den Niederlanden. Verkehrte Welt. »Irgendwie stört mich schon, dass die Initiative keine Feinde hat«, sagt einer der Besetzer ein wenig entrüstet. Er hat sich gerade eine lebhafte Sitzung der Hamburger Bürgerschaft angeschaut, in der es um die Zukunft des Gängeviertels und der Subkultur ging. Einige Stunden vorher im Sitzungssaal des Rat­hauses herrscht trotz heftiger Diskussionen Einigkeit: Das Gängeviertel muss gerettet werden. Auch wenn CDU, SPD, Grün-alternative Liste Hamburg (GAL) und »Linke« sich gegenseitig mit Vorwürfen über die in den vergangenen Jahren erschreckend stümperhafte Stadtplanung überschüttet haben, wird bei dieser Sitzung klar, dass Hanzevast sein Konzept nicht mehr durchsetzen kann. Eigentlich sollte, so die Sprecherin der Initiative, Christine Ebeling, vor dem Rathaus demonstriert werden. Aber gegen was soll man de­m­onstrieren, wenn allerorten nur Einigkeit herrscht? In Hamburg ist es gerade so wie bei der Beerdigung eines ungeliebten Onkels. Erst wenn er im Sarg liegt, wird er betrauert. In der Hansestadt stirbt das Raumangebot in den alternativen Stadtteilen, das in den vergangenen zwei Jah­ren zugunsten von Eigentumswohnungen immer mehr dezimiert wurde. Denn der gegenwär­tige Finanzsenator Michael Freytag (CDU) ist schon seit der Zeit, in der die Schreckgestalt Ronald Schill noch im Senat saß, ein begnadeter Verscherbler, was städtische Liegenschaften betrifft. »Das Kind ist nun schon im Brunnen, das stimmt«, sagt Ebeling über die ehemals typischen Szeneviertel wie Schanze oder St. Pauli, in denen die Aufwertung schon so gut wie abgeschlossen ist. Die Sprecherin sitzt in einer Wohnung im Gängeviertel mit halb ausgerissenem Linoleumboden und vernagelten Fenstern. Drau­ßen in den schmalen Gängen, die dem Viertel den Namen geben, hängen Plakate an den Wänden mit Erich-Fromm-Zitaten, einem altem Stadtplan und roten, runden Schildern mit dem Motto »Komm in die Gänge«. Im Innenhof kokelt eine Feuertonne, ein paar Schritte weiter sit­zen Bauarbeiter und essen ihre Stullen. Überall Baulärm. Drinnen riecht es nach verschüttetem Bier und kaltem Zigarettenrauch. Hier ist das Büro, das organisatorische Zentrum der Initiative. Von hier aus werden ständig E-Mails an Unterstützer und Künstler geschrieben. Mobiltelefone klingeln. Theatergruppen wollen Räume für Aufführungen, Künstler fragen nach Ausstellungsräumen, und unbekannte Bands brauchen eine Bühne für ihre Gigs. Billige Locations werden also dringend gebraucht. Ebeling ist sich durchaus bewusst, dass ausgerechnet die Off-Szene, die sich immer wieder beschwert, mit schuld daran ist, dass es in Ham­burg kaum bezahlbaren Wohnraum mehr gibt. »Ja, natürlich haben wir die Stadtteile aufgewertet«, sagt Ebeling. »Wie der Esel der Karotte sollen bildende Künstler den Fördertöpfen und Zwischennutzungs-Gelegenheiten nachlaufen – dahin, wo es Entwicklungsgebiete zu beleben, Investoren oder neue, zahlungskräftigere Bewoh­ner anzulocken gilt.« So heißt es in einem wütenden Manifest mit dem Titel »Not in our Na­me, Marke Hamburg«. Die Goldenen Zi­tronen, der Schauspieler Peter Lohmeyer und die Fernsehköchin Sarah Wiener sind nur einige der prominenten Unterzeichner des Textes mit dem Grundtenor, dass der Senat Künstler und Kreative als Reklame für die Stadt missbrauche. Die Unterstützung der Prominenten bringt vor allem eins: Publicity. Davon profitieren frische, unbekannte Künstler. Lorenz Goldstein von Car­tel 21, einem vierköpfigen Künstlerkollektiv, freut sich sehr über das Interesse am Gängevier­tel. »So viele Leute haben wir sonst selten bei einer Ausstellung«, sagt der 25jährige. Er und sei­ne Mitstreiter konnten seit Ausstellungsbeginn am 21. Oktober zwei Werke verkaufen. Ohne die Ausstellungsmöglichkeiten im Viertel sähe es für ihn düster aus. »Es ist einfach geil, wie unbürokratisch man hier an Räume kommt, das gibt es in Hamburg doch sonst kaum mehr«, sagt der Kunststudent. Seiner Meinung nach gibt es in Hamburg nur noch Schamonis Golden Pudel Club und das Gängeviertel als Orte für Krea­tive. Doch nicht nur Künstlergruppen wie Cartel 21 freuen sich über die Aufmerksamkeit und Unterstützung für das Gängeviertel. Vor allem Han­zevast hat nun die Möglichkeit abzusahnen, und wegen der Finanzkrise hat es der Investor auch dringend nötig, an Geld zu kommen. Denn nach Monaten der Zahlungsunfähigkeit konnte dieser nun doch in letzter Minute die fällige Rate in Höhe von 1,2 Millionen Euro bezahlen. Geliehen haben sich die Niederländer das Geld von einer bayrischen Brauereigruppe, zu der auch Paulaner gehört. Es sieht alles danach aus, dass die Käufer so viel Geld aus der Stadt herauspressen wollen wie nur möglich. Die Stadt soll doch bitte das so lieb gewonnene Viertel zu einem horrenden Preis zurückkaufen, wenn sie plötzlich schon nicht mehr räumen lassen will. Für die klamme Hansestadt ein Dilemma. Auf jeden Fall wird es Zeit, dass der Senat in die Gänge kommt.
Thomas Ewald
Thomas Ewald: Über die Proteste in Hamburg gegen die Sanierung des Gängeviertels
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dschungel
12.11.2009
https://jungle.world//artikel/2009/46/der-senat-missbraucht-kuenstler-und-kreative?page=0%2C%2C3
Beleidigte Prophetendiener
Heilige Trümmer. Ein Mob fackelte diese Kirche in Jaranwala ab, weil ein Christ eine Seite aus einem Koran gerissen haben soll, 16. August Zur Verteidigung der Ehre des Propheten Mohammed erklimmen Horden beleidigter frommer Muslime im christlichen Viertel der pakistanischen Kleinstadt Jaranwala mehrere Kirchen, zerschlagen Kreuze, zertrümmern Ziegelsteine und fackeln alles ab, was brennt. Nachdem in Moscheen am Mittwoch vergangener Woche beim Morgengebet über Lautsprecher das Gerücht verbreitet wurde, ein Christ habe Seiten aus einem Koran herausgerissen, trifft die Zerstörungswut des Mobs alsbald Wohnhäuser von Christen. Videos in sozialen Medien zeigen Polizisten, die das Geschehen interessiert beobachten. Die Menge aus über 1.000 Muslimen peitscht sich mit Parolen der islamistischen Partei Tehreek-e-Labbaik Pakistan (TLP) hoch; diese hängt der Barelvi-Bewegung an, welche einen orthodox-sunnitischen Fundamentalismus mit sufistischen Praktiken verbindet (Jungle World 41/2020). »Ich bin hier! Oh Gesandter Gottes, ich bin hier, dir zu deinen Diensten!« ertönt es immer wieder. Barelvis glauben, dass der Prophet persönlich anwesend sei, wenn sich eine Gruppe Gläubiger in seinem Namen versammelt. Die beiden Rädelsführer der Ausschreitungen sind bekannte Barelvi-Aktivisten, einer aus der TLP und ein Kleriker ihres Moscheeverbands. Die aufgebrachte Menge fordert die Herausgabe des Christen Raja, der Koranseiten entwürdigt haben soll, und seines Bruders; die TLP fordert die öffentliche Hinrichtung des mutmaßlichen Blasphemikers durch den Strang. Am späten Abend treffen paramilitärische Einheiten ein, die die eifernden Muslime zurückdrängen. Der Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre werden verhängt. Die Bilanz wird am Sonntag klar: 19 Kirchen und 86 Wohnhäuser wurden geplündert und teilweise niedergebrannt, der christliche Friedhof geschändet. Die Polizei teilte mit, sie habe bis Montag 160 Randalierer festgenommen. Ein Zeltlager zur Unterbringung der Vertriebenen wird aufgebaut. Videos zeigen Gruppen christlicher Mädchen, die sich die ganze Nacht auf Feldern versteckten. Die meisten Christen sind aus ihren Häusern geflohen und trauen sich erst am Sonntag in ihre Wohnviertel zurück. Aber auch der beschuldigte Christ Raja und sein Bruder wurden gefasst und inhaftiert, die Polizei hat ein Verfahren gegen sie wegen Verstoßes gegen jenes Blasphemie-Gesetz eingeleitet, das die Beleidigung des Koran zum Gegenstand hat. Da die Vorfahren der Christen im Punjab meist kastenlose Konvertiten waren, halten Muslime, die sich an Praktiken des hinduistischen Kastensystems orientieren, sie noch heute für unberührbar. Blasphemie ist im mehrheitlich muslimischen Pakistan ein heikles Thema und kann im Falle, dass der Prophet beleidigt worden sein sollte, mit der Todesstrafe geahndet werden. Der bloße Vorwurf der Gotteslästerung kann zu Angriffen extremistischer muslimischer Selbstjustizgruppen auch auf Nachbarn, Freunde und Verwandte der Beschuldigten führen. Am vergangenen Sonntag sprühten Unbekannte Lobpreisungen für den Propheten Mohammed an die Außenwand der Central Brooks Memorial Church in Karachi – falls Christen die Aufschriften entfernen sollten, gälte das als Blasphemie. Über 80 Prozent der etwa 2,5 Millionen pakistanischen Christen leben in der Provinz Punjab. Die offiziellen Zahlen zu religiösen Minderheiten in ­Pakistan sind umstritten, da viele Angehörige von Minderheiten aufgrund von Verfolgung und Diskriminierung ihren Glauben verbergen. Das pakistanische Christentum hat sich insbesondere im ländlichen Raum in seiner Praxis stark an den Islam angepasst: Gläubige bleiben nach Geschlechtern getrennt, in kleineren Kirchen ziehen Christen ihre Schuhe aus und sitzen auf dem Boden. Eine Mehrheit glaubt, ihnen sei während der christlichen Fastenzeit wie den Muslimen im Ramadan das vollständige Fasten über den gesamten Tag vorgeschrieben. Da die Vorfahren der Christen im Punjab einst überwiegend kastenlose Konvertiten waren, sehen Muslime sie noch heute als unberührbar an. In der Provinz haben sich einige der sozialen Praktiken des hinduistischen Kastensystems erhalten. Die Christen in Jaranwala sind fast ausnahmslos Sanitärarbeiter, Müllmänner, Kanalreiniger oder Straßenkehrer. ­Lokale Restaurants verweigern ihnen den Zutritt oder führen eigenes Geschirr und Besteck für Nichtmuslime. Auf dem bei den jüngsten Ausschreitungen verwüsteten Friedhof gab es nicht einmal Grabsteine. Der Vorwurf der Gotteslästerung kann auch Muslime treffen, doch Pakistans Christen leiden überproportional unter dem Blasphemiegesetz. John ­Joseph, der 1981 der erste pakistanischstämmige Bischof des Landes wurde, setzte sich für mehrere christliche Angeklagte vor Gericht ein. Am 6. Mai 1998, wenige Tage nach einem weiteren Todesurteil gegen einen unschuldigen christlichen Analphabeten, schoss sich der Bischof aus Protest gegen das Blasphemiegesetz am Eingang des Gerichts in Sahiwal mit einem Revolver in den Kopf – was den Vatikan in Verlegenheit brachte, da Suizid eigentlich eine Todsünde darstellt. Das pakistanische Blasphemiegesetz geht auf die britische Kolonialgesetzgebung des 19. Jahrhunderts zurück, doch in den achtziger Jahren wurden härtere Strafen eingeführt, darunter die Todesstrafe für die Beleidigung des Islam, insbesondere des Propheten. Die religiös motivierte Gewalt hat seitdem zu­genommen. Eine Woche vor den Übergriffen in Jaranwala wurde der 22jährige Englischlehrer Abdul Rauf im belutschischen Turbat von Unbekannten erschossen, als er auf dem Weg zu einer Jirga war, einer Versammlung zur Beilegung von Streitigkeiten, bei der er Blasphemievorwürfe gegen ihn ausräumen wollte. Die englischsprachige pakistanische Tageszeitung Dawn berichtete im vergangenen Jahr, dass seit der Unabhängigkeit Pakistans mindestens 89 Bürger wegen Blasphemievorwürfen getötet worden seien, mehr als 1.400 Anschuldigungen erhoben wurden. Der Oberste Gerichtshof von Islamabad hat demnach bereits der Legislative eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, um diejenigen zu bestrafen, die falsche Blasphemievorwürfe erheben. Am Montag teilte die Regierung mit, dass jeder vom Mob zerstörte Haushalt in Jaranwala 2 Millionen Rupien (6.200 Euro) zur Entschädigung erhalten soll. Politik und Gesellschaft versagen in Pakistan häufig beim Vorgehen gegen islamistisch motivierte Gewaltexzesse. Pakistanische Kommentatoren verwiesen jüngst auch auf die wiederholten Koranverbrennungen durch einen Iraker seit Juni in Stockholm. Am 19. August, nachdem im niederländischen Den Haag der Leiter der dortigen Pegida-Bewegung, Edwin Wagensveld, vor der türkischen Botschaft auf einen Koran trat, folgte eine Mitteilung des pakistanischen Außenministeriums: Die Niederlande mögen solche »hasserfüllten und islamfeindlichen Handlungen« künftig besser unterbinden, um das friedliche Zusammenleben zwischen den Religionen nicht zu gefährden. Seit 2014 gewährt die EU Pakistan besondere Zollpräferenzen im Gegenzug für die Einhaltung von Menschenrechten, zu denen die Religionsfreiheit gehört. Die bevorzugte Zollbehandlung endet turnusgemäß im Dezember dieses Jahres. Erst im Juli 2023 empfahl die EU eine Verlängerung der Vergünstigungen für Pakistan um weitere vier Jahre. Auch die wehrtechnische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Pakistan bleibt robust. Pakistan verdankt insbesondere der Bundesrepublik, dass es zur Atommacht werden konnte.
Thomas K. Gugler
Thomas K. Gugler: Blasphemievorwürfe und Übergriffe gegen die christliche Minderheit in Pakistan
[ "Pakistan", "Islamismus", "Blasphemie" ]
Ausland
24.08.2023
https://jungle.world//artikel/2023/34/islamisten-pakistan-beleidigte-prophetendiener?page=0%2C%2C1
»Der Mangel an Erfolgen ist fatal«
Nach Bekanntgabe des Ergebnisses des griechischen Referendums haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde sei. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste jetzt nicht ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen? Nach dem Sieg des »Nein« droht eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: Durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise. Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für dessen Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Angela Merkel, François Hollande und Matteo Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Alexis Tsipras suchen. Dazu müsste sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen. Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue prozyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn das Problem der Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung können helfen. Sie haben in einen Kommentar den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) dafür kritisiert, dass er vor dem Referendum die Ablösung von Ministerpräsident Alexis Tsipras gefordert hatte. Schließlich hatte die griechische Regierung betont, dass ein »Nein« keine Absage an die EU und den Euro sei, sondern die Position derer stärke, die eine Alternative zur Austeritätspolitik wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein »Nein« beim Referendum zu unterstützten? Die Europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz eine demokratische Haltung vermissen lässt. Aber zum vermeintlich glorreichen »Nein«: Ich bin mir sehr unsicher, ob das die Verhandlungspo­sition der Griechen wirklich stärkt, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmung in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage an eine weitere Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber von der Mehrheit in Griechenland nicht gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das »Oxi« ist kein Nein zum Euro oder Europa. Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden ­haben. Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Sy­riza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zu Hause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung. Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau mit Menschenrechtsverletzungen und Naturzer­störung eine wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine rele­vante Gruppe von Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer aus­zukommen ist. In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang äußerst wohlgesinnt, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras’ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich. Wäre es nicht jetzt an der Zeit, auch in Spanien und anderen Ländern Referenden zu fordern? Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde. Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. ­Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird, und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat. In Griechenland war das jedoch nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über mehrere verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa be­ziehungsweise dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren. Der Ökonom Thomas Piketty erklärte kürzlich in der Zeit, dass Deutschland, historisch gesehen, seine Schulden sowohl nach dem Ersten wie auch dem Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht bekannter? Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa. Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig auf die anderen Länder abwälzt. Symbolisch dafür ist das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sie funktioniert auch nicht. Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen ­Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und insbesondere dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa. Vertiefte europäische Demokratie ist schwer zu erreichen, und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicher Fehler, denn eine bessere Wettoption haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können. Sie haben die Politik der griechischen Regierung häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler? Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es nicht alleine schafft. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts Relevantes vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als 500 000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der ­Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele ­negative Zeugnisse, auch die Syriza-Regierung pflegt ihren mächtigen Klientelismus. Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Er war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Euro-Gruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.
Peter Nowak
Peter Nowak: Sven Giegold im Gespräch über das griechische Referendum
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Thema
09.07.2015
https://jungle.world//artikel/2015/28/der-mangel-erfolgen-ist-fatal?page=0%2C%2C3
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https://jungle.world//user/login?destination=/artikel/2005/02/ende-des-geldsegens%3Fpage%3D0%252C%252C0
Die Reaktion
Über den Artikel »Kein Upgrade für Palästina« (39/2011) entspann sich eine Debatte auf unserer Facebook-Seite. Anastasia-Margarita I. schrieb: »Wenn Pally-Wood ein eigenständiger Staat wird, dann gibt es schon wieder eine Diktatur im Nahen Osten, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Dabei wollten die Aktivisten des arabischen Frühlings die arabischen Länder demokratisieren.« »Genosse Artjom« postete: »Die völkisch-nationalistischen Strömungen mit ihrem Traum von ›ganz Israel‹ unterwandern mit ihren Expansionsbestrebungen den Schutzauftrag des zionistischen Staates. Eine klare Grenze, die die Basis eines wie auch immer ›eigenständigen‹ Staates ist, ist eine Bedingung für die Sicherheit der Holocaustüberlebenden. Nur so am Rande.« Pascal T. antwortete: »a) Die völkisch-nationalistischen Strömungen (die, denke ich, einen großen Teil der Siedler tief im Westjordanland ausmachen) sind in Israel ein Randphänomen, dem ein Staat, der für alle Juden da ist, jedoch Rechnung tragen muss. b) Die völkisch-nationalistische Idee eines judenreinen Großpalästinas sind palästinensischer und arabischer Mainstream. Deshalb muss die von dir geforderte klare Grenze zu verteidigen sein und kann eben nicht unilateral erklärt werden. Immerhin sind auch die Grenzen von ’67 ein Ergebnis des Versuchs, Israel zu vernichten. Das ist der Unterschied.« Dick L. meinte: »Wieso wird eigentlich so oft in einen reflexartigen Zynismus verfallen, wenn es um die Lebensbedingungen ›der Palästinenser‹ geht?« Zum Artikel »Eine Burg namens Deutschland« über die Euro-Krise schrieb Christoph K.: »Diejenigen, die einer Machtübertragung an ein demokratisch nicht legitimiertes Gremium widersprechen, als Euro-Gegner oder gar als Rechtspopu­listen zu diffamieren, ist perfide und gefährlich. Schade, dass die Jungle World hier unkritisch die Regierungsmeinung wiederkäut. Das ist ein Bärendienst für Europa.« Und per E-Mail gibt’s von Boris Lob für den letzten linken Studenten: »Absolut toll der Beitrag von Jörg Sundermeier: Lest Hölderlin! Er gefällt mir sehr gut. Auch seinen eigenwilligen Schreibstil: finde ich super …«
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Homestory
06.10.2011
https://jungle.world//artikel/2011/40/die-reaktion?page=0%2C%2C3
Vier Dollar Kopfgeld
"Zu Jamil Mahuad gibt es keine Alternative", verkündeten in der vergangenen Woche in Ecuador ausgerechnet zwei Kandidaten, die im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl noch gegen den Christdemokraten angetreten waren: Rodrigo Borja, Kandidat der sozialdemokratischen Izquierda Democr‡tica und zwischen 1988 und 1992 Präsident des Landes, und der bekannte Fernsehjournalist Freddy Ehlers. Beide waren mit 14 bzw. zwölf Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang am 31. Mai gescheitert, statt dessen wird in der Stichwahl der Populist Alvaro Noboa Pont-n gegen Mahuad antreten. Dabei war sich die Öffentlichkeit so sicher, daß die 7,1 Millionen stimmberechtigten Ecuadorianer nicht erneut auf einen Populisten setzen würden. Hatten sie doch erst am 6. Februar letzten Jahres den damaligen Amtsinhaber Abdala Bucaram, genannt "el locco" - der Verrückte -, per Referendum wegen "geistiger Unfähigkeit" seines Postens enthoben. Mit knapp 30 Prozent nimmt der reichste Mann des Landes dennoch an den für den 12. Juli vorgesehenen Stichwahlen teil. Im Wahlkampf hatte sich Noboa Pont-n linkspopulistisch gegeben und 200 000 Sozialwohnungen und eine Million neue Arbeitsplätze versprochen. Rund 50 Millionen US-Dollar soll ihn die Wahlkampagne gekostet haben. Um einen Sieg des 47jährigen Bananenexporteurs zu verhindern, setzen Borja und der als linker Hoffnungsträger geltende Ehlers nun auf Mahuad, den ehemaligen Bürgermeister der Hauptstadt Quito. Der in Harvard ausgebildete Jurist und Universitätsdozent, der in der Millionenmetropole die Stadtverwaltung und das Verkehrssystem reformierte und fliegende Händler wie Obdachlose aus der City vertreiben ließ, entschied zwar den ersten Wahlgang mit 36,7 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich, verfügt aber nicht über so große Finanzmittel wie Noboa, der insgesamt 105 Unternehmen besitzt. Formell als unabhängiger Kandidat antretend, aber die Infrastruktur der Partido Roldosista Ecuatoriano nutzend - die nach dem von 1979 bis 1981 regierenden christdemokratischen Präsidenten Jaime Rold-s benannt ist -, stellte sich Noboa als selbstloser Wohltäter dar. Er besuchte die von heftigen Regenfällen und Überschwemmungen betroffene Küstenregion und verteilte dort Geld (vier US-Dollar pro Kopf) und Lebensmittel als Wahlgeschenke. Auch seine Frau, eine Ärztin, richtete einen medizinischen Hilfsdienst und zahlreiche improvisierte Hospitäler in der Region ein und verhalf ihrem Mann zu Präsenz in Funk und Fernsehen. In dem weniger programmatisch geprägten Wahlkampf dominierten vor allem gegenseitige Vorwürfe das Geschehen: Mahuad, so war seitens des reichen Polit-Neulings zu hören, würde sich seinen Wahlkampf von den Drogencliquen des Landes finanzieren lassen und sich aus dieser Quelle auch persönlich bereichern. Mahuad, Enkel libanesischer Einwanderer, konterte mit dem Argument, diese "Diffamierungen" kämen eigentlich aus dem nördlich gelegenen Panama. Dort nämlich sitzt der Ex-Präsident Bucaram. Noboa gilt als enger Freund Bucarams und kündigte bereits an, dem Ex-Präsidenten im Falle eines Wahlsiegs die Rückkehr zu ermöglichen und ihn zu rehabilitieren. In der Tat hat sich Bucaram aus dem Exil zu Wort gemeldet. In zwei ecuadorianischen Fernsehsendern und mit einer Anzeigenkampagne in Tageszeitungen bezog er eindeutig Stellung für "seinen Kandidaten" Noboa. Insgesamt zeichnete sich in Meinungsumfragen allerdings in weiten Teilen der Bevölkerung eine "Demokratiemüdigkeit" ab. Als Alternative aber werden in der öffentlichen Diskussion fast ausschließlich autoritäre Staatsmodelle erwogen. Für die größte außerparlamentarische Gruppierung, die Indigena-Organisation Confederaci-n Indigena del Ecuador (Conaie), verkörpert bereits Noboa als "Rückkehr zum bucaramato" puren Autoritarismus. Obwohl die Conaie im ersten Wahlgang ein Zweckbündnis mit dem linken Hoffnungsträger Ehlers einging, um ihre Forderungen nach Agrarreform und politischer Partizipation der Indigenas umzusetzen, will sie im zweiten Wahlgang keine Wahlempfehlung abgeben. Statt dessen, so heißt es in einer Erklärung, "werden wir unsere Basisorganisationen aufrufen, jeden Versuch, zum bucaramato zurückzukehren, zu verhindern."
Knut Henkel
Knut Henkel:
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Ausland
09.06.1998
https://jungle.world//artikel/1998/24/vier-dollar-kopfgeld?page=0%2C%2C0
Häschen in der Heiligen Stadt
Im Vergleich zur fast dreißigjährigen Geschichte der israelischen Schwulenbewegung, die ihren Ursprung im säkularen Tel Aviv hat, ist die noch junge Geschichte der Schwulenbewegung in Jerusalem eher stürmisch und extrem politisch. Am 3. Juni fand die Gay Pride Parade zum dritten Mal in der israelischen Hauptstadt statt. Ungefähr 1 500 Menschen zogen vom Zionsplatz im Stadtzentrum Westjerusalems bis in den Paamon-Park, wo beim anschließenden Happening 3 000 Menschen gezählt wurden. Das Motto der Parade lautete wie in jedem Jahr »Liebe ohne Grenzen«. Tatsächlich symbolisiert die Parade in Jerusalem die gesellschaftliche Öffnung gegenüber Homosexualität, ein reifer gewordenes Israel, das mit der Aufhebung von homophoben Gesetzen aus der britischen Mandatszeit nun die Konfrontation mit den konservativen, rechtsgerichteten und rassistischen Kräften nicht scheut. Und doch würde ein Pessimist sagen, dass die jüngsten Spannungen und die Polemiken der extremen Rechten gegen die Parade mit einem gesellschaftlichen Rechtsruck und steigender Intoleranz gegenüber jedweden Minderheiten einhergehen. In Krisenzeiten, in denen man kaum von Stabilität sprechen kann, ruft das Fremdartige, Unbekannte bei vielen Menschen intensive und existenzielle feindliche Assoziationen hervor. So gehört die Parole »Ohne Perverse keine Terroranschläge« bei den rechtsextremen Gegendemonstranten der Kach-Bewegung, die sich jedes Jahr einfinden, zum Standardrepertoire. Und jedes Jahr werden ihre Übergriffe intensiver und sind von größerem Ausmaß. Auch in diesem Jahr kam es vor der Parade zu einer Reihe von homophoben Übergriffen, die zum Ziel hatten, die Demonstration zu sabotieren. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren erhielten die Gegner der Parade diesmal Unterstützung von der im letzten Jahr neu gewählten Stadtverwaltung unter der Führung des ersten ultraorthodoxen Bürgermeisters, Uri Lupolianski von der Agudat-Yisrael-Partei. Dieser macht keinen Hehl aus seiner feindlichen Gesinnung gegenüber Homosexuellen. Nach heftiger Kritik der Organisatoren der Parade vom Jerusalem Open House, dem Zentrum für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle in der Stadt, bezeichnete er Homosexuelle in der Tageszeitung Ha’aretz als »hässliches Phänomen, das nicht sein darf«. Ferner gab er zum Besten: »Wenn ich die gesetzlichen Mittel dazu gehabt hätte, eine Parade zu verhindern, welche der Stadt und ihren Bürgern einen derartigen Schaden zufügt, hätte ich sie verhindert. Ich habe es versucht, aber mir wurde klar gemacht, dass ich keine Befugnis dazu habe.« Gleichzeitig kommt es vermehrt zu Übergriffen von Rechtsextremen. In der Woche vor der Parade hingen in ganz Jerusalem Wandzeitungen mit folgendem Wortlaut aus: »Mutter, ich habe gehört, dass die bösen Leute, welche den kleinen Kindern in öffentlichen Parkanlagen auflauern, um ihnen Böses, Sodomistisches anzutun, beschlossen haben, eine Parade in den finsteren Parks abzuhalten. Vater! Mutter! Lasst sie nicht auf die Straße gehen! Hilfe, ich fürchte mich!« In weiteren Wandzeitungen wurde der offen schwule Stadtratsabgeordnete Sa’ar Nethanel von der linksliberalen Yahad (früher Meretz)-Fraktion diffamiert und seine Telefonnummern wurden veröffentlicht. Als Reaktion auf diese Diffamierungskampagne erwiderte Nethanel, sie sei ein Beweis dafür, wie sehr Jerusalem einen toleranten Stadtratsabgeordneten benötige, der der schwul-lesbischen Gemeinschaft angehöre, und wie wichtig die Parade für die Stadt geworden sei: »Jerusalem benötigt das, was unsere Regenbogenfahne symbolisiert. Nach all dem Blutvergießen, dem Sterben, dem Rassismus verlangt die Stadt nach ein wenig Erbarmen. Aber die Stadtverwaltung will das nicht, sie bevorzugt Schwarz und nicht unsere Farben.« Als ein von Nethanel organisierter Empfang im Rathaus aufgrund »logistischer« Probleme abgesagt wurde, die Stadtverwaltung ihre vorjährige Abmachung, Regenbogenfahnen entlang der Marschroute aufzuhängen, nicht einhielt und dem Jerusalem Open House auf höchster gerichtlicher Ebene eingeklagte Gelder weiterhin vorenthielt, rief der Abgeordnete all jene auf, zu der Parade zu kommen, denen etwas an den Menschenrechten liegt. »Dieser Konflikt ist längst nicht mehr nur ein Konflikt in Jerusalem, sondern betrifft jeden, der die Toleranz den finsteren und fanatischen Kräften vorzieht. Am Ende haben wir Recht, und wir werden siegen«, schloss er seinen Aufruf. In der Tat erhielt die Jerusalemer Pride Parade schon längst politischen und gesellschaftlichen Symbolcharakter, denn bei keinem anderen Ereignis in Israel marschieren orthodoxe Männer gemeinsam mit Soldaten, Mitgliedern vieler verschiedener ethnischer Gruppen und sozioökonomischer Schichten und – nicht zu vergessen – palästinensischen Bürgern Ostjerusalems. Am Rande der diesjährigen Gayparade war ein Transparent zu sehen mit der Aufschrift: »Jerusalem is the Holiest City in the World – Jerusalem is not San Francisco, Paris, Berlin.« Auch wenn das Plakat auf der Gegendemonstration getragen wurde, so widerspricht seine Botschaft keineswegs den Werten, für die die Parade steht: Jerusalem hat tatsächlich eine einmalige Bedeutung, und das gleich für drei monotheistische Weltreligionen. Die Parade stellt einen Versuch dar, die Stadt allen Menschen verfügbar zu machen, eine Atmosphäre und ein Ereignis zu schaffen, das Menschen in der vom Terror gequälten Stadt wieder auf die Straßen lockt. So sagte eine Repräsentantin der Gruppe palästinensischer Lesben, sie hätten sich entschieden mitzumarschieren, »um uns sichtbar zu machen und auf die Diskriminierung von Frauen aufmerksam zu machen.« Auf die Denunziationen und homophoben Ausfälle gegen die Gay Pride Parade reagieren die Betroffenen inzwischen immer souveräner. Zum Beispiel, als der Rabbiner David Kazri im Nachrichtenportal ynet.co.il seine Ansichten zur Homosexualität zum Besten gab. Sie sei, meinte Kazri, keine Krankheit oder Perversion, sondern das pure Grauen: »Sogar Tiere verhalten sich nicht so. Zur Strafe werden die Homosexuellen in ihrem nächsten Leben als Hasen und Kaninchen zurückkehren.« Die Mitglieder der Studentenvereinigung »The Other 10 Percent« an der Hebräischen Universität nahmen es von der humoristischen Seite und trugen Häschenohren mit der Aufschrift »Häschen bereits in diesem Leben«. Hagai El-Ad, Geschäftsführer des Jerusalem Open House, richtete folgende Botschaft an das im Paamon-Park versammelte Publikum: »Guten Abend auch an die Stadtverwaltung, die unsere Fahnen nicht toleriert. Das ist unsere fröhliche Antwort an sie.« Und nicht die letzte. Im nächsten Jahr soll in der Heiligen Stadt die »World Pride 2005« stattfinden. Der Autor ist Mitarbeiter des deutsch-israelischen Online-Magazins hagalil. Weitere Infos zu Homosexualität in Israel: http://www.glbt-news.israel-live.de
itai gall
itai gall:
[]
Inland
23.06.2004
https://jungle.world//artikel/2004/26/haeschen-der-heiligen-stadt?page=0%2C%2C1
Die Chiffre Sarrazin
Was braucht es, um in Deutschland zum »Märtyrer der Meinungsfreiheit« (FAZ) zu werden? Es braucht ein von einem »Klartext-Politiker« (Bild) verfasstes Sachbuch mit dem Titel »Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzten«, das publikumswirksam im Haus der Bundespressekonferenz präsentiert wird. Dazu kommen als »Tabubruch« inszenierte Vorabdrucke in Leitmedien wie Bild und Spiegel sowie Auftritte in Talkshows. Es braucht überdies mit der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) einen renommierten Verlag, der keine Bedenken hat, Propaganda für eine moderne Variante der Sozialeugenik in die Verkaufslisten zu befördern. Die als deutsche »Identitätsdebatte« geführte Kontroverse um das Pamphlet des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin trägt vielfach irrationale Züge. In den Medien präsente Themen wie Ausländerkriminalität, Ehrenmorde oder Zwangsehen aufzugreifen, wird als »Tabu« gehandelt, das das Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank mutig gebrochen habe. Auch Henryk M. Broder oder Necla Kelek, die Sarrazin in der Debatte lautstark unterstützen, gerieren sich, als hätten sie mit ihren Positionen im vermeintlich politisch korrekten Deutschland Auftrittsverbot und müssten ihre Bestseller als Kassiber im Untergrund unter die Leute bringen. Kritik an Sarrazin gilt diesen Liberalen wohl als Tugendterror. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel zaghafte Einwände gegen ein Buch äußerte, das sie angesichts des Wiederholungszwangs seines Verfassers kaum lesen musste, um den Inhalt zu kennen, entblödeten sich selbst kritische Geister nicht, die Liste der Nazi-Vergleiche mit dem Verweis auf die Tradition der »Reichsschrifttumskammer« zu bereichern. Wie wäre ein vergleichbarer Streit in den USA verlaufen? Angenommen, ein Repräsentant der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hätte über afroamerikanische welfare queens gesagt, diese würden »ständig neue kleine kraushaarige Kinder produzieren«. Zudem hätte dieser Vorstand der Fed die überdurchschnittliche Intelligenz aschkenasischer Juden gepriesen, die Integrationswilligkeit der muslimischen Communitys bestritten und als Erbforscher über ein »jüdisches Gen«, die »natürliche Zuchtwahl« und »negative Selektion« dilettiert. Wie lange wäre er wohl – egal ob unter George W. Bush oder Barack Obama – im Amt geblieben? Der Antrag, Thilo Sarrazin aus dem Vorstand der Bundesbank zu entlassen, folgt auch dem Interesse der Exportnation Deutschland, deren Regierung Rücksicht auf internationale Kritik nimmt. Für das Image der Bundesbank wäre der meinungsfreudige Ökonom ein virulentes Problem. Doch trotz der drohenden Amtsenthebung durch Bundespräsident Christian Wulff (CDU) und eines möglichen Ausschlusses aus seiner Partei, der SPD, ist Sarrazin in einem Punkt schon jetzt der Debattensieger. Seine Gegner können die Zustimmung in der Bevölkerung nicht ignorieren. Bleibt Sarrazin in der SPD, gelten dessen rassistische und sozialeugenische Ansichten als legitimer Programmteil einer »Volkspartei«. Im Falle von Amtsenthebung und Parteiausschluss gilt er wiederum als Opfer der Sprach- und Gedankenpolizei. Richten sich Union und SPD aber nach seinen Vorgaben, verprellen sie die moderate »Mitte«. Der »Fall Sarrazin« verdeutlicht die Krise der Repräsentation. Bei der Modernisierung der Einwanderungspolitik folgen viele Wähler den Gewählten nicht. Anhänger Sarrazins sehen nicht ein, warum er zum Paria jener politischen Klasse degradiert werden soll, unter deren Beifall er zuletzt in der Hauptstadt »durchregiert« hat. In Leserbriefen und Internetforen findet sich viel Unterstützung für eine Reizfigur, deren Name alleine schon den Medien Marktanteile sichert. Die Chiffre »Sarrazin« dient außerdem als Munition gegen Christian Wulffs »bunte Republik«. Die Öffentlichkeit ist gespalten. Während die Leitartikel und Feuilletons zwischen pathetischer Verteidigung und Kritik changieren, tut sich Sarrazin effektvoll als Sprecher der »schweigenden Mehrheit« hervor. Der jüngste »Skandal« zeigt auch die Potentiale und Probleme einer deutschen Rechtspartei, deren mögliche Anhängerschaft eine von Bild am Sonntag in Auftrag gegebene Emnid-Umfrage auf rund 18 Prozent der Bevölkerung beziffert. Diese Tendenz ist nicht neu. Schon 2006 kam die Leipziger Studie »Vom Rand zur Mitte« zu dem Ergebnis, dass 8,6 Prozent der deutschen Bevölkerung ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Diese starke Minorität hat auf Bundesebene keinen Repräsentanten. Nicht nur die FAZ geht davon aus, dass ein »Hauch von Rebellion« wider die Altparteien in der Luft liegt. Dabei bedient Sarrazin nicht nur den rechten Rand. Geradezu obsessiven Zuspruch finden seine Thesen bei scheinaufgeklärten Liberalen, denen es vorgeblich um die Freiheit des Individuums und gegen die Macht der Sippe geht, die gleichzeitig aber voller Verachtung auf die staatlich alimentierte Unterschicht blicken. Hier hat der Finanzpolitiker durchaus einen Nerv getroffen. Bislang scheiterten Parteien rechts von der Union an ihrer internen Zerstrittenheit, einer fehlenden charismatischen Führungsfigur und an der offiziellen Stigmatisierung eklatanter Rechtsabweichungen. Wer aber auch immer Vorsitzender einen neuen deutschen Rechtspartei sein könnte – Thilo Sarrazin ist für den Posten eines massenwirksamen Volkstribuns denkbar ungeeignet. Sein Auftreten wirkt linkisch. Auch habituell ähnelt er zu sehr den Vertretern einer mit allen Gratifikationen ausgestatteten Staatsklasse, deren Berufsrisiko jenseits von Maulkorberlassen meist darin bestand, den Folgetermin zu verpassen. Sein Weltbild folgt der altsozialdemokratischen Fetischisierung von Vollbeschäftigung, Stechuhr und Lohnarbeit. Sarrazin formuliert einen klassischen neokonservativen Topos, der auch bei den sogenannten Kanalarbeitern in der SPD Beifall findet. Demnach schafft gerade der Sozialstaat die Anreize für die erhöhte Reproduktion der Unterschichten. Auch sozialeugenische Traditionen waren der Sozialdemokratie nicht fremd. Wie schon im »Kopftuchmädchen«-Interview seziert Sarrazin in seinem Buch die Bevölkerung mit dem kalt kalkulierenden Blick eines Betriebsprüfers. Scharf richtet er über die Fertilitätsraten der autochthonen Teile der Unterklassen und kritisiert deren mangelnde »Kaloriendisziplin«. Gerade dieser Tonfall käme »unten« dauerhaft nicht an. Für eine erfolgreiche Rechtspartei, die vom Professor bis zum Prekariat schichtenspezifisch agitieren müsste, wäre der ressentimentgeladene Bildungsbürger zu elitär. Derzeit ist Sarrazin der Wunschkandidat für eine Gegenelite, die aus einer diffusen Stimmung herbeigesehnt wird. Entscheidender als die Person ist jedoch, warum er zum Initiator der aktuellen Debatte über die Einwanderungsgesellschaft werden konnte. Wohlfeile linksliberale Kritik übersieht hier eine unangenehme Wahrheit: Sarrazin stellt die nicht nur bei den Grünen immer noch anzutreffende »Die Ausländer bereichern uns doch«-Rhetorik vom Kopf auf die Füße. Auch in dieser »multikulturellen« Logik werden Migranten vom Müllmann bis zur Putzfrau nach funktionalen Kriterien sortiert. Erhöht sich der Anteil derjenigen, die Transferleistungen beziehen, funktioniert diese ohnehin schwache Argumentation überhaupt nicht mehr. »Ausländer« galten immer als ökonomische Verfügungsmasse. Doch selbst nach liberal-kapitalistischen Maßstäben ist Deutschland kein modernes Einwanderungsland, ist Berlin nicht Birmingham. Programmatisch wurde die deutsche Ausländerpolitik jahrzehntelang vom Primat der Blutbande, von Rückkehrprämien und Realitätsleugnung bestimmt. Wäre Deutschland wirklich »politisch korrekt« – hätte es dann die Opfer der rassistischen Asyldebatte der neunziger Jahre, als in den Zeitungen gegen Asylbewerber gehetzt wurde und Brandsätze in die Flüchtlingsheime geworfen wurden, geben können? Die programmatische Rückständigkeit und das Wissen um die Stimmungslage in Teilen der Öffentlichkeit erklärt den aufgeschreckten Aktionismus als Reaktion auf Sarrazins Bestseller. Dass dieser trotz des darin enthaltenen Sozialdarwinismus als Impuls für eine neue Migrationsdebatte wirken kann, zeigt, dass zumindest für einen Backlash in der Debatte eine neue Rechtspartei gar nicht nötig ist.
richard gebhardt
richard gebhardt: Der Fall Sarrazin und die SPD
[ "Thilo Sarrazin", "SPD" ]
Inland
09.09.2010
https://jungle.world//artikel/2010/36/die-chiffre-sarrazin?page=0%2C%2C0
»Hier im Projekt ist es sicher«
Immer optimistisch bleiben. Müllcontainer vor dem Camp Moria Wenig hat sich in den sogenannten Hotspots auf den griechischen Inseln seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 getan. Die Lage in den Flüchtlingslagern, etwa dem Moria-Camp, in Lesbos seien »die Hölle«, »eine Schande für Europa« und eine »einzige Katastrophe«, wie in den vergangenen Monaten in unzähligen Reportagen und Berichten aus Griechenland zu ­lesen war. Fast 8 000 Menschen müssen Tag für Tag in diesen Lagern leben und überleben. Das sind auch 8 000 Schicksale von Menschen, die mehr sind als nur Objekte einer völlig verfehlten Flüchtlingspolitik. Vier von ihnen kommen an dieser Stelle zu Wort. Ihre Geschichten wurden von den Autoren aus dem Englischen übersetzt. Zehn Minuten zu Fuß entfernt von dem Camp hat die lokale griechische Hilfsorganisation »Stand by me Lesvos« an einem Hang mit Olivenbäumen vor fünf Monaten eine improvisierte Schule eröffnet. Mittlerweile besuchen gut 500 Frauen, vor allem aus Afghanistan, dort Kurse in Englisch und Griechisch. Unterrichtet wird in Zelten und einem aus Paletten ­gezimmerten Häuschen, in einem Container lagern Nahrungsmittel und Güter für den alltäglichen Bedarf, die im Gegenzug für die Teilnahme an den Kursen an die Flüchtlingsfrauen verteilt werden.   Masumeh Sarah Ich habe zwei Namen: Masumeh, aber auch Sarah. Das ist bei uns in Afghanistan so üblich. Ein Name ist für die Öffentlichkeit und einer für Familie und Freunde. Ich bin im Iran geboren worden, in einem Flüchtlingslager, und dort auch aufgewachsen. In Mashhad, wo sehr viele Afghanen leben. Seit ungefähr 50 Tagen bin ich auf Lesbos. Ich arbeite hier im Projekt als Englischlehrerin. Ich arbeite hier als Freiwillige. Ich hatte gehört, dass es diese Schule für Frauen gibt und dass man hier jede Woche eine Ration Extranahrung bekommt. Ich habe mir das dann erst einmal angeschaut, mich als Schülerin gemeldet, um zu sehen, wie es hier ist. Und es hat mir gefallen. Als ich hörte, dass sie dringend Lehrerinnen brauchen, habe ich mich gemeldet. Jetzt helfe ich außerdem bei der Organisation, der Registrierung der Frauen zum Beispiel. Masumeh Sarah   Ich habe Englisch von Afrikanern in türkischen Flüchtlingslagern gelernt. Ich glaube, das war sogar ein Gefangenenlager, weil die türkische Polizei mich einmal beim Versuch, nach Griechenland zu gelangen, festgenommen hat. Da waren viele Somalier und Nigerianer und so habe ich Englisch gelernt. Ich war da einige Zeit, bis ich freigelassen wurde. Danach habe ich es nochmal versucht, nach Griechenland zu kommen und es hat funktioniert. Die griechische Polizei hat uns dann hierher ins Moria-Lager gebracht. Ich weiß nicht, was weiter passieren wird. Niemand weiß das. Wir warten. Nichts ist klar. Ich hatte einen Termin für meine Anhörung, aber den haben sie verschoben. So ist unser Leben hier, wir wissen nichts. Vielleicht stelle ich mich nachher zur Essensausgabe im Lager an und jemand fängt einen Streit mit mir an und ersticht mich. Da kommt es jeden Tag zu Konflikten, Leute schreien sich an, drängeln und werden gewalttätig. Ich lebe im Camp, weil ich Schmerzen am Fuß habe, nicht im Dschungel. Dschungel! So nennen wir das Zeltlager neben dem Camp. Aber für mich wäre es besser, da zu leben, denn dort sind die meisten Afghanen untergebracht. In Moria sind es viele Araber und auch wenn meine Nachbarn wirklich nett sind, kommt es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den Arabern und den ­Afghanen. Und das betrifft uns dann alle. Für Afghanen ist deshalb der Dschungel sicherer. Ich fürchte, der Winter wird schlimm. Vor allem, wenn es schneien sollte. Vor einiger Zeit hat es hier heftig geregnet und da konnten die Leute ihre Zelte nicht verlassen, alles war verschlammt und einige der Zelte sind sogar eingestürzt. Schon damals sind viele Kinder, aber auch Frauen und Männer krank geworden. Und die ärztliche Versorgung hier ist ganz schlecht. Es gibt zu wenige Ärzte und sie kümmern sich nicht wirklich um einen. Sie geben kaum Medizin. Vielleicht haben sie einfach zu wenig. Das weiß ich nicht. Sie sagen den meisten Leuten: »Trinkt viel Wasser.« Mehr nicht. Offiziell sollen sie bis fünf Uhr nachmittags arbeiten. Aber ganz oft gehen sie schon um zwei oder drei. Dann bleiben nur die Krankenschwestern. Als ich kam, hatte ich nichts. Auch kein Geld. Zum Glück haben mir damals die arabischen Nachbarn geholfen und uns etwas Geld geliehen. Jetzt habe ich auch einen kleinen Kocher und kann vor dem Zelt kochen. Und ich bin recht froh, dass wir nur zu zweit sind, andere müssen sich zu sechst ein Zelt teilen. Ich lebe jetzt mit meinen Bruder. Das ist sehr schön, denn wir haben uns hier in Lesbos getroffen. Wir sind getrennt in die Türkei gefahren damals. Mein Bruder kam aus Afghanistan, ich aus dem Iran. Jetzt erhalten wir hier 90 Euro im Monat. Die Frauen hier im Projekt wollen vor allem Englisch lernen. Sie wissen, dass sie das brauchen werden. Und sie brauchen die zusätzlichen Nahrungsmittelrationen, die man hier am Ende jeder ­Woche bekommt. Manche kommen auch nur wegen der Nahrung, aber sie müssen eben vorher die Kurse besuchen. Aber ich freue mich, dass die meisten wirklich lernen wollen. Ich unterrichte jeden Tag eine Klasse und springe manchmal ein, wenn andere Lehrerinnen nicht kommen. Aber mehr als eine Klasse am Tag zu unterrichten, ist schwierig, ich verliere dann schnell die Nerven, fange an laut zu werden. Die ganze Flucht und alles, was ich erlebt habe, belastet mich, ich habe, wie fast alle hier, auch mit eigenen psychischen Problemen zu kämpfen. Ich möchte nicht erzählen, warum ich geflohen bin, zu meiner Sicherheit, denn wenn einige der Leute im Camp das erfahren würden, dann bekäme ich Probleme. Dieser Ort hier ist sicher und hier kann man sich entspannen. Nur der Weg hierher ist nicht sicher. Männer versuchen einem ­aufzulauern, weil wir ja durch einen kleinen Olivenhain laufen müssen. Man muss immer aufpassen. Es gibt unglaublich viele solcher Probleme in Moria. Frauen haben hier immer Angst. Deshalb kommen sie auch immer in kleinen Gruppen, nie alleine. In Moria ist es genau so. Ich verlasse nachts mein Zelt nicht mehr. Ich habe in den letzten Wochen viel gesehen und erlebt. Ratten und andere Tiere, und dann gibt es nicht genug Toiletten. Die nächste ist 300 Meter entfernt. Da kann man nachts nicht einfach hingehen. Und es ist dunkel da. Dann ist da das Dusch- und Wachproblem: Frauen nutzen die Duschen nicht, die sind offen und das ist sehr gefährlich. Es gibt nicht einmal heißes Wasser. Für Frauen gibt es deshalb ein Projekt, Duschen außerhalb, wo sie hingehen können. Das ist ein Projekt von einer Hilfsorganisation. Ich möchte gerne weiter als Lehrerin arbeiten und auch helfen, diese Projekte hier zu verbessern. Ich arbeite sehr gerne mit anderen Menschen. Auch im Iran habe ich als Freiwillige anderen afghanischen Flüchtlingen geholfen. In ganz verschiedenen Bereichen. Deshalb mag ich es es hier, finde es sehr gut und wichtig. Es ist wichtig, etwas zu tun zu haben, nicht nur den ganzen Tag herumzusitzen und über die eigenen Probleme nachzudenken. Und wenn man mich lässt, dann habe ich viele Ideen, was man hier noch besser machen könnte. Wir brauchen zum Beispiel einen Platz für die Kinder, die sitzen jetzt noch mit ihren Eltern in den Klassen und stören. Und wir brauchen mehr Material. Vor allem aber müssten die Lehrer besser ausgebildet werden, auch wie sie mit all den Problemen der Frauen umgehen können. Die meisten hier haben so viele Probleme und brauchen dringend Hilfe.   Mohammad Ich heiße Mohammad und komme aus Lahore in Pakistan und ich bin jetzt seit fast drei Jahren in Lesbos. Ich warte noch immer auf eine Entscheidung über meinen Asylantrag. Ich bin 2016 hierhergekommen und ich bin fast den ganzen Weg gelaufen. Erst in den Iran, dann in den Irak, in die Türkei bis nach Istanbul und von dort nach Griechenland. In Pakistan hatte ich große Probleme. Ich habe dort einen Unfall mit meinem Motorrad gehabt und einen alten Mann schwer verletzt. Da bekam ich großen Ärger mit dessen Familie, vor allem einem seiner Söhne, der drohte, mich zu töten. Das war sehr gefährlich für mich, denn ich stamme aus dem indisch-pakistanischen Grenzgebiet und hatte keinen pakistanischen Ausweis oder andere Dokumente. Mein Dorf liegt eigentlich auf indischer Seite. Ich bin nie in eine richtige Schule gegangen, hatte keine langfristige Arbeit und deshalb kein Geld, um der Familie des Unfallopfers eine Entschädigung zu zahlen. Mein Leben war bedroht und keine Behörde hätte mir geholfen. Mohammad Ich habe viel freie Zeit und die Lage in Moria ist furchtbar. Da komme ich gerne her in das Projekt und helfe als Freiwilliger. Ich helfe dabei, Nahrung zu verteilen und wenn etwas repariert werden muss. Solche Sachen. Ich mag es, hier zu sein, im Lager gibt es nämlich so viele Probleme. Da kommt es jeden Tag zu Auseinandersetzungen, Schlägereien unter den Leuten. Es ist dreckig, überall sind viel zu viele Menschen. Und für alles steht man stundenlang an, für Essen, beim Arzt, überall nur lange Schlangen. Wenn mein Asylantrag anerkannt wird, will ich versuchen, nach Athen zu gehen und mir dort einen Job zu suchen. Und wenn das nicht klappt, vielleicht nach Italien oder Spanien. Griechenland ist kein guter Ort für uns, die Menschen sind auch arm und es gibt keine Arbeit. Ich bin ganz alleine in Europa. Seit fast drei Jahren. Zu meiner Familie in Pakistan habe ich keinen Kontakt. Leider nicht. Im Moment bin ich ganz alleine.
Thomas von der Osten-Sacken,Bernd Beier
Thomas von der Osten-Sacken,Bernd Beier: Geflüchtete auf Lesbos. Vier Porträts
[ "Griechenland", "Flüchtlinge" ]
Reportage
29.11.2018
https://jungle.world//artikel/2018/48/hier-im-projekt-ist-es-sicher?page=0%2C%2C2
Das Desinteresse an der Aufklärung
»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« Aly Raisman im Januar bei einer Anhörung vor Gericht Gut drei Monate sind seit dem Prozess gegen Larry Nassar vergangen. Der Teamarzt der US-amerikanischen Turnerinnen hatte unter dem Vorwand wichtiger Untersuchungen seit 1992 mehr als 250 Mädchen und Frauen missbraucht. Der heute 54jährige wurde in drei Prozessen zu  Haftstrafen von bis zu 175 Jahren ­verurteilt und muss mindestens 100 Jahre im Gefängnis bleiben. Der öffentliche Druck auf Verbände und Funktionäre, die vermutlich schon seit Jahren von den Vorwürfen wussten und die Vorgänge vertuschten, hält jedoch weiterhin an. Die dreifache Turnolympiasiegerin Aly Raisman reichte vor einigen Wochen Klage gegen das Nationale Olympische Komitee der Vereinigten Staaten (USOC) und den US-amerikanischen Turnverband USA Gymnastics (USAG) ein. »Meine oberste Priorität ist, Änderungen anzustoßen, damit zukünftige Generationen sicherer leben können«, sagte Raisman. »Aber es wurde mir schmerzlich klar, dass diese Organisationen kein Interesse daran haben, mit diesem Problem angemessen umzugehen.« Die Turnerin wirft USOC und USAG vor, mutmaßlich nicht nur vom sexuellen Missbrauch an Athletinnen gewusst zu haben – die Organisationen hätten obendrein kein wirkliches Interesse an einer unabhängigen Klärung. »Ich hoffe, dass sie durch Klagen zur Verantwortung gezogen werden«, so Raisman. Die sich aus dem Skandal ergebende zentrale Frage lautet: Wie reagieren die Verbände und was ändert sich langfristig? Schon im Sommer 2015 hatte Raismans Trainerin Maggie Nichols den Verband USAG über die seltsamen »Untersuchungsmethoden« des US-Teamarztes Larry Nassar informiert. Nassar wendete bei seinen Patientinnen regelmäßig vaginale Penetration an, angeblich, um deren Beckenmuskulatur zu entspannen; die Behandlungen bei dem Mediziner waren für die Turnerinnen verpflichtend. Dabei hätten die Funktionäre gewarnt sein können: Bereits 1992 war ein USAG-Coach wegen Vergewaltigung einer zwölfjährigen Turnerin verurteilt worden. Der Nationaltrainer des Olympiateams von 1994 wurde 2011 nach Missbrauchsvorwürfen zweier ehemaliger Athletinnen lebenslang gesperrt. Ein weiterer ehemaliger Coach wurde 2002 angezeigt und verbüßt derzeit eine 36jährige Haftstrafe wegen sexueller Belästigung einer Zehnjährigen.   Die US-Amerikanerinnen profitieren höchstwahrscheinlich auch vom anhaltenden Erfolg der »Me Too«-Bewegung. Raisman, die sich zu einer Sprecherin der Sportlerinnen gemacht hat, sagte kürzlich der Miami New Times: »Ich habe das Gefühl, dass ich das hier noch eine lange Zeit tun muss. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber wir stehen immerhin besser da als vor einem Jahr.«   Bereits früher war Nassar vom Verband angewiesen worden, die Turnerinnen nicht ständig zu fotografieren. Laut Anklage waren sogar Trainer von USA Gymnastics bei einigen der »Behandlungen« anwesend. Doch es dauerte nach der Beschwerde noch einen Monat, bis sich der Verband überhaupt an das FBI wandte. Nassar wurde schließlich entlassen. Und die Michigan State University, an der Nassar weiter junge Turnerinnen behandelte, wurde nicht darüber informiert, warum der Arzt seinen Job verlor. Das Nationale Olympische Komitee der USA behauptete, bis zu einem Zeitungsartikel im September 2016 von nichts gewusst zu haben. Journalisten des Lokalblatts The Indianapolis Star hatten ein Jahr lang zu Nassar recherchiert, Turnerinnen und Eltern interviewt und umfassende Beweise präsentiert. Kurz darauf stellte sich heraus, dass USAG die Anschuldigungen schon ein Jahr früher an den Sicherheitsbeauftragten des USOC per Mail weitergegeben hatte. Der soll, so die neue Variante, diese Nachricht jedoch angeblich nicht weitergeleitet haben. Wie es möglich sein konnte, dass Larry Nassar über mindestens 25 Jahre mehrere hundert Athletinnen systematisch missbrauchte, ohne dass irgendjemand in den Organisationen etwas mitbekommen oder geahnt haben will, bleibt ein Rätsel. Nassar ist der prominente Kopf, der rollte. Als sie ihn nicht mehr schützen konnten oder wollten, waren die Verbände schnell dabei, den Mut der Turnerinnen zu loben: Über 250 hatten in einem emotionalen Prozess gegen den Teamarzt ausgesagt, darunter Stars wie Aly Raisman und Simone Biles. Lange beschränkte sich die mediale Aufmerksamkeit entsprechend auf Nassar. Die Klage Raismans geht nun an das Grundproblem: die Trägheit und das Desin­teresse der Verbände. Beim Nassar-Prozess war vom Nationalen Olympischen Komitee niemand anwesend. »Warum wohl haben ich und andere hier nichts vom USOC gehört?« fragte Raisman während ihrer Aussage. »Warum ist das USOC still geblieben? Warum ist das USOC jetzt gerade nicht hier?« Das Komitee entschuldigte sich später dafür. Personelle Konsequenzen hatte es in den US-Verbänden immerhin gegeben: Der Vorstand von USAG trat wegen des öffentlichen Drucks zurück. Auch USOC-Geschäftsführer Scott Blackmun ist mittlerweile nicht mehr im Amt – offiziell aus gesundheitlichen Gründen, aber wohl auch wegen der immer heftiger werdenden öffentlichen Kritik. Jüngst gelobte das USOC, Athletinnen und Athleten besser schützen zu wollen und eine unabhängige Untersuchung einzuleiten. Dass diese Untersuchung, bei der USOC die Untersuchenden beauftragt, wirklich unabhängig sein wird, bezweifeln viele Nassar-Opfer, darunter Raisman: »Nach all der Zeit wollen sie immer noch keine vollständige Untersuchung durchführen. Und ohne zu verstehen, wie das alles passieren konnte, ist es illusorisch, zu glauben, dass wir etwas verändern können.« Von innen, ist sie sicher, werden sich die Institutionen kaum reformieren. Es half, dass Nassars Opfer nicht irgendwelche Breitensportlerinnen, sondern international bekannte und teils sogar noch aktive Athletinnen sind. Wenn sie erst einmal sprechen, sind sie weniger leicht zum Schweigen zu bringen. Bisher war eine derartig lange Diskussion in der Öffentlichkeit kaum möglich – normalerweise verlaufen solche Debatten eher wie die über den Missbrauchsskandal im englischen Fußball, der Ende 2016 publik wurde. Damals meldeten sich immer mehr betroffene Ex-Fußballer, die als Kinder von ihren Trainern sexuell missbraucht worden waren. Die Aufregung aber verebbte schnell; der prominente Sündenbock, Ex-Trainer Barry Bennell, hat sich im Januar 2018 schuldig bekannt. Konsequenzen aus dem Fall wurden von Verband und Vereinen so gut wie keine gezogen. Die US-Amerikanerinnen profitieren höchstwahrscheinlich auch vom anhaltenden Erfolg der »Me Too«-Bewegung. Raisman, die sich zu einer Sprecherin der Sportlerinnen gemacht hat, sagte kürzlich der Miami New Times: »Ich habe das Gefühl, dass ich das hier noch eine lange Zeit tun muss. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber wir stehen immerhin besser da als vor einem Jahr.« Dabei ist schon lange bekannt, dass gerade der Sport mit seinen engen, oft wenig überwachten Beziehungen zwischen Trainern und Kindern ein ideales Umfeld für sexuellen Missbrauch bietet. Und dass die Vereinsstrukturen es den Tätern leicht machen: Sie können oft auf das Schweigen und Wegschauen der Verantwortlichen zählen, die Skandale scheuen und lieber stillhalten, als auf sportliche Erfolge zu verzichten. Dazu kommt die Unsicherheit der Eltern, die, wenn sie überhaupt etwas ahnen, oft nicht wahrhaben wollen, dass der doch so nette, um ihr Kind besorgte Coach »so etwas« tut. Und sich sowieso nicht sicher sind, was Kinder alles falsch interpretieren. Raisman möchte auch dies ändern. Die Turnerin wirbt derzeit intensiv bei Facebook und Twitter für eine Kampagne namens »Flip the Switch« (»Den Schalter umlegen«). Sie soll Erwachsene darin unter­richten, wie sie sexuellen Missbrauch schneller erkennen, indem sie auch auf nonverbale Zeichen wie Essstörungen oder Depressionen achten. Und Kindern früh klarmachen, welche Berührungen durch zum Beispiel einen Trainer nicht okay sind. Nicht zuletzt möchte die Kampagne etwas in der Sportkultur bewegen: Beim Umgang eines Trainers mit Minderjährigen soll immer ein anderer Erwachsener in Sichtweite sein. Der dann im Idealfall auch einschreitet – anders als die Trainer von USA Gymnastics.
Alina Schwermer
Alina Schwermer: Sexueller Missbrauch an Athletinnen: US-Turnerin Aly Raisman verklagt Funktionäre
[ "metoo" ]
Sport
29.03.2018
https://jungle.world//artikel/2018/13/das-desinteresse-der-aufklaerung
Haltbarkeitsdatum ungewiss
Wortspiel auf dem Dach des Rog. »Nèomejèn rok trajanja« würde »unbegrenztes Haltbarkeitsdatum« heißen In der Trubarjeva Ulica reiht sich eine Bar an die nächste, Cafés und kleine Restaurants säumen die Straße: asiatisch, libanesisch, slowenisch oder ein typischer Balkangrill. Die Ausgehmeile im Zentrum Ljubljanas ist sowohl bei Touristen als auch bei den einheimischen Ljubljancan überaus beliebt. Biegt man fast am Ende der Straße rechts in einen großen Hof ein, landet man in der »Tovarna Rog« (Fabrik Rog). Die leerstehende ehemalige Fahrradfabrik wurde 2006 von politischen Aktivisten und Künstlern besetzt und bietet neben einer Kneipe, einem Café und einer Art Kantine, wo es jeden Tag Mittagessen gibt, Räume für diverse Sportarten, von Skaten bis Kung-Fu, sowie Galerien, Künstlerateliers und ­einen Konzertsaal. Des Weiteren gibt es einen Partyraum mit Bar, einen Zirkus, ein soziales Zentrum, einen Zen-Garten, einen Friseur, einen Massagesalon und vieles mehr. Im Hof stehen Skulpturen; folgt eine Reihe von Kerzen, gelangt man in den Veranstaltungsraum »Modri Kot« (Blaues Eck), wo man sich an einem der ­besten Heizöfen des Rog aufwärmen kann – ein wichtiges Kriterium für ­Publikumserfolg in Winterzeiten. Hier trotzen die Anwesenden aber nicht nur der Kälte. Diskutiert wird über die derzeitige Lage des Rog und die Reak­tion der Stadt auf die jüngste Aktion gegen dessen drohende Räumung. Am 14. Dezember demonstrierten rund 200 Menschen in Ljubljana gegen die ­Absicht der Stadtverwaltung, die derzeitigen Nutzerinnen und Nutzer des Rog aus dem Komplex zu vertreiben und das Gebäude in ein hochmodernes, profitorientiertes Prestigeprojekt um­zuwandeln. Ebenfalls verhindern wollten sie den Verkauf des Hostels »Celica« (Zelle). Dieses steht ganz in der Nähe auf dem Gelände Metelkova, einer in den achtziger Jahren besetzten ehe­maligen Militärkaserne (Jungle World 38/2011), die seither ein autonomes Zentrum für Musik, Kunst und Kultur beherbergt und schon längst zur Tou­ristenattraktion geworden ist. Die Stadt Ljubljana hat das bekannte Hostel, das Besetzer und Künstler im ehemaligen Militärgefängnis instandsetzten und das bislang von einer Studierendenorganisation verwaltet wurde, vergangene Woche demselben Management unterstellt wie die Burg.   Pink gewinnt Am Tag der Demonstration sollte Oberbürgermeister Zoran Janković vor ­Gericht zu den Vorfällen im Rog 2016 angehört werden. Er erschien allerdings nicht. Das Rog ist bereits seit längerem von der Räumung bedroht (Jungle World 21/2016). Am 25. Mai 2016 demonstrierten 500 Menschen dagegen – im beschaulichen Ljubljana eine große Menge. Miha Poredoš, der bereits seit 2014 im Rog aktiv ist, erinnert sich an einen »fröhlichen, farben­frohen Protest von Rog-Mitgliedern, Unterstützern, Anarchisten, anderen ­Initiativen und Flüchtlingen«. Zehn Tage später, in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni, konnte der erste Räumungsversuch mit vereinten Kräften verhindert werden. »Wir dachten, sie könnten schon in dieser Nacht kommen, und so luden wir Leute ein, in der Fabrik zu übernachten, wir waren ungefähr 20 bis 30«, erzählt Poredoš. Gegen drei Uhr morgens wurden sie von rund 30 privaten Sicherheitsleuten, samt Bagger und einem Feuerwehrfahrzeug, überrascht. Jernej Kastelic (25) war damals auch dabei. »Wir sind ziemlich schnell wach geworden. Ich war in der Fabrik und ein paar Feministinnen rannten schnell zu der Baustelle«, erzählt er. »Ich dachte, wenn die Maschinen da sind, ist es schon zu spät. Aber dann parkten Urška und Danijela ihre Autos vor dem Tor und begannen zu hupen und weckten die gesamte Nachbarschaft.« »Ich wollte gerade in Sergios Bar gehen, als der Bagger kam«, sagt Poredoš. »Ich bekam Panik und lief hinaus. Da kamen die Sicherheitskräfte und schlossen das Tor. Weitere Leute von uns kamen durch die Hinterseite des Gebäudes zur Unterstützung. Am Ende waren wir 40 bis 60 und begannen, Barrikaden zu bauen, mit denen wir die Sicherheitsleute einschlossen. Die Presse war seit sechs, sieben Uhr ­morgens draußen vor dem Tor versammelt. Um neun Uhr gab es eine Pressekonferenz und danach schafften es einige, das Tor zu öffnen und alle Leute strömten von draußen rein.« Die Aktion dauerte viele Stunden, die Sicherheitsleute wurden gewalttätig. Eine Person wurde so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht ­werden musste. Die Polizei beobachte alles draußen vor dem Tor und half erst gegen Ende, die Gewalttäter zu stoppen. Allerdings nahm sie auch sechs junge Besetzer fest. Danach gab es überwältigenden Applaus und Hunderte Menschen drangen in den Hof, um den Sieg gemeinschaftlich zu feiern. Zuvor war der Schlüssel des Baggers in die Hände der Besetzer gefallen. Sie besprühten den Bagger pink, er wurde zum Symbol des Widerstands und in den folgenden Wochen auch zu einer Touristenattraktion.   Kunst im Rog. Performance »Leuchtkäfer-Geburt eines Leuchtkäfers« in der Galerie Zelenica Prozesse und Festivals Einige der Besetzer verklagten die Stadt kurz darauf wegen Hausfriedensbruchs, worauf die Stadt mit acht Einzelklagen gegen die Vertreter des Rog ­reagierte, die die erste Klage unterzeichnet hatten. Die Besetzer haben sich für die Prozesskosten hoch verschuldet, sie rechnen mit 40 000 bis 50 000 Euro, und müssen sich seit 2016 langen Anhörungen im Gerichtssaal stellen. Zana Fabjan, die seit 2015 im Rog aktiv ist und zu den Angeklagten zählt, sagt, nach Prozessbeginn hätten sie zunächst ein temporäres Bleiberecht erhalten, bis das Verfahren entschieden ist. »Kurz darauf klagte die Stadtverwaltung gegen uns, da wir uns nicht auf unserem eigenen Grund und Boden bewegen. Jetzt gibt es also einen Streit ­zwischen dem Eigentümer und den Nutzern, nur dass der Eigentümer in der Rechtshierarchie wesentlich höher steht, so dass wir den Prozess wahrscheinlich verlieren werden«, so Fabjan. Derzeit werden beide Fälle vor Gericht verhandelt. »Sechs Leute haben den Prozess bereits verloren und zwei davon haben Widerspruch eingelegt. Das ­Problem ist nur, dass die Gerichtskosten sehr hoch sein werden. Wahrscheinlich wurden sie so hoch angesetzt, um uns Angst einzujagen. Sie denken, dass wir unter dem finanziellen Druck zusammenbrechen werden. Wir hatten schon ein paar Veranstaltungen, um Geld zu sammeln. Aber es ist schwierig, da Rog kein protfitorientierter Ort ist und die Veranstaltungen meist nur auf Spendenbasis laufen«, schildert sie das derzeitige Problem. Nach dem Überfall ließ man sich aber erst recht nicht einschüchtern und ­organisierte das zehntägige Kunst- und Kulturfestival »Rogoviljenje«. Einer der Höhepunkte war eine Kunstausstellung in der Galerie Zelenica, in der namhafte Künstler aus ganz Slowenien ihre Werke ausstellten, um ihre Soli­darität mit dem Rog zu bekunden. Den Abschluss des Festivals bildeten das ­bekannte Theaterfestival »Ana Desetnica« und die Performance »Iluminirana Tovarna« (Beleuchtete ­Fabrik). Dabei wurde während einer Liveübertragung des 17minütigen Musikstücks »La fabbrica illuminata« von Luigi Nono (1964) in Radio Študent das 7 000 Quadratmeter große Fabrikgebäude mit Kerzen beleuchtetet, um zu zeigen, was selbst ohne Strom alles möglich ist. Živa Sila* ist schon seit zehn Jahren im Rog aktiv und immer noch begeistert von der Solidarität zu jener Zeit: »Es gab mehr Unterstützung als je zuvor.« Die Facebook-Seite »Ohranimo Tovarna Rog« (Wir erhalten die Fabrik Rog), die Forderungen an die Stadtverwaltung formulierte, erhielt fast 8 000 Likes. »Zum Festival Rogoviljenje kamen etwa 5 000 Menschen. Es gab Konzerte, Filmvorführungen, Ausstellungen und wir hatten jeden Tag Training, Kung-Fu, Tai-Chi und mehr. Das Rog war einen ganzen Monat lang voller Leute«, schwärmt Sila. Aljoša Dujmič, der das Rog schon von Beginn an kennt, sagt über die Zeit nach dem ersten Räumungsversuch: »Ich habe ausschließlich für das Rog gelebt, gelesen und ­gearbeitet. Ich war ununterbrochen vor Ort.«
Henrike von Dewitz
Henrike von Dewitz: Dem besetzten Kulturzentrum »Rog« im slowenischen Ljubljana droht die Räumung
[ "Slowenien", "Ljubljana" ]
Reportage
18.01.2018
https://jungle.world//artikel/2018/03/haltbarkeitsdatum-ungewiss?page=0%2C%2C2
»33 oder wie das war«
Das Stadion des 1. FC Schweinfurt 05 ist nach Willy Sachs benannt. Er war Mitglied in der NSDAP, SS-Obersturmbannführer und gehörte dem »Freundeskreis Reichsführer SS« an. Ein Fan des 1. FC Schweinfurt 05 fürchtete, dass das Stadion umbenannt werden könnte, und rief beim Verein an. Grüß Gott, Werner ist mein Name. Ich hab’ da mal eine Frage. Ist da was dran, dass das Willy-Sachs-Stadion umbenannt werden soll? Was? Nein! Das ist hin und wieder mal aufgeblitzt durch irgendwelche Redakteure, aber das ist schon wieder ein Jahr her. Da gibt’s überhaupt nichts. Die Kollegen haben erzählt, dass da mal was war in der Süddeutschen Zeitung. Das ist ewig her. Dass da Linke was gegen den Namen haben oder so. Überhaupt nichts. Das ist mal kurz aufgeblitzt, dann ist da einen Tag drüber geschrieben worden, und das war’s dann aber auch schon. Wäre ja auch ein Schmarrn, nur wegen dieser Geschichte. Man hört nichts, man liest nichts. Also gar nichts. Das ist zwar mal kurz aufgeblitzt, aber eigentlich von den Me­dien nur belächelt worden. Das ist nie mehr was gekommen. Ich denk’s mir ja auch. Das ist doch schon so lange her. Muss man jetzt da heute noch davon reden? Gar nichts. Überhaupt nichts. Das hätte ich nämlich auch falsch gefunden, wenn man immer diesen Leuten nachgibt. Die schreiben einen Artikel, und dann muss das ganze Stadion umbenannt werden. Da ist überhaupt gar nichts passiert. Das ist überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Ich hab einen recht guten Kontakt zur Stadt und zum OB. Da ist überhaupt nichts dran. Kann das die Stadt entscheiden? Das gehört ja der Stadt. Wir sind nur die Mieter. Das ist doch deshalb, weil die sagen, der war ein Nazi. Ja, Krupp und alles, weil damals irgendwelche Aufführungen waren, 33 oder wie das war. Keine Ahnung. Da war überhaupt kein Diskussionsanlass, kein Punkt, gar nichts. Dann bin ich ja beruhigt. Immer diese Sachen da, dieses Aufwühlen. Dann müsste man ja immer wieder von vorne anfangen und alles umbenennen. Da passiert nichts. Nullkommanichts. interview: stefan wirner
Stefan Wirner
Stefan Wirner:
[]
webredaktion
25.10.2006
https://jungle.world//artikel/2006/43/33-oder-wie-das-war
Fluchtgrund Kurzhaarschnitt
Wafaa und Maha al-Subaie Am Dienstagabend vor der Osterwoche meldeten sich zwei junge saudische Schwestern, Maha und Wafaa al-Subaie, aus der georgischen Hauptstadt Tiflis mit einem Hilferuf per Twitter: Sie seien aus Saudi Arabien geflohen, ihre Pässe seien für ungültig erklärt worden, und ihnen drohe zuhause die Tötung. Auch in Georgien seien sie nicht sicher. Nach einem Tag und einer ganzen Reihe weltweiter Pressemeldungen verstummte der Twitteracount plötzlich. Mittlerweile sind die beiden Schwestern wieder online, ihr ursprünglicher Account ist wohl gesperrt worden, die georgischen Behörden haben ihre Hilfe zugesagt. Als Grund für ihre Flucht nannten sie Gewalt in der Familie und die Unfreiheit in ihrem Land, tatsächlich hatten sie mit ihrem Aufenthalt in Georgien bereits gegen das saudische Vormundschaftsgesetz verstoßen, das Frauen die Ausreise erst nach Zustimmung ihres Vormundes erlaubt – in der Regel der Ehemann oder der Vater. Ohne dessen Zustimmung kann keine Frau reisen, heiraten oder eine Arbeit aufnehmen. Und hierbei geht es wohlgemerkt um erwachsene Frauen, die beiden Schwestern sind 25 und 28 Jahre alt. Bild: Maha und Wafaa al-Subaie (Quelle: Twitter) Es ist bereits der zweite solche Fall dieses Jahr, der international für Aufmerksamkeit sorgt. Anfang des Jahres gelang der mittlerweile 20-jährigen Rahaf Mohammed al-Qanun (die seitdem ihren Stammes- bzw. Familiennamen abgelegt hat) nach einer tagelangen nervenaufreibenden Auseinandersetzung in Bangkok die Flucht nach Kanada, das ihr Asyl gewährte. Ihr war auf dem thailändischen Flughafen durch saudische Intervention der Pass weggenommen worden. Auch Rahaf Mohammed hatte sich über Twitter an die Weltöffentlichkeit gewandt und die zunehmende Aufmerksamkeit sorgte nicht zuletzt für ein plötzlich erwachendes rechtsstaatliches Bewußtsein der thailändischen Behörden im Umgang mit dem lästigen Fall. Der saudische Geschäftsträger vor Ort meinte dazu nur lakonisch in einer Pressekonferenz, man hätte ihr wohl besser das Telefon statt den Pass wegnehmen sollen. Das Internet mit seinem Potential der schnellen Verbreitung von Nachrichten und der umgehenden Möglichkeit sich mit einem Tweet zu solidarisieren, spielt bei diesen bekannt gewordenen Fluchten die zentrale Rolle; eines ist Entscheidend: eine globale Öffentlichkeit herzustellen, bevor saudische Diplomaten sowie unter Druck gesetzte und sowieso desinteressierte ausländische Regierungen die Frauen gegen ihren Willen wieder zurückbringen lassen. Um dann im Zweifel nie wieder etwas von ihnen zu hören. Die Öffentlichkeit des Internets ist dabei die zugleich schärfste Waffe gegen islamische Familien- und Ehrbegriffe; aus traditioneller Sicht ist das quasi das Schlimmste, was überhaupt passieren kann. So erging es etwa einer weiteren jungen saudischen Frau mit demselben Familiennamen wie die beiden Schwestern, die ebenfalls in Tiflis auf ihr Weiterkommen wartete, das ihr schließlich zugesagte französische Visum jedoch nie abholte, sondern einfach verschwand. Gut dokumentiert ist dagegen der Fall Dina Ali Laslooms, die 2017 im Transitbereich des Flughafens von Manila dem Druck, der auf sie ausgeübt wurde, schließlich nicht mehr standhielt. Passagiere filmten die verzweifelte Frau, bedrängt von saudischen Offiziellen, auch ihr Abtransport  in einer saudischen Maschine, an Händen und Beinen gefesselt und mit abgeklebten Mund ist dokumentiert. Ihre Nachfolgerinnen haben allerdings daraus gelernt, es geht vor allem darum, so schnell wie möglich Medienöffentlichkeit herzustellen, sich dabei dem direkten Zugriff zu entziehen, durchzuhalten und Zeit zu gewinnen.   Die Öffentlichkeit des Internets ist dabei die zugleich schärfste Waffe gegen islamische Familien- und Ehrbegriffe; aus traditioneller Sicht ist das quasi das Schlimmste, was überhaupt passieren kann. Die heile Fassade der Familie ist der Dreh- und Angelpunkt der familiären Obsessionen in islamisch geprägten Ländern. Egal, was dahinter passiert – solange nur die Fassade steht, ist alles in bester Ordnung, notfalls hilft auch Gewalt. Die wenigen jungen Frauen, die bei ihrer Flucht schließlich bewusst den Weg der Öffentlichkeit gewählt haben, oder sich vielmehr im Angesicht ihrer Verfolgung zu diesem fast äußersten Widerstand entschieden haben, brechen damit ein Tabu. Und für sie gibt es keinen Weg zurück. Kurzhaarfrisur statt Schleier Maha und Wafaa al-Subaie, von denen eine ihren kleinen Sohn zurücklassen musste, haben Tonaufnahmen und Bilder familiärer Gewalt im Internet veröffentlicht, sie haben sich zudem ebenso wie Raha Mohammed auf Fotos umgehend ohne islamischen Kopfbedeckung gezeigt; eine der beiden Schwestern trägt nun eine Kurzhaarfrisur, die sich auch Raha Mohammed noch in Saudi Arabien aus Protest zugelegt hatte, was ihr weitere Drangsalierungen durch die Familie einbrachte. Eine Frau, die selbst über sich entscheidet, sich nicht verschleiert, sich sogar die Haare kurz schneidet und öffentlich über Gewalterfahrungen in der Familie spricht: das ist nichts anderes als der fleischgewordene Albtraum der versammelten Väter, Brüder und Cousins des Patriarchats. Wie viele Frauen tatsächlich aus Saudi-Arabien fliehen, weiß wohl niemand genau, die wenigen, sich nun aber doch summierenden Fälle, die internationale Aufmerksamkeit erregen, sind allerdings nur die Spitze eines Eisberges. Alle drei Frauen haben den Namen ihrer Familie offen gelegt, und die beiden Schwestern dokumentieren sogar schriftliche Morddrohungen ihrer männlichen Verwandtschaft. Alle drei entstammen übrigens einflussreichen Familienverbänden, was die Sache für den saudischen Staat noch einmal komplizierter macht. Die jungen saudischen Frauen, die vor ihren Familie fliehen, und denen das berüchtigte „Guardian Law“ (Vormundschaftsgesetz) ihre Freiheit nimmt,  bringen so die verstörende Tatsache ins Bewusstsein, dass sich hinter den so auf rigide Moralvorschriften fixierten islamischen Gesellschaften ein Abgrund von häuslicher Gewalt und Missbrauch für die längste Zeit unbemerkt verborgen hat; mittlerweile wird das Ungeheure, das dort kauert, allerdings hier und da auch in Zahlen greifbar. Spektakuläre PR-Pannen Es liegt auch in der Logik der offiziösen saudischen Versuche, diese Fluchten zu unterbinden, und dem potentiellen Verfolgungsdruck der Familien, die überhaupt erst zu spektakulären PR-Pannen und der Medienöffentlichkeit führen. Die beiden Schwestern in Georgien waren bereits seit Anfang April im Land und hatten sich ohne Erfolg um eine Weiterreise bemüht; zwei weitere saudische Schwestern, deren Schicksal nach einer fast halbjährigen Hängepartie in Hong Kong gerade positiv entschieden wurde, waren nach ihrer Flucht nur unter Pseudonym aufgetreten. Ein ebenfalls ungenanntes Land hat ihnen nun Asyl gewährt. Endgültig wie das Plot eines Filmthrillers lesen sich sowieso die Geschehnisse rund um Sheikha Latifa, eine Tochter des Herrschers von Dubai, die 2018 auf einer Yacht über den indischen Ozean in Richtung Indien geflohen war. Wie viele Frauen tatsächlich aus Saudi-Arabien fliehen, weiß wohl niemand genau, die wenigen, sich nun aber doch summierenden Fälle, die internationale Aufmerksamkeit erregen, sind allerdings nur die Spitze eines Eisberges. Es gibt auch ein Netzwerk von Aktivisten, die saudischen Frauen zumindest nach der Flucht helfen und gegen das Vormundschaftsgesetz kämpfen. Das Netzwerk erinnert an die legendäre „Underground Railroad“, mit der in den USA vor dem Bürgerkrieg entflohene Sklaven aus dem Süden in den Norden gebracht wurde. Das sind Aktivistinnen wie Shahad Al Mohaimeed, die selbst aus Saudia Arabien geflohen ist, oder die saudische Künstlerin MsSaffa, die bereits 2012 eine ikonographische Arbeit mit „I am my own guardian“  („Ich bin mein eigener Vormund“) betitelte, und die seit langem im selbst gewählten Exil in Australien lebt. Sie koordiniert auch die Presseanfragen für die beiden „Georgischen Schwestern.     Wie eine Dystopie Wenn man nicht wüsste, dass es bei diesen Geschichten einmal mehr um den Nahen Osten geht, könnte man meinen, es handele sich bei den Fluchtversuche der jungen Frauen aus einem Land und einer Kultur, die ihnen Selbstständigkeit und den Status eines erwachsenen autonomen Menschen dauerhaft absprechen, um eine literarische oder filmische Dystopie. Da werden über Jahre Fluchtvorbereitungen im Schoß der Familie getroffen, Familienferien zum Absetzen genutzt, immer geht es darum, möglichst schnell an Bord eines Flugzeuges zu gelangen, um den langen Armen des saudischen Staates zu entkommen, dessen diplomatisches Personal im Zweifelsfall schon am Ort der ersten Zwischenlandung wartet. Man muss sich mitunter in Hotelzimmern verbarrikadieren, und seine Reiseerlaubnis zum Passieren der Grenze mithilfe des entwendeten Telefons des Vaters durch eine App freischalten, die den Vormündern die Kontrolle über ihre weiblichen Mündel erleichtern soll. Die beiden saudischen Schwestern, die im September 2018 in Hongkong gestrandet waren, nachdem die saudische Regierungsvertreter vor Ort es geschafft hatten, ihren Weiterflug nach Australien zu stornieren, erlebten Einschüchterungen, unter Druck gesetzte Angestellte, kafkaeske Einflussnahmen hinter den Kulissen, sie mussten um die Pässe in ihren Händen förmlich kämpfen, bis es ihnen endlich gelang, aus dem Flughafengebäude selbst zu flüchten und in der Stadt unterzutauchen. Sie hatten zuvor den Familienurlaub auf Sri Lanka genutzt, um sich heimlich zum Flughafen in Colombo abzusetzen. Endgültig wie das Plot eines Filmthrillers lesen sich sowieso die Geschehnisse rund um Sheikha Latifa, eine Tochter des Herrschers von Dubai, die 2018 auf einer Yacht über den indischen Ozean in Richtung Indien geflohen war, bevor sie von den Schergen ihres Vaters zurückgebracht wurde. Die Prinzessin hatte für den Fall, dass ihre Flucht scheitert, in einer Videoaufnahme schon das Schlimmste für sich selbst vorausgesagt. Verheerend für die saudische Reputation Die zunehmend für Aufmerksamkeit sorgenden Fluchtversuche junger Frauen aus Saudi-Arabien oder vom Golf sind natürlich verheerend für die internationale Reputation, aber weswegen hat man schließlich all das Ölgeld. Um die internationale Reputation ist es in Saudi Arabien zumal seit der grauenhaften Ermordung und Zerstückelung des Regimekritikers Jamal Khashoggi – offensichtlichen unter Anleitung des engsten Machtzirkels um den Kronprinzen Mohamed Bin Salman – sowieso nicht zum Besten bestellt. Aber auch intern haben diese Fluchtbewegungen für die saudische Regierung unangenehme Auswirkungen. Entgegen der beliebten Methode mit der Invariante „Islam“ im Nahen Osten praktisch alles erklären zu wollen (und dabei doch nur selbst dem Narrativ der Islamisten zu folgen), datiert das strikte Vormundschaftsgesetz in Saudi-Arabien nicht etwa seit altersher, sondern tatsächlich von Anfang der achtziger Jahre. Es war eine der Reaktionen auf die Moscheebesetzung in Mekka 1979 durch die ersten Protojihadisten und den Aufstieg des politischen Islam. Und so setzen die jungen Frauen, die von diesem Leben in Unfreiheit genug haben, das saudische Establishment unter Druck. Insofern kann man den Äußerungen des Kronprinzen durchaus Glauben schenken, der in Interviews darauf hingewiesen hat, dass man das Vormundschaftsgesetz durchaus ändern könne, aber nur vorsichtig und ohne die konservativen Teile der Gesellschaft zu verstimmen. Zu dem vom Kronprinzen intendierten Reformwerk einer in ihrem Aussehen etwas offeneren Gesellschaft – selbstverständlich ohne jede Konzession an eine politische Liberalisierung –, würde das durchaus passen; es entspricht sicherlich auch der Stimmung in weiten Teilen der jüngeren Bevölkerung. Allerdings gibt es eben auch die konservativen und nicht zuletzt islamistischen Kreise, auf die die Herrscher Rücksicht nehmen müssen, denn sie unterliegen eben auch ihren Zwängen.   Reformen als Widerspruch Letztlich geht es geht es bei all diesen nahöstlichen „Reformen“ immer um den einen unauflösbaren Widerspruch, mit einem Nachlassen des Drucks keinesfalls die Grundlagen autoritärer Herrschaft zu erschüttern. Und die Macht, die Saudi Arabien den Familien zugesteht, mit der vor allem die jungen Frauen unmündig gehalten werden, entspricht der autoritären Herrschaft im Staat, die die Bevölkerung wie ein Kind gängelt. Der Kronprinz hat das Autofahren für Frauen erlauben lassen, aber selbst das ging nicht, ohne die Aktivisten und Aktivistinnen die sich seit Jahren dafür eingesetzt hatten – und die ebenso für die Abschaffung des Vormundschaftsgesetzes kämpfen –  vor Gericht zu zerren. Seit 2018 sitzt über ein Dutzend zum Teil sehr prominenter Aktivistinnen im Gefängnis und ist dort auch demonstrativ gefoltert worden. Es darf genausowenig eine eigenständige gesellschaftliche Bewegung geben, wie es autonom entscheidende Frauen geben darf. Und so setzen die jungen Frauen, die von diesem Leben in Unfreiheit genug haben, das saudische Establishment unter Druck, das einerseits den internationalen Skandal verhindern will, aber auch die konservativen Familienverbänden bei Laune halten muss, denn auf deren Kooperation basiert die autoritäre Herrschaft, gleichzeitig muss man die Aktivisten entmutigen und verfolgen und will doch darauf  hoffen, dass ein bisschen ins-Kino-Gehen und Autofahren die junge saudische Gesellschaft für eine Zukunft ohne sprudelndes Ölgeld fit machen könnte.  Das sieht nicht wirklich erfolgversprechend aus. Versprechender für bedrängte junge Frauen mag sich da Rahaf Mohammeds anhören, die in einem Interview nach ihrer Flucht im Januar dazu aufrief aus dem Land zu flüchten, solange das Vormundschaftsgesetz nicht abgeschafft ist. Aber wer könnte diesen Deckel gefahrlos öffnen? Also warten wir auf die nächste Flughafenflucht. Das könnte endemisch werden. Offen bleibt die Frage, wer den saudischen Geschwistern diesmal Asyl gewähren wird. Eine heikle Angelegenheit, man möchte es sich mit den Herrschern am Golf ja auch nicht verscherzen. Wenden Sie sich mit dieser Frage doch mal an einen zuständigen Politiker. Und bleiben Sie derweil bei den „Georgian Sisters“ auf dem Laufenden. Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch
Oliver M. Piecha
Oliver M. Piecha: Häusliche Gewalt in Saudi-Arabien
[ "Häusliche Gewalt", "Saudi-Arabien" ]
Ausland
26.04.2019
https://jungle.world//artikel/2019/17/fluchtgrund-kurzhaarschnitt?page=0%2C%2C2
Einer wie Ossi
Solche biographischen Daten könnten auch heutzutage in einem Kicker-Sonderheft stehen, und auch im Jahr 2020 würde man merken, dass es sich um ein Riesentalent handeln dürfte: Jugendspieler bei Phoenix Mannheim, dann zum VfR Mannheim, mit 18 Jahren zu Bayern München gewechselt, später zu den Grasshoppers Zürich und Racing Strasbourg. Die Rede ist von Oskar Rohr, geboren 1912, vier Länderspiele, fünf Tore – und was auffällt, ist dies: Zum Grasshopper Club Zürich wechselte er 1933. Von diesem Oskar, genannt »Ossi«, Rohr handelt eine Graphic Novel von Autor Julian Voloj und Zeichner Marcin Podolec, die auf einzigartige Weise das Leben und die Bedeutung des beinahe vergessenen Weltklassestürmers erzählt. Ossi Rohr war kein Jude, kein Kommunist, gehörte keiner anderen von den Nazis verfolgten Gruppe an – er war Fußballer, nichts als Fußballer, man könnte sagen: Nurfußballer. Aus Deutschland ging er 1933 weg, weil er guten und professionellen Fußball spielen wollte. Er erkannte schon früh, was andere, etwa der bis heute hierzulande hochverehrte Sepp Herberger, nicht sehen wollten oder konnten, nämlich, dass faschistische Herrschaft alles bedrohte und zerstörte, was ein weltoffenes, modernes Leben ausmacht: zum Beispiel Fußball. Julian Voloj und Marcin Podolec zeigen in ihrer Graphic Novel die Fußballkarriere als Bildungsroman. Der kleine Ossi stammte aus Mannheim, genauer und wie üblich bei diesem Arbeiterklassensport stammte er aus dem Milieu, für das man den unangenehmen Begriff »einfache Verhältnisse« bereithält. Dass er ein Talent war, zeigte sich früh. Mit sympathisch einfachem, mitunter naiv anmutendem Strich zeichnet Marcin Podolec die Kindheit nach. Ossi wollte immer nur Tore schießen, und genau das tat er. Er war kein guter Techniker, er war kein Sprinter, »aber am Ball war Oskar unaufhaltbar«, wie es an einer Stelle heißt. Er durfte schon bei den Großen, also in einer Jugendmannschaft, mitmachen, da konnte er sich noch nicht mal selber die Schuhe binden. Bald ging er von Phoenix zum besseren Ortsrivalen VfR, wo ab 1928 Richard Dombi als Trainer wirkte. Der gebürtige Wiener Dombi hieß ursprünglich Richard Kohn, und bekam, als er beim damaligen Weltklasseverein MTK Budapest spielte, den Spitznamen »Little Dombi«, was so viel wie kleine Exzellenz bedeuten soll. Irgendwann erschien das Angebot attraktiv, den jüdischen Namen Kohn offiziell in Dombi zu ändern. Bald wurde der FC Bayern München auf den engagierten und ambitionierten Dombi aufmerksam. Er ging nach München, und er machte Rohrs Eltern Angebote, wie es mit dem Jungen in der großen Stadt München weitergehen könnte. Die willigten ein, nach vielen Sorgen und familiären Debatten, ob das denn nicht zu riskant sei, sein ganzes Leben dem Fußball unterzuordnen. Für Ossi Rohr eröffnete sich eine neue Welt. Voloj und Podolec zeigen in ihrer Graphic Novel, die Fußballkarriere als Bildungsroman: durch den Sport wird Ossi zum polyglotten Weltbürger, der mehrere Sprachen beherrscht, viele Kulturen kennengelernt und für sich die Welt entdeckt hat. Rohr landete in einer der besten und größten Jugendabteilungen des damaligen deutschen Fußballs, er machte die Bekanntschaft des FCB-Präsidenten Kurt Landauer und des Chefredakteurs des Kicker, Walther Bensemann. Ossi erspielte sich trotz seiner Jugend bald einen Platz in der ersten Mannschaft. Und der Plan, den Landauer hatte, als er Dombi nach München holte, ging auf: Unter Dombi und mit Rohr spielten die Bayern am 1. Mai 1932 in Stuttgart das Finale um die Südostdeutsche Meisterschaft. Gegen Eintracht Frankfurt ging es, und auch die Berichte von diesem Endspiel klingen bemerkenswert aktuell: In der 80. Minute war strittig, ob ein Frankfurter im Strafraum ein Handspiel begangen hätte. »Auf dem Spielfeld kam es zu Rangeleien«, heißt es, der Schiedsrichter brach ab, Frankfurt wurde zum Sieger erklärte, aber beide Mannschaften waren für die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft qualifiziert. Das Finale wurde tatsächlich wieder zwischen Bayern und Frankfurt ausgetragen, diesmal in Nürnberg. Als Bayern einen – diesmal nicht umstrittenen – Elfmeter zugesprochen bekam, sollte Ossi Rohr schießen. Der 20jährige hatte die Nerven, traf, Bayern führte 1:0. Später erzielte noch Josef Bergmaier das 2:0. Es war die erste Deutsche Meisterschaft des FC Bayern München, bekanntlich sollten ein paar Jahrzehnte später viele weitere folgen. Dieser erste Titel war Ergebnis der professionellen Führung des Clubs, für die Namen wie Kurt Landauer, Richard Dombi und auch der Jugendtrainer Otto Albert Beer standen. Alle drei waren Juden. Rohr war zum Star geworden, und die Ambitionen, die der FCB hatte, waren auf seine fußballerischen Fähigkeiten gegründet.. Ossi Rohr traf noch oft, und wurde auch in die Nationalmannschaft berufen. Aber nach dem 30. Januar 1933, dem Machtantritt der Nazis, änderte sich das Leben in Deutschland, und das heißt eben auch: das Fußballleben. Landauer trat von seinem Präsidentenamt zurück, Beer verließ die Jugendabteilung. Für Rohr bot der FC Bayern keine Perspektive mehr. Er ging zu den Grasshoppers nach Zürich. Zwar war Dombi dort schon nicht mehr Trainer – er betreute mittlerweile den FC Barcelona –, aber mit Izidor Kürschner, Spitzname »Dori«, wirkte dort ein anderer renommierter Trainer aus der ungarischen Fußballlschule. Später sollte Kürschner nach Brasilien gehen, und viele sagen ihm nach, dass er es war, der die Fußballweltmacht Brasilien mitbegründet hat. Rohr war jetzt Fußballprofi, er bekam ein Angebot von Racing Strasbourg aus Frankreich und ging dorthin. Das bot ihm auch die Möglichkeit, öfter seine Eltern in Mannheim zu besuchen, und er bemerkte hautnah, was sich in Deutschland geändert hatte. »Verräter« riefen ihm Leute auf der Straße hinterher. Es war immer weniger sein Land. Nach den Pogromnächten im November 1938 bekam Rohr mit, dass sein alter Münchner Jugendtrainer Otto Albert Beer ins KZ Dachau verschleppt wurde, auch Kurt Landauer kam nach Dachau. 1939 überfiel die Wehrmacht Polen, kurz darauf erklärte das NS-Regime auch Frankreich den Krieg und in Strasbourg endete das zivile Leben. Im Juni 1940 marschierte die Wehrmacht ein. Rohr flüchtete in den Süden des Landes, nach Sète, wo er natürlich auch Fußball spielte. Als sein neuer Verein, der FC Sète, 1942 das französische Pokalfinale erreichte, konnte der Stürmerstar nicht mit, denn Paris war da schon von den Deutschen besetzt. Rohr ging, wie viele deutschen Emigranten, nach Marseille. Voloj und Podolec nutzen ihre Graphic Novel, um – beinah nebenbei – auf eindringliche Weise die Situation der Flüchtlinge und die Hilfsangebote, die es etwa von dem US-Amerikaner Varian Fry gab, zu schildern. Rohr, der ja kein Emigrant, kein Flüchtling war, nutzte das nichts. Aber auch er wurde vom Vichy-Regime verfolgt und wegen »Verbreitung kommunistischer Propaganda« sogar verhaftet, inhaftiert und nach Deutschland abgeschoben. Im KZ Kislau bei Karlsruhe war er kurze Zeit interniert, dann schickte ihn die Wehrmacht an die Ostfront. Seine Familie befürchtete, dass dies seinen sicheren Tod bedeuten könnte. Aber Rohr, der Held der deutschen Fußballmeisterschaft von 1932, hatte Glück. Ein Offizier gab sich als Bayern-Fan zu erkennen und verschaffte ihm einen Platz in einem Verletztenrücktransport. So überlebte Oskar »Ossi« Rohr den Zweiten Weltkrieg und so endet die Graphic Novel, die an seine Geschichte erinnert. Nach 1945 entschied sich Rohr, in Deutschland zu bleiben, kickte noch bei ein paar Vereinen und wurde später Angestellter bei der Stadt Mannheim. 1988 starb Rohr. Vergessen war er nicht unbedingt, vielen Bayern-Fans ist er noch wegen der Meisterschaft 1932 bekannt, aber seine Geschichte, seine Haft, seine KZ-Internierung, seine Zeit an der Ostfront sind kaum bekannt. Podolec, ein polnischer Zeichner, und Voloj, der aus Münster stammt und in den USA lebt, haben sich mit viel historischem und fußballerischem Verstand und sehr behutsamen Zeichnungen dieses Menschenlebens angenommen und so eines der würdigsten Andenken geschaffen, die man sich vorstellen kann. Julian Voloj, Marcin Podolec: Ein Leben für den Fußball. Die Geschichte von Oskar Rohr. Carlsen, Hamburg 2020, 152 Seiten, 22 Euro
Martin Krauss
Martin Krauss: Über das Leben des Fußballers Ossi Rohr erschien eine wunderbare Graphic Novel
[ "Fußball", "Comics" ]
Sport
26.03.2020
https://jungle.world//artikel/2020/13/einer-wie-ossi?page=0%2C%2C2
»Das ist ohne Zweifel historisch«
Lelya Troncoso Pérez Am 16. Mai gab es in der Hauptstadt Santiago de Chile eine feministische Demonstration mit über 170 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Vergangene Woche demonstrierten dort über 15 000 Menschen. Auch in anderen Städten Chiles gab es große Proteste. Was ging diesen voraus? Der Mai 2018 wurde in Chile »feministischer Mai« genannt, wegen der Stärke, die die feministische Bewegung im Land gewonnen hat. Die Demons­tration am 16. Mai war nicht die erste  und nicht die einzige feministische Demonstration, aber sie stach wegen ihrer einzigartigen Größe heraus und hat die feministische Bewegung mit Macht in die Medien und ins öffentliche Bewusstsein ­gebracht. Die Proteste werden vor allem von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe sowie von Studierenden organisiert, um sexuelle Belästigung und Missbrauch in den Bildungseinrichtungen anzuprangern. Die Universidad Austral im Süden Chiles war die erste, die Mitte April im Rahmen eines feministischen Protests besetzt wurde. ­Später kamen Universitäten in Santiago hinzu und die Besetzungen und Streiks verbreiteten sich schnell an anderen Universitäten. Im Fall der Universidad de Chile war es zuerst die Jurafakultät, wegen des Unmuts darüber, wie dort die Ermittlungen und die Lösung eines Falls ­abliefen, bei dem eine Studentin von einem prestigeträchtigen Professor ­sexuell belästigt worden war. Solche Fälle sorgen seit Jahren für Proteste. Aber erst dieses Jahr hat sich daraus eine Bewegung entwickelt, die ola ­feminista (feministische Welle), die landesweit eine größere Wirkung ­entfaltet. Interessant ist, dass diese Proteste stattfinden, nachdem die Debatte über die Liberalisierung des Abtreibungsrechts vergangenes Jahr sehr an Fahrt aufgenommen hat. Andere wichtige Entwicklungen waren Fälle von Femizid, die große öffentliche Aufmerksamkeit erhielten, die Diskussion über Belästigung auf der Straße und große Demonstrationen im vergangenen Jahr unter dem Motto #niunamenos (Nicht eine weniger). Auch die #metoo-Kampagne beeinflusste Chile, ebenso wie die Fälle von sexuellem Missbrauch in der ­katholischen Kirche, die medial sehr präsent waren, so dass am Papst­besuch viel weniger Menschen teilnahmen als erwartet. Weiterhin sind Dutzende Universitäten in Chile besetzt. Warum hat man sich für diese Form des Protests entschieden? Die Besetzungen sollen Druck ausüben und die feministischen Forderungen deutlich sichtbar machen. In diesem Kontext bekommen die Besetzungen einen anderen Sinn als bei sonstigen studentischen Mobilisierungen, wo es darum geht, intern Druck aufzubauen auf die Fakultät oder die Abteilung, die besetzt wurde. Bei den jetzigen Mobilisierungen gibt es Forderungen, die sich an die Universitäten und Fakultäten richten, aber auch landesweite Forderungen – die wiederum mit globalen verknüpft sind –, da sich die Probleme nicht allein auf lokaler Ebene lösen ­lassen. Was sind die zentralen Forderungen der Besetzerinnen? Die Hauptforderung ist die nach einer »nicht sexistischen Bildung«, danach, alle Formen, von eher expliziten bis zu subtilen, zu beseitigen, in denen sich Sexismus, Machismo, Homo- und Transphobie in der Bildung reproduzieren. Die Parole für eine »nicht sexistische Bildung« kam in Chile zum ersten Mal im Jahr 2011 im Kontext der Schülerproteste für eine kostenlose und hochwertige Bildung auf. Sie speist sich aus einer tiefgreifenden Kritik an der warenförmigen, kapitalistischen und neo­liberalen Gesellschaft. Nach Meinung eines großen Teils feministischer Strömungen stützt das Patriarchat sich auf miteinander verbundene Formen der Unterdrückung, daher wenden sie sich gegen jede Form sozialer Ungleichheit sowie gegen die verschiedenen Institutionen, ­Diskurse und Praktiken, die diese aufrechterhalten: die traditionelle Familie, die Kirche, den Staat und die Bildung als privilegierten Raum der Produktion und Reproduktion von Herrschaftslogik. Ein zentraler Fokus war der schlechte Umgang der Universitäten mit Fällen sexueller Belästigung durch Professoren und Studierende. Aber mit der Forderung nach einer nicht sexistischen oder feministischen Bildung wurde dieser Fokus komplexer und breiter. Kritisiert werden der Mangel an Genderperspektiven und feministischen Studien an den Universitäten und der androzentrische Bias in den Fächern im Allgemeinen, so dass oft sexistische ­Inhalte verbreitet werden. Eine nicht sexistische Bildung versucht auch zu hinterfragen, wie Genderstereotype an den Universitäten entstehen, etwa dass Frauen in als »weiblich« konnotierten Fächern, wie Krankenpflege, ­sozialer Arbeit, Erziehung, weiterhin die Mehrheit bilden und Männer in ­Ingenieurswissenschaften, Jura etc.; und dass »männliche« Fächer mehr wert­geschätzt und besser entlohnt werden. Dozentinnen und weibliche Angestellte der Universitäten beteiligen sich auch mit ihren Forderungen. Sie prangern schlechte Behandlung durch die Universitäten an, machistische Machtverhältnisse, Lohnungleichheit, Karriereeinbußen durch Mutterschaft, den Mangel an gleichwertiger Verantwortung bei der Kindererziehung und vieles mehr. Wie hat die konservative Regierung unter Sebastián Piñera auf die Proteste reagiert? Die amtierende rechte Regierung hat mit einer sehr konservativen Frauen­agenda geantwortet, in der Frauen nur als Mütter oder Festangestellte anerkannt werden. (In der Frauenagenda schlägt Piñera unter anderem einen Rentenbonus für Frauen vor. Davon würden vor allem Frauen mit einem festen Arbeitsvertrag profitieren, während die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts weitergeht und arme und prekär arbeitende Frauen weniger Rente ­bekommen, Anm. d. Red.) Die Agenda legt zwar einen Fokus auf die Beseitigung von Gewalt, aber ohne auf weitergehende Forderungen, wie die nach einer nicht sexistischen Bildung, einzugehen. Die Rechte will die feministische Agenda nicht der Linken überlassen. Und obwohl die Rechte weiterhin feministische Forderungen zurückweist und nicht versteht, was ­Feminismus bedeutet, hat sich eine (im rechten Sinne) »politisch korrekte« Idee von Geschlechtergleichheit dadurch etabliert, dass sich viele rechte Frauen nun selbst als Feministinnen bezeichnen. Das stieß auf große Ablehnung bei jenen Feministinnen, für die Feminismus nicht rechts sein kann, da er notwendigerweise antikapitalistisch und antineoliberal ist. Die Feministin Daniela López von der Autonomen Linken schrieb, die ­Tatsache, dass die Forderung nach einer nicht sexistischen Bildung von Piñera nicht aufgegriffen wurde, sei kein Zufall. 2011 machten ihm die Bildungsproteste in seiner ersten Amtszeit schwer zu schaffen und sorgten schließlich mit für seine Abwahl. Sich um eine nicht ­sexistische Bildung zu kümmern, würde bedeuten, die Bildungs­reform anzugehen, was erneut zu einer Niederlage der Regierung führen könnte, so López.
Nicole Tomasek
Nicole Tomasek: Lelya Troncoso Pérez, Sozialpsychologin, über die feministischen Proteste in Chile
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Interview
14.06.2018
https://jungle.world//artikel/2018/24/das-ist-ohne-zweifel-historisch?page=0%2C%2C0
Gute Zusammenarbeit
Fälscher. Wenn man den Milli-Vanilli-Skandal mit der Causa Guttenberg zusammenlegen und dann noch die gefälschten Hitler-Tagebücher draufpacken würde, hätte man ungefähr die Dimensionen, die der Täuschungsfall Mamoru Samuragochi in Japan besitzt. Der angeblich gehörlose Samuragochi war nicht nur als Komponist für den Soundtrack des populären Game »Resident Evil« bekannt, sondern auch für seine Hiroshima-Symphonie. Erst hatte der als »japanischer Beethoven« gefeierte 50jährige Musiker zugegeben, dass seine Werke zu einem großen Teil gar nicht von ihm selbst stammen, sondern mit Hilfe eines Ghost-Komponisten entstanden sind, dann wurde bekannt, dass der Künstler, der angegeben hatte, dass er mit 35 Jahren sein Gehör verloren habe, gar nicht taub ist. Zumindest sagt der Musiklehrer Takashi Niigaki, der für Samuragochi als Ghost-Komponist gearbeitet haben will, dass er sich mit ihm ganz normal unterhalten habe. Vielleicht sollten sie ihre gute Zusammenarbeit als Duo fortsetzen.   HER Schneller anziehen Barbie. Mit Magerwahn und Modelmaßen hat das alles gar nichts zu tun. Die Barbie propagiert mit ihren unnatürlichen Proportionen kein Schönheitsideal, vielmehr gibt es praktische Gründe dafür, dass die Spielzeugfigur so ist, wie sie ist. Das enthüllte Kim Culmone, Vize-Chefdesignerin für die Barbie bei Mattel, in einem Interview mit der US-amerikanischen Internetseite Fast Company Design. »Der Körper der Barbie sollte niemals realistisch sein«, erklärte Culmone. »Sie wurde so konzipiert, damit Mädchen sie leicht an- und ausziehen können«, so die Designerin. »Nicht alles wird jeder Puppe passen, aber es ist mir wichtig, dass die meisten Sachen passen, denn das war schon so, als ich noch ein kleines Mädchen war. Es gibt eine Verpflichtung zur Beständigkeit. Es sei denn, dass es in Zukunft einen wichtigen Grund gibt, den Körper zu verändern – entweder wegen eines neuen Design- oder Funktionsimperativs.« Vielleicht näht man der Puppe einfach mal weitere Klamotten.   HER Das Altern des Pop Dieter Bohlen. Er wurde ja nicht mal gehasst, sondern einfach immer ignoriert von der Kulturkritik: Dieter Bohlen, der Typ, der die gesammelten Modepeinlichkeiten der Achtziger auf sich vereinte, also Jeansjacke, Vokuhila und schrittbetonte Wrangler, und Lieder sang, die nur aus einfältigem Refrain bestanden und für den Popdiskurs verloren waren. Lediglich Rainald Goetz fand, dass Modern Talking Diskurspotential besaß. Aber erstens galt sein Interesse vor allem Thomas Anders und zweitens stand Goetz damals selbst noch unter dem Verdacht, ein Niveauabsenker zu sein; also kam die Bohlen-Debatte nicht in Schwung. Inzwischen singt Bohlen nicht mehr selbst, sondern überzieht die Charts mit zweifelhaften One-Hit-Wonders aus seiner Castingshow-Maschine und verdient sein Geld mit Reklame für Grillwürstchen, cholesterinsenkende Margarine und Versicherungen. Vielleicht wird der Mann, der in der vergangenen Woche 60 wurde, in ferner Zukunft mal Gegenstand einer kritischen Kulturarchäologie.   HER Dieser Pulli! Klaus Wowereit. Von wegen »Gut so!«. Ganz schlecht schneidet Berlins Regierender Bürgermeister gerade ab. Nicht nur, dass Wowereit das Pannenprojekt von Schönefeld maßgeblich verantwortet und seinen Kulturstaatssekretär wegen Steuerhinterziehung seines Amts entheben musste, jetzt lässt sich Wowereit auch noch richtig gehen. Mit einem schlabbrigen Pulli in Popelfarbe wie vom Kik-Wühltisch und langen fettigen Haaren zeigte er sich bei einer SPD-Klausurtagung. Dabei ist Wowereit angeblich Kunde beim Promi-Friseuer Udo Waltz und war 2008 gemeinsam mit Ole von Beust »bestangezogener Politiker«. Inzwischen sieht er ein bisschen so aus wie der Durchschnittsberliner, verarmt und unsexy.   HER
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dschungel
13.02.2014
https://jungle.world//artikel/2014/07/gute-zusammenarbeit?page=0%2C%2C1
Wildgewordenes Rudel
Wer es wie Marlene Stark schafft, auf wenigen Zeilen sowohl Flash Gordon als auch David Lynch und die Ladenkette TK Maxx zu erwähnen, der kennt sich aus auf den Tanzflächen dieser Welt. Nicht auf den Dancefloors mit Unterbodenbeleuchtung und »White Night«-Mottonächten, sondern auf denen, die punkig und siffig sind. Man fühlt sich zu Hause in solchen Läden, die seltsam riechendes Bier in ungespülten ­Gläsern servieren. Über die ausschweifenden Nächte des Berliner Undergrounds konnte man 2019 im Roman »M« mehr erfahren. Geschrieben hat ihn neben Anna Gien die Autorin, Musikerin und DJ Marlene Stark. Im Umfeld des Kellerclubs Sameheads (in dem bis vor kurzem wohl eine der lebensbedrohlichsten Treppen der Hauptstadt zu finden war) machte sich Stark in den vergangenen Jahren nicht nur einen Namen als Veranstalterin, sondern schärfte auch ihre musikalischen Sinne, was nun zu ihrem ersten Album führte. Nicht mehr und nicht weniger als die Matrone des Tierreichs, die Hyäne, suchte sich Stark als Symbol für ihr musikalisches Debüt aus. Die eigentliche Gefahr geht auf »Hyäne« dennoch nicht von einem Exemplar der sich matriarchalisch organisierenden Tierart aus, sondern von den sieben Tracks, die hier versammelt sind. Wie von einem wildgewordenen Rudel wird man von Post-Rave, Industrial und Reminiszenzen an die Neunziger umzingelt. Da ist der Opener »Beruhig dich mehr«, der klingt wie eine Prügelei zwischen Tricky und Goldie; von hinten schleicht sich die Weird-Wave-Nummer »Was ist feucht?« mit dezent versautem Text an; und in der Mitte schlägt das behäbig schreitende Stück »Meine Hand« selbige mitten ins Gesicht. Warum es sich lohnt, dieser Hyäne besondere Beachtung zu schenken, beweist Stark mit dem titelgebendem Stück zum Ende der Platte dann doch noch einmal selbst: Acid-Sound, der von wüsten Drums in den Schatten gestellt wird, ebnet den Weg für tribalistische Chants wie aus Crazyhausen. Und das klingt wirklich richtungsweisend. Marlene Stark: Hyäne (Lustpoderosa)
Lars Fleischmann
Lars Fleischmann: »Hyäne« von Marlene Stark
[ "Musik" ]
dschungel
17.12.2020
https://jungle.world//artikel/2020/51/wildgewordenes-rudel?page=0%2C%2C2
Petrodollars für die Kurden
"Oil For Food" ist die gängige Bezeichnung des UN-Programmes, das dem Irak seit anderthalb Jahren einen begrenzten Ölverkauf zugunsten humanitärer Programme erlaubt. Die dahinterstehende Resolution UNSCR 986, die angesichts der anhaltenden Auseinandersetzungen um die UN-Abrüstungskontrollkomission Unscom kaum beachtet wird, ermöglicht das größte zusammenhängende Hilfsprogramm, das die UN seit ihrem Bestehen in einem Land durchführen. Erlaubt wird dem Irak unter Beibehaltung des Wirtschaftsembargos der Verkauf von Öl im Wert von fünf Milliarden US-Dollar pro Halbjahr. Damit reagierten die UN auf die enorme Verarmung der irakischen Bevölkerung - die mit dem 1990 in Kraft getretenen Vollembargo einsetzte -, ohne zugleich die Sanktionen gegen das irakische Regime aufzuheben. Verhindern wollen die UN so, daß Saddam Hussein ein neues militärisches Aufrüstungsprogramm startet. Während im Zentral- und Südirak die irakische Regierung selbst unter Aufsicht der UN die Not der Bevölkerung lindern, aber auch langfristige infrastrukturelle Aufbaumaßnahmen durchführen soll, sind die UN im kurdisch kontrollierten Nordirak direkt für die Implementierung des Programms zuständig. Von der Gesamtsumme sind jeweils ca. 500 Millionen US-Dollar für den Norden bestimmt, bisher errreichten allerdings nur 300 Millionen die selbstverwalteten kurdischen Gebiete. Seit nunmehr anderthalb Jahren, in denen das Programm läuft, ist der Irak also gezwungen, den Wiederaufbau der vormals völlig zerstörten kurdischen Gebiete mitzufinanzieren. Dörfer, die vor zehn Jahren während der sogenannten Anfal-Kampagne dem Erdboden gleichgemacht wurden, werden nun mit Petrodollars wiederaufgebaut. "Erstmals", so meint der Leiter einer kurdischen Hilfsorganisation, "profitieren wir wenigstens etwas von dem Ölreichtum des Landes." Die der irakischen Regierung aufgezwungene Finanzierung des Wiederaufbaus der kurdischen Regionen kann implizit als "Wiedergutmachung" verstanden werden: Mit der Abkopplung vom humanitären Programm im restlichen Irak und einer getrennten Budgetierung haben die UN den faktischen Autonomiestatus der Region untermauert. Vor allem die Verteilung von Grundnahrungsmitteln, die unter der Aufsicht der Welternährungsorganisation (WFP) durchgeführt wird, gilt als effektiv. Seit Beginn des 986-Programmes in den kurdischen Gebieten gilt die Subsistenz der Bevölkerung als gesichert. Herrschte vorher besonders unter den "internal displaced persons", der ärmeren Stadtbevölkerung und jenen Gruppen, die nicht in ihre Dörfer zurückgesiedelt werden konnten, akute Nahrungsmittelknappheit, gilt dieses Problem vorläufig als gelöst. Für die nach wie vor zahlreichen vor Ort arbeitenden Nichtregierungsorganisationen (NGO) könnte dies die Chance bieten, ihre Kapazitäten auf einen langfristigen und substantiellen Wiederaufbau der Region zu lenken, anstatt in Nothilfeprojekten zu verharren. Andere Maßnahmen allerdings werden von seiten nationaler und internationaler Hilfsorganisationen heftig kritisiert: Die UN arbeiteten zu langsam und bürokratisch. So würden etwa Programme im agrikulturellen Bereich, beim Wiederaufbau zerstörter Dörfer oder die landesweite Renovierung von Schulen zu langsam vorangehen und selten mehr als 30 Prozent der vorgesehenen Maßnahmen im anvisierten Zeitrahmen durchgeführt. Besonders für lokale und internationale Hilfsorganisationen wirkt sich 986 oft negativ aus, sind doch die vormaligen Geldgeber für das humanitäre Programm, das seit 1991 duchgeführt wird, weggefallen: die US-Regierung und die EU. Diese, so wird kritisiert, seien bei der Geldvergabe wesentlich unbürokratischer gewesen und hätten effektivere Arbeit geleistet. Vergessen wird dabei gerne, daß die UN alle bestehenden Programme mehr oder weniger gegen den Willen der irakischen Regierung hat durchsetzen müssen. Diese hat wenig Interesse an einem erfolgreichen Verlauf der Maßnahmen, da sie auf die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen hinarbeitet. Würde sich im Gesamtirak das 986-Programm als effektives Mittel zur Hilfe für die Zivilbevölkerung erweisen, fiele das Hauptargument der Regierung, die Not der Bevölkerung, weg. An einem nachhaltigen Aufbau der kurdischen Gebiete hat die irakische Regierung noch weniger Interesse, wird doch damit systematisch seit nunmehr sieben Jahren versucht, die Resultate der irakischen Politik der verbrannten Erde rückgängig zu machen. So verwundert es nicht, daß Bagdad alles daran setzt, das Programm zu verschleppen. Für die sogenannte Phase 5 des Programmes, die im November starten soll, fehlt bis heute die Zustimmung des Irak. Sollte Saddam die weiterhin verweigern, wäre das ganze Programm in Frage gestellt - die Folgen wären katastrophal. Denn so wirkungsvoll die Implementierung der Resolution 986 für die kurdischen Gebiete derzeit ist, sie droht dennoch zugleich jene Abhängigkeit der Kurden von ihren Geldgebern zu vertiefen, die in den vergangenen Jahren zu einer vollständigen politischen und sozialen Paralysierung der Region geführt hat. Sollte das Programm gestoppt werden, so wären die verbliebenen NGOs nicht in der Lage, auch nur einen kleinen Teil der Versorgung wirkungsvoll zu übernehmen. Hier zeigt sich die Hauptschwäche des Programmes: Seine Durchführung hängt direkt von der Bereitschaft Husseins ab, das Oil For Food-Programm weiter mitzutragen. So viele Fehler und Schwächen 986 auch aufweist, es besteht zur Zeit keine einzige tragfähige Alternative für die kurdischen Gebiete. Laute Kritik an der Arbeit der UN im Nordirak wird von vielen Seiten geäußert. Eine Kritik, die in Bagdad auf offene Ohren stieß und das Außenministerium umgehend veranlaßte, einen Brief an den UN-Generalsekretär Kofi Annan zu schreiben. Da selbst die UN einsehe, so der Inhalt, daß sie im Nordirak ohne Regierungskontrolle nicht effektiv arbeiten könne (die beiden kurdischen Parteien KDP und PUK, die das Gebiet kontrollieren, das seit internen Parteienkämpfen zwischen ihnen aufgeteilt ist, werden von Bagdad als anarchische Banden und Spione der USA diffamiert), sei es von daher nur billig, ihr, der irakischen Regierung, diese Aufgabe zu übertragen. Daß derlei Offerten des irakischen Regimes in jüngster Zeit verbunden sind mit der Weigerung, den Kontrollaufträgen im Rahmen des Abrüstungsprogrammes nachzukommen, verweist auf ein grundlegendes Dilemma der UN-Politik im Irak. Alle Programme und Resolutionen seit 1991 stellen lediglich Modifikationen des UNSCR 688 dar. Deren zentrale Forderung - vollständige Abrüstung irakischer B- und C-Waffen sowie die Zerstörung von Langstreckenwaffen und deren Komponenten - ist durch keine neuere Resolution außer Kraft gesetzt worden. Vorstöße in dieser Richtung wurden bislang erfolgreich von der US-amerikanischen und der britischen Regierung verhindert. Die ursprüngliche Resolution 688 rechtfertigte nicht nur den militärischen Eingriff 1991, sondern die dauerhafte Kontrolle des Irak, die zum Zeitpunkt der Beschlußfassung die Interessen der an der Anti-Irak-Koalition beteiligten Staaten widerspiegelte. Diese haben sich zwischenzeitlich verschoben. Im Zuge des schwindenden US-Engagements im Nahen Osten und einhergehend mit der Wiederbelebung außenpolitischer Beziehungen Frankreichs zum Irak ist die einstige Zweckkoalition längst zerbrochen. Frankreich profitiert nicht unbeträchtlich davon, daß die US-Hegemonie nicht zuletzt durch den gescheiterten Friedensprozeß an Boden (und Rechtfertigung) verliert. Während das einstige stabilisierende Element der Region, Israel, unter Benjamin Netanjahu zu einem Risikofaktor geworden ist, konnte sich das einst wegen der Unterstützung anti-israelischer Terrorgruppen international diskreditierte syrische Regime politisch und ökonomisch konsolidieren. Erst Mitte August unterzeichneten die ehemals verfeindeten Baath-Regierungen Syriens und des Irak ein Abkommen über eine Ölpipeline, dessen Umfang vorsichtig auf etwa 200 bis 300 Millionen US-Dollar geschätzt wird. Nahezu zeitgleich wurde Syriens Diktator Assad als Staatsgast in Paris empfangen. Das US-amerikanische Festhalten an der Fortsetzung der Unscom-Mission ist weniger der Einsicht in die Gefährlichkeit irakischer Waffen geschuldet als vielmehr der Tatsache, daß ein jahrzehntelang als US-amerikanisch angesehenes Terrain nach und nach von der Konkurrenz erobert wird.
thomas von der osten-sacken, thomas uwer und »wadi e.v.«
thomas von der osten-sacken, thomas uwer und »wadi e.v.«:
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Ausland
30.09.1998
https://jungle.world//artikel/1998/40/petrodollars-fuer-die-kurden?page=0%2C%2C3
Wo alles begann
HipHop Boulevard. Bürgermeister Bill de Blasio ist sich sicher, es kann nur in seinem New York gewesen sein, in der Bronx – der Sedgwick Avenue, um genau zu sein –, wo HipHop geboren wurde. Die Legende will es so: In der besagte Straße drapierte der aus Jamaika stammende Clive Campbell eines Abends mehrere Plattenspieler nebeneinander. Es war der 11. August 1973, Campbell beschallte die Geburtstagsparty seiner Schwester – und setzte aus mehreren Stücken einen neuen Beat zusammen. Campbell ging als Kool DJ Herc in die Geschichte ein und beschert nun der Stadt, über vier Jahrzehnte später, eine Straße namens HipHop Boulevard. Irgendwie rührend. oko Auf der anderen Seite Umfrage. Die meisten Leute nerven, mit zunehmendem Alter wird es schlimmer. Insofern sind die Emnid-Umfrageergebnisse des evangelischen Monatsmagazins Chrismon nicht verwunderlich: Während sich ein Drittel der 14- bis 29jährigen vorstellt, dass mit dem Tod der Vorhang endgültig fällt, sind es bei den über 60jährigen 49 Prozent. Besonders Menschen mit höherem Einkommen glauben, dass ihre Seele nach dem Tod als Teil von etwas Größerem weiterleben wird, an eine Aufteilung von Himmel und Hölle glauben der Studie zufolge vor allem Geringverdiener. Vielleicht weil sie sich nach dem Tod nicht abgeben wollen mit den Philistern im Himmel und lieber als kettenrauchende Skelette auf Motorrädern um Feuersbrünste herumknattern wollen. Sehr nachvollziehbar. oko Anstrengung muss sich lohnen Die 88. Academy-Awards. Erst der riesige Grizzlybär, der ihn mit seinen Klauen aufknüpft, dann die frostigen Nächte allein im Staub, der Absturz mit dem Pferd, rohe Bisonleber im Mund – nein, ein Mensch allein hätte eigentlich nicht überleben können, was dieser Pelztierjäger namens Hugh Glass wegsteckte, einer hätte sich nicht schmuddeliger machen können, um Rache zu nehmen. Und um endlich diesen verdammten Oscar verliehen zu bekommen. Nun wurde Leonardo DiCaprio ausgezeichnet. Endlich. Und verdientermaßen, wie viele meinen. Und der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu gleich mit. Denn größere Bilder hätte ein Regisseur allein nicht liefern können. Zwei Anstrengungs-Oscars für »The Revenant«, die meisten, wenn auch in weniger wichtigen Kategorien, sammelte »Mad Max« ein und zum besten Film wurde »Spotlight« gewählt, der auch den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhielt. Chris Rock moderierte die Oscar-Verleihung und thematisierte die Debatte, dass in den wichtigsten Kategorien keine Afroamerkianer nominiert waren: »Warum protestieren wir? Warum bei diesen Oscars?«, fragte er, da das Problem nicht neu sei. Für seine Antwort verwies er auf die Geschichte: »Wir waren damit beschäftigt, vergewaltigt und gelyncht zu werden. Wenn deine Großmutter an einem Baum hängt«, dann sei einem egal, welche die beste Dokumentation sei. Bei der Verleihung der Goldenen Himbeere räumte der Favorit »Fifty Shades of Grey« ab: schlechtester Film, schlechtestes Drehbuch, schlechteste Schauspieler, schlechteste Schauspielerin, schlechtestes Schauspieler-Duo. oko Guter Gag Ed Force One. Bruce Dickinson ist Frontmann der legendären Heavy-Metal-Band Iron Maiden. Und er ist auch Pilot des bandeigenen Tourjets Ed Force One, einer großen Boeing 747, die vorige Woche in Dortmund landen sollte, damit Iron Maiden beim Festival »Rock im Revier« spielen konnten. Was muss das für ein Fest im Flieger gewesen sein, als vom Tower gemeldet wurde, die Maschine sei einfach zu heavy für den Flughafen? Die Ed Force One bringt ein Leergewicht von 185 Tonnen auf die Waage, in Dortmund sind aber nur 100 Tonnen zugelassen. oko
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dschungel
03.03.2016
https://jungle.world//artikel/2016/09/wo-alles-begann
Home Story
Wenn man die Jungle World liest, denkt man: Super! Kritk am neoliberalen Arbeitsethos, am Selbstoptimierungswahn und dem ganzen Diszplinierungsterror wie Clean Desk Policy und Teambuilding-Seminaren zur Bekämpfung des schlimmen Sucker-Effekts! Dafür jede Woche Lobeshymnen auf Hedonismus, Anarchie, Kreativchaos, Spontanität, Querschlägertum und Antiautoritäre. Wahrscheinlich sind es die genialen Anarchisten, die in diesem zwanglosen Redaktionsdschungel die Movers und Shakers sind und dafür die Königskrone aufgesetzt bekommen. Also hätte er doch ein würdiger Aspirant für die Krone sein müssen: der Bachelor im dunkelblauen Vintage-Pulli mit dem subkulturellen Kapital in der abgewetzten Umhängetasche. Beim Rumstehen im Berghain ist er genauso lässig wie beim Match auf dem Tennisplatz. Legendär entspannt sein Aufschlag auf der ansonsten eher stressigen Redaktionskonferenz. Erstmal Kaffee und Kuchen, dann Diskussionen. Oder sind wir hier vielleicht beim Focus? Fanpost. Waschkörbeweise. Unveröffentlicht, ein Auszug: »Jede Woche, immer wieder neu, die Kopfzeile im Dschungel-Feuilleton, die vier Kästchen, die auch meistens was miteinander zu tun haben. Da habe ich schon manch guten Link gefunden. Dafür danke.« Vergelt’s Gott, merci, chérie. Dass man in diesem Laden nicht nur Sahra Wagenknecht, sondern auch Kate Moss und Julie Burchill kennt, geht auf’s selbe Konto. Punk, Baby, genau. So was im Dschungel durchzusetzen, kann aber härter sein, als Känguruhoden und faule Enteneier zu essen. Gerade die schwere Aufgabe erledigt unser Kanditat mit verbaler Leichtigkeit. Nachrufe auf Popdiven und Legenden des Jazz werden verfasst, Trends antizipiert, Kritiken über Kino, US-Serien und trauriges deutsches Fernsehen aus der Hüfte geschossen. Etwas vom Glanz von The Wire und vom Trash des Vice fällt auf die Jungle World ab in Texten mit Titeln wie »Inkorrektes Hosen-Zelt aus Stoff und Sorgen« (über den Seinfeld-Spin off »Curb your Enthusiasm«), »Der letzte Engtanz« (zum Tod von Patrick Swayze) und »Ja, spinnt ihr denn jetzt alle?« (über die Konkurrenz zwischen Machos und Metrosexuellen). Ein bisschen enttäuschend ist es nun schon, dass der letzte Redaktionsanarchist hinter den Kulissen der Selbstoptimierungskritik kein Krönchen bekommen hat. Nicht mal ein Thrönchen. Dabei heißt es doch immer, Anarchie sei prima für Betrieb und Klima.
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Homestory
07.03.2013
https://jungle.world//artikel/2013/10/home-story?page=0%2C%2C3
Schönes neues Einzelgängertum
Es ist noch gar nicht lange her, da wandelte ein barfüßiger, obdachloser, drogenverstrahlter Richard Ashcroft durch ein englisches Kaff namens Wigan. Er hatte kein Geld, er war verzweifelt und wenn er auf eine Scherbe trat, merkte er es nicht mal mehr: Das Leben war ohnehin schmerzhaft genug. Das ist lange her. Heute - knapp fünf Jahre später - hat er eine Frau, die ihn liebt, einen Sohn, ein gregorianisches Landhaus in der Nähe von Bristol, die eine oder andere Million auf dem Konto, und ganz nebenbei ist er noch einer der coolsten Popstars, die übers Erdenrund slackern. Danke. Danke an wen auch immer, dass es Richard Ashcrofts Schicksal nicht hatte sein sollen, uns den Rest seines Lebens stinkende Räucherstäbchen, mieses Hasch oder schlechte Trips zu verkaufen, was wahrscheinlich die durchschnittliche Resozialisierungs-Erwartung für obdachlose englische Hypersensibelchen mit Hang zum Übersinnlichen ist. Danke. Lieber kaufen wir ihm aufs Neue ein knappes Dutzend Songs ab, die uns alle trauriger und dadurch glücklicher machen. Seit einigen Jahren wird man nun schon von der Britpop-Bagage verfolgt, die Protagonisten sind immer noch dieselben Jungs, die in Wirklichkeit längst Männer sein sollten: Noel und Liam Gallagher von Oasis, Jarvis Crocker von Pulp, Damon Alburn von Blur. Abwechselnd hauen sie sich auf die Fresse und schaukeln sich die Eier, während es Kokain schneit. Die besten Egozentriker kommen in die Jahre, machen mal mehr, mal weniger gute Alben und verwandeln sich dabei in ihre eigenen Karikaturen. Und Richard Ashcroft, Sänger der mittlerweile aufgelösten Band The Verve, ist mit von der Partie. Richard Ashcroft, der derzeit überall verkündet, sich mit 28 Jahren schon dreimal so alt zu fühlen. Zwischen den anderen Haudegen repräsentiert er den vom Schmerz aus der Bahn geworfenen Künstler, gezeugt im 19. Jahrhundert, wiedergeboren im Hier und Jetzt und davon gründlichst verwirrt. »Mad Richard«, wie ihn seine Fans ehrfürchtig und anerkennend titulieren. Und es scheint, als schmeichelte ihm das auch noch. Beschwert hat er sich darüber bis jetzt noch nicht. Schönes neues Einzelgängertum. »Alone With Everybody« heißt Ashcrofts erste Solo-CD nach knapp zehn Jahren mit The Verve. Leider kann auch an dieser Stelle nicht eindeutig berichtet werden, warum Ashcrofts Band sich vor gut einem Jahr auflöste. Die ehemaligen Bandmitglieder schweigen sich darüber aus, und auch die Reporterin von The Face stocherte zwar in tagelangen Interview-Sessions in der Band-Vergangenheit herum, förderte aber keine grundlegend neuen Fakten zu Tage, sondern nur das, was man sich ohnehin schon selbst denken konnte: Ein Haufen Egozentriker nimmt viel zu viele Drogen und hat viel zu viel Erfolg in viel zu kurzer Zeit. Als Erklärung ist das überzeugend und ausreichend, aber Ashcroft wird nicht müde, in jedem Interview zu betonen, dass die eigentlichen Gründe, die zur Trennung von The Verve führten, so wahnsinnig »fuckin' unbelievable« seien, dass die Zeit einfach noch nicht reif dafür sei, sie an die Öffentlichkeit weiterzureichen. Erst wenn er tot sei, sei es an der Zeit, die Geschichte wieder aufzurollen. Womit er dann meist bei seinem Lieblingsthema angekommen ist: Denn der Tod spielt in Ashcrofts Leben eine entscheidende Rolle. Sein Vater starb, als er elf Jahre alt war, ein Erlebnis, von dem er sagt, dass es ihn wahrscheinlich erst dahin gebracht habe, wo er heute ist. Seitdem zieht sich der Tod als Thema durch seine Musik und ist in seinen Interviews beliebtes Thema eingehender Erörterungen: »Wenn meine Frau sterben würde, könnte ich auch nicht mehr leben.« »Erst wenn ich tot bin, kann die Verve-Biographie geschrieben werden.« Das kann schnell peinlich werden. Rock'n'Roll handelt von Grenzerfahrungen, Risiko und Tod. Als Symbolik und Ritualisierung, wie zum Beispiel im Gothic oder Death Metal oder als ganz reale Selbstzerstörung, die nicht verheimlicht wird oder nicht mehr verheimlicht werden kann und in der Folge nicht selten zum Tod führt. Die eine Variante ist nur bedingt interessant, weil sie immer gleichen Schemata folgt, die andere Variante ist schlicht traurig. Ashcroft kann man keiner der beiden Gruppen eindeutig zuschlagen, ein wenig hängt er der zweiten Kategorie nach, freilich ohne groß angelegte Tragik. Trotzdem handelt sein wirklich allerschönstes Stück vom Tod. Es wurde vor zwei Jahren mit James Lavelle für dessen Unkle-Projekt aufgenommen. In »Lonely Souls« singt Ashcroft: »I want to die in a place, where no one knows my name.« Und die Geigen schwingen sich dazu himmelwärts. Beim Rest der singenden Zunft würden sich einem ob dieser Worte die Zehennägel hochrollen, bei Ashcroft funktioniert es. Oder, um es mit den Worten von James Lavelle zu sagen: »Als Richard diesen Text sang, war ich so gerührt wie nie zuvor in meinem Leben.« Das neue Album »Alone With Everybody« reißt einen nicht in derartig extreme Gefühlszustände. Es entlockt einem den ein oder anderen tiefen Seufzer. Es ist Musik für Leute, die von Weltreisen träumen, aber ihr Zuhause nie verlassen. »Ich will die Leute mit diesem Album anrühren wie Elvis«, sagt Ashcroft. Doch mit Elvis liegt er verkehrt. Unbescheiden ist er deswegen trotzdem nicht. Es ist Lee Hazelwood, ohne das Augenzwinkern, gepaart mit Arrangements, die zum Teil an Phil Spector erinnern. Und es ist das erste Album, das schon zu Sommerbeginn den Herbst einläutet. Danke, Richard. Danke, Richard, dass du uns zeigst, was Mitgefühl heute noch bedeuten kann. Wir fühlen mit dir. Der Hall deiner wunden Seele klingt in unseren Ohren nach und lässt uns immer wieder aufs Neue aufseufzen. Jeder Song ein Werk, dein Album eine bittersüße Symphonie. Richard Ashcroft: »Alone With Everybody«. Virgin
heike blümner
heike blümner: Britpop-Solo von Richard Ashcroft
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dschungel
05.07.2000
https://jungle.world//artikel/2000/27/schoenes-neues-einzelgaengertum?page=0%2C%2C1
Vernichtet Böses!
Der letzte linke Student ist verzweifelt. Denn er las in einer Zeitung, dass Hitler gelesen hat. Und nicht nur das: Hitler hat viel gelesen! Ja: Hitler hat sogar sehr viel gelesen. Dazu kommt, alles verschlimmernd: Hitler hat nicht nur Karl May gelesen. Nein, Hitler hat sogar Marx gelesen! Und andere Werke, die überhaupt nicht dumm sind. Nun muss sich der letzte linke Student fragen: kann das sein? Und dann muss sich der letzte linke Student sagen: das kann nicht sein! Denn: wer liest, wird schlau. Wer schlau ist, erkennt die Welt. Wer die Welt erkennt, erkennt die Missstände in der Welt. Und wer die Missstände in der Welt erkennt, was will der? Klar, der, der die Missstände in der Welt erkennt, der will die Revolution. Damit: die Missstände aufhören. Aber: dass Hitler gelesen hat, ist unbezweifelbar. Es gibt Fotos, auf denen Hitler liest. Nun kann man sagen: diese Fotos sind gefälscht. Allerdings: ist das unwahrscheinlich. Das wiederum heißt: Hitler hat gelesen. Und zwar: böse Bücher. Querverweis: die Existenz böser Bücher ist erwiesen. Hitler selbst nämlich: hat eins geschrieben. Das heißt: »Man muss wissen, was Hitler gelesen hat. Die Bücher muss man einsammeln und vernichten. Alle. Überall. Dann sind zumindest viele böse Bücher eliminiert, wenn nicht gar alle!« Dieser Gedanke findet sich selbstredend im besonderen Notizbuch. Bleibt zu fragen: was ist mit Marx? Sind Marxens Bücher auch böse? Doch auch hier fällt die Antwort leicht. Sie lautet: Hitler kann Marx nicht gelesen haben. Sonst: wäre er ja gut geworden. Und man weiß auch: es gibt keine Fotos, auf denen Hitler Marx liest. Dies wiederum ist ex negativo: auch ein Beweis für die obige These. Daher beruhigt sich der letzte linke Student wieder. Und auch wir sollten uns wieder beruhigen, durchs Denken wird alles gut.
Jörg Sundermeier
Jörg Sundermeier:
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dschungel
15.01.2009
https://jungle.world//artikel/2009/03/vernichtet-boeses?page=0%2C%2C0
Sobald es anstrengend wird, hat man verloren
Es gibt keine Sportart, die ich mit besonderer Konsequenz verfolge – bis auf das Spazierengehen. Nein, nicht mit Nordic-Walking-Stöcken in den Pfoten oder in lächerlichen bunten Strampelanzügen. Auch nicht mit Musikknöpfen im Ohr oder der Zeitung unterm Arm. Mit Arbeit hat Spazierengehen nichts zu tun, ja die Abschaffung von Arbeit ist sogar das ganze Ziel der Übung. Spazierengehen ist in erster Linie ein Denksport – handelt es sich doch um die gedankliche Organisation von Zwecklosigkeit. Natürlich hat man ein Ziel – eine bestimmte Gegend ansehen, ein gutes Wetter oder eine momentan aufgehellte Stimmung ausnutzen. Aber das alles hat gleichsam zufällig zu erfolgen. Karten und Navi sind tabu, ebenso Wege, die querfeldein führen. Dagegen muß viel gerastet, geguckt und gebrotzeitet werden. Sobald es anstrengend wird, hat man verloren. Ganz allgemein ist man verpflichtet, sich so zu bewegen, als wäre man von einer fremden Macht auf einem neuen, viel angenehmeren Planeten ausgesetzt worden, den man in aller gebotenen Zurückhaltung erkundet. Ich möchte ein gutes Beispiel für eine klassische Spazier-Partie schildern. Vor einer Weile hörte ich von einem mir bis dato unbekanntem Frankfurter Park, dem Huthpark. Aus zweierlei Gründen war ich von diesem Ziel wie verzaubert. Erstens allein durch den Umstand, daß mir nach mittlerweile sieben Jahren Wohnhaft in Frankfurt die Existenz einer kompletten Parkanlage verborgen geblieben war. In meiner Phantasie gewann die Anlage den Reiz eines Bermuda-Dreiecks, eines versunkenen Aztekentempels. Das zweite war der Name: Der Volks­park auf dem Huth, wie er ursprünglich hieß, weckte wiederum gedankliche Bilder von betuchten Damen mit übergroßen Hüthen, die promenierten oder gar lustwandelten – aber auch ein Park, in dem man auf der Huth sein muß, vor Räubern, Gelichter oder streunenden Homosexuellen, wirkte sehr anziehend auf mich. Also fuhr ich los, nahm versehentlich den falschen Bus, landete in der Nähe des ebenfalls sehr reizvollen Campus Westend, schlenderte dort eine halbe Stunde herum, kaufte mir ein Schleckeis und ging hochzufrieden nach Hause. Massive Projektionsleistung bei minimalem körperlichen Einsatz – kein Wunder, daß mir dieser Spaziergang später den zweiten Preis bei den hessischen Regionalmeisterschaften einbrachte. Die Einsparung körperlicher Arbeit ist für das Spazieren so essentiell, daß ich es mit dem Joggen für unvereinbar erklären möchte – wobei ich zum Joggen allerdings eine besondere Beziehung unterhalte. Eine Zeitlang joggte ich tatsächlich, und wirklich gern, nämlich im Team mit einem Kumpel aus der Nachbarschaft. Jedenfalls war es dies, was wir seiner Frau erzählten. In Wirklichkeit war »Joggen« ein Codewort für »im Park einen Zwitschern gehen«. Unsere Selbstbeherrschung war wirklich erstaunlich. Zwei-, dreimal in der Woche gingen wir joggen, bei schönem Wetter sogar viermal. Oft kamen wir dabei bis an unsere Leistungsgrenzen, entsprechend zerschlagen fühlten wir uns am nächsten Tag. Wir joggten und joggten, bei Regen und bei Sonnenschein, es war schier nicht mehr auszuhalten. Schließlich merkten wir, dass wir uns überschätzt, uns zu hohe Ziele gesetzt, unsere Körper überfordert hatten. Auch der Umstand, dass wir statt rank und schön immer klopsiger wurden, machte uns zu schaffen. Schließlich ließen wir es mit dem Joggen bleiben und trafen uns künftig wieder ganz normal zum Biertrinken. Denn in Wirklichkeit ist Joggen ja eine ziemlich traurige Sache. In den allermeisten Fällen sind Jogger bloß verhinderte Spaziergänger – arme Seelen, die nicht zugeben können, dass sie nur die Schönheit der Welt und der Menschen genießen wollen, sondern in grenzenlosem, zähnefletschenden Nutzen- und Leistungsdenken den Aufenthalt im Freien zusammen mit ihrem verwelkten Leib rigoroser Disziplin unterwerfen. Und wenn es nur dabei bliebe, wenn sie ihr Körperregime nur auf den eigenen Leib beschränkten! In den schlimmeren Fällen diszipliniert der Jogger nämlich nicht nur sich selber, sondern alle um sich herum. Sein ganzer Habitus signalisiert: Hier geschieht etwas außerordentlich Wichtiges. Ich bin produktiv, ich liege der Gesellschaft nicht auf der Tasche, ich reduziere meine Pflegebedürftigkeit, meine Krankenkassenprämie. Macht Platz dem fleischgewordenen Bruttosozialprodukt! Schnaufend werden Spaziergänger aufgescheucht, keuchend Kinder auseinandergetrieben wie Taubenschwärme. Der interesselos Schlendernde wird dem Jogger zum lästigen Hindernis, missbraucht dieser doch die Stätten, die zur Stärkung der Volksgesundheit geschaffen wurden. Spaziergänger sind für ihn die Hartz-IV-Empfänger unter den Parkbesuchern: Er missgönnt ihnen schon ihre blanke Existenz, ihre Lust am Atmen und bloßen Dasein. Der Pilger ist der schlimmste von ihnen. Denn der Pilger ist ein religiöser Jogger. Der Jogger glaubt wenigstens noch, seinem Körper etwas Gutes zu tun, seine Kraft, seine Lebenserwartung, im weitesten Sinne also seine Genussfähigkeit zu steigern. Der Pilger hingegen ist entweder religiös verblendet, verausgabt sich also in sinnloser Erwartung jenseitigen Heils, oder er macht den Kerkeling, sieht die ganze Chose »spirituell« und erwartet Erleuchtung. Meist kommen die Leute aber nicht klüger oder stiller von ihren Pilgertrips, sondern erweisen sich als besonders renitente und schamlos schwatzsüchtige Touristen, die eben nicht mit ihren Urlaubsfotos, sondern auch mit ihrem inneren Erleben renommieren und einem Eindrücke aus ihren verrotteten Seelen­leben unter die Nase reiben, neben dem jedes Bild des Eiffelturms originell aussieht. Der Spaziergänger verweigert sich in hohen Graden der Erlebnis- und Informationsgesellschaft. Er strebt nicht an, ein Abenteuer zu erleben. Auf keinen Fall soll beim Spazieren etwas Berichtenswertes entstehen – wenigstens darf dies nicht die primäre Absicht sein. Wer mit dem Ziel in den Wald aufbricht, einen lange verschollenen Hinkelstein aufzuspüren, nur um seine Kollegen damit voll schwätzen zu können, ist vieles, aber sicher kein Spazierer. Tatsächlich spaziert man am besten, wenn man so wenig wie möglich weiß und dabei gleichzeitig überhaupt nichts Neues erfährt. Mit zwei Freunden brach ich einmal von der Roten Mühle in Bad Soden auf. Erst gingen wir Richtung Wald, dann fiel uns am Horizont eine Burgruine auf, die wir dann in einigen Stunden erklommen – um schließlich durch ein Fachwerkdörfchen den Weg zurück anzutreten. Tatsächlich waren wir wie durch Zufall einer beliebten und bestens dokumentierten Wanderstrecke gefolgt – da wir aber nichts davon wussten, erschien uns alles neu und charmant, da andererseits die Strecke der Welt bestens bekannt war, gab es auch keine großartigen Berichte zum Besten zu geben, hatte kein Kollege auf der Welt großspurige Erlebniserzählungen zu befürchten. Auch ein sportliches Interesse konnten wir erfolgreich ausschließen, da wir die verbrannten Kalorien im Gasthaus sofort durch diverse Biere ausglichen. In der Bilanz war dieser Spaziergang völlig sinn- und zwecklos – und damit perfektes Kunstwerk. Wie es immer weniger öffentliche Plätze gibt, also solche, die keinem besonderen Zweck unterworfen sind, wie etwa dem Konsum, dem Sport oder der privaten Nutzung, so wird es schwieriger, überhaupt spazieren zu gehen. Das Handicap steigt unaufhörlich. Sogar ein gewisser politischer Widerstandswille lässt sich dem Spazieren inzwischen unterschieben. Nicht umsonst melden Demonstranten jeder Couleur überall nur mehr »Spaziergänge« an – unter schwerster Polizeibewachung. Ich kann solche Bemühungen nur belächeln. Mehr als Politjogging ist das nämlich nicht.
Leo Fischer
Leo Fischer: »Ausprobiert«: Spazierengehen
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Sport
09.04.2015
https://jungle.world//artikel/2015/15/sobald-es-anstrengend-wird-hat-man-verloren
Familientreffen in Kiew
Die Teilnehmerliste liest sich wie das Who is Who der internationalen Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung: Von Greenpeace über die »Internationalen Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges« bis hin zum renommierten Nuclear Information and Ressource Service (NIRS) aus den USA werden in der kommenden Woche in Kiew alle anwesend sein, die sich einen Namen im Kampf gegen die Atomenergie gemacht haben. Über drei Tage erstreckt sich das Programm der Konferenz »Chornobyl+20«, außerdem ist eine Exkursion in die verbotene Zone rund um den stillgelegten Atommeiler in Tschernobyl geplant, so dass also auch für ein bisschen Abenteuer gesorgt ist. Auf der Tagung soll es aber nicht nur um die Folgen der Reaktorkatastrophe gehen, sondern auch um die gegenwärtigen Entwicklungen in der Atompolitik sowie um die Proliferation . Rund 1 000 Teilnehmer werden erwartet, unter ihnen zahlreiche Mitglieder von »Vorort-Initiativen«, die sich etwa gegen Atomtransporte nach Gorleben oder für eine bessere Versorgung der ukrainischen Strahlenopfer engagieren. Natürlich kommen auch jene, die die Anti-Atom-Bewegung in den achtziger Jahren in die Parlamente getragen hat. Grüne Parteien warten mit Prominenz auf, aus Deutschland hat sich unter anderem Renate Künast angekündigt, die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion. Ein Familientreffen, 20 Jahre nach dem großen Schock, dem die Anti-AKW-Bewegung ihren größten Zulauf verdankte. Doch 1986 ist lange her, und die Gegner der Atomkraft, die noch vor wenigen Jahren die Ausstiegsbeschlüsse in Deutschland und Belgien als Erfolge feiern konnten, müssen mit einer Wiederkehr der gefährlichen Technologie rechnen. »In Namen des Klimaschutzes kommt die Atomkraft auf breiter Front als vermeintlich saubere Option zurück«, beklagt Michael Mariotte, der Direktor des NIRS in Washington. Die Atomindustrie habe sich damit geschickt in die Offensive gebracht und habe mit dem Beginn des Baus eines neuen Reaktors in Finnland einen ersten konkreten Erfolg vorzuweisen. In den USA drängt die Atomwirtschaft auf den Bau von 13 neuen AKW. Im Land, in dem die Reaktorkatastrophe stattgefunden hat, in der Ukraine, gebe es Pläne für elf neue Reaktoren, berichtet Tetyana Murza von der ukrainischen Organisation Ecoclub. Tschernobyl, meinen die Organisatoren der Kiewer Anti-Atom-Konferenz, werde zu einem »tragischen Ausnahmefall« heruntergespielt, und verweisen auf den bizarren Streit zwischen Atom-Lobby und Kritikern, der sich an der Frage entzündete, wie vielen Menschen die Reaktorkatastrophe den Tod durch Krebs und andere Krankheiten noch bringen wird. So wenig die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) den Atomkraftgegnern die Deutungshoheit über die Zahlen überlassen will, so sehr ist sie auch bemüht, am symbolträchtigen Datum anwesend zu sein. Während der Konferenz der Anti-Atom-Initiativen lädt sie ebenfalls nach Kiew, um den Ausbau des weltweiten Nuklearparks zu propagieren. »Wir verstehen unsere Veranstaltung als klaren Kontrapunkt«, sagt Tetyana Murza. Dabei geht es den Atomkraftgegnern, die als Folge der Wiederkehr der Atomkraft einen neuen Zulauf verspüren, nicht nur um Tschernobyl und die Risiken der Atomkraft. »Es ist Augenwischerei zu glauben, dass die Atomkraft eine ernsthafte Antwort auf die Probleme des Klimawandels sein kann. In den nächsten 40 bis 50 Jahren müsste alle zwei Wochen ein neuer Reaktor ans Netz, um spürbare CO2-Reduktionen zu erreichen«, rechnet Michael Mariotte vor. Dies erfordere Investitionen in Billiardenhöhe, die niemand leisten könne und wolle. Strategien für den Ausbau erneuerbarer Energien werden daher am letzten Tag der Konferenz in Kiew eine zentrale Rolle spielen.
korbinian frenzel
korbinian frenzel:
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Thema
19.04.2006
https://jungle.world//artikel/2006/16/familientreffen-kiew?page=0%2C%2C1
Der Groove vom Amselfeld
Wie sah die politische Situation in der Bundesrepublik Jugoslawien aus, als Slobodan Milosevic die Bühne betrat? Wofür stand er politisch? Noch sieben Jahre nach dem Tod von Tito, im Mai 1987, lebten wir unter dem Slogan "Nach Tito, Tito". Dieser Slogan bedeutete, daß Jugoslawien ein sozialistisches, kommunistisches Land bleibt und seine blockfreie Politik fortsetzt. Außerdem bedeutete "Nach Tito, Tito", daß auf ihn nicht mehr nur eine Person folgen wird. Sieben Jahre lang gab es ein Präsidium mit acht Repräsentanten der Teilrepubliken und Provinzen. Jedes Jahr war einer von ihnen Präsident, und ich erinnere mich, daß ich manchmal nicht wußte, wer gerade Präsident ist. Vor einigen Tagen haben Sie auf einer Veranstaltung in Berlin zum Thema "Jugoslawischer Krieg und Medien" gesagt, Milosevic habe schon in den achtziger Jahren begonnen, den kommunistischen Sprachgebrauch mit einer nationalen Rhetorik zu überlagern. Sehen wir uns das Jahr 1987 an, zwei Ereignisse haben es zu einem wichtigen Jahr für die kulturelle und politische Praxis in der SFR Jugoslawien werden lassen. Das eine war das Auftauchen Milosevics auf der politischen Bühne Serbiens. Das andere spielte sich anläßlich von Titos Geburstag ab: Seit dem Zweiten Weltkrieg war Titos Geburtstag am 25. Mai der "Tag der Jugend". Wir wissen geschichtlich, was so ein Jugendtag bedeutet: ein großes Stadium, Militärparade, Aufzug von Jugendlichen und Pionieren, Tänze. Jedes Jahr gab es hier einen Plakatwettbewerb, und 1987 gewann die Künstlergruppe "Novi Kolektivizem" die Ausschreibung. Noch im März entwickelte sich daraus ein Skandal. Jemand hatte herausgefunden, daß sie die Kopie eines Nazi-Plakats von Richard Klein eingereicht hatten. Nach ein paar Retuschen, Stern statt Hakenkreuz usw., hatten sie unten auf das Plakat "dan mladosti", "Tag der Jugend", geschrieben. Es war das erste Zeichen dafür, daß die politische Ikonographie zerstört wurde, die in Jugoslawien vom sozialistischen Realismus bestimmt war. Die Kunst war modernistisch, aber die politische Bildordnung sozialistisch-realistisch. Es ist selten, daß eine subversive künstlerische Aktivität so weit geht und so viel erreicht. Dieser heroische Mann, der auf dem Plakat für Titos Geburtstag eine Fahne trägt, ist eine Ikone des Dreißiger-Jahre-Deutschland - und sie wurde nach dem Austausch der Symbole einfach akzeptiert. 1987 wurden subkulturelle und oppositionelle Praktiken genauso sichtbar wie das stärkere Aufkommen einer nationalen und reaktionären Stimmung. Ja, und am selben "Tag der Jugend" 1987, Titos Geburtstag, organisierte die Slowenische Jugendorganisation das Schwulen-Festival "Magnus". Das waren die ersten kleinen Zeichen für größere Veränderungen. Und noch ein anderer Vorfall aus jenem Jahr, das mir im Rückblick entscheidend vorkommt: Die Belgrader Uni-Zeitung Student hatte zu Titos Geburtstag auf ihrem Titelbild ein junges grünes Blatt abgedruckt, das an einer Ecke ausgefressen war. Für dieses symbolische Detail wurde Student stark angegriffen. Derjenige, der damals am heftigsten gegen die Zeitung vorging, war Slobodan Milosevic. Ich glaube, das war das erste Mal, daß ich seinen Namen hörte. Er war irgendein Apparatschik aus dem städtischen Parteikomitee. Worauf konnte Milosevic zu Beginn seiner politischen Karriere bauen, welche Gruppierungen waren ihm nützlich, um seinen Aufstieg zu befördern? Bei der Wiedererfindung des serbischen Nationalismus spielten serbische Akademiker eine wichtige Rolle. 1987 veröffentlichte die "Serbische Akademie der Künste und Wissenschaften" einen berüchtigten Text unter dem Titel "Memorandum", den zwar fast niemand las, der aber voll mit nationaler Mythologie war und eine bestimmte Entwicklung andeutete. National orientierte Autoren hatten diesen Text über den Ursprung Serbiens, über die Bedeutung des Kosovo usw. verfaßt. Ähnliche nationale Bemühungen gab es in Slowenien. Im Rückblick erscheint mir 1987 als das Jahr, in dem das titoistische Jugoslawien und der titoistische Weg der politischen Repräsentation kollabierte. Nur der von Tito praktizierte Personenkult überdauerte. Ich erinnere mich, daß ein Satiriker aus Belgrad damals sagte: "Slobodan Milosevic ist der erste, der im sozialistischen Jugoslawien verstanden hat, daß Tito tot ist." Und das hieß auch, daß sich der Personenkult, der unter Tito entwickelt wurde, zu verschieben begann und allmählich von Milosevic übernommen wurde. Auf welche Schriften konnte Milosevics Politik sich sonst noch berufen? Es gab nicht nur das "Memorandum", sondern auch die Texte von Drobica Cosic, ein Schriftsteller, der als Dissident galt. Er durfte öffentlich nicht auftreten, war aber trotzdem Mitglied der "Serbischen Akademie der Wissenschaften" und schrieb eine Reihe von Romanen. Der erste, ein dreibändiges Ding, hieß "Wurzeln". Milosevic übernahm das sofort als eine Art Basis für ein politisches Programm Serbiens bzw. Groß-Serbiens. Es paßte ihm gut, daß diese Anregungen von einem Literaten kamen. Cosic war dann für längere Zeit Präsident des serbischen Parlaments. Welche Rolle hat Milosevic bei der Zuspitzung des Kosovo-Konflikts gespielt? Im März 1989 gab es große Demonstrationen im Kosovo. Und es gab auch einige Bestrebungen, Kosovo als unabhängige Republik zu etablieren. 1974 hatte eine Verfassungsänderung Serbien in drei Teile aufgeteilt, die Vojvodina im Norden und das Kosovo im Süden erhielten den Status autonomer Provinzen. 1989 wurde die Verfassung wieder geändert, und Milosevic entzog der Vojvodina und dem Kosovo den Autonomiestatus. Im März 1989 hielt er dann jene berühmt-berüchtigte Rede in Pristina zu den Serben, die sich irgendwie "unterdrückt fühlten": "Ich werde nicht zulassen, daß euch irgend jemand schlägt." Darüber gibt es eine interessante BBC-Produktion, "Bruderkrieg", in der deutlich wird, daß - nachdem er diesen Satz gesagt, diesen Ton angeschlagen hatte - der politische Kreis um Milosevic immer mehr davon überzeugt war, daß Milosevic aus der postkommunistischen Transformation erfolgreich hervorgehen werde. Welche politische Funktion hatte Milosevic zu dieser Zeit inne? 1989 war er Sekretär der Serbischen Kommunistischen Liga im Kommunistischen Jugoslawischen Bund. Jede Republik hatte einen anderen Sekretär. Zu dieser Zeit war Milosevic ständig im Fernsehen. Man muß sagen, daß - auch wenn mich das nicht berührte - Milosevic auf eine sehr direkte Art und Weise reden konnte. Tito war dagegen ein schlechter Redner, er las ab. Manchmal war er witzig in Interviews, aber ansonsten hielt er die schweren kommunistischen Ansprachen der alten Schule. Milosevic macht kurze Sätze, versucht sich in Leidenschaftlichkeit und wendet sich an die sogenannten kleinen Leute. Zur 600-Jahr-Feier der Schlacht in Kosovo, am 28. Juni 1989, war Milosevic erneut sehr präsent. Er landete mit dem Hubschrauber auf dem Amselfeld und sprach ausschließlich zur serbischen Bevölkerung. Mit keinem Wort wandte er sich an die hauptsächlich albanische Bevölkerung von Kosovo. Das war der Moment, an dem es begann, gefährlich zu werden. Im Moment wird in jeder westlichen Zeitung die Schlacht vom Amselfeld nacherzählt. Daneben wird meist ein Kitschbild von einem verwundeten Feldherrn mit Kosovo-Mädchen abgedruckt. Dieser Verweis soll die Bedeutung von Kosovo für die serbische Republik erhellen. Die Schlacht auf dem Amselfeld soll 1389 zwischen serbischem und türkischem Heer stattgefunden haben. Damals verursachte das Osmanische Reich den allmählichen Niedergang des Byzantinischen Reichs. Im 13.Jahrhundert war Serbien relativ stark gewesen. Der serbische König galt als Kaiser. In der nationalen Lyrik wurde er als Zar besungen. Die Schlacht wird sowohl als Kampf zwischen der christlich-orthodoxen und der islamischen Welt nacherzählt als auch als Ringen zwischen dem kleinen Königreich und dem großen Imperium. Wie ist das Phantasma der verlorenen Schlacht, das an eine heile Nation gemahnt, über die Jahrhunderte konstruiert und konserviert worden? Die serbischen Geschichtsschreiber streiten sich immer noch über die genauen Fakten, wer wann wo wie getötet wurde. Sicher ist, daß der serbische Zar Lazar und der osmanische Sultan Murat tot waren, und Serbien die Schlacht verloren hatte. Danach entstand der "Kosovo-Zyklus", volkstümliche serbische Lyrik, die im 17. Jahrhundert von zwei serbischen Literaturhistorikern gesammelt wurde, Dositej Obradovic und Vuk Karadzic. Die volkstümliche Lyrik war der kulturelle Weg, im Kosovo-Mythos einen Ort verlorener Identität zu bewahren. Während der 500 Jahre osmanischer Herrschaft bis zu den Balkan-Kriegen in diesem Jahrhundert wurden die Klöster im Kosovo zu einem kulturellen Aufbewahrungsort. Das sind national aufgeladene Orte, das klösterliche Zentrum des serbisch-orthodoxen Patriarchats in Decani, 10 Kilometer von Pec, die Kirche des serbischen Königs Milutin von Anfang des 14. Jahrhunderts und aus der gleichen Zeit das Kloster Gracanica auf dem Amselfeld. Es gibt nicht viele Bilder, die die Kosovo-Schlacht zeigen. Die meisten sind schlecht. Einige sind aus dem 17. Jahrhundert, Barock des nördlichen Serbiens, meist aus Kirchen. Ein paar stammen aus der Romantik, aus dem 19. Jahrhundert, als in Europa die Idee des Nationalstaats geboren und die nationalen Mythologien wiedererfunden wurden. Die Tragödie der verlorenen Schlacht ist ein grundlegendes Element in der Konstruktion nationaler Identität. In der Sozialistisch-Föderativen Republik Jugoslawien hat eine antifaschistische politische Mythologie eine große Rolle gespielt, Partisanenkult usw. Wie konnte diese Mythologie von nationalem und ethnischem Kitsch überlagert werden? "Brüderlichkeit und Einheit" war der Slogan des titoistischen Jugoslawiens. Hier und da gab es Anfang der Siebziger in Kroatien und schon Anfang der Sechziger in Serbien Versuche, über nationale Identität zu sprechen. Aber grundsätzlich war das konterrevolutionär. Offene Nationalisten verloren ihre Jobs. Ansonsten kam die gesellschaftliche Kritik von links, z.B. von der Gruppe "Praxis", einem Belgrader Intellektuellenkreis, der keinesfalls national war, sondern links von der Partei stand. Es waren ungefähr zehn ProfessorInnen von der Belgrader Uni, sechs verloren damals ihren Lehrstuhl. Es ist übrigens typisch für Milosevic, daß er diese Professoren Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger wiedereinstellte. Milosevic mag demokratische Gesten. Und Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, bevor sich der serbische Nationalismus als Faschismus etablierte - ja, ich glaube, daß es sich hier wirklich um Faschismus handelt -, war die politische Situation eher von einem Geben und Nehmen bestimmt. Das Ticket aber, das Slobodan Milosevic von Anfang an in der Hand hielt, war Nationalismus. Sein Trick ist, daß er die antifaschistische, die nationale und die postsozialistische Kultur geschickt miteinander kombiniert. Als er die Sozialistische Partei Serbiens gründete, kursierte sofort ein Witz in Belgrad: "Ein Mitglied der serbischen KP sagt zu einem anderen: Letzte Nacht ging ich als Kommunist zu Bett und wachte als Sozialist auf." Milosevic hatte die KP-Mitglieder aufgefordert, sich mit ihrer Unterschrift zum Übertritt in die Sozialistische Partei bereit zu erklären. Die Kommunistische Partei existiert aber weiter. Eine ihrer führenden Figuren ist Mirjana Markovic, Milosevics Frau. Es ist eine sehr obszöne Vorstellung, daß Antifaschismus in Serbien weiter gefeiert wird. Alle Festtage, die wir im Kommunismus hatten, feiert Milosevic weiter, plus ein paar neue. Neben Milosevics Sozialistischer Partei gibt es u.a. die JUL, Jugoslawiens Vereinigte Linke. Sie setzt sich aus alten kommunistischen Leuten, der Kommunistischen Partei und einigen ganz neuen Kräften wie Ljubisa Ristic zusammen. Ristic ist ein sehr bekannter 68er, Direktor eines Theaters, sehr pro-jugoslawisch augerichtet. Sein Wander-Theater umfaßte SchauspielerInnen aus allen Teilen Ex-Jugoslawiens. Es ist wie im Westen: Die 68er, die gegen das Regime opponiert haben, werden die größten Dogmatiker und Totalitaristen. Die JUL ist jedenfalls eine sehr wichtige patriotische Partei, die immer noch von Marx, Engels und den Menschenrechten als Rechten der Arbeiterklasse spricht. In der JUL, da sind die Generäle, die immer in der ersten Reihe sitzen, und bei ihren Aufzügen Partisanenlieder singen. Welche Interessen verband Milosevic mit der Gründung der Sozialistischen Partei? Die KP war Milosevic zu stark mit "Brüderlichkeit und Einheit", mit Tito und der Unterdrückung von Nationalismus verbunden. Die Parteiengründung ermöglichte ihm, postkommunistisch zwischen Kommunismus und Nationalismus hin- und herzuschalten. Viele kritische AutorInnen sagen, daß Milosevic kein serbischer Nationalist ist, sondern Nationalismus nur benutze, um an der Macht zu bleiben. Er brauche die Nationalen und rechts-radikalen Parteien, ihre primitive, vulgäre, aggressive Sprache. Milosevic brauche Leute wie Vojislav Seselj, diesen Idioten, und seine Serbische Radikale Partei, weil sie den militaristischsten Flügel repräsentierten und paramilitärische Gruppen hätten. Und gleichzeitig könne er sich im Vergleich mit ihnen als weniger national und gemäßigt ausgeben. Auf den großen Demonstrationen 1996/1997 wurde das Gebäude des staatlichen Fernsehens als Symbol der Macht attackiert. Welche Rolle spielt das TV in der "lumpenproletarischen Natiokratie", wie Sie Rest-Jugoslawien einmal bezeichnet haben? Das Fernsehen war und ist für Milosevic sehr wichtig. Es unterstützt seinen nationalen Kurs. Sechs Monate, bevor der Krieg mit Slowenien und dann mit Kroatien begann, wurden die ersten Schüsse im Fernsehen abgegeben. Es war so pro-serbisch und so ausschließend, daß man von einer medialen Produktion des Hasses sprechen kann. Es gibt zwar einige unabhängige Sender, aber nur die staatlichen Sender decken das ganze Sendegebiet ab. Letzten Sommer war ich in Belgrad und vor den Hauptnachrichten um halb acht lief jeden Tag ein Werbespot, mit einem sehr patriotischen Lied unterlegt. Es ist im MTV-Stil mit sehr sauberen, schnellen Schnitten gemacht. Man sieht Bilder der Heimat, Soldaten, marschierende junge Leute in Uniform, Berge, Marinesoldaten auf Schiffen. Montenegro hat einen sehr kurzen Küstenstreifen an der Adria. Wenn du den Clip siehst, denkst du, Serbien besitzt das ganze Mittelmeer. Das ist Patriotismus. Das bringt die Leute auf die Idee, sie müßten ihr Land verteidigen. Jetzt, während des Bombardements, ist dieser Spot wieder jeden Tag im Fernsehen. Ein Hauptkennzeichen von Nationalismus ist Populismus. Diesen Populismus liefert das Fernsehen und ist damit ein Werkzeug der politischen Parteien. Von den Parteien, die die großen Demos 1996/97 mitgetragen haben, tritt nur die Bürgerunion von Vesna Pesic offen gegen eine nationale und kriegerische Politik ein. Wenn es um aggressiven populären Nationalismus geht, sollten wir auch von Zjelko "Arkan" Raznatovics Partei der Serbischen Einheit sprechen. Sie arbeitet z.B. mit nationalen patriotischen Songs gegen die Nato. Sie verkauft den Mythos des Soldaten, der für das Land kämpft. Alles ist geprägt von Haß gegen jede Form des Anderen: Moslems, AlbanerInnen, Nato und eigentlich alles Westliche. Der anti-westliche Trend ist sehr deutlich. Dieser Populismus verletzt mich, auch als Intellektuelle. Eine Freundin von mir hat eine feministische Analyse über die "Turbo-Volkssängerinnen" im Fernsehen gemacht. Drehst du den Ton ab, schauen sie - jeder Anti-West-Haltung zum Trotz - wie MTV-Girls aus, schlanke Körper, Styling. Drehst du den Ton an, singen sie serbische nationale Lieder. Es gab auch einen Video-Spot von "Ceca", der Frau von "Arkan" Raznatovic. Sie ist Popsängerin. Die paramilitärischen Einheiten von Raznatovic heißen "Tiger". Und als "Ceca" einen neuen Song promotete, kam darin ein kleiner Tiger aus dem Belgrader Zoo vor. Mit solcher Vernetzung von nationaler Politik und Populärkultur beschäftigen sich die AnthropologInnen, deshalb erzähle ich an dieser Stelle einen anthropologischer Witz: "Es gab einen Stamm von Kannibalen, die beschlossen, mit dem Kannibalismus aufzuhören. Nur einer wollte nicht. Die anderen waren unschlüssig, was sie mit ihm machen sollten. Und dann entschieden sie, ihn aufzuessen." Es wäre fantastisch, wenn das in Serbien mit Milosevic auch passierte. Je eher, desto besser. Der Chefredakteur des oppositionellen Radiosenders B-92, Veran Matic, ist vor kurzem gegen eine regierungstreue Figur ausgetauscht worden. Wie geht es weiter mit B-92? Ein Freund, mit dem ich telefonierte, sagte mir, daß die insgesamt 45 MitarbeiterInnen von B-92 alle solidarisch mit dem entlassenen Chefredakteur sind. Seitdem Veran Matic ausgetauscht wurde, ist niemand zur Arbeit erschienen. Sie werden jetzt wahrscheinlich alle entlassen. B-92 ist deshalb so wichtig gewesen, weil es eine Stimme der Differenz war. Das heißt nicht, daß B-92 die Wahrheit verbreitete, sondern verschiedene Aspekte der Wahrheit gleichzeitig. Es war tatsächlich oppositionell und demokratisch strukturiert und verlieh anderen Leuten eine Stimme. B-92 begann als Radio. Dann bekamen sie dieses Kino "Rex" in der Belgrader Altstadt im jüdischen Viertel. Es war ein sehr schönes Kino, groß, in sozialistisch-realistischer Bauweise. Es war ein Ort für Diskussionen, Video-Screenings, Performances, Kunstausstellungen. Mit der Zeit begann B-92 dann mit der Produktion von Dokumentarfilmen und Features. Natürlich wurde B-92 auch vom serbischen Regime dazu benutzt, sich als demokratisch und liberal ausgeben zu können: Wir lassen alle sagen, was sie wollen. Aber nun, im neuen Krieg, ist auch das vorbei. Gibt es im Moment irgendwelche Aktionen gegen den Krieg, den Nationalismus? Was einige Leute aus dem Westen nicht verstehen, ist die tatsächliche Bedeutung der Rock-Konzerte. Sie bedeuten, daß die Leute einfach zusammen sind. Die Angriffe produzieren eine Solidarität, die vor einem Monat nicht existiert hat. Ok, das wird mißbraucht, natürlich. Das erste Rockkonzert war spontan organisiert. Seitdem organisiert die Stadt Belgrad die Konzerte. Kritische Leute, Intellektuelle, wie der "Belgrader Zirkel", der die Zeitung Republika herausgibt, sind durch die Nato-Angriffe zum Schweigen gebracht worden. Ich glaube, jede Kritik an Milosevic und dem serbischen Nationalismus ist im Moment verstummt. Leute, die Kontakte zum Westen haben, werden als Verräter verdächtigt. Und ich glaube auch, daß Leute, die Systemkritik leisten, im Moment wirklich Angst vor Konsequenzen haben müssen. Bojana Pejic ist Kunsthistorikerin und lebt in Berlin. Von 1971 bis 1991 war sie Kuratorin des Studentischen Kulturzentrums der Universität Belgrad, von 1984 zwischen 1991 Redakteurin der Zeitschrift Moment.
Katja Diefenbach
Katja Diefenbach:
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webredaktion
21.04.1999
https://jungle.world//artikel/1999/16/der-groove-vom-amselfeld
Out of Time
»Das Nichts nichtet. Unser Wohnen ist der Aufenthalt in einem Vorenthalt des Hohen«, sagt Fips Kirchweih, Doktorand der Philosophy Studies an der Universität Mainz. Sein Professor nickt zufrieden, korrigiert dann aber sanft: »Sehr schön auswendig gelernt, aber ein wenig zu seinsvergessen. Schreiben sie bis zur nächsten Sitzung den Satz ›Ich ende behende mein irdisches Leben‹ hundert Mal in ihr Poesiealbum.« Eine typische Szene im Hauptseminar »Zeit bei Heidegger«, wie sie so oder ähnlich dutzendfach an ­anderen Hochschulen vorkommen könnte. Eine Philosophie der Zeit, die wie die Heideggers zu Endlichkeit und Tod hingeneigt ist, scheint perfekt in die Zeit (haha!) zu passen – ebenso wie die völlig unkritische Beschäftigung mit dem glühenden Antisemiten und nationalsozialistischen Pumphosenspießer perfekt den Zustand der deutschen Universitätsphilosophie widerspiegelt. »Die Zeit – über kaum eine Naturkonstante hat Heidegger so viel nachgedacht wie über diese«, so Kirchweih nach dem Seminar. »Fast ohne nachzudenken, verbrauchen wir sie täglich. Sie umgibt uns, umschwirrt uns, ist regelmäßig Bestandteil von Alltagssituationen – und wird dabei doch von den wenigsten verstanden.« Sind die Zeitvorräte der Erde begrenzt? Lässt sich Zeit sparen, kann man sie akkumulieren, konzentrieren und dann mit einem gebündelten Tachyon-Impuls zurück ins Weltall jagen? Und wie kann man Zeit vergessen? Vor allem diese letzte Frage, insbesondere mit Blick auf die Nazizeit, hat Heidegger in seinen letzten Jahren sehr beschäftigt. Moderne Zeitforscher gehen weiter. Ist unsere Einteilung der Zeit in Minuten und Stunden völlig willkürlich? Könnten wir zum Beispiel die meiste Zeit nicht auch einfach in Jahrhunderten abhandeln? Ist Zeit gegendert, ist das heile Bild von »Vater Zeit« und »Mutter Natur«, wie es etwa die Schlümpfe zeigten, hoffnungslos patriarchalisch? Fragen, die nur dann als sinnlos erscheinen, wenn man sich noch nie mit Überstundenabrechnung beschäftigt hat. »Heidegger hätte auch viel über BWL zu sagen«, so Kirchweih. »Wir müssen nur lernen, ihm zuzuhören. Bedingungslos.«
Leo Fischer
Leo Fischer: Im Heideggerseminar
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dschungel
19.12.2019
https://jungle.world//artikel/2019/51/out-time
Pragmatischer Antiziganismus
Die Vorwürfe der Apartheid hält Bürgermeister Claudio Gambino für übertrieben. Mit seinem Vorschlag, eine eigene Buslinie für Roma in der kleinen norditalienischen Stadt Borgaro Torinese einzuführen, sorgte er für Aufsehen. Es geht um die Linie 69, die an einer Roma-Siedlung am Rande der Stadt vorbeifährt. Zu viele Diebstähle und Angriffe, insbesondere gegen Schülerinnen und Schüler, habe es in den vergangenen Jahren gegeben, sagte Gambino. Die Bürgerinnen und Bürger seien verunsichert und wütend, denn die Roma »haben uns seit mehr als 20 Jahren geplagt«. »Wir brauchen zwei Busse«, lautete sein Vorschlag, den er »Verdoppelung der Linie« nannte. Ein Bus, der für die Italiener, soll demnach am Roma-Camp vorbeifahren, ohne dort Halt zu machen; der andere, der für die Roma, soll hingegen nur von der Siedlung bis zur Endstation fahren. Segregation? Rassismus? Nein, eher Pragmatismus, so etwas wie ein Shuttle-Service für die Roma in die Stadt und zurück, rechtfertigte sich Gambino. »Als Bürgermeister muss ich dafür sorgen, dass die Stimmung nicht umkippt.« Das klingt fast so, als hätte er mehr Angst, dass aus den geplagten Bürgerinnen und Bürgern ein wütender Mob mit pogromartigen Absichten wird, als vor den Roma selbst. Eine vermutlich begründete Angst. Was sich wie die nicht besonders originelle Idee eines Rechtspopulisten der Lega Nord anhört, kommt von einem linken Bürgermeister der Demokratischen Partei (PD), dessen Verkehrsbeauftragter, Luigi Spinelli, sogar der links vom PD stehenden Partei Linke, Ökologie und Freiheit (SEL) angehört. Genauer gesagt: angehörte. Denn seine Unterstützung für den Vorschlag des Bürgermeisters kostete ihm die Parteimitgliedschaft, nachdem der Vorsitzende des SEL sich zum Vorfall geäußert hatte: »In unserer Partei gibt es keinen Platz für Ambivalenzen in Bezug auf dieses Thema. Wenn die Stadtverwaltung den Vorschlag nicht zurücknimmt, wird SEL ihr die Unterstützung entziehen.« Der Bürgermeister ruderte vor einigen Tagen zurück: Er habe nur eine Debatte über ein reales Problem anstoßen wollen. Aber ein Rassist sei er auf keinen Fall. Auf der Linie 69 werde es vorerst nur ständige Kontrolleure geben, die Menschen ohne Fahrkarte den Zutritt zum Bus verweigern.
Federica Matteoni
Federica Matteoni:
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Ausland
06.11.2014
https://jungle.world//artikel/2014/45/pragmatischer-antiziganismus?page=0%2C%2C0
Dubstep I
James Blake. Seit dem wahnsinnigen Hype um den 22jährigen Produzenten James Blake und dessen Debütalbum reden alle von Post-Dubstep. Zu diesem Genre nämlich zählt man James Blake. Bevor wir uns näher mit den einzelnen Genre-Begrifflichkeiten auseinandersetzen, sollte erst einmal geklärt werden, ob der Hype um James Blake gerechtfertigt ist: Eindeutig ja. Das Interessante an seinem Album ist ja gerade, dass sich gar nicht richtig sagen lässt, was hier musikalisch passiert. Diese Musik fühlt sich fürwahr neu an, und das gibt es in unserer Retrogesellschaft nicht mehr häufig. Blake singt mit seiner zerbrechlichen, verfremdeten Alienstimme. Er singt richtige Popsongs. Sein Gesang schwebt und verhallt des öfteren einfach im Nichts. Ganz viel wird hier mit Pausen gearbeitet, mit den Leerstellen zwischen den Tönen. Weich und zart klingt diese Musik und hat wirklich nur noch wenig mit den dunklen Klangkratern zu tun, die Dubstep einmal ausmachten.   AHA
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dschungel
03.03.2011
https://jungle.world//artikel/2011/09/dubstep-i?page=0%2C%2C3
Und Deutschland?
Eine Moskauer Stiftung für Versöhnung und Verständigung fordert von der deutschen Regierung einen finanziellen Ausgleich in Höhe von 3,3 Millarden Mark. Die vor über vier Jahren gegründete Stiftung vertritt etwa 360 000 Menschen, die während des Nationalsozialismus Zwangsarbeit leisten mußten, in Konzentrationslagern oder in Gefängnissen einsaßen. Die Bundesrepublik hatte 1994 zwar 400 Millionen Mark gezahlt, nach Ansicht der Stiftung ist das jedoch viel zu wenig. Unterdessen zahlte der Schweizer Spezialfonds "zugunsten bedürftiger Opfer von Holocaust/Shoah" am Dienstag vergangener Woche erstmals Geld aus. Umgerechnet knapp 700 Mark gingen an eine in Lettland wohnende jüdische Überlebende der Nazi-Herrschaft. Weitere Zahlungen sollen in Kürze folgen. Während der seit 1. März dieses Jahres bestehende Fonds sich aus Spenden der Schweizer Banken, Unternehmen und der Nationalbank des Landes speist, fragt die Neue Zürcher Zeitung in der vergangenen Woche: "Und Deutschland?" Das Auswärtige Amt in Bonn wies am Wochenende die Darstellung des Vorsitzenden des Jüdischen Weltkongresses, Kalman Sultanik, zurück, Deutschland werde sich an der Nazi-Gold-Konferenz am 2. Dezember in London nicht beteiligen. Selbstverständlich sei Deutschland dabei. Auf der Konferenz soll die Entschädigung der Nazi-Opfer und ihrer Angehörigen für den geraubten Besitz behandelt werden.
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Ausland
27.11.1997
https://jungle.world//artikel/1997/48/und-deutschland?page=0%2C%2C1
Das Kreischen der Rezeptoren
Was lesen Suchtkranke? Man weiß es nicht. Mit Literaturtipps sollte man sich also zurückhalten. Beim Schreiben sieht es anders aus. Zum Beispiel ist der Berliner Arzt Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel als Kolumnist tätig. Aber der ist doch nicht süchtig, sondern Suchttherapeut? Stimmt. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Salloch-Vogel, heute pensioniert, war viele Jahre lang Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitskranke am Jüdischen Krankenhaus Berlin. In dieser Zeit begann er unter dem Pseudonym »Rolf Zweifel« Texte in der Berliner Zeitschrift Trokkenpresse zu veröffentlichen. Im Umfeld dieser Zeitschrift wurde ein Verlag gegründet, der Salloch-Vogels Kolumnen nun als Buch publiziert. Tagsüber Suchtkranke therapieren, abends selber trinken – der Autor wusste, was er tat. Er habe gedacht, seine Sucht bemerke niemand, schreibt er. Aber dann: »Schwuppdiwupp war der Alkohol zur Stelle und damit erst mal Schluss mit Mutters Gerede und Gottes Gesetzen.« Das feuchte Thema kann zur trockenen Materie werden, das kann manchen anöden. So lehrt der Chefarzt, dass die Differenzierung in weiche und harte Drogen ein Märchen sei. Der Chefarzt schreibt nicht nur unter Pseudo­nym, sondern treibt die Distanzierung noch weiter und schreibt über sich in der dritten Person. Das liest sich dann so: »Rolf Zweifel hört im Radio, es gebe 2,5 Millionen Abhängige von Drogen in der Europäischen Union. Davon seien wiederum soundsoviel Prozent von weichen Drogen abhängig. ›Maria sei Dank, nur weiche Drogen!‹ denkt die Oma beim Bügeln.« Nein, das ist nicht Popdiskurs, das ist ein sehr unhippes Thema. Drogengebrauch wirft verrückte Stories ab, Abstinenz nur harte Worte: »Durch die chronische Drogeneinnahme bin ich unfrei. Meine Bedürfnisse, Aktivitäten, Beziehungen, mein ganzes Leben werden auf meine Sucht ausgerichtet. Die Egozentrik nimmt zu.« Eine harte Droge ist der Alkohol. Weich hingegen Cannabis. »Was macht einen Joint für die Benutzer eigentlich so interessant? Zweifel hat verstanden, dass es Jungen und Mädchen gibt, für die der erste Joint zunächst eine Art befreiende Medizin ist, weil sie solche Gewalterfahrungen hinter sich haben, dass einem beim Zuhören glatt übel wird.« Das dürfte ihm dann wohl öfters passiert sein. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der minderjährigen Patienten in der Psychiatrie um 800 Prozent gestiegen. Mögliche Ursache: »weiche« Drogen. Der Praktiker Salloch-Vogel hat sich darüber seine Gedanken gemacht. Was hätten die Betroffenen in der Birne, wenn sie keine Drogen konsumierten? Es würde wenig besser aussehen. Nur anders. »Das Gefährliche an jedem Irrtum ist das Körnchen Wahrheit, das in ihm steckt«, schreibt Salloch-Vogel. Welche Themen muss ein suchtkranker Suchttherapeut in seinem Buch behandeln? »Lebenslüge«, »Scheintiefsinn«, »Besoffene Vorbilder« heißen die Überschriften der knapp gehaltenen, an Aphorismen erinnernden Texte. »Der Mensch als Laborratte«, »Überleben«, »Alttestamentarische Gefühle« – die Titelgebung lässt die religiöse Dimension des Themas erahnen: Sucht, das kommt von Suchen. Suchen nach »Liebe«, der »Gruppe« und der »Aufgabe«. Aber welche Aufgabe sollte einer haben, wenn es ums reine Überleben geht? Salloch-Vogel antwortet mit einem Beispiel aus seiner Lebenspraxis. »Zweifel ist morgen in der 5. Klasse einer Grundschule eingeladen. Sein Enkel hat das Ganze angeleiert und der Lehrerin gesagt: ›Mein Opa ist Alkoholiker, und der erzählt bestimmt gerne was darüber.‹« In der Hoffnung, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge, hat der Autor den Enkel befragt, ob dem das denn nicht peinlich sei, wenn der Großvater vor der Klasse zu dem Thema spricht. Das Kind antwortet: »Weiß doch sowieso jeder, dass du Alkoholiker bist, habe ich doch schon jedem erzählt.« Auch die Lehrerin insistierte. Ob er denn bis 10.45 Uhr sprechen wolle oder nur bis 9.50 Uhr. »Und ihm kommt der Gedanke, dass er da vielleicht doch willkommen sei.« Und dass der Enkel froh ist, einen Großvater zu haben, der derzeit übers Saufen nur Auskunft gibt, während die halbe Klasse über Eltern verfügt, deren Besoffenheitsgrad sowohl um zehn vor zehn als auch um viertel vor elf eine runde Promilleangabe her­gibt. Zweifels Kolumnen spiegeln auch einen gewöhnlichen Alltagshorror, indem sie vom Horror­alltag berichten: »Am Ende seiner Trinkerzeit empfand er nur noch ein einziges Gefühl: Angst. Da konnte er auch nicht mehr unterscheiden, ob die Angst wegen der Trinkerei oder wegen der Abschiedsgefühle tobte.« Mit Abschied meint er den Abschied von sich selbst, die Möglichkeit, »sich völlig unbeobachtet abzufüllen«. An anderer Stelle nimmt er die Therapiepolitik als solche aufs Korn. In »Landjugend« beschreibt er, wie er nach Sotterhausen in Sachsen-Anhalt unterwegs ist. Dort liegt der »Therapiehof«, die »einzige Einrichtung für jugendliche Drogen­abhängige und junge Erwachsene im ganzen Bun­desland – mit 35 Plätzen«. 30 Prozent der Patienten sind unter 20 Jahre alt. Man erfährt, dass ein Mädchen mit sieben Jahren zu rauchen anfing, mit neun Jahren kiffte, mit elf Crystal Speed und mit 14 Heroin und Koks nahm. »Auf meinen Körper habe ich immer aufgepasst«, sagt die junge Dealerin. Wenige Tage später wird sie entlassen, allerdings könne man ja immer noch Feuerzeuggas und Eisspray einatmen oder Tee aus den Blüten des Trompetenbaumes kochen. In diesem Leben ist das Recht auf Rausch zur Pflicht zum Rausch geworden. »Zweifel ist platt und wird immer stiller. Nur 40 Prozent der Patienten stehen die ganze Therapiezeit durch – aber dann spricht man schon von einer guten Haltequote. Sechs von zehn ›Kindern‹ hauen also ab. Abitur hat eines von hundert.« Die Hälfte habe wiederum süchtige Eltern, einem 18jährigen seien 15 Kilogramm Cannabis und fünf Kilo Heroin oder Crack »über das Gehirn gegangen«. Bleibt die Frage nach der Verantwortung: Hat die überhaupt einer? Hat nicht jeder selbst für sich zu sorgen? Wenn in dieser Art Literatur, die einen extremen Bereich des Lebens beschreibt, ein Vorwurf mitschwingt, an wen richtet er sich: an Funktionsträger, Verantwortliche in der gesellschaftlichen Hierarchie oder gar gleich an die ganze »Gesellschaft« – wo doch der Autor selbst ein solcher »Entscheidungsträger« ist, der als Arzt an zentraler Stelle gesessen hat, nur um selbst drogenkrank zu werden? Anders gefragt: Kann man jemandem eine solche elementare Schwäche vorwerfen? Man möchte wissen, ob es überhaupt möglich ist, aus der Sucht Erkenntnis zu gewinnen, ob Krankheit Weisheit hervorruft. Einen freien Willen mag man dem Menschen jedenfalls nach der Lektüre nicht mehr so einfach attestieren. Statt dessen ist vom »Kreischen der Rezeptoren« die Rede: »Nichts am Menschen ist hierarchisch gegliedert, besonders seine Sucht nicht.« Salloch-Vogels Buch ist so gesetzt, dass sich Sinnsprüche und Zeichnungen auf der linken, die Kolumnentexte auf der rechten Seite befinden. »Jemand, der einen Süchtigen liebt, wird seelisch deckungsgleich krank«, schreibt der Autor. Jeder mag sich ausmalen, was das für die Selbstliebe bedeutet. Drogen bezeichnen nach Salloch-Vogel einen Mangel. In den Worten seines Alter Ego Rolf Zweifel: »Dann muss ich mich irgendwo abgeben, um überleben zu können.« Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: Im Zweifel ohne. Mit Illustrationen von Dagmar Heidt-Müller. Trokkenpresse-Verlag, Berlin 2008. 120 S., 6,20 Euro
Jürgen Kiontke
Jürgen Kiontke: Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: »Im Zweifel ohne«
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dschungel
12.03.2009
https://jungle.world//artikel/2009/11/das-kreischen-der-rezeptoren?page=0%2C%2C2
The Queen of Sprint
Stella Walsh Alieu Darbo. Zwischen 2012 und 2016 ging der Name des schwedischen Fußballers mit gambischen Eltern in Europas Fußballszene um wie das Gespenst aus dem Kommunistischen Manifest durch das Europa der Mitte des 19. Jahrhunderts. 2013 ergatterte das angebliche Supertalent einen Dreijahresvertrag bei Dinamo Zagreb. Leider war er »verletzt«, so dass er kein Probespiel absolvieren konnte. Aber seine Referenzen waren erstklassig, ausgestellt vom renommierten Talentscout Björn Andersson. Dumm nur: Das Empfehlungsschreiben war gefälscht und wenige Monate später setzte sich Darbo aus Zagreb ab, nur um beim damaligen süditalienischen Zweitligisten FC Crotone wieder aufzutauchen, wo man ihn mit Kusshand nahm, da er ja »bei Zagreb gespielt« habe. Auf seinem Bankkonto hatte er 40 000 Euro, die man ihm in Kroatien dafür bezahlt hatte, die peinliche Affäre nicht auffliegen zu lassen. Für den FC Crotone absolvierte Darbo exakt ein Spiel, bevor er sich wieder davonmachte. Der Betrüger als Globetrotter. Alieu Darbo bei der Vertragsunterzeichnung in Ägypten. Sein nächstes Ziel war das griechische Saloniki. Dort tauchte er mit ­einem gefälschten Empfehlungsschreiben des Managers von Borussia Dortmund, Michael Zorc, auf, in dem dieser darum bat, Darbo unter Vertrag zu nehmen und ein paar Jahre Spielerfahrung sammeln zu lassen, bevor er nach Dortmund wechseln sollte. Dafür, so der falsche Brief, sei man bereit, den Funktionären von PAOK Saloniki vier Millionen Euro als Aufwandsentschädigung zu zahlen. Nur Stunden, bevor der Betrug aufflog, hatte sich Darbo bereits wieder ins Ausland abgesetzt. Er zog den Trick in Norwegen, Malta, Ägypten und Algerien erneut ab. Jedes Mal tauchte er mit phantastischen Empfehlungsschreiben auf, lieferte eine unterirdische Leistung und verschwand spätestens nach wenigen Monaten wieder in der Versenkung. Erst 2017 endete diese Hochstaplerkarriere. Das Portal »Transfermarkt.de«, auf dem Darbo noch bis 2016 einen Marktwert von 50 000 Euro hatte, listet seinen Preis seither mit null Euro. Um welche Beträge Darbo die diversen Fußballclubs insgesamt geprellt hat, ist bis heute unklar, da bislang niemand, vermutlich aus Scham, Strafanzeige erstattet hat. Darbo freilich bestritt alle Vorwürfe.
Bernhard Torsch
Bernhard Torsch: Betrüger im Sport
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Sport
01.08.2019
https://jungle.world//artikel/2019/31/queen-sprint?page=0%2C%2C1
Zeugen der Anfrage
Helena Ranta war natürlich nicht geladen worden. Und auch auf die Kollegen der finnischen Pathologin, die Anfang letzten Jahres in der niederländischen Fachzeitschrift Forensic Science International einen Bericht über die Autopsie von 40 im Januar 1999 in der kosovo-albanischen Ortschaft Racak gefundenen Leichen veröffentlicht hatten, wartete man vergeblich. Daran, dass der französische Journalist Christoph Châtelot den Zeugenstand des Gerichtssaals in Den Haag betreten würde, war ohnehin nicht zu denken. Der Reporter befand sich am Tag des vermeintlichen Massakers von Racak in der kleinen Ortschaft und hatte danach als erster die Fragen gestellt, die im Prozess gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic in der vorigen Woche peinlich vermieden wurden. »Warum so wenig Patronen rund um die Leichen, so wenig Blut in jener Senke, wo doch angeblich 23 Menschen aus nächster Nähe mit mehreren Kopfschüssen getötet worden sein sollen?«, schrieb er damals in Le Monde. »Waren nicht vielleicht die Körper der in den Kämpfen mit der Polizei getöteten Albaner in dem Graben zusammengetragen worden, um ein Horroszenario zu schaffen, das mit Sicherheit einen entsetzlichen Effekt auf die öffentliche Meinung haben würde?« Tatsächlich wirkte das angebliche Massaker in Racak wie kein zweites Ereignis vor dem Nato-Bombardement. Der US-amerikanische Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker, konstatierte noch am Tag des Leichenfundes einen serbischen Massenmord. »Natürlich war die Episode in Racak entscheidend für die Bombardierungen«, erklärte er später. Und schon am 17. Januar 1999, am Tag nach Walkers Besuch in Racak, verkündete US-Präsident Bill Clinton: »Das Massaker ist eine klare Verletzung der Verpflichtungen, die serbische Stellen gegenüber der Nato eingegangen sind.« Zwei Monate nach dem Kriegsbeginn am 24. März schließlich befand der deutsche Außenminister Joseph Fischer in der Zeit: »Racak war für mich der Wendepunkt.« Wohl nicht zuletzt wegen seiner enormen propagandistischen Wirkung fand der bis heute ungeklärte Hergang der Ereignisse in dem kosovo-albanischen Dorf bereits im Mai 1999 Eingang in die Klage des Uno-Kriegsverbrechertribunals gegen Slobodan Milosevic - obwohl die Ermittler der Vereinten Nationen die Ortschaft bis dahin nie gesehen hatten. Erst nach dem Ende des Kosovo-Krieges im Juni 1999 erhielten sie Zugang zu der jugoslawischen Provinz. In der vergangenen Woche schließlich lud die Chefanklägerin Carla del Ponte hochrangige Zeugen der OSZE, Menschenrechtler und Augenzeugen der Auseinandersetzungen nach Den Haag, die den Tathergang rekonstruieren sollten. Doch die finnische Gerichtsmedizinerin Helena Ranta, die im Auftrag der EU-Kommission und der OSZE wenige Tage vor dem Beginn des Nato-Bombardements einen ersten Autopsiebericht vorgelegt hatte, der keine Hinweise auf ein Massaker an Zivilisten enthielt, fehlte ebenso wie die serbischen und weißrussischen Pathologen, die nach der Untersuchung der Leichen erhebliche Zweifel an der offiziellen Version geäußert hatten. Stattdessen pickte sich das Gericht kritischer Nachfragen unverdächtige Opfer des Geschehens heraus oder Mitglieder der OSZE-Beobachtermission, die keine Widersprüche zur Darstellung ihres Chefs William Walker anzumelden hatten. So beharrte der kanadische General Michel Maisonneuve darauf, dass es sich um ein Massaker serbischer Einheiten an kosovo-albanischen Zivilisten gehandelt habe, obwohl auch er nicht erklären konnte, weshalb die Angaben über die Zahl der in einer Senke am Ortsrand von Racak gefundenen Leichen bis heute zwischen 40 und 45 schwanken. Walker hatte bei seinem Eintreffen an der heute nach ihm benannten Fundstätte von 45 Exekutierten gesprochen, die OSZE-Mitarbeiter kamen jedoch auf 40 Leichen. Bereits die Anklageschrift bleibt in diesem Punkt äußerst vage. »Am oder um den 15. Januar 1999, in den frühen Morgenstunden, wurde das Dorf Racak (Gemeinde Stimlje/Shtime) von Sicherheitskräften der Bundesrepublik Jugoslawien und Serbiens überfallen«, heißt es da. »Dorfbewohner, die vor der serbischen Polizei zu fliehen versuchten, wurden überall im Dorf erschossen. Eine Gruppe von etwa 25 Männern versuchte, sich in einem Gebäude zu verstecken, wurde aber von der serbischen Polizei entdeckt. Sie wurden zusammengeschlagen und dann zu einem nahe gelegenen Hügel gebracht, wo sie von den Polizisten erschossen wurden. Insgesamt töteten die Sicherheitskräfte der Bundesrepublik Jugoslawien und Serbiens ungefähr 45 Kosovo-Albaner in und um Racak.« Doch nicht nur der Versuch der Anklage, die widersprüchlichen Zeugenaussagen und Untersuchungsberichte, die zum Fall Racak in den vergangenen drei Jahren zusammengekommen sind, in dem Völkermordprozess gegen Milosevic auszublenden, fiel unangenehm auf. Auf ausgewogenere Aussagen als die des kanadischen Generals Michel Maisonneuve oder seines britischen Kollegen Karol Drewienkiewicz, der ebenfalls an der Massaker-These festhielt, wartete man in der vorigen Woche vergeblich. Dabei hatte der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, Paddy Ashdown, noch im April in Den Haag die Kosovo-Befreiungsarmee UCK als »destabilisierenden Faktor« bezeichnet. Bei der Beantwortung der Frage aber, ob die Toten von Racak wehrlose tötet wurden, oder aber Kämpfer der UCK, die bei Feuergefechten starben, spielte das keine Rolle. Juristische Probleme könnte der Chefanklägerin del Ponte allerdings noch die Tatsache bereiten, dass die Indizien für die von ihr behauptete bis nach Belgrad reichende Befehlskette mehr als vage sind. So sollen dem britischen General Drewienkiewicz zufolge die Offiziere vor Ort ihre Anweisungen vom damaligen stellvertretenden Premierminister Serbiens, Nikola Sainovic, erhalten haben. Auch der in Serbien wegen geheimer Zusammenarbeit mit dem Tribunal vorübergehend festgenommene Ratomir Tanic, der von 1995 bis 1998 die Verhandlungen zwischen der Regierung in Belgrad und Vertretern der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) Ibrahim Rugovas leitete, behauptete das, jedoch ohne die entsprechende Beweise liefern zu können. Die Strategie der Anklage, nur jenen Zeugen zu glauben, die sie selbst bestellt hat, bereitete dem Vorsitzenden Richter Richard May jedenfalls einige Probleme. Immer wieder musste er Milosevic unterbrechen, der die Zeugen durch geschickte Nachfragen auf Widersprüche in ihren eigenen Aussagen hinwies. Bis May der Geduldsfaden riss: »Wir gestatten Ihnen, dieses Kreuzverhör fortzuführen, aber nur unter einer Bedingung: dass Sie kurze Fragen stellen.«
roman filipovic
roman filipovic: Der Fall Racak vor dem Kriegsverbrechertribunal
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Ausland
12.06.2002
https://jungle.world//artikel/2002/24/zeugen-der-anfrage?page=0%2C%2C1
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