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Nachhaltig exponiert
Welches Zukunftsbild schwebt den Managern weltweit agierender Konzerne wie Langnese-Iglo, Sony oder der Allianz vor? Demnächst wird es in Hannover zu sehen sein. Eines ist jedenfalls schon jetzt klar: Mit Superlativen soll auf der Expo 2000, der ersten Weltausstellung, die in der Bundesrepublik stattfindet, nicht gegeizt werden. Denn die Ziele sind hoch gesteckt: Man will, wie der Eigenwerbung zu entnehmen ist, »im Rahmen einer faszinierenden Erlebnislandschaft Lösungen für die Zukunft beispielhaft, anschaulich und konkret präsentieren«. Vom 1. Juni bis zum 31. Oktober soll das Spektakel in der niedersächsischen Landeshauptsstadt stattfinden. Das Motto: »Mensch, Natur, Technik«. Die Stichwörter: Bio- und Kommunikationstechnologien, nachhaltige Entwicklung, Agenda 21. Deutschland will sich als »Kulturnation und moderner Wirtschaftsstandort präsentieren«, um dadurch, so erläuterte Expo-Generalsekretärin Birgit Breuel, »das Bild der Bundesrepublik im Ausland auf viele Jahre hinaus positiv« zu prägen. Und während Politik und Industrie auf eine »neue Visitenkarte Deutschlands« im internationalen Geschehen setzen, artikuliert sich im einst als »längste linksradikale Kampagne« bekannt gewordenen Expo-Widerstand die Kritik. Schon Anfang der Neunziger entwickelte sich ein breites Engagement. Politische Zusammenhänge wie die Anti-Expo-AG Hannover oder das mittlerweile aufgelöste Bündnis Tipp-Ex (Treffen für intergalaktische Perspektiven gegen die Expo) haben sich gegründet, die Bundeskonferenz entwicklungspolitischer Gruppen (Buko), JungdemokratInnen / Junge Linke, Umweltschutz von Unten und der Bund deutscher PfadfinderInnen (BdP) deuten in etwa das umfangreiche Spektrum an, das sich gegen die Weltausstellung zusammengefunden hat. Bereits das siebte bundesweite Treffen verschiedener linker Gruppen, die sich seit eineinhalb Jahren gegen die Expo organisieren, fand Anfang April in Bielefeld statt. »In diesem Rahmen arbeiten internationalistische und antirassistische Initiativen, radikal ökologische Gruppen genauso wie Antifas oder Zusammenhänge, die sich mit Umstrukturierung beschäftigen«, erklärt Jörg Pohl vom Büro für mentale Randale. Das Bündnis bereitet für den Beginn der Expo eine Aktionswoche vom 27. Mai bis zum 4. Juni vor, deren Höhepunkt nicht die für den 27. geplante Großdemonstration, sondern ein dezentraler Blockade- und Aktionstag zum Eröffnungstag am 1. Juni darstellt. »Kleine und große, nette, spaßige oder direkte Aktionen, Blockaden und Störungen« sollen für Unruhe während des Auftakts der Ausstellung sorgen: »Wir sind Sand oder Steine im Getriebe.« Keine Frage: Die Organisatoren und Organisatorinnen träumen davon, an die Ereignisse von Seattle anknüpfen zu können. Sprecher Pohl ist optimistisch: »Wir haben die besten Chancen, die Eröffnung massiv zu behindern oder gar lahmzulegen.« Und auch nach dem dann doch einkalkulierten Start der Expo setzt man auf ein dezentrales Konzept, zumal die Weltausstellung durch ihre vielen bundesweiten Projekte auch außerhalb Hannovers viele Angriffspunkte bietet. So zählt etwa die Info-Box am Potsdamer Platz in Berlin zu den überregionalen Expo-Projekten. Oder die wegen der Hetzjagd auf den Algerier Farid Guendoul bekannt gewordene »Eurostadt Guben/Gubin« soll im Rahmen der Weltausstellung die »Vision des Zusammenwachsens einer deutschen und polnischen Stadt« symbolisieren. Wie schon bei früheren Großereignissen, etwa der Mobilisierung gegen den IWF-Weltbank-Kongress in Berlin 1988 oder dem Kölner »Gipfelsturm« 1999, ist auch beim Expo-Widerstand für alle etwas dabei. So hat etwa die Chiapas-Gruppe die Möglichkeit, am Mexiko-Aktionstag Ende August aktiv zu werden, und beinahe traditionsgemäß wurde der 3. Oktober zum Antinationalen Aktionstag auserkoren. An die eigene Riot-Vergangenheit erinnert sich die chaos.tage.de-Fraktion. Sie ruft dazu auf, vom 6. bis 8. August die Expo »gründlich zu beschädigen«. Es liegt auf der Hand: Wenn die Expo schon den Anspruch hat, Lösungsvorschläge für die Probleme der Zukunft zu liefern, dann bietet sie natürlich auch entsprechende Angriffsflächen. Und so war man auch auf Seiten des Widerstandes nicht eben zaghaft, wenn es galt, die Ziele zu formulieren. Als »Kristallisationspunkt für eine Neubestimmung linker Politik« sollte die Kampagne dienen, schrieb Hans Hansen in der Bremer Zeitschrift alaska. Kein weiteres »subkulturelles Szene-Event« wollte man organisieren, sondern auf einen Prozess gemeinsamer linker Organisierung hinarbeiten, die verschiedene Teilbereichsthemen miteinander verbinde. Dass die Realisierung diese Vorstellungen an »inzwischen altbekannten Fehlern einer auf Großereignisse orientierten Kampagnen-Politik« scheitern könnten, befürchtete die alaska-Redaktion schon im vergangenen Dezember. Und tatsächlich kommt so manche politische Debatte wegen Zeitmangels zu kurz. Man konzentriert sich auf die aktuell notwendige Organisation von Aktionen. Die Bremer Zeitungsmacher indes wollen Anfang Juni einen Workshop in Hannover veranstalten, der sich etwa mit einer »Standortbestimmung jenseits vom neuen Internationalismus« auseinander setzt. Dieser sei, wie der ebenso in den achtziger Jahren in der radikalen Linken diskutierte Neue Antiimperialismus »aktuell quasi bedeutungslos«. Zusammenhänge wie das aufgelöste Tipp-Ex-Treffen stellten ihre Expo-Kritik in den Kontext von Diskussionen, wie sie auch schon beim Kölner Gipfelsturm geführt wurden. Ihre Analyse betont den Zusammenhang zwischen Expo und Nachhaltigkeit: Die »Expo-MacherInnen« hätten »die Agenda 21 für sich entdeckt«, die sich am Begriff der nachhaltigen Entwicklung orientiere. Die Konsequenz: Die auf der Ausstellung gezeigten Ansätze sähen etwa die Lösung für Hunger-Probleme in gentechnologischen Projekten und rigider Geburtenkontrolle. Nicht zufällig also steht die Kritik an Bio-, Entwicklungs- und Bevölkerungspolitik für zahlreiche Initiativen im Vordergrund. Ganz ungewollt bekommen die linken Expo-Gegner und -Gegnerinnen allerdings auch Unterstützung von ganz anderer Seite: Rechtsradikale mobilisieren bereits für den 1. Mai nach Hannover, um das Spektakel für sich zu nutzen. Das Thema: gegen Globalisierung und für eine nationale Volkswirtschaft.
annika hoffmann
annika hoffmann: Proteste gegen die Expo
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Inland
26.04.2000
https://jungle.world//artikel/2000/17/nachhaltig-exponiert?page=0%2C%2C0
Bedrohliche Nachbarn
Viviane Reding hätte in der Roma-Angelegenheit mit Vertretern der französischen Regierung verhandeln sollen, statt ihre Kritik öffentlich zu äußern. Das ist die Meinung des einzigen europäischen Regierungschefs, der Nicolas Sarkozy im Streit um die französische Roma-Politik von Anfang an unterstützte. Der italienische Premierminister Silvio Berlusconi stellte im Interview mit der Zeitung Le Figaro klar, was er von dem europäischen Rechtsraum hält, nämlich gar nichts. Die Zukunft von Millionen von Roma betrachtet er als Privatangelegenheit der einzelnen Staaten. Berlusconi brauchte auch die Position seiner Regierung zum Thema Abschiebungen nicht zu erläutern, denn die ist seit Jahren allgemein bekannt. Mit einer ähnlichen Sicherheitskampagne gegen »Ausländerkriminalität« wie die vom Sommer in Frankreich gewann Berlusconi die Wahlen im Jahr 2008. Wenige Wochen nach seinem triumphalen Wahlsieg kam es in einem Vorort von Neapel zu antiziganistischen Pogromen. Der rassistische Mob bestand aus »aufgebrachten« italienischen Bürgern. Die damals frisch gewählte rechtskonservative Regierung verabschiedete daraufhin Gesetze, die das Vorgehen der Täter de facto legitimierten, statt die Opfer vor rassistischen Angriffen zu schützen. Die Entscheidung, eine Fingerabdruck-Kartei sämtlicher Roma anzulegen und biometrische Daten auch von Minderjährigen zu erfassen, sorgte allenfalls für moralische Entrüstung. Das Europa-Parlament forderte die italienische Regierung auf, die Maßnahme zuückzunehmen. Doch die EU-Kommission erklärte das Sammeln der Fingerabdrücke für rechtens, solange es als »letztes Mittel« geschehe, wie der damalige Justizkommissar Jacques Barrot erklärte. Die EU verfügt neben Antidiskriminierungsrichtlinien über vielfältige Instrumente, um die soziale Ausgrenzung der Roma zu bekämpfen. Das Netzwerk EURoma koordiniert Projekte, die vom Europäischen Sozialfonds finanziert werden und die »soziale Einbeziehung« von Roma fördern sollen. Die Europäische Plattform zur Einbeziehung der Roma soll die Integrationspolitik auf europäischer Ebene besser koordinieren. Alle zwei Jahre finden außerdem Roma-Gipfel statt. Trotzdem tut sich die EU offenbar schwer, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln und für alle Mitgliedsstaaten geltende, verbindliche Regeln zum Schutz und zur Integration der größten europäischen Minderheit durchzusetzen. Stattdessen verstärkt sich europaweit der Trend, die Roma als »Volksgruppe« zu betrachten und sie, offiziell aus Sicherheitsgründen, kollektiv abzuschieben. Mit der EU-Erweiterung 2004 und 2007 sind die aus Osteuropa stammenden Roma zu Bürgern der EU und zugleich zu einem Problem für diese geworden. An der strukturellen Diskriminierung, die sie in ihren Herkunftsländern erleben, änderte der EU-Beitritt nichts. Er machte aus vielen »Zigeunern« Bürger, die sich innerhalb der Union frei bewegen können. Er machte sie sichtbarer und zugleich bedrohlicher. Eine Studie der EU-Kommission im Jahr 2008 ergab, dass sich ein Viertel der Europäer unwohl fühlen würden, wenn ein Roma ins Nachbarhaus einzöge. Wie wenige andere europäische Politiker wissen Berlusconi und Sarkozy, wie man Ressentiments mobilisiert: durch die Inszenierung des Sicherheitsdiskurses, in dessen Mittelpunkt die Projektion des »kriminellen Ausländers« steht.
Federica Matteoni
Federica Matteoni: Über die Roma-Politik der EU
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Ausland
23.09.2010
https://jungle.world//artikel/2010/38/bedrohliche-nachbarn?page=0%2C%2C1
Körper ist Kopfsache
Es ist dunkel im Berghain. Auf der Bühne wühlen sich die älteren Herren der experimentellen Rockband Swans durch ihre ellenlangen Songs. Als sich eine junge Frau ihren Weg durch das Publikum bahnt, um sich das Konzert der legendären Band von der Seite aus anzusehen, beachtet sie kaum jemand. Gut möglich, dass die meisten sie nicht einmal erkennen. Dabei stand sie gerade noch selbst auf dieser Bühne und beeindruckte die Besucher mit infernalischem Krach. Der Jubel am Ende ihres Auftritts war ebenso laut wie die Musik selbst. Der Berliner Club ist wie geschaffen für die Musik der jungen New Yorkerin Margaret Chardiet, die den meisten besser als Pharmakon bekannt ist. Die kühle Gebrauchsarchitektur des ehemaligen Heizkraftwerks passt zu ihrer Musik, deren harsche Ästhetik sich zwischen Noise und Dark Industrial bewegt. Während Chardiet ihre Songs aus Loops, entfremdeten Schreien, Melodiefragmenten und stumpfen Beats zusammenschraubt, quillt ein mächtiger Bass aus den riesigen Lautsprechertürmen. Er macht die Musik von Pharmakon zu dem, was sie vor allem sein soll: eine körperliche Erfahrung. Dass es sich bei Musik um Schwingungen handelt, die den Körper in Bewegung versetzen, braucht man den Clubbesuchern nicht zu erzählen. Und doch existiert ein Unterschied zwischen Chardiets Sound und dem, was hier an den meisten Abenden aus den Boxen wummert. Während Techno und House zwar auf der Tanzfläche physisch erfahrbar sind, könnte ihre Produktion kaum unkörperlicher vonstatten gehen. Ihre markerschütternden Schreie hingegen scheint Chardiet direkt ihrem Leib zu entreißen – nicht nur während ihrer Liveauftritte. Die Aufnahmen zu »Bestial Burden«, ihrem jüngsten Album, seien tatsächlich eine sehr körperliche Angelegenheit gewesen, sagt Chardiet. »Ich habe bei dieser Platte zum ersten Mal mit jemandem zusammengearbeitet, der sich um die technische Seite der Aufnahmen gekümmert hat«, erzählt sie. »So konnte ich mich voll und ganz auf die Körperlichkeit der Performance konzentrieren.« Eine Herangehensweise, die sich gelohnt hat – »Bestial Burden«, dessen Artwork aus Bildern toter Tiere und Maden besteht, ist noch schlüssiger als »Abandon«, das vorangegangene und von der Kritik gefeierte Album. Chardiet verarbeitet auf »Bestial Burden« eine Episode, die sie selbst vor rund einem Jahr durchlebt hat. Kurz vor der geplanten Tour durch Europa wurde eine zwölf Zentimeter lange Zyste an einem ihrer Organe entdeckt. Die Situation war ernst, der Gedanke an den Tod plötzlich alles andere als abstrakt. Ihr Wortlaut ist unter all dem Lärm oft schwer zu identifizieren. Dass Chardiet es aber ernst meint, daran besteht kein Zweifel. All das Düstere und Morbide in ihrer Musik ist nicht aufgesetzt, keine Geste. Chardiet vermittelt den Eindruck, viel von sich preiszugeben. Vielleicht liegt darin das Geheimnis ihres Erfolgs. Während die meisten anderen Künstler, deren Musik zwischen Noise und Industrial oszilliert, Kassetten in Kleinstauflagen veröffentlichen und mit Glück vor zwei Dutzend Zuschauern in Galerien auftreten, finden sich bei Pharmakon Hunderte, gar Tausende von Konzertbesuchern ein. Chardiet macht ihre Musik Hörern zugänglich, die ansonsten von harter und brutaler Ästhetik abgeschreckt werden. Das ist nur wenigen gelungen, Throbbing Gristle etwa oder Merzbow. Eine Erklärung dafür hat Chardiet nicht. Und eigentlich ist ihr die Frage auch unwichtig: »Ich denke darüber nicht wirklich nach«, sagt sie, »ich mache diese Musik schon seit sieben Jahren, habe mich nie besonders verändert oder angepasst. Warum sich nun plötzlich mehr Leute für Pharmakon interessieren, kann ich nicht sagen.« Und doch ist Chardiet längst nicht die einzige, die derzeit mit düsterer Musik erfolgreich ist. Auch Swans, mit denen sie schon mehrfach getourt ist, spielen heute vor einem größeren Publikum als in den achtziger Jahren. Und selbst Black-Metal-Bands werden seit einigen Jahren gefeiert. »Viele haben keine Lust mehr auf Lieder, die nur von Autos, Pussies und Besoffensein handeln. Vielleicht wünschen sie sich eine Musik, die mehr Bedeutung hat«, versucht sie im zweiten Anlauf doch eine Erklärung zu finden. »Gegenwärtig ist die Welt ein düsterer Ort. Vielleicht finden einige Menschen Trost oder Bestätigung in einer Musik, die ebenfalls düster ist.« Pharmakon ist aber nicht nur düster, die Musik geht an die Grenzen der Belastbarkeit. Für beide Seiten: So unangenehm es ist, einen Song wie »Primitive Struggle« zu hören, in dem offenbar jemand seine letzten Gallereste kotzt, so unangenehm war es sicherlich auch, diese Laute aus sich herauszuholen und aufzunehmen. Die wahre Brutalität der Musik jedoch liegt in ihren Inhalten, darin, wie menschliche Urängste thematisiert und wie die Person Margaret Chardiet in fast schamloser Weise offengelegt werden. »Sicher ist meine Musik extrem und radikal«, sagt Chardiet. »Aber nicht in dem oberflächlichen Sinn, wie diese Begriffe üblicherweise verwendet werden. Viele Menschen sagen ›extrem‹ und meinen damit nichts anderes als laut. Mir geht es eher um extreme Erlebnisse und Erfahrungen. Meine Musik ist radikal, weil ich versuche, Menschen in offener und ehrlicher Weise mit Ding0en zu konfrontieren, über die sie eigentlich nicht nachdenken wollen.« Ob ihr das immer gelingt, sei dahingestellt. Für viele, das weiß Chardiet selbst, ist sie nur eine junge Frau mit langen, blonden Haaren, die auf der Bühne steht, schreit und im Anschluss unerkannt zur Bar geht. Wer sich nicht auf ihre Musik einlassen kann, wird wenig mehr als rhythmischen Lärm und schmerzverzerrtes Geschrei hören. Pharmakon funktioniert dann am besten, wenn ihr Sound körperlich erfahrbar wird – aber nur, wenn der Kopf es zulässt. Pharmakon: Bestial Burden (Sacred Bones/Cargo Records)
Jan Tölva
Jan Tölva: Die düstere Musik von Pharmakon
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dschungel
06.11.2014
https://jungle.world//artikel/2014/45/koerper-ist-kopfsache?page=0%2C%2C3
»Ein Raum für freie künstlerische Entfaltung«
»Menschen stärker vernetzen, die von Antisemitismus betroffen sind oder sich dem entgegenstellen«. Stella Leder, Geschäftsführerin des Instituts für neue soziale Plastik Was war der Anlass dafür, eine jüdische Kunstschule zu gründen?Die antisemitischen Proteste und Störaktionen im letzten Winter an Kunsthochschulen und Kulturinstitutionen. Wir haben mit vielen Betroffenen, auch mit Studierenden und jungen Künstlern gesprochen. Wir wollen einen eigenen Raum schaffen, ohne diese ideologischen Debatten und ohne Antisemitismus. In diesem Raum soll man frei künstlerisch arbeiten können. Außerdem sollen Menschen stärker vernetzt werden, die von Antisemitismus betroffen sind oder sich dem entgegenstellen. Wir wollen auch Menschen ansprechen, die aufgrund von Boykottaufrufen aus künstlerischen Räumen ausgeschlossen wurden. Im Fokus steht dabei immer die künstlerische Arbeit. Wo ist die Jüdische Kunstschule?Wir kooperieren mit der Universität der Künste, aber die Master Classes finden an ganz unterschiedlichen Orten statt. Wir haben Ateliers und Proberäume angemietet. Wie wird sichergestellt, dass diese Master Classes nicht ebenso gestört werden?Wir hatten Vorgespräche mit den Professoren und Künstlern, die die Klassen leiten. Die haben die Situation auf dem Schirm und können im Notfall reagieren. Außerdem sind die Klassen nicht öffentlich, man musste sich mit einem Portfolio und einem Motivationsschreiben bewerben. Da merkt man schon, wie die Leute so sind. »An der UdK gibt es viele Lehrende, die von den Protestaktionen verstört waren. Sie wollten gerne etwas für die betroffenen Studierenden machen.« Welche Schritte stehen als Nächstes an, welche sind geplant?Die erste Klasse leitet der israelische Fotograf David Adika, es geht um Fotografie, Identitäten und Menschenrechte. In den bildenden Künsten haben wir auch Klassen zu Malerei und Skulptur, außerdem Schauspiel und Regie sowie Musik. Insgesamt bieten wir acht Klassen mit jeweils fünf bis zehn Teilnehmern an. Der Reiz an solchen Klassen ist die enge Betreuung, das direkte Feedback, darum sind sie so klein. Im Januar planen wir ein öffentliches Begleitprogramm und am 2. Februar eine öffentliche Abschlusspräsentation, bei der gezeigt wird, was in den Klassen erarbeitet wurde. Und wir hoffen natürlich, dass wir auch im nächsten Jahr wieder durch die Senatsverwaltung für Kultur gefördert werden. Die Universität der Künste ist unrühmlich in die Schlagzeilen geraten wegen antiisraelischer »Performances« und Berichten über ein antisemitisches Klima. Wie lief denn die Zusammenarbeit?Total gut. An der UdK gibt es viele Lehrende, die von diesen Protestaktionen verstört waren. Sie wollten gerne etwas für die betroffenen Studierenden machen. Es laufen diverse Prozesse innerhalb der Universität. Sie hat inzwischen eine Antisemitismusbeauftragte. Aber in den Universitätsstrukturen etwas zu verändern, dauert lange, auch mit gutem Willen. Unser Projekt ist eine Ergänzung dazu, ein Raum, der für freie künstlerische Entfaltung steht. Das hat die UdK gerne unterstützt.
Silvia Stieneker
Silvia Stieneker: Stella Leder, Geschäftsführerin des Instituts für neue soziale Plastik, im Gespräch über die neue Jüdische Kunstschule in Berlin
[ "Kunst", "Hochschulen", "Judentum", "Jüdisches Leben in Deutschland", "Antisemitismus", "Berlin" ]
Small Talk
21.11.2024
https://jungle.world//artikel/2024/47/neue-juedische-kunstschule-berlin-ein-raum-fuer-freie-kuenstlerische-entfaltung?page=0%2C%2C2
Sie prügeln inkognito
Die Täter sind überall. Sie sind unauffällig, unscheinbar, überangepasst. Und sie sind viele, vielleicht fünf Millionen. Jeder fünfte deutsche Mann, der in einer heterosexuellen Beziehung lebt, verübt körperliche Gewalt an Frauen, schätzt der Hamburger Gewaltberater Joachim Lempert: »In jedem Bus, in jeder Kinovorstellung ist man von Gewalttätern umgeben.« Obendrein begegnen viele Opfer ihrem Peiniger täglich – in der eigenen Wohnung. Weltweit protestieren Frauenorganisationen am 25. November gegen die ungebrochene Männergewalt. Das Datum geht zurück auf den 25. November 1960. Damals wurden drei Schwestern, die gegen die brutale Militärdiktatur in der Dominikanischen Republik gekämpft hatten, vom militärischen Geheimdienst nach monatelanger Folter grausam ermordet. Lateinamerikanische und karibische Feministinnen erklärten im Jahr 1981 ihren Todestag zum Internationalen Aktionstag gegen Gewalt an Frauen, weiteten die Proteste gegen den schrecklichen Mord auf die unerträgliche männliche Alltagsgewalt aus. Sie lenkten damit den Blick auch auf die Gewaltverhältnisse im Innern der reichen westlichen Welt. Auf deutsche Männer etwa, von denen rund 20 Prozent vorübergehend oder dauerhaft eine Frau misshandeln. Erst vor wenigen Wochen veröffentlichte die Bundesregierung eine Studie, die zwar nichts grundlegend Neues enthält, aber das hohe Gewaltniveau in Deutschland regierungsamtlich bestätigt (Jungle World, 46/04). Zwei von fünf Frauen haben danach »körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlebt«. Rund ein Viertel aller Frauen in Deutschland, gut zehn Millionen also, werden oder wurden von ihrem aktuellen oder früheren Lebenspartner misshandelt. »Gewalt gegen Frauen und Mädchen gehört zu den schweren Menschenrechtsverletzungen«, heißt es in der Publikation. Würden die Untersuchungsergebnisse aus einer übel beleumundeten Diktatur gemeldet, verfiele Deutschland am 25. November wohl in einen Sturm der Empörung. Die Täter sind meist mit dem Opfer gut bekannt. Weniger als 20 Prozent der misshandelten Frauen nannten einen Fremden als Aggressor, sieben von zehn Frauen erlitten die Gewalt in der eigenen Wohnung. Die Täter sind in aller Regel »bemerkenswert unauffällig«, schreibt Gewaltberater Lempert, der die Hamburger Beratungsstelle »Männer gegen Männergewalt« leitet. Männergewalt, das bestätigt er, ist überdies »unabhängig von Bildung und Einkommen, über alle Bevölkerungsgruppen gleich verteilt«. Wie aber kann es gelingen, den Gewalttätern Einhalt zu gebieten? Frauennotrufe, Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser unterstützen seit Jahrzehnten die Opfer, schaffen für Frauen Möglichkeiten zum Ausbruch aus einem Gewaltverhältnis. Einen Beitrag von Männern zur Beendigung der unhaltbaren Verhältnisse würde man sich eigentlich wünschen. Seit einigen Jahren sind Tätertherapien verstärkt im Gespräch, darunter auch Zwangstherapien: Täter werden von Gerichten verpflichtet, sich einer Behandlung zu unterziehen. Eine Zwangstherapie kann gar nicht gelingen, meint Frank Arlandt von der Kölner Beratungsstelle »Männer gegen Männergewalt«: »Ich kann keinen zwingen, sein Verhalten zu verändern, es muss sich eine Eigenmotivation entwickeln.« Die entsteht – wenn überhaupt – durch den Druck des sozialen Umfelds, oft durch die Trennungspläne der misshandelten Frau. Hier setzt Arlandt an: Per Telefon-Hotline können reuige Täter Kontakt zu »Männer gegen Männergewalt« aufnehmen. Bescheinigungen, die etwa vor Gericht entlastend verwandt werden könnten, gibt es für die Beratung nicht. Die meisten Täter legen sich Ausreden zurecht, berichtet Arlandt. In einem ersten Schritt muss der Täter anerkennen, dass er für seine Tat verantwortlich ist, sich bewusst für die Misshandlung entschieden hat. »Es gibt keine Entschuldigung für Gewalthandeln«, stellt Arlandt fest. Geschlechtsspezifische Verhaltensmuster spielen dabei eine entscheidende Rolle, meint er: »Männer nehmen die eigenen Grenzen nicht wahr, und auch nicht die Grenzen von anderen. Auf ›unmännliche‹ Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst oder Trauer reagieren viele mit Gewalt.« Arlandts Beratung zielt daher auf die Entwicklung sozialer Kompetenz, auf die Fähigkeit, Grenzen zu akzeptieren und mit den eigenen Aggressionen vernünftig umzugehen. »Männer gegen Männergewalt« ist inzwischen in mehr als 20 Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz aktiv. Die Beratungsstellen, die in den vergangenen 15 Jahren mehrere tausend Gewalttäter beraten haben, richten sich hauptsächlich an das »Dunkelfeld«: An die rund 95 Prozent der gewalttätigen Männer, die für ihre Tat nicht vor Gericht gebracht wurden und in Statistiken nicht als Straftäter in Erscheinung treten. Anders verhält es sich bei Zwangstherapien. Nehmen Straftäter an einem Täterprogramm teil, dann können Staatsanwaltschaften unter Umständen von einer Anklageerhebung absehen. Therapie statt Strafe – das ist für Gewalttäter oft nur eine billige Möglichkeit, weitergehende Konsequenzen aus ihrer Misshandlung von Frauen zu vermeiden. Dabei ist der Erfolg von Zwangstherapien mehr als ungewiss, kritisieren Unterstützerinnen der Opfer. Umso fataler sind die Kürzungen, die staatliche Stellen den Fraueninitiativen gegen Männergewalt zumuten. »Am Tag, bevor Bundesfamilienministerin Renate Schmidt die neue Gewaltstudie vorstellte, beschloss der Berliner Senat eine weitere Kürzung des Frauenetats«, berichtet Kristin Fischer vom Zweiten Berliner Frauenhaus. Auf eine halbe Million Euro belaufen sich die Kürzungen des Senats insgesamt, für das Zweite Frauenhaus erzwingen sie eine Halbierung der Belegplätze. In Hessen hat die Landesregierung inzwischen die Mittel für acht von 32 Frauenhäusern komplett gestrichen, sagt Eva-K. Hack von der Zentralen Informationsstelle für Autonome Frauenhäuser in Kassel. Dabei sind die – noch – fast 400 Frauenhäuser in Deutschland durchgängig belegt, berichtet Hack. Ein Rückgang der Männergewalt ist nicht in Sicht. In Hessen haben die angezeigten Gewalttaten an Frauen im vergangenen Jahr um 20 Prozent zugenommen, berichtet das Kasseler Kooperationsbündnis »Nein zu Gewalt an Frauen«. Angesichts von Hartz IV fürchten viele Frauenhausmitarbeiterinnen einen weiteren Anstieg der Gewalt. »Ein Licht für jede Frau« heißt die Aktion, mit der Frauenhäuser bundesweit am 25. November gegen die ungebrochene Männergewalt protestieren wollen. Achtstellig müsste die Anzahl der Lichter sein, sollte jede misshandelte Frau eines bekommen. Die Täter treiben sich weiterhin überall herum. »Sie sind als Täter nicht erkennbar«, schreibt Gewaltberater Lempert: Sie sind unauffällig, unscheinbar, überangepasst.
Jörg Kronauer
Jörg Kronauer:
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Inland
24.11.2004
https://jungle.world//artikel/2004/48/sie-pruegeln-inkognito?page=0%2C%2C2
Saddam wanted
Dass Hassan Ali al-Majid, ein Vetter Saddam Husseins, der wegen des von ihm befehligten Gifgaseinsatzes gegen Kurden in Halabja im Jahre 1988 auch »Chemie-Ali« genannt wurde, bei der Bombardierung seiner Villa in Basra sein Leben ausgehaucht hat, gehörte bis vor wenigen Tagen noch zu den Gewissheiten dieses Krieges. Ganz sicher seien sich jene britischen Spezialeinheiten gewesen, die das Haus nach der Einnahme von Basra untersucht hätten. Doch mittlerweile sind wieder Zweifel aufgetaucht. »Er ist wie Freddy Krueger«, meinte ein britischer Offizier: »Wir haben ihn schon fünfmal getötet.« Die Zweifel des Briten am tatsächlichen Tod des Generals werden nun auch durch jene Fahndungsliste genährt, die vom US-Kommando an die Truppen verteilt wird: unter den 55 meistgesuchten Vertretern des alten Regimes findet sich auch Chemie-Ali. Mag Saddam Husseins Regime auch zusammengebrochen sein, so fehlt von den einstigen Staatsführern jede Spur. In Syrien könnten sie sein, sich in Saddam Husseins Heimatregion Tikrit versteckt haben, in Bunkern unter Bagdad ihrer Festnahme harren, sich in sicheren Privathäusern aufhalten oder vielleicht doch tot sein. Wo immer und in welchem Zustand sich Saddam Hussein und seine Getreuen befinden, so gibt ihr Verschwinden aus Bagdad doch einige Rätsel auf. Immer mehr weist darauf hin, dass der Abzug des Regimes aus Bagdad weniger eine Flucht als ein kalkulierter Rückzug war. Obwohl die US-Bombardements die Kommunikationsstrukturen des Regimes in den Tagen vor dem Fall Bagdads weitgehend unbrauchbar gemacht hatten, wussten offensichtlich sämtliche Mitarbeiter des Regimes schon Tage vor dem endgültigen Einzug der US-Amerikaner, dass es besser war, nicht mehr an den Arbeitsplätzen zu erscheinen. Bereits am Morgen vor der Einnahme der Stadt durch die US-Truppen verabschiedeten sich jene Geheimdienstmitarbeiter von den Journalisten im Hotel Palestine, die seit dem Beginn des Krieges zu deren Überwachung eingesetzt waren. US-Soldaten, die Präsidentenpaläste in Bagdad besetzten, mussten feststellen, dass wertvolles Mobiliar schon ausgeräumt worden war – bevor dann die Plünderer in Bagdad den Rest besorgten. Auch die Verteidigung Bagdads war alles andere als tapfer. Während die US-Truppen Tage zuvor noch im Sand der irakischen Wüste festsaßen und es um Städte wie Nasirija, al-Najaf, Kerbela oder Basra erbitterte Kämpfe gab, war die Hauptstadt schnell befreit. Panzer wurden nur dort gebraucht, wo es galt, Saddam-Statuen vom Sockel zu reißen. Wo also waren die gefürchteten Republikanischen Garden, deren Widerstand gerade in Bagdad erwartet worden war? Wohin verschwand die angeblich 500 000 Mann starke irakische Armee? Die USA haben nach eigenen Angaben rund 8 500 irakische Soldaten gefangen, weitere 3 000 sollen getötet worden sein. Von Massenkapitulationen ist bislang wenig bekannt, auch lange Trecks marodierender und plündernder irakischer Soldaten auf dem Heimweg vom Schlachtfeld gibt es nicht. »Ich gehe davon aus, dass wohl eine sechsstellige Anzahl von irakischen Soldaten getötet oder verwundet worden ist«, versucht Steven Baker, ein ehemaliger Admiral der US-Flotte im Persischen Golf, das wundersame Verschwinden der irakischen Armee zu erklären. Auch unter den rund 100 000 an der iranischen Grenze wartenden Flüchtlingen seien wohl viele irakische Soldaten zu finden. Ben Works, ein amerikanischer Militäranalytiker und derzeit für die ARD in Washington tätiger Kriegsexperte, bezweifelt die offiziellen Angaben über die Truppenstärke: »Viele irakische Divisionen, die offiziell eigentlich 10 000 Man haben sollten, hatten von Anfang an nur 5 000 bis 8 000 Mann.« Mussten die Amerikaner bei ihrem Eintreffen in Bagdad, dem »Herz des Regimes« (Donald Rumsfeld), also bloß Schattenboxen betreiben und sich mit einer Armee anlegen, die gar nicht mehr existierte? Vielleicht. Der Rest lässt sich möglicherweise mit fein kalkulierter Sabotage und mit der Flucht des Diktators aus der Realität erklären. »Saddam Hussein war mit der Wirklichkeit kaum mehr verbunden, wie der russische Vermittler Jewgeni Primakow während eines Besuchs in Bagdad vor dem Krieg vermutete. Wahrscheinlich haben es die irakischen Kommandeure den US-Truppen nicht besonders schwer gemacht, in Bagdad einzudringen. Es war wohl eine Mischung aus Sabotage und Inkompetenz«, so Ben Works. Als nämlich Primakow den irakischen Staatschef von den Verlockungen eines rechtzeitigen Exils zu überzeugen versuchte, klopfte ihm Saddam Hussein angeblich auf die Schulter und verließ den Raum. In russischen Geheimdienstkreisen wiederum geht man davon aus, dass es sich zumindest in der letzten Phase dieses Feldzugs um einen »ausgehandelten Krieg« gehandelt habe. Um einen blutigen Häuserkampf in Bagdad zu vermeiden, sollen sich die USA auf einen von Russland eingefädelten Deal eingelassen haben: Saddam Hussein würde seine gefürchteten Republikanischen Garden in Bagdad nicht zum Einsatz kommen lassen und sich aus der Hauptstadt zurückziehen, er selbst hingegen würde ins Exil gehen können. Selbst die Sicherheitsberaterin von George W. Bush, Condoleezza Rice, soll in die Verhandlungen eingebunden gewesen sein, als sie in der Vorwoche überraschend Moskau besuchte. Für die Existenz eines solchen Plans für einen Show-Krieg spricht, dass in Bagdad selbst bloß eingesickerte »Märtyrer« aus arabischen Staaten Widerstand leisteten, während es keinerlei koordinierte Militäraktion zur Abwehr der Invasionstruppen gab. Der iranische Geheimdienst wiederum will wissen, dass die Kommandeure der Republikanischen Garden schon frühzeitig einen Separatfrieden mit den USA ausgehandelt hatten und ihre Einheiten gar nicht zur Verteidigung Bagdads antraten. Dafür dürften sie nun auf eine gewisse Immunität hoffen. Wiewohl ein solches Szenario militärisch für beide Seiten durchaus sinnvoll erscheint, wäre es politisch ein schmutziges Geschäft, das den USA auch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit in ihrem Bestreben nehmen würde, den Mittleren Osten von den regionalen Despoten zu säubern. Ein Saddam Hussein, der am Swimmingpool in einer gemieteten Villa in Damaskus oder in Russland sitzt und dort als politischer Emeritus wirkt, wäre auch für die befreiten Iraker ein schwerer Schlag. Das Überleben des Symbols der Diktatur wäre nicht nur eine psychologische Niederlage, der Despot könnte sogar versuchen, die zu erwartenden Schwierigkeiten der jungen Demokratie auszunutzen. Das Versprechen der Bush-Administration, Saddam Hussein tot oder lebendig zu erwischen, erwiese sich dann als ebenso leer wie die vollmundigen Ankündigungen, der Irak werde bald als Hort von Massenvernichtungswaffen entlarvt. Schon jetzt hat US-Außenminister Colin Powell Syrien davor gewarnt, Saddam Hussein und seiner Clique Asyl zu gewähren: »Es wäre sehr unklug, wenn Syrien plötzlich zu einem sicheren Hafen für alle diese Leute würde, die vor Gericht gehören und versuchen, aus Bagdad herauszukommen«, sagte Powell der BBC. Die USA hätten auch gute innenpolitische Gründe, sich einem Deal doch zu verweigern. George W. Bush kann es sich nicht abermals leisten, einen weiteren Feind laufen zu lassen, während Ussama bin Laden offensichtlich noch immer irgendwo im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan haust.
Martin Schwarz
Martin Schwarz:
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Ausland
16.04.2003
https://jungle.world//artikel/2003/16/saddam-wanted?page=0%2C%2C3
Nazirock am Baumarkt
Um vier Uhr klingelte der Wecker für so manchen Antifaschisten, aber auch für manch engagierte Bürgerin in Jena. Etwa 500 DemonstrantInnen versammelten sich schon in den frühen Morgenstunden auf dem Platz »Am Gries« im Osten der Stadt. Stadträte und Dezernenten hakten vermummte Jugendliche unter und trotzten allen Aufforderungen der Polizei, den Platz für die Nazis zu räumen. Am Freitag hatte das Oberverwaltungsgericht Weimar den Weg frei gemacht für das von der örtlichen NPD angemeldete »Fest der Völker« – eine geradezu schmeichelhafte Bezeichnung für ein Treffen europäischer Neonazimusiker und -funktionäre. Die Stadt hatte ihr Verbot des ursprünglich auf dem Marktplatz der Stadt angemeldeten Rechtsrockfestivals mit der Behauptung begründet, hierbei handele es sich um keine politische Veranstaltung im Sinne des Versammlungsgesetzes, sondern um eine, die lediglich dem Vergnügen diene. Die Frage, ob das Ereignis nicht mindestens als Zeichen für eine Wiederbelebung des im Jahr 2001 in Deutschland verbotenen militanten rechtsextremen Netzwerks Blood & Honour zu werten sei, wurde weder von Juristen noch von der Stadt gestellt. Dabei waren Bands wie »Nothung« oder »Brigade M« angekündigt, die nach umfangreichen Antifarecherchen eindeutig dem Umfeld dieser Organisation zuzurechnen sind, und der angekündigte Redner Thomas Ölund ist ein Sektionsleiter in Schweden. Die Stadt Jena folgt auf diese Weise der stillen Vorgabe des Thüringer Verfassungsschutzes. Er behauptet auch in seinem Bericht für das Jahr 2004, die bestehenden Kontakte in der Szene seien rein privater Natur, obwohl mehrfach Bands aus dem Umfeld von Blood & Honour in Thüringen auftraten, lokale Nazirocker an dem Sampler mit dem unmissverständlichen Namen »Blood & Honour – trotz Verbot nicht tot« mitwirkten und zumindest Ende des Jahres 2003 noch Razzien wegen des Verdachts auf ein Fortbestehen des Netzwerkes stattfanden. Damit gibt man sich von staatlicher Seite zufrieden, obwohl der begründete Verdacht besteht, dass aus der ehemals zentralen Abteilung von Blood & Honour die »Division 28 – Sektion Thüringen« wurde wie einst aus Raider Twix. Wer weiß, wie gern Rechtsextremisten Buchstaben hinter Zahlen verbergen, wird schon in der Zahl 28 einen deutlichen Hinweis auf Blood & Honour finden. Doch die von Antifaschisten zusammengetragenen Informationen schienen die Stadt Jena wenig zu interessieren. Und den Richtern wurde schnell klar, dass es sich doch eher um eine politische Propagandaveranstaltung handelt, wenn Hunderte schlecht gekleideter Menschen brachialer Nazimusik und üblicherweise in Goebbels’scher Manier geschrienen Reden lauschen, weniger um ein kommerzielles Vergnügen. So wurde die Veranstaltung erlaubt. Die Neonazis bekamen zwar nicht die »gute Stube« der Stadt, aber ein Gelände unweit des Zentrums zugewiesen, wo seit Februar eine Gedenkveranstaltung der Antifa angemeldet war. Dort hätten sie sicherlich auch ihre Bühne aufgebaut, wäre der Platz nicht schon von feiernden Menschen besetzt gewesen. Eine Erfolgsgeschichte der Antifa, die eigentlich mit der Verabschiedung der Rechtsextremen Richtung Bahnhof und Autobahn hätte enden müssen. Aber das Ordnungsamt und die Einsatzleitung der Polizei suchten einen neuen Platz für die Veranstaltung. Man fand ihn in einem Gewerbegebiet, wo, entsprechend den Klischees über den Osten, der Baumarkt das markanteste Gebäude ist. Gegen Mittag begannen die im Zeichen des bürgerlichen Protests stehenden Aktivitäten in der Innenstadt. Es gab deutsch-französische Blasmusik, ein Kultur- und Kunstprogramm vor dem Theaterhaus und die obligatorischen Ansprachen, HochschulsportlerInnen reckten rote Karten in die Luft. Aber dem großspurig auf den städtischen Plakaten angekündigten Motto »Kein Platz für Nazis« folgten keine konsequenten Taten. Vielmehr bekamen die meisten BesucherInnen des Festes im Zentrum gar nicht mit, dass sich an der Stadtgrenze inzwischen mehrere Hundert Skinheads und Neonazis zusammengefunden hatten. Deren größte Probleme waren für eine Weile eher banaler Natur: Im örtlichen Discounter mussten billige Treter erstanden werden, damit die per Auflagenbescheid verbotenen Knobelbecher im Kofferraum bleiben konnten. Und das Bier musste schnell im Auto runtergekippt werden, da auf dem mit Pfützen übersäten Schotterplatz nur alkoholfreie Getränke erlaubt waren. Erst als gegen Mittag in die lustlos herumstehenden PolizistInnen Bewegung kam und die Motoren der zwei Wasserwerfer angelassen wurden, machte unter den Neonazis die Nachricht die Runde, dass Antifas sich zum »Völkerball« auf den Weg gemacht hatten. Zu zwei Antifa-Demonstrationen waren etwa 4 000 Menschen zusammengekommen, die den kilometerlangen Weg zum Ort des Neonazifestes antraten. Wenigstens bis in den Stadtteil Lobeda wollte man gelangen, wo die Anmelder und Organisatoren des »Festes der Völker« in der ehemaligen Gaststätte »Zum Löwen« ein rechtsextremes Wohnprojekt und Zentrum betreiben. Bei einer der vielen kleinen Aktionen vor dem 11. Juni hatten lokale Gruppen hier bereits einmal einen frühmorgendlichen Hausbesuch abgestattet. Das Weckkommando der Antifa dürfte für die Neonazis ähnlich ärgerlich gewesen sein wie der erfolgreiche Hack der Internetseite, auf der sie zum »Fest der Völker« einluden. Tatsächlich endete die Antifademonstration in Lobeda; Hundertschaften der Polizei, kläffende Köter, Räumpanzer und Wasserwerfer warteten am Ende der Schnellstraße Richtung Gewerbegebiet vergeblich auf ihren Einsatz. Der Oberbürgermeister der Stadt, Peter Röhlinger (FDP), ließ es sich trotz allem nicht nehmen, die vermeintlich gewaltbereiten Jugendlichen zu beschimpfen, die die Jenaer Bürger verschreckt hätten. Auch die Veranstaltung der Neonazis ging ohne großen Protest zu Ende. Für die Antifaschisten, nicht nur aus Thüringen, gibt es am 9. Juli die nächste Gelegenheit, den Wecker früh zu stellen. Dann will die NPD wieder ein Festival mit Bands aus dem Umfeld von Blood & Honour abhalten, dieses Mal in Gera.
martina renner
martina renner:
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Antifa
15.06.2005
https://jungle.world//artikel/2005/24/nazirock-am-baumarkt?page=0%2C%2C2
Namenslyrik
Bizarres Phänomen der Literaturwissenschaft: Der Name so manches Germanisten ist die beste Werbung für sein Fach. So lässt sich aus dem inneren Lyrismus eines Namens wie Clemens Pornschlegel eine ganze Poetik deduzieren, lasziv zwischen Schlegel-Romantik und Pornosex irrlichternd. Oder York-Gothart Mix! Automatisch imaginiert man knarrende Holzdielen, schwere Vorhänge, Kaminfeuer, wie es der altväterlich-gediegene Vornamen-Mix nicht anders gestattet. Und ebenso selbstverständlich ergibt sich, dass Mix sich vor allem in der Almanach- und Kalenderforschung einen Namen gemacht hat und zu Hause, neben ewigen und wiederkehrenden Kalendern, sicher allerhand Sonnen-, Wasser- und Blumenuhren, Sextanten und Astrolabien aufbewahrt. Andererseits der Mix! Dieser freche Lausbub von einem Nachnamen! Er wirft kleine Kieselsteine durchs Fenster und bringt die Kalenderordnung mutwillig durcheinander. Chaotischer und pedantischer Irrsinn, in einer bemerkenswerten Forscherpersönlichkeit vereint. You get your kicks from Gotthart Mix! Hingegen: Wiebke Porombka! Ein herrlicher Rhythmus hüpft durch diesen Namen, schwingt gleichsam walzerhaft über die beiden Nasal-Labial-Hügel, die sich inmitten der Zwillingslandschaft von Vor- und Nachnamen erheben. Es lässt sich keine Tätigkeit vorstellen, bei der Wiebke Porombka nicht leise vor sich hinsummt – einfach weil ihr der eigene Name so viel Freude macht. Er klingt wie für ein Kinderbuch erfunden: »In einer Hütte im Wald lebte eine weise Frau, die nur als die alte Wiebke Porombka bekannt war.« Oder, noch schöner, für einen Kinderreim: »Wiebke Porombka, komm doch zu mir!/Einen Dukaten schenke ich dir./Greifst du in meine Hand/schling ich um dich mein Band./Wiebke Porombka, tanze mit mir!« Heißa, Kathreina bzw. Porombka!
Leo Fischer
Leo Fischer: Talmi
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dschungel
24.10.2013
https://jungle.world//artikel/2013/43/namenslyrik?page=0%2C%2C3
Drogentrottel in der MTV-Hölle
Sie sind jung, attraktiv und sehr erfolgreich, und ihr wichtigstes Kapital sind ihre langhaarigen Väter, die ihre beste Zeit hinter sich zu haben scheinen und ein Leben als Couch-Potato fristen: Roxanne und George sind Promikinder. Geleistet haben sie noch nichts, aber It-Girl Roxanne ist die Tochter des legendären Terry Schnakenburg, Hipster George der Spross des berüchtigten Crash McEnroe. Das reicht, um eine eigene Reality-Show auf MTV zu bekommen. Dass die Väter, die früher in der Kultband Hell Patrol spielten, heute zum Sidekick in der Show ihrer Kinder degradiert sind, verbindet die beiden heillos zerstrittenen Rocklegenden miteinander. Irgendwann haben sie genug davon, die zotteligen Drogentrottel zu spielen. Die Hippie-Väter setzen ihre Hipster-Kinder vor die Türen ihrer Villen und beenden die nervige Reality-Show. Während die Alten straight werden und sogar am Comeback der Band arbeiten, taumeln Roxanne und George von nun an durch ein immer wüsteres Celebrity-Leben voller Kokain-Partys, Affären und Abstürzen. Paparazzi und Promi-Blogger säumen ihren Weg, der direkt in die Betty-Ford-Klinik zu führen scheint. Comic is coming home: Carolin Walch hat mit »Roxanne & George« eine sensationelle Graphic Novel geschaffen, die voller kluger Verweise auf Pop- und Gegenkultur steckt und Musikerlegenden wie Slash, Ozzy Osbourne und Axl Rose zitiert. Ein Generationenkonflikt aus der Post-MTV-Ära, der der Trivialisierung mit unbestechlichem Humor begegnet. Carolin Walch: Roxanne & Geor­ge. Reprodukt, Berlin 2012, 136 Seiten, 17 Euro
Heike Karen Runge
Heike Karen Runge:
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dschungel
07.06.2012
https://jungle.world//artikel/2012/23/drogentrottel-der-mtv-hoelle?page=0%2C%2C1
Gotteskrieger gesucht
»Stoppt die salafistische Straßenrekrutierung« – zu einer Kundgebung unter diesem Titel am 10. Oktober auf der Frankfurter Einkaufsstraße Zeil ruft der Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi auf. Der Protest richtet sich gegen Koranverteilungsaktionen in deutschen Innenstädten durch salafistische Gruppen, die eine spezielle, zu ihrer Lehre passende Übersetzung nutzen. Ihnen wird vorgeworfen, junge Gläubige zu radikalisieren und IS-Unterstützerinnen und -Unterstützer für den Bürgerkrieg in Syrien zu werben. Die Polizei geht bislang von knapp 30 nach Syrien Ausgereisten aus Frankfurt aus, die sich zuvor an Verteilungskampagnen beteiligt haben – einige davon sind bereits ums Leben gekommen. »Unsere Kinder dürfen nicht von irgendwelchen Fanatikern missbraucht werden«, fordert Ourghi im Gespräch mit der Jungle World. Er leitet den Studiengang Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. »Ich habe nichts gegen die Verteilung von religiösen Schriften, aber ich bin gegen die Nutzung für politische und ideologische Zwecke.« Vor wenigen Wochen haben Frankfurter Salafisten zudem versucht, Bewohner einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge anzuwerben. Diese waren zum Teil selbst vor dem »Islamischen Staat« geflüchtet und sehr erschrocken über die Missionierungsversuche. Mehrfach wollten die Salafisten dabei Kontakt zu den jugendlichen Geflüchteten aufbauen und sind erst abgezogen, als die Polizei verständigt wurde. Nach dem Vorfall wurden die Betreiber von Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge für das Problem salafistischer Missionierung sensibilisiert, wie die Frankfurter Neue Presse berichtete. »Die Salafisten wollen Kapital aus dem Leiden von hilflosen Menschen schlagen. Das ist unmenschlich«, so Ourghi weiter. »Es ist unglaublich, dass Menschen, die unter anderem wegen Gewalt im Namen des Islam geflohen sind, hier radikalisiert werden sollen. Man sollte die Flüchtlinge selbstverständlich unterstützen, aber nicht für politische Zwecke ausnutzen wollen.« Ähnliche Vorfälle wurden auch in anderen Großstädten bekannt. Der prominente salafistische Prediger Pierre Vogel ruft bereits öffentlich dazu auf, Asylunterkünfte in der Umgebung ausfindig zu machen und Geschenke vorbeizubringen. Auf seiner Facebook-Seite gibt er seinen Anhängern weitere Anweisungen, wie sie sich gegenüber den Neuankömmlingen verhalten sollen. Sein Kollege Sven Lau wiederum bezeichnet Medienberichte über diese Anwerbung als Lüge und als Taktik, um von der rassistischen Anschlagsserie gegen Unterkünfte von Schutzsuchenden abzulenken. Auch vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, wo viele Flüchtlinge auf ihre Registrierung als Asylsuchende warten und zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen auf dem Boden campieren, tauchten kürzlich Salafisten des Vereins »Berliner Muslime« auf, die der radikalen al-Nur-Moschee nahestehen. Sie wollten Spenden verteilen, aber nur an muslimische Flüchtlinge, weshalb sie von den Freiwilligen der Initiative »Moabit hilft« weggeschickt wurden. Die Fraktionsvorsitzende der Linken in der Hamburger Bürgerschaft, Cansu Özdemir, machte ein entsprechendes Vorkommnis vor den Hamburger Messehallen öffentlich. Salafistische Frauen rissen einen Sichtschutz herunter, um mit den Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen und ihnen Koran-Ausgaben in die Hände zu drücken. »Ich empfinde diese Situation als sehr gefährlich«, sagte Özdemir im Gespräch mit der Jungle World. »Die Flüchtlinge müssen sich hier sicher fühlen und nicht bedroht.« Es ginge »ganz konkret« um Rekrutierungsversuche. Auch gebe es Hinweise, dass Angehörige des Sicherheitspersonals Anhänger der Salafisten seien. Özdemir ist auch mit betroffenen Eltern in Kontakt und hat von Flüchtlingsinitiativen Informationen erhalten, dass eine Anwerbeoffensive während des islamischen Opferfestes Ende September geplant sei. »Die Situation darf nicht unterschätzt werden. Am sinnvollsten ist es, den radikalen Salafisten den Zugang zu Flüchtlingen so gut wie möglich zu erschweren. Der Senat muss das Problem und diese Gefahr ernst nehmen und die Flüchtlinge besser schützen«, fordert sie. Wie erfolgreich die Salafisten mit ihrer Strategie sein werden, ist nicht abzusehen. Vor Krieg und Islamismus Geflohene werden wohl kaum Interesse an einer religiösen Radikalisierung haben. Allerdings sind viele alleinstehende jugendliche Flüchtlinge orientierungslos und suchen nach Anschluss und Unterstützung. Für die Behauptung, dass bereits Hunderte IS-Kämpfer als Flüchtlinge nach Deutschland eingereist seien, gibt es jedenfalls keine Indizien. Solche Gerüchte werden momentan immer wieder von Rechtspopulisten verbreitet, ungeachtet der Tatsache, dass es schon längst sehr viele IS-Unterstützerinnen und -Unterstützer in Europa gibt. Auch zur Teilnahme an der genannten Kundgebung in Frankfurt rufen Rechte im Internet auf. Die Veranstalter mussten sich deshalb mehrfach von Vereinnahmungsversuchen distanzieren. »Mit Pegida, AfD und sonstigen Rassisten und Faschisten wollen wir wirklich nichts zu tun haben. Wir sind Humanisten, denen es um das friedliche Zusammenleben der Menschen geht«, sagt Abdel-Hakim Ourghi. »Ich bin Moslem und setze mich auch für die Rechte von Minderheiten in Deutschland und gegen jegliche Art von Rassismus ein.« Ähnlich argumentiert ein Bündnis antifaschistischer Gruppen aus Nordrhein-Westfalen, das Salafisten kürzlich zum Abbruch ihrer Verteilaktion zwang. Es sei »ein Gebot der globalen Solidarität, auch hier gegen die islamistischen Prediger und Terrorfreunde aktiv zu werden«, heißt es in dem Flugblatt des Bündnisses, das auf der Facebook-Seite der »Antifa Essen Z« veröffentlicht wurde. Weiter schreibt das Bündnis: »Solidarität bedeutet für uns auch, die fortschrittlichen Kräfte zu unterstützen, die sich in anderen Teilen der Welt dem Vormarsch der Islamisten entgegenstellen. Nicht zuletzt heißt Solidarität auch Asyl für diejenigen, die vor dem islamistischen Terror fliehen mussten.«
Frederik Schindler
Frederik Schindler: Die salafistische Straßenrekrutierung
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Inland
17.09.2015
https://jungle.world//artikel/2015/38/gotteskrieger-gesucht?page=0%2C%2C1
Das Museum
Das Tor Das Tor ist viel kleiner. Die meisten fotografieren es aus der Untersicht. Dann sieht es größer aus. Ein Tor, durch das so viele hindurchgehen mussten, muss groß sein. Die meisten sind nie durch dieses Tor gegangen. Arbeit macht frei, das stand über dem Eingang zum Stammlager. Die Massen verschwanden in Birkenau. Das Tor und seine Inschrift hat sich wie ein Filter vor alle Bilder geschoben. Ja sogar vor die Erinnerungen. Überlebende von Birkenau glauben schon, sie hätten es selbst gesehen. Dabei kennen sie nur die Fotos. Die zynischen Worte täuschen bis heute. Das wichtigste Produkt hier war der Tod. Der Zaun Der Zaun wird erneuert, jedes Jahr kommen Jugendliche aus Deutschland und ziehen frischen Stacheldraht. Mache von ihnen sind Auszubildende bei VW. Der Rost frisst schnell. Warum soll man ihn hindern? Der Zaun soll geschlossen bleiben. Wie ein magisches Kraftfeld? Die Zaunpfähle bröseln, der Rost sprengt den Beton auf, der Zaun soll trotzdem stehen bleiben: als Symbol der Unfreiheit, als Symbol für das Lager als Zustand. Wenn heute Fotografen irgendwo in der Welt Gefangene ins Bild setzen, dann haben sie diesen Zaun hier im Kopf, dann sorgen sie dafür, dass man diesen Zaun hier auf ihren Bildern erahnen kann. Der Ofen Eine ältere Frau betritt das Krematorium im Stammlager. Lange steht sie vor dem Ofen, versucht, sich ihm zu nähern. Ihr Guide, ein schlaksiger junger Mann, hält sich abseits, lässt sie allein, steht bereit, drängt sich nicht auf. Den Raum nebenan, in dem die Menschen erstickt wurden, hat sie sich schon angesehen. Sie geht gebückt auf den Ofen zu, dessen Klappe offen steht. Sie wird wohl ein Blümchen dort hinterlassen. Eine japanische Gruppe hat einen Kranz Origami-Figuren am Griff befestigt. Frösche. Ein paar Blumen liegen schon da, Kerzen in roten Bechern und blauweißen Dosen. Blauweiße Fähnchen mit Davidstern liegen in der Öffnung. Doch das alles sieht die Frau wohl gar nicht. Sie versucht, sich dem Ofen zu nähern, als gäbe es einen Widerstand. Etwas würgt ihr im Hals, ihr Atem geht keuchend. Der Apparat, die Maschine, das Werkzeug der Auslöschung steht vor ihr. Der junge Mann im Hintergrund zögert. Sie kommt ihm zuvor, entfernt sich mit ein paar Schritten, verlässt den Raum. Von nebenan ist ihr Seufzen zu hören, Schluchzer, tiefes Atmen. Nun spricht der junge Mann doch mit ihr, fast flüsternd. Und sie erzählt auf Englisch, etwas von ihrer Familie, die hier, eigentlich in Birkenau, dort will sie noch hin, oder vielleicht doch nicht, ausgelöscht wurde. Eine Pause tritt ein. Und dann unternimmt sie doch einen neuen Versuch. Diesmal nähert sie sich dem Ofen ohne Mühe, fast zärtlich berührt sie die Klappe, streicht sie über das Metall, beugt ihren Kopf nach vorne – die Origamis rascheln leise, als sie die Ofenklappe vorsichtig weiter aufzieht – und schaut hinein, als könne sie die Asche der Toten noch finden. Auf dem Rand der Ofenklappe liegen ein paar Kiesel. Wie auf einem jüdischen Grabstein. Das Tor Das andere Tor. Das Tor von Auschwitz-Birkenau. Steven Spielberg hätte alles dafür gegeben, »Schindlers Liste« hinter diesem Tor drehen zu dürfen. Er durfte es schließlich nur vor dem Tor. So wurde das Lager, wenigstens eine kleine Ahnung davon, auf dem Besucherparkplatz, sozusagen wie in einem Spiegel wiederaufgebaut. Das große Schild »Parking« war schnell abgeschraubt und die Weiche, die Rampe, die Baracke für das Selektionspersonal errichtet. Draußen war drinnen, drinnen war draußen, für ein paar Drehtage. Die meisten Fotos von diesem Tor zeigen es üblicherweise von innen, über die Rampe hinweg fotografiert, aber so, als blicke man auf das Tor zur Hölle. Drinnen ist draußen, draußen ist drinnen. Das Lager hat Zäune, aber nicht das Einsperren ist hier entscheidend, sondern das Tor, die Gleise, die Lieferung, das Verschwinden. Birkenau ist drinnen und draußen, es beginnt überall, wo die Gleise beginnen. Die Gleise Die Rampe strahlt wie neu. Der Kies ist erneuert, die Holzschwellen sind ausgetauscht, das Gras ist gezupft, die Bordsteine des Bahnsteigs sind hergerichtet. Hier soll kein Film mehr gedreht werden, aber man sucht nach den Kulissen. Doch auch dies alles wird wieder verfallen. Die alten Schwellen, so sagt man uns, stammten ohnehin aus den sechziger Jahren. Die Gleise selbst sind dauerhafter. Sie verbinden diesen Ort mit allen Städten Europas, mit allen Bahnhöfen, ja mit allen Straßenbahnstationen und U-Bahnhöfen. Alles ein Netz. Und hinten am Ende der Rampe, am Ende der Welt, hören alle diese Gleise auf, laufen alle Gleise zusammen, eine einzige große Sackgasse. Dort wurden in den sechziger Jahren kleine Flammenschalen angebracht. Als gelte es, das alles verzehrende Feuer am Ende dieser Gleise zu einem Opfer umzudeuten. Doch wem wird dieses Opfer dargebracht? Das Denkmal Die Opferschälchen am Ende der Rampe sind mit der höchsten polnischen Auszeichnung geschmückt, dem Grunwald-Orden. Erinnerung an die Schlacht von Grunwald. Zu deutsch: Tannenberg. Das ist lange her. 1 410 besiegten an jenem Ort polnische Ritter die Ritter des Deutschen Ordens. Auch das Denkmal, in das die kleine Opferstelle übergeht, wurde mit einer bronzenen Platte mit Kreuz und Doppelschwert, den Insignien des Grunwald-Ordens, ausgezeichnet. Birkenau als Ort deutsch-polnischen Kampfes? Ein Lager, gebaut für russische Kriegsgefangene, die anderswo verhungert waren, bevor man sie hier hätte einsperren können. Und schließlich benutzt für die »Endlösung der Judenfrage«, für die Ermordung von Sinti und Roma, freilich auch als Frauenlager für polnische und andere politische Häftlinge. Ein polnisches Nationaldenkmal des Zweiten Weltkriegs? Auch hier liegen Kränze, bücken sich Politiker, um die Schleifchen zurechtzurücken, in immer gleicher Geste und mit gemischten Gefühlen. Der Friedhof Links und rechts die Krematorien. Mittlerweile ist der in Jahren gewachsene Schilderwald, der über ihre Geschichte und Funktion, aber auch über die drohende Einsturzgefahr informieren sollte, durch eine Reihe strenger, schwarzer Steine ersetzt worden. An einigen sind Informationstafeln befestigt. Die anderen verweisen stumm auf die Überreste der Toten, die hier überall verstreut sind. Auch auf diese »Grabsteine« legen jüdische Besucher ihre Kieselsteine. Auf den Ruinen der gesprengten Gaskammern klettern Besucher herum, setzen Kerzen auf den geborstenen Beton, auf Stahlarmierungen und Grasflecken. Die in den rot durchscheinenden Plastikbechern werden von Christen bevorzugt. Andere Kerzen stecken in bedruckten Blechbüchsen und sind als »yohrzeit memorial candles« ausgewiesen. Sie brennen sechsundzwanzig Stunden lang, so dass sie, vor Beginn des Sabbat entzündet, noch brennen, wenn er zu Ende geht. Die Toten aber haben hier weder einen »guten Ort« noch ein »Haus des ewigen Lebens« gefunden. Die Überlebenden und ihre Nachkommen suchen hier nach ihren verschwundenen Angehörigen und die anderen, die Gruppen aus Japan und aus Deutschland, wo immer sie herkommen, sie schauen ihnen dabei zu. Regelmäßig werden die Blumen, die hier, in Klarsichtfolie verpackt, hinterlassen werden, wieder weggeräumt. Und die Experten streiten darüber, wann man um die Ruinen einen Zaun errichten muss, damit nicht irgendwann die ersten Besucher mit ihnen zusammen einstürzen. Das Museum Die ehemaligen Kasernengelände, in denen das so genannte Stammlager und nach dem Krieg das Museum untergebracht wurde, halten den Besuchermassen eher stand. In den Fluren des Museums drängeln sich die Gruppen aneinander vorbei. Die Führer des Museums geben sich Mühe, den Text, den sie heruntersprechen müssen, nicht gänzlich zur Routine werden zu lassen. Für Fragen ist in diesem Trott wenig Raum. Über dem Eingang steht geschrieben: »Beweise des Verbrechens«. Wer das Museum betritt, nimmt teil an einem öffentlichen Prozess, der den Tätern von Auschwitz gemacht werden soll, der den Kampf, der in Auschwitz verloren wurde, in die Gegenwart verlängern, die Demütigung in einen Sieg verwandeln soll. In den Vitrinen lagern die Schuhe und die Koffer, die Brillen und die Töpfe, die Krücken und die Gebetstücher. Wer Zeit dazu hat, vor den Vitrinen zu verweilen, verliert leicht den Boden unter den Füßen. Die meisten werden weiter geschoben. Was bleibt, ist ein unbestimmtes Gefühl von Übelkeit, ein leichter Schwindel. Von den Überresten, von ihrer schieren Existenz abgesehen, erfahren die Besucher im Museum wenig von den Vernichteten. Sie bleiben fremd, unbekannt, anonym, so fremd, wie sie den meisten Häftlingen des Stammlagers blieben, die der Vernichtung zusehen mussten. Birkenau, dessen Spuren und dessen Funktion im Museum dokumentiert werden, bleibt seltsam fern. Hier wird uns von Kämpfen erzählt, von Qualen und vom »sich opfern«. Und vom Erschrecken darüber, dass es hier noch etwas anderes als einen »Kampf« gab. Etwas, von dem man ahnte, dass es einem selber drohen könnte. Und dem man doch entgehen konnte. Derweil weiß man nicht mehr so recht, was man mit den Haaren der Ermordeten tun soll. Frauenhaar, das ausbleicht, verwittert, während die Besucher an den Vitrinen vorbeiziehen, in all den Jahren. Man sollte es begraben, sagen manche. Doch auch das ist nur ein Traum von einem Tod in Würde. Die Birken Überall stehen die Birken, irgendwo hier müssen auch die Fotografien entstanden sein, im Mai 1944, nach der Ankunft eines Transportes aus Ungarn. Ein SS-Mann hat die Familien, die hier lagerten, nach der »Aussortierung« der »noch Arbeitsfähigen«, zwischen den Birken fotografiert, bevor sie zu den »Brausebädern« getrieben wurden. Die Fotos von den Frauen und Kindern, den Alten und all den anderen, die man ebenso loswerden wollte, für immer – sie waren wohl ebenfalls als Souvenir gedacht, als schöne Erinnerung an erfolgreiche Arbeit. Eine Überlebende, Lilli Meier-Jacob, fand sie 1945 in einer SS-Baracke in Dora, säuberlich in ein Album geklebt und mit Schönschrift kommentiert. Auschwitz: Von diesem Ort kehrt man nicht gerne ohne Fotos heim. Die Bilder An kaum einem anderen Ort wurden so viele Bilder verbrannt wie dort. Nach den Menschen kamen auch die Fotografien in ihren Taschen, Koffern, Alben ins Feuer. 2 400 Fotos blieben übrig, wahrscheinlich von einem einzigen Transport aus Bedzin, einer polnischen Stadt, gar nicht weit von Auschwitz. Der Rest verschwand, wie ihre Besitzer. Hanno Loewy: Hanno Loewys Text »Das Museum« von 1996 erschien in dem Buch »Taxi nach Auschwitz« (Philo Verlagsgesellschaft, 2002, 191 S., 24,80 Euro). Nachdruck der gekürzten Fassung mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.
hanno loewy
hanno loewy:
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Reportage
26.01.2005
https://jungle.world//artikel/2005/04/das-museum?page=0%2C%2C1
Lieber ins Kino
Das Gute zuerst. Klaus Böger hat Recht behalten. Schwimmen ist auch heute noch billiger, als ins Kino zu gehen. Das prophezeite Berlins Sportsenator, der auch Aufsichtsrat der Berliner Bäder-Betriebe ist, im März, als er die geplanten Preiserhöhungen in den Berliner Schwimmbädern verteidigte. Inzwischen kostet der Eintritt ins Freibad vier Euro, und in den »Top-Bädern«, in denen man ganz viel erleben kann, zahlt man für eine Stunde schlappe fünf und für drei Stunden gerade mal sechs Euro. Das sind korrekte Preise, und es gibt überhaupt keinen Grund, sauer zu sein. Böger weiß, wovon er spricht. Ins Kino zu gehen kostet sieben, vielleicht auch acht Euro. Essen zu gehen ist noch teurer. Einmal zum Inder, und schon fehlt ein Zehner im Portemonnaie. Schwimmen im Freibad ist zudem wesentlich günstiger als etwa an einen See im Berliner Umland zu fahren. Wer rechnet schon die Benzinkosten für die Anfahrt per Auto oder auch das Geld fürs U-Bahn-Ticket ein? Außerdem ist man in einem Freibad sicherer als am Waldsee. Im Kreuzberger Prinzenbad gibt es sogar Spinde mit abschließbaren Türen. An Seen hingegen treiben sich bekanntermaßen kleinkriminelle Taschendiebe herum, und vor Neonazis ist man dort auch nicht sicher. Gegen das Baden im See spricht auch die erhebliche Gefährdung der Gesundheit an solchen Orten. Denn die Zeckensaison hat längst begonnen. Bis Ende Oktober bestehe wieder eine erhöhte Gefahr einer Infektion mit Hirnhautentzündung oder Borreliose, sagte ein Sprecher der Berliner Senatsumweltverwaltung am Mittwoch der vergangenen Woche. Zecken übertragen Erreger der so genannten Frühsommer-Menigoenzephalitis (FSME) und der in ganz Deutschland verbreiteten Lyme-Borreliose. Waldspaziergänger und Badeseebesucher sind gefährdet. Jede fünfte Zecke überträgt Lyme-Borreliose, an der jährlich zwischen 30 000 und 60 000 Menschen erkranken. Noch schlimmer als Zecken sind jedoch die Senioren, die sich nun, da sie inzwischen doppelt so viel fürs Schwimmbad zahlen müssen als noch im April, scheinbar vermehrt an Seen im Berliner Umland herumtreiben. Das Prinzenbad hingegen ist wie leer gefegt von den Alten. Das ist ein weiterer Vorteil der Preiserhöhungen. Wer ist nicht schon einmal mit einem der senkrecht im Wasser stehenden und grundsätzlich quer zu den Bahnen schleichenden Badekappenträger kollidiert und musste sich dafür auch noch blöde Sprüche anhören? Damit ist es jetzt vorbei. Schluss, Aus. Nicht nur für Senioren, sondern vor allem auch für Familien, unkte die Bögerkritische Sozialdemokratin Karin Seidel-Kalmutzki noch vor ein paar Wochen, sei der Preisanstieg »ein tiefer Einschnitt«. Solche Leute gehen wohl nie ins Schwimmbad. Familien mit Kindern sind die schlimmsten Badegäste. Noch schlimmer als Senioren. Die sind wenigstens leise. Die Kleinen aber kreischen wie wild, und kaum haben die Sommerferien begonnen, sind sie außer Rand und Band, springen vom Beckenrand auf Schwimmer, schießen Fußbälle auf Köpfe und pinkeln ins Becken, während ihre antiautoritären Kreuzberger Eltern dabei zuschauen und das auch noch irgendwie gut finden. Das Schlechte kommt zum Schluss. Schwimmen ist noch immer billiger, als ins Kino zu gehen. Das muss sich ändern. Und zwar schnell. Um die ganzen Plagegeister endlich loszuwerden.
Daniel Pagòrek
Daniel Pagòrek: Preiserhöhungen in Berliner Schwimmbädern
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Inland
22.05.2002
https://jungle.world//artikel/2002/21/lieber-ins-kino?page=0%2C%2C0
Zwei Männer und eine Kobra
»Mein Name ist Jean-Claude Van Damme. Ich war mal sehr berühmt.« Etwas zerknittert sieht der berühmteste Schauspieler Belgiens mittlerweile aus, während er aus dem Off mit charmantem französischen Akzent seine missliche Lage kommentiert. So beginnt die vor einigen Wochen veröffentlichte, 30 Minuten dauernde Pilotfolge von »Jean-Claude Van Johnson«, einer Mischung aus Actionserie, Comedy und pseudobiographischem Porträt, in der der als »Muscles from Brussels« berühmt gewordene Karatemeister sich selbst spielt. Das gab es so ähnlich schon für die große Leinwand: 2008 war Van Damme aus der Versenkung aufgetaucht und hatte in der Tragikomödie »JCVD« unter Regisseur Mabrouk El Mechri selbstironisch ein abgehalfterten Actionhelden gespielt. Im Film kehrt der enttäuschte Van Damme Hollywood den Rücken, um in seinem Herkunftsort Brüssel wieder Fuß zu fassen. Für seine überraschend differenzierte Darstellung erhielt Van Damme damals viel Anerkennung und mehrere Nominierungen als bester Schauspieler. Sein neues, für Amazons hauseigenen Streaming-Dienst produziertes Format soll ein ähnliches Konzept nun serienreif machen. Und so quält sich der ehemalige Mr. Belgium in den vielversprechend absurden ersten Serienminuten durch den einsamen und freudlosen Alltag als gealterter Actionheld. Zu Jaques Brels »Ne me quitte pas« schlurft er durch seine sterile Villa, rollt lächerlich kurze Strecken auf dem Segway und muss sich von überdrehten Kellnern in hippen Restaurants mit anderen vergessenen Stars der neunziger Jahre verwechseln lassen. Die wenigen Rollenangebote, die seine Agentin noch organisieren kann, sind selbst Van Damme zu albern: Eine der Kobras in der geplanten Action-Adaption von Rudyard Kiplings »Rikki-Tikki-Tavi« wäre zum Beispiel noch zu besetzen. Als Ausweg aus der Krise reaktiviert Van Damme sein Alter Ego Jean-Claude Van Johnson. Der ist eine Art Privatdetektiv und hat als C-Promi getarnt geheime Missionen zu erfüllen. Aus der Doppelrolle Van Damme/Van Johnson schöpft die Serie ihr Unterhaltungspotential und kann sich, auf der Metaebene sozusagen, über haarsträubende Elemente des Actionkinos lustig machen: abstruse Drehbücher, Dialoge und Kampfszenen – Klischees, die demontiert und zuleich genüsslich bedient werden. Der Humor ist handfest und wird rasch vorhersehbar. Es ist schwer einzuschätzen, ob das Material für eine ganze Staffel genügt. Der Onlinehändler Amazon jedenfalls scheint daran zu glauben und gab Ende September bekannt, weitere Folgen in Auftrag gegeben zu haben. Vorangegangen war eine Art Testlauf für drei potentielle Eigenproduktionen, bei dem die Abonnenten aufgefordert waren, ihre Favoriten zu wählen. Am Ende gab es kurioserweise für alle drei Formate grünes Licht, so dass neben »Jean-Claude Van Johnson« auch die Adaption des feministischen Bestsellers »I Love Dick« und die Animationsserie »The Tick« im kommenden Jahr auf den umkämpften Streaming-Markt kommen werden. Ob die Abstimmung für die Auswahl überhaupt ausschlaggebend war oder nicht: Der Wettbewerb hat Amazon Prime die bislang erfolgreichste Pilotsaison eingebracht. Und die Konkurrenzsituation hat »Jean-Claude Van Johnson« eine zusätzliche ironische Ebene verliehen, denn der echte Van Damme musste seine Fans in den sozialen Medien anhaltend um Unterstützung bitten, um seine Serie überhaupt platziert zu bekommen. Die Zeiten kommerziell erfolgreicher Produktionen sind für Van Damme längst vorbei – seit 1999 hat es außer »The Expendables 2« (2012) keiner seiner Filme mehr ins Kino geschafft –, und das in der Serie so überspitzte Klinkenputzen findet wegen der Strategie Amazons seine Entsprechung in der Realität. Dass Selbstironie, Melancholie und aufwendig inszenierte Action einander nicht ausschließen, ist seit Parodien wie »Last Action Hero« (1993) oder auch den eigenen Mythos zerlegenden Sportdramen wie »The Wrestler« (2008) keine neue Erkenntnis. Jean-Claude Van Damme scheint in dieser besonderen Form der Unterhaltung aber eine echte Chance zu wittern, würdevoll mit der eigenen Vergangenheit umzugehen. Bei Fans und Kritikern kommt die Strategie gut an und die Testfolge von »Jean-Claude Van Johnson« wurde überwiegend positiv aufgenommen. Es wird sich zeigen, ob die Serie ihr Potential als überdrehter Kommentar zu Aufstieg, Fall und Neuinszenierung des Jean-Claude Van Damme dauerhaft ausschöpfen kann oder ob sie doch der Versuchung nachgibt, die immergleiche Holzhammer-Action nur sarkastisch zu verkleiden. Jean-Claude Van Johnson (USA 2016). Regie: Peter Atencio. Darsteller: Jean-Claude Van Damme, Kat Foster, Phylicia Rashad
Jana Sotzko
Jana Sotzko: In der Serie »Jean-Claude Van Johnson« spielt Jean-Claude Van Damme sich selbst
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dschungel
13.10.2016
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Walzer tanzen zur Ablenkung
Die ungarische Regierung, die immer wieder ihre christlichen Werte betont, führt einen gnadenlosen Klassenkampf gegen Arme, Obdachlose und Bettler. Die 24jährige Henrietta H., eine zu 80 Prozent invalide Bettlerin, fragte am 27. Februar in einem Szegediner Restaurant einen Gast, der etwas auf seinem Teller gelassen hatte und gehen wollte, ob sie die Reste essen dürfe, der Gast stimmte zu, und sie durfte essen. Dafür wurde die Bettlerin von der Polizei mit einer Strafe von 50 000 Forint (rund 164 Euro) bestraft. Weinend versuchte die Frau zu erklären, sie sei nur deswegen in das Restaurant gekommen, weil sie hungrig sei, sie habe niemanden gestört und nur diejenigen, die etwas übrig gelassen hatten, gefragt, ob sie das essen dürfe. Der Polizeikommandant meinte dazu großspurig: »In der Regel ist es keine Straftat, auf ein paar Brocken zu warten, doch wenn die Person, bettelnd um Essen, jemanden anspricht, dann begeht sie eine Übertretung.« Der 15. März ist in Ungarn Nationalfeiertag, mit dem an den Beginn der Revolution von 1848 erinnert wird. In Gedenken an die damalige Forderung nach Pressefreiheit verleiht die Regierung einen Preis an Journalisten. Überreicht wurde der Preis dieses Jahr vom Minister für Nationale Ressourcen, Zoltán Balog, an Ferenc Szaniszló, der im Fernsehsender Echo TV, welcher der rechtskonservativen Regierungspartei Fidesz nahesteht, wüste antisemitische und antiziganistische Hetze betreibt. Bekannt ist Szaniszló für seine wirren Tiraden gegen Israel, die Juden und die Roma. 2009 behauptete er, die Welt müsse sich auf die Aussiedlung der Juden aus Israel vorbereiten, und fragte: »Wo gibt es noch einen Platz, wo man sie haben will?« Er bezeichnete die Roma als »menschenähnliche Affen«. Vergangenes Jahr halluzinierte Szaniszló, die Giftschlammkatastrophe von 2010 in Westungarn sei vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ausgelöst und der Damm, dessen Bruch die Überflutung mit dem roten Schlamm verursacht hatte, sei von Nato-Flugzeugen bombardiert worden. 2011 wurde Echo TV wegen eines rassistischen Beitrags von Szaniszló zu einer Strafe von 500 000 Forint verurteilt, was József Pálinkás, den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, nicht hinderte, dem Hetzer kurz darauf den Széchenyi-Preis zu verleihen. Balog hat sich für die Verleihung damit entschuldigt, er habe nicht gewusst, wes Geistes Kind der Ausgezeichnete sei. Doch neben Szaniszló zeichnete der Minister zwei weitere Rechtsextremisten aus: den homophoben János Petrás, Sänger der Nationalrockband Kárpátia, die mit Jobbik eng verbunden ist, sowie den Archäologen Kornél Bakay, früher Kandidat der antisemitischen Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei (Miép). Dieser hatte behauptet, Jesus sei kein Jude, sondern Parther gewesen, und da die Parther angeblich mit den Ungarn verwandt seien, sei Jesus also ein Ungar. Diese abstruse Idee wurde von der Pfeilkreuzleremigration vertreten, denn sonst hätten diese sich nicht als »Christen« bekennen und von christlichen Kirchen Hilfe erwarten können. Bakay kuratierte auch eine Ausstellung, in der dem Anführer der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler, Ferenc Szálasi, gehuldigt wurde. Mit solchen Preisverleihungen signalisiert die Regierungspartei Fidesz, dass sie nach den nächsten Wahlen, wenn notwendig, einen völkischen Block mit Jobbik bilden wird. »Juden! Die Universität gehört uns, nicht euch. Grüße, die ungarischen Studenten«: Dieser Aufkleber wurde an der Budapester ELTE-Universität unter anderem neben dem Namensschild von Prof. Ágnes Heller angebracht. Zuvor war herausgekommen, dass Jobbik-Aktivisten des Asta an dieser Universität jahrelang Listen der Studenten und Studentinnen des ersten Semesters geführt hatten, in denen diese in krudester Sprache sexuell taxiert wurden. Vermerkt wurden in den Listen die wirkliche oder vermeintliche Abstammung sowie politische Haltung der Erstsemester. Am 10. März gestattete die Polizei einer neo-pfeilkreuzlerischen Organisation am Budapester Friedhof, in der Abteilung, in der die hingerichteten Kriegsverbrecher bestattet sind und deren Gräber vom Staat gepflegt werden, eine Gedenkfeier für den 1946 als Kriegsverbrecher hingerichteten Ferenc Szálasi abzuhalten. Außerdem hat die ungarische Polizei das Verfahren gegen die rechtsextreme Website kuruc.info eingestellt. Diese hatte im Sommer 2012 ihre Leser dazu aufgerufen, gegen ein Kopfgeld die Daten von »ungarnfeindlichen Juden« bekanntzugeben. Auch diejenigen, die antifaschistische ­Demonstranten mit Anrufen belästigten, werden von der Polizei nicht behelligt. Am 9. Februar durften Neonazis sich in der Mitte von Budapest zu Ehren der SS zusammenrotten. Doch während es im Spätherbst 2012 wegen der Forderung eines prominenten Jobbik-Abgeordneten, eine Liste der jüdischen Parlamentsmitglieder anzulegen, noch zu einer Demonstration von mehr als 10 000 Menschen gekommen ist, bei der sogar ein Vertreter von Fidesz eine Heuchelrede hielt, demonstrieren heute bei rassistischen Angriffen gegen Roma viel weniger Menschen. In der Silvesternacht kam es nicht weit von Budapest in einer Gaststätte zu einer Messerstecherei mit einem Schwerverletzten. Der Täter, so berichteten die Medien, sei »Zigeuner«. Zsolt Bayer, Gründungsmitglied der Fidesz, guter Freund des Ministerpräsidenten und Mitorganisator der Pro-Orbán-»Friedensmärsche«, nahm die Gelegenheit wahr, um einem »Großteil der Zigeuner« den Menschenstatus abzusprechen: Die meisten von ihnen seien Tiere, die »nicht geeignet« seien, unter Menschen zu leben. Der regierungsnahen Tageszeitung Magyar Hirlap sagte er: »Diese Tiere sollen nicht existieren, nirgendwo«, eine Lösung müsse gefunden werden, forderte er, »umgehend und mit allen Mitteln«. Bayer bezeichnete es außerdem als die »größte Sünde der politisch korrekten idiotischen westlichen Welt, dass diese aus reiner Berechnung und Eigeninteresse so tut, als müsse man diese Tiere unbedingt tolerieren«. Lediglich zwei Politiker der Fidesz distanzierten sich von diesen Aussagen. Fidesz möchte im Ausland den Anschein erwecken, Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus abzulehnen, im Inland aber übernimmt sie Initiativen der offen rassistischen und antisemitischen Jobbik, wie etwa die Rehabilitierung des Pfeilkreuzlerpropagandisten József Nyirö. Bayer, von dem sich Orbán nicht distanziert, spielt eine besondere Rolle bei diesem Rechtswalzer, mit dem das Ausland getäuscht werden soll: zwei Schritte in die Richtung der Rechtsextremen, einen Schritt zurück zur Mitte. Unter dem Titel »Das eigene Schicksal verderben« hatte Bayer einen Artikel veröffentlicht, in dem er vor dem Untergang der »weißen, christlichen Rasse« warnte. Freilich leugnete er, darin Juden erwähnt zu haben, um dann im nächsten Satz einzugestehen, er schreibe lediglich von denjenigen, »die ihre Fehler und Sünden mit ihrem vermeintlichen oder realen Judentum entschuldigen, verstecken, erklären«. Bayers Angriff gegen »die überall Faschismus witternde Achtundsechziger-Generation«, der aus einem Pamphlet der NPD stammen könnte, wurde im Magyar Hirlap publiziert. Doch der Vorsitzende des ungarischen Parlaments, László Kövér (Fidesz), versicherte Zsolt Bayer anlässlich von dessen 50. Geburtstag am 26. Februar: »Wir erlebten gemeinsam gute und schlechte Zeiten, harte Stunden und Stunden der Freude. Wir haben uns gegenseitig nie verleugnet und wir werden das auch nie.« Mit antikapitalistischer Demagogie, der Berufung auf das Christentum und dem Schlagwort eines »nationalen Befreiungskampfes« gegen IWF und EU lenkt die Fidesz davon ab, dass sie vor allem Orbans kleinem Freundeskreis ungarischer Milliardäre dient.
Karl Pfeifer
Karl Pfeifer: Rassismus und Antisemitismus in der Politik der Regierung
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Thema
21.03.2013
https://jungle.world//artikel/2013/12/walzer-tanzen-zur-ablenkung?page=0%2C%2C1
Hauptsache Reformen
Schon Friedrich Engels kannte die deutsche Misere: »An den gesellschaftlichen Verhältnissen Deutschlands hat das Jahr 1866 fast nichts geändert. Die paar bürgerlichen Reformen erreichen noch nicht einmal das, was die Bourgeoisie anderer westeuropäischer Länder längst besitzt.« Noch heute herrschen in Deutschland dieselbe Rückständigkeit und derselbe Stillstand. Deutsche Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer und Gewerkschafter werden deshalb nicht müde, Reformen zu fordern, Reformen, Reformen und noch mehr Reformen. Der Wirtschaftswissenschaftler Tasso Enz­weiler greift Engels’ Vergleich direkt auf: »Andere europäische Länder haben ihren Sozialstaat in den achtziger und neunziger Jahren bereits reformiert. Sie haben umgesetzt, was Deutschland zerredet: Reformen.« Raghuram Rajan, Chefvolkswirt des IWF, sieht die Lage differenzierter: »Einige Reformen haben stattgefunden, aber andere zusätzliche Reformen sind noch nötig.« »Deutschland braucht Reformen, die die lahmende Binnenkonjunktur in Schwung bringen und den Aufbau neuer Arbeitsplätze unterstützen«, pflichtet die IG Metall bei. Auch die evangelische Kirche will nicht abseits stehen: »Wir müssen Mut zu Reformen einfordern. Da werden wir als Kirche nicht nachlassen«, betont der Ratsvorsitzende der EKD, Manfred Kock. »Meine Damen und Herren, wir brauchen kein Reförmchen, sondern eine umfassende Reform«, ruft Dagmar Enkelmann von der Linkspartei vorlaut dazwischen. »Wir wollen die radikalsten Reformen überhaupt«, setzt ihr Parteifreund Gregor Gysi begeistert noch eins drauf. Die FDP unterhält in ihrem Fuhrpark gar einen »Reformexpress«, den sie zu Wahlkampfzwecken auf die Straßen schickt. »Jetzt gilt es durch eine ideologiefreie, sach­orientierte und konsequente Reformpolitik die Stimmung nachhaltig zu unterfüttern«, versucht Christopher Pleister, Präsident des Bundesverbands der Volks- und Raiffeisenbanken, wieder sachlich zu werden. Renate Kü­nast ist pessimistisch und befürchtet »ein Stiefmütterchen statt der notwendigen Mutter aller Reformen«. »Wir sind mitten in der entscheidenden Phase der zentralen Reformvorhaben«, hält SPD-Generalsekretär Hubertus Heil dagegen. »Ich denke, dass wir tatsächlich auch Reformbedarf haben«, wägt Horst Köhler vorsichtig ab. »Um zurück an die Spitze zu kommen, brauchen wir tief greifende Reformen«, wiederholt BDI-Präsident Jürgen Thumann. Das Manager Magazin dagegen denkt an die Praxis: »Erfolgreiche Reformpolitik braucht Professionalität und Echtzeitkontrolle in der Umsetzung.« Doch zieht auch die Bevölkerung mit? »Was jetzt notwendiger denn je wird, ist eine Mobilisierung der öffentlichen Meinung zugunsten weitreichender Reformen«, gibt der Ökonom Thomas Straubhaar zu bedenken. »Gerade in schwierigen Zeiten, in denen schmerzhafte Reformen anstehen, brauchen wir Optimismus, Schwung und guten Mut. Die immer schlecht gelaunten Miesmacher brauchen wir nicht«, kommentiert Oliver Santen in Bild. Doch es scheint, als hätten es die Deutschen endlich verstanden: »Drei Viertel der Bundesbürger sind der Meinung, dass die Reformen der vergangenen Jahre noch nicht ausreichend waren und konsequent weitergeführt werden müssen«, hat eine McKinsey-Studie herausgefunden. Deutschland ist endlich auf dem richtigen Weg, seine Vergangenheit zu überwinden. Es wird nie da gewesene, revolutionäre Reformen geben! theodora becker
Theodora Becker
Theodora Becker:
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Thema
28.06.2006
https://jungle.world//artikel/2006/26/hauptsache-reformen?page=0%2C%2C1
Bubblegum vom Staat
Nun ist es endlich da. Wochenlang hatte sich die Bundesregierung gegen ein zweites, umfangreiches »Konjunkturpaket« gesperrt und stattdessen eine Politik der »ruhigen Hand« verkündet. Wer sich erinnern kann: Noch im vergangenen Jahr verkündete der Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), die Finanzkrise sei vor allem ein Problem der USA und würde Deutschland kaum betreffen. Offenbar konnte er damit nur Ussama bin Laden überzeugen, der Steinbrück vergangene Woche in seiner Videobotschaft über den nahenden Zusammenbruch des »großen Satans« zitierte. Bei den meisten Ökonomen stieß der Finanzminister damit hingegen auf Unverständnis und Spott – der Nobelpreisträger Paul Krugmann mutmaßte im Dezember sogar, die Regierung in Berlin verfüge nicht über die intellektuellen Kapazitäten, um das ganze Ausmaß der Krise zu verstehen. Damals hatte die Bundesregierung gerade ein europäisches Konjunkturprogramm zurückgewiesen und den britischen Premierminister Gordon Brown belehrt, warum dessen Pläne, die Mehrwertsteuer zu senken, keinen Sinn ergäben: Die Effekte auf die Nachfrage würden verpuffen, während die Schulden für Jahrzehnte blieben. Nun muss sich Steinbrück ähnliche Vorwürfe gefallen lassen. Dabei hatten fast alle namhaften Politiker, Wirtschaftsinstitute, Zeitungskommentatoren, Gewerkschaften und Verbände in den vergangenen Wochen die zögerliche Haltung der Bundesregierung sowie das im Dezember beschlossene, erste »Konjunkturpaketchen« (Frankfurter Rundschau) heftig kritisiert und ein rasches Handeln gefordert. Mit Erfolg. Sichtlich ergriffen stellte die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der vorigen Woche das größte Investitionsprogramm der Nachkriegsgeschichte vor und versprach sogar einen »Modernisierungsschub« für das kommende Jahrzehnt. »Wir wollen diese Krise nicht nur einfach überstehen, Deutschland soll aus dieser Krise stärker und zukunftsfester herauskommen, als es hineingeht«, sagte sie. Tatsächlich erinnert die 50 Milliarden Euro umfassende Mischung aus Steuersenkungen, Subventionen und Investitionsprogrammen eher an vergangene Zeiten: Geld gibt es vor allem für den Auto-, Gebäude- und Straßenbau. Mit keinem Wort wird die so genannte Kultur- und Kreativwirtschaft erwähnt, die mittlerweile mehr Beschäftigte aufweist als die Automobilindustrie, die Chemie- oder die Kreditwirtschaft. Ebenso wenig taucht der Klimaschutz auf, bei dem Merkel noch vor kurzem eine Vorreiterrolle in Europa einnehmen wollte – im neuen Programm kann man ihn höchstens in einer ­homöopathischen Dosis entdecken. Statt »in die Köpfe« wird künftig eifrig in Beton investiert: Etwa 8,6 Milliarden Euro werden bereitgestellt, um Schulen zu sanieren, während es jedoch kein Geld gibt, um die derzeit fehlenden 30 000 Lehrer einzustellen. Dabei galten im »Land der Ideen«, so der Titel einer Imagekampagne der Bundesregierung, Bildung und Forschung bislang als »zukunftsweisende Sektoren«. An deren Stelle soll nun wohl wieder die traditionelle Auto- und Baubranche treten, deren Vertreter sich pünktlich zum Wahlkampfauftakt im Sommer immerhin über einen kleinen Aufschwung freuen können. Ähnlich zweifelhaft ist die Wirkung der Steuersenkung. Umgerechnet auf die Bevölkerung könne sich jeder Bürger dadurch im Monat gerade mal »eine Curry-Wurst mit Mayonnaise, ohne Pommes« leisten, lästerte der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle. Für viele reicht es vermutlich nicht einmal dazu. Wer unterhalb der Steuergrenze verdient, Rentner oder erwerbslos ist, bekommt ohnehin kaum etwas von der Steuersenkung mit. Auch die Einmalzahlung von 100 Euro für jedes Kind wird die Binnennachfrage kaum dauerhaft beleben. Kleine Verbesserungen gibt es dafür in Bereichen, die mit dem »Konjunkturpaket« nichts zu tun haben – eine von ihnen ist zum Beispiel der neue Mindestlohn für Zeitarbeiter. Deutlich spürbar sind die Ausgaben jedoch an anderer Stelle. Die geplante Neuverschuldung vervierfacht sich auf etwa 40 Milliarden Euro. Jähr­lich muss die Bundesregierung nun 71 Milliarden Euro allein an Zinsen für die 1,5 Billionen Euro Staatsschulden zahlen. Vielleicht kommt es daher auf ein paar Milliarden Euro mehr oder weniger gar nicht mehr an. Denn fast gleichzeitig mit dem Konjunkturpaket beschloss die Koalition, die marode Commerzbank mit 18 Milliarden Euro zu unterstützen – obwohl das Unternehmen mittlerweile nicht einmal ein Viertel dieser Summe wert ist. Die Commerzbank hatte sich bei der Übernahme der Dresdner Bank verschätzt und ist wegen fauler Kreditpapiere schwer belastet. Die Entscheidung rief heftige Irritationen hervor: Die Teilverstaatlichung der Commerzbank sei eine »planlose Verschleuderung von Staatsvermögen«, wetterte die Linkspartei, da die Bundesregierung trotz ihrer riesigen Finanzhilfe weitgehend auf eine Einflussnahme in dem Unternehmen verzichte. »Es kostet mich einige Überwindung, diesen Satz zu schreiben, aber: Die Linkspartei hat recht«, kommentierte ­Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Konzerns, den Vorgang zerknirscht in der Welt und warnte vor dem Präzedenzfall »VEB-Commerzbank«: Was, so fragte Döpfner, wenn nun defizitäre Unternehmen in der Automobil- oder in der Medienbranche auf ähnliche Gedanken kämen? Schon bald könnten für Merkel die schlimmsten Alpträume Döpfners wahr werden. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung erwägt die Bun­desregierung sogar, die von hohen Verlusten zerrüttete Immobilienbank Hypo Real Estate mehrheitlich zu übernehmen und selbst zu kontrollieren. Grund dafür ist dem Bericht zufolge der immense Kapitalbedarf des Unternehmens, das offenbar mit den bislang bewilligten 80 Milliarden Euro an Krediten und Garantien nicht auskommt. Und selbst dieser Einsatz könnte sich noch als banal erweisen angesichts der Unsicherheit, die derzeit das größte Kreditinstitut des Landes verbreitet. Nachdem er zum ersten Mal in der Geschichte des Unternehmens dazu gezwungen war, einen Milliardenverlust zu verkünden, erlitt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, in der vergangenen Woche prompt einen Schwächeanfall. Kurz zuvor hatte er noch einen spektakulären Deal mit der Postbank ausgehandelt. Im Zuge einer beschleunigten Übernahme dieses Unternehmens zahlt die Deutsche Bank einen Teil des Kaufpreises von 4,9 Milliarden Euro in eigenen Aktien. Damit ist aber auch der Staat, dem nach wie vor große Anteile an der Postbank gehören, an dem Geldhaus aus Frankfurt beteiligt. Der Vorstandsvorsitzende der Post, Frank Appel, beteuerte zwar sogleich, dass damit keine »Teilverstaatlichung« verbunden sei. Doch falls sich die größte deutsche Bank nicht aus eigener Kraft aus der misslichen Lage befreien kann, hat Merkel ein wirklich großes Problem: Die Bilanzsumme der Deutschen Bank entspricht ungefähr dem Wert des gesamten Bundeshaushalts. So kann die Koalition nur hoffen, dass sich die Wirtschaft möglichst schnell erholt und die Schulden nicht gänzlich außer Kontrolle geraten. Vieles spricht jedoch dafür, dass die keynesianischen Konzepte – staatliche Investitionen in der Rezession, die in Zeiten des Aufschwungs wieder mittels höherer Steuereinahmen an den Staat zurückfließen – auch in dieser epochalen Krise nicht funktionieren. Dann ist das »Konjunkturpaket« nur der erste Schritt in einen neuen Krisenzyklus: Nach der Immobilienblase und dem Finanz­crash kommt die staatliche Bubblegum-Ökonomie.
Anton Landgraf
Anton Landgraf: Das zweite Konjunkturpaket der Bundesregierung
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Inland
22.01.2009
https://jungle.world//artikel/2009/04/bubblegum-vom-staat?page=0%2C%2C1
Wirkt!
Der letzte linke Student hat den Hut auf. Heißt: Er ist der Führer. Wir wissen bereits: Führer kann man heute so nicht mehr sagen. Gerade: in Deutschland nicht. Oder: in Österreich. Aber: Ein Führer ist ein Führer, wenn er führt. Und der letzte linke Student führt heute. Darum: hat er auch den Hut auf. Denn: Er führt eine Gruppe durch seine Stadt. Der letzte linke Student nämlich: braucht Geld. Geld braucht er: für Bücher und Zeitungen. Geld braucht er: für das Brot unter der Butter. Und Geld braucht er auch: für das kleine bisschen Rotwein, das er trinkt, ab und an. Daher: hat der letzte linke Student einen Job angenommen. Er führt Menschen. Aber: Es ist nicht uninhaltlich, was der letzte linke Student tut. Er führt schließlich: Menschen zu Orten der linken Geschichte in der Stadt. Wir wissen: Erinnerung ist Teil des Kampfes. Und wir ahnen: »Wenn ich Leute zu linken Orten führe, so werden die Leute über die Linke nachdenken. Und werden selbst links werden. Denn die Aura der linken Orte ist unnachahmlich.« So steht es auch bereits im besonderen Notizbuch. Und logo: So ist’s auch korrekt. Heute führt der letzte linke Student eine Schülergruppe. Und die: albert nur rum. Doch der letzte linke Student bleibt gefasst. Er weiß: noch sind sie jung. Aber die Aura: tut das ihre. Sogar: bei rechten Schülern. Daher muss sich der letzte linke Student nicht über die dummen Sprüche aufregen. Alles: wird von selbst gut. Dank der Aura! Die by the way so was ähnliches ist wie der Äther. Und der Äther: ist von Kant. Der Glaube an Aura ist daher nichts als Aufklärung! Das freut den letzten linken Studenten sehr. Und auch wir sollten mal wieder die alten Orte aufsuchen, um dort unser inneres Linkssein zu refreshen!
Jörg Sundermeier
Jörg Sundermeier:
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dschungel
22.04.2010
https://jungle.world//artikel/2010/16/wirkt?page=0%2C%2C0
Nicht regieren heißt mitregieren
Das legendäre Ché Guevara-T-Shirt trug kaum einer der TeilnehmerInnen des 22. Bundeskongresses der entwicklungspolitischen Aktionsgruppen (Buko), der am letzten Oktober-Wochenende in Hannover tagte. Doch nicht nur die Kleidung hat sich im Laufe der vergangenen Jahre verändert - auch die Themenpalette, mit der sich der Buko inzwischen beschäftigt, ist größer geworden. So debattierten die 300 VertreterInnen von feministischen, ökologischen, Flüchtlings- und Buko-Mitgliedsgruppen nicht nur über klassische Themen wie Schuldenerlass und Welthandel, sondern ebenso über die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg, die Ost-Erweiterung der Europäischen Union (EU), die Weltausstellung Expo 2000 und die Selbstorganisation von Flüchtlingen. Der Tagungsort war Programm: Kein entwicklungspolitisches Thema stand im Mittelpunkt des Kongresses, sondern die in vier Foren - Weltwirtschaft, Soziales, Kontrolltechniken der Zukunft und "Dialog-Kultur" - gebündelte Kritik an der nächstes Jahr in der niedersächsischen Hauptstadt stattfindenden Weltausstellung. Ziel: "Perspektiven jenseits der schönen neuen Expo-Welt" zu entwicklen. Die Chance der Linken, so Joseph Hierlmeier, Buko-Mitarbeiter mit Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft, in seinem Einleitungsreferat, liege darin, die Expo als Schaufenster zu begreifen, das den Blick auf die Zukunftsvisionen von Regierungen und Industrieunternehmen freigebe - und damit die Möglichkeit eröffne, deren technokratische Glücksversprechen zu kritisieren. Durch die von den Expo-Machern verbreitete "Eine-Welt"-Ideologie, nach der wir alle in einem Boot sitzen, würden die ungleichen Machtstrukturen in Organisationen wie der Welthandelsorganisation WTO oder der Weltbank lediglich verwischt. Das Expo-Leitbild "There is no alternative" vermittele den Eindruck, es gebe keine Alternative zur kapitalistischen Globalisierung. Sparmaßnahmen, Rationalisierung und die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen avancierten so zu unhinterfragten Sachzwängen, kritisierte der Buko: Superstar der Expo sei die unsichtbare Hand des Marktes. Doch nicht nur die klassischen Feinde nahm der Kongress ins Visier, auch die an der Expo teilnehmenden Nichtregierungsorganisationen (NGOs) standen unter Beschuss: Sie hätten ihre Politik in die Vorzimmer der Ministerien verlegt und beschränkten sich darauf, kritische Berater der rot-grünen Regierung zu sein. So kämen sie nicht umhin, staatsnahe Forderungen zu erheben, die ohnehin niemandem weh tun. Wegen ihrer professionellen Organisationsformen und finanziellen Abhängigkeiten hätten sie nicht nur die klassischen Themen der Solidaritätsbewegung neu besetzt, sondern auch deren Inhalte verändert, meinte der Buko. Prägnantestes Beispiel: die Kampagne "Erlassjahr 2000". Die von Kirchen und namhaften NGOs getragene Kampagne - deren Aufruf allerdings auch vom Buko unterzeichnet wurde - forderte eine begrenzte Schuldenstreichung der ärmsten Länder. Und das, wo bis vor kurzem die bedingungslose Streichung der Auslandsschulden zum Standard in der "Dritte-Welt"-Szene gehörte. "Früher hätte es in der entwicklungspolitischen Szene einen Aufschrei gegeben, wenn die Forderung nach Schuldenstreichung mit dem Interesse der deutschen Exportindustrie begründet worden wäre. Heute erntet man oft Unverständnis, wenn man dies nicht tut", erklärte Hierlmeier. Runde Tische, die Zustimmung zur Agenda 21 und andere konsensuale Politikformen jedoch kämen immer mehr in Mode. Demgegenüber wollen die Buko-Gruppen "selbstbestimmt" entwicklungspolitische Debatten führen und sich die Vielfalt ihrer Aktionsformen erhalten, um den Blick für Perspektiven jenseits der realpolitischen Alltagsarbeit von NGOs offenzuhalten. Auch wenn die Kritik bei einigen TeilnehmerInnen dazu führte, schon bei dem Wort NGO die Augen zu verdrehen, so arbeitet in der Praxis auch der Buko mit Nichtregierungsorganisationen zusammen. Abgrenzung fällt da schwer in einer Zeit, wo Forderungen nach "freiem Bildungszugang für alle" oder einer "radikalen Demokratisierung der Gesellschaft" inzwischen selbst von den Vereinten Nationen oder der Weltbank unterschrieben werden - und sich das Wort "selbstbestimmt" auch in den Hochglanzblättern der Expo findet. Hier hat der Buko sein selbst gestecktes Klassenziel, Diskursverschiebungen sichtbar zu machen und die globalen Machtverhältnisse auf den Punkt zu bringen, nicht erreicht. Zumindest ein Problem, das der Buko mit den NGOs teilt, sind die finanziellen Abhängigkeiten. So mussten die geplanten Seminare für das kommende Jahr erst einmal auf Eis gelegt werden, weil der Ausschuss für entwicklungsbezogene Bildung und Publizistik der Evangelischen Kirche (ABP), langjähriger Förderer des Buko, selbst mit Gelder-Kürzungen zu kämpfen hat. Zu guter Letzt droht auch noch dem Internationalen Solidaritätsfonds (ISF) der Grünen - ebenso Teilfinanzier des Buko - der Abschuss. Die fünf Millionen Mark, die die Partei 1984 an Europa-Wahlkampfkostenerstattung erhielt, ließ sie zu Gunsten der Dritte-Welt-Bewegung in einem Fonds anlegen. Seit 1985 unterstützte der ISF die internationalistische Arbeit mit den Zinserträgen aus diesem Vermögen. Doch soll dieser Fonds nun ausgeschöpft werden, um die durch die grünen Wahlniederlagen verursachte Finanzmisere zu beheben. Der Partei liege nicht mehr viel an eigenständigen entwicklungspolitischen Gruppen, heißt es in der Begründung: Schließlich hätten sich parteieigene Organisationen wie die Heinrich-Böll-Stiftung selbst den Schwerpunkt Nord-Süd-Politik gesetzt. Darüber hinaus, so die Hoffnung der Menschenrechtskrieger, wird's Joseph Fischer schon richten. Heißt es in der Begründung doch: "Die Präsenz und die Bedeutung internationaler Politik bei Bündnis90/ Die Grünen spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass der Bundesaußenminister ein Grüner ist." Die Buko-Gruppen wollen ihren 23. Kongress Ende 2000 trotzdem abhalten - in der Bundeshauptstadt, mit den Schwerpunkten Weltwirtschaft und WTO.
Anke Schwarzer
Anke Schwarzer:
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Inland
10.11.1999
https://jungle.world//artikel/1999/45/nicht-regieren-heisst-mitregieren?page=0%2C%2C1
Das Feindbild wird gebraucht
Das Verhältnis zu Israel ist in Ägypten weniger eine Frage der Außen- als der Innenpolitik. Die antiisraelischen Proteste sagen mehr über die Situation der verschiedenen politischen Akteure in Ägypten aus als über das offizielle Verhältnis zu Israel. Dieses ist, ungeachtet dramatisierender Berichte über »die schwerste diplomatische Krise« seit langem, entspannt. Seit der Ära Mubarak bestehen enge, auch private Kontakte zwischen den ägyptischen Politikern und Militärs und ihren israelischen Kollegen. Ägypten zögerte nach dem Tod fünf ägyptischer Grenzsoldaten, die Tat zu verurteilen, bis die Demonstrationen die Übergangsregierung zu einer öffentlichen Stellungsnahme zwangen. Dann verfasste sie zwei Erklärungen, eine gemäßigte, an Israel gerichtete, und eine schärfer formulierte, die eher an die Demonstranten vor der isra­elischen Botschaft gerichtet war und die wenige Stunden später von allen offiziellen Websites wieder gelöscht wurde. Öffentlich ließ die Übergangsregierung verkünden, sie werde den Botschafter aus Tel Aviv abziehen, woraufhin sowohl dieser als auch die israelische Regierung erklärten, sie wüssten von einer solchen Entscheidung nichts. Das von der israelischen Regierung ausgesprochene »tiefe Bedauern« über den Tod der Grenzsoldaten nahm die ägyptische Regierung zunächst positiv auf. Dann kletterte der 23jährige Ahmed al-Shehat 20 Stockwerke zur israelischen Botschaft hinauf, verbrannte die israelische Flagge und hisste die ägyptische. Der »Flagman« wurde im Internet und von der Protestbewegung als Held gefeiert – eine Chance, die sich die Übergangsregierung unter Premierminister Essam Sharaf, die unter politischen Druck steht, nicht entgehen lassen konnte. Viele Politiker schlossen sich dem medialen Lobgesang auf den jungen Mann an. Die Regierung erklärte, eine Bekundung des Bedauerns sei keine Entschuldigung, man verlange von Israel zumindest eine Entschädigung für die Familien der Opfer und ein Versprechen, dass so etwas nie wieder geschehen werde. Die vertraulichen Gespräche mit der israelischen Regierung werden als scharfe Zurechtweisung dargestellt. Das hat seinen Grund: Mit dem Feindbild Israel lässt sich auch Jahrzehnte nach dem Abschluss des Friedensvertrags hervorragend Politik machen. Die Übergangsregierung setzt die Politik Mubaraks fort. Einerseits pflegt sie engste Beziehungen zu Israel und tritt auch öffentlich für das Festhalten am Friedensvertrag ein, anderseits schürt sie gezielt bestehende anti­israelische und antisemitische Ressentiments, auf deren Vorhandensein sie sich verlassen kann. Eine lange Tradition hat die Denunziation sämtlicher Proteste gegen die Regierung als das Werk ausländischer, vorzugsweise israelischer, Spione, die das Land schwächen wollten. Dieser Propaganda bedient sich die Militärregierung seit April, um die andauernden Protesten zu diskreditieren, sie fand mit der Verhaftung Ilan Grapels als angeblichem israelischen Spion einen ersten Höhepunkt. Dann wurden mehrere Aktivisten und nun auch 36 Menschenrechtsorganisationen des »Hochverrats« angeklagt, weil sie angeblich Geld aus dem Ausland erhalten und im Auftrag fremder Kräfte – gemeint sind die USA – arbeiten. Ähnliche Vorwürfe werden gegen die Bewegung 6. April erhoben, nach mehreren hetzerischen Aufrufen des Militärrats griffen Ende Juli Anwohner eine Demonstration an und töteten einen Protestierenden. Allerdings herrschen dieselben antiisraelischen Vorurteile auch in weiten Teilen der Jugendbewegung. Nach der Verhaftung Grapels warf die bekannte Bloggerin Zeinobia Israel wütend vor, »ihre« Revolution zu unterwandern, und rief andere Aktivisten auf, wachsamer zu sein. Erst nach bissigen Kommentaren nahm sie den Aufruf zurück. Ein Großteil der jugendlichen Protestierenden hat jedoch ein weitaus differenzierteres Bild von Israel als die Masse der Ägypter, unterscheidet klar zwischen jüdischer Bevölkerung, dem Staat Israel und dessen Politik und hat zum Beispiel die Sozialproteste in Israel interessiert verfolgt. In den vergangenen Wochen gab es in sozialen Netzwerken und auf Treffen häufig Diskussionen über das Verhältnis zu Israel, und es gibt auch scharfe Kritik an den derzeitigen antiisraelischen Protesten. Auf Facebook schimpfte die 20jährige Saher über den »Flagman« al-Shehat: »Warum loben alle diesen Kerl nur so, warum wird er für diesen Blödsinn auch noch belohnt? Denkt denn niemand darüber nach, welche Probleme er unserem Land macht?« Die Proteste vor der israelischen Botschaft waren schon anlässlich des Nakba-Tags am 15. Mai umstritten, viele Protestierende waren von Beginn an dagegen, dort zu demonstrieren – zumeist, weil sie fürchteten, sich mit Israel zu befassen lenke von den wichtigeren Themen ab, etwa von der Politik des Militärs und der Verwirklichung der revolutionären Ziele. Dass es nun zu Demons­trationen vor der Botschaft in Kairo und in mehreren anderen Städten kam, die deutlich größer als die im Mai waren und bei denen radikalere Forderungen erhoben wurden – Ausweisung des Botschafter, Schließung der Botschaft, Abbruch der Geschäftsbeziehungen –, hat auch damit zu tun, dass die Verhältnisse sich geändert haben. Als am Nakba-Tag Tausende Jugendliche gegen die Palästina-Politik Israels protestierten und zugleich Slogans gegen die Militärregierung riefen, schoss das Militär in die Menge. Die Proteste richteten sich rasch wieder gegen das Militär. Die derzeitigen Proteste gegen Israel hingegen scheinen der Regierung willkommen zu sein. Seit der Räumung des Tahrir-Platzes in Kairo hat das Militär keine noch so kleine Demonstration erlaubt – dann demonstrierten über Tage Tausende vor der Botschaft, und kein Polizist oder Soldat schritt ein. Der »Flagman« Ahmed al-Shehat berichtete, ein Offizier habe ihm zugenickt und ihn gewähren lassen, als er zu klettern begann. Tatsächlich ist die Strategie der Regierung zumindest für einige Tage aufgegangen: Von der Wut über die abgebrochene Übertragung des Prozesses gegen Mubarak und die Repression gegen Protestierende war für einige Tage nichts zu bemerken. Dass die Kritik am Militär bei den antiisraelischen Protesten keine Rolle spielte, hatte auch damit zu tun, dass sie nicht primär von den Gruppen der Jugendbewegung organisiert wurden. Diese schlossen sich erst später an. Vor allem die islamistischen Salafisten riefen in vielen Städten zu Protesten gegen Israel auf, während die Muslimbrüder – schon auf dem Weg zur Realpolitik – sich zurückhielten. Der Protest gegen Israel brachte auch Fraktionen der Bewegung wieder zusammen, die sich vor allem wegen ihres unterschiedlichen Verhältnisses zum Militärrat gespalten hatten. All dies zeigt aber auch, in welch unsicherer Situation alle po­litischen Akteure sich derzeit befinden, einschließlich der islamischen Gruppen, die nun erneut versuchen, auf die Straße zurückzukehren, Bündnisse zu schließen und ihre Anhänger zu mobi­lisieren. Über Monate hinweg haben sie auf das Bündnis mit dem Militärrat gezählt, diesen ständig gelobt und sich davon wohl einen Zugang zur Macht nach den kommenden Wahlen erhofft. Nun scheint dieses Bündnis in einer schweren Krise zu sein. Der Militärrat will noch vor den Wahlen »Grundlinien für eine neue Verfassung« ausarbeiten. Es soll nicht nur die Vorherrschaft des Militärs, sondern auch der Säkularismus festgeschrieben werden – ein Affront gegen die Islamisten. Diese waren verunsichert und versuchten, zu Protesten gegen die israelische Botschaft zu mobilisieren, als die Demonstrationen bereits abgeflaut waren und sich die meisten Gruppen der Jugendbewegung wieder dem Kampf gegen die Repression zugewandt hatten. Das Verhältnis zu Israel wird auch weiterhin thematisiert werden, wenn sich eine Gelegenheit ergibt oder es nötig erscheint. Ungeachtet des Friedensvertrags Israel als ständige Bedrohung darzustellen, stärkt die Macht des gewaltigen Militärapparats, der noch immer die Politik bestimmt und mit seinen zahlreichen Unternehmen auch eine Wirtschaftsmacht ist. Ein angeblich drohender Krieg mit Israel ruft noch immer die stärksten Emotionen hervor. Als Front gilt die Sinai-Halbinsel, wo das Militär eine äußerst dubiose Politik verfolgt. Im unabhängigeren Teil der Presse wird weiterhin gerätselt, welche Ziele die »Operation Adler« verfolgt, in deren Rahmen das Militär seit dem 12. August Tausende Soldaten sowie Panzer und Flugzeuge auf den Sinai verlegt. Offiziell soll das Militär kriminelle Banden und islamistische Gruppen bekämpfen, die israelische Regierung hat der Truppenverstärkung zugestimmt, ja sie sogar begrüßt. Die Zeitung al-Masry al-Youm hat in einer aufwendigen Recherche versucht, mehr über den Hintergrund der Aktion herauszufinden und festgestellt, dass vieles von der ansässigen Bevöl­kerung ganz anders dargestellt wird. So sei etwa der Angriff auf die Polizeistation in Arish Ende Juli nicht von islamistischen Gruppen ausgegangen, diese hätten sich erst später angeschlossen. Vielmehr seien unter den Angreifern zahlreiche unter Mubarak zu Unrecht als Islamisten Verhaftete gewesen, die während der Revolution freikamen und sich rächen wollten. Die Frage, was die Ziele der »Operation Adler« sind und wen das Militär eigentlich bekämpft, konnten die Journalisten jedoch nicht beantworten. Unklar bleibt auch, was von der Ankündigung der Regierung zu halten ist, der Sinai solle in ­einem gewaltigen Infrastrukturprogramm »besiedelt« werden. Angeblich sollen Millionen Wohnungen und Arbeitsplätze auf der Halbinsel entstehen. Ob dies tatsächlich geplant ist und ob es dabei um eine Zurückdrängung der dort ansässigen Beduinen, um die Ausweitung des Suez-Kanals zu einem größeren Umschlagplatz oder um militärische Ziele geht, wird sich wohl erst in den nächsten Monaten zeigen. Wenn Anfang September der Ramadan und das anschließende Eid-Fest vorbei sind, wird Israel wohl kein Thema mehr sein. Dann beginnt wieder die »große Politik«. Am 5. September stehen Mubarak und sein Innenminister Habib al-Adly erneut vor Gericht, und für den 9. September ist zum ersten Mal seit Wochen wieder eine Groß­demonstration gegen das Militär und die Regierung geplant.
Juliane Schumacher
Juliane Schumacher: Antiisraelische Proteste in Ägypten
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Ausland
01.09.2011
https://jungle.world//artikel/2011/35/das-feindbild-wird-gebraucht?page=0%2C%2C0
Bedrohte Mehrheit
Umgeworfene Regale, zertrampelte Tomaten und verschüttete Reiskörner bedecken den Boden. Abdurrahman Sayli steht zitternd vor den Überresten seiner beruflichen Existenz. Sein Großvater kam bereits 1925 aus dem südostanatolischen Mardin nach Bursa, einer reichen Industriestadt 90 Kilometer südlich von Istanbul. Die kurdische Familie machte im Westen ihr Glück. Innerhalb eines Nachmittags fegten Hunderte von fahnen­schwen­kenden, ultranationalistischen Hooligans durch ihre zwei Supermärkte und zerstörten die Einrichtungen, während sie: »Das Vaterland wird nicht geteilt, die gefallenen Soldaten sind unsterblich« brüllten. Wer das Gerücht, die Saylis unterstützten die PKK, in die Welt gesetzt hat, kann sich die Familie nicht erklären. Eine Gruppe von 20jährigen marschiert an dem verwüsteten Laden vorbei, ihre Gesichter sind rot gefärbt, auf der Wange prangt ein weißer Stern, das Motiv der türkischen Fahne. »Liebt die Heimat oder verlasst sie«, rufen sie angriffslustig. Ursprünglich vom französischen rechtsextremen Front National entwickelt, ist dieser Slogan das Motto der ultrarechten Nationalistischen Bewegungspartei (MHP), die bei den Parlamentswahlen im Juli 14 Prozent erreichte und mit 71 Mandaten in der türkischen Nationalversammlung vertreten ist. Parteiführer Devlet Bahceli hatte im Wahlkampf die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) aufgefordert, den auf der Insel Mudanya im Marmarameer lebenslänglich inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan »endlich an den Galgen zu bringen«. Der Geschäftsmann Abdurrahman Sayli hat AKP gewählt, weil die Regierungspartei eine Lösung der Minderheitenproblematik im Rahmen der Anpassungsbestrebungen an die EU-Normen propagiert. Nun fühlen sich Leute wie er von der ultranationalistischen Stimmung in der Türkei bedroht. Nachdem innerhalb von vier Wochen über 40 Soldaten im Kampf gegen die PKK gefallen sind, demonstrieren Hunderttausende in der gesamten Türkei für ein hartes Durchgreifen. In Bursa wallte der zornige Nationalismus auf, als der Soldat Samet Sarac beerdigt wurde, der von PKK-Militanten am 21. Oktober in Hakkari getötet worden war. Im nahen Ferienort Ayvalik wurde das Gebäude der prokurdischen »Partei für eine demokratische Gesellschaft« (DTP) abgebrannt, landesweit finden Übergriffe auf Einrichtungen der DTP statt. In den von Kurden besiedelten südöstlichen Provinzen grassiert die Angst vor einer erneuten Eskalation des so genannten Kurdenkonflikts. In der Provinzhauptstadt Diyarbakir forderten am Wochenende Vertreter von 62 Verbänden, darunter der einflussreiche Menschenrechtsverein, die PKK auf, die Waffen niederzulegen, um eine Militäroperation zu verhindern. Die PKK-Einheiten sollen nach Angaben der Internetzeitung Bianet.org aus etwa 5 000 Militanten bestehen, ungefähr 2 000 davon werden in Camps in den Bergen des Nordiraks vermutet. Die türkische Armee gab am Wochenende bekannt, dass sie mitt­lerweile an 62 Punkten Operationen gegen mutmaßliche PKK-Stellungen durchführe. Aysel Tapan, Mitglied der prokurdischen DTP, rührt nervös in ihrer Teetasse. Vor dem Gebäude des Istanbuler Parteibüros parkt eine Polizei­streife, um Übergriffe zu verhindern. »Ich fürchte mich vor einer Explosion des Nationalismus auf beiden Seiten«, seufzt die 42jährige. Zurzeit wächst der öffentliche Druck auf die Partei. Ministerpräsident Tayyip Erdogan forderte sie vergangene Woche auf, die PKK als Terrororganisation zu verurteilen. Doch der Parteivorsitzende Ahmet Türk entgegnete, dass sie mit einer solchen Verurteilung einen Teil der kurdischen Basis brüskieren würden, vor allem jene, die ebenfalls Opfer zu beklagen hätten. Ahmet Türk wurde 1994 mit anderen kurdischen Politikern wie Leyla Zana verhaftet und wegen Unterstützung der PKK zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten verurteilt. Bis zu den Parlamentswahlen im Juli gab es seither keine parlamentarische Vertretung der kurdischen Minderheit. Erst durch die Aufstellung unabhängiger Kandidaten gelang es der DTP, die Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen und 23 Kandidaten via Direktmandat in die Nationalversammlung zu entsenden. Die derzeitige nationalistische Stimmung wird es der Partei allerdings schwer machen, prokurdische Politik zu betreiben. Ultranationalistische Bevölkerungsschichten empfinden bereits die Thematisierung von Minderheitenrechten als Bedrohung. »Manchmal habe ich den Eindruck, es wird gar keine Lösung angestrebt«, klagt Aysel Tapan. Damit meint sie die türkische Regierungspolitik, doch trifft diese Feststellung ebenso auf die kurdische Miliz und die DTP selbst zu. Mit der Forderung nach einer Lösung der Kurdenfrage verbindet die DTP derzeit eine Generalamnestie für die PKK, eine für die Türkei absolut unakzeptable Forderung. Für die nordirakischen Kurden aber sind gute Beziehungen zur Türkei strategisch und wirtschaftspolitisch wichtig. Der Präsident der autonomen Kurdenregion im Nordirak, Mesut Bar­zani, forderte die Kämpfer der PKK am Wochenende zunächst auf, das Land zu verlassen. Gleichzeitig betonte er jedoch ihr Recht auf Selbstverteidigung, sollte die türkische Armee im Nord­irak einmarschieren. Während türkische Medien wie das Massenblatt Hürriyet eine Verschiebung der irakischen Grenze zugunsten der Türkei und die Einrichtung einer Pufferzone fordern, hoffen die nordirakischen Kurden auf eine Vermittlung durch die USA. Am 5. November reist Regierungschef Tayyip Erdogan zu Gesprächen nach Washing­ton. Zwar betonte er in den vergangenen Wochen mehrfach, dass er angesichts von 23 Nordirak-Operationen in den vergangenen 15 Jahren kein Interesse an einer weiteren habe. Allerdings sitzt ihm der türkische Generalstab im Nacken, der verkündete, man werde abwarten, bis Erdogan aus Washington zurückgekehrt sei. Zweifel kursieren hinsichtlich des Auslösers der derzeitigen Terrorwelle. Der türkische Politikwissenschaftsprofessor Baskin Oran stellt auf Bianet.org die Frage, ob die gefallenen Soldaten wirklich bei Terroranschlägen und nicht bei einem durch Aushebungsoperationen des Militärs ausgelösten Gefecht mit der PKK getötet wurden. In der grenznahen Provinz Hakkari kam es in der Vergangenheit schon mehrfach zu zweifelhaften Aktionen im Namen des Anti-Terror-Kampfs. In Semdinli, in der Provinz Hakkari, explodierte am 9. November 2005 ein Sprengsatz im Buch­laden »Umut« (Hoffnung), der einen Kunden tötete. Es stellte sich heraus, dass Unteroffiziere der Jandarma, die ein Teil der türkischen Streitkräfte sind, und nicht die PKK die Drahtzieher waren. Es kam zu einem Prozess, den die AKP als Markstein des Demokratisierungsprozesses hätte nutzen können. Stattdessen wurde der ambitionierte, die Hintergründe des Anschlags recherchierende Staatsanwalt suspendiert. Damit wurde zwar ein Konflikt mit dem Militär vermieden, die Lösung der innenpolitischen Probleme aber nur verschoben. Zurück in Bursa erschreckt ein Transparent, auf dem zu lesen ist: »In zehn Tagen haben wir 40 Soldaten verloren, wir wollen keine Armenierpropaganda, wir sind Türken und Soldaten«. Wenn die Minderheiten zur Zielscheibe der nationalistischen Welle werden, haben die Terroranschläge in der Türkei ihr Ziel der Destabilisierung erreicht.
Sabine Küper-Büsch
Sabine Küper-Büsch:
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Thema
01.11.2007
https://jungle.world//artikel/2007/44/bedrohte-mehrheit
franco berardi bifo
Was tun, nachdem der Hype des Internet und der New Economy vorbei ist? Verbreitet ist ein traditionalistischer Gestus der Distanzierung, und oft werden die immer schon verdächtigen subkulturellen Haltungen gleich mit erledigt. Bifo plädiert dagegen für eine Kritik des Alltagslebens, der die Wirkungen informatischer Netzwerke und die Verhältnisse intellektualisierter Arbeit nicht egal sind.
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https://jungle.world//autorin/franco-berardi-bifo
Handschellen für den Minister
Die Ziele sind erreichbar«, glaubt David Petraeus. Der 54jährige US-General, der am Samstag die Befehlsgewalt über die internationalen Truppenverbände übernahm, hält die Lage im Irak für »nicht hoffnungslos«. Er ist Experte für Aufstandsbekämpfung, seine erste Aufgabe wird die Führung einer Großoffensive in Bagdad sein, und er drängt darauf, dass die ihm zugesagten 21 500 zusätzlichen US-Soldaten so bald wie möglich stationiert werden. Der Führungswechsel ist eine Art regime change im Militärapparat. Petraeus gehört zu den Autoren des Field Manual 3-24, der neuen Aufstandsbekämp­fungsdoktrin der US-Armee. Das Handbuch enthält implizit eine Generalkritik an der Strategie des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, der im November vergangenen Jahres zurücktrat. Petraeus und seine Mitautoren fordern unter anderem größere Anstrengungen beim Wiederaufbau und einen besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor Terroranschlägen, auch wenn dies die US-Truppen größeren Risiken aussetzt. Nun muss Petraeus beweisen, dass diese Strategie auch praktikabel ist. Viele Mili­tär­experten sind der Ansicht, dass die mit den zugesagten Verstärkungen mehr als 150 000 Soldaten zäh­lende Truppe zu schwach ist, um etwa nach der ge­planten systematischen Durch­suchung der einzelnen Stadtviertel Bagdads nach Waffen und Sprengstoff eine Rückkehr der Terroristen und Milizionäre zu verhindern. Bereits die Entsendung von 21 500 zusätzlichen Soldaten brachte George W. Bush beträchtliche innenpolitische Probleme, und der Präsident wird seinen neuen Kommandanten auf Dauer wohl nur unterstützen, wenn dessen in den USA unpopuläre Strategie schnelle Erfolge bringt. Manche Kritiker glauben auch, die neue Initiative komme zu spät. Denn längst geht es im Irak nicht mehr nur um Terror- oder Aufstandsbekämpfung, sondern um die Beendigung eines ethnisierten Bürgerkriegs. Drei Jahre lang hatten Schiiten und Kurden auf die Angriffe sunnitischer Jihadisten und ba’athistischer Terrorgruppen nicht mit Angriffen auf Zivilisten reagiert, doch im Frühjahr 2006 eskalierte die Situation. Die Mahdi-Miliz des extremistischen schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr sowie eine Reihe überwiegend auf lokaler Ebene tätiger schiitischer Warlords begannen nach den Anschlägen auf die goldene Moschee in Samarra mit Racheakten an Sunniten. Relativ selten kämpfen die Milizen gegeneinander, meist wird die Zivilbevölkerung terrorisiert. Die alltägliche Gewalt zwingt die Menschen, bei einer Miliz »Schutz« zu suchen. Im Konkurrenzkampf vor Ort setzen sich meist die brutalsten und fanatischsten Kräfte durch, da ihnen am ehesten das Potenzial zugetraut wird, sich gegen Rivalen aus den eigenen Reihen behaupten zu können. Äußere Faktoren haben zur Eskalation beigetragen. Saudi-Arabien und Syrien unterstützen sunnitische Gruppierungen, der Iran hilft schiitischen Milizen. Die Bündnispolitik der US-Truppen war wech­selhaft, in den vergangenen Monaten haben sie sich wieder verstärkt auf die Seite sunnitischer Gruppen gegen die schiitischen Milizen gestellt. Zudem haben sunnitische Terrorgruppen die irakischen Sicherheitskräfte infiltriert, während es den schiitischen Regierungsparteien gelungen ist, ganze Einheiten ihrer Milizen in die Polizei und die Armee einzuschleusen. Auch zwischen den schiitischen Partei­en und Milizen gibt es Konflikte. Ende Januar wurden mehr als 250 Anhänger einer von dem schiitischen Prediger Sheikh Ahmed al-Hassani al-Sarkhi geführten apokalyptischen Sekte getötet. Die Umstände des Gefechts sind ungeklärt, offenbar musste die US-Luftwaffe die bedrängten irakischen Sicherheitskräfte retten. Die Besatzungstruppen stellen sich zunehmend gegen die extremistischen schiitischen Milizen, auch gegen jene, deren politische Führung im Parlament und in der Regierung vertreten ist. Am Donnerstag der vergangenen Woche stürmten US-Soldaten in Begleitung irakischer Sicherheitskräfte das Gesundheitsministerium, das von einem Anhänger Muqtada al-Sadrs geleitet wird. Der stellvertretende Gesundheitsminister Hakim al-Zamili wurde in Handschellen abgeführt. Die Regionalpolitik der US-Regierung, die eine »sunnitische Front« arabischer Staaten aufbauen möchte, um den Iran zu isolieren, scheint sich auch auf den Irak auszuwirken. Frühere Großoffensiven der US-Truppen richteten sich meist gegen Terrorgruppen und Milizen im »sunnitischen Dreieck«. Derzeit finden die Kämpfe und Massaker vor allem in Gebieten statt, in denen verschiedene Bevölkerungsgruppen wohnen. Bagdad und Kirkuk wurden in den vergangenen Monaten zu den Hauptschlachtfeldern der Milizen. In Bagdad werden immer mehr gemischt bevölkerte Stadt­viertel zum Ziel von »Säuberungen«. Schiiten ziehen in schiitisch kontrollierte Viertel, Sunniten in Sunnitenviertel. Meist genügt die Einschüchterung der jeweiligen Minderheit, einige exemplarische Morde sorgen dafür, dass die ersten sich auf den Weg machen, bald folgen dann Verwandte und Freunde. Einer kürzlich veröffentlichten Studie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge haben 360 000 Menschen innerhalb des Irak in Gebieten ihrer »eigenen« Bevölkerungsgruppe Zuflucht gesucht. Besonders gefährlich ist die Lage für die zahlreichen gemischten Familien und die Angehörigen kleinerer Minderheiten, die über kein von eigenen Milizen kontrolliertes Territorium verfügen. Mandäer, Christen oder Turkmenen versuchen deshalb häufig, aus dem Irak zu flüchten. Von den 30 000 irakischen Mandäern haben mittlerweile fast zwei Drittel das Land verlassen. Nur rund drei Prozent der Irakis sind Christen, doch Christen machen derzeit 40 Prozent der etwa 800 000 irakischen Flüchtlinge in Syrien aus. Aus Städten, die von besonders fanatischen Islamisten kontrolliert werden, sind die christlichen Gemeinden so gut wie verschwunden. Für Unruhe unter den irakischen Christen sorgen auch fundamentalistische evangelikale Sekten, die im Gefolge der US-Armee ins Land gekommen sind. Louis Sako, der chaldäische Erzbischof von Kirkuk, kritisierte Anfang Februar, die Evangelikalen würden unter den irakischen Christen einen »aggressiven Proselytismus« betreiben. Während viele irakische Christen auf der Flucht sind, wurden allein in Bag­dad über 30 neue evangelikale Kirchen aktiv. Und da die christlichen Fundamentalisten auch Muslime bekehren wollen, arbeiten sie der antichristlichen Propaganda der Islamisten in die Hände. Der turkmenischen Minderheit in Kirkuk wird vorgeworfen, sie lasse sich von der Türkei instrumentalisieren, was ihre prekäre Lage zwischen den arabischen Milizen und den neuen kurdischen Herren der Stadt weiter erschwert. Insgesamt sind seit der Eskalation des Bürger­kriegs fast zwei Millionen Irakis ins Ausland ge­flüchtet, darunter insbesondere die Gebildeten, was bereits zu einem Mangel an Ärzten und anderen Akademikern geführt hat. Den überwiegenden Teil der irakischen Bevölkerung eint der Wunsch nach einem Ende der Gewalt, dennoch ist eine weitere Eskalation nicht ausgeschlossen. Und selbst wenn es gelingen sollte, in Bagdad und später in den anderen umkämpften Gebieten für Sicherheit zu sorgen, werden die Folgen des Terrors und der Massaker den Irak noch lange prägen.
Thomas Schmidinger
Thomas Schmidinger:
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Ausland
14.02.2007
https://jungle.world//artikel/2007/07/handschellen-fuer-den-minister?page=0%2C%2C0
Immer an die Arbeit!
Ausgerechnet »ueber arbeiten« heißt das wahrscheinlich interessanteste Filmfestival dieses Jahres: Auf Basis einer reichlich flotten Netzwerkidee schickt die »Aktion Mensch« über ihr Integrationsmodell »Die Gesellschafter« elf Dokumentarfilme zu den Themen, Arbeit, Wirtschaft, Globalisierung ambulant in 80 Städte in Deutschland. Am vergangenen Wochenende startete die Tour in Berlin. Anschließend ist Köln gebucht (bis zum 15. November 2006). Nun ist es nicht neu, dass Filmfeste auf Wanderschaft gehen – so schnürt etwa das FantasyFilmfest auch jedes Jahr sein Bündel, um sich in diversen Städten zu zeigen. Bei »ueber arbeiten« wirkt jedoch das Prinzip der doppelten Patenschaft: Zum einen können sich lokale Organisa­tionen auf der Internetseite anmelden und die Filme ordern. Zum anderen weist jeder einzelne Film einen eigenen Kooperationspartner aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen (NGO) und der sozialen Verbände und Institutionen auf, die auf Sonderveranstaltungen wiederum ihre Arbeit vorstellen. Das hat äußerst merkwürdige Folgen: Unter den Unterstützern findet sich die ganze programmatische Spannweite von Organisationen wie Caritas, Attac Deutschland, Oxfam und die DGB-Jugend. Berliner Festivalpartner ist die Berliner Kampagne gegen Hartz IV und Sies e. V., ein generationsübergreifendes Projekt zur Gewaltprävention. Eine Sprecherin der »Aktion Mensch«, Mecht­hild Buchholz, sagt: »Wir wollten Filmpaten, die sich mit den Themen auskennen und sich gesellschaftlich damit auseinandersetzen.« Rich­tig skurril wird es, wenn natürliche Feinde wie eine Arbeitsgemeinschaft der Arbeitsagentur und der Kommune zur Betreuung von Arbeits­losen, in diesem Fall die in Mittweida, auf diver­se Erwerbslosenausschüsse trifft. Das Thema Wirtschaft, früher gnadenlos unhip, läuft heute im Kino erstaunlich gut. Und so spricht Andreas Wildfang von der mitorganisierenden Berliner Agentur EYZ, die seit 1999 für die »Aktion Mensch« arbeitet, auch vom funktionierenden «popkulturellen Zusammenhang«: »Im Kino ist die Zu­gangsschwelle niedriger. Es ist ein ganz gutes Medium für diese Themen geworden. Früher war es ja mal eine Jahrmarktsattraktion.« Dass die Ökonomie und ein Filmfestival ein gutes Joint Venture eingehen können, konnte Wildfang beim alljährlichen globalisierungs­kritischen Filmfest im Berliner Kino Acud feststellen. Für die »Aktion Mensch« war er auch beim Vorläufer von »ueber arbeiten« aktiv. »Ausnahmezustand« war der Titel eines ähnlich konzipierten, aber bei weitem nicht so groß angeleg­ten mobilen Filmfestes zum Thema psychische Erkrankungen und gesellschaftliche Akzeptanz. Die ausgewählten Produktionen zum Thema Arbeit sollen die Auswirkungen des globalisierten Wirtschaftens abbilden. Die elf Filme fragen nach der Zukunft der Erwerbsarbeit, nach globalen Verbindun­gen zwischen den Lebens- und Arbeits­welten und, wie sollte es anders sein, nach den internationalen Verflechtungen von Großkonzernen. »Des Wahnsinns letzter Schrei« (D 2005), ein einstündiger Dokumentarfilm von Bärbel Schönafinger und Tanja von Dahlern, porträtiert die Hartz-IV-Klienten Angelika, Claudia, Sylvia und David. In Deutschland ernähren sich Mütter und Kinder von Nahrungsmitteln an der Haltbarkeitsgrenze, kleiden sich auf Flohmärkten ein und wühlen in Mülltonnen. Zugleich steigen die Gewinne deutscher Unternehmen, das Kapital der Vermö­genden hat sich in den letzten 14 Jahren verdoppelt. Während die interview­ten Politiker Franz Müntefering und Klaus Brandner (beide SPD) ratlos vom »Aberglauben des ewigen Wachstums« reden, konstatiert der Jurist und Buchautor Horst Afheldt: »Eine ›Reichensteuer‹ zu fordern, ist fast schlimmer, als wenn man Kinderpornografie empfiehlt.« Der Film »Wir leben im 21. Jahrhundert« von Claudia Indenbrock beschreibt die Suche dreier Jugendlicher ohne Schulabschluss nach einem Praktikumsplatz – viel Spaß. »Misserfolge einstecken gehört dazu«, wird ihnen vom Lehrer immer wieder klar gemacht. Jas­min kommt schließlich im Textileinzelhandel unter, Pascal im Straßenbau und Patrick in einer Fabrik. Für zwei Tage. Auch Klassiker der Globalisierungskritik befinden sich im Angebot. »Schwarzes Gold« aus Großbritannien (2006) handelt von der Kaffeeproduktion, »China Blue« (USA 2004) gibt Einblick in die ostasiatische Textilherstellung und die Sweatshops. Nie und niemals darf bei Globalisierungs­kritikern der Film über das Staudammprojekt fehlen. In diesem Fall ist es das drittgrößte der Welt, Ralco in Chile. »Abschalten – Apaga y Váma­nos« heißt der Film von Manuel Mayol aus dem Jahr 2005. Was spanische Conquistadoren und Augusto Pinochet nicht geschafft haben, kriegt Staatspräsident Eduardo Frei, der persönlich an der ausführenden Firma Endesa beteiligt war, hin: die Wohnorte der indianischen Einwohnerschaft zu er­säufen. »Enron – The Smartest Guys in the Room« (USA 2005) zeichnet nach, wie man, think global, einen Milliardenkonzern an die Wand fährt – beim US-Energiekonzern wurden die Pensionsfonds veruntreut. Zurück in Deutschland, act local, beschreibt Silvia von Gerlach in »Irgendwo dazwischen« (D 2005), wie drei 17jährige zwischen Garten­zwergen, Männergesangsverein und schwäbischer Kehrwoche ihre unbeschwerte Jugend killen – Ausgang ungewiss. Worin das Festival seine Stärken hat: verschiedene Lebenswelten zusammenzubringen. Etwa indem der Nachweis gelingt, dass Jugend und Alter an ein und derselben Misere leiden können: Langewei­le. Hier kommt »Herb, mein Herbst?« (2004) von Marie-Jeanne Urech aus der Schweiz gerade recht. Drei Frauen, die zusammen 240 Jahre zählen, präsentieren ihre Lebenstricks, um der tückischen Langeweile im Alter zu entgehen: Rose arbeitet in einem Schönheitssalon mit abgebrochenen Fingernägeln, Nadine mit russischen Straßenmusikern, Jacqueline versucht sich als Autorin. Originaltitel: »Monotone, mon automne?« Marie-Jeanne Urech meint: »In Eu­ropa ist der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung sehr hoch. Meistens werden sie als Last für die Gesellschaft empfunden, sie werden als erbärmlich dargestellt, als nutzlose soziale Kategorie, deren einzige Zukunft der Tod ist.« Bei ihr nicht. Das weite Spektrum von »ueber arbeiten« zeigt sich in der Unterstützerliste: »Herb, mein Herbst?« hat Freunde bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenbüros gefunden, »Irgendwo dazwischen« beim Zusammenschluss der deutschen Jugendverbände, dem Deutschen Bundesjugendring – Organisationen also, deren Vertreter sich nicht unbedingt jeden Tag auf dem Flur über den Weg laufen. »Das Ganze wirkt nur im Zusammenspiel«, sagt Wildfang. »Für uns stand die Frage im Mittelpunkt: Wie wollen wir leben?«, sagt Mechthild Buchholz. »Da wollten wir von möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen Antworten.« Die kriegt sie, und das aus sehr vielen Städten – bis zum April 2007. Wer immer will, kann sich »ueber arbeiten« buchen. Danach gibt’s das nächste Festival mit dem Thema: Gesellschaft und Utopie.
Jürgen Kiontke
Jürgen Kiontke:
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dschungel
08.11.2006
https://jungle.world//artikel/2006/45/immer-die-arbeit?page=0%2C%2C3
Antifa und Armut
Nicht sexy. Klaus Wowereit als Wachsfigur mit seinem Signature-Spruch »Arm, aber sexy«: Vor knapp 20 Jahren beschrieb der damalige Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit (SPD), das Lebensgefühl Berlins mit diesen Worten. Gestimmt hat das schon damals nicht. Denn wer arm ist, hat Sorgen, Angst und Frust. Und vor allem sorgt die Armut dafür, dass Menschen sich ungerecht behandelt fühlen und offenbar auch an einer demokratischen Grundordnung zweifeln. Mehr als jedes fünfte Kind und jede:r vierte junge Erwachsene gelten in Deutschland als armutsgefährdet, Alleinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindern ­besonders häufig. Ungerecht ist das allemal. Als Wowereit seinen Spruch prägte, stieg die Ungleichheit in Deutschland stark an. 1999 betrug der sogenannte Gini-Koeffizient, der die Einkommensungleichheit misst, 0,26, 2010 lag er bereits bei 0,29. Bis 2019 gab es dann eine Phase, in der die Ungleichheit nicht mehr weiter zunahm. Auch die Armut wuchs ab 2015 in Deutschland nicht mehr wesentlich. Die Arbeitslosigkeit sank. Logisch, dass die AfD keinen Wert darauf legt, Ungleichheiten zu beseitigen. Sie würde im Gegenteil eine Umverteilung von unten nach oben betreiben. Das lag unter anderem an staatlichen Interventionen: Der gesetzliche Mindestlohn wurde eingeführt, immer mehr Frauen wurden erwerbstätig. Außerdem war die Wirtschaftslage ganz gut und die Zahl der Arbeitsplätze stieg. Die Gewerkschaften hatten was zu sagen, was ebenfalls zu höheren Löhnen führte, doch verloren sie stetig an Einfluss. Anfang der neunziger Jahre fielen noch etwa 80 Prozent aller Beschäftigten unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages. Heute sind es nur knapp die Hälfte. Während 2019 noch 15,9 Prozent der Bürgerinnen und Bürger arm waren, stieg ihr Anteil an der Bevölkerung bis 2021 auf 16,9 Prozent. 2022 sank er wieder leicht auf 16,7 Prozent, schreibt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in seinem neuesten Verteilungsbericht. Als arm gelten dabei Menschen, deren »bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens« beträgt. In einem Single-Haushalt liegt diese Grenze um die 1 100 Euro monatlich. Auch die Einkommensungleichheit ist gestiegen. Sexy ist das ganz sicher nicht. Und es trägt laut WSI zu einer Entfremdung einzelner Bevölkerungsgruppen vom demokratischen System bei. Sie zweifeln an In­stitutionen und Medien. Wer also Sozialneid und Endsolidarisierung fördern möchte, ist mit Armut gut bedient. Logisch daher, dass die AfD keinen Wert darauf legt, Ungleichheiten zu beseitigen. Sie würde im Gegenteil eine Umverteilung von unten nach oben betreiben. Kindergrundsicherung und Arbeitnehmerrechte wie den Kündigungsschutz, gesetzliche Mindestlöhne und Mitbestimmungsregelungen bezeichnet sie als »Wettbewerbsnachteile« für die deutsche Wirtschaft. Sie sind aber vor allem eines: ein Wettbewerbsnachteil für Faschisten.
Vera Dracke
Vera Dracke: Wachsende Ungleichheit spielt den Rechtsextremen in die Hände
[ "Schicht im Schacht", "Arbeit", "Armut", "Antifa" ]
Hotspot
16.11.2023
https://jungle.world//artikel/2023/46/antifa-und-armut?page=0%2C%2C2
Ohne Moos nix los I
Brasilien hat sich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auf weitere Sparmaßnahmen geeinigt, um die Finanzkrise des Landes zu bekämpfen. Wichtigstes Ziel sei dabei, die Inflation niedrig zu halten; seit der Freigabe hat die Landeswährung Real rund ein Drittel ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren, schon jetzt wird für dieses Jahr eine Inflationsrate von über 20 Prozent erwartet. Damit das Land weitere Kredite von dem Fonds erhält, soll nun die öffentliche Verschuldung begrenzt werden und der Staatshaushalt höhere Einnahmen erzielen. Dazu will die Regierung in Brasilia eine "Scheck-Steuer" für Finanztransaktionen verabschieden und die Privatisierung "intensivieren und verbreiten". Dabei werde auch der Verkauf der Ölgesellschaft Petrobras, des wichtigsten und prestigeträchtigsten staatlichen Unternehmens, erwogen. Vor der Auszahlung weiterer Kredite aus dem IWF-Hilfspaket in Höhe von 41,5 Milliarden Dollar will der Fonds die Umsetzung der neuen Maßnahmen bis März überprüfen. Bis dahin muß sich die Regierung also noch gedulden, obwohl sie auf heißen Kohlen sitzt: Wegen der anhaltenden Kapitalflucht mußte sie die Zinssätze auf mittlerweile fast 40 Prozent erhöhen, um einen weiteren Kursrutsch des Real aufzuhalten. Die hohen Zinsen verteuerten allerdings auch die Kosten für den Schuldendienst. Dies wiederum hatte Befürchtungen ausgelöst, Brasilien könnte ein Schuldenmoratorium verkünden.
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Ausland
10.02.1999
https://jungle.world//artikel/1999/06/ohne-moos-nix-los-i?page=0%2C%2C3
Weniger Vanille, mehr Schulden
Selbst die fliegenden Händler in Madagaskars Hauptstadt Antananarivo kommen zur Ruhe, nur noch wenige von ihnen bringen Produkte an den Mann oder an die Frau: Die Konkurrenz wird täglich größer. Die Landflucht bringt immer mehr Menschen auf der Suche nach einer neuen Perspektive in die ständig wachsende Metropole des ostafrikanischen Staates. Im letzten Jahr konnte die viertgrößte Insel der Welt zum zweiten Mal hintereinander eine Wachstumsquote melden, die über dem Bevölkerungszuwachs lag. Mit knapp vier Prozent lag sie für 1998 sogar etwas höher als die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) prognostizierten 3,6 Prozent. Für 1999 liegen zwar noch keine endgültigen Zahlen vor, aber sowohl das Wirtschaftsministerium als auch der IWF rechnen mit einem Zuwachs deutlich über der Vier-Prozent-Marke. Damit scheint das agrarisch geprägte Madagaskar den Weg zu einem stabilen Wachstum auf vorerst niedrigem Niveau einzuschlagen. Nach über zwei Dekaden der Stagnation ein positives Signal, denn auf weniger als ein halbes Prozent im Durchschnitt belief sich die madagassische Wachstumsquote in den vergangenen 25 Jahren. Das Pro-Kopf-Einkommen sank von 430 US-Dollar (1980) auf 260 US-Dollar (1998), die Armutsquote stieg im gleichen Zeitraum auf mindestens 70 Prozent. Ursache für den ökonomischen Niedergang ist hauptsächlich der Verfall der Weltmarktpreise für die wichtigsten Exportprodukte. Kaffee, Vanille und Gewürznelken brachten in den letzten Jahren immer weniger Geld ein. Ein anderes Exportprodukt Madagaskars, der Rohrzucker, findet kaum noch Abnehmer, seit sich die EU zum weltweit führenden Zuckerexporteur entwickelt hat. Neue Exportprodukte wie Textilien, Garnelen und andere Meeresfrüchte konnten die Einbußen nur teilweise ausgleichen. Die wirtschaftliche Talfahrt ist aber auch ein Ergebnis der Wirtschaftspolitik unter dem langjährigen Präsidenten Didier Ratsiraka. 1950 war Madagaskar unabhängig geworden, in den siebziger Jahren kam über Umwege ein staatssozialistischer Flügel des Militärs an die Macht - und mit ihm der Oberst Ratsiraka. In der Folge wurden die wenigen Großbetriebe Madagaskars verstaatlicht, Ratsiraka kündigte den Aufbau »strategischer Industrien« und die Stärkung des Agrarsektors an. Der Aufbau der »strategischen Industrien« geriet schnell ins Stocken, die Nahrungsmittelproduktion ging sogar zurück. Als selbst das Grundnahrungsmittel Reis importiert werden musste, kam es 1986 auf Druck des IWF zu dem Beschluss, den Agrarsektor zu liberalisieren. Seit 1991 wird die Entscheidung durch ein neues Investitionsgesetz mit niedrigen Zöllen und Steuern umgesetzt. Mit dem IWF hat sich die Regierung Madagaskars, das zu den 20 ärmsten Staaten der Welt zählt, darauf geeinigt, 46 Staatsunternehmen bis Ende Juni zu privatisieren. Weitere Betriebe sollen folgen. »Privatisierung« ist zum Lieblingswort von Premierminister Tantely R.G. Andrianarivo und Didier Ratsiraka geworden. Der ehemalige Militärherrscher wurde im Februar 1997 zum Präsidenten von Madagaskar gewählt. Nunmehr vertritt Ratsiraka einen »pragmatischen Kapitalismus, gewürzt mit ein wenig Sozialdemokratie«. Die ersten Ergebnisse dieser Programme können sich, wie der IWF betont, sehen lassen: Die Inflation liege mit 6,2 Prozent in einem vertretbaren Rahmen, und die nationale Währung, der Franc Malagasy, habe in den letzten Jahren an Stabilität gewonnen. Das Strukturanpassungsprogramm wird abgefedert durch Kredite in Höhe von rund 100 Millionen US-Dollar, die in den Privat- und Finanzsektor, aber auch in den sozialen Bereich fließen sollen. Noch bemängelt wird in Washington jedoch das Tempo der Privatisierungen. Weder das Telekommunikationsunternehmen Telma noch der Erdöl verarbeitende Monopolist Solima sind bisher wie geplant veräußert, und auch die nationale Fluglinie Air Madagascar fliegt noch im Staatsauftrag. Nun drängt der ehemalige Außenminister Herizo Razafimahaleo auf einen raschen Verkauf: In die marode Infrastruktur, in das Ökosystem, das unter der Zerstörung großer Teile des Waldbestands leidet, und in die Bildungseinrichtungen müsse dringend investiert werden. Vor allem durch den Mangel an Verkehrswegen ist die wirtschaftliche Entwicklung Madagaskars stark eingeschränkt. Verfügte die Insel vor 25 Jahren noch über ein Straßennetz von 50 000 Kilometern, so ist davon heute gerade einmal die Hälfte übrig geblieben. Beim Bahnverkehr ist es nicht besser. 1998 zerstörte ein Taifun zahlreiche Brücken im Osten des Landes, die zum größten Teil nicht wieder aufgebaut werden konnten. Exportprodukte erreichen, wenn überhaupt, den wichtigsten Ausfuhrhafen Toamasina meist nicht fristgemäß, was den Ausbau der entsprechenden Wirtschaftszweige erschwert. Hinzu kommt der ökologische Raubbau: Sollte sich das Abholzen der Wälder im gleichen Tempo wie bisher fortsetzen, droht die Insel in wenigen Jahren ohne Wald zu sein. Erosion und eine Versandung der Felder wären die Folge und würden die Landwirtschaft, von der die überwiegende Mehrheit der Madagassen lebt, empfindlich treffen. Aus eigener Kraft kann Madagaskar die dafür notwendigen Mittel jedoch nicht aufbringen. Madagaskars Schulden belaufen sich auf rund drei Milliarden US-Dollar oder etwa 85 Prozent des Bruttosozialprodukts. Allein für den Schuldendienst mussten 1998 nach IWF-Angaben fast 40 Prozent der Staatseinnahmen aufgewendet werden. Zweifellos würde Madagaskar - ähnlich wie die Nachbarstaaten Mosambik und Malawi - die Kriterien erfüllen, um in den Kreis der so genannten hoch verschuldeten Länder (HIPC), denen eine Schuldenstreichung in Aussicht gestellt wird, aufgenommen zu werden. Ein Weg, auf den auch Premierminister Andrianarivo hofft.
Knut Henkel
Knut Henkel:
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Ausland
19.01.2000
https://jungle.world//artikel/2000/03/weniger-vanille-mehr-schulden?page=0%2C%2C0
Der Krieg wird offiziell
Loyalitätsbeweis für Putin. Die Mitglieder des russischen Sicherheitsrats erklären öffentlich ihre Unterstützung für die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken, 21. Februar Das in den vergangenen Monaten immer hektischere diplomatische Ringen zwischen Russland, den Nato-Staaten und der Ukraine verlief bislang zwar nicht nach festen Regeln, bewegte sich aber in einem einigermaßen überschaubaren Handlungsrahmen: militärische Drohgebärden, Sanktionsankündigungen, Desinformation, Gesprächsangebote. Doch während die USA immer eindringlicher vor einer russischen Invasion warnten, hatte es an der Front im Donbass in den vergangenen Wochen lange keine Eskalation gegeben. Das änderte sich in der vorigen Woche, als Beschießungen an der sogenannten Kontaktlinie, wo sich ukrainische Armee und die von Russland kontrollierten separatistischen Streitkräfte gegenüberstehen, stark zunahmen. Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vermeldeten für den 17. Februar insgesamt 870 Verstöße gegen die formal geltende Waffenruhe, für den Folgetag schon fast doppelt so viele. Die USA hatten zuletzt für den 16. Februar die Invasion russischer Truppen in die Ukraine angekündigt. Es ist unklar, worauf sich diese Annahme der US-Geheimdienste stützte – bewahrheitet hat sie sich zunächst nicht. US-Präsident Joseph Biden beharrt weiterhin darauf, dass sein Amtskollege Wladimir Putin bereits die Entscheidung zugunsten eines Angriffs auf die Ukraine getroffen habe. Geplant sei sogar die Einnahme der Hauptstadt Kiew. Die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken war ein Überraschungsmanöver mit Vorlauf. Bereits Wochen war im russischen Parlament über solche Resolutionen verhandelt worden. Immer noch spricht vieles dafür, dass dieses Szenario einer großen Invasion der gesamten Ukraine auf absehbare Zeit unrealistisch ist. Die derzeitige russische Truppenstärke an der ukrainischen Grenze würde nicht für eine Besatzung reichen, und noch schwieriger wäre es, das große Flächenland auf Dauer zu kontrollieren. Dass die USA Russland dennoch derartige Absichten unterstellten, signalisierte Russland, dass es trotz seines Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze nicht mit Zugeständnisse zu rechnen habe, womöglich auch mit dem Ziel, die russische Führung aus der Reserve zu locken und sie zu unbedachten und folgenschweren Reaktionen zu bewegen. Außerdem festigen die Warnungen die Einigkeit der westlichen Staaten gegenüber Russland. Die Ankündigung von Kanzler Olaf Scholz am Dienstag, vorerst die zur Inbetriebnahme nötige Zertifizierung der Gaspipeline Nord Stream 2 auszusetzen, zeigt, dass auch Deutschland keinen Sonderweg einschlägt. Falls die russische Führung sich in den vergangenen Monaten deutliche Konzessionen von den westlichen Staaten erhoffte haben sollte, wurde sie enttäuscht. Während der Westen zwar neue Gesprächsangebote machte, jedoch ohne Zugeständnisse anzukündigen, ging die russische Regierung ­voller Ungeduld in die Offensive. Am Montag ließ Putin für den späten Nachmittag eine Sondersitzung des Sicherheitsrats einberufen, die im Fernsehen übertragen wurde. Verschiedene Minister und die Direktoren der Geheimdienste sprachen nacheinander beim Präsidenten vor und empfahlen unisono die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken in Donezk und Luhansk. Sergej Naryschkin, Chef des Auslandsnachrichtendiensts, argumentierte, die westlichen Staaten sollten »eine letzte Chance« erhalten, um die ukrainische Regierung zur Umsetzung des Minsker Abkommens zur Lösung des Donbass-Konflikts zu zwingen. Gleichzeitig leistete er sich einen groben Versprecher: Er sprach vorschnell von einem Beitritt der Gebiete zu Russland. Putin wies den sichtlich nervösen ­Naryschkin prompt mit einem Lächeln darauf hin, dass diese Frage nicht zur Debatte stehe. Putin dozierte danach in einer fast einstündigen Ansprache über das historische Scheitern der angeblich komplett von außen gesteuerten Ukraine und Russlands Bedrohung durch den Westen. Im Anschluss unterzeichnete der Präsident Dekrete über die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken und zusätzliche Kooperationsvereinbarungen, auf deren Grundlage von nun an russisches Militär ganz offiziell dort stationiert werden soll. Damit stehen nach acht Jahren, in denen Russland den Einsatz eigener Truppen in der Ukraine stets geleugnet hatte, nun offiziell russische Truppen im Donbass der ukrainischen Armee gegenüber. Womöglich war die zeitliche Abfolge auch völlig anders als im Fernsehen ­gezeigt, denn offenbar waren die Videos zuvor aufgezeichnet worden. Die Armbanduhren Putins und seines Verteidigungsministers Sergej Schoigu zeigten bei der Sitzung des Sicherheitsrats eine andere Uhrzeit als die, zu der das Treffen angeblich stattfand. Jedenfalls ist klar, dass es sich um ein geplantes Überraschungsmanöver handelte. Seit Wochen waren im russischen Parlament Resolutionen über die Anerkennung der Volksrepubliken verhandelt worden, am 15. Februar wurde eine solche Resolution zur Vorlage an Putin verabschiedet. Dieser hatte zwar eine Anerkennung bisher nicht unterstützt, doch begonnen, immer öfter von einem drohenden »Genozid« in der Ostukraine zu sprechen. Am Montag hatten sich zunächst die Vorsitzenden der beiden Volksrepubliken, Denis Puschilin aus Donezk und Leonid Passetschnik aus Luhansk, an Putin mit der Bitte um die offizielle Anerkennung als eigenständige Staaten durch Russland gewandt. Die Vertragstexte zur Regelung der Beziehungen zwischen Russland und den Volksrepubliken lagen da offenbar schon in der Schublade. Den Vorwand für die Anerkennung der Volksrepubliken und die Stationierung russischer Truppen bildete das Aufflammen der Kämpfe im Donbass vergangene Woche. Allerdings stellt sich die Frage, wer dieses zu verantworten hat. Während der Vorsitzende des ukrainischen Sicherheitsrats, Oleksij Danilow, versicherte, die ukrainische Seite schieße nicht, überschlugen sich Berichte aus Donezk und Luhansk mit gegenteiligen Behauptungen und Mitteilungen über vereitelte Sabotageversuche ukrainischer Truppen. Durch ukrainische Geschosse sollen unter anderem zwei Zivilisten getötet worden sein. Überprüfen lassen sich die meisten Angaben nicht. Für die mediale Inszenierung des Anerkennungsspektakels brauchte es ­zudem Statisten. Am 18. Februar traten zuerst Puschilin, kurz darauf auch Pas­etschnik mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit, in der sie die Evakuierung der lokalen Bevölkerung nach Russland ankündigten. Das investigative Recherchenetzwerk Bellingcat kam nach Auslesen der Metadaten der Video­dateien zu dem Schluss, die Aufzeichnung sei bereits zwei Tage vorher erfolgt. Bis zu 700 000 Menschen sollen in Russland aufgenommen werden. Ukrainische Aggressionen hätten diesen Schritt notwendig gemacht, hieß es im Kreml dazu. ­Außerdem wurde in den Volksrepubliken die Mobilmachung aller volljährigen Männer bis 55 Jahre veranlasst, denen ab sofort die Ausreise untersagt ist. Bis Montagabend kamen nach offiziellen Angaben fast 80 000 Menschen mit Bussen und Zügen in Rostow und anderen russischen Städten an. Der russische Staat versprach einmalige Sofortzahlungen an alle Ausgereisten von umgerechnet rund 110 Euro. Einer eilig durchgeführten Umfrage des staatsnahen Meinungsforschungsinstitutes WZIOM zufolge stehen drei Viertel der russischen Bevölkerung hinter ­diesen Maßnahmen. Doch in regionalen Foren in sozialen Medien zeigte sich Unzufriedenheit über die Zahlungen durch den russischen Staat. In Donezk und Luhansk scheint die Bereitschaft, die eigenen vier Wände zu verlassen, längst nicht in dem Ausmaß vorhanden zu sein, wie offizielle Verlautbarungen glauben lassen wollen. Die Bevölkerung, in der mittlerweile etwa jeder Fünfte einen russischen Pass besitzt, sieht in der derzeitigen Eskalation keine neue existentielle Bedrohung. Mit den Verhältnissen haben sich diejenigen, die zurückgeblieben sind, in den vergangenen acht Jahren zwangsläufig arrangiert. Die Löhne sind niedrig, zumindest aber der Warenverkehr läuft dank de facto institutionalisiertem Schwarzhandel auch mit den von der Kiewer Regierung kontrollierten ukrainischen Regionen. Es wird sich zeigen, wie sehr die Anerkennung der Volksrepubliken durch Russland das alltägliche Leben im Donbass verändern wird, und was es für die Kriegshandlungen bedeutet, dass nunmehr auch offiziell russische Truppen an Ort und Stelle sind. Mit Sorge wurde in der Ukraine auch darauf geschaut, ob Russland die Volksrepubliken in ihren derzeitigen Grenzen anerkennen werde oder auch deren erklärten Anspruch auf die gesamten Regionen Donezk und Luhansk. Weite Teile dieser Gebiete, auch die Hafenstadt Mariupol befinden sich unter Kontrolle der ukrainischen Regierung. Am Dienstag Abend stellte Putin klar, dass tatsächlich der Gebietsanspruch der Volks­republiken auf weiteres ukrainisches Territorium von Russland anerkannt werde. Eines aber ist jetzt schon sicher: Der Weg der abtrünnigen Gebiete zurück unter die Kontrolle der Kiewer Regierung – und sei es mit einem hohen Grad an Autonomie –, wie es die Verhandlungen über die Umsetzung des Minsker Abkommen offiziell immer noch anstrebten, ist nunmehr versperrt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj qualifizierte den russischen Schritt als Angriff auf die territoriale Integrität der Ukraine und als einseitige Absage Russlands an das Minsker Abkommen. Neue Sanktionen der USA und der Europäischen Union dürften die russische Regierung kaum beeindrucken. Unklar ist, ob und wie unter den neuen Voraussetzungen weiterverhandelt wird. Noch bis zum Wochenende liefen diplomatische Vorbereitungen für in den kommenden Tagen anberaumte Gespräche. Wie viel Rationalität in Putins Vorgehen steckt, ist schwer ein­zuschätzen, doch ist davon auszugehen, dass der Kreml bereit ist, Verluste in Kauf zu nehmen, um seine politischen Ziele zu erreichen.
Ute Weinmann
Ute Weinmann: Erstmals entsendet Russland offiziell Truppen in die Ostukraine
[ "Russland", "Ukraine", "Wladimir Putin" ]
Thema
24.02.2022
https://jungle.world//artikel/2022/08/der-krieg-wird-offiziell?page=0%2C%2C3
Musik Heil!
»Glauben Sie mir«, so tönt es über Kurzwelle, und so liest man es im Internet, »wenn die Weißen Amerikaner nicht schon von Moral-Aids zerstört wären, und ihre Regierung sich nicht so verhielte, wie die Clinton-Regierung es tut, dann hingen die faulenden Körper der Politiker, Richter und Bürokraten von jedem Laternenpfahl und Strommast in Washington. Die Hauptquartiere der Medienkonzerne in New York und Washington wären ausgebrannte Ruinen, und das Blut der dort Beschäftigten flösse knöcheltief durch die Kanäle um die Ruinen. Alle Innenstädte und nicht-weißen Quartiere in Amerika wären abgeriegelt, während bewaffnete Einheiten von Tür zu Tür zögen. Die ethnischen Säuberungen im Kosovo sähen im Vergleich dazu wie ein Sonntagspicknick von Schülern aus. Das würde geschehen, wenn wir eine gesunde und moralische Nation wären, und nicht eine kranke Nation, die von den Verbreitern des Moral-Aids zerstört worden ist.« Der sich da äußert, ist keine x-beliebige Figur der US-Rechtsextremen, die manchmal nur schwer von den schlechten Karikaturen stilisierter Film-Nazis zu unterscheiden sind. Der da spricht, ist Dr. William Pierce - als Führer der National Alliance wichtigster Kontaktmann der NPD in den USA. Die NPD schätzt den Herrn Doktor. Im offiziellen Jubelwerk zum 35jährigen Bestehen der Partei ist Pierce mit einem Grußwort vertreten. Er war mehrfach Gast bei Veranstaltungen der NPD und der Jungen Nationaldemokraten (JN). Im Oktober 1997 trat er beim »4. Europäischen Kongreß der Jugend« der JN in Fürth auf. Beim Bundeswahlkongress der NPD im Februar 1998 in Passau wurde er vom Bundesvorstandsmitglied Holger Apfel als Ehrengast begrüßt. Auch beim »6. Europäischen Kongreß der Jugend« im niederbayerischen Falkenberg konnte ihn der JN-Vorsitzende Sascha Roßmüller als Gast willkommen heißen und die internationalen Kontakte der NPD-Jugendorganisation rühmen. Pierce kann auf eine Führungsrolle im US-Nazismus seit den sechziger Jahren zurückblicken. Der gelernte Physiker gab 1966 seinen Job auf, um bei der American Nazi Party (ANP) in Arlington in Dienst zu treten. Die ANP wurde 1959 von George Lincoln Rockwell (1918–1967) gegründet, sie agierte über die 1962 ins Leben gerufene World Union of National Socialist auch international. Pierce arbeitete als Redakteur der Zeitschrift National Socialist World. Nach der Erschießung Rockwells wurde er zu einer der zentralen Figuren der ANP. Im Unterschied zu seinen Konkurrenten um die Führungsrolle setzte er auf die Strategie des rechten Terrors. Pierce verließ 1970 die ANP, die zwischenzeitlich in National Socialist White People's Party (NSWPP) umbenannt worden war, und schloß sich der National Youth Alliance an. Dort zog Willis Carto, Kopf der antisemitischen Liberty Lobby, im Hintergrund die Fäden. Pierce überwarf sich mit Carto und übernahm die Führung. Mit zunehmendem Alter der Mitglieder wurde die »Jugend« aus dem Organisationsnamen gestrichen - die National Alliance war geboren. Sie verfügt über eine ausgeprägte Infrastruktur, in der Gesinnung und Geschäft in Einklang gebracht werden. Die von ihm forcierte Terrorstrategie setzt Pierce auch in literarische Fiktion um. 1978 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Andrew Macdonald den Roman »The Turner Diaries«. Die »Turner-Tagebücher« gelten als Blaupause für Terroranschläge. So stellt der US-amerikanische Neonazi Michael Moynihan wohlwollend fest, die Terrortruppe The Order sei bei ihren Anschlägen von Pierce inspiriert worden. Moynihan ist in der rechten Musikszene durch sein Projekt Blood Axis bekannt. Auch der für das Attentat von Oklahoma im Jahr 1995 verantwortliche Timothy McVeigh schätzt das Buch. Von den Kameraden der Nazi-Postille Zentralorgan direkt auf möglichen Einfluss angesprochen, meinte Pierce: »Ich hoffe doch sehr, daß meine Schriften und ich Einfluss auf das Leben der amerikanischen Gesellschaft ausüben.« Als Fortführung der »Turner Diaries« erschien 1989 wieder unter Pseudonym »Hunter«. Das Buch ist dem rassistischen Mörder und Bombenattentäter Joseph Paul Franklin gewidmet. 1984 erwarb Pierce ein Anwesen in West Virginia, das seit Ende 1985 als Parteizentrale fungiert. Zur Steuerersparnis gründete Pierce die Cosmotheist Community Church. Außerdem ist er seit Dezember 1991 mit seinem Programm »American Dissident Voices« auf Kurzwelle und im Internet präsent. Der Verlag und Versand National Vanguard Books, der Hitlers »Mein Kampf« ebenso wie Nazi-Comics verkauft, hat auch Pierces literarische Werke im Angebot. Ende 1999 stieg Pierce groß in das Geschäft mit Nazi-Musik ein. Er erwarb die Firmen Resistance und Nordland. Um seine Geschäfte gegenüber seinem Stammpublikum, das Rockmusik durchweg für entartet hält, zu legitimieren, legte er ein Grundsatzpapier über »Musik der Rebellion« vor: Er vertreibe neben deutscher Marschmusik und rechtem Country nun auch als »Widerstandsmusik« bezeichneten Nazi-Rock. Mit dieser resistance music schlage er den Feind mit dessen eigenen Waffen. Bei den Hörern von resistance music handele es sich zwar um »entfremdete junge Amerikaner«, doch dank ihres »Stammesinstinktes« wehrten sie sich noch gegen den Multikulturalismus der Musikindustrie. Seit den fünfziger Jahren hätten »die Juden« »weiße musikalische Formen durch schwarze Musik ersetzt«. Heute werde Weißen Rap schmackhaft gemacht. Der Tiefpunkt des Nihilismus sei mit Death Metal und Satanismus erreicht. Daher legt Pierces junger deutscher Kamerad Hendrik Möbus neuerdings Wert darauf, kein Satanist zu sein. Pierce schafft es, »den Juden« noch das Massaker an der Schule von Littleton 1999 in die Schuhe zu schieben. Marilyn Manson, »der bekannteste Künstler satanistischer Musik«, habe die Attentäter inspiriert. Er werde von Interscope vertrieben, Interscope gehöre den Universal Studios und deren Besitzer sei Edgar Bronfman Jr. Womit die Zersetzung der moralischen Grundlagen Amerikas durch »die Juden« für Pierce bewiesen ist.
Alfred Schobert
Alfred Schobert: NPD-Kontaktmann William Pierce
[ "NPD", "Rechtsextreme", "Neonazis", "USA", "Rechtsrock" ]
Antifa
15.11.2000
https://jungle.world/artikel/2000/46/musik-heil
Gegen alles, für Sieglinde
Aber nicht die Bäume! Anwohnerproteste gegen Großprojekte entdecken ihre Naturliebe Wann immer sogenannte Großprojekte realisiert werden sollen, formieren sich Bürgerinitiativen dagegen, in ländlichen Regionen ebenso wie in Großstädten. Derzeit bringt der geplante Bau zweier Flüssigerdgas-Terminals in Brunsbüttel, mit denen die Abhängigkeit von russischen Gasimporten verringert werden soll, Anwohner zusammen. Not in my backyard, kurz: nimby, heißt das Phänomen in den USA, das auch hierzulande auftritt, wenn beispielsweise in Stadtteilen mit wohlhabender Bevölkerung Sammelunterkünfte für Geflüchtete oder Obdachloseneinrichtungen entstehen sollen. Man will unter sich bleiben, die eigene vermeintliche Oase in der städtischen Betonwüste erhalten. Ein Totschlagargument der Wutbürger ist mittlerweile der Klimaschutz. So wehren sich Anwohnerinnen dagegen, dass auf einem Parkplatz im Hamburger Stadtteil Altona-Nord ein Wohnheim für Auszubildende entstehen soll. Denn dafür müssten dort einige Bäume gefällt werden, und hinzu kommt noch der ganze Lärm – erst durch die Baustelle und dann bestimmt durch die Auszubildenden, die dort zentral gelegen für 235 Euro Miete pro Monat wohnen sollen. Wer anderthalb Jahre im Homeoffice zugebracht hat, während auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Hotel gebaut wurde, kann das zumindest im Ansatz nachvollziehen. Andererseits aber ist Wohnraum (im Gegensatz zu Hotelzimmern) knapp, insbesondere solcher, den sich Auszubildende leisten können. Auch verkehrspolitische Projekte in Hamburg erzürnen die Nimby-Bürger. So wehren sich Anwohner gegen den bereits begonnenen Bau des Fernbahnhofs Diebsteich, der den in Altona weitgehend ersetzen und in der Folge dort Platz für den Neubau von etwa 1 900 zentral gelegenen Wohnungen schaffen soll. Außerdem verfolgt die Deutsche Bahn nach eigenen Angaben damit das Ziel, die größten deutschen Städte bis 2030 mit Zügen im Halbstundentakt zu verbinden. Die gegen die Verlegung des Fernbahnhofs opponierende Bürgerinitiative gab den Bäumen, die für den Bahnhof weichen müssen, daraufhin Namen; nichts erheischt so viel Mitleid wie ein Baum, der »Sieglinde« heißt. Die geplante Einrichtung der U-Bahnlinie 5 in Hamburg ist ein weiteres dieser Projekte, gegen die Anwohner derzeit opponieren. Im Nordosten und -westen der Stadt sollen damit über 100 000 Einwohnerinnen erstmals an das Schnellbahnnetz angeschlossen werden; wenn die Linie fertig ist, soll sie etwa 270 000 Menschen täglich transportieren. Mit zwei von neun klagenden Anwohnern hat die städtische Hamburger Hochbahn AG bereits eine außergericht­liche Einigung erzielt. Andere verweisen nach wie vor darauf, dass der Bau einer Untergrundbahn zu viele CO2-Emissionen verursache; sie wollen stattdessen eine Straßenbahn. Vor gut zehn Jahren verwarf jedoch der damalige schwarz-grüne Senat genau diesen Plan, eine Straßenbahnlinie auf der Strecke der nun geplanten U5 zu errichten – unter anderem weil sich in mehreren Stadtteilen Bürgerinitiativen dagegen gegründet hatten, die sich um den möglichen Lärm sorgten.
Johannes Reinhardt
Johannes Reinhardt: Anwohnerproteste gegen Bauprojekte argumentieren häufig mit dem Klimaschutz
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Thema
21.04.2022
https://jungle.world//artikel/2022/16/gegen-alles-fuer-sieglinde?page=0%2C%2C0
Quälende Ungewissheit
Eine Dystopie ist eine Anti-Utopie. Im Film gibt es viele dystopische Gesellschaftsentwürfe. »Clockwork Orange« und »Blade Runner« gehören dazu. Hier irren Figuren wie Alexander DeLarge oder Rick Deckard durch urbane Un-Orte. Sie kommunizieren nicht oder nur mittels Gewalt mit ihrer Umwelt und haben den Zugang zu ihrer eigenen Geschichte verloren, weil undurchsichtige Superstaaten ihnen jegliche Freiheit nehmen. Spätestens seit dem »Verschwinden« von 43 Studenten der pädagogischen Fachschule von Ayotzinapa im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero ruft auch Mexiko Assoziationen mit einer Dystopie hervor. Die jungen Männer werden seit dem 26. September vermisst. An diesem Tag war es nach einer Protestkundgebung der Lehramtsanwärter in der Nähe der Stadt Iguala zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften gekommen, bei denen zudem drei Studenten und drei Unbeteiligte starben. Von Beginn an bezweifelte niemand, dass der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, und seine Ehefrau, Maria de los Angeles Pineda, in das »Verschwinden« der Studenten involviert waren. Außer Frage steht, dass das Bürgermeisterehepaar zum örtlichen Kartell Guerreros Unidos enge Beziehungen pflegt. Abarca soll die kommunale Polizei nicht nur angewiesen haben, die protestierenden Studierenden festzuhalten und zu beschießen, sondern auch, sie dem Kartell zu übergeben. Doch erst auf Druck der Angehörigen und Kommilitonen der vermissten Studenten wurden in den vergangenen Wochen insgesamt 74 Personen festgenommen. Unter ihnen Beamte der kommunalen Polizei sowie mutmaßliche Angehörige der Guerreros Unidos. Ende Oktober trat auch der Gouverneur von Guerrero, Angel Aguirre Rivero, zurück. Die Staatsanwaltschaft präsentierte verschiedene Tatverdächtige, darunter im Oktober einen Polizisten und ein Kartellmitglied. Sie hatten die Ermittler zu einem Massengrab mit 28 verkohlten Leichen geführt. Am 4. November schließlich verhaftete die Bundespolizei auch Abarca und de los Angeles Pineda in Mexiko-Stadt. Stichhaltige Aussagen zum Verbleib der vermissten Studierenden haben die beiden bislang nicht gemacht. Stattdessen führte Generalbundesstaatsanwalt Jesús Murillo Karam drei Tage nach der Festnahme des Bürgermeisterehepaars die Videoaussagen von neuen Tatverdächtigen vor. Dabei handelt es sich um drei mutmaßliche Angehörige der Guerreros Unidos, die kaum älter sind als die Vermissten. Ihren Aussagen zufolge sollen die 43 Studenten wenige Stunden, nachdem die kommunale Polizei sie dem Kartell übergeben hatte, ermordet worden sein. Die drei Männer geben weiter an, die Leichen verbrannt, Asche und Knochen in Plastiksäcke verpackt und auf die Müllkippe des Ortes Cocula, in der Nähe von Iguala, geworfen zu haben. Tatsächlich sind menschliche Überreste in Cocula gefunden worden. Obgleich Murillo Karam erklärte, es handele sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit um die vermissten Studenten, machten die Ermittler deren Familien keine großen Hoffnungen auf eine schnelle und eindeu­tige Identifikation der Überreste. Sie seien zu stark verkohlt, hieß es. Nun soll eine DNA-Analyse der wenigen aufgefundenen Knochen am forensischen Institut der Universität Innsbruck Aufklärung bringen. Die allerdings kann mehrere Wochen dauern. Die Angehörigen der 43 Verschwundenen ihrerseits weigern sich, die Ermittlungs­ergebnisse der Staatsanwaltschaft anzuerkennen. Sie haben stattdessen ein forensisches Team aus Argentinien beauftragt, unabhängige Untersuchungen durchzuführen. Seit der Stellungnahme des Generalstaatsanwalts vom 7. November wächst der internationale Druck auf den mexikanischen Präsidenten, Enrique Peña Nieto. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte schlug vor, mit einem eigenen Team die Ermittlungen transparenter zu machen. Dies lehnte Peña Nieto ab. Die Direktorin der Amerika-Sektion von Amnesty International, Erika Guevara Rosas, kritisierte daraufhin den Präsidenten für sein »Desinteresse an der Tragödie«. Sie forderte die Regierung auf, den Fall Ayotzinapa als »Staatsverbrechen« anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen. Der Rechtswissenschaftler Eduardo Buscaglia von der New Yorker Columbia Universität spricht sogar von einem »Verbrechen gegen die Menschheit«, für das der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig sei. Auch Studierende, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen haben ihre Proteste gegen die intransparenten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ausgeweitet. Vergangene Woche stürmten 500 Demonstranten das Regionalparlament von Guerrero in Chilpancingo. Sie legten Feuer im Plenarsaal und zündeten mehrere Fahrzeuge an. Bereits einen Tag zuvor hatten über 2 000 Menschen dort den Regionalsitz der Regierungspartei PRI in Brand gesteckt und die Polizei angegriffen. Im Touristen-Hotspot Acapulco an Guerreros Küste blockierten mehrere hundert Menschen über Stunden den internationalen Flughafen. Anders als Präsident Peña Nieto sehen viele den Fall Ayotzinapa längst nicht mehr als ein lokales Problem der organisierten Kriminalität in Guerrero. So finden auch in anderen Bundesstaaten wie Chiapas, Veracruz und Oaxaca sowie in Mexiko-Stadt inzwischen täglich Protestkundgebungen statt. Am 8. November demonstrierten Zehntausende Menschen in der Hauptstadt gegen den Umgang der Regierung mit dem Fall Ayotzinapa. Mitte November besetzten mehrere hundert Studierende zwei Tage lang die Mautstellen entlang der wichtigsten Autobahnrouten des Landes und ließen den Verkehr gratis fließen. Für den 20. November hat ein Bündnis aus linken Gewerkschaften, Studierenden- und Lehrerverbänden, Umweltgruppen und indigenen Gemeinden zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen. Gefordert wird der Rücktritt des Präsidenten. In den zentralamerikanischen Nachbarländern haben Studierende begonnen, öffentliche Mahnwachen abzuhalten. Dabei tragen sie – wie die Protestierenden in Mexiko – Fotos der Vermissten auf der Brust. Auch bei einem Freundschaftsspiel zwischen der niederländischen und der mexikanischen Nationalmannschaft am 12. November in Amsterdam hielten die mexikanischen Fans Poster mit den Gesichtern der Verschwundenen in die Fernsehkameras. Die Porträts der 43 vermissten Männer sind schon jetzt zu einem weltweit bekannten Symbol des Protests gegen die systematische Straflosigkeit und die Gewalttätigkeit des korporativen mexikanischen Mafiastaats geworden. Neben Hinrichtungen und Verstümmelungen ist das Verschwindenlassen von Menschen dabei die bevorzugte Form der Austragung gesellschaftlicher Konflikte. Allein in Guerrero sind dieses Jahr bereits 240 Menschen verschwunden, seit dem Amtsantritt von Peña Nieto 2012 sind es 9 000 Menschen. Insgesamt sind seit Beginn des sogenannten Drogenkriegs 2006 mehr als 26 000 Mexikaner auf ungeklärte Weise verschwunden. Hinzu kommen mindestens 70 000 vermisste Transitmigranten aus Zentralamerika. In einem Interview mit der Deutschen Welle vom 11. November widersprach der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck der in der Berichterstattung vorherrschenden Sichtweise, dass die Aktivitäten der mexikanischen Sicherheitskräfte und die der organisierten Kriminalität unterscheidbar seien. »Die Gewalt der Kartelle ist nicht unpolitisch«, so Kaleck. »Sie richtet sich inzwischen ganz deutlich gegen die indigenen Gemeinden, gegen Umweltaktivisten, Menschenrechtsanwälte und Gewerkschaften. Diese Gewalt entspringt den staatlichen Strukturen.« Auch die Vermissten von Ayotzinapa kommen mehrheitlich aus indigenen und kleinbäuerlichen Familien. Die pädagogische Fachschule von Ayotzinapa gilt zudem als linksgerichtet. Das Verschwindenlassen von Oppositionellen war auch eine zentrale Strategie des Terrors der lateinamerikanischen Militärdiktaturen in den sechziger bis neunziger Jahren. Die Mehrheit der Verschwundenen wurde entführt, gefoltert, ermordet und auf klandestinen Friedhöfen verscharrt. Allein in Argentinien ließ die Militärjunta zwischen 1976 und 1983 bis zu 30 000 Menschen verschwinden. Die eigentliche Tragödie Mexikos ist daher, dass in sieben Jahren fast 100 000 Menschen verschwunden sind, obwohl das Land eine repräsentative Demokratie ist. Die Praxis des Verschwindenlassens prägt nach wie vor Lateinamerikas Gesellschaft; es herrschen Gewalt, Angst und Schweigen. Die Trauer um die Toten und ihre Bestattung gehören zu den elementaren Praktiken der meisten Gesellschaften. Trauer- und Bestattungsrituale sind Verabschiedungsrituale. Sie stiften Sinn, das heißt ein Bewusstsein von der eigenen Geschichte und Zugehörigkeit. Die Bestattung gibt den Toten Würde und erkennt sie über den Tod hinaus als soziale Wesen an. Das Verschwindenlassen hingegen entsozialisiert die vermisste Person. Vermisste werden zu Untoten, von denen niemand mit Bestimmtheit sagen kann, ob sie leben oder tot sind und wo sie sich aufhalten. Zudem erschwert diese Praxis den Verwandten und Freunden die Trauer. Sie schwanken stattdessen zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Angst. Das Verschwindenlassen kann die Angehörigen aber auch politisieren. So haben Gruppen wie die Mütter der Vermissten in Argentinien, die »Madres de la Plaza de Mayo«, entscheidend zum Ende der dortigen Militärregierungen beigetragen. Die Politikwissenschaftlerin Kim Rygiel beschreibt in ihrem Text »In Life Through Death« den wachsenden politischen Aktivismus von Verwandten der vielen tausend Migranten und Migrantinnen, die auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken sind oder als vermisst gelten. Diese Angehörigengruppen fordern die Regierungen der Europäischen Union auf, den Verbleib sowie die Identität der Verschwundenen zu klären und ihnen eine würdige Bestattung zu ermöglichen. Die Proteste der Angehörigen der Vermissten von Ayotzinapa weisen in die gleiche Richtung. Im rechtsfreien Raum, zu dem in Mexiko nicht nur Guerrero geworden ist, formulieren sie als Utopie, was eigentlich die Grundlage moderner Gesellschaften sein sollte: das Recht auf Leben und den Respekt vor den Toten.
Stefanie Kron
Stefanie Kron: Das Verschwindenlassen der Studenten und dessen politischen Folgen
[ "Mexiko", "Ayotzinapa" ]
Thema
20.11.2014
https://jungle.world//artikel/2014/47/quaelende-ungewissheit?page=0%2C%2C3
Das Land, das Eduard erfand
Ohne die Staatsflagge mit den roten Georgs-Kreuzen vor der Tür würde man das graue Gebäude nahe des Flusses Mtkwari im Zen­trum von Tiflis nicht unbedingt für ein Ministerium halten. Die Regierung der jungen Kaukasusrepublik scheint wenig Wert auf Repräsentation zu legen. Doch ein Blick über den Fluss hinweg zeigt, dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis es so weit ist. Dort ist der neue Präsidentenpalast im Rohbau – ein zu heiß gewaschener Reichstag inklusive Glaskuppel mit Wandel­spirale. Giorgi Gabashvili empfängt mich freundlich mit fließendem Deutsch. Der Minister für Kultur und Sport entstammt einer Funktionärs­dynastie, sein Vater war lange Zeit Botschafter in Berlin. Gabashvili hat die 30 kaum überschritten. Dieses Alter ist nicht ungewöhnlich in der georgischen Regierung, die wohl einen der niedrigsten Altersdurchschnitte der Welt haben dürfte. Er selbst hat Germanistik studiert – zeitweise in Saarbrücken, das unter Ober­bürgermeister Oskar Lafontaine zur Partnerstadt von Tbilisi wurde. Heute ist ein Platz am linken Ufer des Mtkwari nach Saarbrücken benannt. Gibt es neben der selbstverständlichen Subventionierung staatlicher Kultureinrichtungen eine Förderung der freien Szene? »Natürlich«, sagt Gabashvili, »wir unterstützen zum Beispiel die Beiträge zur Biennale Venedig, wir unterstützen unsere Verleger, die an der Frankfurter Buchmesse teilnehmen, die Künstler, die zum Edinburgher Theaterfestival fahren, und so weiter. Folkloregruppen wird geholfen, unter anderem durch Finanzierung der Gastspiele.« Auch die Aktivitäten der georgischen Diaspora im Ausland würden gefördert. Dass die Außenwirkung des Landes im Mittel­punkt der Politik des Ministeriums steht, erscheint natürlich. Das kleine Land ohne nennenswerte natürliche Ressourcen und Exportartikel hat kaum andere Entwicklungs­chancen als den Tourismus. Dafür bestehen eigentlich beste Voraussetzungen. Auf einer Fläche von der Größe Bayerns gibt es in dichter Folge beeindruckende Landschaften, von subtropischer Küste bis zu Bergen, die über 5 000 Meter hoch sind. Und eben eine uralte Kultur. »Wir möchten mit der Kultur unsere Identität und Mentalität in Europa zeigen. Dazu gehört zum Beispiel die Ausstellung ›Medeas Gold‹ in Berlin. Und wir haben schon die wichtigsten Voraussetzungen für Tourismus im Lande geschaffen«, sagt der Minister, »jeder Ausländer kann sich hier auf der Straße sicher fühlen. Und es gibt eine funktionierende Energieversorgung.« Zur Bestätigung seiner Worte fällt genau in diesem Augenblick des Gesprächs der Strom aus. Doch im Vergleich zur Lage vor drei Jahren, als die so genannte Ro­senrevolution den in Deutschland immer noch geschätzten Eduard Shevardnadse aus dem Sessel hob, hat sich tatsächlich manches verändert. Die Polizisten han­deln nicht mehr wie legitimier­te Wegelagerer, der Straßenzustand ist selbst in der Provinz erträglich, und der Ausfall von Wasser, Gas und Strom ist nun eine Ausnahme­erscheinung. Internationale Konzerne zeigen schon Interesse. Nur beim Normalbürger, wozu auch Lehrer und viele Künstler zu zählen sind, ist der Wandel nicht angekommen. Der Lebensstandard ist noch schlechter geworden. Eine Karte zum Jazz­festival Tbilisi, wo in diesem Jahr Joe Cocker bekanntester Gast ist, würde einen Gym­nasial­lehrer mehrere Monatsgehälter kosten. In der Kultur ist das Erbe noch immer viel stärker zu spüren als in Deutschland. In Parks feiern Jugendliche ihr Abitur, indem sie Volkslieder singen, begleitet von traditionellen Instrumenten. Der zunehmende Austausch mit dem Westen wird deshalb vor allem von Angehörigen der alten Intelligenzia als Verfall der Werte beargwöhnt. Doch der junge Minister hebt die Wichtigkeit dieser Öffnung hervor. »Natürlich ist das Bewahren wichtig, aber wir wollen keine Tür schließen. Kultur ist nicht wie eine statische Skulptur, die nicht mehr verändert werden kann.« Im Alltag sieht das Bewahren aber manchmal sehr seltsam aus. Während ganze Straßenzüge von Tbilisi das nächste Erdbeben nicht überstehen werden, entstehen zahlreiche Neubauten im Einheitsstil. Im Mai hat das Parlament ein neues Gesetz erlassen, das die Denkmalpflege verbessern soll. »Mit Sig­naghi in Kachtien wurde bereits begonnen. Im nächsten Jahr soll die komplexe Sanierung der Altstadt von Tiflis anfangen. Das ist aber eine kolossale Arbeit, das geht nicht in ein oder zwei Jahren. Zusammen mit Investoren und den Eigentümern geht das Schritt für Schritt voran.« Gerade das neue Gesetz hat allerdings für Unruhe gesorgt. Auf die angestammten Bewohner kommen finanzielle Lasten zu, die sie nicht tragen können. Dass besserbetuchte Einheimische und Ausländer den Charme der alten Viertel schon für sich entdeckt haben, zeigt die Vervielfachung der Immobilienpreise. Diese Gentrifikation wird sich nun beschleunigen.
jens kassner
jens kassner:
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dschungel
26.07.2007
https://jungle.world//artikel/2007/30/das-land-das-eduard-erfand?page=0%2C%2C1
Offen aus
Hamburg hat es wieder einmal geschafft und liegt bundesweit ganz vorn in der Disziplin »Deregulierung«. Ende Juni diesen Jahres verabschiedete der Hamburger Senat »das modernste Mediengesetz Deutschlands«, so Burkhardt Müller-Sönksen von der FDP-Bürgerschaftsfraktion. Mit dem Gesetz einher geht die Abschaffung des Offenen Kanals (OK), der sein Programm pünktlich am 30. Juni 2003 einstellte. Aber auch viele andere Punkte des Mediengesetzes wurden geändert, im Sprachgebrauch der Parteien des Mitte-Rechts-Senats nennt man das »liberalisiert« und »dereguliert«. Begonnen hatte alles im Juli 2002 mit einem Artikel in Bild. Dort forderte der Vorsitzende der Hamburger CDU-Fraktion, Michael Freytag, dass der OK aus der Trägerschaft der Hamburgischen Anstalt für neue Medien (Ham) herausgelöst werden solle. Motto der populistischen Argumentation: »Zu viel Gewalt. Zu viel obskure Propaganda. Zu viel Quatsch.« Die Aufregung war seinerzeit sehr groß; von der GAL bis zu Verdi regte sich lautstarker Protest gegen die Äußerungen Freytags. Auch die Ham protestierte mit Presseerklärungen gegen die Pläne des Senats. Sie befürchtete neben einer starken kommerziellen Ausrichtung der Medienlandschaft auch die »Einschränkung von Bürgerbeteiligung«, sollte der OK abgeschafft werden. Die Ham als zuständige Landesrundfunkanstalt für das Land Hamburg war bislang die zentrale Instanz für die Lizenzierung neuer privater und kommerzieller Radios und auch Fernsehsender. Die Grundlage bildet das Landesmediengesetz. Die Ham war darüber hinaus jedoch auch für die Kontrolle der jeweiligen Programme zuständig. Bislang war es nicht möglich, reinen »Dudelfunk« zu machen, d.h. die Sender mussten immer auch auf einen bestimmten Anteil gesprochenen Wortes achten. Reine kommerzielle Privatsender waren nach dem alten Hamburger Mediengesetz, übrigens wie auch in der gesamten restlichen BRD üblich, nicht vorgesehen. Die recht rigorosen Kontrollmaßnahmen sollen die Medienlandschaft nämlich eigentlich vor zu viel Kommerz und inhaltslosen Programmen schützen. Doch genau diese Kontrolle wollte der Hamburger Senat abschaffen, um die »Entfaltung des freien Unternehmertums«, so Dietrich Rusche (CDU-Fraktion), durch Deregulierung und Abbau der Bürokratie zu fördern. Der Senat war nicht zu stoppen. Das neue Landesmediengesetz wurde auf der Sitzung der Hamburgischen Bürgerschaft am 26. Juni beschlossen. Die wichtigste Änderung ist sicherlich das wirklich beschlossene Ende des OK. Dieser existierte in Hamburg über 15 Jahre und hat vor allem mit seinen nicht deutschsprachigen Sendungen zum Hamburger Kulturleben beigetragen. Die Nutznießerin seiner Schließung ist ein wichtiges Prestigeobjekt des Hamburger Senats – die geplante Hamburg Media School (HMS). Denn sie »erbt« die Frequenzen des OK ohne die eigentlich dafür notwendige Lizenz und obendrein noch das technische Know-How des Senders, soweit es für sie denn von Nutzen ist. Die HMS soll in Hamburg nach den hoch fliegenden Plänen des Senats eine Elitebildungseinrichtung für den Bereich Medien und Journalismus werden. Sie soll halb privat sein und junge Journalisten nach dem Studium ausbilden. Sie könnte aber ebenso auch zur Universitätsalternative werden. So genau weiß das noch niemand. Fest steht nur, dass deswegen der OK geopfert wurde und sie das frei werdende Geld aus den Rundfunkgebühreneinnahmen in Höhe von zirka 900 000 Euro jährlich komplett für sich allein erhält. Und auch die Frequenzen und das Equipment des OK werden demnächst die jungen Studenten der HMS nutzen. Zwar sollen sie auch den »Bürgerfunk« betreuen, doch dieser wird fortan von der HMS ausgewählt. Das Prinzip des OK, nämlich dass jeder Bürger (mitunter auf sehr schlechtem technischen Niveau) senden darf, wird also in Hamburg abgeschafft, obwohl der Geschäftsführer der HMS, Jan Henne de Dijn, noch im April in einem Interview mit der taz betonte, er sehe im Bereich Rundfunk »wenig Bedarf einzugreifen«. Knapp vier Monate später ist von diesen Tönen nichts mehr zu hören. Sowohl der Rundfunk als auch das Fernsehprogramm des Bürgerkanals existieren nicht mehr, 15 Angestellten des Senders muss nun von der Ham gekündigt werden. Teile des gerade neu angeschafften technischen Equipments für die Fernsehproduktion im Wert von knapp 200 000 Euro müssen wohl auch verkauft werden. Die HMS kann es so nicht verwenden, da sie die Räumlichkeiten des Kanals nicht weiter nutzt. »Den Offenen Kanal abwickeln zu müssen, ist für alle daran Beteiligten einschließlich der Mitarbeiter eine bittere Situation«, so Lothar Jene, Direktor der Ham in einer Presseerklärung. Auch der Vorsitzende des Ham-Vorstands, Dietrich Sattler, bedauerte das Ende und beklagte die geringe Wertschätzung der politisch Verantwortlichen für die langjährige Arbeit. Ab sofort bestimmt die HMS über die Zukunft der Frequenzen und wird sie in erster Linie für die Ausbildung nutzen. Aber auch die weiteren Änderungen im Gesetz lassen aufhorchen und eine Kettenreaktion erahnen. Denn das neue Mediengesetz beseitigt die letzten Widerstände gegen Kommerzialisierung. Als erstes Bundesland hat Hamburg wesentliche inhaltliche Auflagen für die privaten Radiosender aufgehoben. Es gibt fortan keinen Informationsauftrag für die Sender mehr, und auch die Aufgaben und Kontrollfunktionen der Ham werden drastisch beschnitten. Auf den ersten Blick erscheint der Wegfall von Kontrollen, gerade auch in Anbetracht des linksalternativen Freien Sender Kombinats (FSK) zwar wünschenswert, aber die Ausrichtung stellt erkennbar keinen Zugewinn an Informationsfreiheit dar; durchgesetzt hat sich eher »das Primat der Ökonomie bei der Vergabe der Lizenzen«, so Erhard Wohlgemuth, Geschäftsführer des FSK. Bei jeder neuen Lizenzvergabe werden wahrscheinlich werbefreundliche Kommerzsender vor jedem politisch angehauchten Sender das Rennen machen. Der SPD-Medienexperte Werner Dobritz warnte in der taz denn auch vor einem »Rückfall in die medienpolitische Steinzeit«. Der »Dudelfunk« findet nun ideale Bedingungen. Hans Kleinsteuber, Politik- und Medienwissenschaftler der Uni Hamburg, befürchtet einen zentralen Einkauf der Informationsbeiträge, die somit überall gleich sein könnten. Die personelle Zusammensetzung der Ham selbst ist schließlich der letzte gewichtige Änderungspunkt des neuen Gesetzes. Bislang bestand der Vorstand aus 13 Mitgliedern, die zur einen Hälfte vom Hamburger Senat gewählt, zur anderen Hälfte von gesellschaftlichen Gruppen wie Gewerkschaften, Kirchen, Frauenverbänden etc. entsandt wurden. Nach dem neuen Gesetz wird der Vorstand auf 7 Mitglieder verkleinert und komplett vom Senat gewählt. Lothar Jene, Direktor der Ham, brachte die Intention bereits im Februar in einem internen Papier unverblümt auf den Punkt: Es gehe »offenbar darum, die Ham stärker als bisher aus ihrer politischen Neutralität zu entlassen«. Und was das bei einem rechtspopulistischen Senat bedeutet, kann man sich leicht denken.
Guido Sprügel
Guido Sprügel:
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Lifestyle
20.08.2003
https://jungle.world//artikel/2003/34/offen-aus?page=0%2C%2C0
Der Heimsegen hängt schief
»Verletzte bei Massenprügelei im Flüchtlingsheim«, titelte Ende August der Berliner Tagesspiegel. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) sprach von einer »Schlägerei in Asylbewerberheim« und die BZ berichtete von »Festnahmen und Verletzten«. Was war geschehen? »Wie die Polizeidirektion Süd in Cottbus mitteilte, waren in der Nacht Flüchtlinge aus Afrika und Tschetschenien aufeinander losgegangen«, erfuhren die Leser im Tagesspiegel. Den Tatsachen entsprach das nicht ganz. Im brandenburgischen Forst war es in der Nacht vom 19. zum 20. August zunächst zu kleineren Aus­einandersetzungen zwischen Tschetschenen und Flüchtlingen aus verschiedenen afrikanischen Ländern gekommen. Die eintreffende Polizei konnte die Situation zunächst beruhigen. Doch mitten in der Nacht überfiel eine größere Gruppe Tschetschenen das Flüchtlingsheim, in dem die afrikanischen Flüchtlinge untergebracht sind. Dabei traten sie die Jalousien von außen ein und zerschlugen die Fensterscheiben. Schließlich drangen die Tschetschenen in das Heim ein und gingen mit gezückten Messern auf die Anwesenden los. Nach Angaben der Polizei wurden elf Menschen verletzt, einige davon schwer. 17 Angreifer wurden festgenommen. »Die Menschen hatten nach diesen zwei brutalen Angriffen große Angst und wollten nicht in ihrem Wohnheim bleiben. Sie saßen am Morgen bereits auf gepackten Koffern und wollten zu Fami­lienangehörigen oder nach Eisenhüttenstadt in die zentrale Aufnahmestelle gebracht werden«, schildert Markus Breu, ein ortskundiger Unterstützer der Flüchtlinge, die Lage. Aus seiner Sicht birgt die Wohnsituation in Forst »strukturelle Probleme«, der in den Heimen angestellte Sozialarbeiter scheine mit der Situation überfordert zu sein. Breu zufolge wären »soziale Instanzen nötig, um die dort lebenden Menschen zusammenzubringen, Konflikte zu begleiten und lösen zu können«. Etwa 20 Flüchtlinge wurden vorerst im benachbarten Guben untergebracht. Dort hat sich prompt in sozialen Netzwerken die Gruppe »Nein zum Heim in Guben« mit über 1 000 Unterstützern gebildet. Anfang September veröffentlichte die Dresdner Lokalausgabe von Bild einen Aufmacher mit der Schlagzeile »Aus Angst vor Attacken im Asyl-Hotel. Sanitäter tragen schon Schutzwesten«. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) habe seine Mitarbeiter in Bautzen mit Schutzwesten ausstaffiert, weil sie stark gefährdet seien. Der Zeitung zufolge geht es »vor allem um Einsätze« in einer Flüchtlingsunterkunft. Dies dementiert das DRK jedoch vehement. Die Entscheidung, solche Westen zu tragen, stehe in keinem Zusammenhang mit den Einsätzen in der Unterkunft der Asylbewerber. Die Anschaffung diene dazu, um den Arbeitsschutz zu verbessern, sagte Peter Mark, Kreisgeschäftsführer des DRK, dem Online-Nachrichtenportal Lausitz-News. Die Mitarbeiter sollten im Umgang mit alkoholisierten, drogenabhängigen und geistig verwirrten Personen besser geschützt werden. Wie der Pressesprecher der Polizeidirektion Görlitz dem Online-Portal sagte, sehe auch die Polizei keine Notwendigkeit, Sanitätern eigens für Einsätze im Asylbewerberheim solche Westen zu empfehlen. Bisher sei kein einziger Angriff auf Rettungspersonal bekannt geworden. Es ist dem »Bildblog« zu verdanken, dass der Aufmacher der Dresdner Lokalausgabe von Bild als Ente entlarvt wurde. Zwar wurden einige der schlimmsten Kommentare gelöscht, doch ist der Artikel immer noch im Internetangebot zu finden. Der RBB hat hingegen im Falle einer Auseinandersetzung in der Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Marienfelde seine Darstellung revidiert. War zuerst in verschiedenen Medien, so auch im RBB, von einer religiös motivierten Auseinandersetzung zwischen ungefähr 100 Tschetschenen auf der einen Seite und etwa 30 christlichen Syrern auf der anderen Seite die Rede, stellte eine Reporterin des RBB nach einem Besuch in der Unterkunft den Sachverhalt anders dar. Nicht Christen und Muslime hätten einen Konflikt ausgetragen. Ein 14jähriger tschetschenischer Junge habe ein syrisches Mädchen fotografiert, dies sei der Anlass gewesen. Die Heimleiterin Ute Sternal sagte dem RBB: »Ein muslimisches Mädchen aus Tschetschenien hätte er auch nicht fotografiert. Er hat eine Dummheit gemacht.« Diese Dummheit hatte etliche Schlägereien unter den mehrheitlich muslimischen Flüchtlingen zur Folge. Es wurden drei Hausverbote ausgesprochen. Trotz­dem spricht sich Sternal gegen eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung aus, wie sie der bayerische Integrationsbeauftragte Martin Neumeyer (CSU) fordert. Es gehe eher ­darum, eine gute Mischung im Wohnheim zu gewährleisten. Bei zu wenigen Plätzen sei es aber »eine Kunst, das hinzubekommen«. Die dringende Notwendigkeit, über die »Kunst, das hinzubekommen«, nicht nur zu diskutieren, zeigen mehrere Beispiele. Ende Juli berichtete die Zeit gemeinsam mit »Report München« über drei Fälle in Flüchtlingsunterkünften, in denen islamistische Bewohner Christen aus dem Nahen Osten bedroht hatten. Und nicht nur manche Bewohner sind eine Gefahr. In Hamburg brachte kürzlich eine Anfrage zweier CDU-Abgeordneter an die Öffentlichkeit, dass es im Herbst 2013 in einer Einrichtung für Flüchtlinge am Volkspark zu Auseinandersetzungen zwischen christlichen Flüchtlingen und muslimischen Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gekommen war. Der Taz zufolge liegen der Polizei drei Anzeigen wegen Körperverletzung und eine wegen Bedrohung vor.
Ralf Fischer
Ralf Fischer: Die Migrantenproteste in den Medien
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Ausland
18.09.2014
https://jungle.world//artikel/2014/38/der-heimsegen-haengt-schief?page=0%2C%2C0
Kebab für Saddam
Sie kamen, inspizierten ein bißchen und gingen schnell wieder. Am Montag haben die Waffenkontrolleure der UN Special Commission (Unscom) nach einer Woche intensiver Sucherei den Irak erneut verlassen. Zufrieden waren sie nicht. Nicht, weil sie nichts gefunden hatten. Sondern, weil sie nicht alles inspizieren durften, was sie auf der Suche nach bakteriologischem und chemischem Material angucken wollten. Das Hauptquartier von Saddam Husseins Baathpartei in Bagdad beispielsweise. Die internationalen Inspekteure hatten wohl - obwohl sie es besser hätten wissen müssen - zu sehr auf das Wort der irakischen Regierung vertraut, die Untersuchungen künftig nicht mehr zu behindern. "Da gibt es nichts Verbotenes", war die simple Begründung für die Weigerung der Baathpartei. Das bekannte Kräftemessen wiederholt sich damit zum x-ten Male: Die Regierung in Bagdad beschwert sich über das "provokative Verhalten" einiger besonders eifriger Inspektoren, und die USA bringen die Option neuer Luftangriffe wieder ins Spiel. Nach Aussage von Verteidigungsminister William Cohen ist die US Air Force jederzeit einsatzbereit, wenn sich Saddam Hussein nicht kooperativer zeigt. Eine klare Drohung, ausgesprochen in der Hoffnung, daß der Gegner sich davon einschüchtern läßt. Denn militärisch am Persischen Golf die Rolle des Weltpolizisten zu spielen, ist eigentlich gar nicht mehr im Interesse Washingtons. Schließlich bemüht sich die Clinton-Regierung derzeit im Nahostkonflikt um ein neues außenpolitisches Profil. Die entspannten Beziehungen zu den meisten arabischen Staaten wären mit einem Militärschlag gegen den Irak schnell wieder zunichte gemacht - und die diplomatischen Bemühungen der letzten Monate vergebens. Für wirkliche Hardliner wie den US-Amerikaner Scott Ritter, der im August unter Protest gegen die Spielchen der irakischen Führung die Unscom verließ, ist in dieser taktischen Überlegung kein Platz. Hussein hat das natürlich längst bemerkt. Und so strebt er einerseits eine panarabische Bewegung unter seiner Regie an, damit er nicht mehr auf ganz so verlorenem Posten steht. Andererseits will er die Chance nützen, sein Land endlich wieder regionalmachtfähig zu machen. Das Ende der Waffeninspektionen und der Wirtschaftssanktionen - inbesondere der Ölausfuhrbeschränkung - ist sein erklärtes Ziel. Zur Begründung müssen die Meldungen der irakischen Nachrichtenagentur Ina über 6 000 Kinder herhalten, die pro Sanktionsmonat an Unternährung sterben - wofür Bagdad die Gegenseite ebenso verantwortlich macht wie für die fehlenden Medikamente. Außerhalb der arabischen Staaten wird den Horrormeldungen aus Bagdad jedoch kaum Beachtung geschenkt, die Washington Post hält eine falsche Ernährung für die Hauptursache und die "Operation Kebab" der Unicef zur Änderung der irakischen Eßgewohnheiten für den Ausweg: weniger Fleisch und dafür mehr Grün auf den Teller. Einzig bei seinem mittlerweile zuverlässigsten Bündnispartner kommt Husseins Mitleidsnummer mit der Gleichsetzung von Bevölkerung und Elite an: Rußland. Dort wissen Nationalisten wie Kommunisten ebenfalls, daß die Ursachen für den Hunger oder den - im russischen Winter häufig vorkommenden - Tod durch Erfrieren fremdverschuldet sind: Was für die nationalen Eiferer in Rußland die Maßnahmen des IWF oder wahlweise die Juden sind, ist für Husseins Regierung die angeblich US-gesteuerte Sanktionspolitik der UN. Die sich anbahnende Allianz zwischen den beiden einst sehr mächtigen Staaten ist also nicht nur taktischer, sondern auch ideologischer Natur. Der Moskauer Außenminister Igor Ivanow sprach daher sicher nicht nur im Sinne der Regierung Primakow, als er zu Besuch bei seinem Amtskollegen Tarik Aziz "das achtjährige Leiden des irakischen Volkes" beklagte und sich für ein Ende der Sanktionen stark machte. Wenn der Irak dann endlich soviel Öl verkaufen darf, wie es Hussein gefällt, könnte er nicht nur seine Schulden bei russischen Firmen begleichen, die das Militär Bagdads hochgerüstet hatten - unter anderem mit Scud-Raketen, sondern gleich auch an seinem neuen Raketenprogramm weiterarbeiten oder sich bei deutschen Chemiefirmen mit neuen Grundstoffen für Giftgas eindecken.
mike playford
mike playford: Irak pöbelt schon wieder gegen die UN, und Rußland zieht mit
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Ausland
16.12.1998
https://jungle.world//artikel/1998/51/kebab-fuer-saddam?page=0%2C%2C3
Die Rückkehr der Bomberjacken
Die Uniform kehrt zurück. Nazi-Skins bei einer Demonstration im brandenburgischen Halbe, 2003 Am 23. Mai wurde in Cottbus das linksalternative Wohnprojekt Zelle 79 erneut attackiert. Es war in den Monaten zuvor wiederholt Ziel von Angriffen und Bedrohungen durch rechte Jugendliche gewesen. Fünf vermummte Personen versuchten, die Haustür aufzubrechen, und warfen bengalische Fackeln auf den Hinterhof. Diese lösten einen Brand aus, den die Bewohner:innen jedoch schnell löschen konnten. Dazu riefen die Angreifer Parolen wie »Adolf Hitler Hooligans«. Der Angriff wird der nicht nur in Cottbus erstarkenden Szene jugendlicher Nazis zugerechnet. Dass sich diese in ihren Aktionsformen am Auftreten gewaltbereiter Fußballfans orientiert, ist gerade in Cottbus nicht verwunderlich, sind hier doch die starke extreme Rechte, die Fanszene des lokalen Fußballclubs Energie Cottbus und das Milieu organisierter Kriminalität seit langem eng miteinander verknüpft. »Ästhetisch ist das ein Retrotrend. Nach dem Nipster-Style ist jetzt wieder Brachialität angesagt.« Stefan Meier, Antifaschistische Recherche Südbrandenburg Die Kleinstpartei »Der III. Weg«, die mit ihrer Jugendorganisation Nationalrevolutionäre Jugend (NRJ) seit einiger Zeit eine wichtige Rolle bei der Organisation jugendlicher Rechtsex­tremer in Cottbus spielt, hatte vor ein paar Jahren noch kritisiert, dass es in der Cottbuser Szene allzu oft nur um das Geschäft gehe und man um des Profits willen sogar gemeinsame Sache mit arabischen Clans mache. Einen Bruch mit der kritisierten Szene hatte das jedoch nicht zur Folge. »Der Bereichsleiter des ›III. Wegs‹ kommt aus der klassischen Cottbuser Nazi-Szene mit Verbindungen in das Fußballmilieu«, sagt Stefan Meier von der Antifaschistischen Recherche Südbrandenburg der Jungle World. Allerdings unterschieden sich die jungen Neonazis, die den Stil der sogenannten Baseballschlägerjahre der neunziger Jahre imitieren, im Äußeren deutlich von den Kameraden, die in den vergangenen Jahren die Szene geprägt hätten. »Ästhetisch ist das ein Retrotrend. Nach dem fancy, casual Nipster-Style ist jetzt wieder Brachialität angesagt«, beobachtet Meier. Als Anfang April Energie Cottbus in der bayerischen Hauptstadt gegen 1860 München spielte, veranstaltete die Fanszene von Energie eine Auswärtsfahrt mit einem Neunziger-Jahre-Motto. Ein nicht geringer Teil der mehr als 1.000 aus Cottbus angereisten Fans erschien in grünen Bomberjacken, dem typischen Kleidungsstück ostdeutscher Nazi-Skins in den Neunzigern. Hier wird deutlich, dass die Szene durchaus bewusst mit dem Image der rechtsextremen Ostdeutschen und dem diesem innewohnenden Provokations- und Einschüchterungspotential spielt. »In der Formensprache wird ganz viel mit Triggern gearbeitet«, beschreibt Meier. Dazu würden rechte Codes wie die Farbkombination Schwarz-Weiß-Rot mit aus der DDR stammenden Symbolen wie dem Emblem der Freien Deutschen Jugend, der Jugendorganisation der SED, kombiniert. Diese Aneignung realsozialistischer Symbolik dient Meier zufolge einem identitätspolitischen Zweck: »Man pflegt das Image der Kriminellen, der Nonkonformen aus dem Osten, darauf beruht die Ästhetisierung einer Widerständigkeit gegen alle.« Dass gehe einher mit der Pflege patriarchaler Männlichkeitsvorstellungen, die, so Meier weiter, für die Szene »wichtiger noch als Rassismus und der Hass auf Muslime und Linke« seien. Dass angesichts der von den jungen Nazis ausgehenden Gewalt oft beschworene Bild einer Wiederkehr der neunziger Jahre hält Meier allerdings nur in ästhetischer Hinsicht für treffend. »Politisch ist die Situation weit gefährlicher, weil die Fundamente, von denen aus man gegen den Rechtsradikalismus agiert, selbst gefährdeter sind als damals.« Sei es in den neunziger Jahren in Ostdeutschland darum gegangen, demokratische Strukturen zu etablieren, werden diese mittlerweile durch fehlenden politischen Rückhalt, die Stärke der AfD und mangelnde finanzielle Mittel ausgehöhlt. Zu beobachten sei das beispielhaft im etwas weiter südlich gelegenen sächsischen Niesky. Dort müsse ein alternative geprägter Jugendclub mangels politischer Unterstützung schließen, während eine rechtsextreme Gruppierung mit Verbindungen zur AfD, die Schlesischen Jungs, Jugendarbeit betreibe. Trotz punktueller Konflikte schwäche das vermehrte Aufkommen eher subkulturell und militant orientierter Gruppen, die sich von der parlamentarischen extremen Rechten abgrenzen, die Rechte insgesamt nicht. »Die Arbeitsteilung zwischen verschiedenen rechtsradikalen Strukturen ist erfolgreicher als einst der Versuch der NPD, als eine Organisation gleichzeitig den Kampf um Straße, Köpfe und Parlamente zu führen«, konstatiert Meier. Der Oberbürgermeister von Cottbus und die Landräte der benachbarten Landkreise Spree-Neiße und Oberspreewald-Lausitz forderten Anfang vergangener Woche von der Landesregierung, die Polizei in die Lage zu versetzen, rechtsextreme Straftaten gezielter zu verfolgen. Gleichzeitig müssten Dorfgemeinschaften und städtische Initiativen im Engagement gegen rechtsextreme Strukturen unterstützt werden. Die in den vergangenen Monaten bedrohten und angegriffenen linken und alternativen Projekte in der Region versuchen, genau das schon mal in Eigenregie zur tun. Im Mai gründeten sie die Initiative »Sichere Orte«, um sich gegenseitig gegen rechte Angriffe zu unterstützen.
Marek Winter
Marek Winter: Die Nazi-Szene in Südbrandenburg wird aggressiver
[ "Rechtsextremismus", "Brandenburg", "Der III. Weg", "AfD" ]
Thema
12.06.2025
https://jungle.world/artikel/2025/24/die-rueckkehr-der-bomberjacken
Test the Leo
Kampfhubschrauber für Südkorea, Torpedos für Chile, Panzerhaubitzen für Saudi-Arabien - die Liste der anstehenden Aufträge ist lang. Grund genug für den Kanzler, ein Machtwort zu sprechen: Für die Lieferung des Leopard II-A 5-Testpanzers in die Türkei und gegen die Harmonie im rot-grünen Regierungsbündnis. Das Thema Panzer-Export an den Bosporus gärte schon lange. Vergangene Woche nun mündete es in einem mittelmäßigen Koalitionskrach, dessen Folgen vorerst noch nicht abzusehen waren. Nachdem der Bundessicherheitsrat am vergangenen Mittwoch mit den Stimmen von Gerhard Schröder, Verteidigungsminister Rudolf Scharping sowie Wirtschaftsminister Werner Müller die Entscheidung fällte, kannte man bei den Grünen kein Halten mehr: Mit Ausnahme von Außenminister Joseph Fischer, der neben der sozialdemokratischen Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Sicherheitsrat gegen die Lieferung gestimmt hatte, verzichtete kaum ein Sprecher der Partei darauf, den Waffendeal anzuprangern. Und auch fraktionsübergreifend lieferte der Panzer-Export genügend Stoff für einen Schaukampf. Die Alternativen: Menschenrechte oder außenwirtschaftliche Interessen. Für die Grünen kam die Entscheidung gerade recht. Schließlich hatten viele an der Öko-Basis der moralisierenden Menschenrechtsrhetorik zur Rechtfertigung des Kosovo-Einsatzes nur unter mühsamen Verrenkungen folgen können. In der Türkei-Politik hingegen fügte sich wieder sauber zusammen, was aus grüner Sicht zusammengehört. Schließlich gilt die Opposition gegen Rüstungsexporte schon immer als Essential. Geradezu exemplarisch hierfür steht das Regime in der Türkei. So schimpfte denn auch Claudia Roth, die grüne Vorsitzende im Bundestags-Menschenrechtsausschuss, der Export-Vorstoß "konterkariert alles, was wir jemals richtig fanden". Zusammen mit Roth stellte sich Angelika Beer, die verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion, an die Spitze des grünen Protests. Offenbar nicht informiert über das schon an die Türkei gelieferte Testmodell des deutsch-französischen Kampfhubschraubers Tiger verriet die Militärexpertin jedem hingestreckten Mikrofon ihr "Entsetzen" über den Panzer-Beschluss. Die während des Kosovo-Einsatzes als Glaubwürdigkeitsapostelin der inneren Gewissensqual auftretende "Antimilitaristin" (Beer über Beer in Jungle World, Nr. 32/99) hätte ihr Image kaum besser aufpolieren können. Mindestens genauso gelegen kam die Debatte für Fischer, auch wenn sich der Minister bislang staatsmännisch bedeckt hielt. Mit seiner Ablehnung der Panzer-Lieferung konnte er fortführen, wofür er sich erst kürzlich mit dem von ihm durchgesetzten Ost-Timor-Einsatz der Bundeswehr stark machte: Deutschland bleibt konsequent in seiner Menschenrechtspolitik - und damit freilich auch mit seinem Anspruch auf führende Weltgeltung in Sachen "humanitärer" Militär-Interventionen. Aufregung auch bei den Sozialdemokraten: Neben vereinzelten Kritikern aus der Bundestagsfraktion waren vor allem die Europa-Parlamentarier empört. Sie verwiesen auf das fatale Signal, das die unvermeidliche Verquickung von Waffenlieferungen mit der in Aussicht gestellten EU-Kandidatur an die Türkei sende. Es sei "völlig absurd", so heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der deutschen SPD-Europapolitiker, die Türkei "mit Panzerlieferungen auf den Weg in die Demokratie bringen zu wollen". Durch den Export würden allerdings nicht nur die Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates akzeptiert, sondern vor allem die ihnen zu Grunde liegenden politisch bankrotten Strukturen der repressiven Militärdemokratur. So gesehen ist natürlich zweitrangig, wo das Mordgerät eingesetzt wird: Ob, wie die vom Bundessicherheitsrat nicht genehmigten Panzerhaubitzenteile, im Krieg gegen innere Gegner oder "nur" gegen äußere Feinde, wofür der für die kurdischen Berge angeblich zu ungelenke Leopard II dienen soll. Denn wie das äußere Drohpotenzial auf die innertürkischen Verhältnisse zurückschlägt, hat der militärische Aufmarsch an der syrischen Grenze gezeigt, mit dem Ende letzten Jahres die Reise des PKK-Chefs Abdullah Öcalan von Damaskus in die türkische Todeszelle auf Imrali eingeleitet wurde. Ähnliches gilt für die Grenze zur kurdischen Schutzzone im Nordirak, wo die Türkei seit Jahren nach Belieben einmarschiert, ohne auf Proteste von Menschenrechtsfreunden der "westlichen Wertegemeinschaft" zu stoßen. Und so dürfte auch der Leopard II in absehbarer Zeit seine Dienste tun. Dass es nur bei dem einen Testpanzer bleibt, davon geht freilich niemand aus. Denn "wenn ich mich an einer Ausschreibung beteilige, bin ich natürlich daran interessiert zu verkaufen", wie Claudia Roth richtig anmerkte. Es geht also von vornherein um 1 000 Panzer. Und sollte sich Ankara für den Leo entscheiden, werden sich grüne und sozialdemokratische Menschenrechtsfreunde schnell mit bewährten Argumenten überzeugen lassen: Gegen Arbeitsplätze und den Wirtschaftsstandort wird sich schließlich jaum jemand stark machen. Und auch nicht gegen den Nato-Partner Türkei. So knickte beispielsweise der anfängliche Kritiker Gernot Erler (SPD) sofort ein, nachdem Chef Schröder sein Machtwort gesprochen hatte. Erler ließ sogar wissen, er werde "in der Fraktion dafür werben, die Entscheidung des Bundessicherheitsrates zu akzeptieren". Richtig stark machen wollte sich dagegen Reinhard Bütikofer. Zwar warnte der grüne Bundesgeschäftsführer davor, bei der Panzerlieferung "mit der Koalitionsfrage zu winken". Dann aber drohte er an, durch eine außerparlamentarischen Kampagne den basisdemokratischen Stallgeruch einströmen zu lassen: "Wir werden versuchen, gesellschaftliche Gruppen und Instanzen zu mobilisieren." So weit wollte Militärpolitikerin Beer dann doch nicht gehen. "Um die grüne Seele zu beruhigen", setzte sie vorab auf entscheidende Änderungen bei den bislang geheim behandelten Richtlinien der Bundesregierung für Waffenexporte, die am Montag im Koalitionsausschuss diskutiert wurden. Die Bedeutung der Menschenrechte als Kriterium für Waffendeals dürfte nicht nur in der Präambel auftauchen, wie es der bisherige Entwurf vorsehe, erklärte die Grünen-Politikerin. Doch selbst für dem Fall, dass sich die Türkei wegen ihrer EU-Aspirationen etwas mehr Demokratisierung und Menschenrechte leisten sollte, würde das natürlich am barbarischen Charakter hochtechnischer Mordgeräte nichts ändern. Der bei der Panzerdebatte durchscheinende Deal - Menschenrechte gegen Panzer - verweist darauf, dass die vorgeblich nur dem Anspruch auf Achtung und Würde der Person dienenden Menschenrechte schon immer auch Rechtstitel auf die staatlich geregelte Verwertbarkeit der Individuen waren. Da sie wie die Konkurrenz am Markt zu den Grundfesten kapitalistischer Vergesellschaftung gehören, werden Menschenrechte auf dem Feld der Realpolitik schnell zur leichtgewichtigen Verhandlungsmasse. Statt moralischer Forderungen nach einer höheren Bewertung von Menschenrechten gegenüber Wirtschaftsinteressen macht da eher umfassende Kapitalismuskritik Sinn. Nun werden die türkischen Generäle für ein Jahr mit ihrem Test-Leo spielen können, während die Bundesregierung deren Entscheidung abwartet und der Schaukampf um die Menschenrechte im politischen Tagesgeschäft versickert. Vielleicht, so offenbar die stille Hoffnung der Exportkritiker in den Regierungskreisen, neigt sich die politisch bestimmte Marktlage für das Rüstungsgeschäft am Bosporus angesichts anhaltenden deutschen Menschenrechts-Genöles doch zur US-amerikanischen Leo-Konkurrenz von General Dynamics. Der Washingtoner Regierung waren schließlich solche skrupulösen Anwandlungen gegenüber dem Regime in Ankara bislang fremd. Damit hätte sich das Dilemma der rot-grünen Menschenrechtsfreunde vorübergehend von selbst erledigt. Vorübergehend - bis die Entscheidung für die geplanten Minenjagdboote an den Bosporus ansteht.
Udo Wolter
Udo Wolter:
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Inland
27.10.1999
https://jungle.world//artikel/1999/43/test-leo?page=0%2C%2C2
»Die öffentliche Meinung ist auf der Seite von Sofri«
Seit 1988 läuft die Justizfarce gegen Bompressi, Pietrostefani und Sofri wegen der Ermordung des Kommissars Calabresi im Jahre 1972. Wie stehen heute die Chancen auf einen Freispruch? Die Situation hat sich im letzten Jahr weiter verschlechtert. Die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde von zwei Gerichten in Mailand und Brescia abgelehnt. Schließlich wurde im Januar der Revisionsprozess auch in Venedig mit einer Verurteilung von Bompressi, Pietrostefani und Sofri abgeschlossen. Nachdem Sofri im August 1997 auf freien Fuß gesetzt worden war, ist er seit Januar wieder in Pisa im Gefängnis. Sofri verlangt Gerechtigkeit und will deshalb ein weiteres Mal in die Revision gehen. Jetzt müssen wir bis zum Herbst warten, bis wir eine Antwort vom Kassationsgericht erhalten - hoffentlich eine positive. Gibt es eine negative Entscheidung, ist dies das definitive Ende des Prozesses. Das wäre wie ein Grabstein für die drei. Bei einer positiven Entscheidung könnte es zu einem neuen Revisionsverfahren in Triest kommen. Welche Bedeutung hat der Appell der Schriftsteller in Ihren Augen? Dass er eine große Wirkung haben wird, glaube ich nicht. Viel wichtiger ist, dass der Appell derzeit in den Schlagzeilen der Massenmedien auftaucht und dass Sofri selbst aus seiner kleinen Zelle in Pisa sehr viel veröffentlicht - Artikel, die oft auf den ersten Seiten der italienischen Zeitungen erscheinen. Natürlich ist der Appell des Internationalen Parlaments der Schriftsteller ein positiver Fakt. Er trägt dazu bei, dass man weiter über den Fall Sofri spricht - sei es in der linken, aber auch in der rechten Presse, beispielsweise in der Tageszeitung Il Foglio, die zum Teil Berlusconi gehört. Die großen Zeitungen Corriere della Sera und Repubblica sind dafür eingetreten, dass mit politischen Mitteln eine Freilassung bewirkt wird. Das wäre vor ein paar Jahren sehr viel schwieriger gewesen. Die Kampagne ging damals von Freunden, ehemaligen Genossen wie mir oder einzelnen Gruppen linker Intellektueller aus. Die öffentliche Meinung war gespalten, es gab viel Misstrauen. Das hat sich vollständig gewandelt. Die öffentliche Meinung ist nun mehrheitlich auf der Seite von Sofri. Doch Sofri ist immer noch im Gefängnis. Welche politische Dimension sehen Sie in der Verurteilung? Der Fall Sofri wurde immer auch in der politischen Auseinandersetzung in Italien instrumentalisiert. Beispielsweise wurde dieser Fall in den Mafia-Prozessen benutzt: Man verwies darauf, dass eine Freilassung Sofris die Ermittlungen gegen die Mafia erschweren würde. Doch vor allem ist inzwischen eine Situation entstanden, in der es den Richtern unmöglich ist, ein gerechtes Urteil im Fall Sofri zu fällen. Sie fürchten eine Diskussion in der Justiz, in der sie sich selbst in Frage stellen müssten. Im Italien der letzten zehn Jahre hat ein Teil der Richter und Staatsanwälte versucht, auf die Politik Einfluss zu nehmen, in einem Moment, in dem die Politik wegen der Korruptionsskandale geschwächt war. Das hat auch dazu geführt, dass sich die Justiz zum Schutz auf sich selbst zurückgezogen, ja geradezu eingemauert hat. Der Fall Sofri ist auch aus einem anderen Grund ins Zentrum der italienischen Politik getreten: Die Richter verhalten sich so, als hieße ein Freispruch für Sofri zugleich, die anderen Richter zu verurteilen. Auch wenn es verrückt klingt, dass ein Richter nicht nach Schuld oder Unschuld eines Angeklagten urteilt, sondern im Hinblick auf die politischen Konsequenzen des Urteils für seine Kollegen - es ist die Denkart, die in Italien vorherrscht. Ist das Verfahren gegen die drei nicht auch ein Versuch, mit juristischen Mitteln die Geschichte der Bewegungen ab 1968 neu zu schreiben? Ja, das stimmt. Wenn man die Geschichte in den Prozessakten im Fall Sofri noch einmal nachliest, kann man diese Geschichte nicht wieder erkennen. Die Geschichte der kollektiven Bewegungen, der sozialen, auch der extremistischen Bewegungen, wird zu einer Geschichte terroristischer Komplotte, zu einer Geschichte voller Mord und Totschlag. Dabei waren diese Bewegungen oft nicht nur gegen das herrschende Staatssystem, sondern auch gegen die, die den politischen Kampf mit dem Tod führen wollten, und lehnten den linken, rechten oder Staatsterrorismus ab. Der Sofri-Prozess hat jedoch die außerparlamentarischen Bewegungen auf eine terroristische Dimension reduziert. Das ist nicht nur eine juristische, sondern auch eine historisch-politische Verfälschung. So soll die Bedeutung dieser Bewegungen, die in Wirklichkeit wichtige Spuren nicht nur in der italienischen, sondern in der gesamten europäischen Geschichte hinterlassen haben, zerstört werden. Hatte auch die Logik des Kalten Krieges Einfluss auf den Prozess gegen Sofri? Ich glaube nicht, dass der Prozess gegen Sofri ein Instrument des Kalten Krieges gewesen ist. Ganz gewiss wurde er aber von bestimmten Teilen der Staatsorgane instrumentalisiert, vor allem von einem Teil der Carabinieri. Das ist bemerkenswert, denn Calabresi war ein Polizist, kein Carabiniere. In Teilen der Carabinieri herrschte eine enorme Wut auf Lotta continua. So gab es bereits seit 1972 Versuche, den Mord an Calabresi Lotta continua anzuhängen. Wie gegen Sofri wurde 1988 auch gegen mich in diesem Zusammenhang ermittelt. Ich hatte dazu beigetragen, dass 1977 ein Carabinieri-Offizier, ein Offizier des Geheimdienstes und ein hoher Polizist wegen ihrer Beteiligung an mehreren Attentaten im Gefängnis landeten. Dann sind sie freigesprochen worden, wie immer in solchen Fällen. Aber sie waren wegen meiner Anzeige im Gefängnis gewesen. Niemals zuvor hatte es das in der Geschichte Italiens gegeben, dass hohe Offiziere wegen Mittäterschaft bei Attentaten festgenommen wurden. Dies war Lotta continua gelungen. Die Rache ist dann ja gefolgt. Der Mord an Kommissar Calabresi stand im Zusammenhang mit dem Staatsmassaker auf der Piazza Fontana in Mailand im heißen Herbst 1969. In der Sendung »Kennzeichen D« wurde im Februar erwähnt, dass Guido Giannettini, der angeblich in diesen Anschlag verwickelt war, zugleich ein BND-Mann war. Was hat die Untersuchungskommission zu solchen internationalen Verbindungen herausgefunden? Ich war lediglich zwischen 1988 und 1992 Mitglied der Commissione Stragi. Es steht aber fest, dass es bei dem Massaker auf der Piazza Fontana eine verdeckte Zusammenarbeit mit dem Amt für vertrauliche Angelegenheiten im Innenministerium und dem militärischen Geheimdienst SID gab. Das ist sicher, auch wenn es auf rechtlicher Ebene bisher kein abschließendes Urteil zu den Vorgängen gibt. Giannettini ist in dem Verfahren zur Piazza Fontana endgültig freigesprochen worden, nun laufen Verfahren gegen andere. Das bedeutet aber nicht, dass Giannettini nichts mit dem Attentat zu tun hatte. Er ist immer wieder im politischen Geschehen aufgetaucht, auch in den Beziehungen zu Deutschland und zur CIA. In jenen Jahren waren die Verbindungen zwischen den Geheimdiensten in den einzelnen Nato-Staaten sehr eng. Dies entsprach ja auch der militärischen Strategie. Die verschiedenen Geheimdienste hatten ein Interesse, zu verhindern, dass das traditionelle Machtsystem in Italien in Frage gestellt wird, dass ein politisches Gleichgewicht hergestellt wird. Das hätte einen starken Schwenk nach links bedeutet, zugleich jedoch die Kontrolle während dieser Phase der europäischen Geschichte enorm beeinträchtigt. Man muss sich die Situation 1969 vor Augen halten: In Griechenland hatte kurz zuvor der Militärputsch stattgefunden, in Spanien war immer noch die Franco-Diktatur, in Portugal die Salazar-Diktatur an der Macht, und in Frankreich herrschte der Gaullismus.
carlos kunze und wibke bergemann.
carlos kunze und wibke bergemann.: Marco Boato, Abgeordneter der italienischen Grünen
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Interview
17.05.2000
https://jungle.world//artikel/2000/20/die-oeffentliche-meinung-ist-auf-der-seite-von-sofri?page=0%2C%2C3
Kein Auflehnungskitsch
Mit der Band fing alles an. Armin Hofmann (vorne am Bass) bei einem Konzert der Skeezicks, ca. Mitte der achtziger Jahre Punk-Mythen kreisen in der Regel um Bands. Zu Legenden werden zumeist früh verstorbene Sänger, die sich allzu schonungslos verhielten, oder Gruppen, die ein Subgenre oder eine ganze Bewegung lostraten. Schlüs­selfiguren, die überwiegend im Stillen wirkten, entziehen sich hingegen der breiten Aufmerksamkeit. Wenn sie nicht mehr leben, ist die Lücke, die sie hinterlassen, umso größer. Das gilt insbesondere für Armin Hofmann, dessen Label X-Mist nicht in einer großen und für Punk bekannten Stadt, sondern im Schwarzwald ansässig war, allerdings über einen Einfluss verfügte, der deutlich über Baden-Württemberg hinausreichte. 1960 geboren und im schwäbischen Wildberg aufgewachsen, machte Hofmann aus dem benachbarten Nagold einen informellen, dafür umso wichtigeren Knotenpunkt der globalen Hardcore-Szene. Als Jugendlicher wurde er durch den legendären Auftritt der Zürcher Punkband Kleenex im Dezember 1978 im Schweizer Fernsehen, bei dem sie eine Playback-Version ihres Songs »Nice« präsentierten, zum Bass-Spielen motiviert. Hofmann, soeben 18 Jahre alt geworden, sei »völlig baff und fasziniert« von den vier Musikerinnen gewesen, wie er einmal in einem Interview mit dem Fanzine Ox erzählte: »Einerseits waren die – technisch betrachtet – echt nicht sonderlich gut, aber andererseits so voller Überzeugung, Energie und Selbstbewusstsein, dass ich mir dachte: Das ist ja voll der Schrott, aber so unfassbar geil! Das will ich auch!« Weil Kassetten damals das schnellste Tauschmedium für Musik und Ideen waren, gründete Hofmann ein eigenes Tape-Label namens »Ex­tremMist«, das für einige Jahre bestand. Unabhängig von »Können, Peinlichkeit oder anderen Kriterien (als meinen eigenen)«, wie er in einer anderen autobiographischen Auskunft mitteilte, widmete er sich fortan Klangexperimenten. Mit seinem Bruder Andy gründete er die Band Brüder Hofmann, die 1982 einige Stücke zum Kassetten-Sampler »Wir sind Brüder« beitrug, der auf Klaus Schmidbauers Label Intoleranz! erschien. Ein Song umriss bereits das zukünftige Programm: »Ich steh auf Provinz«. Weil Kassetten damals das schnellste Tauschmedium für Musik und Ideen waren, gründete Hofmann ein eigenes Tape-Label namens »Ex­tremMist«, das für einige Jahre bestand. Mit dem Wechsel zur Schallplatte wurde das Wortspiel Mitte der achtziger Jahre durch X-Mist ersetzt; 1985 erschien als erste Veröffentlichung eine Split-Single von Spermbirds und Walter 11, beides Bands aus Kaiserslautern. Hofmann spielte zu dieser Zeit mit seinem Bruder und drei Mitstreitern bei den bundesdeutschen Hardcore-Pionieren Skeezicks und organisierte Konzerte im örtlichen Jugendzen­trum, weswegen sich Nagold rasch zu einer wichtigen Station für in Westeuropa tourende Bands entwickelte. Fugazi traten hier bereits 1988 auf, als sie gerade mal ihre erste EP parat hatten. Im Sommer 1989 nahm Hofmann gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Ute Prigge, mit seinem Bruder sowie mit Jason Honea von den just aufgelösten Social Unrest unter dem Namen Happy Ever After einige Songs auf, von denen manche erst ein Vierteljahrhundert später, 2014, als 100. X-Mist-Release, erscheinen würden. Es sollte seine letzte musikalische Betä­tigung sein, danach konzentrierte er sich auf das Label, wo vorrangig Musik erschien, die ihm etwas bedeutete. Zahlreiche Punk- und Hardcore-Bands fanden dort einen Ort für genuines Ausprobieren vor, dem sie Zeit ihrer Existenz treu blieben oder den sie als Sprungbrett hin zu größeren Labels nutzten. Der X-Mist-Mailorder entwickelte sich derweil zu einer unerlässlichen Vinyl-Bezugsquelle für all jene, die von der Welt als solcher entfremdet, von der Oberflächlichkeit von Indie gelangweilt sowie vom musikjournalistischen Diskursgequatsche der neunziger Jahre unbeeindruckt waren. Dort gab es alles, was der örtliche Plattenladen nur widerwillig bestellt hätte oder gar nicht erst beziehen konnte: Veröffentlichungen aus dem lesbischen Underground des Pacific Northwest, Platten aus dem DIY-Umfeld von Slampt in Newcastle oder die abgedrehten Kracher vom Label Gravity aus San Diego – nebst weitaus Obskurerem, deutlich Seltenerem und heute völlig Vergessenem aus Mikroszenen aus aller Welt. Genauer gesagt: Vieles, sehr vieles mehr, sicherlich Abertausende Titel über die Jahrzehnte, die Hofmann Single um Single, LP um LP selbst anhörte, um sie anschließend mit eigenen Infotexten zu versehen, anstatt die Vorlagen der jeweiligen Labels zu recyclen. Die Website von X-Mist blieb dabei von Anfang an unprätentiös. Bis heute wirkt sie demonstrativ wie ein Mittel zum Zweck. Wer in Sachen Punk eine Frage hatte, konnten sich jederzeit an ihn wenden – egal ob es um eine Tour oder um die Gründung eines Labels ging, um Vertriebsfragen oder um Druckerzeugnisse. Daneben gab es in den neunziger Jahren noch das Fanzine Plot, das Hofmann mit herausgab und das so vielen Pseudorebellen, Dummschwätzern und Posern auf die Füße trat wie irgend möglich, sowie den X-Mist-Laden in Nagold, der zugleich als Konzertort diente. Irgendwann wurde das Anwesen verkauft, der Gesandte des neuen Eigentümers machte sich bei Hofmann und Prigge folgendermaßen vorstellig: »Guten Tag, ich bin Ihr neuer Hausverwalter und ich muss Ihnen gleich mal sagen, dass Sie viel zu wenig Miete zahlen!« Ein Umzug war unumgänglich, und die neue Adresse von X-Mist führte nun zu einem Reihenhaus in Nagold. Damit waren zwar die Konzerte passé, von dort wurden aber wie gehabt Pakete in alle Welt verschickt, während Hofmann weiterhin Freunde und Bekannte empfing und bei einem Bier – selbstredend Tannenzäpfle – mit Nachdruck die 2012 veröffentlichte Diskographie von Nōh Mercy empfahl. Die Band aus San Francisco galt ihm als Inbegriff von Punk: Dreieinhalb Jahrzehnte zuvor, Ende der siebziger Jahre, hatte das weibliche Duo unter der Devise »No boys on guitars!« für Aufregung in der Bay Area gesorgt, um dann weitgehend in Vergessenheit zu geraten. Frauen als Avantgardistinnen blieben für Hofmann enorm wichtig – sicherlich eine Nachwirkung seiner frühen Prägung durch Kleenex, aber auch exemplarisch für sein Verständnis von Rebellion und Ausdruck seiner Wertschätzung des Ephemeren, das in einem bestimmten Moment all das auf den Punkt bringt, was es gerade zu sagen gibt. Wer in Sachen Punk eine Frage hatte, konnten sich jederzeit an ihn wenden – egal ob es um eine Tour oder um die Gründung eines Labels ging, um Vertriebsfragen oder um Druckerzeugnisse. Die Antwort fiel immer ehrlich, realistisch und prägnant aus, was den jeweiligen Emp­fänger aber nicht selten irritierte, wie folgendes Zitat aus einer E-Mail von 2014 zur Frage, ob es sich lohne, Promo-Material an Redaktionen zu senden, zeigt: »ich hasse es, promos zu verschicken, weil fast alle leute, die reviews schreiben, kleinkarierte vollidioten sind. entweder sie haben einen völlig festgefahrenen ›geschmack‹, oder sie hängen sich an die aktuellsten hypes … tut mir leid, aber mir fällt dazu wirklich nichts positives ein – und je länger ich darüber nachdenke, desto negativer wird meine stimmung … « In einer anderen Nachricht zu einer Single, die ihm zum Weiterverkauf im X-Mist-Mailorder vorgeschlagen wurde, schrieb er: »weiss nicht, was die band damit ausdrücken will, bzw. was die motivation dahinter sein soll, solch belanglose musik zu machen? dementsprechend schwer würde es mir fallen, das zu verkaufen … « Sein Urteil saß bis zuletzt. Den gegenwärtigen Trend zu Veröffentlichungen auf Kassetten etwa hielt er »in erster Linie und größtenteils für kompletten Schwachsinn«, wie er in einem Interview mit dem Fanzine Trust bekundete, dem X-Mist anfangs verbunden gewesen war: »Ich werde dabei das Gefühl nicht los, dass es sich um ›coole‹ Objekte handelt, mit Vintage-Appeal sozusagen, die nur dazu dienen, einen noch größeren Exklusivitätsfaktor zu haben, noch nerdiger und damit auch hip zu sein. Das ist dann das pure Aufplustern des eigenen kleinkarierten Egos von Menschen mit einer Briefmarkensammler-Mentalität.« Armin Hofmann teilte an den richtigen Stellen mit den richtigen Worten aus und verteilte zugleich die richtigen Platten. Solche Bemerkungen waren nie auf das eigene Coolsein bedacht, sondern zielten stets darauf ab, das Falsche aufzudecken, das auch jene Kreise hervorbringen, die sich a priori für die besseren Menschen halten. Aus Hofmanns schroff wirkenden Gesten sprach durchweg Aufrichtigkeit. Das galt sowohl für das ästhetische Urteilsvermögen – wenn er etwas für schlecht befand, war dies ausnahmslos gut begründet – wie auch für Vertriebliches: Personen, die ihm einst ein paar Platten in Kommission überreicht hatten, konnten selbst dann, wenn ihr jeweiliges Label längst Geschichte war und es erst nach Jahrzehnten zu einem Wiedersehen kam, damit rechnen, den einst ausgemachten Betrag ausbezahlt zu bekommen – egal, wie hoch oder niedrig dieser war. Leuten aus dem Ländle dürfte seine Mischung aus Ehrlichkeit, Geradlinigkeit und Direktheit nebst Bescheidenheit im Auftritt etwas weniger ungewöhnlich angemutet haben als Nichtschwaben. Universell verständlich und höchst erfreulich war die Interaktion mit ihm immer dann, wenn er seine unvergleichliche Hilfsbereitschaft beweisen konnte, weil ihn etwas ansprach. Sein Enthusiasmus beschränkte sich ohnehin nicht auf eng umrissene Musikgenres: Er mochte Hunde, fuhr sehr gern Ski und interessierte sich für minoritäre Sprachen und Dialekte, darunter das in Timau gesprochene Tischlbongarisch. 2022 erstellten die Ärzte eine furchtbare Diagnose. Obwohl nicht mehr viel Zeit blieb, lief X-Mist dank Prigge, die ihrem Mann bis zuletzt beistand, wie gewohnt weiter. In der Nacht zum 15. August 2023 erlag Hofmann in Nagold einem Krebsleiden. In »Beri-Beri«, einem Kleenex-Song von 1978, der um eine prägnante Bassline herum aufgebaut ist, heißt es: »Give it out, do it better/And each day you’ll feel nicer«. Falls diese Losung jemals wie ein maßgeschneidertes Credo zu einem Individuum gepasst hat, war im Schwarzwald vorgelebt worden, wie es geht. Für immer Punk, ganz ohne den damit üblicherweise einhergehenden Auflehnungskitsch: Armin Hofmann teilte an den richtigen Stellen mit den richtigen Worten aus und verteilte zugleich die richtigen Platten. Schon damit machte er vieles besser als viele andere in dieser Szene. Und er gab sehr vielen Menschen sehr viel, so dass sich diese in einer schlecht eingerichteten Welt jeden Tag etwas besser fühlen konnten. Zur Erinnerung an Armin Hofmann wurde ein Blog eingerichtet, der unter armin-x-mist.blogspot.com aufgerufen werden kann.
Vojin Saša Vukadinović
Vojin Saša Vukadinović: Nachruf auf den Musiker und Labelbetreiber Armin Hofmann
[ "Punk", "Hardcore", "Schallplatte" ]
dschungel
28.09.2023
https://jungle.world//artikel/2023/39/nachruf-zum-tod-von-armin-hofmann-kein-auflehnungskitsch?page=0%2C%2C1
Populismus aus den Anden
Der große Hut des kleinen Mannes. Präsidentschaftskandidat Pedro Castillo (rechts) am 6. Juni im Kreis seiner Familie, bevor er seine Stimme bei der Stichwahl abgab Inzwischen sind alle Stimmen aus­gezählt: Nach Angaben der Wahlkom­mission landete Pedro Castillo mit 50,125 Prozent der Stimmen knapp vor Keiko Fujimori mit 49,875 Prozent beider Stichwahl um die Präsidentschaft in Peru vom 6. Juni. Der voraussichtliche nächste Präsident Perus stammt aus einem kleinen Ort in den nördlichen ­Anden im Department Cajamarca. Castillo ist Landwirt, Grundschullehrer und Gewerkschafter. Er wuchs in Armut auf und lebt bis heute in ein­fachen Verhältnissen. Castillo vertritt einen »Andinen Populismus«, der Patriotismus und religiös-konservative Vorstellungen mit traditionellem Antiimpe­rialis­mus und Versatzstücken des Marxismus vermischt. Doch trotz des inzwischen amtlichen Wahlsiegs zieht sich die Auszählung seit über zwei Wochen hin. Castillos Widersacherin will den Wahlausgang nicht akzeptieren und hat ein Team von Anwälten beauftragt, das Ergebnis anzufechten. Die Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori möchte im mittlerweile dritten Anlauf endlich Präsidentin werden. Sie verbreitet die Mär vom großen Wahlbetrug. Ihren Rückstand von etwa 44 058 Stimmen möchte sie durch die Annullierung von bis zu 200 000 Stimmen wettmachen. Internationale Wahlbeobachter sind sich allerdings einig, dass es bei der Wahl zu keinen Unregelmäßigkeiten kam. Bislang ging Fujimoris Kalkül nicht auf, weshalb sie inzwischen die Forderung nach Neuwahlen in den Mittelpunkt ihrer Strategie rückt. Die Stimmung ist angespannt und die Gefahr größerer Unruhen steigt von Tag zu Tag. Am Samstag gingen in Lima erneut Tausende Anhängerinnen und Anhänger beider Seiten auf die Straße. In den vergangen Wochen ist es in Peru zu einer enormen politischen Polarisierung gekommen. Auf der einen Seite stehen die wirtschaftliche Führungsschicht und ein großer Teil der städtischen Bevölkerung, die Fujimori unterstützen. Ihnen gegenüber stehen die große Mehrheit der Bevölkerung in den Andenregionen sowie linke und sozialliberale Städter, sozialökologische und feministische Kollektive und ­sogar Teile der konservativen Mittelschicht, die eine Neuauflage der Diktatur fürchten, die Fujimoris Vater von 1990 bis 2000 führte. Keiko Fujimori war zunächst nicht gerade beliebt, ihr Name wurde mit Kriminalität und Autoritarismus in Verbindung gebracht. Doch die hegemoni­alen Medien haben sie zur letzten Hoffnung der peruanischen Demokratie umgedeutet, der sie Castillo als marxistischen Totengräber der Zivilisation ­gegenüberstellen. Diese Propaganda unterstützte sogar der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, der einst ein erbitterter Gegner des fujimorismo war, Keiko Fujimori aber als »kleineres Übel« bezeichnete. Die traditionelle Führungsschicht des Landes scheint angesichts einer imaginierten kommunistischen Gefahr in Hysterie verfallen zu sein. Dahinter verbirgt sich die auch rassistisch geprägte Angst der Oberschicht vor dem Verlust ihrer ­Privilegien. Gegen Keiko Fujimori wird seit Jahren wegen Korruption ermittelt. Ihr drohen mindestens 30 Jahre Gefängnis. Sie war bereits 16 Monate in Unter­suchungshaft und stand zuletzt unter Hausarrest. Staatsanwälte stufen ihre Partei Fuerza Popular als kriminelle Vereinigung ein. Dementsprechend schlecht sah auch ihr Wahlergebnis in der ersten Runde vom 11. April aus: ­Fujimori erhielt als Zweitplatzierte gerade einmal 13,5 Prozent der Stimmen. Doch auch Castillo erreichte nur 19,09 Prozent. Das Wahlergebnis offenbarte einmal mehr die tiefe politische Krise Perus. Außer der Präsidentschaft wurden auch die 130 Sitze des Kongresses neu ­besetzt. Trotz der Wahlpflicht blieben 29,8 Prozent der Wahlberechtigten der Abstimmung fern, so viele wie noch nie; zudem wurden noch nie so viele Stimmzettel leer oder ungültig abge­geben. Umfragen verdeutlichen das stetig sinkende Ansehen des Parlaments und der politischen Parteien mit Ablehnungswerten von bis zu 80 Prozent. Seit 2016 sind fünf Präsidenten in ­Folge wegen Korruption angeklagt, abgesetzt oder verurteilt worden. Der neu gewählte Kongress ist stark zersplittert, zehn Parteien schafften den Einzug. Kein Präsidentschaftskandidat könnte sich auf eine stabile par­lamentarische Mehrheitskoalition stützen, vor allem nicht Pedro Castillo. Etwa 60 Prozent der Abgeordneten sind dem konservativen bis rechtsextremen Lager zuzuordnen. Ein knappes Drittel entfallen auf den »Andinen Populismus« von Castillo oder auf an­dere linke Parteien. Die restlichen Abgeordneten sind gemäßigte Konservativen, Liberale oder Linksliberale oder gehören einer gemäßigt ­populistisch-religiösen Strömung an. Die Wahlen fanden vor dem Hintergrund der ­Covid-19-Pandemie statt, die in Peru die weltweit meisten Menschenleben in Relation zur Bevölkerungszahl forderte. Die Pandemie stürzte das Land in eine tiefe ökonomische und soziale Krise. Millionen Arbeitsplätze gingen verloren, Einkommen sanken erheblich, sogar Hunger und Unterernährung nahmen deutlich zu. Nur vor diesem Hintergrund und angesichts des desolaten Zustands fast ­aller übrigen Parteien wird der Sieg von Pedro Castillo verständlich. Denn außerhalb der gewerkschaftlich organisierten Lehrerschaft war Castillo weitgehend unbekannt. Gewählt wurde er vor allem in den Andenregionen, in denen sich die Menschen seit jeher rassistisch und ökonomisch diskriminiert und vom Staat im Stich gelassen fühlen. Sie haben auf ein neuen, bisher unbescholtenen Kandidaten gebaut. ­Castillo gilt als »einer von ihnen.« Politisch war Castillo viele Jahre in der 2017 aufgelösten Partei Perú Posible des Populisten Alejandro Toledo tätig. Dieser erlangte als Führer der Opposition gegen Alberto Fujimori Bekanntheit und gewann 2001 die erste Präsidentschaftswahl nach dessen Rücktritt im Vorjahr. Er galt als erster Präsident des andinen Peru und als politisch moderat. Einst war er die Hoffnung von breiten Bevölkerungsteilen aus den Andenregionen und den städtischen Armutsgürteln. Doch im Amt verfolgte er konsequent den wirtschaftsliberalen Kurs, welcher Peru seit 30 Jahren prägt. Castillo ist kein traditioneller Marxist-Leninist und ebenso wenig ein Verfechter des Terrorismus von Sendero Luminoso, wie manche seiner Gegner behaupten. Vielmehr ist er bekennender Christ aus einem wertkonservativen Milieu. Er ruft die Jugend dazu auf, zuerst an die Familie zu denken, den Eltern zu gehorchen und nicht an überlieferten Werten zu zweifeln. Auch ist er ein Verfechter der bürgerlichen Arbeitsethik. »Der beste Dünger für die Erde ist der menschliche Schweiß«, sagte er. Er preist das Unternehmertum, Enteignung von Privateigentum lehnt er strikt ab. Allerdings fordert er Solidarität und Mitbestimmung und sieht den Staat in der Pflicht zu intervenieren, besonders in Hinblick auf Gesundheit, Bildung, Armutsbekämpfung und finanzielle Förderung der Kleinbauern. Mit Feminismus und sexueller Selbstbestimmung kann er jedoch nichts anfangen, Abtreibung und gleichgeschlecht­liche Ehe lehnt er ab. Castillo vertritt einen »Andinen Populismus«, der Zu­taten aus den verschiedensten politischen Lagern mischt. Er vermischt Patriotismus und religiös-konservative Vorstellungen mit traditionellem ­Antiimperialismus und Versatzstücken des Marxismus. Castillo gehörte weder zur Basis noch zum Führungsclan der Partei Perú Libre, die ihn als Kandidat aufstellte. Erst im letzten Moment ist er auf Ein­ladung des Parteivorsitzenden Vladimir Cerrón Parteimitglied geworden, damit Castillo ihn als Präsidentschaftskandidat ersetzen konnte. Cerrón durfte aufgrund einer zu verbüßenden Strafe nicht antreten. Er bezeichnet sich als ­einen Vertreter marxistisch-leninistischer Ideologie, sympathisiert mit dem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« in Venezuela, Bolivien und Ecuador und verteidigt Kuba als sozialistisches Mutterland Lateinamerikas. Konflikte zwischen Castillo und Cerrón sowie der Fraktion von Perú Libre sind programmiert. Bereits vor der Stichwahl trat dies deutlich zutage. Castillo markierte eine deutliche Distanz zu den sozialistischen Anteilen der Programmatik von Perú Libre, zum Beispiel indem er technokratische Expertinnen und Experten und ehemaliges sozialliberales und teils konservatives Politpersonal in sein Beraterteam ­berief. Unterstützung erhält Castillo von den beiden linken Bündnissen Juntos por el Perú und Frente Amplio, die ebenfalls an der Wahl teilgenommen haben. Bei Juntos por el Perú handelt es sich um ein Sammelsurium aus Resten tradi­tioneller ML-Parteien, prokubanischen sozialistischen Strömungen, humanistisch-sozialdemokratischen Gruppen und den beiden großen Gewerkschaftszentralen der Lehrer und Arbeiter. Juntos por el Perú stellte als Präsidentschaftskandidatin Verónika Mendoza auf, die einstmals zu Frente Amplio gehörte, später aber die Partei Nuevo Perú gründete. Gemeinsam vertreten Nuevo Perú und Juntos por el Perú einen größeren Teil der aktiven Zivilgesellschaft und der peruanischen Bevölkerung als Perú Libre. Viele ihrer Grundpositionen, besonders was Feminismus, sexuelle Selbstbestimmung und individuelle Entfaltung angeht, sind jedoch weder mit dem »Andinen Populismus« noch mit tradierten ML-Dogmen vereinbar. Trotzdem wollen sie nun alle zusammenarbeiten, in der Hoffnung, den Neoliberalismus durch eine neue Verfassung zurückzudrängen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament wird sich das allerdings schwierig gestalten. Und dass damit der Sozialismus eingeführt wird, wie Castillos Gegner es fürchten, ist eher unwahrscheinlich.
Andreas Baumgart
Andreas Baumgart: Der Linkspopulist Castillo wird vorraussichtlich der neue Präsident Perus
[ "Peru" ]
Ausland
24.06.2021
https://jungle.world/artikel/2021/25/populismus-aus-den-anden
Ja, nein, vielleicht
Manchmal kann man sogar mit jemandem wie Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ein bisschen Mitleid haben. Hatte er am Montag vergangener Woche auf einer CSU-Landesgruppen­sitzung noch verkündet, die Bundesregierung habe »keine andere Möglichkeit«, als sich dem im Dezember beschlossenen NPD-Verbotsantrag der Länder anzuschließen, klang das kurz darauf schon wieder sehr viel kleinlauter. Darüber, ob die Regierung den Antrag der Länder unterschreiben oder sich mit einem eigenen Verbotsantrag an das Verfassungsgericht wenden werde, gebe es »weder eine Entscheidung, noch eine Festlegung, noch eine Tendenz«, hieß es nun aus dem Innenministerium. Grund für diesen Rückzieher dürfte die Kritik des Koalitionspartners FDP sein, der einem NPD-Verbotsverfahren mehrheitlich skeptisch gegenübersteht. Die Begründungen für die Bedenken sind seit Jahren die gleichen und werden nicht nur von der FDP vorgebracht: Ein Verbotsverfahren verschaffe der Nazipartei unnötige Öffentlichkeit, ein erneutes Scheitern könne ihr gar ungewollt zu Popularität verhelfen; aber auch ein erfolgreiches Verbot werde die rechte Szene nicht daran hindern, sich dann eben anderweitig zu organisieren. Und: Ein Parteiverbot könne die politische Auseinandersetzung mit rechtem Gedankengut nicht ersetzen, wie kürzlich wieder der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Stefan Ruppert, und seine Parteifreundin, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, betonten. Das ist ein schönes, einleuchtendes Argument – es wäre allerdings um einiges glaubwürdiger, wenn die FDP tatsächlich nennenswerte antifaschistische Aktivitäten vorweisen könnte. Stattdessen sorgt ihr wirtschaftsliberaler Extremismus dafür, dass die Abstiegsängste des Kleinbürgertums wachsen, und schafft damit jenen Nährboden, auf dem faschistische Ideologien bestens gedeihen. Eine weitere Begründung, die bis 2011 zu den Klassikern bei der Ablehnung eines erneuten NPD-Verbotsverfahrens zählte, war in jüngerer Zeit hingegen nicht mehr zu vernehmen: die Befürchtung, ein Verbot werde dazu führen, dass sich die Naziszene der Beobachtung durch Polizei und Verfassungsschutz durch ein Abtauchen in die Illegalität entziehen würde. Dass dies auch neben einer legal agierenden NPD und unter der sorgsamen Obhut der Behörden geschehen konnte, haben die Aufdeckung des NSU und erst recht des Verfassungsschutzsumpfs drumherum hinlänglich gezeigt. Schon allein die Tatsache, dass die FDP dagegen ist, wäre Grund genug, ein NPD-Verbotsverfahren zu befürworten, auch wenn das Argument nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich auch im Fall eines Erfolgs vor dem Verfassungsgericht die Nazis nicht einfach in Luft auflösen werden. Immerhin wäre ihnen dadurch aber der Zugang zu staatlichen Geldern und Institutionen entzogen, und nicht zuletzt wäre ein Parteiverbot ein wich­tiges Signal, dass Nazis eben keine legitime Meinung unter vielen vertreten. Es bleibt die Frage nach den Erfolgsaussichten. Dass die NPD verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, reicht bekanntlich noch nicht aus, um ein Verbot zu begründen; es müssen auch Beweise vorliegen, dass sie dies »aggressiv und kämpferisch« tut, und zwar solche, die dies nicht nur unbedarften Laien einleuchten lassen, sondern sogar paragraphenbewehrten Volljuristen. Aber es war ja auch nicht Mangel an Beweisen, woran 2003 das erste Verbotsverfahren scheiterte, sondern die Tatsache, dass zahlreiche Parteifunktionäre als V-Leute auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes standen. Das soll nach Angaben der Innenminister der Länder jedoch seit April vergangenen Jahres vorbei sein. Wenn die Länder wollen, dass die Bundesregierung sie beim Verbotsverfahren unterstützt, könnte man ihnen übrigens raten, einfach bis nach der Bundestagswahl abzuwarten. Es spricht alles dafür, dass die FDP danach in dieser Frage nichts mehr mitzureden haben wird.
Svenna Triebler
Svenna Triebler: Der Streit um das NPD-Verbot
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Inland
07.03.2013
https://jungle.world//artikel/2013/10/ja-nein-vielleicht
LeserInnenworld
Jungle World, 06/04: Kleine Durststrecke Deppert Seid ihr ein bisserl deppert? Wenn einer daher käme und sagte, Schwarzafrikaner dealen Drogen, weil sie mit ihrer verminderten Geistes- und Arbeitskraft keine anständige Arbeit finden, wäre bei euch dann die Hölle beim Aufheizen. Also, ich bitte bei eurer einseitigen Berichterstattung ein Minimum von Anstand. franz josef krandmayer Jungle World, 07/04: Diktat der Prozente Falsche Kronzeugin Angela Marquardt? Ist eure Autorin, die die PDS von links kritisiert, tatsächlich identisch mit jener Angela Marquardt, die beim Parteitag in Gera unter dem (fast) bedingungslosen Regierungsbefürworter Bartsch und mit einem Bundesgeschäftsführer Roland Claus (jenem, der sich bei Bush entschuldigt hat) stellvertretende PDS-Vorsitzende werden wollte? Wenn sie es denn tatsächlich ist: Für wie vergesslich hält sie die Leute? Das Sprichwort von jenen, die links unten losgehen, um rechts oben anzukommen, kann auch auf ehemalige Punx angewendet werden. Es gibt wahrlich viel, sehr viel zu kritisieren an der PDS. Aber ich bitte darum, von »Kronzeuginnen« wie Angela Marquardt verschont zu werden. jean cremet Jungle World 07/04: Die Industrie soll uns Geld geben Zu deutsch Warum ist Mia böse und Rosenstolz gut? Warum ignorieren die Anti-Mia-KämpferInnen einen von der Musikindustrie mitveranstalteten dreiteiligen Kongress, in dem es beim zweiten Teil mit dem Titel »Rammstein rennt – aber wohin? Perspektiven des deutschen Films und der deutschen Musik in der internationalen Popszene« in jedem Satz um deutsche Musik, Deutschland, die Deutsch-Quote, fehlende deutsche Stars, die deutsche Krise und den Standort ging. Der Themenkomplex ist anscheinend für viele »Nazis raus«-AktivistInnen zu schwierig. Ich reiße Rosenstolzplakate ab, da jemand, der den Junge-Freiheit-Fragebogen ausfüllt (Junge Freiheit, 20/98), nicht unbedingt als ausgewiesener Linker gelten sollte. Nun gibt es in der Jungle World ein POPulistisches Interview mit der Band. Die tolle Beziehung, die Rosenstolz zu Tim Renner pflegt, wird erwähnt, dass Tim Renner für die Förderung »deutscher Musik« steht und der Ziehvater von Rammstein ist, davon wird nicht gesprochen. Was jetzt nicht heißen soll, dass Tim Renner oder Rammstein besonders »böse« sind. Nach dem Satz von AnNa R: »Der Grand Prix bietet ohnehin die besseren Chancen«, drängt sich zudem eine Nachfrage zur Teilnahme von Mia am diesjährigen Grand Prix geradezu auf. Aber nichts dergleichen folgt. Und dann noch dieser Satz von Peter Plate: »Wenn wir nicht aufpassen, kriegen wir hier irgendwann italienische Verhältnisse.« Wer nun denkt, nun wird aber nachgefragt, was Plate damit meint, der wird wiederum enttäuscht. Anscheinend versucht sich da jemand als Bravo-Autor, und das auf Seite drei der Jungle World. georg elser
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Disko
11.02.2004
https://jungle.world//artikel/2004/07/leserinnenworld
Deutsch-amerikanische Freundschaft
Wo gibt es momentan Verbindungen zwischen deutschen und US-amerikanischen Neonazis? Offensichtlich gibt es gute Beziehungen zwischen der NPD und der National Alliance von William Pierce, einer der größten und einflußreichsten militanten Neonazi-Gruppierungen in den USA. Pierce, dessen Hauptquartier in West Virginia quasi-militärisch abgesichert ist, wirbt auf den Internet-Seiten der National Alliance für die NPD, und beim Passauer Wahlkongreß der NPD im März dieses Jahres war er als Gastredner vorgesehen. Darüber hinaus verfügt die DVU über Kontakte zur Liberty Lobby von Willy Carto, einer rassistischen und antisemitischen Gruppierung, die ihre eigentlichen Ziele hinter dem Deckmantel des Populismus versteckt. Und es gibt die schon seit Jahren gut funktionierende Zusammenarbeit der Holocaust-Leugner, einem internationalen Netzwerk von Rechtsextremen aus Deutschland, den USA und anderen europäischen Ländern. Hat die Inhaftierung von Gary Lauck, dem US-amerikanischen Anführer der NSDAP/AO, dieser deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit nicht geschadet? Bis zu seiner Festnahme in Dänemark im Jahr 1995 und seiner anschließenden Verurteilung und andauernden Inhaftierung in der Bundesrepublik spielte Lauck eine wichtige Rolle, weil er einen großen Teil des neofaschistischen Propagandamaterials für den deutschen Markt druckte und vertrieb. Außerdem warb er in der internationalen Neonazi-Szene Söldner für die kroatischen Milizen im Jugoslawien-Konflikt an. In den USA selber hatte Lauck - trotz guter Kontakte zu alten Nationalsozialisten - keine wichtige Führungsrolle. Wir haben ihn immer als den "Kofferträger" der deutschen Neonazis bezeichnet. Und seit seiner Inhaftierung befindet sich die gesamte NSDAP/AO in der Krise, auch wenn weiterhin Propagandamaterial produziert und verschickt wird. Wo sehen Sie Unterschiede zwischen der rechtsextremen Szene in den USA und in Deutschland? Die liegen im wesentlichen im Parteiensystem begründet. Wegen des US-amerikanischen Wahlsystems hat dort eine dritte Partei neben den Demokraten und den Republikanern keine Chancen. Wahlerfolge einer Partei wie der DVU in Sachsen-Anhalt gibt es in den USA daher nicht. Dort sammelt sich das rechte Spektrum größtenteils innerhalb der Republikanischen Partei. Ähnlichkeiten existieren im Bereich der rechtsextremen und neofaschistischen Organisationen, wenn man sich beispielsweise das Vorgehen der NPD und der National Alliance anschaut. Spiegeln sich diese Gemeinsamkeiten denn auch in den politischen Programmen wider? Rassismus ist international der gemeinsame Nenner für Rechtsextreme. Bis 1986 wurde beispielsweise die Kampagne gegen Migranten, Migrantinnen und Flüchtlinge nur von der rechtsextremen Terrorgruppe Aryan Nation vorangetrieben. Inzwischen ist das Thema vom gesellschaftlichen Mainstream und insbesondere der Republikanischen Partei aufgegriffen worden. Der Einfluß der extremen Rechten und Rassenfanatiker macht sich auch im Bereich der Antidiskriminierungsgesetzgebung bemerkbar. In den siebziger Jahren war es nur der Ku-Klux-Klan, der gegen diese Gesetze beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt mobilisierte. Mit der Behauptung, daß Weiße durch diese Gesetze benachteiligt und zu den eigentlichen Opfern gemacht würden, versuchte der Klan relativ erfolglos, neue Anhänger zu gewinnen. Inzwischen wird die These, daß Weiße in einer multikulturellen Gesellschaft ausgeschlossen würden, in weiten Kreisen der US-Gesellschaft akzeptiert und hat auch Auswirkungen auf die Regierungspolitik. In Deutschland sind es vor allem rechte Skinheads, die für die gewalttätigen Angriffe gegen Flüchtlinge und Linke verantwortlich sind. Gibt es in den USA eine ähnliche Bedrohung? Auch in den USA existiert eine gewalttätige rechte Skinhead-Bewegung, die sich als Subkultur etabliert hat. Im Gegensatz zu Deutschland scheuen die Skinheads hier allerdings das Rampenlicht und Aufmärsche, weil sie befürchten, daß Bürgerrechtsorganisationen und Antifas ihre Adressen veröffentlichen. Die größere Gefahr besteht allerdings darin, daß sich die organisierten Rassisten in der Mitte der Gesellschaft etablieren können und sich gleichzeitig der rechte Rand weiter radikalisiert. Wie reagiert die US-amerikanische Öffentlichkeit auf die jüngsten Entwicklungen in Deutschland? Anfang der neunziger Jahre wurde von den tonangebenden Zeitungen wie der New York Times ein härteres Vorgehen des deutschen Staats gegen Rechts gefordert. Die Besorgnis über die jüngsten Ereignisse in Sachsen-Anhalt und rassistische Angriffe schlägt sich nach wie vor in der Berichterstattung über Deutschland nieder. Allerdings werden sie nicht als ein Ausdruck von deutschem Nationalismus, sondern als Reaktion auf Arbeitslosigkeit und Spätfolgen der deutschen Vereinigung interpretiert.
Korinna Klasen
Korinna Klasen: US-amerikanischen Journalisten und Menschenrechtler Leonard Zeskind
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Antifa
03.06.1998
https://jungle.world//artikel/1998/23/deutsch-amerikanische-freundschaft?page=0%2C%2C0
Kampf auf Katalanisch
Das ging ihm dann offenbar doch zu weit. »Wir werden immer das Zusammenleben verteidigen und dass Schulen neutrale Räume sind (…). Wir verurteilen jede Art von Bedrohung und Gewalt«, sagte Josep González i Cambray, der Bildungsminister der katalanischen Regionalregierung, am 9. Dezember bei seinem Besuch an der Schule Turó del Drac in Canet de Mar in der Provinz Barcelona. An dieser Schule waren ein Schüler und ­seine Eltern bedroht worden, weil die Familie darauf bestanden hatte, dass, wie rechtlich vorgesehen, ein Viertel des Unterrichts auf Spanisch stattfindet. Medienberichten zufolge soll deswegen in Tweets dazu aufgerufen worden sein, das Haus der Familie anzugreifen und den Jungen in der Schule zu isolieren. Am Tag nach dem Besuch des Bildungsministers an der Schule demonstrierten Hunderte Menschen in Canet de Mar gegen die Sprachpolitik, die das Katalanische »auslöschen« wolle. Im November hatte der Oberste Gerichtshof in Madrid ein früheres Urteil des Obersten Gerichtshofs von Katalonien (TSJC) bestätigt, das vorsieht, mindestens 25 Prozent des Unterrichts an Schulen in Katalonien in Spanisch abzuhalten. Neutral ist González i Cambray in dieser Frage keineswegs, er ist selbst ein erbitterter Gegner dieser Vorschrift. Als einen »weiteren unerträglichen und von uns abgelehnten Angriff auf das katalanische Schulmodell, das erfolgreich ist und sozialen Zusammenhalt, Gerechtigkeit und Chancengleichheit garantiert«, hatte er das jüngste Gerichtsurteil bezeichnet. Für den sozialen Zusammenhalt tut er auch selbst ­einiges: In einem Schreiben an katalanische Lehrkräfte hatte er diese aufgefordert, das Gerichtsurteil zu missachten. Dafür wurde er von einer Vereinigung angezeigt, die sich für die spanische Sprache einsetzt. Das Katalanische war während der Franco-Diktatur tatsächlich unterdrückt worden, in den vergangenen Jahrzehnten wurde es aber stark gefördert, am Aussterben ist es keineswegs. Und die Chancengleichheit katalanischer Schülerinnen und Schüler würde es wohl unter anderem erhöhen, wenn sie sich auch außerhalb der Region sicher verständigen können. Für González i Cambray, seine linksnationalistische Partei ERC und andere katalanische Separatisten bleibt die Sprachpolitik ein wichtiges Schlachtfeld.
Nicole Tomasek
Nicole Tomasek: Der katalanische Bildungsminister Josep González i Cambray mag keinen Unterricht auf Spanisch
[ "Katalonien", "Schule" ]
Hotspot
16.12.2021
https://jungle.world//artikel/2021/50/kampf-auf-katalanisch?page=0%2C%2C2
Island in the Web
Wer die mühsame Seereise nicht auf sich nehmen will, nähert sich wie unsere Autorin am besten so der Insel Nach 14 Tagen auf See ist Land in Sicht! Von Weitem wirkt die Insel langgezogen und grün wie ein Krokodil. Kommt man ihr endlich näher, sind nur noch Klippen und Felsen zu sehen. Die Wellen peitschen gegen die steile Küste. Ein paar Seevögel scheinen in der Luft mit dem Wind zu kämpfen. Einzig die Anlegestelle in der Bounty Bay bietet einen halbwegs sicheren Zugang für kleine Boote. Das Versorgungsschiff »Silver Supporter« muss außerhalb der Bucht ankern. Schon kommen die motorbetriebenen Langboote angefahren, mit denen die Pitcairner den Pendelverkehr zwischen Insel und Schiff besorgen. Mit Schwimmweste bekleidet geht es eine wackelige Strickleiter hinunter in eines der Boote. Die Gischt spritzt hoch. Das Boot bietet kaum Schutz vor dem Salzwasser, das sich schnell übers Gesicht legt. Nur etwa 50 Menschen leben dauerhaft auf der Insel. Die meisten von ihnen sind Nachfahren der berühmten »Bounty«-Meuterer. Routiniert steuert die Bootsführerin das Boot in Richtung der Hafenanlage. Hinter einer großen Welle lässt sie sich geschickt bis auf wenige Zentimeter an die Mole treiben. Nach langen Tagen auf See ist es ein echtes Erlebnis, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Und nun steht man also hier im Nirgendwo. Pitcairn Island gehört zu den abgelegensten Orten der Welt. Die kleine Insel, 3,2 Kilometer lang und 1,6 Kilometer breit, liegt im Südpazifik, etwa auf halber Strecke zwischen Neuseeland und der südamerikanischen Westküste. Die Pitcairn Islands sind das einzige Britische Überseegebiet im Pazifik. 5.500 Kilometer sind es zum Festland, die am nächsten gelegenen Gambierinseln sind 700 Kilometer entfernt; eine Bootsreise von drei Tagen. Einen Flughafen gibt es nicht, die Anreise ist nur per Schiff. Die »Silver Supporter« steuert die Insel alle drei Monate von Neuseeland aus an. Bei der Ankunft der Langboote scheint sich die gesamte Bevölkerung der Insel am Hafen zu versammeln. »Hafen« ist allerdings etwas übertrieben, viel mehr als eine Anlegestelle aus Beton und ein etwas größerer Bootsschuppen ist es nicht. »Bevölkerung« ist eigentlich auch hoch gegriffen – nur etwa 50 Menschen leben dauerhaft auf der Insel. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Nachfahren von neun der berühmten Meuterer des britischen Segelschiffs »Bounty« und 18 Polynesierinnen und Polynesiern, die die Meuterer 1789 aus ihrer Heimat Tahiti entführten. Zahlreiche Quads sind am Hafen geparkt, die Bewohner erwarten gespannt die Post, bestellte Waren, Touristen und auch ihre aus Neuseeland zurückgekehrten Verwandten. Nach den Touristen werden mehrere Container mit Waren auf die Boote verladen und an Land gebracht. Sie enthalten Tiefkühlkost, Konserven, Haushaltswaren. Die Container werden mit einem Kran von den Booten gehoben und die Waren auf die Quads verladen. Erstaunlich, was man alles auf so einem vierrädrigen Geländewägelchen, oder auf den teils ebenfalls verwendeten dreirädrigen Trikes, transportieren kann. Schließlich werden die entladenen Boote wieder aus dem Wasser geholt und in den Bootsschuppen zurückgebracht. Für Besucher gibt es zwei Möglichkeiten, sich weiter fortzubewegen: zu Fuß oder mit Einheimischen auf einem Quad; selbst fahren dürfen sie hier nicht. Auch der junge Google-­Mitarbeiter mit seinem tarnfarbenen Basecap und dem Dreitagebart, der für Street View im Juni 2013 die Aufnahmen von der Insel machte, wurde auf so einem Quad herumgefahren, das Stativ mit der Kamera in der Hand haltend. Es gibt sechs Kilometer befestigte Straße, der Rest sind Schotterpisten. Von der Anlegestelle windet sich die aus Betonplatten bestehende Straße den steilen Berg nach oben. Bereits nach der ersten Kurve ist der Hafen nicht mehr zu sehen. Vorbei an Wellblechschuppen, einfachsten Steinhäusern, Bananenpflanzen und Palmen geht es weiter; irgendwann führen rechts ein paar Holzstufen zum Gesundheitszentrum hinunter, das jedenfalls behauptet ein handgeschriebenes weißes Schild an einem Holzzaun. Auf dem Marktplatz stehen viele blaue Plastikstühle herum Bald erreicht man linker Hand den Hauptplatz des Ortes, genannt »the Square«. Kein besonders origineller Name, aber weitere Plätze gibt es halt nicht. Hier befinden sich das Gemeindezentrum mit dem Gemeindesaal, eine Bibliothek und die Verwaltung, die Kirche, das Museum und der Supermarkt. Dieser hat die Größe einer Turnhalle und zwei moderne Kassen, es gibt kleine Einkaufswagen. Im Angebot finden sich alle möglichen Waren vom Autoreifen über Bratpfannen, Cornflakes und Chips bis zu Bier. Es ist der einzige Laden auf der Insel. Da er nur an drei Tagen in der Woche für eine Stunde öffnet, ist am Square meist nicht viel los. Der Boden ist aus dem typischen gestampften roten Sand, der überall auf der Insel zu finden ist. Nur samstags, am Kirchtag, versammelt sich die Gemeinde an der Kirche der Sieben-Tags-Adventisten. Ein Teil des Platzes ist mit einem schattenspendenden Holzgerüst überdacht, unter dem der Markt stattfindet, wenn Kreuzfahrtschiffe ankommen. Jede Menge blaue Plastikstühle stehen herum, auf zwei alten Gasgrills kann Essen zubereitet werden. Auf einem Sockel ist der Anker der »Bounty« ausgestellt, der 1957 geborgen wurde. Er ist an seiner kürzeren Seite ungefähr so hoch wie ein Mensch und erstaunlich gut erhalten, dafür dass er über 150 Jahre im Salzwasser lag. Im Museum befinden sich verschiedene Relikte der »Bounty«, wie etwa die Bibel, mit der John Adams seine kleine Gemeinde christianisierte. Am Square hängen außerdem zwei Glocken, mit denen die Bewohner der Insel über wichtige Ereignisse informiert werden: Unterschiedliche Schläge rufen zum Gottesdienst oder zu gemeinschaftlicher Arbeit, oder sie signalisieren die Ankunft eines Schiffs. Immer samstags öffnet die Bar der Insel, das »Whale Tooth’s Inn«. Es wird betrieben von Pawl Warren und seiner Frau Sue. Mit seinem weißen Bart, Tattoos und einer Kette aus Muscheln und Tierzähnen sieht er aus wie ein Pirat, weshalb er den Spitznamen Pirate Pawl trägt. Er besitzt sogar einen Dreispitz, den er manchmal aufsetzt. Die Spezialität seiner Bar sind Schnäpse, die er in Walzähnen serviert. Erst seit 2009 darf auf Pitcairn Island offiziell auch an Touristen Alkohol ausgeschenkt werden; zuvor war eine sechsmonatige Wartezeit für eine Lizenz zum Kauf von Alkohol nötig – eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der schwierigen Gründungszeit der Inselgesellschaft. Etwa einmal im Monat kommt ein Kreuzfahrtschiff vorbei und ankert vor der Bounty Bay. Bei günstigem Wetter holen die Pitcairner die Kreuzfahrtgäste mit ihren Langbooten an Land. Dort können sich die Gäste den begehrten Einreisestempel in ihren Pass stempeln und sich oben im Ort bewirten lassen. Flugs wird auf dem Square ein Markt aufgebaut, wo die Bewohner ihre Waren feilbieten, nahezu ihre einzige Einnahmequelle: selbstgeflochtene Körbe, selbstgeschnitztes Besteck, selbstgemachte Seife, Schmuck und anderer Nippes, zum Beispiel Nachbildungen der »Bounty«, Andenken wie T-Shirts und Postkarten. Beliebt sind vor allem die Briefmarken der Pitcairn Islands, die es nur hier gibt. Andrew Christians Familie lebt schon in der siebten Generation auf der Insel. Er ist 36 Jahre alt, sein Oberkörper ist großzügig mit Tribal-Mustern tätowiert, er hat Piercings in den Brustwarzen und jede Menge Ohrringe. Wie alle hier mit dem Nachnamen Christian – und das ist beinahe die Hälfte der kleinen Inselbevölkerung – stammt er vom Fletcher Christian ab, dem Anführer der Meuterei auf der »Bounty«. Brenda Christian (links) stammt vom Anführer der »Bounty«-Meuterei ab Andrews Mutter Brenda ist 69, eine resolute Frau mit langen schwarzen Haaren. Nachdem ihr Bruder Steve wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern 2004 sein Amt als Bürgermeister verlor, fungierte sie als Übergangsbürgermeisterin der Insel. Zusammen mit Andrews Stiefvater Mike verkauft sie heute Briefmarken. Brenda kreiert auch Holzschnitzereien mit Delphinen und Fischen. Für umgerechnet 48 Euro bekommt man zum Beispiel eine handgemachte hölzerne Servierplatte aus dem sehr harten Holz des Miro, einer in Neuseeland beheimateten immergrünen Steineibe. Brendas Vater, Ivan Roa Christian, wiederum war von 1976 bis 1984 Oberrichter von Pitcairn Island. Er ist mit einer Reihe anderer Inselführer verwandt, unter ihnen sein Urgroßvater Thursday October Christian II. In einem Land mit so wenigen Einwohnern ist es nicht schwer, eine Dynastie zu begründen. Als Brenda 1972 während der Weihnachtszeit heiratete, war das ein großes Fest. Die Feierlichkeiten endeten mit einem ausgelassenen Konzert im Gerichtsgebäude. Brenda, die auf der Insel damals »die kurvenreichste der Christians« genannt wurde, war in den Union Jack eingehüllt. Das lässt sich in den Inselchroniken nachlesen. Pitcairn Island war bis 1790 unbewohnt, als einige der Meuterer die Insel als Zufluchtsort wählten, um der Verfolgung durch die britische Krone zu entkommen. Monatelang war das Schiff zwischen den pazifischen Inseln umhergeirrt. Bei einer Landung in Tahiti entschlossen sich einige der Meuterer, dort zu bleiben, während die neun übrigen 18 Einheimische, darunter elf Frauen und ein kleines Mädchen, entführten und sich mit der »Bounty« auf die Suche nach einem sicheren Ort begaben. Am 15. Januar 1790 fanden sie endlich Pitcairn Island. Es sollte tatsächlich 18 Jahre dauern, bis die Insel das nächste Mal von einem Schiff angesteuert wurde. Auf Pitcairn gab es Süßwasser, essbare Pflanzen und fruchtbares Land, und so zerstörten die Siedler, um nicht entdeckt zu werden, kurz nach ihrer Ankunft die »Bounty«, womit sie sich jeden Weg zurück abschnitten, und machten sich daran, eine neue Gesellschaft zu gründen. Das gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht. Auch wenn in den ersten Jahren einige Kinder geboren wurden, entbrannte immer wieder Streit um das »Eigentum« an den mitgebrachten polynesischen Männern und Frauen. Letztere wurden abwechselnd und reihum mit den englischen Männern »verheiratet«. 1794 waren von den sechs polynesischen und neun britischen Männern nur noch vier Briten am Leben – John Adams, Ned Young, William McCoy und Matthew Quintal; alle anderen, darunter auch der frühere Anführer Fletcher Christian, waren ermordet worden. Nachdem es McCoy gelungen war, aus den Wurzeln der Keulenlilie Alkohol zu destillieren, ging es auch mit ihm bergab, bis er sich schließlich von einer Klippe stürzte. Quintal wurde ermordet, als er alkoholbedingt durchzudrehen begann und die verbleibende Bevölkerung der Insel zu vernichten drohte. Schließlich besannen sich Young und Adams auf das Christentum, brachten den Kindern mit Hilfe der Bibel Lesen und Schreiben bei, und dann zog, so heißt es, allmählich Frieden ein. Als 1808 das US-amerikanische Schiff »Topaz« zufällig auf Pitcairn Island stieß, fand man John Adams als Vorsteher einer funktionierenden und jungen Gesellschaft vor. Die britische Admiralität sah davon ab, ihn wegen der Meuterei zu belangen. Sein Grab ist das einzige erhaltene der Meuterer und eine der Sehenswürdigkeiten der Insel. Pawl Warren serviert in seiner Bar Schnaps in Haifischzähnen Die Lebenshaltungskosten für die heutigen Bewohnerinnen und Bewohner sind gering, sie betragen umgerechnet etwa 5.600 Euro im Jahr. Das liegt vor allem daran, dass Pitcairner im Wesentlichen immer noch Selbstversorger sind. Sie bauen Bananen, Ananas, Kokosnüsse, Zitrusfrüchte, Papaya, Mango, Melone, Guave, Zuckerrohr, Yams, Taro, Süßkartoffel und Brotfrucht an und züchten Hühner und Ziegen. Ganz oben auf dem Speiseplan steht natürlich Fisch. Aber das Leben hier ist entbehrungsreich. Wenn die Pitcairner mal zum Schwimmen an einen Sandstrand möchten, dann machen sie sich auf den Weg nach Oeno, eine der vier Inseln, die zur Inselgruppe der Pitcairn Islands gehören – 120 Kilometer entfernt. Eine der anderen Inseln, Henderson Island, hat zwar auch einen wunderschönen Sandstrand, doch dieser erreichte jüngst traurige Berühmtheit als am stärksten vermüllter Strand der Welt: Aufgrund einer ungünstigen Meeresströmung werden hier täglich 3.500 Teile Plastikmüll angeschwemmt. Drei Pitcairn-Kinder unter 13 Jahren besuchen derzeit die örtliche Schule, die älteren müssen für die weiterführende Schule an ein Internat in Neuseeland. Viele kehren nach dem Abschluss ihrer Ausbildung nicht zurück. Sofern nichts unternommen wird, ist die Bevölkerung der Insel vom Aussterben bedroht. Für den Betrieb der Boote, die Landwirtschaft und die Instandhaltung der Häuser sind arbeitsfähige Erwachsene nötig; jetzt schon ist ein Drittel der Bevölkerung über 65 Jahre alt, Tendenz steigend. Pitcairn wirbt daher offensiv um Einwanderer. Häuser stehen zwar derzeit nicht zum Verkauf, doch man kann kostenlos ein Stück Land pachten und darauf ein eigenes Haus bauen, mit tatkräftiger Unterstützung der anderen Pitcairner. Wer Interesse hat, kann sich per E-Mail als Bewohner bewerben. Bislang zeigt die Anwerbeoffensive jedoch wenig Erfolg. Die Zurückhaltung potentieller Neubürgerinnen und Neubürger könnte auch mit Ereignissen zu tun haben, die Pitcairn vor einigen Jahren weltweit Medienöffentlichkeit bescherte: 1999 deckte die aus Großbritannien entsandte Polizistin Gail Cox zahlreiche Fälle von Kindesmissbrauch auf der Insel auf. Die Ermittlungen dazu dauerten mehrere Jahre und umfassten die Befragung sämtlicher Frauen und Kinder, die in den vorangegangenen 20 Jahren auf Pitcairn Island gelebt hatten. Schließlich wurde gegen sieben Männer – ein Drittel der männlichen Bewohner der Insel, darunter der Bürgermeister, Brendas Bruder Steve Christian – und in einem weiteren Prozess in Neuseeland gegen sechs weitere Männer, die zu dem Zeitpunkt nicht mehr auf der Pitcairn Island lebten, Anklage erhoben wegen Missbrauchs und Vergewaltigung in insgesamt 96 Fällen. Von den Mädchen und Frauen, die damals Anzeige erstatteten und gegen die Täter aussagten, lebt heute keine mehr auf der Insel. Die Prozesse spalteten die Bevölkerung; wie das Zusammenleben heute funktioniert, darüber wird hier nicht gerne gesprochen. Wer Interesse hat, kann sich per E-Mail als Bewohner bewerben, die Nachfrage ist jedoch gering. Zu den Strategien der Verteidigung hatte es unter anderem gehört, die Zuständigkeit der britischen Gerichtsbarkeit anzufechten, da die Vorfahren der Angeklagten ihre britische Staatsbürgerschaft mit der Meuterei offiziell abgelegt hätten, und anzuführen, dass die Taten der Angeklagten in der Inseltradition kein Verbrechen gewesen seien. Sechs der sieben Männer wurden schließlich schuldig gesprochen. Bei der Strafzumessung wurde unter anderem diskutiert, ob die Insel es sich leisten könne, so viele Arbeitskräfte zu verlieren. Dennoch wurden die Angeklagten zu Haftstrafen verurteilt, für sie errichtete man auf der Insel eigens ein Gefängnis und stellte zwei Gefängniswärter aus Neuseeland bereit. Die Haftstrafen wurden nach und nach in Hausarrest umgewandelt; ab 2008 wurde das einstöckige Holzhaus, das nur an seinem hohen Zaun als Gefängnis zu erkennen war, in ein Gasthaus für Touristen umgebaut. Aber auf Tripadvisor wird gewarnt: »Die Häuser sind aus Schindeln und die Pitcairner behalten absolut alles für den Fall, dass sie es eines Tages brauchen. Folglich sammeln sich Kakerlaken und Schmutz an, seien Sie also vorbereitet!« Allerdings wurde das Gebäude 2016 auch wieder als Gefängnis genutzt, nachdem der ehemalige Bürgermeister Mike Warren für schuldig befunden wurde, Bilder und Videos von sexuellem Missbrauch von Kindern aus dem Internet heruntergeladen zu haben. Erst kürzlich, 2021, wurde er erneut verurteilt, weil er mehrfach nackt über die Insel gelaufen war. Diesmal kam er allerdings mit einer Geldstrafe davon. Für Touristen gibt es nur eine Handvoll Unterkünfte, eine davon ist das »Plas Pitcairn Chalet«. Es wirbt mit seiner Aussicht auf den Ozean, »einer modernen Küche, einem Badezimmer und Wäschemöglichkeiten«. Das ganze Haus ist innen holzvertäfelt, es gibt drei Schlafzimmer, zusammen teilt man sich ein Bad und die, nun ja, »moderne« Küche. 112 Euro kostet die Unterkunft pro Nacht. Wenn man drei Monate bleibt, also bis das nächste Versorgungsschiff vorbeikommt, sind es stolze 7.830 Euro. Die Gastgeber sind übrigens Brenda und Mike Christian. Essen gibt es bei »Andy’s Pizzeria«. Unnötig zu erwähnen, dass es die einzige Pizzeria, ja das einzige Restaurant auf Pitcairn ist. Geöffnet hat es nur freitags für ein paar Stunden, aber alle Gäste sind begeistert: dünner Teig, knuspriger Rand, delikat! Wenn man das Langboot wieder besteigt, um die lange Seereise zurück anzutreten, ist, Palmen hin, Exotik her, vermutlich trotzdem ein wenig Erleichterung dabei, diesen skurrilen Ort wieder verlassen zu können. Aber sicher wüsste man das wohl nur, wenn man selbst einmal dorthin führe. Und wer macht das schon? Mit der Maus in der Hand am Monitor kommen Sie ja schließlich auch bestens herum. Und viel preiswerter. Gute Reise!
Josefine Haubold
Josefine Haubold: Wie man mit Instagram und Google Street View durch die Welt reisen kann
[ "Reisen" ]
Reportage
02.06.2022
https://jungle.world//artikel/2022/22/island-web?page=0%2C%2C1
Schwarze Oliven
An allen Ecken grinsen die Politiker von Plakatwänden. Das ist auch in Italien nicht anders, wo die Vorbereitungen für die Parlamentswahlen, die vermutlich Anfang Mai stattfinden werden, jetzt in die heiße Phase gehen. Das rechte Oppositionsbündnis Haus der Freiheit setzt dabei auf den Vorsitzenden der Forza Italia, Silvio Berlusconi, der nun gemeinsam mit der Alleanza Nationale des Neofaschisten Gianfranco Fini und Umberto Bossis Lega Nord die Regierung übernehmen will. Schon seit Monaten hängen in Rom Plakate, die den Oppositionsführer als jungen, dynamischen Kandidaten verkaufen sollen. Auch die noch regierende Mitte-Links-Koalition setzt auf Charisma und Personalisierung der Politik. Ihre Antwort auf Berlusconi heißt Francesco Rutelli. Seit Januar kleben an den Plakatwänden riesige Bilder des tatsächlich noch recht jungen Kandidaten. Und nicht nur die Plakate gleichen sich, auch ihre Botschaften sind ähnlich: Sie versprechen vor allem Sicherheit. Dass der Kampf gegen das Verbrechen ein Thema der rechten Opposition ist, beeindruckt Rutelli nur wenig. Er will die politische Mitte und damit einen Teil von Berlusconis Wählern für sich gewinnen. Und so macht er offenbar ernst mit der Sicherheit. In seinem Wahlprogramm, das er im Dezember vorstellte, kündigte er den Bau neuer Gefängnisse an. Er will die Polizei dezentralisieren und verstärkt Patrouillen einsetzen. Damit auch wirklich jeder Straffällige hinter Gitter kommt, plant der Kandidat der Regierungskoalition, Gerichtsverhandlungen zu beschleunigen. Bei schweren Vergehen sollen nur noch Haftstrafen verhängt werden. Auch ein anderes Reizthema der Rechten hat Rutelli sich zu Eigen gemacht: die Immigration. Er kündigt den Kampf gegen die Schleuser an und meint damit zugleich den Kampf gegen die unkontrollierte Einwanderung. Immigranten ohne Papiere will er durchgängig per Fingerabdruck registrieren lassen. Der Rollentausch geht soweit, dass Rutelli der rechten Opposition vorhält, beim Thema Sicherheit zu versagen. Als Beispiel nannte er das Biondi-Dekret. Diese Amnestie, benannt nach Alfredo Biondi, dem Justizminister in Berlusconis kurzzeitiger Regierung, ermöglichte es 1994, dass »2 700 Personen entlassen wurden, die wegen schwerer Verbrechen inhaftiert waren«, so Rutelli. Dass er neben solchen Topoi der Nulltoleranz auch die Umwelt in sein Wahlprogramm aufgenommen hat, wirkt dabei wie ein Relikt aus alten Tagen. Schließlich gehörte Rutelli in den achtziger Jahren zu den Gründern der grünen Partei in Italien. Als Grüner wurde er 1993 auch Bürgermeister von Rom. Im Rathaus entwickelte sich Rutelli schnell zum Realpolitiker, der vor allem seine eigene Karriere nicht aus den Augen verlor. Während seiner siebenjährigen Amtszeit trat er zu den Democratici über, einem Splitter der ehemaligen Democrazia christiana. Und nicht nur die Partei hat der Karrierist gewechselt. »Piacone« wird der 46jährige genannt, einer, der es allen recht machen will, sogar dem Vatikan. Erst vor kurzem lobte der ehemals antiklerikale Aktivist in einem Fersehinterview den Papst als einen vorzüglichen Mann, der den Lauf der Geschichte und das Bewusstsein der Menschen verändert habe. Vergangene Woche hat Rutelli sein Büro im Campidoglio endgültig geräumt, um sich dem Wahlkampf zu widmen. Seine Chancen auf einen Sieg stehen, trotz seiner populistischen Thesen, nicht besonders gut. In den Umfragen führt das rechte Wahlbündnis Haus der Freiheit. Der Abstand zwischen den Konkurrenten hängt allerdings davon ab, wer die Prognose stellt. Während die Regierungskoalition einen Vorsprung der Rechten von zwei Prozent einräumt, nennt Berlusconis Sprecher Paolo Bonaiuti andere Zahlen: 53,4 Prozent würden derzeit das Oppositionsbündnis Haus der Freiheit wählen, nur 39,9 Prozent die Mitte-Links-Parteien einschließlich der nicht an der Koalition beteiligten Rifondazione comunista. Mitte Januar musste die Regierungskoalition auch noch ihr Projekt einer Wahlreform fallen lassen. Die Veränderung des Wahlmodus galt als eines der wichtigsten Reformvorhaben der Koalition. Per Gesetz sollte noch vor dem Frühjahr das Mehrheits- durch ein Verhältniswahlrecht ersetzt werden. Der Opposition gelang es jedoch, mit 2 000 Änderungsanträgen eine Überarbeitung des Antrags zu erzwingen. Eine Neufassung ist bis zur Wahl nicht mehr möglich. Dabei überraschte die Vehemenz, mit der Berlusconi seine Kampagne gegen die Wahlreform führte. Immerhin beruhte der jetzige Entwurf auf seinem eigenen Vorschlag. Bereits im April 1999 misslang der Versuch des damaligen Premiers Romano Prodi, mit einem Referendum das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Damals rief Berlusconi zum Boykott auf. Die Abstimmung scheiterte, weil nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten teilnahm. An seine alten Forderungen scheint Berlusconi sich nun nicht mehr zu erinnern. »Hier wurde eine falsche Methode angewandt: das Wahlgesetz mitten im Wahlkampf zu verändern«, kommentierte der Fraktionsvorsitzende der Forza Italia, Enrico La Loggia. Tatsächlich ging es nicht um die Wahlreform, vielmehr gab der Streit der Opposition Gelegenheit, noch einmal kräftig die Muskeln spielen zu lassen. Das Haus der Freiheit hat bereits eine groß angelegte Reform für die Zeit nach einem Wahlsieg angekündigt. Für Rutelli bedeutet die gescheiterte Reform, dass er auf die Unterstützung der linken Opposition verzichten muss. Rifondazione comunista hatte sich von einem proportionalen Votum einen höheren Stimmenanteil erhofft. Eine Zusammenarbeit, auf die man sich verständigt hatte, scheint nun nicht mehr möglich. Der Vorsitzende Fausto Bertinotti kommentierte verbittert gegenüber La Repubblica: »Die Wahlreform ist beispielhaft: Der Olivenbaum ist damit beschäftigt, sich immer mehr den Rechten anzugleichen.« Er rechne mit einer Wahlniederlage der Regierungskoalition. Mit schwierigen Koalitionspartnern hat auch Berlusconi zu kämpfen. Im Haus der Freiheit ist der Lega-Chef Umberto Bossi ein unberechenbarer Partner. Mitte Januar opferte Berlusconi, um Bossi ruhig zu stellen, einen der wenigen profilierten Politiker der Forza Italia. Innerhalb weniger Stunden büßte der Mailänder Bürgermeister Gabriele Albertini seine Glaubwürdigkeit ein, als Berlusconi ihn zwang, eine Vereinbarung mit der Lega Nord zu unterschreiben, was Albertini zuvor ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Grenzen scheinen Umberto Bossi nur dadurch gesetzt, dass die Lega ohne das Wahlbündnis nicht über die Fünfprozenthürde kommen würde. Rutelli gibt sich trotz der schlechten Umfragen zuversichtlich. Er hat sich für den Wahlkampf mittlerweile einen erfahrenen Berater besorgt. Stanley Greenberg verhalf bereits Bill Clinton, Tony Blair, Ehud Barak und Gerhard Schröder zum Sieg. Der US-Amerikaner verbreitet Optimismus und weist auf die offensichtlichen Schwächen des Gegners hin: »Mich hat erstaunt, wie wenig Berlusconi als Politiker geschätzt wird. Er hat viele Schwächen, und die Wähler misstrauen ihm.« Im Haus der Freiheit vertraut man indes darauf, dass Greenbergs Zweckoptimismus Rutelli so wenig nützen wird wie dem letzten Kandidaten, den er im Wahlkampf beraten hat. Der hieß Al Gore.
wibke bergemann
wibke bergemann: Wahlkampf in Italien
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Ausland
07.02.2001
https://jungle.world//artikel/2001/06/schwarze-oliven?page=0%2C%2C0
»Es gab allein im April drei Femizide in Berlin«
Keine Einzelfälle. Schild auf einer Demo zum Weltfrauentag in Nürnberg, 8. März 2025 Warum seid ihr heute hier?Maria: Heute sind wir hier wegen eines Vorfalls am 10. April. An diesem Tag wurde in Moabit ein Auto wegen verdächtigen Fahrverhaltens angehalten. Die Polizei fand auf dem Beifahrersitz eine ohnmächtige Frau vor. Es wurde ein Krankenwagen gerufen, aber jede Rettung kam zu spät. Die Obduktion ergab, dass die Frau stranguliert worden war. Der Fahrer (ihr Ex-Partner; Anm. d. Red.) war zum Zeitpunkt der Polizeikontrolle schwer alkoholisiert. Was ist das Ziel dieser Protestaktion?Maria: Das Bündnis protestiert, weil wir es uns als Mitarbeiterinnen der Berliner Antigewaltprojekte zur Aufgabe gemacht haben, uns mittwochs möglichst nach jedem Femizid vor dem Rathaus des jeweiligen Bezirks zu treffen, in dem die Frau getötet wurde, um ihrer zu gedenken. Wir wollen unsere Trauer und unser Entsetzen zum Ausdruck bringen: Jeder Femizid ist un­erträglich. Und wir wollen politische Aufmerksamkeit erregen und unsere Forderungen ­aussprechen.Luise: Auch heute haben wir wieder gemerkt, dass es wichtig ist, in den unterschiedlichen ­Bezirken präsent zu sein. Es gab heute zwei, drei Personen hier, die erzählt haben, dass sie in diesem Bezirk leben und nicht einmal mitbekommen haben, dass hier ein Femizid stattgefunden hat. »Bundesweit waren es in diesem Jahr bislang 27 Femizide. Zusätzlich gehen wir natürlich auch von einer Dunkelziffer aus.« Wie viele Femizide gab es bereits in diesem Jahr?Maria: Es gab allein im Monat April drei Femizide in Berlin, bundesweit waren es in diesem Jahr bislang 27. Zusätzlich gehen wir natürlich auch von einer Dunkelziffer aus. Es ist nicht immer möglich, gleich am folgenden Mittwoch eine Kundgebung anzumelden, wenn an diesem Datum bereits ein Gedenken zu einem Femizid aus der vorherigen Woche geplant ist. Da wir jetzt zum Beispiel gerade hier sind, können wir »erst« nächste Woche in Neukölln sein …  … wo am 18. April ebenfalls eine Frau von ihrem Ex-Partner ermordet worden ist. Wie ist die Situation in euren Arbeitsbereich?Luise: Wir haben allein in Berlin 466 fehlende Frauenhausplätze, das ist seit Jahren bekannt. Wir machen immer wieder darauf aufmerksam, dass Schutzplätze fehlen. Allein in den Häusern müssen wir wahnsinnig viele Frauen abweisen. Es ist ein riesiges Problem, das auch schwer auszuhalten ist. Und wir reden nur von den Frauen, die uns erreichen. Es gibt viele, die nicht einmal wissen, wo sie sich hinwenden sollen.Maria: Ich bin Mitarbeiterin in einer Fachberatungsstelle für Frauen und Flinta*, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Wir sind teilweise so in Zeitnot, dass wir Termine erst in drei, manchmal vier Wochen vergeben können, und wirklich schon im Ersttelefonat abfragen: »Wie akut ist das gerade?« Wenn wir es mit besonders dringenden Fällen zu tun haben, wie beispielsweise beim Gewaltschutz, dann müssen wir Termine vorziehen. Aber sogar das ist nicht immer möglich. Was wünscht ihr euch für die Demonstrationen?Luise: Es ist wichtig, dass wir mehr werden, dass das Problembewusstsein in allen gesellschaftlichen Kreisen wächst und wir so ganz unterschiedliche Leute erreichen, die etwas verändern können. Auf diesen Veranstaltungen sollten nicht immer nur dieselben Leute stehen. * Namen von der Redaktion geändert
Pia Wieners
Pia Wieners: Maria und Luise, zwei Mitarbeiterinnen von Antigewaltprojekten, im Gespräch über ihren Streik und den Kampf gegen Femizide
[ "Small Talk", "Femizid", "Gewalt" ]
Small Talk
08.05.2025
https://jungle.world//artikel/2025/19/es-gab-allein-im-april-drei-femizide-berlin?page=0%2C%2C0
Kein Vergeben, kein Vergessen
"Tlass soll wissen, daß wir ihm nicht vergeben und daß er wegen der Beleidigung getötet wird." Das sagte, nach Agenturmeldungen, ein maskierter Anhänger des PLO-Chefs Yassir Arafat, nachdem eine Gruppe maskierter Palästinenser mit halbautomatischen Waffen auf einer 5 000köpfigen Kundgebung in Gaza-Stadt in die Luft geballert hatte. Der mit den unfreundlichen Worten bedachte Mustafa Tlass ist syrischer Verteidigungsminister, hatte zuvor Arafat wegen Zugeständnissen an Israel kritisiert und ihn - was er später dementierte - als "Sohn von 60 000 Huren" bezeichnet. Arafat versucht derzeit, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), die das mit Israel unterzeichnete Abkommen von Oslo ablehnt, in einen "nationalen Dialog" zu verwickeln. Die PFLP wiederum paktiert mit der islamistischen Hamas, die sich mittlerweile dazu bekannte, vergangene Woche auf israelische Siedler gefeuert zu haben.
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Ausland
11.08.1999
https://jungle.world//artikel/1999/32/kein-vergeben-kein-vergessen?page=0%2C%2C0
Ausgewählt oder erlitten
Am kommenden Dienstag beginnt im französischen Senat die Debatte über das so genannte Ceseda-Gesetz. Das Kürzel bezeichnet »die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und das Asylrecht«. Es handelt sich um die nächste Verschärfung der Einwanderungsgesetzgebung nach jener vom November 2003. Beide Male war der konservative Innenminister Nicolas Sarkozy Autor der Gesetzesvorlagen. Die Nationalversammlung hat dem Vorhaben bereits Mitte Mai zugestimmt. Am Abend desselben Tages begann Sarkozy eine Reise durch mehrere afrikanische Staaten. Der Minister war in den meisten Ländern jedoch unwillkommen. In Benin boykottierten Abgeordnete seinen Empfang im Parlament. Überall kam es zu Demonstrationen und Sit-ins. Aus dem Senegal wurde er gar ausgeladen. Das Gesetzesvorhaben beruht auf zwei Schlüsselbegriffen, l’immigration choisie und l’immigration subie – die »ausgewählte« und die »erlittene Einwanderung«. »Erlitten« meint, dass Frankreich die Anwesenheit unerwünschter Zuwanderer erdulden müsse. Die Gesetzesvorlage schränkt etwa das Recht auf Familienzusammenführung ein. Prekärer wird ferner die Situation der Zuwanderer, die mit französischen Staatsbürgern verheiratet sind. Demnächst können sie erst nach drei Jahren legalen Aufenthalts die französische Staatsbürgerschaft beantragen, und auch nur, wenn sie dem schwammig formulierten Kriterium der »republikanischen Integration« genügen, das jeder Bürgermeister für sich auslegen kann. Gleichzeitig schafft das Gesetz eine neue Elite unter den Zuwanderern, die zum Beispiel sofort das Recht auf Familienzusammenführung wahrnehmen kann. Für sie gibt es den neuen Aufenthaltstitel »Kompetenzen und Talente«. Wer Kapital, ökonomischer oder intellektueller Natur, zum Vorteil der französischen Wirtschaft mitbringen kann, wird willkommen sein; allerdings hängt das Aufenthaltsrecht vom Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ab. Manche afrikanische Länder beschuldigen die französische Regierung deshalb, »die Abwanderung der Eliten« aus ihren Ländern organisieren, sonstige Migranten dagegen fernhalten zu wollen. In Frankreich wiederum versucht Sarkozy das Gesetz als Schutz für die einheimischen Arbeitskräfte zu verkaufen. Etwa nach dem Motto: Wir machen den französischen Arbeitsmarkt für die Konkurrenz der Geringverdiener dicht, dagegen öffnen wir ihn im oberen Bereich. Doch das Lohndumping wird derzeit nicht von der Zuwanderung »gering qualifizierter« Arbeitskräfte befördert; die von ihnen übernommenen Jobs will ohnehin kaum ein Europäer verrichten. Viel entscheidender ist die Öffnung des Dienstleistungsmarkts für den Wettbewerb von Unternehmen aus der ganzen EU. Es ist das Wirken von Firmen und Selbständigen, nicht die Zuwanderung von Lohnabhängigen, das das Lohndumping vorantreibt. Unterdessen ist der französische Arbeitsmarkt noch nicht einmal für Lohnabhängige aus den neuen Beitrittsländern geöffnet worden. Seit dem 1. Mai können Bürger von acht Beitrittsstaaten in Frankreich arbeiten, allerdings nur in Bereichen, in denen ein Mangel an Arbeitskräften besteht, etwa wegen der vorherrschenden Arbeits- und Lohnbedingungen. Fast alle großen Gewerkschaften haben sich indes für die sofortige Öffnung des gesamten Arbeitsmarkts für die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter ausgesprochen. Aus ihrer Sicht verspricht nicht die illusorische Abschottung des nationalen Arbeitsmarkts die Rettung vor Dumpinglöhnen, sondern das Erstreiten gleicher Lohn- und Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten.
Bernhard Schmid
Bernhard Schmid:
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Ausland
31.05.2006
https://jungle.world//artikel/2006/22/ausgewaehlt-oder-erlitten?page=0%2C%2C1
Schwarzer Humor
Der bayerische Innenmister Joachim Herrmann (CSU) wird in der Geschichte der politischen Rhetorik den legendär gewordenen Bundespräsidenten Heinrich Lübke (CDU) beerben. Allerdings gibt es einen gewichtigen Unterschied zum zweiten deutschen Bundespräsidenten. Dem Staatsnotar »Papa« Lübke hat das Publikum die Sentenz »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger« lediglich zugeschrieben. Im Fall Hermanns ist die Verwendung des N-Worts in der Talkshow »Hart aber fair« hingegen belegt. Dabei handelte der Minister doch nur in allerbester Absicht. Mit dem CSU-Ehrenmitglied Roberto Blanco wollte er einen Musterbürger loben. Gemäß der vor 15 Jahren formulierten Logik seines Vorgängers und Parteifreunds Günther Beckstein bräuchten »wir weniger Ausländer, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen«. Zudem haben Witze über die Hautfarbe des Schlagersängers in der CSU ebenso Tradition wie populistische Ausfälle gegen Einwanderer. Blanco selbst amüsierte schon Anfang der Achtziger johlende Parteitagsdelegierte mit dem Kalauer »Wir Schwarzen müssen zusammenhalten«. Ob die CSU einen »Schwarzen« wie ihn seinerzeit auch im Kreis Alt­ötting als Landratskandidaten nominiert hätte? Herrmanns volkstümlicher Bierzeltjargon verrät den Geist seines politischen Herkunftsmilieus. Die Stilistik der CSU ähnelt oftmals einem täglichen »Politischen Aschermittwoch«. Horst Seehofer prägte schon 2011 einen Satz, der heute wie eine Kampfparole aus Dunkeldeutschland klingt. Er wolle sich in der Berliner Koalition »bis zur letzten Patrone« gegen die Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme wehren, kraftmeierte der bayerische Ministerpräsident in Passau. Wer wundert sich also, wenn »es« auch seinem Innenminister einfach mal rausrutscht. Doch bajuwarische Sonderwege in der politischen Rede verstoßen nun gegen den Stilkanon der »modernisierten« Christdemokratie Angela Merkels. Selbst stramme Parteisoldaten wie Norbert Geis (»Warum lasst ihr nicht Deutschland den Deutschen?«) wirkten in der politisch-medialen Landschaft zuletzt arg anachronistisch. Und brennende Flüchtlingsheime sind auch ein Problem für die Verteidiger von Law & Order. Nicht nur deshalb inszeniert Seehofer seine Partei auch als die Speerspitze im laufenden NPD-Verbotsverfahren. Unkontrollierbare Proteste sollen so eingedämmt werden. Im Sinne der konservativen CSU-Kernklientel äußert Hermann angesichts der Lage am Münchner Hauptbahnhof gegenwärtig seinen Unmut über die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Allerdings gibt Merkel mit Blick auf schwarz-grüne Optionen mit dem Lob der »Willkommenskultur« die Tonlage vor. Hier muss die CSU partiell Rücksicht nehmen – und dennoch ihr Milieu besänftigen. Dieser Widerspruch wird weiter für rhetorische Meisterleistungen sorgen. Die bayerische Sozialministerin Emilia Müller hat Merkels »buntes« Leitmotiv kürzlich denn auch recht eigenwillig interpretiert. Mit der Frage »Sie wissen aber, dass sie zurückmüssen?« begrüßte Müller einen Einwanderer aus dem Kosovo. Auf anschließende Streicheleinheiten à la Merkel verzichtete die Ministerin. Und zeigte somit nicht nur dem Neuankömmling, welch wunderbare bayerische Traditionen in der politischen Rhetorik und Realität auch künftig gepflegt werden sollen.
Richard Gebhardt
Richard Gebhardt: Die Willkommenskultur der CSU
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Inland
10.09.2015
https://jungle.world//artikel/2015/37/schwarzer-humor?page=0%2C%2C0
Demontiert die Mythen!
Für die Linke in der alten BRD war das Coming-out der »selbstbewussten Nation« nach 1989 ein zwar verheerender Katalysator, die Absetzbewegung aus den linken Organisationen hatte aber bereits vorher begonnen. Dieser These von Felix Klopotek (Jungle World, 41/00) ist zuzustimmen. Doch in dem Versuch, allgemeine Entwicklungen in der Linken zu beschreiben, verliert er - ebenso wie Stefan Wirner (Jungle World, 40/00) - die Praxis linker Gruppen im vergangenen Jahrzehnt aus dem Blick. Um aber die Fehler und Erfahrungen von Linken in der BRD zu reflektieren, sollte man zuerst mit der eigenen Geschichte beginnen - wie in meinem Fall mit der des Kommunistischen Bundes (KB). Die Organisation galt als eine der einflussreichsten K-Gruppen, die in Folge der Studentenbewegung entstanden waren. Von den meisten anderen Strömungen unterschied sie sich vor allem durch ihre pessimistische Analyse der politischen Perspektiven in Westdeutschland. Bis zum Ende der siebziger Jahre dominierte im KB die so genannte Faschisierungsthese. Demnach sah der KB - im Gegensatz zu anderen linken Organisationen dieser Zeit - »die Massen« in der BRD nicht auf dem Weg nach links. Vielmehr konstatierte er eine »schrittweise Faschisierung von Staat und Gesellschaft«, mit welcher die »kommenden Kämpfe« der Arbeiterklasse (später der Neuen Sozialen Bewegungen) unterdrückt werden sollten. Deshalb war die praktische Politik des KB vom Antifaschismus und von der Verteidigung demokratischer Rechte geprägt. Auch wenn Faschisierung fälschlicherweise damals nur als Machination der Herrschenden begriffen wurde, entscheidend war, dass die Situation in der BRD als Entwicklung nach rechts analysiert wurde, die es zu bekämpfen galt. Doch der gesellschaftliche Trend, der sich nach dem Regierungsantritt von Helmut Kohl 1982 mit der »geistig-moralischen Wende« auch ideologisch durchsetzen konnte, wurde nicht mehr als zusammenhängender Prozess verstanden. Das lag an einem verkürzten Faschismusbegriff: So wurde 1982 im Arbeiterkampf, der Zeitung des KB, die Regierungsübernahme als Vorstufe eines autoritären Staates unter Franz-Josef Strauß angesehen und das Augenmerk fast ausschließlich auf Neonazis und Repressionsapparate gerichtet. Die entscheidenden Veränderungen fanden jedoch in gesellschaftlichen Bereichen statt, für die die »AG Ausländer« zuständig war - oder niemand so richtig, wie im Falle der Umdeutung der deutschen Naziverbrechen. Als 1985 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl über den SS-Gräbern von Bitburg die Hand des US-Präsidenten Ronald Reagan schüttelte, wurde dies nicht als Ausdruck einer nationalen Formierung begriffen. Im selben Jahr wendeten sich Teile des KB von der Faschisierungsthese ab, die noch weitgehend auf der vulgär-marxistischen Theorie des bulgarischen Generalsekretärs der Komintern, Georgi Dimitroff, beruhte. Stattdessen wurde die Verfolgung der Arbeiterbewegung oder der radikalen Linken als Beleg für die Entstehung eines bürgerlichen Kontrollstaates interpretiert. Kohls Wende wurde nicht mehr als Vorstufe eines neuen Faschismus, sondern als bürgerliche »Normalisierung« der BRD betrachtet. An diese Normalität begann sich in den achtziger Jahren auch die Linke zu gewöhnen. Während viele den Grünen beitraten oder in Nischen zu überwintern versuchten, wurde die westdeutsche Gesellschaft nationalistischer. Das Fernsehen spielte zum Sendeschluss die Nationalhymne, in Schulen wurde sie auch wieder gesungen, verbunden mit einem Rollback gegen linke Lehrinhalte. Der Ausgrenzungsbegriff »Asylant« wurde propagiert, ein Ausländerproblem herbeihalluziniert. Doch alle diese Entwicklungen kamen in der These von der angeblichen Normalisierung nicht vor. Die Annexion der DDR im Herbst 1989 erwischte den KB eiskalt. Diejenigen, die vorher von gesellschaftlicher Normalisierung sprachen, grenzten sich von der beginnenden antideutschen Kritik im KB ab. Eine Erklärung des Leitenden Gremiums des KB unter dem Titel »Denk ich an Deutschland in der Nacht ...« läutete die Spaltung des KB ein. Darin wurde ein »Selbstbestimmungsrecht der Deutschen« bestritten. Nach einem Monat Streit war diese antideutsche Position dort, wo sie bis zum Ende des KB blieb - in der Minderheit. Die Mehrheit hingegen kritisierte zwar ebenfalls die Annexion der DDR, bejahte aber das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« im allgemeinen und auch das eines deutschen Volkes. Beide Richtungen schlossen einander in ihren praktischen Konsequenzen aus, was 1991 zur Spaltung des KB führte. Während sich die Mehrheit an der PDS orientierte, versuchte die KB-Minderheit, sich in der Gruppe K zu reorganisieren. Dies gelang nur kurzfristig während der Nie-wieder-Deutschland-Kampagne Anfang der neunziger Jahre. Im Oktober 1995 löste eine Vollversammlung die Gruppe K schließlich auf. Übrig blieb nur die Zeitschrift bahamas, das ehemalige Zirkular der Gruppe. Die KB-Mehrheit beschränkte sich in den folgenden Jahren darauf, einfach weiterzumachen wie zuvor. Entsprechend lautete der Titel der Jubiläumsausgabe ihres Zentralorgans 1997: »25 Jahre ak - wir machen weiter.« Der Grund, an dem der KB zerbrach, nämlich der Umgang mit dem Deutschtum nach 1989, kam nicht zur Sprache. Aus dem Arbeiterkampf wurde analyse & kritik. Zum Nato-Krieg gegen Jugoslawien brachte ak im April 1999 sogar die Überschrift »Stoppt den Krieg! Rettet die Menschen im Kosovo!« zustande. Die Chance, aus der Geschichte des KB in ihrer spannenden Widersprüchlichkeit zu lernen, wurde verschenkt zugunsten verklärender Inszenierung von Identität und Tradition. Die Geschichte des KB wurde allein dafür eingesetzt, das heutige Produkt ak zu legitimieren und mit einer Herkunftslegende interessant zu machen. Die Abgrenzung von der Gruppe K wurde dabei noch ergänzt durch inhaltliche Beliebigkeit beim Thema Volk und Nation. So wurde in ak über eine »russische Volksseele« lamentiert (1997) oder der Antisemitismus gegen AussiedlerInnen im ostdeutschen Dorf Gollwitz mit den Ressentiments in der Ex-DDR gegenüber Westdeutschen gleichgesetzt (1998). Trotz der nationalen Wiedergeburt nach 1989 werden Nation und Rassismus - ebenso wie zuvor bereits das Thema Patriarchat - als Teilkämpfe einsortiert und entsprechenden Spezialseiten in ak zugeordnet. Ein Genosse der Gruppe K machte sich bei den Nachfolgegruppen des KB unbeliebt, als er Ende 1991 schrieb: »Im ehemaligen KB wurde Rassismus nicht als eine theoretische Herausforderung verstanden, sondern bis heute wird die Beschäftigung mit ihm den SpezialistInnen der entsprechenden AG überlassen, im besten Fall wird Antirassismus mit Antifaschismus gleichgesetzt. Wenn auch die Nachfolgegruppen des KB mit den Attributen weiß, deutsch und überwiegend männlich beschrieben werden können, wird das von den meisten als selbstverständlich und nicht als bezeichnend wahrgenommen. (...) Der sich abzeichnende Metropolenrassismus ist das Thema der nächsten Jahre. Eine Linke und ein AK, die nicht bereit sind, darauf entsprechend zu reagieren, auf die ist geschissen.« Beide Flügel des KB reagierten auf diesen Artikel nicht. Die Mehrheit sah in dem Beitrag nur eine weitere Zumutung, die Mitglieder der Gruppe K waren ebenso beleidigt, weil auch sie kritisiert wurden. So geben KB-Mehrheit und Gruppe K leider gute Beispiele dafür, dass mangelnde Selbstreflexion und Behäbigkeit nicht nur bei traditionellen, sondern auch bei antideutschen Linken anzutreffen sind. Einer Rekonstruktion emanzipatorischer und praktischer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse ist aber ohne eine Kritik an der Linken nicht möglich. Deshalb ist auch eine Demontage des Mythos von der bis 1989 aufstrebenden Neuen Linken ebenso wichtig wie eine Reflexion, welche die eigenen Biografien und Fehler nicht verschweigt.
Gaston Kirsche
Gaston Kirsche: Zehn Jahre deutsche Einheit
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Disko
11.10.2000
https://jungle.world//artikel/2000/41/demontiert-die-mythen
Die Frische alter Ideen I
Kot & Köter. Wir haben euch was mitgebracht: Hundehass! Hundehass! Mehr als 20 Jahre nachdem sich der Hamburger Journalist Wulf Beleites einfallen ließ, eine Zeitschrift für Hundefeinde zu gründen, ist das Heft nun erschienen. »Kot & Köter macht keinen Hehl daraus, dass die Autoren eindeutig etwas gegen die Vierbeiner und ihre Halter haben. Kot & Köter versteht sich dabei jedoch nicht als engagiertes Zentralorgan aufgebrachter ›Elterninitiativen gegen Hundehäufchen auf Kinderspielplätzen‹, sondern als unsentimentale und intelligente Abrechnung mit dem Mythos vom besten Freund des Menschen.« Die erste Ausgabe wurde mittels Crowdfunding finanziert. 1 000 Exemplare hat Beleites drucken lassen, das Heft zeichnet unter anderem eine »Kleine Phänomenologie des Nuttenpudels«, die sich der »bedingungslosen und schamfreien Allianz zwischen Pudel und Rotlicht« widmet. Kot & Köter soll vierteljährlich erscheinen und vielleicht sogar am Kiosk erhältlich sein. Vermutlich einsortiert neben Titanic.   OKO Die Frische alter Ideen II Sharknado 2. Schon der erste Teil war eine Zumutung und sollte auch nichts anderes sein: In »Sharknado« sog ein Tornado Haie aus dem Meer und ließ sie über Los Angeles hinab regnen. Mit Ian Ziering (»Beverly Hills, 90210«) und Tara Reid (»American Pie«) wurden Giganten der Schauspielkunst engagiert, um dem hanebüchenen Plot Leben einzuhauchen. Dass es eine Fortsetzung des Films geben wird, ist allein dem Internet zu verdanken. Denn in sozialen Netzwerken erwies sich »Sharknado« als großer Erfolg. Über den Titel des zweiten Teils wurde denn auch via Twitter abgestimmt. Die Fans entschieden: »Sharknado 2 – The second one« soll er heißen – besser nicht am Erfolgsmodell rütteln. Wie bei jeder vernünftigen Trash-Produktion ist der Hintergrund des Films ernst. Die Killerbestien wirbeln nämlich allein aufgrund des Klimawandels durch die Lüfte. Co-Star Judah Friedlander betrachtet »Sharknado 2« als das »Bedeutendste, das jemals zum Klimawandel gemacht wurde«. Wer würde daran zweifeln?   OKO Die Politik der Dinge I Kaffeedurst. Der mächtige Emaillebottich aus Moskau, in dem sich das Kaffeearoma so monumental entfaltet? Oder lieber die geklaute Tasse der Deutschen Bahn, die noch der feinsten Bohne den Geschmack nassen Filterpapiers verleiht? Die Wahl der Lieblingstasse sagt ja so viel über unseren Charakter aus. Weshalb man folgerichtig fragen muss: Was bitte sollen das für Leute sein, die sich eine der sogenannten Hitler-Tassen zugelegt haben? Und wer ist überhaupt verantwortlich dafür, dass Hitlers aufgedrucktes Konterfei ignoriert wurde und das Bielefelder Möbelhaus Zurbrüggen 5 000 Stück aus China hat kommen lassen? Erst eine Kundin wunderte sich über das Motiv, der Laden startete eine Rückrufaktion. Mittlerweile interessiert sich nicht nur das Bonner Haus der Geschichte für die Tasse, sondern auch der Staatsschutz. Schließlich handelt es sich um verfassungswidrige Kennzeichen, die hier durch die Hintertür auf die Frühstückstische deutscher Rentner gelangen. Bitte ermitteln Sie schnell!   OKO Die Politik der Dinge II Schwäne. Wie der Telegraph berichtet, waren die Attacken nicht mehr hinnehmbar, weshalb die Warwick University zum letzten Mittel griff und einen Zaun um die Schwäne zog. Zwei Studentinnen, eine aus Indien, eine aus Italien, hätten besonders unter den feindseligen Übergriffen der langhalsigen Aggressoren zu leiden gehabt. Beide gaben an, dass vor allem Ausländer zum Ziel der Angriffe geworden seien. Was ist das nur für eine schreckliche Welt, in der selbst die Tiere schon rechtsextrem werden?   OKO
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dschungel
17.04.2014
https://jungle.world//artikel/2014/16/die-frische-alter-ideen-i
Deutschland, du Prolet!
In einem holländischen Zeltlager trafen sich im August 1928 rund 500 mehr oder minder junge Menschen aus 30 Ländern. Sie wollten einen »Weltbund der Jugend« gründen. Die Deutschen bildeten die größte Gruppe, in der Mehrzahl waren sie Mitglieder von sozialistischen, linksbürgerlichen und pazifistisch-religiösen Jugendgruppen, einige bündische und »jungnationale« Jugendbewegte waren allerdings auch mit dabei. Neben den ebenfalls stark vertretenen Angloamerikanern und Holländern waren auch einige Angehörige von antikolonialen Bewegungen und Teilnehmer aus den Ländern anwesend, die man später »die Dritte Welt« nennen sollte. Für China waren Abgesandte der Kommunisten wie der Kuomintang gekommen, ein Mexikaner war ebenso da wie ein Syrer und Afrikaner. Ein Mitarbeiter Mahatma Gandhis las stilecht im grobgewebten Leinenanzug ein Telegramm des Meisters vor. Es hatte zuvor eine Reihe vorbereitender Jugendtreffen gegeben, so auf der Freusburg 1927, wobei auch zwei Inder und ein philippinischer Student den Weg ins Siegerland gefunden hatten. Diese wenigen Ausländer, die weder aus Europa noch aus den USA kamen, faszinierten natürlich ungeheuer. In der Regel waren es Männer, die irgendwo in Europa studierten und nun als Repräsentanten nicht nur ihrer Länder, sondern ganzer Kontinente galten. Viel mehr an Möglichkeiten, mit einem »echten« Inder oder Chinesen zu sprechen, gab es gerade für deutsche Jugendliche kaum. So verbreitete sich auf solchen Treffen ein erster Hauch von »One World« rund um das Lagerfeuer. Beim Treffen 1928 im holländischen Ommen entluden sich bereits zu Beginn die ersten Spannungen. Da schlossen sich die deutschen Teilnehmer lautstark dem Protest einiger Kommunisten gegen die ihrer Meinung nach zu »phrasen­haft(en)« bürgerlich-pazifistischen Eröffnungsreden an. Ein Redner entdeckte prompt »hinter der englisch-holländischen Kongressleitung die Werkzeuge der imperialistischen Regierungen«. Auf der einen Seite standen die angloamerika­nischen und westeuropäischen Gruppen, auf der anderen Seite die Deutschen, die mit den Vertretern der kolonialisierten Länder zusammenrückten. Bei einem separaten Treffen zwischen den deutschen Teilnehmern und den Vertretern der Kolonialländer nutzte ein deutscher Redner dann die Gelegenheit und reihte Deutschland unter die imperialistisch unterdrückten Kolonien ein. Nicht nur über die Anwaltschaft für alle unterdrückten Nationen und die Notwendigkeit einer »entschiedenen anti-imperialistischen Haltung«, sondern auch in der einhelligen Ablehnung der »formalen« bürgerlichen Demokratie, die man von Briten und Amerikanern repräsentiert sah, war man sich innerhalb der deutschen Delega­tion einig. Was wiederum Westeuropäer und Amerikaner zeitweise dazu brachte, alle deutschen Teilnehmer schlichtweg für Kommunisten zu halten. Die unterschiedlichen politischen Agenden zeigten sich deutlich in den Arbeitsgemeinschaften auf dem Treffen. Während die Angloamerikaner und Holländer die Mehrheit in der politischen Kommission innehatten und hier über eine Reform des Völkerbundes diskutierten, kamen die soziale wie die wirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft, in denen die Deutschen und Vertreter der Kolonialländer dominierten, zu dem Schluss, »dass der dauernde Weltfrieden von der Beseitigung des Imperialismus in all seinen Formen abhängt«. Bereits beim Treffen auf der Freusburg im Vorjahr hatte sich diese Haltung der deutschen Teilnehmer abgezeichnet. In einem Reader finden sich Texte, deren Formulierungen und Worthülsen weit voraus in die Zukunft und auf den Politjargon der Protestbewegungen hinweisen; etwa wenn Ludwig Oppenheimer von den »bereits in der Weltpolitik offenbar werdenden Tendenzen und Ansatzpunkte(n) zu einer antiimperialistischen Einheitsfront« sprach und erklärte, wie sich »am Rande des Systems« bei den »gedrücktesten Völkern und Klassen« die »revolutionären Gegenkräfte« sammelten. Dies im Gegensatz zu der »relativ gesicherten Sphäre der Völker des imperialistischen Kulturkreises« – später hätte man wohl Metropole dazu gesagt. Karl August Wittvogel, damals noch ein strenger Kommunist, war in dem Reader ebenso vertreten wie Wolf Abendroth. Beide warnten vor pazifistischen Thesen, die nur dem Imperialismus nützten. Nationale Verteidigungskriege des befreiten Proletariats sowie nationale Befreiungskriege müsse man nämlich unterstützen. Dass man sich schon damals von rechts bis links einig werden konnte, was den »Imperialismus« betraf, machte der Angehörige eines »jungnationalen« Bundes deutlich, als er in seinem Beitrag schrieb: »Das ganze deutsche Volk ist heute Weltproletariat – oder ein Proletarier unter den Völkern! (…) Die gelben, braunen und schwarzen Proletariervölker sind jedoch heute denselben Herren untertan, wie das deutsche Volk – den Siegern von Versailles! Und wer die Freiheitsbewegung der farbigen Völker als berechtigt anerkennt, muß auch den Freiheitswillen des deutschen Volkes anerkennen und die Berechtigung zum Freiheitskampf!« Deutschland als unterdrückter »Weltproletarier« war ein weit verbreiteter Topos im Denken der Konservativen Revolution und der Nationalbolschewisten. Ein Bündnis mit Aufständischen der Kolonien und des Ostens hatte man ja von deutscher Seite bereits im Ersten Weltkrieg an­gestrebt und vor allem auf einen »Heiligen Krieg der Moslems« gehofft. Nach der Niederlage sollte eine weitere Weltmission Deutschlands in Sachen »Volksbefreiung« sich erneut auf ein solches Bündnis stützen. Eine Fortsetzung fand diese Strategie im Zweiten Weltkrieg, als Gandhis Rivale Subhash Chandra Bose mit seinem Radio Free India von Berlin aus so »antiimperialistische« wie antibritische Aufstandspropaganda sendete. Der Antiimperialismus als Freibrief für einen deutschen »Freiheitskampf« – gegen die »Sieger« von Versailles, den westlichen Parlamentarismus, das Empire oder den angloamerikanischen »Turbokapitalismus«. Die Bezeichnungen wechselten wie die Jugendmoden, die Fixierung blieb. Karl Rössel, der Kurator der Berliner Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«, hat im Interview mit der Jungle World (36/09) die Frage gestellt, warum von den unzähligen »Nahost-Experten« keiner »auf die Idee gekommen ist zu untersuchen, welchen Einfluss es auf den Nahost-Konflikt hatte, dass er nach 1945 wesentlich und an führenden Stellen von Faschisten geführt wurde oder von Sympathisanten der Nazis«. Einen zeitgenössischen Autoren gab es allerdings, den diese Frage bewegt hat, es war jedoch kein Deutscher, sondern ein Amerikaner armenischer Herkunft. Er ist der Frage nach der Rolle der Nazis im israelischen Unabhängigkeitskrieg sehr konkret nachgegangen, nämlich undercover. John R. Carlsons Buch »Cairo to Damascus« erschien 1953 auf Deutsch im Verlag der von Eugen Kogon mitherausgegebenen Zeitschrift Frankfurter Hefte. Die Lektüre des nahezu vergessenen Werks ist, um es gelinde zu sagen, stellenweise etwas verstörend. Carlson schloss sich im Jahr 1948 unter falschem Namen in Kairo dem Jihad gegen Israel an. Doch der umjubelte Aufbruch der uniformierten »Grünhemden« scheiterte etwas kläglich bereits am Suez-Kanal. Auf seiner Weiterfahrt begegnete Carlson dann in Gaza und Damaskus den versprengten Feldwebeln und Leutnants des Afrikakorps, die den Krieg nun mit – aus ihrer Sicht eher un­fähigen – Arabern gegen das entstehende Israel weiterführten. Der notorische Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, organisierte dafür die Flucht der angehenden deutschen Jihadisten aus den britischen Kriegsgefangenenlagern in Ägypten. Die ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Kollaborateure vom Balkan erzählten Carlson offenherzig von ihren Angriffen auf jüdische Siedlungen, vom Juden­töten oder ihren Ausbilderaufgaben bei der syrischen Armee. Den Sold holte man sich im Büro des Großmuftis ab. Die Vorstellung, der Kampf gegen das »Imperium« heilige automatisch den Kämpfer, war eine weitere Generation später bei Teilen der Achtundsechziger-Bewegung Konsens. Über die dubiosen Wurzeln der arabischen Revolution und ihre frühen Waffenbrüder schwieg man. Der Gedanke, dass Deutschland »besetzt« sei, war dagegen en vogue. Dokumente aus dieser Zeit erscheinen heute recht bizarr. Eine Ausgabe der Darmstädter Studentenzeitung vom November 1974 etwa beschäftigt sich ein Jahr nach dem israelisch-ägyptischen Oktoberkrieg mit dem Nahen Osten. Der Südjemen befand sich noch »auf dem Wege zu einer sozialistischen Gesellschaft«, im Oman gab es eine richtige Befreiungsbewegung, die PFLOAG, und eine Analyse über »Perspektiven für die Palästinafrage« konstatiert einen stetigen Niedergang Israels und für Ägypten den Ausbau seiner »historisch gewachsene(n) dominante(n) Stellung in der arabischen Welt«. Ein Reisebericht aus Israel ist bebildert mit einem Traktor, auf dem ein Bewaffneter mitfährt: »Wildwest-Revival in Israel: bewaffnete Zivilisatoren im israelisch-syrischen Grenzland.« Neben den Analysen und Verlautbarungen von längst dem Gedächtnis entschwundenen nahöstlichen Politkadern gibt es ein hochinteressantes Fotodokument. Offensichtlich wollte jemand auch mal etwas Agitprop einfließen lassen. Das ganzseite grobkörnige Bild in Schwarzweiß zeigt eine Nahaufnahme Moshe Dayans, offensichtlich in einem Unterstand, er hält ein Fernglas bereit. Zu seiner schwarzen Augenklappe ist eine zweite über das andere Auge hinzugemalt. Der kurze Text darunter, in der Aufmachung einer Nachrichtenagenturmeldung, lautet: »Verteidigungsminister Mosche Dajan bei der Besichtigung der vorgeschobenen Israelischen Linien 10 km westlich von Wien (Österreich)«, vordatiert auf den März 1976. Was für ein Traum. Nicht mehr die Türken, sondern die Israelis vor Wien. Das wäre endlich der wahre deutsche Volkskrieg geworden.
Oliver M. Piecha
Oliver M. Piecha: Ein Rückblick auf die Geschichte des Antiimperialismus
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Lifestyle
24.09.2009
https://jungle.world//artikel/2009/39/deutschland-du-prolet?page=0%2C%2C3
Vorwärts, egal wohin
Alljährlich in der heißen Jahreszeit wird Jörg Haider zur Rettung der im Sommerloch gelangweilten Journalisten. Wenn alle anderen Politiker sich auf Urlaub befinden, das Parlament geschlossen ist und die innenpolitischen Hahnenkämpfe ruhen, mimt Haider für jeden, der es haben will, das politische Monster von Loch Ness. Er taucht kurz aus seiner Residenz im Kärntner Bärental auf, plaziert neueste Ideen in den Zeitungsspalten und verursacht so in der Alpenrepublik heftige Ventilation. Dieses Mal ist es ihm besonders gut gelungen. Am vergangenen Freitag kündigte der Chef der österreichischen Freiheitlichen (FPÖ) an, entweder seine Partei grundlegend zu reformieren oder eine neue zu gründen oder ganz aus der Politik auszusteigen oder Bundeskanzler werden zu wollen oder doch wieder den Posten des Kärntner Landeshauptmannes anstreben zu wollen. Nichts Genaues weiß man nicht. Die wichtigste "neue" These Haiders aber ist eine, die sich aus der Entwicklung seiner FPÖ in den letzten Jahren ergibt: Haider hat erkannt, daß Parteien "out" sind. Schon seit längerem propagiert er die FPÖ als Volksbewegung, die für die Gesellschaft und den Bürger ficht und nicht mitmacht bei den Spielchen der Mächtigen um Posten, Macht und Knete. Die FPÖ soll ein Anwalt für die "Anständigen und Tüchtigen" sein. Kurzer, aber einprägsamer Slogan: "Einfach ehrlich, einfach Jörg". Doch leider kam es im Frühling dieses Jahres zum publicityträchtigen Exitus dieser Selbstdarstellung: Der FPÖ-Abgeordnete Peter Rosenstingl prellte Banken und Partei um Millionen und verfügte sich ins sonnige Brasilien. Der Skandal zog Kreise, andere Parteifunktionäre entpuppten sich als Komplizen. Vorbei war's mit dem Mythos der Volksbewegung. Die "Ehrlichen und Tüchtigen" mußten erkennen, daß die oberehrliche FPÖ sich zu einer mindestens ebenso korrupten und etablierten Partei gemausert hatte, wie es die anderen längst sind. Daß Haider jetzt die Thesen von der Volksbewegung ausgräbt, ist die Trotzreaktion auf diese Schubladisierung durch Wähler und Medien. Ebenso durchschaubar ist seine Ankündigung, eine neue "Bewegung" zu gründen. "Die Liebe gehört nicht der Partei, sondern dem Land. Wenn es mit der FPÖ nicht geht, kann man es mit einer anderen Bewegung machen", verlautbarte er. Haider emanzipiert sich so von der "Verparteiung der FPÖ" und versucht den Alleindurchmarsch als Robin Hood. Auch seine Parteifreunde sollen dadurch gewarnt sein: Die Geduld des Chefs mit seinen Lakaien ist am Ende. Sollen sie sich doch einen anderen Führer suchen. Haider jedenfalls braucht nicht unbedingt die Basis einer Partei, um sich durchzusetzen. Er traut sich zu, als Bürger-Ayatollah zu agieren. Nur seinen Idealen verpflichtet und dem Dienst am Wähler: "Der Bundesobmann rackert sich bis zur Erschöpfung ab, den anderen ist aber wichtig, Posten zu haben." Aber auch Haider ist nicht ganz frei von der Sehnsucht nach einem einflußreichen Posten: Er möchte unbedingt Landeshauptmann von Kärnten werden, aber auch weiterhin in der Bundespolitik mitmischen und den Hüpfer an die Spitze der Bundesregierung ebenfalls wagen. Österreichs Medien stehen nach diesen etwas wirren Aussagen des FPÖ-Chefs vor einem Rätsel: Der Mann ist unberechenbar geworden, und wo er in den nächsten Monaten mitmischen will, weiß er wohl selbst nicht mehr. Lassen wir uns überraschen.
marcel noir
marcel noir: Haider will Robin Hood sein
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Ausland
19.08.1998
https://jungle.world//artikel/1998/34/vorwaerts-egal-wohin?page=0%2C%2C2
Clubs sind geschlossene Anstalten
Als sich Anfang der Neunziger die ersten Vorläufer von dem, was heute Technobewegung genannt wird, in Kellern einfanden und begannen, Partys zu feiern, ohne vorher eine Lizenz zu beantragen, stellte sich die Frage nach Party und Politik schon einmal. Versprengte Philosophiestudenten fanden sich in Kellern und Fabrikgebäuden wieder, schauten sich an und sagten: Hey, das ist illegal, ist das nicht auch Politik? Mußte es ja sein, wo es illegal war. Und so sprach man bald von Nomadentum, das Wort "Bewegungslehre" fiel, sich Räume nehmen, zweckentfremden, gegen die Bedienungsanleitung benutzen, überhaupt, Subversion - das volle Programm. Doch bald verlief sich das wieder. Der Reiz des Illegalen war weg, die Clubs dann auch nur noch halblegal, weil als Galerie betrieben, es wurde weiter ausgegangen, das eine oder andere Sprachrohr wurde gegründet und wieder eingestellt. Und jetzt scheint sie wieder da zu sein, die Frage nach den illegalen Clubs und der Politik, nach der Party und dem öffentlichen Raum, Hedonismus und Geschlechterrolle und Kontrolle. Doch den politisch korrekten Club gibt es nicht. Partys machen zwar Spaß, aber als Geheimrezept gegen andere sinnlos gewordene Politikrituale taugen sie nicht. Clubs sind keine öffentlichen Räume. Wie der Name schon sagt, sind Clubs Räumlichkeiten, die nicht für jeden zugänglich sind, sondern nur den Mitgliedern. Daß die Organisation der Mitgliedschaft nur in den seltensten Fällen über Ausweise und regelmäßig abgebuchte Beiträge funktioniert, ändert daran gar nichts. Zum Betreten des Clubs ist berechtigt, wer am Türsteher vorbeikommt. Und - egal ob legaler oder illegaler Laden - am Türsteher kommt nicht der vorbei, der am meisten Geld hat, sondern derjenige, der den jeweils geltenden Code erfüllt. Doch selbst wenn der Türsteher nur den Eintritt kassiert und jeden hereinläßt - Clubs funktionieren über einen Drinnen/Draußen-Mechanismus. Und wer drinnen ist, ist Akteur und hat sich zu verhalten. In Clubs geht es um die Definitionsmacht in Style-Angelegenheiten, und das ist in erster Linie die Frage: Wer oder was ist cool, und wer oder was ist es nicht. Und wer oder was cool ist, entscheidet jeder Abend in einem komplizierten Spiel aus dem Einhalten und dem Überschreiten der Regel aufs neue. Und das erschwert das Politisieren von Styles ungemein. Coolness ist ein dynamisches System und jede Art von Festschreibung, von Verbalisierung, von Eindeutig-Machen führt sicher in die Uncoolness. Ein Club ist kein Konzertsaal. Da kann jeder hereinspazieren, der eine Eintrittskarte kauft. Wie das Publikum aussieht, was getrunken und in welcher Pose herumgehangen wird, ist relativ gleichgültig: Was zählt, ist, was auf der Bühne passiert. Dort werden stellvertretend Dinge verhandelt, eine Haltung vorgeschlagen, und damit kann man sich identifizieren oder nicht. Die Vorstellung von der "guten Kunst" ist einfacher zu politisieren als die vom "guten Leben". Clubs gehen anders. Legale Clubs unterscheiden sich dabei in ihrer Funktionsweise grundsätzlich wenig von illegalen. Die einen sind natürlich bis zu einem gewissen Grad cooler als die anderen, aber irgendwann nervt es die Betreiber genauso, ständig Ärger wegen der fehlenden Lizenz befürchten zu müssen, wie es die Gäste satt bekommen, sich Putz in den Gin-Tonic rieseln zu lassen. Ganz davon abgesehen, daß ein kurzer Blick in die jüngere Geschichte des Berliner Nachtlebens genügt, um festzustellen, daß die Kommerz-Abzocker-Schweine-Schuppen von heute gestern noch Undergroundläden mit mächtig viel Credibility waren. Eine gewisse Zeit als illegaler Laden läßt sich eben nicht zuletzt prima in Authentizität konvertieren. Selbst, wenn das nicht beabsichtigt ist, wird die Illegalität spätestens nach ein paar Wochenenden als das Besondere konsumiert. Selbst, wenn man seine Bar in die eigene Wohnung verlegt, kommt nach einem halben Jahr die Szeneredakteurin von Marie-Claire vorbei, weil es sich irgendwie herumgesprochen hat, daß da dieser hippe, illegale Laden ist. Das ist nicht weiter tragisch. Denn nur, weil Partys in unerlaubten Hallen feiern illegal ist, ist es eben noch lange nicht politisch. Das wußte Marusha schon 1991, als sie in ihrer Sendung auf DT 64 sagte: "Es gibt keinen Underground mehr und auch keinen Overground. Es gibt nur noch Ground." Genau auf diesem Ground findet das Clubleben statt. Daß die ökonomische Unabhängigkeit der ganzen Kleinen von den Großen, das ganze Netzwerk von DJs, Kleinclubbetreibern, Kleinlabelmachern, Fanzineschreibern, Dealern und wer sonst noch dabei ist, trotz aller guten Gesinnung dann eben doch Kleinunternehmertum im Sinne von Innovativ-die-Dienstleistungsnische-Füllen betreibt, muß wohl so sein. Sich durch eine Independence-Rhetorik über die politische Ökonomie der Subkultur in die Tasche zu lügen, allerdings nicht. Ein von den linken Apologeten der Clubkultur besonders gern als Errungenschaft ins Feld geführtes Gerücht war und ist das Spielen mit Geschlechteridentitäten. Wo keine Bühne mehr ist, sondern nur noch Tanzfläche, und alle Männer eine Pille intus haben und sich deshalb nicht mehr die ganze Zeit am Sack kratzen, sondern sich fühlen wie auf rosa Watte, da soll sie möglich sein, die Auflösung der Geschlechterrollen. Doch die konkreten Clubsituationen spielen sich dann doch wieder klar in den alten Rollengrenzen ab: Die Mädchen stehen hinter der Bar und die Jungs drehen an ihren Plattentellern. Zwar ist der DJ nicht mehr der leidende oder kämpfende Rock-Macker, doch an die Stelle der Bühnenpose ist das Spezialwissen um die richtige Schallplatte getreten, an die Stelle des Gitarrensolos der perfekte Mix. Das macht zwar immer noch mehr Spaß als ein Konzert, aber Identitäten, Geschlechterrollen gar, lösen sich hier nicht auf. Jenseits all dessen ist es natürlich trotzdem tausendmal wünschenswerter, wenn die Linke zum Ausgehen mehr als nur ihre Gesinnung mitnimmt, weil dann nicht mehr alle in schwarzen Kapuzenpullovern und Lederjacken kommen. Und die glamourfreie Zone einer Antifa-Soliparty betritt man ohnehin nur noch aus Solidarität. Und gesetzt den Fall, die Teilnehmer aller Che-Guevara-Kongresse und Adorno-Hauptseminare des Landes würden anfangen, regelmäßig tanzen zu gehen, Lines zu rüsseln, Pillen zu schmeißen und vorm Ausgehen in den Spiegel zu gucken... Wenn Besser-Wissen auch noch besser aussehen würde, stünden der Revolution eigentlich nur noch die üblichen Verhältnisse entgegen.
Tobias Rapp
Tobias Rapp: Rave'n' Riot
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Dossier
23.12.1997
https://jungle.world//artikel/1997/52/clubs-sind-geschlossene-anstalten
»Hier wird auch nicht jeden Tag gestreikt«
Wie lebt es sich als Anarchist auf einer Insel wie Mallorca, wo Millionen von Menschen nur Urlaub machen? Zur Zeit wird die Comunidad Autónoma der Balearen von einer Koalition aus vier linken Parteien regiert, die größte ist die Partido Socialista. Aber unsere Vorstellungen von Politik sind nicht in der Regierung vertreten. Mallorca ist traditionell konservativ und rechts, einschließlich 40 Jahren Diktatur. Ein Beispiel: Während des Bürgerkriegs starteten die Flugzeuge der deutschen Nazis von hier aus, um das spanische Festland zu bombardieren, mit dem Einverständnis der Bevölkerung Mallorcas. Deswegen ist es nicht einfach, Leute zu finden, die progressive Ansichten vertreten. Menorca ist ein bisschen anders, es gab Zeiten, da waren die Leute ein biss­chen progressiver, ein bisschen mehr links. Auch die regierende Koalition hat bei den Wahlen mit nur einer kleinen Mehrheit gegen die Partido Popular gewonnen, die parlamentarische Rechte. Zwar ist die ökologische Bewegung verglichen mit anderen Regionen recht fortschrittlich. Aber ansonsten sieht es schlecht aus, vor allem im Bereich Arbeit. Was macht die CNT genau? Was sind eure Themen? Die CNT als Syndikat fördert die Organisierung der Arbeiter und Arbeiterinnen. Nur so kann man Schritt für Schritt mehr Einfluss gewinnen in den Betrieben und bestimmten Arbeitsbereichen. Dazu kommt die rechtliche Beratung von Arbeitern, die Probleme mit ihren Chefs haben. Die zentrale Aufgabe der Gewerkschaft ist es, Forderungen zu stellen, im Bereich Arbeit, aber auch in gesellschaftlichen Bereichen. Dazu gehören der Kampf gegen die Repression, der ökologische Kampf, die Frauenproblematik. Der parlamentarischen Linken sind die Hände gebunden durch die Institutionen. Sie will auch keine grundlegende Veränderung der Gesellschaft, sondern allenfalls ein paar Gesetze verändern. Unsere Ideen sind revolutionär. Was wir wollen, sind Veränderungen, die die Fundamente angreifen. Wer ist aktiv in der CNT auf Mallorca? Was treibt ihr tagsüber? Deine Genossin hat erzählt, dass sie studiert. Wir sind fast alle Arbeiter. Zwar sind in ganz Spanien nicht einmal sieben Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Gewerkschaft. Aber von denen sind 90 Prozent Arbeiter. Studenten sind kaum darunter. Die studentische Bewegung gab es 1968 und in den siebziger Jahren, heute ist sie nahezu verschwunden. Ganz im Gegensatz zu Frankreich, dem Nachbarland. Die spanische Linke hat keine Entsprechung in einer studentischen Bewegung. Deswegen ist es ungewöhnlich, wenn Studenten in die Gewerkschaft eintreten. Bei Spanien und Anarchisten denkt man zuerst an den Bürgerkrieg. Gibt es Kontinuitäten seit jener Zeit? Bis 1997 lebte noch ein alter Genosse. Er war einer der letzten in der CNT, die im Bürgerkrieg gekämpft haben. Ich habe zwei Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Trotzdem kann man streng genommen nicht von Kontinuität sprechen. Dazu muss man wissen, die Repression zur Zeit der Diktatur war hier im Vergleich zum Festland noch brutaler. Alle Mitglieder der CNT, die auf der Insel blieben, wurden getötet. In den Gefängnissen gab es Kommunisten und Sozialisten, die Strafen von fünf bis 15 Jahren absitzen mussten. Anarchisten gab es keine in den Gefängnissen. Und die, die geflohen waren, kamen erst nach der Diktatur zurück. Der Wiederaufbau der Gewerkschaft hat in den achtziger Jahren angefangen und zwar von Null an. Engagieren sich denn auch ein paar ältere Leute bei euch in der CNT? Ihr seid ja alle recht jung. Es gibt auch Ältere, aber die Mehrheit ist 25 bis 35 Jahre alt. Und danach gründen auch die meisten Anarchisten Familien und ziehen sich ins Privat­leben zurück? Damit hat das nichts zu tun. Auf dem Festland ist es an vielen Orten genau umgekehrt. Da sind weniger junge Leute aktiv, die meisten Mitglieder der CNT sind zwischen 40 und 50 oder sogar bis 60 Jahre alt. Wie steht es um den Klassenkampf? Wie sind die Arbeitsbedingungen auf der Insel? Auf den Balearen gibt es zwei wichtige Arbeitssektoren: Tourismus und Bau. Industrie gab es ja bis vor 20 Jahren fast gar keine. Was den Tourismus betrifft, stellen die Vereinbarungen, die die großen Gewerkschaften ausgehandelt haben, das größe Problem dar. Obwohl Massen von Menschen in der Gastronomie arbeiten, wurden sehr schlechte Bedingungen ausgehandelt. Darüber hinaus nutzen die Unternehmer es aus, dass das Angebot an Arbeitskräften noch viel größer ist als die Zahl der Arbeitsplätze. Die Leute akzeptieren oft aus Not noch schlechtere Bedingungen als die vorgeschriebenen. Zum Beispiel werden Pausen und viele Arbeitsstunden nicht bezahlt. Auch beträgt die Probezeit auf den Balearen einen Monat. Das ist sehr lang. Im Vergleich zu Deutschland ist das wenig. Das ist viel zu viel! Ich weiß, dass es in Deutschland noch viel schlimmer ist, in einem technologisch so fortschrittlichen Land. Das ist unglaublich! Überall sonst in Spanien beträgt die Probezeit 15 Tage. Das ist die Zeit, bevor überhaupt ein Vertrag unterschrieben wird. Viele Arbeitgeber beschäftigen die Leute einen Monat und geben ihnen die Stelle dann doch nicht. Deshalb kann man sagen, die Arbeitsbedingungen in diesem Sektor sind in der Praxis noch schlimmer als vertraglich festgelegt. Das ist sehr problematisch. Auf dem Bau werden viele Leute schwarz beschäftigt. So sparen die Unternehmer Steuern, Kranken- und Sozialversicherungen. Wegen der vielen Immigranten gibt es außerdem ein großes Kontingent an illegalisierten Arbeitern, was die Unternehmer ebenfalls ausnutzen. Dazu kommt, dass die großen Gewerkschaften, UGT und C.C.O.O., die die schlechten Verträge abgeschlossen haben, sehr konformistisch sind. Sie haben gar nicht den Anspruch, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Sie dienen dem Staat, der sie subventioniert. Es ist absurd, dass die C.C.O.O. auf den Balearen sich als kritische Gewerkschaft definiert. Woher kommen die Einwanderer? Es gibt Einwanderer aus vielen Ländern. Die mit Abstand größte Gruppe bilden die Argentinier. Ist es so wie in Deutschland, dass bestimmte Gruppen von Migranten besonders miese Jobs erledigen? Ich denke da etwa an die polnischen Spargelstecher. Das kann man nicht sagen. Zum Beispiel kommen die meisten Ärzte in Palma aus Südamerika, während eine Putzfrau Mallorquina sein kann. Zumindest war das bis vor eineinhalb Jahren so, als Gastronomie, Bau und Handel boomten. Deshalb gab es auch so viele Schul- und Studienabbrecher auf Mallorca. Wenn ich mich recht erinnere, beenden nur zwei von zehn Studenten ihr Studium. Weil das Angebot an Arbeitsplätzen so groß war, zogen es viele Leute vor, arbeiten zu gehen. Jetzt gibt es die ökonomische Krise, die das Arbeitsangebot reduziert. Was sind eure konkreten Projekte? Die CNT hat eine Kampagne gestartet gegen das Vorhaben des Europäischen Parlaments, die maximale Wochenarbeitszeit auf 65 Stunden zu verlängern. Jetzt wartet man nur noch ab, ob das Gesetz wird oder nicht, aber vom Europäischen Parlament ist das schon verabschiedet. Das betrifft auch euch! Hier in Spanien beträgt die maximale Wochenarbeitszeit 40 Stunden. Ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist. Das hängt von den einzelnen Tarifverträgen ab. Jedenfalls bislang noch keine 65 Stunden! Das mit den 65 Stunden ist so eine Sache. Es ist unmenschlich. Aber es widerspricht auch anderen europäischen Vorhaben völlig. Zum Beispiel dem Plan der Europäischen Kommission, den Mutterschutz auf insgesamt 18 Wochen zu verlängern. Unser Ziel war immer die 30-Stunden-­Woche. Wie kommen Leute im Normalfall zur CNT? Der Normalfall ist, dass jemand zur Gewerkschaft geht, wenn er ein Problem auf seiner Arbeitsstelle hat. Die Leute kommen, weil sie Informationen brauchen, und wir versuchen, sie zu organisieren. Aber dann gibt es auch Leute, die kommen, weil sie unsere Ideen teilen. Wann gab es den letzten großen Streik auf den Balearen? Gestreikt wird natürlich nicht in Regionen. Es gibt Streiks in Betrieben, in Sektoren oder den Generalstreik. Die CNT hat im letzten Jahr den Streik beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen IB3 organisiert mit dem Ziel, die Verträge mit privaten Arbeitgebern in öffentlich-rechtliche Verträge umzuwandeln. Die Repräsentanten der CNT waren bei dem Streik sehr aktiv. Im Gegensatz zu Deutschland, wo Streiken ja quasi verboten ist, geht das hier sehr leicht. Zum Beispiel muss ein Streik nur zehn Tage vorher angemeldet werden. Auch kann jede Gewerkschaft einen Streik organisieren, ob groß oder klein. So wie die CNT es bei IB3 gemacht hat. Aber damit ein Streik effektiv ist, muss man viel Arbeit hineinstecken. Leute aus Ländern wie Deutschland denken, dass hier jeden Tag gestreikt wird, weil es so einfach geht. So ist es nun auch wieder nicht.
Regina Stötzel
Regina Stötzel: Interview mit David Fernández Molpeceres über Anarcho-Syndikalismus und Arbeitsbedingungen auf Mallorca
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Interview
16.10.2008
https://jungle.world//artikel/2008/42/hier-wird-auch-nicht-jeden-tag-gestreikt?page=0%2C%2C0
Test den Protest
Wir sehen es doch selbst an unserer Stadt«, sagt Andrés, der Taxifahrer, »hier ist alles irgendwie künstlich und seelenlos. Hier wird alles zur Dienstleistung.« Das Touristenzentrum Cancún, im September 2003 zum zweiten Mal Treffpunkt der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO, ist ein eigentümliches Sinnbild für die negativen Folgen der Globalisierung. Hinter einer großen Lagune schillert das karibische Meer türkisfarben unter Palmen, aber die Strände sind nicht für jeden zu erreichen, sie sind teilweise privatisiert und gehören zu protzigen Hotelkästen. Cancún ist ein durchgeplantes Touristenzentrum. Bis Mitte der sechziger Jahre war der Küstenort allenfalls einigen Fischern bekannt. Die zum Ferienparadies gehörende Stadt liegt etwa eine halbe Stunde von den Hotelanlagen entfernt und besteht aus schnell hochgezogenen Betonkästen, Wohnblocks und Einkaufspromenaden. An jeder Ecke wartet eine Kneipe oder ein Souvenirladen auf touristische Kundschaft. Der Bundesstaat Quintana Roo hat laut dem Nationalen Institut für Statistik (Inegi) eine der höchsten Migrationsquoten in Mexiko, die mit Abstand höchste Wochenarbeitszeit (48,8 Stunden) und eine unterdurchschnittliche Lohnentwicklung, die insbesondere zu Lasten von Frauen in Dienstleistungsberufen geht. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt allerdings gerade einmal ein Prozent. Das liegt daran, dass es kaum einen vernünftigen Grund gibt, sich arbeitslos zu melden, sondern vielmehr einen gesteigerten Druck zur Selbstausbeutung. Wer nach Cancún kommt, betritt die Dienstleistungsfabrik des Landes, hier arbeiten nur 8,2 Prozent der Beschäftigten weniger als 35 Stunden pro Woche, das ist ein Drittel des Landesdurchschnitts. Das Paradies unter Palmen entpuppt sich also bei näherem Hinsehen als Oase der Ausbeutung, schließlich, so resümiert Taxifahrer Andrés, »gilt hier nichts, alle Gesetze zum Schutz der Beschäftigten im Tourismusgewerbe werden nach Belieben gebrochen. Es gibt keinen Kündigungsschutz und keine soziale Absicherung.« Genau deshalb scheint Cancún als Kulisse für den Widerstand gegen die weltweite Durchsetzung turbokapitalistischer Verhältnisse nicht eben ungünstig zu sein. Und während in den Hotelburgen die Minister und die Globalisierungslobby tagten, trafen sich vor den Sicherheitsabsperrungen diejenigen, deren Lebensgrundlage scheinbar zur Verhandlungssache erklärt worden war. Zuvor hatten vor allem Bauern und indigene Verbände zu Protesten aufgerufen. Die vielen in Bussen angereisten Chiapanecos und die etwa 200 angereisten Südkoreaner sorgten dafür, dass die existenziellen Nöte der ländlichen Bevölkerung in den Aktionen sichtbar wurden. Anders als während Gipfel-Protesten in Europa, wo sich vor allem junge und gebildete Globalisierungsgegner aus den Wohlstandsländern artikulierten, forderte in Cancún eine Gruppe von Leuten ihr Recht, deren Existenz ganz unmittelbar bedroht scheint. So blieben denn auch die Barrieren zwischen den Indígenas und Bauern auf der einen Seite und den jungen, akademischen Globalisierungskritikern auf der anderen Seite durchgängig sichtbar. Die so unterschiedlichen Widerstandsgruppen, die ihre Forderungen mal in Spanisch, mal in Englisch und mal auf Koreanisch vortrugen, konnten sich auf kein gemeinsames Anliegen einigen. Die Toleranz insbesondere der mexikanischen Kleinbauern, die immer wieder »Landwirtschaft raus aus den WTO-Verhandlungen« riefen, gegenüber anderen Interessen und Protestformen erwies sich als äußerst begrenzt. »Die wollen, dass alle so leben und sterben wie sie. Die wollen in Ruhe gelassen werden und denken nicht weiter«, stöhnt Angélia González Bravo. Sie ist 22 Jahre alt und hat erkennbar nichts mit der ländlichen Bevölkerung gemein. Sie studiert im sechsten Semester an der nationalen Universität für Anthropologie in Mexiko-Stadt und hat wie viele andere per Bus die fast 2 000 Kilometer an den Karibikstrand zurückgelegt. Sie vermummte sich während der Demonstrationen und sprühte auch mal einen Spruch an eine Hauswand. Außerdem hat sie mitgeholfen, als eine Gruppe von Frauen den Sicherheitszaun einriss, und sie wäre auch bei der Straßenbesetzung in der Hotelzone dabei gewesen, wenn sie nicht von der Polizei vorher abgefangen worden wäre. Zu dem Zeitpunkt, als es für Leute wie Angélia richtig losging, waren die meisten mexikanischen Kleinbauern schon wieder abgereist. Mit ihren GenossInnen ist Angélia an manchen Tagen in Kleingruppen durch die Stadt gezogen und hat Flugblätter verteilt. So wollten sie das Funktionieren der WTO erklären und die politische Motivation ihrer Proteste obendrein. Den Kontakt zur Bevölkerung herzustellen, Informationen zu verteilen und Netzwerke zu knüpfen, all dies versuchten die studentischen Gruppen und internationalen Nichtregierungsorganisationen zu bewerkstelligen. Dabei stellte Angélia durchaus die Möglichkeit einer Politisierung fest, »insbesondere in den ärmeren Vororten haben wir starke Unterstützung bekommen und wohl auch diejenigen Leute getroffen, die am wenigsten informiert waren«. Außerdem war der Betrieb von kostenlosen Volksküchen der US-amerikanischen Organisation Food not Bombs in leerstehenden Restaurants oder auf den Plätzen der Stadt immer auch ein Akt der feierlichen Besetzung des öffentlichen Raums in einer Stadt, in der es nur um den Profit geht. Schnell bildeten sich Gruppen um die vermummten Gestalten, die auf traditionellen Instrumenten Lieder aus Nordmexiko sangen. Theatergruppen zogen durch die Straßen, McDonald’s wurde symbolisch blockiert, was mittlerweile zum Standardrepertoire globalisierungskritischer Aktionen gehört. Die Studentin Daniela Macias ist dennoch begeistert. »Ich wohne hier nun seit eineinhalb Jahren«, grinst Daniela, die für ihr Design-Studium nach Cancún gekommen ist, »und es ist wirklich das erste Mal, dass ich diese Stadt hier lebendig finde«. Insgesamt boten die Studierenden allerdings ein eher klägliches Bild. Die verschiedenen Gruppen hatten sich nach der Ankunft rasch in zwei auch räumlich getrennte Lager geteilt. Eine Minderheit bevorzugte einen Platz in der Mitte der Stadt mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Hier trafen sich vor allem Punks, Anarchisten und Angehörige des schwarzen Blocks. Kaum zehn Taximinuten davon entfernt campierte die Mehrheit in einem Baseball-Stadion. Als in der Nähe des innerstädtischen Lagers während einer abendlichen Demonstration die Scheiben einer Pizza-Hut-Filiale zu Bruch gingen, wollte eine aufgebrachte Menge lieber ihre KommilitonInnen aus dem Stadion verprügeln, als Sicherheitsvorkehrungen gegen die heranrückende Polizei zu erwägen. Die Gruppen unterschieden sich dann auch in ihren politischen Überzeugungen und in der Wahl der Waffen: »Ich denke wir haben hier ein unterschiedliches Verständnis von Demokratie festgestellt. Im Stadion campierten Gruppen, die pazifistisch protestieren wollten, die an Versammlungen und Konsens glauben, aber in ihrem Denken nicht minder radikal sind. In der Stadt blieben die, die direkte Aktionen vorhatten und eigentlich alles so machen wollten, wie sie gerade Lust hatten«, beurteilt der 22jährige Ivan Galinde Ortegón die Situation. Er studiert Politische Wissenschaften an der Universidad Autonoma de México und hatte auch nichts dagegen, zwischendurch mit Freunden zum Strand zu fahren. Überhaupt war der Strand gut besucht. »Nun ja, manche sind auch hier, weil man so mal günstig nach Cancún kommen konnte«, sagt die Physikstudentin Verónica López Delgado. Die Zerstrittenheit unter den Studierenden resultiert aus den Auseinandersetzungen und Anfeindungen während des letzten Streiks an der Universidad Autonoma de México. Wiewohl sich die politischen Analysen nur in Nuancen unterscheiden, scheinen die Gräben unüberwindlich. Im Parque de las Palapas in der Mitte der Stadt richteten sich Protestierende ein, die sich mit ihrem Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft von der traditionellen Machtanalyse ihrer Kommilitonen abgewandt haben. »Wir haben sicherlich mehr Verbindungen zu herrschenden Machtstrukturen und lehnen sie nicht einfach ab«, erklärt Ivan den Gegensatz. Insgesamt gab es während der letzten zwei Monate in Mexiko-Stadt etliche Treffen zur Diskussion über den Umgang mit Gewalt und die Vorbereitung von gruppenübergreifenden Aktionen. Die Diskussionen drehten sich im Kreis, und der Tiefgang ähnelte eher dem in der Lagune von Cancún. Dass die WTO alles richtig und die Protestler alles falsch machen würden, hatte die Bevölkerung zuvor in der Presse lesen können. Die Vorbehalte der durch sensationslüsterne Presseberichterstattung verunsicherten Bevölkerung konnten dann auch nur zum Teil beseitigt werden. Teile der Bevölkerung halten die Politik der WTO nach wie vor für richtig. »Ich glaube, die WTO ist wichtig für Mexiko«, meint die 33 Jahre alte Elizabeth Angiano. Sie hat lange im Tourismussektor gearbeitet und fürchtet um den Ruf der Stadt. »Außerdem können wir uns nicht frei bewegen, und ich habe Angst vor Ausschreitungen.« Zahlenmäßig waren in der zweiten Hälfte der Woche vor allem Studierende und Leute aus internationalen NGO anwesend. Viele der mexikanischen Gewerkschaften waren nur mit kleinen Kontingenten angetreten oder hatten sich rasch zurückgezogen. Hinter den Kulissen hatten längst die straff organisierten südkoreanischen Bauern die Führung übernommen – nach dem öffentlichen Selbstmord des ehemaligen Spitzenfunktionärs Lee Kyung Hae war ihnen eine Autorität zugefallen, die sie gezielt nutzten. Ob sich die mexikanischen Bauern so früh aus Cancún verabschiedeten, weil sie zurück auf ihre Felder mussten, oder ob sie sich von den Kämpfern aus Südkorea verschreckt fühlten, ist ungewiss. Allerdings hatten schon am Abend der Trauerfeier für Lee Kyung Hae Funktionäre der mexikanischen Gewerkschaft der Elektriker und der traditionskommunistischen Arbeitspartei die »unilateralen Aktionen« kritisiert und rasch erkannt, dass ihre eigenen Interessen und Aktionen in den Hintergrund gerieten. Tatsächlich gelang es den Delegationen aus Südkorea in einer aufsehenerregenden Aktion am letzten Demonstrationstag, gemeinsam mit einem internationalen Kontingent von Frauen den Sicherheitszaun niederzureißen und den sonst unkontrollierbaren anarchistischen schwarzen Block zum Ordner für Ruhe und Sicherheit zu machen. »Wir sehen«, so hatte Sohn Nark Hoo, einer der Sprecher der Gruppe, auf einer Pressekonferenz in aller Selbstverständlichkeit erklärt, »dass es unterschiedliche kulturelle Traditionen der hier versammelten Organisationen gibt. Als wir sagten, dass wir radikale Aktionen durchführen würden, waren wir uns darüber im Klaren, dass diese Aktionen Verhaftungen und Verletzte zur Konsequenz haben würden.« Insbesondere die Art und Weise, in der die Südkoreaner ihre Aktionen durchführten, ließ den lateinamerikanischen Heißspornen den Mund offen stehen: In artig gebügelten Hemden und sauberen Hosen agierten die Südkoreaner und ließen sich durch nichts von ihrer Vorstellung des radikalen Protests abbringen, dabei kalkulierten sie genau: Das Werfen von Steinen und die unkontrollierte Konfrontation mit der hoch gerüsteten Polizei wären ein Sicherheitsrisiko für die unorganisierte und kaum vorbereitete Masse der Demonstrierenden gewesen. Als der Sicherheitszaun nach stundenlanger, gleichmäßiger Arbeit durchlöchert und von starken Seilen zerrissen war, hielten sie inne und versammelten die etwa zweitausend Demonstrierenden zu einem stillen Ritus. Zum Abkühlen der Emotionen war plötzlich Hinsetzen und Blumenverteilen angesagt. Die offizielle Sprache, so beurteilte die linksliberale Zeitung La Jornada das Geschehen, war Koreanisch. »Das ist historisch, so etwas hat es noch nicht gegeben«, zeigt sich einer der Radikaleren gerührt, »erst dürfen nur Frauen den Zaun platt machen, und dann gipfelt alles in einer Metapher: Wenn es uns gelingt, die Barrieren zwischen diesen beiden Welten zu zerstören, ohne dass es zu den üblichen Ausschreitungen kommt, dann beweisen wir eine andere Art von Stärke, die tiefer dringt.« Der junge Mann, der seinen Namen unter keinen Umständen preisgeben will, schaut lange nachdenklich unter seiner Gasmaske hervor. »Dies ist ein ungemein spiritueller Akt.«
Lennart Laberenz
Lennart Laberenz:
[ "Mexiko" ]
Ausland
24.09.2003
https://jungle.world//artikel/2003/39/test-den-protest
Berliner Verklärung
So ein Timing hatte sich wohl nicht einmal die Protokoll-Abteilung der deutschen Ratspräsidentschaft erhoffen können. Dass ausgerechnet nach dem Energie- und Klimagipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs und wenige Tage vor dem 50. »EU-Geburtstag« Zentraleuropa mit der Wärme und dem Sonnenlicht eines frühen Frühlingsbeginns aufwachen würde, nahm man zwischen Brüssel, Berlin und Strasbourg als willkommene Symbolik hin. Nach dem allgemein als Erfolg gefeierten Energie- und Klimagipfel schienen die dunklen Jahre, die die Europäische Union seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden vom Jahr 2005 in weitgehender Lethargie erleiden musste, vergessen. Die Staatengemeinschaft, erst im Januar auf 27 Mitglieder angewachsen, sei wieder handlungsfähig. Der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprach gar vom »erfolgreichsten Gipfel seiner Amtszeit«. Das europäische Stimmungshoch soll nun in dieser Woche weiter wirken. Mit den Feierlichkeiten zum 50jährigen Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Geburtsstunde der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorläuferin der EU, wollen die Staats- und Regierungschefs am kommenden Wochenende in Berlin die Grundlage für einen neuen Schub in der europäischen Integration schaffen. Damit das Treffen der 27 mehr ist als nur ein Kaffeekränzchen zum Geburtstag, wird am Sonntag die so genannte »Berliner Erklärung« verabschiedet – ein Papier, das dem vereinten Kontinent seinen Sinn erklären und unter anderem die gemeinsamen Werte der Europäerinnen und Europäer benennen will. Damit könne, so die Hoffnung, auch die Wiederbelebung der bereits totgesagten europäischen Verfassung eingeleitet werden. Einen »verständlichen« Text versprach Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier den Abgeordneten des Europa-Parlaments Mitte voriger Woche, ohne die sonst üblichen diplomatischen Formelkompromisse und Floskeln europäischer Gipfelerklärungen. Denn die Deutschen hoffen zur Halbzeit ihrer Ratspräsidentschaft auf die Rückkehr der »Europhorie« der Bürgerinnen und Bürger. Doch offenbar fehlt es vor der feierlichen Erklärung den Autoren selbst an der notwendigen Begeisterung für das europäische Projekt. Denn hinter der Fassade der neuen europäischen Einigkeit ist der Streit um den Inhalt der Berliner Erklärung zwischen den Regierungen und deren Streit mit dem EU-Parlament und der EU-Kommission in vollem Gange. Der Zwist entzündet sich vor allem an den gängigen Reizworten der EU: Darf der Euro als »gemeinsame« Währung erwähnt werden? Engländer, Dänen und Schweden sagen Nein. Soll Europa stolz sein auf das Schengener Abkommen, das EU-Bürgern in den beteiligten Ländern Reisefreiheit garantiert, anderen aber Restriktionen und Ausgrenzungen setzt? Die Nicht-Schengen-Länder sind skeptisch. Darf man den verfassungsskeptischen EU-Mitgliedern einen Bezug auf den geplanten neuen EU-Vertrag zumuten? Frankreich und die Niederlande, aber auch Tschechien drohen mit ihrem Veto. Gibt es einen european way of life, ein europäisches Sozialmodell? Osteuropäer und Briten wollen keine Profilierung gegenüber den USA. Und schließlich die Frage, welche Rolle die Religion spielen soll. Die Laizisten in Belgien und Frankreich haben deutlich gemacht, dass ein Verweis auf das christlich-jüdische Erbe keine Chance habe. Gerard Onesta, französischer Vizepräsident des Europa-Parlaments, fragte sich denn auch in der Parlamentsdebatte vom vergangenen Mittwoch, ob am Ende überhaupt das Wort »Europa« in der Berliner Erklärung vorkommen werde. Eine Frage, die man auch wenige Tage vor den Feierlichkeiten nicht eindeutig beantworten kann. Denn die europäische Volksvertretung, die den Text am Samstag von ihrem Präsidenten Hans-Gert Pöttering unterzeichnen lassen wird, weiß genauso wenig wie die Öffentlichkeit, was derzeit zwischen den Regierungen ausgehandelt wird. Und auch dort schien es bis zum Beginn der vergangenen Woche keine verlässliche Information zu geben. »Die Oberfläche des Papiers, auf der die Werte und die Zukunftsziele der EU stehen sollen, ist angesichts der unterschiedlichen Interessen bisher weitgehend leer«, berichtet ein britischer Diplomat. Womöglich werde Angela Merkel die endgültige Fassung den anderen Regierungschefs in letzter Minute unter der Hotelzimmertür durchschieben lassen, wie sie es beim Schlussdokument zum Energie- und Klimagipfel zwei Wochen zuvor in Brüssel getan hat. Doch während die Bundeskanzlerin dort mit Formelkompromissen und der Vertagung der umstrittenen Atom-Frage reüssierte, droht der Berliner Text den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Kurz dürfe er werden, aber nicht banal, warnt Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Europäischen Grünen. Unter belgischen Diplomaten herrscht ebenfalls Skepsis, ob der auf maximal zwei Seiten angesetzte Text Substanz haben wird. »Wir können uns nicht einmal mehr auf die Grundsätze der Präambel des Verfassungsvertrages einigen, die noch vor zweieinhalb Jahren von allen Regierungen unterzeichnet wurde«, beklagt ein belgischer Diplomat. Gott werde entgegen den Wünschen Polens draußen bleiben, ebenso wie der Verfassungsbezug, ganz zu schweigen von einem ursprünglich vorgesehenen Plan für dessen weitere Ratifizierung. Und die Erwähnung des Euro, so die Prognose, werde sich die britische Regierung mit dem Verzicht auf das so genannte europäische Sozialmodell bezahlen lassen. Der Klimawandel, zwei auf letzte Erfolge erpichte scheidende Staatsmänner in Frankreich und Großbritannien und schließlich der Wunsch, die europäische Untätigkeit nach dem Verfassungsschock endlich zu beenden, spielen der deutschen Ratspräsidentschaft in die Hände. Doch die Grundkonflikte in der Union über den Charakter des europäischen Einigungs­projekts bestehen unverändert fort. Das EU-Parlament hofft darauf, dass Merkels Erfahrung aus der Großen Koalition und aus dem Berliner Betrieb Einigkeit herstellen kann. Für Überraschung hat sie, die noch 2004 in den Beratungen über die Europäische Verfassung als CDU-Vorsitzende vehement für die Erwähnung der christlichen Wurzeln Europas eintrat, auf jeden Fall bereits durch ihren kampflosen Abschied vom Bezug auf Gott in der Berliner Erklärung gesorgt.
korbinian frenzel
korbinian frenzel:
[]
Ausland
21.03.2007
https://jungle.world//artikel/2007/12/berliner-verklaerung?page=0%2C%2C2
Deutschland darf sitzen
Verantwortungsträger auf See. Soldaten der Bundesmarine an Deck der Korvette »Braunschweig« Für die Bundesrepublik ist es fast schon Routine: Alle acht Jahre bewirbt sie sich auf einen der nichtständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat. Im mächtigsten Gremium des Staatenbundes üben zwar immer noch die ständigen Mitglieder, die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und China, die eigentliche Kontrolle aus, doch haben auch zehn weitere Mitglieder – aus jeder Weltregion jeweils zwei – die Möglichkeit, die Politik mitzuprägen. Aus der von Westeuropa, Australien, Neuseeland, Kanada und Israel gebildeten Staatengruppe sind das seit Jahresbeginn Deutschland und Belgien. Als einer der reichsten und größten Staaten der Welt leistet die Bundesrepublik den viertgrößten finanziellen Beitrag zum UN-Budget und entsendet etwa 3 500 Soldaten, Polizisten und ­zivile Experten zu UN-Missionen – vom Nordirak über Mali, Kosovo und den Kongo bis Afghanistan. »Wir rücken durch die Mitgliedschaft noch näher an die Krisen und Konflikte heran«, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) Ende des Jahres. »Ich glaube, dass unsere Verantwortung wächst.« Ein Konkurrent hatte der deutschen Bewerbung auf einen Sitz im Sicherheitsrat zunächst noch im Weg gestanden: Israel, das wie kein anderer Staat der Welt seit Jahrzehnten Objekt der UN-Beschlüsse ist (...) Geographisch würde Israel eigentlich zur asiatischen Staatengruppe in der Uno gehören. Doch die darin bestimmenden arabischen Staaten verweigerten Israel jahrzehntelang die Aufnahme. Von vielen UN-Gremien war Israel deshalb ausgeschlossen – so auch vom Sicherheitsrat. Ein Konkurrent hatte der deutschen Bewerbung auf einen Sitz im Sicherheitsrat zunächst noch im Weg gestanden: Israel, das wie kein anderer Staat der Welt seit Jahrzehnten Objekt der UN-Beschlüsse ist, seien es die zahlreichen Resolutionen des Sicherheitsrats zur Regelung des Palästina-Konflikts oder die Beschlüsse der israelfeindlichen Mehrheit in der Generalversammlung. Geographisch würde Israel eigentlich zur asiatischen Staatengruppe in der Uno gehören. Doch die darin bestimmenden arabischen Staaten verweigerten Israel jahrzehntelang die Aufnahme. Von vielen UN-Gremien war Israel deshalb ausgeschlossen – so auch vom Sicherheitsrat. Erst im Jahr 2000 wurde Israel in die westeuropäische Staatengruppe aufgenommen. 2019 wollte das Land zum ersten Mal einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat erhalten. Dass Deutschland angesichts dessen nicht auf eine Kandidatur verzichtete, rief ­international auch Kritik hervor. Besonders die USA unterstützten die ­israelische Kandidatur. Richard Grenell, der US-amerikanische Botschafter in Deutschland, sagte im März letzten Jahres sogar, dass vor 20 Jahren auf Betreiben der USA eine Abmachung getroffen worden sei, der zufolge Israel im Jahr 2018 ohne Gegenkandidaten für einen Sitz kandidieren sollte. Die deutsche Regierung dementierte, dass es eine solche Absprache je gegeben habe. »Wir kandidieren gegen niemanden. Sondern wir kandidieren für einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen«, sagte Maas. Damit überließ er die Entscheidung formell dem Wahlver­halten der UN-Generalversammlung, die über jede Kandidatur mit Mehrheitsentscheid abstimmt. Dass dort trotz sich verändernder Bündniskonstellationen im Nahen Osten eine Abstimmungsmehrheit für Israel kaum vorstellbar ist, dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Israel seine Kandidatur im Mai schließlich zurückzog und so den Weg für Deutschland endgültig freimachte. Die offene Konkurrenz der beiden Bewerber Deutschland und Israel warf ein Schlaglicht auf die zuletzt wieder gewachsenen Interessengegensätze zwischen Deutschland und den USA vor allem in der Frage des Atomabkommens mit dem Iran. Bei einer Sicherheitsratssitzung Anfang Dezember bekräftigte die EU-Delegation, trotz des wachsenden Drucks seitens der Regierung Trump am Abkommen mit dem Iran festhalten zu wollen. Wenige Tage zuvor hatte der Iran eine ballistische Rakete getestet, die Fachleuten zufolge in der Lage ist, einen Atomsprengkopf zu transportieren. Während die US-Regierung darin eine klare Verletzung der UN-Resolution sah, mit der der Sicherheitsrat dem Nuklearabkommen zu­gestimmt hatte, hielt sich die EU zurück. Sie kritisierte zwar ebenfalls das iranische Raketenprogramm, doch griff der deutsche Delegierte zugleich die USA an: Sie nähmen die iranische Raketenrüstung zum Vorwand, um das Abkommen insgesamt in Frage zu stellen, und schütteten damit »das Kind mit dem Bade aus«. Serge Christiane, Vertreter der EU-Delegation bei der Uno, sagte, man sei der iranischen Regierung »für ihre standhafte Unterstützung des Nuklearabkommens ernsthaft dankbar«. So steht die beginnende zweijährige Amtsperiode Deutschlands als Mitglied des Sicherheitsrats im Zeichen der wachsenden Spannungen mit den USA, die sich auch ideologisch ausdrücken. Während Präsident Trump in einer Rede vor der UN-Vollversammlung im September seine Ablehnung der »Ideologie des Globalismus« und des multilateralen Prinzips der global governance ausdrückte, propagiert Deutschland internationale Institutionen und Abkommen. Das Pariser Klimaschutzabkommen, das Atomabkommen mit dem Iran, der Internationale Strafgerichtshof, auch nichtbindende Abkommen wie der »Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration«, werden von den USA ab­gelehnt und von Deutschland unterstützt. Schwerpunkte der deutschen Arbeit im Sicherheitsrat sollen dem Auswär­tigen Amt zufolge Konfliktprävention, humanitäre Organisationen, Frauenrechte, Abrüstung sowie das Thema Klima und Sicherheit sein. Bereits seit 2011 fordert die Bundesrepublik, dass die Uno die bevorstehenden Verwerfungen durch den Klimawandel auch als ­Sicherheitsproblem betrachten müsse. »Die durch den Klimawandel ausgelöste Zunahme an Extremwetterereignissen und deren Folgen für Nahrungsmittel- und Trinkwasserressourcen können ganze Regionen destabilisieren«, hieß es kürzlich vom Auswärtigen Amt. Ressourcenknappheit und Migration könnten zu mehr Konflikten führen. Bereits jetzt werde auf Initiative der Bundesregierung in internationalen Gremien untersucht, »welche Auswirkungen der Klimawandel auf fra­gile Staaten und Regionen haben wird«; die EU bereite sich darauf vor, »systemische Risiken, die aus dem Klimawandel resultieren, zu minimieren, bevor Krisen ausgelöst werden«. Die Bundesregierung will in den nächsten zwei Jahren auch weiter auf ein lang gehegtes Ziel hinarbeiten: einen ­eigenen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Die sogenannten G4-Länder Brasilien, Indien, Japan und Deutschland unterstützen gegenseitig ihre Forderung nach einem permanenten Sitz sowie einer Vertretung Afrikas. Realistisch ist eine solche Reform, über die seit Ende des Kalten Krieges immer wieder diskutiert wird, jedoch nicht. Sowohl die Interessengegensätze der Großmächte wie auch die verschiedenen regionalen Ungleichgewichte – so ist etwa Italien ein Gegner eines stän­digen deutschen Sitzes – stehen dem im Wege. Die Bundesregierung will deshalb in Zukunft in der Uno das Gewicht der ­gesamten EU einbringen. »Wir werden unseren Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen europäisch interpre­tieren«, hatte Außenminister Maas im Sommer in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland angekündigt. »Wir wollen zeigen, dass wir es ernst meinen mit dem gemeinsamen europäischen Sitz. Denn das bleibt das Ziel.« Wie viel Gewicht die EU mittlerweile überhaupt noch in die Waagschale werfen kann, ist angesichts des bevorstehenden Austritts des Vereinigten Königreichs und des Erstarkens euroskeptischer und antieuropäischer Bewegungen in zahlreichen EU-Ländern jedoch fraglich.
Paul Simon
Paul Simon: Deutschland sitzt wieder im UN-Sicherheitsrat, die Konflikte mit den USA verschärfen sich derweil
[ "UNO" ]
Inland
10.01.2019
https://jungle.world//artikel/2019/02/deutschland-darf-sitzen?page=0%2C%2C0
Kein Blick zurück
Manche Britinnen und Briten halten den EU-Austritt sehr wohl für einen Fehler. Demonstration in London, 18. Juni »Wenn ein Armeegeneral mitten im Kampf reif genug ist, um seine Strategie zu verfeinern, um den Missionserfolg zu sichern, dann sollte die Regierung das auch tun.« So versuchte der konservative Hinterbänkler Tobias Ellwood kürzlich in einem Artikel für das Parlamentsmagazin The House seine Partei zu einer 180-Grad-Wende zu bewegen. Der ehemalige Armeeangehörige Ellwood argumentierte, dass das Vereinigte Königreich wieder dem EU-Binnenmarkt beitreten sollte; nur so könnten die wirtschaftlichen Probleme des Landes gelöst werden. Am 23. Juni jährt sich das britische Referendum, in dem eine Mehrheit für einen Austritt aus der Europäischen Union stimmte, zum sechsten Mal. Nach mehreren Verzögerungen trat das Vereinigte Königreich schließlich am 31. Januar 2020 aus der EU aus, seit dem 1. Januar 2021 ist es nicht mehr Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion. Britische Exporte in die EU sind seither deutlich zurückgegangen, besonders die britische Landwirtschaft und Fischerei leiden unter dieser Entwicklung. Zudem gibt es weiter Streit mit der EU um das sogenannte Nordirland-Pro­tokoll. Premierminister Boris Johnson kündigte zuletzt an, dass er Teile des Abkommens über den Status der inneririschen Grenze – der wichtigsten Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU – einseitig ändern möchte. Premierminister Boris Johnson kündigte zuletzt an, dass er Teile des Abkommens über den Status der inneririschen Grenze einseitig ändern möchte. Ellwoods Vorschlag stieß auf eine heftige Gegenreaktion in seiner Partei, die nach wie vor den EU-Austritt zu ihrem Markenkern zählt. Aber bei den Tories herrscht Unruhe an der Basis und die Parteiführung hat weniger Rückhalt als je zuvor. Am 6. Juni hat Johnson ein Misstrauensvotum seiner Unterhausfraktion nur knapp überstanden, mit 211 zu 148 Stimmen. Selbst Theresa May, seine Vorgängerin im Amt und im Parteivorsitz, wurde vor ihrem Rücktritt von einer prozentual größeren Mehrheit der Abgeordneten der eigenen Partei das Vertrauen ausgesprochen. Johnsons lockere Art und sein jovialer Führungsstil finden seit dem Skandal um Partys, die gegen die Pandemieschutzbestimmungen seiner eigenen Regierung verstießen (Jungle World 19/2022), bei der Bevölkerung nur noch wenig Anklang. Zudem leidet auch Großbritannien unter einer hohen Inflationsrate (im April betrug sie neun Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat) und Heizkosten sind für die meisten Briten und Britinnen schon seit Beginn des Jahres enorm gestiegen, was den Unmut weiter wachsen lässt. Die Diskussion über den EU-Austritt dominiert die politische Debatte weiterhin. Ökonomen tun sich noch schwer damit, die genauen wirtschaftlichen Auswirkungen des Austritts zu bewerten. Die pessimistischen Kurzzeitprognosen vieler Banken nach dem Referendum im Jahr 2016 erfüllten sich zunächst nicht. Die mittel- und langfristigen Folgen des Austritts sind jedoch schwerer zu beurteilen. Die Covid-19-Pan­demie erschwert es, zu beurteilen, wie stark er die britische Wirtschaft geschädigt hat. Neuere Studien wecken jedoch zumindest den Eindruck, dass Großbritannien beim Aufschwung, der in anderen Ländern nach dem Ende der meisten Pandemiemaßnahmen eingesetzt hat, stark hinterherhinkt. Am Austritt und der Frage nach dem Verhältnis des Landes zur EU scheiden sich die Meinungen in der britische Gesellschaft. Beim Referendum stimmte mit 51,9 Prozent nur eine knappe Mehrheit für den EU-Austritt. Umfragen ­zufolge ist mittlerweile eine gewisse Skepsis gegenüber dieser Entscheidung eingekehrt. 49 Prozent der Briten und Britinnen sagen nun, dass es falsch war, die EU zu verlassen; nur noch 37 Prozent halten es für die richtige Entscheidung. Dennoch ist es höchst unwahrscheinlich, dass Großbritannien sich wieder um eine Mitgliedschaft in der EU oder dem EU-Binnenmarkt bemüht. Das liegt auch an der Opposition: Labour scheint sich derzeit nicht nur mit dem Austritt abzufinden, es wird auch immer öfter betont, wie wichtig die Entscheidung für das Land gewesen sei. Schon im Februar hatte der Labour-Vorsitzende Keir Starmer beteuert: »Wir haben die EU verlassen und wir kehren nicht zurück. Es gibt keine Gründe, wieder beizutreten.« Labours Slogan lautet jetzt: »Make Brexit Work«. Die Partei wirft den Tories vor, dass sie ihre vollmundigen Versprechen über die Zukunft des Landes nach dem Austritt nicht einhalten können und dass die Regierung nicht weit genug vorausgeplant habe. Labour könne eine bessere Beziehung zur EU garantieren und gleichzeitig mehr von den Austrittsversprechen der Tories einlösen. Unter anderem hatte die Konservative Partei vor dem Referendum versprochen, dass der britische Finanzsektor von einem Austritt profitieren werde, weil man einschränkende EU-Regularien loswerden könne. In den Worten des konservativen Magazins Spectator sollte London sich in ein »Singapur an der Themse« verwandeln. Davon konnte man in den vergangenen Jahren wenig sehen. Zumindest zum Teil hat Labour diese Idee nun ­gekapert. Die Schattenwirtschaftsministerin Tulip Siddiq hat kürzlich dargelegt, wie die Reform einiger »zu restriktiver« Regelungen der britischen ­Wirtschaft wieder auf die Beine helfen könne. Ein weiteres Versprechen Johnsons war eine Mehrwertsteuerbefreiung für Energie, die, behaupteten die Tories, in der EU nicht möglich gewesen wäre. Dieses Versprechen wurde jetzt aufgrund fehlender Haushaltsmittel von Johnson fallengelassen. Ein weiteres gefundenes Fressen für die Labour-Partei, die die Regierung drängt, diesen »Brexit-Bonus« einzuführen. Angesichts der wachsenden Skepsis in der britischen Bevölkerung gegenüber dem Austritt scheint die Labour-Strategie überraschend. Starmer geht es jedoch vor allem darum, ehemalige Labour-Wähler und -Wählerinnen zurückzugewinnen. 2019 hatte die Partei in ihren früheren nordenglischen Hochburgen viele Stimmen verloren. Viele Wahlkreise, die Labour jahrzehntelang gewonnen hatte, fielen zum ersten Mal an die Tories. Im vergleichsweise armen Norden hatte 2016 auch ein Großteil der Wähler und Wählerinnen für den Austritt gestimmt. In den Augen Starmers hatte Labour unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn diese von ihm als sozialkonservativ charakterisierten Wählergruppen aus den Augen verloren. Deshalb stellt sich Labour nun als »wahre Partei des britischen Patriotismus« dar. Ob diese ­Strategie aufgeht, wird sich zeigen müssen. Johnson scheint auf jeden Fall das Vertrauen vieler Wähler verloren zu haben – beim diesjährigen Thronjubiläum von Königin Elisabeth II. wurde er ausgebuht.
Johannes Hartmann
Johannes Hartmann: Sechs Jahre nach dem britischen EU-Austrittsreferendum hält auch Labour am Abschied von der EU fest
[ "Brexit" ]
Ausland
23.06.2022
https://jungle.world//artikel/2022/25/kein-blick-zurueck?page=0%2C%2C3
Futterbelohnung
Kämpfer gegen das Unrecht in dieser Welt habe ich gesucht. Eine sentimentale Angewohnheit. Diesmal im Telefonbuch. Schließlich wird sonst nur dafür gekämpft, dass bald nur noch sechs statt acht Atomkraftwerken in die Luft fliegen können. Immerhin gibt es das Komitee gegen Leinenzwang. Im Telefonbuch. Klingt nach Kader. Warum nicht auch gegen den Leinenzwang, wenn es mit Privatbesitz nicht klappt? Ich rief an und gratulierte zum Existieren. Frau Rottleb dankte und berief sich im Kampf gegen das Unrecht auf Frau Dr. Feddersen-Petersen vom Institut für Haustierkunde. Tage später diktierte mir der Kader der Gesellschaft für artgemäße Hundehaltung (GAH) in den Briefkasten: »Heute sind große Teile der Bevölkerung hundefeindlich eingestellt. Schuld daran ist neben einer allgemeinen Entfremdung von der Natur eine extrem hundefeindliche Berichterstattung der Medien.« Eine Drohung? Ich sah die Verdammten dieser Erde ihre Leinen abwerfen und mich zerfleischen. Dann doch lieber ein Contra gegen die extrem hundefeindlichen Medienhetze. Ich berufe mich hier auf Frau Dr. Feddersen-Petersen und die GAH-Avantgarde. Also los, kämpfen wir: »Das Problem der Hundefeindlichkeit ist nur dann in den Griff zu bekommen, wenn jeder Hundebesitzer sein Möglichstes tut, um seinen Hund zu einem gesellschaftsfähigen Zeitgenossen zu erziehen.« Auf, Genossen, zu den Welpenspieltagen! Hier wird der Genosse erst zum Genossen: »Hauptanliegen dieses Kurses ist es, den Welpen Kontakt zu gleichaltrigen Artgenossen zu ermöglichen. Dieser ist für Welpen unbedingt notwendig, um ein intaktes Sozialverhalten andern Hunden gegenüber zu bekommen.« Sehr richtig. Und damit sie sich nicht langweilen, wenn sie das gelernt haben, gibt es den Kurs »Beschäftigung mit dem Hund«. Da wird »nicht nur der Hund geistig gefordert. Hier geht es um die Freizeitgestaltung mit dem Hund, die vor allem Hund und Besitzer Spaß machen soll.« Für mein gutes Gewissen im Kampf gegen die Ungerechtigkeit mache ich hier noch darauf aufmerksam, dass »Hunde so lernen wie alle anderen Säugetiere auch. Wir bitten sie daher, zu jeder Unterrichtsstunde ausreichend Futterbelohnung für den Hund mitzubringen. Es ist sehr wichtig, dass Ihr Hund dieses Futter gerne mag. Probieren sie es mit kleinen Käsestückchen, Wursträdchen oder klein geschnittenen Wiener Würstchen.« Gerade jetzt, wo ich was gegen die Ungerechtigkeit tue, plärrt und schreit und stört das Kind von nebenan. Schade, dass es kaum Kindergartenplätze in diesem Land der Welpenspieltage gibt. Vielleicht spendiere ich dem Blag mal einen Tag bei den Hunden. Wohlmöglich wird es da zerfleischt. Dann habe ich mehr Muße für den Kampf gegen das Kleinschneiden der Wiener Würstchen.
konrad lischka
konrad lischka: Zum Blauen Affen V
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webredaktion
31.05.2000
https://jungle.world//artikel/2000/22/futterbelohnung
Mit Brettern und Hasenohren
Vielleicht sind wirklich nur Schafe ausgeprägtere Herdentiere als wir Menschen«, schrieb der norwegische Journalist Stein Erik Kirkebøen letztes Jahr in einem Aufsatz über die wenigen Skiläufer, denen es gelungen ist, die nordischen Sportarten zu verändern. Anders sei es ja wohl kaum zu erklären, dass »es Hunderte Jahre gedauert hat, bis mal jemand auf die Idee kam, zum Beispiel bestimmte Techniken zu verändern«. Wie den Langlaufschritt. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war selbst den meisten Laien klar, mit welchem Bewegungsablauf nordische Sportler am schnellsten ins Ziel gelangen würden: Sie mussten sich auf Skiern einfach nur so bewegen, als würden sie rennen. Schließlich hatten das auf alten Fotos und Filmaufnahmen bereits Legenden wie Thorleif Haug und Sixten Jernberg exakt so vorgemacht. Ganz zu schweigen von den historischen Felsmalereien, die eindeutig Skilangläufer in der bekannten Pose zeigen. Die erste bekannte Abbildung eines Ski laufenden Menschen entstand vor grob fünftausend Jahren und ist ungefähr so alt wie die ägyptischen Pyramiden. Das in einen Felsen der nordnorwegischen Insel Rødøy eingehämmerte und von Torfstechern 1929 zufällig entdeckte Strichmännchen trägt zwar seltsamerweise Hasenohren, aber auch eindeutig Bretter unter den Füßen. Wie diese frühzeitlichen Skier ausgesehen haben, ist auch klar: In einem Moorgebiet nahe dem schwedischen Horting wurde ein recht gut erhaltenes Exemplar gefunden, dessen Alter von Wissenschaftlern mittels einer modernen Pollenanalyse auf 4 500 Jahre geschätzt wird. 110 Zentimeter lang, zehn Zentimeter breit und einen Zentimeter dick ähnelt es bis auf die fehlende Taillierung frappant dem, was sich Hobbyläufer heute so unter die Füße schnallen. Dabei gehen Experten davon aus, dass der Ski aus einer Art Schneeschuh oder Kufe entwickelt wurde, die es den damaligen Jägern möglich machte, Sümpfe und gefrorenes Gelände sicherer zu durchqueren. Aus purer Freude am Skilaufen schnallten sich jedoch nur die wenigsten Menschen Bretter an. Geschichtsschreiber erwähnten immer wieder, dass die rasche Fortbewegung auf verschneitem Terrain ein Faktor der skandinavischen Kriegführung sei. Im sechsten Jahrhundert beschreibt der byzantinische Historiker Prokop in seinem Werk »De Bello Gothico« bereits entschlossen dahingleitende Finnen oder »skrithifinns«. Skilaufen aus purem Spaß war damals nichts für die Normalsterblichen. 1222 nach Christus wurde in einer vom isländischen Barden Snorre Sturlason erstmals aufgeschriebenen Sage der erste Fall von wintersportbedingter Trennung erwähnt. Die Göttin Skadi verließ demnach ihren Ehemann, den Gott Njord, in einer frühzeitlichen Variante des Zigarettenholens mit der Ausrede, sie gehe nur mal kurz Skilaufen. Der 1490 in Linköping geborene Geistliche und Historiker Olaus Magnus schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts in lateinischer Sprache ein Buch über die Völker des Nordens, die dem gebildeten Publikum bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt waren. Sein Werk »Historia de gentibus septentrionalibus« sollte lange Zeit als Standardwerk gelten und wurde noch im 16. und 17. Jahrhundert unter anderem ins Deutsche übersetzt und immer wieder neu aufgelegt. In seinen Schilderungen, die unter anderem auf einer in den Jahren 1518/19 unternommenen Nordland-Reise beruhen, erwähnte Magnus nicht nur grauenvolle Meeresungeheuer und den Mahlstrom vor den Lofoten, sondern auch von ihm beobachtete Wettbewerbe im Skilaufen. Die Illustrationen waren größtenteils von ihm selbst gefertigt worden. Eine Radierung mit dem Titel »samisches Paar beim Skilaufen« zeigt ein älteres Paar, das mit Pfeil und Bogen ausgerüstet ist und Schnabelschuhen ähnliche Skier an den Füßen trägt. Magnus’ Erzählungen wurden wahrscheinlich auch in der Schweiz gelesen, denn der eidgenössische Theologe und Historiker Josias Simler beschrieb in seinem 1574 in Zürich publizierten Pionierwerk der wissenschaftlichen Alpenkunde, »De Alpibus Commentarius«, dass schmale Bretter, mit Seilen an den Füßen befestigt, das gefürchtete Verschlucktwerden vom Tiefschnee verhindern könnten. Zu diesem Zeitpunkt verteilten norwegische Postboten übrigens in bestimmten Regionen schon seit 44 Jahren ihre Brieflieferungen auf Skiern, und vor den Steuereintreibern Königs Håkon des Guten schützte es schon längst nicht mehr, in abgelegenen, tief verschneiten Gegenden zu wohnen. Bis aus der meist notgedrungenen Fortbewegung per Ski eine richtige Sportart wurde, sollte es jedoch noch sehr lange dauern. Maßgeblich trug dazu der berühmte Polarforscher Fridtjof Nansen bei. Dem Neurologen an der Universität von Oslo war im Jahr 1888 in nur sechs Wochen die Durchquerung des damals noch völlig unbekannten Grönland gelungen. Maßgeblich für den Erfolg der riskanten Expedition sei vor allem gewesen, dass Skier benutzt wurden, erklärte er in seinem Buch »På ski over Grønland«, dessen 1891 ins Deutsche übersetze Ausgabe aus unerklärlichen Gründen den Titel »Auf Schneeschuhen durch Grönland« trug. Nansens Buch löste international große Begeisterung aus, und viele Leser wollten unbedingt ausprobieren, wie dieses seltsame Skifahren denn wohl funktioniere. Überall in Europa gründeten sich Skiclubs, in denen man Bewegung und Naturerlebnis miteinander verband. Gelaufen wurde natürlich im traditionellen Stil. Bis eine in den siebziger Jahren begonnene schleichende Revolution schließlich damit endete, dass Langläufer heutzutage ihren Sport nur noch breitbeinig ausüben. Wer den mittlerweile als Skating-Technik bekannten Stil erfunden hat, ist unklar. Vielleicht war es tatsächlich der im Jahr 1938 im finnischen Simpele geborene Polizist Pauli Siitonen. Seine große Liebe galt dem Langlauf, mit großer Begeisterung nahm er europaweit an Langdistanz-Rennen teil. Durchaus erfolgreich: In den siebziger Jahren konnte er noch als Oldie beispielsweise den König-Ludwig-Lauf in Bayern gewinnen. Aber Siitonen hatte, ebenso wie seine Konkurrenten, ein Problem. Auf den neuen Kunststoffskiern hielt das Wachs nicht so lange, wie er es von seinen alten Holzmodellen gewohnt war. Wenn sich das Material nicht ändern lasse, dann müsse halt der Mensch sich ändern, beschloss der Hobbysportler und erinnerte sich an den Stil, bei dem der Athlet sich bewegt wie ein Eisschnellläufer. Bei den großen Volksläufen wurden damals immer mal wieder breitbeinige Ausfallschritte gemacht. Siitonen sollte der erste Amateur werden, der regelmäßig skatete. Seine Mitbürger waren auf diese Neuerung jedoch nicht stolz. Mehr als ein Jahrzehnt lang weigerten sich die Finnen derart vehement, den neuen Schritt wie manche anderen Langlaufnationen nach Pauli Siitonen zu benennen, dass sich schließlich international die Bezeichnung »Skaten« durchsetzte. Was vielleicht auch daran liegen mag, dass er mit dafür gesorgt hatte, dass nun plötzlich Sportler aus Ländern, die bisher kaum bei Wintersportarten auf den Siegerpodesten anzutreffen waren, Rennen und Medaillen gewannen. Wie Bill Koch aus Colorado. 1976 wurde er im Skatingstil über 30 Kilometer Zweiter bei der Winterolympiade von Innsbruck, was alle Experten auf den neuen Bewegungsablauf zurückführten. Koch bestreitet übrigens bis heute, den Schlittschuhschritt in einem offiziellen Wettbewerb eingeführt zu haben. »Kaum jemand weiß, wer es war, nicht einmal derjenige selber«, lachte er in einem Interview mit der norwegischen Zeitung Aftenposten. Die Ehre, so Koch, gebühre dem DDR-Sportler Gerhard Grimmer, »der bei der WM 1974 im schwedischen Falun wie alle anderen Teilnehmer große Probleme mit den neuen Glasfiber-Skiern hatte. Niemand wusste, wie man die denn nun wachsen sollte; und Grimmer hatte beim 50-Kilometer-Rennen schon nach wenigen hundert Metern sein komplettes Wachs verloren.« Um überhaupt vorwärts zu kommen musste Grimmer skaten. Im Ziel war er zwei Minuten schneller als der Zweite. »Nein, die wenigsten Zuschauer verstanden damals, dass da vor ihren Augen ein neuer Stil kreiert wurde«, erinnert sich Koch. »Und die Experten ergingen sich in Mutmaßungen darüber, wie hoch Grimmers Vorsprung erst gewesen wäre, wenn er mit der ›richtigen Technik‹ unterwegs gewesen wäre.« Dabei ist der schlittschuheske Ausfallschritt eigentlich immer gebräuchlich gewesen. Alte Archivaufnahmen belegten zum Beispiel, dass Johan Grøttumsbråten bereits 1931 im thüringischen Oberhof skatete. Und schon die Organisatoren der Olympischen Winterspiele in Squaw Valley nahmen 1960 ausdrücklich sehr breite Pistenpräparierungen vor, so dass die Läufer eben auch skaten konnten. »Die Aktiven nahmen die Einladung jedoch nicht an«, erinnert sich Bill Koch. »Ich brauchte ja schließlich auch einige Jahre, bis ich kapierte, dass ich ja schon als Kind bei Skitouren festgestellt hatte, dass ich mit dem Siitonen-Schritt eigentlich viel schneller vorankam.« Vielen Spitzensportlern sei es schon bald ähnlich ergangen, merkt er weiter an. »Denn plötzlich behielten immer weniger Athleten den traditionellen Stil bei.« Der Siitonen-Schritt hat sich mittlerweile endgültig durchgesetzt, aber dass nun erneut Hunderte Jahre Langlauf-Ruhe herrscht, ist nicht anzunehmen. Bill Koch arbeitet nämlich gerade an einer weiteren Neuerung: Sandlanglauf. Bereits zwei Strände habe er auf Hawaii entdeckt, die absolut skitauglich seien. Das Langlaufen sei dort »absolut großartig«, schwärmt er, »und das Beste: Bei idealen Sandverhältnissen ist Wachsen absolut nicht notwendig.«
Elke Wittich
Elke Wittich:
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Sport
11.02.2004
https://jungle.world//artikel/2004/07/mit-brettern-und-hasenohren?page=0%2C%2C0
Belästigt und diskriminiert
Jeremy Corbyn meint, das Ausmaß des Antisemitismus in der Labour-Partei werde »dramatisch übertrieben« Die britische Equality and Human Rights Commission (EHRC) hat eine niederschmetternde Bilanz der Antisemitismusaffäre in der Labour-Partei gezogen. In einem Ende vorigen Monats veröffentlichten Untersuchungsbericht wirft sie Labour direkte und indirekte Diskriminierung sowie schwerwiegende Mängel in Hinblick auf Beschwerde- und Disziplinarverfahren wegen Antisemitismus vor. Im Vorwort schreibt die Interimsvorsitzende der EHRC, Caroline Waters, diese Faktoren hätten zu einem »Zusammenbruch des Vertrauens zwischen der ­Labour-Partei, vielen ihrer Mitglieder und der jüdischen community« geführt. Das britische Parlament hatte 2006 ­beschlossen, die EHRC als Antidiskriminierungsbehörde einzurichten; diese nahm 2007 ihre Arbeit auf. Sie wird von der Regierung finanziert, ist aber formell unabhängig. Die EHRC hatte die Untersuchung im Mai 2019 angekündigt, nachdem die NGO Campaign against Antisemitism (CAA) und das Jewish Labour Movement (JLM), die offizielle Vertretung jüdischer ­Labour-Mitglieder, Beschwerde eingereicht hatten. Die Ankündigung sorgte unter anderem deshalb für Aufsehen, weil bis zu diesem Zeitpunkt nur eine einzige andere Partei Gegenstand einer EHRC-Untersuchung geworden war: 2009 verklagte die EHRC die rechtsextreme British National Party (BNP), weil deren Statuten Nichtweiße von der Parteimitgliedschaft ausschloss. Überraschend war die Ankündigung nicht. In den vergangenen Jahren hatte eine Vielzahl an Vorfällen und Skandalen für eine anhaltende öffentliche Debatte über – insbesondere israelbezogenen – Antisemitismus in der Labour-Partei ­gesorgt. JLM und CAA reichten bei der EHRC mehr als 220 Beschwerdefälle aus dem Zeitraum 2011 bis 2019 ein. Offizielle Parteiangaben deuten ebenfalls auf ein ernsthaftes Problem hin. Im vergangenen Jahr dokumentierte die Partei 773 antisemitische Vorfälle, suspendierte 296 Mitglieder und schloss 45 aus. 75 Mitglieder entzogen sich möglichen Sanktionen, indem sie aus der Partei austraten. Nicht nur prominente Parteimitglieder, sondern auch bekannte Weggefährten Jeremy Corbyns, der von 2015 bis 2020 Parteivorsitzender war, wurden infolge Disziplinarverfahren wegen Antisemitismus sanktioniert. Zu ihnen gehören Ken Livingstone, ehemals Bürgermeister Londons, Chris Williamson und Peter Willsman, die in den vergangenen Jahren Mitglieder des Labour-Parteivorstandes (National Executive Committee) waren; ihre Parteimitgliedschaft wurde auf ­unbestimmte Zeit suspendiert. Das Disziplinarverfahren gegen Willsman, der auf der Website der Labour-Partei weiterhin als Vorstandsmitglied geführt wird, ist Medienberichten zufolge noch nicht abgeschlossen. Livingstone und Williamson sind vor Abschluss des Verfahrens aus der Partei ausgetreten. Jackie Walker, die ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Basisbewegung Momentum, die Corbyn unterstützte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Corbyn pflegte vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden Kontakte zu den islamistischen Terrororganisationen Hamas und Hizbollah und trat mehrmals im iranischen Staatsfernsehsender Press TV auf. Außerdem wurde ihm wiederholt vorgeworfen, das Ausmaß von linkem Antisemitismus kleinzureden und jüdische Perspektiven zu ignorieren. In einer im Juli 2019 ausgestrahlten BBC-Dokumentation werfen ehemalige Parteimitarbeiter Corbyns Büro vor, in laufende Disziplinarverfahren beschwichtigend oder hemmend eingegriffen zu haben. In politischer Hinsicht blieb die EHRC-Untersuchung beschränkt. Es ging nicht darum, das Ausmaß des Antisemitismus in der Partei einzuschätzen und zu untersuchen, inwieweit dieser institutionalisiert ist. Die Hauptauf­gabe bestand darin, nach rechtswidrigen Formen antisemitischer Diskriminierung und Belästigung zu suchen und zu bewerten, ob die Partei angemessen auf diese reagiert hatte. Als rechtswidrig gilt eine Verhaltensweise, die nicht durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist, da sie die Würde einer anderen Person verletzt oder für diese eine »einschüchternde, feindliche, herabwürdigende oder beleidigende Umgebung« erzeugt, wie es in dem Bericht heißt. Hierzu wurde eine Auswahl von 70 Beschwerdefällen untersucht. Der Bericht dokumentiert zahlreiche Beispiele für antisemitische Verhaltensweisen und stuft mindestens 18 Fälle als potentiell gesetzwidrige Belästigung ein. In zwei Fällen macht er die Labour-Partei sogar direkt für gesetzwidrige Belästigung verantwortlich, weil diese von offiziellen Parteivertretern ausging, die nachweislich im Namen der Partei handelten. Livingstone verteidigte im April 2016 einen antisemitischen Kommentar der Labour-Politikerin Naz Shah unter anderem mit der Bemerkung, diese sei einer Schmierenkampagne der »Israel-Lobby« ausgesetzt. Die Lokalpolitikerin Pam Bromley veröffentlichte im April 2018 unter anderem einen Facebook-Beitrag, in dem sie sich über den Einfluss der Familie Rothschild ausließ und nahelegte, das islamistische Attentat von Manchester 2017 sei von Premierministerin Theresa May eingefädelt worden. Der ­Bericht würdigt zwar verschiedene Reformbestrebungen der vergangenen Monate, spricht aber von einer »Kultur in der Partei, die im besten Fall nicht genügend tat, um Antisemitismus zu verhindern, und für die im schlimmsten Fall gelten könnte, dass sie diesen akzeptierte«. Corbyn schrieb in einer Stellungnahme, er akzeptiere »nicht alle« Ergebnisse des Berichts. Weiter schrieb er: »Ein Antisemit ist einer zu viel, aber das Ausmaß des Problems wurde aus ­politischen Gründen auch dramatisch übertrieben von unseren Gegnern ­innerhalb und außerhalb der Partei sowie von vielen Medien.« Seit der Ankündigung der EHRC-Untersuchung hat es Versuche gegeben, deren Seriosität in Frage zu stellen. In einem Anfang Juni veröffentlichten Interview mit der Nachrichtenplattform Middle East Eye bezeichnete Corbyn die EHRC als »Teil der Regierungsmaschine«, der es an partei- und regierungspolitischer Unabhängigkeit mangele. Belege hierfür nannte er nicht. Vermutlich bezog er sich auf eine laufende Diskussion über das Verhältnis von EHRC und Konservativer Partei. Im Mai hatte die EHRC entschieden, eine bereits angekündigte Untersuchung zu sogenannter Islamophobie bei den Tories abzusagen. Kritiker warfen der EHRC deshalb vor, bei Konservativen und Labour mit zweierlei Maß zu messen. Die EHRC erwiderte in einer Stellungnahme, eine Intervention sei derzeit nicht verhältnismäßig, da die Konservative Partei kurz zuvor eine eigenständige Untersuchung ange­kündigt hatte. Tatsächlich war die EHRC im Falle der Labour-Partei ähnlich vorgegangen. Bereits 2016 hatte die Partei zwei eigene Untersuchungen zum parteiinternen Antisemitismus vorgenommen, doch hatte sich die Lage seither nicht verbessert. Die EHRC hatte Labour also ganze drei Jahre Zeit gelassen, das Problem in den Griff zu bekommen. Der Unmut des Corbyn-Flügels richtete sich nicht nur gegen die EHRC, sondern auch gegen Personen, die sich öffentlich gegen Antisemitismus ausgesprochen hatten. Im April wurde bekannt, dass Corbyns Büro in den letzten Wochen von dessen Parteivorsitz, die im selben Monat endete, einen internen Bericht über das Beschwerde- und Disziplinarverfahren angefertigt hatte. Vermutlich sollte dieser Bericht dem restlichen Beweismaterial hinzugefügt werden, das die Partei der EHRC bereits übergeben hatte. Dies geschah letztlich nicht, doch eine unbekannte Quelle leitete den 850seitigen Bericht an Medien weiter. Der Nachrichtenplattform Sky News zufolge stellt der Bericht die These auf, für die mangelhafte Aufarbeitung antisemitischer Vorfälle seien in erster Linie Corbyn-feindliche Parteifunktionäre verantwortlich gewesen. Sie hätten beständig versucht, das Beschwerde- und Disziplinarverfahren zu blockieren, um das Ansehen der Parteiführung zu beschädigen. Namentlich sollen einige der ehemaligen Parteimitarbeiter hervor­gehoben worden sein, die zur erwähnten BBC-Dokumentation beigetragen hatten. Seit diese ausgetauscht wurden, seien keine Mängel mehr festgestellt worden. Der Guardian berichtete, der damalige Parteianwalt Thomas Gardiner habe dem Bericht in einer E-Mail an die Generalsekretärin der Partei, Jennie Formby, attestiert, die Tatsachen verzerrend darzustellen, und von einer weiteren Verbreitung gewarnt. Keir Starmer, der Corbyn am 4. April als Labour-Vorsitzender abgelöst hat, sprach in Hinblick auf die Veröffentlichung des EHRC-Berichts von einem »Tag der Schande für die Labour-Partei« und bezeichnete diejenigen in der Partei, die hinter Antisemitismusvorwürfen lediglich eine politische Schmierenkampagne wittern, als »Teil des Problems«. Kurz nachdem Corbyn seine Stellungnahme veröffentlicht hatte, wurde seine Parteimitgliedschaft suspendiert. Nun muss er sich zum ersten Mal einem Disziplinarverfahren stellen. Die Labour-Partei muss der EHRC bis zum 10. Dezember einen Plan vorlegen, wie sie gegen das in dem Bericht monierte gesetzwidrige Verhalten vorgehen will. Bis dahin wird voraussichtlich die Causa Corbyn im Zentrum der Debatte bleiben. Corbyn kündigte an, seine Suspendierung anzufechten – und erhielt hierfür prominente Unterstützung. In einer Stellungnahme forderten 22 Mitglieder der Socialist Campaign Group, einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten der Labour-Partei, die Suspendierung Corbyns aufzuheben. Unterzeichnet hat auch Rebecca Long Bailey, die selber eine wichtige Rolle in der Antisemitismusdebatte der vergangenen Monate gespielt hat. Im Juni verlor sie ihre Rolle als Schattenministerin für Bildung, da sie sich positiv auf ein Zeitungsinterview mit der Schauspielerin Maxine Peake bezoge hatte. Letztere verbeitet darin die antisemitische Verschwörungstheorie, die Tötung George Floyds sei auf den Einfluss ­israelischer Geheimdienste auf die Festnahmepraktiken US-amerikanischer Polizeibehörden zurückzuführen.
Helge Petersen
Helge Petersen: Untersuchungsbericht über Antisemitismus in der britischen Labour-Partei
[ "Labour Party", "Großbritannien", "Jeremy Corbyn", "Antisemitismus", "Brexit" ]
Ausland
12.11.2020
https://jungle.world//artikel/2020/46/belaestigt-und-diskriminiert?page=0%2C%2C3
Wenn die Geister Amok laufen
Der UN-Gesandte für Liberia, hatte eine ungewöhnliche Botschaft für Charles Taylor. »Gehen Sie, solange es möglich ist«, riet Jacques Paul Klein dem Präsidenten Liberias, gegen den ein Haftbefehl des von der Uno mit getragenen Kriegsverbrechertribunals in Sierra Leone vorliegt. Taylor solle die Einladung des nigerianischen Staatschefs Olusegun Obasanjo annehmen, der ihn in einer eigens hergerichteten Villa unterbringen will. Der Rat an den Angeklagten, schnell zu flüchten, deutet darauf hin, dass die UN-Bürokratie die Entscheidung, Taylor ausgerechnet während einer Friedenskonferenz in Ghana verhaften zu wollen (Jungle World, 29/03), mittlerweile als Fehler betrachtet. Die Rebellengruppen Lurd und Model die Anklageerhebung als Einladung zu einer militärischen Offensive interpretierten, und die westafrikanischen Staatschefs fühlten sich übergangen. »Wenn man das nicht für Charles Taylor tut, bekommt man das, was wir jetzt haben«, rechtfertigte Obasanjo auf dem Höhepunkt der Kämpfe um Monrovia sein Asylangebot. Die nigerianische Regierung will auch dafür sorgen, dass er sein Asyl nicht dazu missbraucht, einen neuen Bürgerkrieg vorzubereiten. Während in Liberia nach dem Eintreffen der Ecowas-Truppen und dem Rücktritt Taylors mit einem Abflauen der Kämpfe gerechnet wird, fürchtet man sich in anderen westafrikanischen Staaten vor der Destabilisierung durch arbeitslos gewordene Milizionäre. »Dunkle Elemente mit fragwürdigem Hintergrund« machte die gambische Tageszeitung The Independent unter den eintreffenden liberianischen Flüchtlingen aus, das Land könne »es sich nicht leisten, dass Rebellen mit dem Ziel herumlaufen, nach einer Abkühlungsperiode das ihnen eigene schlechte Verhalten fortzusetzen«. Die internationalisierten kriegerischen Auseinandersetzungen stärken nationalistische Ressentiments. Auch in der Côte d’Ivoire und Sierra Leone sehen die Regierungen in den liberianischen Flüchtlingen ein Sicherheitsrisiko. Gänzlich paranoid sind solche Befürchtungen allerdings nicht, denn liberianische Milizionäre haben sich an den Bürgerkriegen in Sierra Leone und der Côte d’Ivoire beteiligt. Das Problem sind jedoch nicht marodierende Kämpfer, sondern Warlords, für die eine Niederlage nur dann endgültig ist, wenn sie sie nicht überleben, Staatschefs wie der guineische Präsident Lansana Conte, die Warlord-Milizen unterstützen, und eine »internationale Gemeinschaft«, die weder eine konsistente Interventionsstrategie noch politische Konzepte für eine Nachkriegsordnung hat. Bei der ersten westafrikanischen Intervention der Ecomog in den neunziger Jahren gelang es, die wichtigsten Küstenstädte zu sichern und eine minimale Versorgung zu gewährleisten. Auch die Ecomog-Soldaten plünderten, doch anders als die Warlord-Milizen töteten sie nicht wegen eines falschen Wortes oder eines Paars Schuhe. Deshalb sammelte sich ein großer Teil der Bevölkerung in diesen Gebieten. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe waren 80 Prozent der liberianischen Bevölkerung Flüchtlinge. Die Warlords hatten sich selbst das Wasser abgegraben, es war kaum noch jemand übrig geblieben, den man ausplündern oder zwangsweise rekrutieren konnte. Kaum aber hatte sich Ende der neunziger Jahre die Lage nach Taylors Wahl zum Präsidenten etwas beruhigt, griffen von Guinea unterstützte Milizen Liberia an. Taylor, der seine Wahl allein der Drohung verdankte, im Falle einer Niederlage den Kampf wieder aufzunehmen, konnte zu seiner Unterstützung nur die eigenen Anhänger und die Milizionäre befreundeter Warlords aufbieten. Wie in den meisten afrikanischen Staaten gibt es in Liberia kaum etwas, das die Bürger an den Staat bindet. Auf Sozialleistungen wartet die Bevölkerung vergeblich, für die Steuern gibt es keine Gegenleistung, und die uniformierte Staatsmacht presst den Bürgern bei jeder Gelegenheit zusätzliche Abgaben ab. Der an sich erfreuliche Mangel an Loyalität wird zu einer tödlichen Gefahr für die Gesellschaft, wenn der Staat zu zerfallen beginnt. Denn moderne Organisationen, die die Bevölkerung auf der Grundlage politischer Programme oder sozialer Interessen mobilisieren, sind meist zu schwach, um der Warlordisierung etwas entgegenzusetzen. Der Kampf um die Macht wird so zum perspektivlosen Konflikt bewaffneter Geschäftsleute. Die Warlordisierung ist eine Folge fehlgeschlagener Modernisierung. Wo der Zerfall der traditionellen Gesellschaften nicht durch eine moderne Form der Integration ersetzt wurde, können Kriegsunternehmer die Schwäche des Staates ausnutzen. Nur scheinbar stützen sie sich auf so genannte ethnische Gruppen. Diese entstanden in Liberia erst, als die Elite freigelassener US-Sklaven, die das Land beherrschte, eine übersichtliche Einteilung der Bevölkerungsgruppen benötigte, um die »indirekte Herrschaft« und das Klientelsystem zu organisieren. Krahn etwa war eine Regierungsbezeichnung für einen Teil der We-Stammeskonföderation, die erst im Laufe der Zeit von der so benannten Bevölkerungsgruppe übernommen wurde. In dieser Zeit verfiel mit der Stammesstruktur das traditionelle Werte- und Bildungssystem, das die Ausübung von Gewalt reglementiert hatte, ohne dass es durch ein modernes Schulwesen ersetzt worden wäre. Die zweite Phase der Ethnisierung begann 1980 mit dem Militärputsch des Sergeanten Samuel Doe, der alle wichtigen Positionen mit Krahn-Gefolgsleuten besetzte. Sie wirkte von oben nach unten, von der Spitze des Regimes in die Armee und von dort in die Gesellschaft hinein. Ein Jahr vor Does Putsch brach in Monrovia nach der Erhöhung des Reispreises ein Aufstand unter der Parole »rice and rights« aus. Ein Teil der Armee weigerte sich, auf die Demonstranten zu schießen, eilends aus Guinea eingeflogene Elitetruppen mussten die Regierung retten. Organisationen der sozialen Interessenvertretung konnten sich jedoch nicht etablieren. Die wenigen Enklaven der kapitalistischen Ökonomie standen unverbunden neben der Subsistenzwirtschaft des Hinterlandes. So fehlte der zivilen Opposition eine ausreichende gesellschaftliche Basis, um das Regime zu stürzen. Im Bürgerkrieg der Warlords vereinigten sich ein kapitalistischer Besitzindividualismus, der sich von den üblichen Regeln des Geschäftslebens frei gemacht hatte, und ein von den traditionellen Beschränkungen durch Ritual und Moral losgelöster Kriegerkult zu einer tödlichen Mischung. Viele Kämpfer verkleideten sich mit Masken und eigneten sich die Vorstellung an, dadurch zu Besessenen geworden zu sein, die für ihre Handlungen keine Verantwortung tragen. Durch die Verwendung moderner Materialien wie Badekappen oder Shampooflaschen wurden diese Masken zu bizarren, aber auch symbolischen Kostümierungen. Die Geister des Krieges und des Kapitalismus liefen gemeinsam Amok. Dieser Amoklauf ist bis heute nicht beendet. Die zweite ausländische Militärintervention kann nach dem Vorbild der ersten die Sicherheit und die Versorgung in den großen Städten gewährleisten. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Warlords in Nachbarländer ausweichen oder, wie nach dem Wahlsieg Taylors, sich für kurze Zeit zurückziehen, um eine neue Offensive vorzubereiten. Es ist vorhersehbar, dass die jetzt im Westen zur Schau getragene humanitäre Sorge vergessen sein wird, wenn es um die Finanzierung des Wiederaufbaus geht. Vor allem aber ist der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts unfähig, den im Weltmarkt marginalisierten Gesellschaften eine Integrationsperspektive zu bieten. Und die auf Flüchtlingslager und Verstecke im Busch zerstreute liberianische Bevölkerung hat noch keine neuen Ansätze gefunden, für »rice and rights« zu kämpfen.
Jörn Schulz
Jörn Schulz:
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Thema
13.08.2003
https://jungle.world//artikel/2003/33/wenn-die-geister-amok-laufen?page=0%2C%2C2
Ein Toter und viele Fragen
In einer Zelle der Justizvollzugsanstalt Kleve verbrannte der syrische Kurde Amad Ahmad Amed Ahmad war 26 Jahre alt, als er starb. Der syrische Kurde saß zu Unrecht in Haft: Die Polizei Geldern hatte ihn angeblich mit einem aus Mali stammenden Mann verwechselt. Am 17. September, zwei Monate nach seiner Inhaftierung, brannte es in Ahmads Zelle. Zwei Wochen später erlag der Mann seinen Verletzungen. Nach Auskunft der Ermittler und eines Brandsachverständigen, der erst zwei Wochen nach dem Brand  hinzugezogen wurde, soll Ahmad das Feuer in seiner Zelle selbst gelegt haben. Um 19 Uhr soll er seine Bett­wäsche am Kopfende seines Betts als Knäuel platziert und angezündet haben. Den letzten Notruf soll er um 19.19 Uhr über die Sprechanlage in seiner Zelle abgesetzt haben. Der zuständige Justizbeamte habe den Notruf ignoriert, weil Ahmad ihm nicht geantwortet habe. Die Ermittler schließen ein Fremdeinwirken kategorisch aus. Geht man davon aus, dass Ahmad den Brand selbst gelegt hat, stellt sich die Frage nach seinem Motiv. Seit der Fall Anfang Oktober öffentlich wurde, gab es fortlaufend neue Erkenntnisse zum psychischen Zustand Ahmads. Obwohl sich zwischen den verschiedenen Berichten über den Fall, Widersprüche auftun, vertritt die nordrhein-westfälische Landesregierung weiter die Suizidtheorie. Selbst die Frage, ob der Verstorbene über ausreichend eDeutschkenntnisse verfügte, um sich mit Psychologen und Ärzten zu verständigen, ist ungeklärt. Ahmads Freunde aus Geldern bestreiten das. »Wir haben meistens von Deutsch auf Kurdisch gewechselt, weil Deutsch nicht geklappt hat«, sagte einer der Freunde dem Neuen Deutschland. Das Justizministerium teilte dagegen am 10. Oktober mit: »Es bleibt festzuhalten, dass die Bediensteten des Justizvollzugs sich mit dem Gefangenen ausreichend in deutscher Sprache unterhalten konnten. Eines Dolmetschers bedurfte es nicht.« Auch während der Gespräche mit Psychologen und Ärzten sei kein Dolmetscher anwesend ge­wesen. Selbst die Frage, ob der Verstorbene über ausreichend Deutsch­kenntnisse verfügte, um sich mit Psychologen und Ärzten zu verständigen, ist ungeklärt. Ahmads Freunde aus Geldern bestreiten das. Ahmad war zuerst in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Geldern, dann in der JVA Kleve inhaftiert. In den beiden Vollzugsanstalten gab es insgesamt drei psychologische Gespräche. In einem Bericht des Justizministeriums vom 10. Oktober heißt es: »Bei der Aufnahmeuntersuchung am 7. Juli in der JVA Geldern wurde eine akute Suizidalität festgestellt.« Zwei Tage später, am 9. Juli, habe der Anstaltsarzt in Geldern eine Suizidgefahr bestätigt. Noch am selben Tag habe eine Mitarbeiterin des psychologischen Diensts ein Gespräch mit Ahmad geführt. Ob sie mit ihm über seinen psychischen Zustand gesprochen hat, geht aus dem Bericht ­jedoch nicht hervor. Kurze Zeit später wurde Ahmad in die JVA Kleve verlegt. Bis zum 4. September stand er, wie es in dem Bericht heißt, »unregelmäßig unter 15minütiger Beobachtung«. Am 11. Juli vermerkt der Anstaltsarzt der JVA Kleve: »Bedenken gegen Einzelunterbringung: Suizidgefährdung«. Zweimal stellte Ahmad einen Antrag auf Aufhebung der Sicherungsmaßnahmen. Am 2. August schrieb der Anstaltsarzt, dass er ­keine Bedenken gegen eine Einzelunterbringung Ahmads habe. Eine Suizidgefährdung liege nicht vor. Die Sicherungsmaßnahmen wurden jedoch beibehalten. Am 3. September folgt das erste und einzige Gespräch mit der Anstaltspsychologin. Ahmad schilderte, dass er nicht der per Haftbefehl gesuchte Amedy G. sei. Er habe noch nie an Suizid gedacht und sich auch noch nie selbst verletzt. Von seinen anfänglichen gegenteiligen Äußerungen habe er sich eine zügige Entlassung versprochen. Ahmads Verhalten gebe keine Hinweise auf ­Suizidalität, notierte die Psychologin. Die Sicherungsmaßnahmen wurden aufgehoben. Ahmad kam in eine Gemeinschaftszelle, die er aber wieder verließ, weil es dort Differenzen mit anderen Inhaftierten gab. Er wurde in jene Einzelzelle verlegt, in der später der Brand ausbrach. Nach dem Gespräch mit der Psychologin wurde der Anstaltsarzt dem Bericht zufolge mehrfach gefragt, ob er Bedenken gegen die Aufhebung der Sicherungsmaßnahmen habe. Der Arzt äußerte keine Bedenken. Gegen ihn wird wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen ermittelt. Es bestehe der Verdacht, »dass in der Gesundheitsakte Informationen zum psychischen Zustand des syrischen Staatsangehörigen enthalten sind, die durch den Anstaltsarzt pflichtwidrig nicht der Stelle zur Kenntnis gebracht wurden, die über die Aufhebung der Sicherungsmaßnahmen zu entscheiden hatte«. Am 16. Oktober sprachen die Ermittler mit dem Büroleiter der Anwaltskanzlei, die Ahmad in seinem Asylrechtsverfahren vertreten hatte. Der Büroleiter soll den Ermittlern geschildet haben, dass Ahmad unter schweren psychischen Problemen gelitten und von Selbstmord gesprochen habe. Ahmad soll nach Angaben des Büroleiters »mindestens zweimal aufgrund akuter Suizidgefahr auf freiwilliger Basis in einer geschlossenen Psychatrie gewesen sein«. Auch ärztliche Bescheinigungen aus dem Jahr 2016 sollen dazu vorliegen. Der Bericht eines Klinikums, in dem Ahmad untersucht wurde, soll Auskunft über dessen Sprachkenntnisse geben: »Es wurde ausgeführt, dass ­aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse des syrischen Staatsangehörigen ein sicherer psychopathologischer ­Befund nicht zu erheben gewesen sei.« Nach einem Gespräch mit einem professionellen Dolmetscher während des Aufenthalts in der Klinik »hätten sich keine Anhaltspunkte für suizidale oder fremdaggressive Gedankengänge auf dem Boden einer zu diesem Zeitpunkt sicher zu diagnostizierenden psychischen Erkankung gefunden«.
Dennis Pesch
Dennis Pesch: Im Fall eines im Gefängnis verbrannten Flüchtlings hält die nordrhein-westfälische Landesregierung an der Suizidthese fest
[ "Justiz", "Polizei", "Amed A.", "Kleve" ]
Inland
15.11.2018
https://jungle.world//artikel/2018/46/ein-toter-und-viele-fragen
Deutsches Haus #1/2021
Wie aus einer Meldung der Berliner Polizei hervorgeht, beobachtete ein Mann in der Nacht auf den 28. Dezember im Stadtteil Falkenhagener Feld einen anderen Mann, der nationalsozialistische und rassistische Parolen rief. Der Zeuge alarmierte die Polizei. Angerückte Beamte machten den 47jährigen Verdächtigen in der Nähe ausfindig und stellten seine Personalien fest. Auch dabei gab der alkoholisierte Mann eine na­tionalsozialistische Parole von sich. Gegen ihn erging eine Anzeige wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Wie das Polizeipräsidium Neubrandenburg am 24. Dezember mitteilte, beschmierten unbekannte Täter in Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern) eine Gedenkstele mit schwarzer Farbe. Das Mahnmal erinnert an die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Pogrome. Zudem traten die Unbekannten gegen die Stele. Angaben der Jüdischen Allgemeinen zufolge war sie im Jahr 1991 schon einmal beschmiert worden. In Wusterhausen / Dosse (Brandenburg) kam es am 23. Dezember zu einem rassistischen Vorfall. Wie der RBB auf seiner Website berichtete, beleidigte ein 30jäh­riger Deutscher vor einem Supermarkt am Marktplatz der Stadt drei Männer wegen ihrer dunklen Hautfarbe auf rassistische Weise. Ein türkischer und ein bulgarischer Jugendlicher mischten sich ein, woraufhin es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen ihnen und dem 30jährigen kam. Dieser flüchtete in den Supermarkt und hielt von innen die Glastür zu. Einer der Jugendlichen schlug gegen die Scheibe und beschädigte sie, anschließend verließen die beiden den Ort des Geschehens. Alarmierte Polizeibeamte identifizierten sie jedoch später. Die drei Männer, denen die rassistische Beleidigung gegolten hatte, hatten den Marktplatz beim Eintreffen der Polizei bereits verlassen. Die Kriminalpolizei ermittelt wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Volksverhetzung. Einem ­Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge verunstalteten Unbekannte das Holocaust-Mahnmal in der Gottschedstraße in Leipzig (Sachsen) mit Hakenkreuzen und weiteren Schmierereien. Die Schäden wurden am 21. Dezember entdeckt. Der Staatsschutz ermittelt wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. mst
: Chronik rassistischer und antisemitischer Vorfälle
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Antifa
07.01.2021
https://jungle.world//artikel/2021/01/deutsches-haus-1/2021?page=0%2C%2C3
Nie wieder Reconquista
Als Papst Johannes Paul II. 1982 nach Spanien reiste, erklärte er das Land zur spirituellen Reserve Europas. Von dort sollte die Reevangelisierung des Kontinents ausgehen. Damit knüpfte er an eine Vorstellung von Spanien an, die es seit den Tagen der Reconquista und der Gegenreformation mit dem Katholizismus identifizierte und als Glaubensbewahrer ansah. Die spanische Kirche war dadurch zur Stütze der Mächtigen und einer reaktionären Gesellschaftsordnung geworden. In den dreißiger Jahren bekämpften Linksrepublikaner und die antiklerikale Arbeiterbewegung energisch den gesellschaftlichen Einfluss der Kirche. Unter anderem der damit heraufbeschworene Konflikt führte zum Spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939, aus dem die Feinde der Republik als Sieger hervorgingen. In der folgenden Diktatur des Generals Francisco Franco, die bis zu seinem Tod 1975 andauerte, bekam die katholische Kirche ihre alten Rechte zurück, und Spanien wurde zu einem konfessionellen Staat erklärt. Den Bürgerkrieg hatte die Kirche als »Kreuzzug« gerechtfertigt. Das Konkordat mit dem Vatikan von 1953, in dem die katholische Kirche die Diktatur Francos nicht ausdrücklich, aber de facto legitimierte, war ein entscheidender Schritt, um die Isolation des Landes zu überwinden. Zugleich profitierte die Kirche vom engen Bündnis mit dem franquistischen Staatsapparat. Durch konfessionelle Schulen und die Zensur konnte die Kirche einen enormen gesellschaftlichen Einfluss ausüben. Dieser äußerte sich etwa in einer vehementen Unterdrückung freier Sexualität und der Unterwerfung der Frauen unter patriarchale Normen. Doch im Laufe der Zeit veränderte sich die Rolle der Kirche. Spanische Arbeiter und Bauern waren nach dem Bürgerkrieg sehr arm und wegen der Zerschlagung der Arbeiterorganisationen schutzlos. Der spanische Wirtschaftsaufschwung führte seit den sechziger Jahren zwar langfristig zu einem deutlichen Anstieg des Wohlstandes, zunächst sorgte der Strukturwandel jedoch für schwierige Lebensbedingungen. So entstanden in industriellen Zentren wie Madrid Elendsviertel mit Arbeitsmigranten aus den armen Landstrichen Südspaniens. In diesen Siedlungen engagierten sich »Arbeiterpriester« für die sozialen Belange. Aus den katholischen Arbeiterbruderschaften gingen illegale Gewerkschaften hervor. Viele politisierte christliche Arbeiter radikalisierten sich mit der Zeit, Kommunist und Katholik zu sein, war bald kein Gegensatz mehr. Auch die baskischen und kata­lanischen Nationalbewegungen erhielten Unterstützung durch den katholischen Klerus. Große Teile der Kirche gerieten so in scharfen Konflikt mit dem Regime, das mit Härte zurückschlug und sogar Priester verhaften ließ. Nach einem Wechsel an der Spitze der Bischofskonferenz und unterstützt von Johannes Paul II., setzte in den achtziger Jahren wieder eine konservative Wende in der spanischen Kirche ein. Gegen die Wiedereinführung der Scheidung kämpfte sie ohne Erfolg, im Abtreibungsrecht konnte sie allerdings eine sehr restriktive Regelung durchsetzen. Bald begannen katholische Geistliche, einen Werteverfall in Spanien zu beklagen. So behauptete Kardinal Ángel Suquía Anfang der neunziger Jahre, die Demokratie als solche sei wegen des in ihr angelegten Agnostizismus die Ursache der bestehenden Probleme. Mit derartigen Anmaßungen reagiert die Kirche auf ihren gesellschaftlichen Machtverlust. Denn innerlich hat sich ein Großteil der Spanier weit vom katholischen Glauben entfernt, viele sind reine »Ritualkatholiken« geworden. Sie gehören weiterhin der Kirche an und begehen Feste wie Taufe, Eheschließung oder Totenfeier gerne im kirchlichen Rahmen, aber sonntags geht nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung in die Kirche. Selbst praktizierende Christen weichen in ihrem Glauben oft von den katholischen Dogmen ab. Auf dem Gebiet gesellschaftlicher Werte steht der Katholizismus vollkommen im Abseits. Der bekannte Schriftsteller Antonio Muñoz Molina merkte hierzu vor kurzem in der Zeit an, dass der vermeintliche Werteverlust keineswegs die Familien zersetze. Vielmehr führe umgekehrt der traditionell starke Zusammenhalt spanischer Familien dazu, dass besonders ältere Menschen toleranter würden. Die katholisch erzogene Mutter akzeptiert eher die Homosexualität ihrer Tochter, als sie zu verstoßen. »Spanien hat aufgehört, katholisch zu sein«, meinte bereits 1931 der damalige Ministerpräsident Manuel Azaña polemisch. Heute hätte die Aussage eine gewisse Gültigkeit. Allerdings ist das weniger das Werk politischer Laizisten wie Azaña, was sich auch an den schwachen antiklerikalen Protesten gegen den jüngsten Papstbesuch gezeigt hat. Vielmehr hat sich die spanische Gesellschaft allmählich säkularisiert. Jugendliche arbeiten sich heute meist nicht mehr an der Religion ab und werden zu erklärten Atheisten, wie noch Teile ihrer Elterngeneration. Religion und Kirche haben in ihrer Alltagswelt schlichtweg keinen Platz mehr. Auf diese für die Kirche besorgniserregenden Entwicklungen reagiert diese mit Gegenwehr. Als die sozialdemokratische Regierung unter Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero seit 2004 einige Reformvorhaben wie die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Etablierung des Faches Staatsbürgerkunde als Alternative zum Religionsunterricht oder die Vereinfachung der Scheidung anstieß, lief die Kirche dagegen Sturm. Die mittlerweile stramm rechte Haltung der spanischen Amtskirche zeigt sich auch in Sachen Vergangenheitsaufarbeitung. Im Bürgerkrieg und zu Beginn der Diktatur brachten die spanischen Faschisten Hunderttausende Linke um, sperrten sie in Gefängnisse und in Arbeitslager. Die Kirche stützte diese Verbrechen ideologisch und wollte die »Roten« umerziehen. 1971, in ihrer regimekritischen Phase, bedauerte die Kirche schließlich, nicht stattdessen zur Versöhnung beigetragen zu haben, und auf einer Konferenz von Klerikern wurde eine diesbezügliche Resolution vorgelegt. Bei der Abstimmung wurde die nötige Zweidrittelmehrheit jedoch verfehlt, immerhin stimmte eine einfache Mehrheit der Resolution zu. Als Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 für das im Namen der Kirche in der Geschichte verübte Unheil um Vergebung bat, wies die spanische Bischofskonferenz ein ähnliches Ansinnen für Spanien zurück. Die Bischöfe sahen vielmehr die Kirche selbst als erstes und wahres Opfer des Bürgerkriegs an. Das von der Regierung Zapateros eingebrachte Gesetz zur Rehabilitierung der »republikanischen« Opfer des Bürgerkriegs lehnten sie ab. Stattdessen ließen sie 498 »Märtyrer«, Ordensleute und Priester, die 1936 der revolutionären Gewalt zum Opfer gefallen waren, selig sprechen. Papst Benedikt XVI. vollzog die Zeremonie im Oktober 2007 in Rom vor 50 000 spanischen Pilgern. So kann die Kirche weiterhin Getreue und überzeugte Katholiken für ihre Belange mobilisieren. Häufig hat sie dabei die konservative Volkspartei (PP) an ihrer Seite. Doch wenn der PP die kommenden Wahlen am 20. November erwartungsgemäß gewinnt, ist in gesellschaftspolitischen Fragen kein großer Umschwung zu erwarten. Denn auch große Teile seiner Wählerschaft haben sich von katholischen Dogmen und Moralvorstellungen entfernt. Die Reevangelisierung Europas ist bereits in Spanien steckengeblieben.
Alexandre Froidevaux
Alexandre Froidevaux: Das Verhältnis von Staat und Kirche in Spanien
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Ausland
08.09.2011
https://jungle.world//artikel/2011/36/nie-wieder-reconquista?page=0%2C%2C3
Pläne durchkreuzt
Niemand würde auf die Idee kommen, ein Halteverbotsschild als Aufforderung zum Parken zu verstehen – außer der Stuttgarter Staatswanwaltschaft vielleicht. Straßenschilder bestehen wie viele andere Hinweisschilder aus so genannten Piktogrammen, aus nüchternen Zeichen, die ohne Wort und Text zur Verständigung dienen, da sie eine feste Bedeutung haben. Auch das durchgestrichene Hakenkreuz ist eine piktografische Darstellung mit eindeutiger Aussage. Und genauso verhält es sich mit dem Hakenkreuz, das bildlich in die Mülltonne fliegt. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft jedoch zog die unmissverständliche Bedeutung der Motive wiederholt in Zweifel. Sie vertrat den Standpunkt, dass die Abgrenzung von rechtem Gedankengut womöglich für den Betrachter nicht eindeutig erkennbar sei und daher auch ein verfremdetes Hakenkreuz indirekt für den Nationalsozialismus werbe. Im vergangenen Jahr veranlasste sie daher im Großraum Stuttgart zahlreiche Beschlagnahmungen und Strafanzeigen gegen Antifas, die verfremdete Hakenkreuze auf Flugblättern oder als Abzeichen verwendet hatten. Den Betroffenen wurde ein Verstoß gegen Paragraf 86a des Strafgesetzbuches vorgeworfen. Dieser stellt die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe. Auch gegen das Punk-Label »Nix-Gut-Records« aus dem baden-württembergischen Winnenden leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein. Das Label hatte Buttons, T-Shirts und andere Artikel vertrieben, auf denen durchgestrichene oder zerstörte Hakenkreuze zu sehen waren. Für die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ein klarer Fall von »massenhafter Verwendung« eines nationalsozialistischen Symbols. Das Landgericht Stuttgart folgte dieser Argumentation und verurteilte Jürgen Kamm, den Geschäftsführer des Labels, im September 2006 zu einer Geldstrafe in Höhe von 3 600 Euro. Der eindeutige Bildzusammenhang, in dem die Hakenkreuze jeweils standen, wurde vom Gericht schlichtweg ignoriert. Die Stuttgarter Staatsanwälte gingen zudem fast ausschließlich gegen junge Antifas und Punks vor. Sowohl die mehrmonatige Ausstellung »Piktogramme« im Kunstmuseum Stuttgart als auch eine Werbebroschüre der Fifa blieben unbehelligt, obwohl sie Hakenkreuze zeigten. Auch Darstellungen in Geschichtsbüchern oder wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurden nicht beanstandet. Der Vorwurf gegen Antifas, das Hakenkreuz in einem schleichenden Prozess wieder populär zu machen, klingt zudem, als gebe es keine Neonazis, die das ohnehin schon machten. Jürgen Kamm hatte gegen das Urteil Revision eingelegt. Am Donnerstag voriger Woche entschied der Bundesgerichtshof in Karlsruhe in der Revisionsverhandlung, dass die Verwendung von Hakenkreuzen in eindeutig distanzierendem Kontext nicht strafbar ist. In der Mitteilung der Pressestelle des Gerichts heißt es explizit, dass die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen nicht unter Paragraf 86a des Strafgesetzbuches falle, wenn »der Inhalt der Darstellung in offenkundiger und eindeutiger Weise die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck bringt«. Alle von dem Angeklagten vertriebenen Artikel seien »gegen die Wiederbelebung nationalsozialistischer Bestrebungen gerichtet«. Dies sei »eindeutig und offenkundig zum Ausdruck gebracht worden«, sagte der Vorsitzende Richter Walter Winkler. Mit dieser Grundsatzentscheidung, die den Anträgen von Verteidigung und Bundesanwaltschaft folgte, wurde das Urteil des Landgerichts Stuttgart gegen Kamm zurückgenommen. Das Vorgehen der Stuttgarter Staatsanwälte hatte zuvor vielerorts Kritik ausgelöst. Im Umfeld von »Nix-Gut-Records« entstand die Kampagne »Wir lassen uns das Dagegensein nicht verbieten«, die auf breiter Basis Unterstützung für die Betroffenen organisierte. Auch Sebastian Edathy (SPD), der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags, die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, und der DBG-Vorsitzende Michael Sommer protestierten gegen die Rechtsauffassung der baden-württembergischen Behörden. Das Urteil des Bundesgerichtshof dürfte eine finanzielle Entschädigung für »Nix-Gut-Records« mit sich bringen und wahrscheinlich die Einstellung der mehr als 40 Verfahren, die gegen Antifas in Baden-Württemberg wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 86a derzeit noch offen sind. Markus K. aus Ludwigsburg, gegen den auch eines dieser Verfahren läuft, empfindet das Urteil auch deshalb als angebracht, weil die Staatsanwaltschaft Stuttgart »beharrlich gegen Antifas vorgegangen« sei, anstatt »ein Verfahren gegen die noch lebenden Täter eines SS-Massakers im norditalienischen Sant’Anna di Stazzema einzuleiten«, wie er der Jungle World sagte. Das Urteil dürfte auch positive Folgen in einem anderen Fall haben, der den Verfahren in Baden-Württemberg in der Sache ähnelt. Am 10. Januar wurde David G. vom Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen ebenfalls wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 86a des Strafgesetzbuches zu einer Geldstrafe verurteilt. Bei einer Polizeikontrolle in Mittenwald fanden die Beamten in seinem Rucksack Flyer, die eine Veranstaltung bewarben. Auf den Zetteln war das Titelbild des im Handel frei erhältlichen Buches »Feindaufklärung und Re­education« des Freiburger Verlags Ça ira abgebildet, das Islamisten beim Zeigen des Hitlergrußes zeigt. Obwohl der Inhalt der Darstellung in einem klar erkennbaren antifaschistischen Zusammenhang stand, wurde auch David G. verurteilt. In der Urteilsbegründung hieß es u.a., der Angeklagte habe in Mittenwald »an verschiedenen Veranstaltungen und Aufzügen des linksextremen Spektrums« teilnehmen wollen, die unter anderem die »linksextremistische VVN-BdA« organisiert habe. Diese Formulierungen illustrieren, dass es wie im Fall von Jürgen Kamm nicht nur um die inkriminierten Symbole, sondern offenbar auch um die Gesinnung derjenigen geht, die sie benutzen. Die Auseinandersetzungen, die dem Urteil des Bundesgerichtshofs vorausgingen, waren langwierig, für die beteiligten Linken nervenaufreibend und teuer. Die Handlungsspielräume von staats- und gesellschaftskritischen Gruppen werden auf solche Weise durch die Behörden stark eingeschränkt, egal wie später das Urteil ausfällt.
sarah kleinmann
sarah kleinmann:
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Antifa
21.03.2007
https://jungle.world//artikel/2007/12/plaene-durchkreuzt?page=0%2C%2C0
Totschläger in der Zeitschleife
Am 9. Januar 2006 wurde der zwölfjährige Kevin auf seinem Heimweg von Schönebeck nach Pömmelte (Sachsen-Anhalt) von fünf rechtsextremen Jugendlichen überfallen und misshandelt. Bereits im Bus begannen die Feindseligkeiten, denen sich der Junge ausgesetzt sah, unbemerkt von anderen Fahrgästen und dem Fahrer. In Pömmelte angekommen, versuchte Kevin, den Angreifern aus eigener Kraft zu entkommen – ohne Erfolg. Nachdem die Täter ihn eine gewisse Strecke über den Boden geschleift hatten, schlugen und traten sie auf ihn ein. Sie zwangen ihn, eine Flasche Bier auszutrinken, die ihnen später als Schlagwaffe dienen sollte. Zudem musste er die Stiefel seiner Peiniger küssen und ablecken sowie auf Fragen mit Parolen wie »Jawohl, mein Führer« antworten. Während der Tortur drückten die Täter auf seinem Augenlied einen glühenden Zigarettenstummel aus und hielten dem Jungen anschließend unter Androhung seines Todes eine Schusswaffe an den Kopf. Nach einer Stunde fanden die Quälereien ihr Ende, da den fünf die Lust vergangen war. »Sie greifen mich an, weil ich Ausländer bin. Das verstehe ich nicht! Bei mir ist jeder willkommen – ob er nun aus Nigeria, Pakistan oder Deutschland ist. Wir sind alle Menschen!« sagte der Zwölfjährige später während des Prozesses. Den Tätern war ihr Opfer wohlbekannt. Einer der der Haupttäter, der damals 19jährige Francesco L., hatte Kevin, dessen Vater aus Äthiopien kommt, schon einmal attackiert. Ein Jahr nach der rassistischen Gewalttat in Pömmelte starb der Junge. Ob sein Tod in einem Zusammenhang mit den psychischen Folgen des Angriffs stand, ließ sich nicht genau feststellen. Francesco L., der wegen seiner Haupttäterschaft zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden war, fand nach seiner frühzeitigen Entlassung im Jahr 2008 schnell wieder Anschluss an seine alte Kameradschaft in Schönebeck. Diese hatte sich zwar nach der Tat in Pömmelte öffentlich von ihm distanziert. Privatfotos aus dem Jahr 2012 zeigen den Mann jedoch in einem T-Shirt der Gruppe. Auch die Beteiligung an den revisionis­tischen »Trauermärschen« in Magdeburg 2011 und 2012, am sogenannten Rudolf-Hess-Gedenkmarsch in Schönebeck im August 2012 und einer Vielzahl rassistischer Überfälle, die er mit anderen Nazis aus der Gegend verübte, sprechen für die feste Verankerung von Francesco L. im örtlichen Milieu. Ein Angriff, der jüngst überregional in die Schlagzeilen geriet, richtete sich gegen einen türkischen Imbissbesitzer im sachsen-anhaltinischen Bernburg Mitte September. Und wieder soll L. beteiligt gewesen sein. Er und acht Kameraden sollen sich in dem Ort zum Abschiedsumtrunk verabredet haben, da L. der Antritt einer Haftstrafe von neun Monaten bevorstand. Er hatte sich im März 2012 an einem Angriff auf zwei alternative Jugendliche in der S-Bahn zwischen Magdeburg und Schönebeck maßgeblich beteiligt. Die Abschiedsfeier endete für A. Erkut, der seit ungefähr 13 Jahren in Bernburg lebt und mit seinem Bruder ein Schnellrestaurant am örtlichen Bahnhof betreibt, mit lebensgefährlichen Ver­letzungen. Als er an diesem Septembertag gegen 21.30 Uhr seinen Laden abschließen wollte, attackierten ihn die Neonazis. Er lag mehrere Tage auf der Intensivstation im künstlichen Koma. Die neun Angreifer wurden festgenommen. Bereits 2011 hatten L. und andere in Schönebeck einen türkischen Restaurantbetreiber attackiert. Mit den Worten »Du bist kein Deutscher!« hatten die Nazis damals eine Silvesterparty in der Dönerimbissstube gestürmt und auf den Besitzer und dessen Gäste mit Stuhlbeinen und Schlagstöcken eingeschlagen. Nun richten sich, weitestgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, rassistische Angriffe auch gegen die Familie des Bernburger Imbissbetreibers. Nur zwei Wochen nach der brutalen Attacke auf den Mann wurde sein Neffe mit Softair-Waffen beschossen, als er das von ihm betriebene Restaurant in Calbe abschließen wollte. Eine Woche darauf wurden Hakenkreuze und das Wort »Neger« an die Garage der Schwägerin von A. Erkut gesprüht, bei seinem Vater wurde der Briefkasten gesprengt. Die Polizei will bisher jedoch keinen Zusammenhang zwischen der Freilassung der Nazis, die an dem Angriff in Bernburg beteiligt waren, und den Angriffen auf die Familie von A. Erkut erkennen. Die Reaktion übergeordneter Behörden auf die steigende Zahl rechtsextremer Angriffe und Propagandadelikte beschränkt sich auf Überlegungen, den landeseigenen Sicherheitsapparat aufzurüsten. Einen Vorschlag in diese Richtung brachte im Oktober Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) vor. Nachdem am »Tag der Deutschen Einheit« in Salzwedel mehr als 100 Nazisymbole an Mauern, Wänden und Schildern hinterlassen worden waren, forderte er eine großflächige Videoüberwachung in Sachsen-Anhalt. Das Praktische an der Technologie: Sie lässt sich nicht nur gegen Nazis, sondern auch gegen Linke einsetzen. Dass Linke bei den Behörden in Sachsen-Anhalt nicht gerade wohlgelitten sind, zeigte am vergangenen Wochenende das repressive Vorgehen der Polizei gegen eine antifaschistische Demonstration in Burg, die aus Protest gegen den zunehmenden Naziterror stattfand. Ein Aufgebot von 400 Beamten begleitete die Demonstration und schikanierte die rund 200 Teilnehmer. Und damit nicht genug: In der Nacht nach der Demonstration zeigte sich, mit welcher Kaltblütigkeit Nazis in der Region gegen politische Gegner vorgehen. Kurz nach zwei Uhr schlug eine Gruppe Nazis in der Nähe des Burger Bahnhofs einen ihnen bekannten Antifaschisten nieder und zerrten ihn in ihr Fahrzeug. Sie bedrohten und schlugen ihn, dann fuhren sie mit ihm in ein Waldstück zwischen Burg und Detershagen. Dort forderten sie ihn auf, die Namen von Antifaschisten zu nennen. Sie entrissen ihm sein Mobiltelefon, riefen eine Person aus der Kontaktliste an und fragten, wie viel Geld der entführte Antifaschist ihr Wert sei. Kurze Zeit später fuhren die Nazis mit dem Auto davon, sie ließen ihr Opfer im Wald zurück und nahmen sein Telefon mit. Die überwiegende Mehrheit der Nazis, die in Burg für Einschüchterungen und Angriffe verantwortlich sind, kommt jedoch nicht aus dem Ort selbst, sondern stammt aus dem benachbarten Magdeburg. Manche von ihnen gehören der seit 2008 verbotenen rechtsextremen Hooligan-Gruppe »Blue White Street Elite« an. Ehemalige Mitglieder der »Aktionsgruppe Burg« und des »Freien Netzes«, die vor Ort ansässig sind, beordern die rechtsextremen Schlägertrupps immer häufiger nach Burg und sind an den Angriffen ebenfalls beteiligt. Den Informationen ortsansässiger Antifaschisten zufolge ist hierfür auch ein Neonazi mitverantwortlich, der bis vor kurzem eine Gefängnisstrafe wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung absaß. Zusammen mit weiteren Nazis hatte er im Januar 2004 den 46jährigen Martin Görges in Burg mit einem sogenannten Bordsteinkick getötet, da sie den Mann für einen Pädophilen hielten. Auch dieser Neonazi ist weiterhin gerngesehener Gast auf rechtsextremen Feiern und Demonstrationen. Die jüngsten Angriffe in Burg und Bernburg bestätigen also lediglich: Rechtsextreme Wiederholungstäter können sich in der Region zu Hause fühlen und weitermachen wie bisher. Dieses Naziproblem wird der Staat weder mit mehr Überwachung noch mit der Schikanierung von Antifaschisten lösen.
martin peters
martin peters: Militante Neonazis in Sachsen-Anhalt
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Antifa
07.11.2013
https://jungle.world//artikel/2013/45/totschlaeger-der-zeitschleife?page=0%2C%2C2
Dicke Luft in Indien
Die Hand vor Augen dürfte noch zu sehen sein, mit Hochhäusern ist es angesichts des Smogs in Delhi schon schwieriger Nachdem die Cricketmannschaft Sri Lankas Anfang Dezember während ­eines Testspiels gegen die indische Auswahl in Delhi mit Mundschutz auf­gelaufen war, hatte die indische Presse eine wohlfeile Erklärung: Sie warf den Gästen vor, sie hätten einen Spielabbruch provozieren wollen, da sie aussichtslos zurücklagen. Doch am nächsten Spieltag übergaben sich nicht nur drei Spieler Sri Lankas auf dem Feld, auch der indische Werfer Mohammed Shami musste wegen Übelkeit aufgeben. Der Grund für die Gesundheits­probleme der Sportler war ein Feinstaubwert von über 300 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Gemessen wurden dabei Partikel der Größe PM 2,5, die nicht größer als 2,5 Mikrometer im Durchmesser sind. Mitte November ­waren in Delhi sogar Werte von 1 000 Mikrogramm registriert worden. Die Schadstoffmenge, die bei einem solchen Wert an einem Tag in die Lunge gelangt, entspricht der von 44 gerauchten Zigaretten. Während die Medien ausschließlich Delhis Stadtregierung verantwortlich machten, weilte Arun ­­Kumar Mehta, Staatssekretär im Umweltministerium Indiens, im Urlaub am Meer in Goa und ließ von dort verlauten, es gebe keinen Grund zur Panik. Das mochte für Goa stimmen, doch fast der gesamte Norden Indiens war zu dieser Zeit von Smog eingehüllt. In Delhi mit seinen etwa 20 Millionen Einwohnern sind daran nicht nur die zehn Millionen Kraftfahrzeuge schuld. Jedes Jahr im November brennen Bauern in den umliegenden Bundestaaten Punjab und Haryana die Stoppeln auf ihren Feldern ab, da sie es sich nicht leisten können, die Überbleibsel der Pflanzen auf umweltschonende Weise zu entsorgen. Zwischen 2010 und 2016 nahmen sich allein in sieben Distrikten des Punjabs 1309 Bauern und Landarbeiter das Leben, in 90 Prozent der Fälle war Überschuldung der Grund. Schon 2016 hatte Arvind Kejriwal, der Regierungschef des Unionsterritoriums Delhi, vergeblich versucht, seine Amtskollegen in Haryana und dem Punjab dazu zu bewegen, das Abbrennen zu verhindern. Im vergangenen Jahr nahm Punjabs Regierungschef Amarinder Singh laut Kerjival nicht einmal den Telefonhörer ab. 2016 hatte Mercedes-Benz erfolgreich gegen die ­Anordnung der Stadtregierung geklagt, Dieselfahrzeugen mit einem größeren Hubraum als 2 000 Kubikzentimeter die Zulassung zu verweigern. 25 Prozent ­aller verkauften Fahrzeuge in Delhi stammen von dem Autobauer. Dabei wollte Delhis Stadtregierung dem armen Bundesstaat Punjab Hilfe anbieten, um dessen Bauern finanziell zu unterstützen. Zudem hätte Singhs Kongresspartei ­zumindest aus strategischen Gründen Interesse daran haben können, mit Kerjivals linksliberaler Aam-Aadmi-Partei (AAP) zusammenzuarbeiten; schließlich ist die Kongresspartei äußerst unbeliebt beim indischen Premierminister Narendra Modi, dessen Bharatiya Janata Party (BJP) auf nationaler Ebene mit der Kongresspartei konkurriert. Doch ein Blick auf die jüngsten Wahlen im Februar 2017 im Punjab erklärt einiges: Als dort einen Tag vor der Stimmab­gabe deutlich wurde, dass Modis BJP keine Chance auf einen Sieg haben würde, riefen die örtlichen Anführer der paramilitärischen, mit der BJP ­verbündeten RSS ihre Anhänger dazu auf, den vermeintlichen Erzfeind, die Kongresspartei, zu wählen, um Kejriwals Partei ein möglichst schlechtes Ergebnis zu bescheren. Die AAP war im Jahr 2012 aus einer Antikorruptionsbewegung hervorgegangen und hatte bei den Wahlen 2015 in Delhi 67 von 70 Sitzen gewonnen. Während in den Nachbarstädten Bhiwadi, Faridabad und Gurgao keine Maßnahmen gegen ähnlich hohe Feinstaubwerte getroffen werden, versucht sich Delhis Stadtregierung zumindest an der Linderung des Problems: Sie verbot für das Lichterfest Diwali, das bislang die gesamte Metropole für Tage in Rauchschwaden gehüllt hatte, im Oktober den Verkauf von Feuerwerk. Unter der Woche dürfen Fahrzeuge nur im tagesweisen Wechsel auf Delhis Straßen fahren, entweder diejenigen mit ungerader Anfangszahl auf dem Nummernschild oder diejenigen mit gerader. Alte Diesellaster wurden 2017 erst gar nicht in die Stadt gelassen, die Arbeiten auf Baustellen eingestellt.
Gilbert Kolonko
Gilbert Kolonko: Indiens Hauptstadt versinkt im Smog, die Regierung behindert Gegenmaßnahmen
[ "Indien" ]
Lifestyle
18.01.2018
https://jungle.world//artikel/2018/03/dicke-luft-indien?page=0%2C%2C1
»Die asiatische Grippe - tödlich für den Kapitalismus?«
In einem Artikel für die brasilianische Tageszeitung Folha de S‹o Paulo sprechen Sie davon, der aktuelle Börsenkrach könnte zum Zusammenbruch der Finanzmärkte führen. Nun haben sich die Kurse aber wieder erholt. Bei jedem Aktiencrash gibt es retardierende Momente, ein Auf und Ab. Das war selbst beim Schwarzen Freitag an der Wallstreet 1929 so. Die jetzigen Turbulenzen können noch Wochen gehen, und eines steht fest: Anders als beim Crash 1987 wird es diesmal nicht wieder zehn Jahre dauern, bevor der nächste Absturz folgt. Im übrigen setzen meine Analysen der Zusammenbruchstendenzen der globalen Kapitalverwertung auf einer anderen Ebene an. Es geht um die innere Schranke der - wie Marx sagt - auf dem Wert beruhenden Produktionsweise. Der Börsencrash ist nur ein Teil dieser Prozesse, ein recht oberflächlicher zumal. Woher nehmen Sie Ihre Gewißheit? 1987 war die New Yorker Börse getroffen, jetzt sind es die Kapitalmärkte in Fernost, das schwächste Kettenglied des globalen Kasinokapitalismus. Bis vor kurzem schwärmte man ja noch vom "pazifischen Jahrhundert", das Schwergewicht der künftigen Weltwirtschaft werde sich von den atlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa auf das pazifische Becken verlagern. Jetzt hat sich herausgestellt: Die Traumregion des Wachstums ist schon nach wenigen Jahren zum Alptraum geworden. Der ostasiatische Boom hatte niemals im Sinne des Realkapitals seriöse Grundlagen, sondern wurde von Anfang an durch das Schwungrad eines transkontinentalen Defizitkreislaufes getrieben. Die völlig einseitige japanische Export-Industrialisierung häuft seit mehr als einem Jahrzehnt gewaltige Überschüsse im Handel mit den USA an. Aber die USA bezahlen die japanischen Waren weder mit dem Erlös aus eigenen Exporterfolgen noch mit eigenen Ersparnissen, sondern mit Schuldscheinen, also Staatspapieren, die zu einem Gutteil von den Japanern gekauft werden. Anders gesagt: Die Japaner pumpen den Amerikanern Geld, damit die ihre Exporte kaufen können - eine Münchhausiade, die nicht gutgehen kann. Zu diesem großen pazifischen kommt noch ein kleiner innerasiatischer Defizitkreislauf: Die Tigerstaaten mußten ihre Exporterfolge mit Handels- und Kapitalbilanzdefiziten bezahlen. Ihre Exportindustrien beherrschen nur einen geringen Teil der Fertigungstiefe, bis heute müssen sie teure Investitionsgüter und Komponenten der Produktion in Japan einkaufen. Die Tigerstaaten bezahlen ihre Schulden bei Japan mit Exportüberschüssen im Handel mit den USA, und die USA finanzieren ihre Importe aus Asien mit geliehenem Kapital aus Japan. An dieser Stelle des globalen Verwertungszusammenhanges hat jetzt der Crash eingeschlagen - das ist der Unterschied zu 1987. Die Wirkung des Crashs von 1987 zeigt sich nicht zuletzt in dem drei Jahre später folgenden Crash der japanischen Börse. Und der hatte sehr wohl Auswirkungen auf die Realökonomie: Die Banken mußten ungefähr eine Billion Dollar an faulen Krediten abschreiben, das wird aus den realen Erträgen abgestottert. Resultat: Seither gibt es praktisch in Japan kein Wirtschaftswachstum mehr - eine siebenjährige Flaute, und zwar obwohl die Regierung schon sieben, acht Konjunkturprogramme aufgelegt hat. Und das Problem ist noch längst nicht ausgestanden: Das durch die faulen Kredite aufgehäufte Defizitgebirge wurde kaum abgetragen, es wird lediglich in irgendwelchen Fonds ständig umgeparkt. Die Lage wird durch den Aktiencrash in Südostasien erheblich verschärft: Denn dorthin haben die japanischen Banken ebenfalls eine Menge Kredite gegeben, die sie jetzt abschreiben müssen. Zu dem Defizitgebirge von 1990, das die japanische Realökonomie fast erdrückt, kommt jetzt also ein zweites hinzu. Die Aktienkurse in Fernost sind abgestürzt, statt dessen haben die Anleger amerikanische Staatspapiere gekauft. Damit ist doch aber die wichtigste Saugpumpe des asiatischen Defizitkreislaufes gestärkt worden - the show can go on. Die Beobachtung stimmt. Der kritische Punkt kommt dann, wenn die japanischen Großanleger ihre US-Staatspapiere verkaufen müssen, weil sie das Geld brauchen, um zu Hause die Zinsen für die faulen Kredite bedienen zu können. Dann würden auch die Kurse der US-Staatsanleihen ins Bodenlose fallen, und damit wäre der vermeintlich "sichere Hafen", in den sich das Geldkapitel vor dem Aktiencrash bisher immer gerettet hat, versperrt. Dem frei flottierenden Geldkapital bliebe dann nur noch die Flucht ins Gold. Das wäre der Weltuntergang der Finanzmärkte. Diese Prognose stammt übrigens nicht von mir, sondern von einem Vertreter der Deutschen Bank nach dem Erdbeben von Kobe im Jahre 1995. Schweißgebadet und sichtlich nervös hat der Herr damals auf einer Pressekonferenz geäußert, zur Behebung der riesigen Schäden müsse Japan eventuell US-Staatsanleihen im großen Maßstab verkaufen, das wäre der Kollaps des Weltfinanzsystems. Die US-Staatsanleihen machen doch aber einen sehr viel solideren Eindruck als noch vor einigen Jahren. Immerhin hat die Clinton-Regierung die Budget-Defizite in Griff bekommen, dieses Jahr wird sogar ein kleines Plus erwartet - eine Sensation im Vergleich zu den EU-Staaten, die nur mit Mühe und Tricks die Dreiprozentmarke des Maastrichter Vertrages schaffen. Die Neuverschuldung ist gesunken, aber wahrscheinlich nur kurzfristig. Die gesamte Schuldenlast steigt weiter über die Verzinsung. Und da die US-Bürger kaum sparen, muß die Clinton-Regierungen Geld im Ausland aufnehmen, um den Zinsdienst leisten zu können. Das passiert über die Staatspapiere. Im Unterschied zu 1929 wird das Weltfinanzsystem durch ein hochentwickeltes Sicherheitssystem vor dem GAU geschützt. So hat der IWF auf Druck der USA 1995 innerhalb weniger Wochen 50 Milliarden Mark zur Rettung Mexikos mobilisiert, im Falle von Liquiditätsengpässen Japans oder der USA würde sich der IWF sicherlich auch nicht lumpen lassen. Der IWF kann nicht immer helfen. Im August hat er den Tiger-Staaten 18 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt - aber der Verfall der Währungen konnte nicht aufgehalten werden, und die Krise hat sich auf die Börsen ausgeweitet. Und was Mexiko angeht: Der Peso wackelt schon wieder, da die asiatische Grippe eben auch Südamerika nicht unberührt gelassen hat. Das scheint mir das Hauptproblem zu sein: Solange die Entwertung fiktiven Kapitals auf eine Weltregion eingegrenzt bleibt, kann der IWF recht und schlecht mit Finanzspritzen helfen. Was ist aber, wenn ein solcher Entwertungsschock gleichzeitig in mehreren Weltgegenden auftritt? So ist die gefährliche Anbindung der nationalen Währungen an den Dollar keine Spezialität Südostasiens, auch in Lateinamerika und Osteuropa behilft man sich damit. Man versucht, damit das Vertrauen der Kapitalmärkte zu gewinnen, indem man Konvertierungsverluste infolge von Abwertungen ausschließt, scheinbar ausschließt. Doch die Fixierung der Wechselkurse auf dem hohen Dollar-Niveau ist ein politisches Manöver, das in allen diesen Staaten keine reale ökonomische Grundlage hat. Kein Wunder also, daß sich die großen internationalen Hedge-Fonds zur Spekulation gegen die künstlich gestützten Währungen herausgefordert sehen. Jetzt fallen die Wechselkurse wie die Dominosteine, einer nach dem anderen. Sie sprechen von einem globalen Überhang an fiktivem Kapital, das nicht durch reale Wertschöpfung gedeckt sei. Im Unterschied zu Ihnen gehen etwa Reiner Trampert und Thomas Ebermann davon aus, daß die Mehrwertproduktion global zunimmt, weil immer mehr Menschen in sie einbezogen werden, die vorher nicht für Kapitalisten, sondern für ihre Subsistenz oder für nicht-kapitalistische Staatsbetriebe gearbeitet haben. Die nehmen es mit dem Begriff der mehrwertschaffenden Arbeit leider nicht besonders genau. Ihre Beispiele aus Asien handeln oft nicht von Mehrwertproduktion, sondern vom Staatskonsum, der anderswo produzierten Mehrwert wegfrißt - etwa staatliche Infrastrukturprojekte und Baumaßnahmen. Außerdem kann die Masse an Industriearbeitern in Asien durhaus zunehmen, ohne daß die von ihnen produzierte Wertmasse wächst. Wenn 100 Leute mit relativ primitiver Technik arbeiten, produzieren sie möglicherweise nicht mehr Wert als ein Arbeiter mit High-Tech - die Globalisierung sorgt für die Durchsetzung der höchsten Produktivität als Wertmaßstab. Sie haben überzeugend nachgewiesen, daß die Reproduktion hauptsächlich an fiktiven Wertschöpfungsprozessen hängt. Trotzdem teile ich Ihre Kollaps-Theorie nicht. Adorno und Horkheimer kamen nämlich schon in den dreißiger Jahren zu dem Befund, daß das Wertverhältnis ausgehöhlt sei, daß der Kapitalismus zu einem Ausbeutungsverhältnis neuen Typs geworden sei, in welchem die Gewalt dominiert, und nicht der Wert. Horkheimer glaubte an die falsche Aufhebung der Konkurrenz durch den autoritären Planstaat. Ähnliche Ansätze finden sich später bei den italienischen Operaisten wie Negri. Das ist doch längst durch die reale Entwicklung widerlegt. Heute scheint man die Verselbständigung des fiktiven Kapitals für bare Münze zu nehmen. Dahinter steckt der schöne Glaube, daß der Kapitalismus sich selbst simulieren könne. Form und Inhalt werden zerrisen: Weltmarkt, Lohn usw. soll es geben, aber keine Wertsubstanz, keinen realen Verwertungsprozeß mehr. So wird der Weg zu postmoderner Beliebigkeit in der Wahl der Begriffe gebahnt. Auch der Feudalismus hat noch Jahrhunderte existiert - die Zäsur war erst 1789 -, obwohl seine ökonomische Basis schon seit dem 14. Jahrhundert durch Elemente des Ware-Geld-Systems unterhöhlt war. Das ist ein schräger Vergleich. Es gab verstärkt monetäre Elemente, das heißt die Bauern mußten statt Naturallieferungen mit Geld bezahlen. Aber der ökonomische Kern des Feudalsystems, die Ausbeutung der bäuerlichen Arbeitskraft, war unangetastet. Im Unterschied dazu ist der Kern des Kapitalismus, nämlich die Vernutzung abstrakter menschlicher Arbeit, tatsächlich in in einer tiefen Krise. Ich teile nicht die Kritik von Ebermann/Trampert, daß Ihre Herausarbeitung der Krisenprozesse im Finanzüberbau latent antisemitisch sei. Dennoch ist der Gesamtdiskurs zum Thema "Globalisierung", die ganze psychopathische Spekulantenjagd, durchaus von antisemitischen Stereotypen durchsetzt. Ich habe mich in vielen Aufsätzen gegen diese Spekulanten-Phobie gewandt und auch die Parallelitäten zum Antisemitismus aufgezeigt. Nehmen wir den Bestseller "Globalisierungsfalle": Da werden Ursache und Wirkung verwechselt. Die Realakkumulation ist nicht deswegen in eine Krise gekommen, weil Spekulanten lieber in Zockereien an der Börse investieren, sondern es gilt das Umgekehrte: Weil die Realakkumulation in eine Krise geraten war, schon seit Mitte der siebziger Jahre, ist anlagesuchendes Kapital in die Finanzsphäre abgeflossen. Aber kann man diesen latent antisemitischen Diskurs brechen, wenn man auf demselben Ticket reist wie die Spekulantenjäger, also "Globalisierung" und "Casinokapitalismus"? Der in der sozialwissenschaftlichen Diskussion weltweit geläufige Begriff "Globalisierung" ist doch kein antisemitisches Ticket, er verweist auf reale Phänomene. Die Widersprüche, die die kapitalistische Krise erzeugt, rufen natürlich auch bösartige Interpreten auf den Plan. Doch deswegen darf man sich nicht davon abhalten lassen, diese Widersprüche zu benennen und zur Kenntnis zu nehmen. Ein anderes Beispiel: Lenin und Hilferding hatten sicherlich recht, als sie das neue Stadium des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beschrieben, dabei auch auf die neue Rolle des Finanzsektors hinzuweisen. Trotzdem bot Lenins Polemik gegen die Finanzaristokratie, entgegen seiner Intention, Futter für den "Antikapitalismus des dummen Kerls" in der Arbeiterbewegung, den Antisemitismus. Diese starken antisemitischen Tendenzen im Arbeiterbewegungsmarxismus gehen eher auf Lenins positiven Arbeitsbegriff zurück. Die Ontologisierung der Arbeit brachte den Gegensatz, die Stigmatisierung von Geld und zinstragendem Kapital, notwendig mit sich.
jürgen elsässer und robert kurz
jürgen elsässer und robert kurz:
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Disko
06.11.1997
https://jungle.world//artikel/1997/45/die-asiatische-grippe-toedlich-fuer-den-kapitalismus?page=0%2C%2C0
Griechen opfern Öcalan
Seit der Verschleppung des PKK-Chefs Abdullah Öcalan aus Kenia in die Türkei dreht sich in Griechenland alles nur noch um ein Thema: die Kurden und die Frage nach dem "Wie" von Öcalans Verhaftung. Allein, die Rolle Athens in der Affäre ist weiterhin nicht eindeutig geklärt. Vergangene Woche reisten drei kurdische Leibwächterinnen von Öcalan und ein Angehöriger des griechischen Geheimdienstes EYP aus Kenia nach Griechenland aus. Aber bis zum Wochenende wurden Pressevertreter daran gehindert, mit ihnen in Kontakt zu treten. Der EYP-Major Savas Kalenteridis war ständiger Begleiter des PKK-Chefs, seit der von Griechenland nach Kenia gebracht worden war. Am 17. Februar hatte Kalenteridis mit seinem Bruder und einem Fernsehsender telefoniert - aus der griechischen Botschafterresidenz in Nairobi, in der sich Öcalan vor seiner Verschleppung in die Türkei zwölf Tage lang aufgehalten hatte. In diesen Telefonaten hatte Kalenteridis der griechischen Regierung vorgeworfen, mit dem türkischen Geheimdienst und der CIA zusammengearbeitet zu haben. Er selbst und der griechische Botschafter hätten bis zuletzt versucht, Öcalan zu schützen. Nun wird versucht, Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit zu schüren: Der griechische Justizminister Evangelos Jannopoulos bezeichnete Kalenteridis letzte Woche als Doppelagenten, der auch für den israelischen Geheimdienst Mossad arbeite. Auch die Aussagen der Öcalan-Leibwächterinnen passen der griechischen Regierung nicht ins Konzept. Denn nach der Version von Ministerpräsident Kostas Simitis hat Griechenland als "einziges europäisches Land seine Pflicht erfüllt" und versucht, dem PKK-Chef zu helfen; der Ausgang sei "unglücklich" verlaufen. Demgegenüber hatte eine der drei nun nach Griechenland ausgeflogenen Mitarbeiterinnen Öcalans bereits am 13. Februar gesagt, der Flug Öcalans von Griechenland nach Kenia sei nicht abgesprochen gewesen; sie hätten das Versprechen bekommen, nach Den Haag zu fliegen. Die Affäre um Öcalan wurde zum Desaster für die regierende Panhellenistische Sozialistische Partei (Pasok). Drei Minister, unter ihnen Außenminister Theodoros Pangalos, mußten bereits den Hut nehmen - ein Versuch der Schadensbegrenzung. Und auch der Chef des griechischen Geheimdienstes, Haralambos Stavradakis, wurde entlassen. Nach der sogenannten Katastrophe von Nairobi hatten alle Oppositionsparteien den Rücktritt von Ministerpräsident Kostas Simitis gefordert. Der solle zu seiner Verantwortung stehen, da er vorab über alle Schritte seiner Minister informiert war, meinte der rechte Oppositionsführer Kostas Karamanlis. Die griechische kommunistische Partei (KKE) prangerte das "sozialdemokratische, heuchlerische Europa der Schröders, Blairs, Jospins, D'Alemas und Simitis'" an, die nun "hinter der Maske der Menschlichkeit ihre wahre Fratze" gezeigt hätten. Sie forderte "das Volk" auf, auf der Straße für die Freiheit von Öcalan und Kurdistan zu kämpfen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo außer einigen kleinen Solidaritätsgruppen kaum jemand mit den Kurden sympathisiert, tut dies in Griechenland die Mehrheit der Bevölkerung. Von rechtsradikalen und nationalistischen Gruppen über Sozialisten, die konservative Nea Demokratia bis hin zu den Kommunisten oder linksradikalen Kleinstparteien besteht Einigkeit: Der Feind meines Feindes - und das ist für griechische Nationalisten die Türkei - ist mein Freund. Solidaritätskonzerte, Demonstrationen und Besetzungen von Parteibüros oder auch der Akropolis in Athen waren an der Tagesordnung und fanden große Beachtung in den Medien. Auf wiederholte Presseberichte aus der Türkei, Öcalan habe gestanden, daß in Griechenland PKK-Guerillas ausgebildet worden waren, wurde medial gekontert: In Nachrichtensendungen wurden Bilder aus dem türkischen Fernsehen übertragen, auf denen Öcalan offenbar mit Psychopharmaka ruhig gestellt war. Experten erläuterten dazu ausführlich, welches Mittel welche Wirkungen hervorruft und wie dies mit Folter verknüpft werden kann. Und immer wieder wurde betont, daß Öcalan in den Händen der Verhörspezialisten ein willenloses Spielzeug ist, das zu jeder gewünschten Aussage bewegt werden kann. Sowohl Regierung als auch Medien wiesen die türkischen Angriffe, Griechenland sei wegen der Verwicklung in den Fall Öcalan ein "Schurkenstaat", deshalb als Propaganda eines "Unrechtsstaates" zurück. Ansonsten versuchte Simitis, innerhalb der Pasok die Wogen zu glätten. Nach dem Mini-Crash an der Athener Börse, der am Dienstag vergangener Woche durch Panikverkäufe von Anlegern nach Gerüchten über einen bevorstehenden Rücktritt der Regierung ausgelöst worden war, erschien Simitis mit kompletter Regierungsmannschaft vor den Kameras. Er betonte, die Regierung werde ihren Weg in die EU unbeirrt fortsetzen. Gleichzeitig griff er in scharfer Form die Türkei an und kündigte die Einsetzung eines parlamentarischen Ausschusses an, der die Ereignisse, die zur Verhaftung Öcalans geführt hatten, untersuchen soll. Mit der Einsetzung des Ausschusses verfolgt er zwei Ziele: Zum einen kommt die Pasok damit der Opposition zuvor, zum andern erhofft man sich eine Ruhepause vor allzu scharfer Kritik, da nunmehr auf die Arbeit des Ausschusses verwiesen werden kann. Die Börse zumindest hat sich nach Simitis' Ankündigung wieder erholt.
ralf dreis
ralf dreis:
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Ausland
03.03.1999
https://jungle.world//artikel/1999/09/griechen-opfern-oecalan?page=0%2C%2C0
Der Schuß auf der Kanzel
Die erste Kugel, die sich Hikmet Ulugbay vergangenen Mittwoch gegen 0.45 Uhr in den Kopf schoß, tötete ihn nicht, verletzte ihn aber an Kiefer, Mund und Zunge. Der türkische Wirtschaftsminister feuerte noch eine zweite ab, die ihr Ziel jedoch verfehlte. Dann stürmten Frau und Sohn des türkischen Wirtschaftsministers in das Zimmer. Nach einer dreistündigen Operation befand sich Ulugbay außer Lebensgefahr. Ministerpräsident Bülent Ecevit besuchte den Schwerverletzten noch am selben Tag im Krankenhaus. Anschließend erklärte er, niemand wisse, warum der Ökonom mit dem Saubermann-Image den Selbstmordversuch unternommen hat. Möglicher Hintergrund ist ein Skandal im Zusammenhang der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in den Wochen zuvor, bei denen Ulugbay die türkische Delegation angeführt hatte. Am vorvergangenen Freitag hatten der Wirtschaftsminister und der Vertreter des IWF, Carlo Cottarelli, eine gemeinsame Pressekonferenz abgehalten. Noch während sie andauerte, stürzte der Istanbuler Aktienindex innerhalb von Minuten um elf Prozent ab. Von Mittwoch bis Freitag waren die Handelsumsätze an der Aktienbörse doppelt so hoch wie normal gewesen. Bei den Verhandlungen ging es um ein Stabilitätsprogramm für die türkische Wirtschaft, das der Fonds mit einem Kredit unterstützen soll. Gerüchten zufolge sind angebliche Insidergeschäfte eines Verwandten von Mesut Yilmaz, dem Chef der Mutterlandspartei, der Grund für den Kurssturz. Ulugbay soll ein geheimes Dokument des IWF an Yilmaz weitergeleitet haben, das dieser dann seinem Vetter Mehmet Kutman zugespielt habe, dem die Börsenmaklerfirma Global gehört. Global war bereits in der Vergangenheit wegen zweifelhafter Geschäfte ins Gerede gekommen. In dem Dokument empfiehlt der Fonds der Türkei angeblich, die Landeswährung Lira abzuwerten und ein Currency Board einzurichten, das heißt, den Kurs an eine andere Währung zu binden. Yilmaz leugnete zunächst, das vertrauliche Papier erhalten zu haben. Am nächsten Tag behauptete er jedoch vor seiner Fraktion, es von Ulugbay direkt empfangen zu haben, stritt jedoch ab, das Dokument an einen "Freund an der Börse" weitergeleitet zu haben. Nachdem er diese Aussage am Fernseher verfolgt hatte, griff Ulugbay zur Waffe. Dennoch weist Yilmaz die Vermutung, sein Wirtschaftsminister habe sich wegen seiner Verstrickung in den Insider-Skandal das Leben nehmen wollen, als "häßliche und falsche" Unterstellung zurück. Ulugbay verhandelte mit dem IWF um Kredite, weil die Türkei sich derzeit in einer tiefen Wirtschaftskrise befindet. In den ersten drei Monaten dieses Jahres war das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahr um acht Prozent geschrumpft, die Investitionen sind gar um rund ein Fünftel gesunken. Für das gesamte Jahr 1999 rechnet der IWF mit einer Wachstumsrate von einem halben Prozent. In den vier Jahren zuvor konnte die Türkei jeweils ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich sieben Prozent erreichen. Schätzungen zufolge verringert sich das jährliche Durchschnittseinkommen in diesem Jahr von 3 500 auf 3 200 US-Dollar (etwa 6 100 Mark). Das mit dem IWF ausgehandelte Stabilitätsprogramm dient vor allem der Inflationsbekämpfung. Im Juni lag die Teuerungsrate bei 64 Prozent, bis in zwei Jahren soll sie auf zehn Prozent gedrückt werden. Auch das Staatsdefizit bereitet den Türken Kopfzerbrechen. Es beträgt derzeit zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts und ist damit das höchste in der Geschichte des Landes. Fast die Hälfte des Staatshaushalts muß für Zinsen ausgegeben werden. Kein Wunder, denn die Realzinsen liegen bei 40 Prozent. Die Türkei erhofft sich vom IWF Kredite in Höhe von drei bis zehn Milliarden Dollar. Das soll dem Land ermöglichen, die wesentlich höher verzinsten Staatsanleihen zurückzukaufen, andererseits soll das Abkommen das Vertrauen der Gläubiger stärken. Dominique Tissier, Generaldirektor von Crédit Lyonnais, schätzt, daß das den Zinssatz um bis zu 18 Prozentpunkte senkt. Lohnsenkungen bei den Beamten, weniger Subventionen für die Landwirtschaft und die Privatisierung von Staatsbetrieben sollen ebenfalls zur Haushaltskonsolidierung beitragen.
Friedrich Geiger
Friedrich Geiger:
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Ausland
14.07.1999
https://jungle.world//artikel/1999/28/der-schuss-auf-der-kanzel?page=0%2C%2C0
Networking mit Eiern
Manche Linke rümpfen bei Themen wie Landwirtschaft und Gemüsegarten die Nase. Genau genommen die meisten von ihnen. Nur wenige können damit etwas anfangen. Aber das wird sich ändern, wenn die Linke demnächst beginnt, weniger auf Identitätsallerlei abzufahren und sich wieder um die Fragen der Menschheit, der Klasse und um sich selbst kümmert, indem sie wieder den Blick über den Tellerrand wagt. Irgendwann ist die Konjunktur des identitären Gegurkes zu Ende. Wobei die Gurken nichts dafür können. Eine besondere Spezies sind allerdings diejenigen, die großes Verständnis für diese Kolumne haben und sie ja eigentlich – wenn auch recht diffus – gut finden, um dann alsbald ein obligatorisches »Aber« hinterher zu schieben: »Aber wiederholt sich das denn nicht?« Nein, diese Befürchtung ist unbegründet. Das mit der ständigen Wiederholung im Gemüsegarten ist eine recht wacklige Wahrnehmung pflanzlicher Vielfalt, auch wenn es von außen betrachtet zunächst plausibel erscheint: Ich pflanze jede Saison 20 Gemüsesorten und andere essbare Nutzpflanzen. Vom Frühjahr bis in den Frühsommer wird gesät und gepflanzt, im Sommer und im Herbst – und zum Teil im Winter – wird geerntet. Das ist jedes Jahr gleich. Aber damit hat es sich auch schon mit der ständigen Wiederholung. Denn mal wächst die eine Sorte stärker, mal die andere. Mal gibt es ein »Bohnenjahr« wie in dieser Saison, und ich kann mit Zehn-Liter-Eimern ernten, mal reichen meine Hände und Hosentaschen für die Bohnenernte. Von diesen statistisch erfassbaren Äußerlichkeiten abgesehen, ist ein Gemüsegarten ein lebendes Etwas in ständigem Auf und Ab, ständigem Hin und Her. Eine Art ultragroßes Wimmelbild. Und ich mittendrin als Chef, der seine Wichtigkeit Tag für Tag erlebt. Da fühle ich mich gut. In einem Garten passiert so viel, innerhalb einer Saison allemal, dass es Jahre dauert, bis es relevante Wiederholungen gibt. Ein Gemüsegarten ist wie Kindererziehung: Du weißt, dass etwas passieren wird. Nur weißt du nicht, wann und in welchem Ausmaß. Du musst also in ständiger Bereitschaft sein. Das mit dem Chefsein ist selbstverständlich nur die halbe Wahrheit. Denn was nützt es mir, mich wie der Chef zu fühlen, wenn ich außer meinen Hühnern keinen weiteren Zweibeiner habe, den ich dirigieren und dem ich Arbeit zuweisen kann? Ich bin nur ein halber Chef. Ehrlich gesagt träume ich schon mal davon, einen Mitarbeiter zu haben. Die Anweisungen für diese fiktive Person liegen in meiner inneren Schublade. Denn in einem 300 Quadratmeter großen Garten mit doppelt so großer Wiese drum herum ist immer etwas zu tun. Immer mehr als man selbst hinbekommt. Wenn ich so jemanden hätte, dann wäre ich nicht mehr nur halber und gefühlter Chef, sondern endlich ein richtiger. Aber das Leben ist kein Ponyhof. Was passiert derzeit im Garten? Ich ernte, was denn sonst? Meine Lagerhaltung findet bei mir im Garten statt: Rote Beete, ab und an – trotz des nassen Sauwetters – sogar noch eine Zucchini, die letzten Kürbisse, Endiviensalat, Rucola. Eine Stunde vergeht von der Ernte bis auf den Tisch. Das ist just-in-time-Ernährung, wie sie besser nicht sein kann. Irgendetwas wächst immer, wenn auch derzeit langsamer. Grünkohl und Topinambur stehen auch gut da, müssen sich bis zur Ernte aber noch etwas gedulden. Der Grünkohl ist ohnehin ein klassisches Wintergemüse und verträgt Frost. Und die Hühner fühlen sich pudelwohl auf den abgeernteten Flächen und scharren dort auf der Suche nach Schnecken und sonstigem essbaren Vieh- und Pflanzenzeugs um die Wette. Nur die Trauer um ihre kürzlich verstorbene Artgenossin hält sich in Grenzen. Genau genommen noch nicht mal das. Es interessiert sie nicht, solange sie von mir Futter und Wasser bekommen und viel Auslauf haben. Mitgefühl ist nicht des Huhns Ding. Es lebt im Hier und Jetzt. Nur gut, dass die widerlichen schwarzen Krähen die Hühner seit dem Frühjahr in Ruhe lassen. Damals fielen sie in das Freiluftgehege ein, trippelten zu den Überdachungen, krabbelten hinein, kamen mit einem Ei im Schnabel wieder raus und husch flogen sie von dannen. Als ich das erkannte, wurde ich derart wütend, dass es die Krähen erschreckt haben muss, denn seitdem kamen sie nicht mehr zurück. Die Genugtuung darüber kann ich kaum verhehlen – ich bin mental stärker als dieses miserable Viehzeugs. Ich lasse mich doch nicht von Krähen über den Tisch ziehen. Die Eier meiner Hühner gehören mir! Manchmal mache ich mir nahestehende Mitmenschen froh und schenke ihnen ein paar. Selbstverständlich mit Hintergedanken –  ein Kleingärtner verschenkt nie etwas einfach so. Unsereiner hat immer das Geschäftliche im Blick. Entweder entwickelt sich entlang des Eierschenkens ein Tauschgeschäft und ich erhalte etwas Materielles zurück oder die Eier dienen der Netzwerkpflege. Erfolgreiches Networking mit Eiern von glücklichen Hühnern. Dafür spare ich mir dann die abgedrehten und vor allem überteuerten Tages- oder Wochenendkommunikationsseminare für 1 000 Euro. Sollen die doch mal mich einladen.
Roland Röder
Roland Röder: Krauts und Rüben – der letzte linke Kleingärtner, Teil 29
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Inland
02.11.2017
https://jungle.world//artikel/2017/44/networking-mit-eiern?page=0%2C%2C2
Deutsches Haus #05/2025
Am Freitagabend vorvergangener Woche rief in Berlin einer Polizeimeldung zufolge ein Mann auf dem Gehweg des Kurfürstendamms antisemitische Sprüche. Als ihn ein 43jähriger gebeten habe, das zu lassen, habe der Mann den 43jährigen der Polizeimeldung zufolge ­antisemitisch beleidigt und mit der Faust ins Gesicht ­geschlagen. Dann sei der Täter geflüchtet. Am Dienstag vergangener Woche beleidigte zufolge ein 60jähriger Mann in einer U-Bahnstation in Berlin-Wedding eine Schulklasse auf rassistische Weise, meldete die Polizei. Passanten hätten sich demnach schützend vor die zehn bis zwölf Kinder gestellt, die gemeinsam mit ihrer Lehrerin die Station verlassen hätten. Die von Passanten alarmierte Polizei habe den Mann festgenommen, der sich dabei erneut rassistisch geäußert habe. Da der Mann orientierungslos gewirkt habe, sei er zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht und anschließend entlassen worden. Am Mittwoch vergangener Woche fuhr ein Motorradfahrer in Offenbach eine 29jährige Radfahrerin an und beleidigte sie dann auf rassistische Weise, berichtete die Offenbach-Post unter Berufung auf Polizeiangaben. Die Frau sei demnach vom Fahrrad gestürzt und habe sich verletzt. Statt sich zu entschuldigen oder ihr aufzuhelfen, habe der Motorradfahrer sie beleidigt und sei dann geflüchtet. Am Donnerstag vergangener Woche sprach einer Polizeimeldung zufolge ein 55jähriger Mann einen 53jährigen in einem Supermarkt in Berlin-Borsigwalde an und beleidigte ihn dann auf rassistische Weise. Als der Beleidigte draußen auf dem Parkplatz die Polizei habe rufen wollen, habe ihn der andere demnach mit der Faust geschlagen. Der 53jährige habe den Mann daraufhin mit Pfefferspray angegriffen. Beide Männer hätten von Rettungskräften versorgt worden müssen. Am selben Tag versuchte ein Mann in einem Bus im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, einen 23jährigen mit dem Finger ins Auge zu stechen, wobei er ihn rassistisch beleidigte, wie aus einer Polizeimeldung hervorgeht. Der 23jährige habe demnach ausweichen können, der Angreifer habe die Flucht ergriffen. Am Freitag beleidigte einer Polizeimeldung zufolge ein 45jähriger in einer U-Bahn in München einen anderen Fahrgast lautstark und beschimpfte ihn rassistisch. Eine 32jährige Frau habe den 45jährigen angesprochen, woraufhin dieser auch sie beschimpft habe. Anschließend habe sie die Polizei gerufen, die den Mann festgenommen habe.  js
: Chronik rassistischer und antisemitischer Vorfälle
[ "Deutsches Haus" ]
Antifa
30.01.2025
https://jungle.world//artikel/2025/05/deutsches-haus-05/2025?page=0%2C%2C1
Ein rüstiger Mörder
Es hätte ein ruhiger Lebensabend werden können. Fast fünfzig Jahre lang wohnte Karl Friedrich Titho unbehelligt im nordrhein-westfälischen Horn-Bad Meinberg. Doch nun wurde der 89jährige von seiner Vergangenheit eingeholt. Mit der Ruhe ist es vorbei. Nicht dass es in seinem Wohnort vorher niemand wusste, im Gegenteil. Trotzdem ließ es sich dort gut leben. Aber was im letzten Sommer geschah, war dem alten Mann dann doch zu viel. In einem Artikel im Internet wurde er als »Henker von Fossoli« und als »Nazi-Mörder« bezeichnet. Schlimm. Manche alten Nazis, die schließlich doch noch als NS-Verbrecher enttarnt werden, geben sich senil und sagen gar nichts zu den Vorwürfen, die gegen sie erhoben werden. Andere, wie Karl Friedrich Titho, machen auf wehleidig und stilisieren sich zu Opfern vermeintlicher Hetzkampagnen. Titho fühlte sich verleumdet und erstattete Anzeige wegen Beleidigung und übler Nachrede. Zunächst schien seine Anzeige folgenlos zu bleiben, lange Zeit geschah nichts. Anfang April jedoch wurde der Staatsschutz aktiv. Beamte des Bielefelder Staatsschutzes durchsuchten das Kulturzentrum Alte Pauline und drei Privatwohnungen in Detmold nach Beweisen für die Urheberschaft des inkriminierten Artikels. Dabei wurden Computer, Datenträger, Vereinsunterlagen und Flugblätter beschlagnahmt. Für die Betroffenen ist der Fall klar. Bei der Aktion handele es sich um den Versuch, Antifas einzuschüchtern. Für diese Annahme spricht, dass die Durchsuchungsbeschlüsse bereits im August ausgestellt worden waren und eine Vollziehung fast acht Monate später wohl kaum mehr der Beweissicherung oder der Aufklärung des Sachverhaltes dienen kann. Es entstehe »der Eindruck, als sei eine einfache und zudem teilweise unbegründete Verleumdungsklage zum Vorwand genommen worden, unliebsame politische Akteure auszuforschen«, sagt Annelie Buntenbach, Abgeordnete der Grünen im Landtag von NRW. Spätestens seit der Staatsschutzaktion steht Titho im Mittelpunkt einer Diskussion um NS-Verbrechen, die derzeit in der Region geführt wird. Vor allem die Lokalpresse spielt dabei eine unrühmliche Rolle. Die Lippische Landeszeitung etwa ist Titho wohl gesonnen. Statt zu beanstanden, dass sich »ein bekannter NS-Verbrecher mit Hilfe der deutschen Justiz als Opfer gebärden kann«, wie der Trägerverein der Alten Pauline die Berichterstattung der LZ kritisiert, bietet ihm das Blatt Raum für seine Selbstdarstellung als Opfer. »Da ist ein Popanz aufgebaut worden, gegen den man kaum noch ankommt«, wird Titho ohne Gegenrede zitiert. Dass die bürgerliche Presse gegen Antifas zu Felde zieht, ist nicht ungewöhnlich, doch die LZ bedient sich dabei ungeniert eines NS-Verbrechers. Da wundert es kaum, dass Titho in der LZ die Verbrechen der Nationalsozialisten unwidersprochen als ein bloßes »Verhängnis« bezeichnen durfte, das »immer unbegreiflicher werde«. Vorige Woche berichtete das Blatt jubelnd, dass Titho nun die »Bereitschaft« bekunde, »in einem kleinen Kreis mit vernünftigen Leuten darüber zu reden«. Viel zu reden gibt es aber nicht, Tithos Werdegang ist schnell erzählt. 1932 trat er mit 21 Jahren in die SS ein, im folgenden Jahr wurde er NSDAP-Mitglied. Elf Jahre später, er hatte es inzwischen zum SS-Untersturmführer gebracht, wurde er Leiter des so genannten Polizeidurchgangslagers im italienischen Fossoli, das später nach Bozen verlegt wurde. Unter Tithos Kommando wurden tausende Juden und Antifaschisten in deutsche KZs deportiert, auch war er an der Erschießung von 67 politischen Häftlingen beteiligt, einer so genannten Vergeltungsmaßnahme für einen Partisanenangriff. 1943 machte er sich der Misshandlung von Häftlingen im niederländischen KZ Vught schuldig. Dafür und für seine Mitwirkung an der Erschießung von 70 sowjetischen Kriegsgefangenen in den Niederlanden, wurde Titho 1951 von einem niederländischen Gericht zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Nachdem er zwei Jahre abgesessen hatte, wurde er 1953 nach Deutschland abgeschoben. Für seine Beteiligung an NS-Verbrechen ist das ehemalige SS-Mitglied weder in Italien noch in Deutschland je belangt worden. Alle Ermittlungsverfahren gegen ihn wurden eingestellt, teils wegen »Verjährung«, teils wegen »unzureichender Beweise«. »Wenn heute die Verbrechen den Tätern nicht mehr exakt zugeordnet werden können oder verjährt sind, ist das auch ein Versäumnis der deutschen Justizbehörden«, kritisiert Buntenbach die unzureichende Verfolgung von NS-Tätern in Deutschland. 56 Jahre nach dem Kriegsende ist die Bilanz der deutschen Ermittler niederschmetternd. Allein bei der Dortmunder »Zentralstelle in Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen«, die auch gegen Titho erfolglos ermittelte, waren fast 1 300 Verfahren gegen NS-Verbrecher anhängig. Doch nur in 55 Fällen kam es überhaupt zu einer Verurteilung. Oft genug vereitelten altgediente Nazijuristen die strafrechtlichen Verfolgungen. »Es stünde den deutschen Behörden besser an, das bislang ungesühnte NS-Unrecht juristisch aufzuarbeiten«, fordert Buntenbach. Allein, die zuständigen Behörden machen keinerlei Anstalten, erneute Ermittlungen gegen Titho aufzunehmen. Eine Gruppe aus dem Umfeld der Alten Pauline spricht in diesem Zusammenhang von einem mangelnden Verfolgungsinteresse der deutschen Behörden, das bis heute bestehe. Und deshalb kann sich Titho sicher fühlen. So sicher, dass er jüngst in einem Artikel in der Lippischen Landeszeitung seinen Opfern dreist eine »Versöhnung« anbot: Wenn die Leitung eines Lagers schon Schuld bedeute, so seine Worte, dann wäre eine Entschuldigung angebracht. Seine Verbrechen in Italien gesteht Titho freilich nicht. Derartige Fragen überlässt er seinem Anwalt. Der hat erst kürzlich verkündet, sein Mandant habe »gar nicht die Kompetenz« gehabt, seine Opfer in die Vernichtungslager zu deportieren.
Daniel Pagòrek
Daniel Pagòrek: Justiz und Lokalpresse helfen NS-Verbrecher
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Antifa
16.05.2001
https://jungle.world//artikel/2001/20/ein-ruestiger-moerder?page=0%2C%2C0
Seine Zeit ist gekommen
Als es noch steil bergauf ging. Friedrich Merz 1999, seinerzeit stellvertretender Bundestagsfraktionsvorsitzender der Union Insgesamt fünf Jahre wartete der ewige Ersatztorhüter Michael Rensing geduldig darauf, endlich den als Titan titulierten Oliver Kahn bei Bayern München als Stammtorwart zu beerben. Kaum ein halbes Jahr lang durfte er dann für Bayern München im Tor stehen, als er den Stammplatz schon wieder verlor und abermals als Ersatztorhüter die Bank drücken musste. Obwohl fünf Jahre bereits recht viel sind in einem Sportlerleben, geht es natürlich noch viel extremer. Prinz Charles wartete ganze 70 Jahre lang, bis er endlich als König ran durfte beziehungsweise musste. Ein anderer, der schon sehr lange die Bank drückt und bereits mehr als ein halbes Politikerleben darauf wartet, endlich zum Zug zu kommen, ist Friedrich Merz. Der 69jährige Jurist machte früh und für CDU-Verhältnisse – vor allem in der damaligen Zeit – jung Karriere. Mit 34 zog er ins EU-Parlament ein, mit 39 in den Bundestag. In seinem damaligen Wahlkampfspot zeigte er sich als gutgelaunter Vertreter der Provinz. »In Bonn glauben die Leute sogar, im Sauerland sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht«, sagt der grinsende junge Merz in die Kamera und dreht sich dann zu einer Fuchspuppe um, die ihm tatsächlich »Schlaf gut, Friedrich« wünscht. Dass aber »im Sauerland die Leute CDU wählen«, das sei kein Vorurteil, schließt Merz den Spot ab. Im Mai verabschiedete die CDU ein neues, konservativeres Grundsatz­programm, um sich endgültig von der Merkel-Ära zu verabschieden. In den späten neunziger Jahren, in der Endphase der Kanzlerschaft Helmut Kohls (CDU), gelang Merz in der Bundestagsfraktion ein rasanter Aufstieg. 1998 wurde er zunächst stellvertretender Fraktionsvorsitzender und im Jahr 2000 Fraktionsvorsitzender – das Amt übernahm er von seinem Mentor und Förderer Wolfgang Schäuble. Wie auch sein politischer Ziehvater war Merz ein wirtschaftsliberaler Austeritätsverfechter, der geringe Staatsausgaben und niedrige Steuern wollte. Seine damalige Forderung nach der Steuererklärung auf dem Bierdeckel ist auch heute noch sprichwörtlich. Allerdings fiel er auch immer wieder durch ausgesprochen konservative gesellschaftspolitische Ansichten auf – um nicht zu sagen, aus der Zeit. Bis heute hängt ihm zum Beispiel nach, dass er 1997 gegen die Aufnahme der Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch stimmte. Tatsächlich war es auch ein bisschen komplizierter: 1996 stimmte Merz nämlich für einen Antrag der Union, der eine solche Aufnahme ebenfalls vorsah, aber in einem Punkt von dem Antrag von 1997 abwich. Der Unterschied war, dass der Antrag der Union eine Widerspruchsklausel enthielt, der zufolge eine Strafverfolgung nicht stattfinden darf, wenn das Opfer dem widerspricht. Weil diese Klausel im Gesetzentwurf von 1997 fehlte, stimmte Merz dagegen. Dass viele Menschen inzwischen davon überzeugt sind, dass Merz tatsächlich dagegen war, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, zeigt, wie gut er als Feindbild der Linksliberalen funktioniert. Allerdings ist die Unbeholfenheit, mit der Merz noch Jahre später versuchte, seine damaligen Beweggründe zu erklären, auch symptomatisch für die Hölzernheit, mit der er alle Themen angeht, die mit Frauenrechten zu tun haben. Es ist spürbar sein wunder Punkt. Bizarr war auch Merz’ Antwort im Jahr 2020 auf die Frage der Bild-Zeitung, was er von einem schwulen Bundeskanzler halten würde. »Die Frage der sexuellen Orientierung, das geht die Öffentlichkeit nichts an«, antwortete er großzügig. »Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft – an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht –, ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion.« Als sogar sein Parteikollege Jens Spahn kritisierte, dass bei Merz offenbar »die erste Assoziation bei Homosexualität Gesetzesfragen oder Pädophilie« sei, wies Merz das als »bösartig konstruierten Zusammenhang« zurück. 2002 konnte Merz noch gemeinsam mit der CSU und der Männerseilschaft vom sogenannten Andenpakt – einem informellen Netzwerk einflussreicher westdeutscher CDU-Politiker – eine Kanzlerkandidatur Angela Merkels verhindern. Doch Edmund Stoiber (CSU) verlor die Wahl knapp, Gerhard Schröder (SPD) konnte weiter mit den Grünen regieren. Danach triumphierte Merkel endgültig. Sie sorgte dafür, dass Merz kurz darauf sein Amt als Fraktionsvorsitzender verlor – und damit den CDU-internen Machtkampf gegen sie. 2004 schied er ganz aus dem Fraktionsvorstand aus und 2009 trat er nicht einmal mehr zur Bundestagswahl an. Merz widmete sich stattdessen einer lukrativen Karriere als Wirtschaftsanwalt und wurde Mitglied oder Vorsitzender in fast einem Dutzend Aufsichtsräten. Am bekanntesten ist seine Zeit von 2016 bis 2020 als Aufsichtsratsvorsitzender beim deutschen Ableger von Blackrock Asset Management, dem größten Vermögensverwalter der Welt. In dieser Zeit entwickelte sich in weiten Teilen der Unionsbasis ein regelrechter Kyffhäuser-Mythos um Merz, vor allem im von der zentristisch-opportunistischen Merkel arg gebeutelten konservativen Flügel. So wie Kaiser Friedrich Barbarossa der Legende nach im Berg schlief, um in Zeiten der größten Not wieder aufzuwachen und Deutschland zu retten, so wartete Friedrich Merz bei Blackrock auf seine triumphale Wiederkehr, um die Union von Merkel zu befreien und wieder richtig konservativ zu machen. 2018 dann, nach Merkels Rückzug aus dem Amt der CDU-Parteivorsitzenden, schien es endlich so weit zu sein. Merz bewarb sich als CDU-Vorsitzender – und verlor gegen Annegret Kramp-Karrenbauer. Das schlug dann schon eine erste erhebliche Delle in den Mythos Merz. Als die glücklose Kramp-Karrenbauer bereits 2020 das Handtuch warf, probierte es Merz erneut. Und scheiterte wieder, diesmal gegen Armin Laschet. Seine beiden von Pannen gezeichneten Kandidaturen für den Parteivorsitz zeigten nicht nur, dass Merz als Politiker offenbar etwas eingerostet war, sondern auch, dass er all die Jahre des Wartens nicht genutzt hatte, um sich vorzubereiten und in der CDU eine Machtbasis aufzubauen. Die Partei, die doch angeblich so lange und sehnsüchtig seiner geharrt hatte, wollte ihn offenbar partout nicht als Vorsitzenden. Vor allem auf der Funktionärsebene gab es in der Union viele Politiker, die unter Merkel Karriere gemacht hatten und wenig Interesse an einer konservativen Wende unter dem Außenseiter Merz hatten. Erst als es nach der krachenden Wahlniederlage 2021 kaum eine andere Möglichkeit mehr gab, kam er als eiserne Reserve der Partei zum Zug. Nachdem er den Parteivorsitz übernommen hatte, verzichtete er darauf, einen offenen Machtkampf gegen die »Teile des Partei-Establishments« anzuzetteln, denen er noch 2020 öffentlich vorgeworfen hatte, sein politisches Comeback verhindern zu wollen. In einer Partei wie der CDU ist der Parteivorsitzende kein Alleinherrscher. Sogar im Sommer 2024 musste Merz sich noch in einem internen Machtkampf gegen zwei starke Konkurrenten durchsetzen, um Kanzlerkandidat der Union zu werden. Neben dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) war das der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, der sich als liberale und gemäßigtere Alternative zu Merz präsentierte. Doch Merz setzte sich schließlich durch. Inzwischen scheint die gesamte Partei mit dem Vorsitzenden versöhnt. Im Mai verabschiedete die CDU ein neues, konservativeres Grundsatzprogramm, um sich endgültig von der Merkel-Ära zu verabschieden. Es enthielt ein Bekenntnis »ohne Wenn und Aber« zur »Leitkultur« als »Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit« und forderte eine Rückkehr zur Wehrpflicht und eine härtere Asylpolitik. Nennenswerten Dissens gab es deshalb nicht in der Partei. Dieser Kurs – und damit Merz – passt inzwischen einfach zu gut zur Union – und zur deutschen Gesellschaft, die selbst immer konservativer wird. Im Wahlkampf steht Merz nun vor Herausforderungen, die seinen inhaltlichen und ideologischen Neigungen durchaus gelegen kommen. Auf der einen Seite muss er sich von Bundeskanzler Olaf Scholz abgrenzen, den die SPD im Wahlkampf als Friedensfürst zu verkaufen versucht. Davon setzt sich Merz ab, indem er sich zum Beispiel für eine Nato-Aufnahme der Ukraine ausspricht. Auf der anderen Seite muss er sich von Robert Habeck und den Grünen abgrenzen. Die schlechte Wirtschaftslage dürfte Merz dabei in die Hände spielen. Die Union versucht derzeit, sich als Beender der als wirtschaftsfeindlich dargestellten Klimapolitik der Grünen zu präsentieren. Dabei könnte Merz durchaus Probleme mit Habeck als konkurrierendem Kanzlerkandidaten bekommen. Neben dessen unrasierter, friesisch-herber Ökolässigkeit, die zwischen Jever-Werbung, ZDF-Vorabend-Arztserie und einer WG-Party von Philosophie-Erstsemestern changiert, wirkt Friedrich Merz unweigerlich wie der Storch im Salat. Aber wer weiß, vielleicht hilft ihm das bei den deutschen Wählern ja auch. Alles in allem wirken Merz‘ Aufgaben in diesem Wahlkampf lösbar. Die Union kann derzeit Umfragen zufolge mit mehr Stimmen rechnen als SPD und Grüne zusammen. Wenn er bis zum Wahltermin keine groben Fehler macht, dürfte Merz in ein paar Monaten zum ältesten Bundeskanzler seit Konrad Adenauer gewählt werden.
Robert Herr
Robert Herr: Der Kanzlerkandidat Friedrich Merz passt zu einer konservativeren Union
[ "Bundestagswahl 2025", "Friedrich Merz", "CDU", "Wahlkampf" ]
Inland
02.01.2025
https://jungle.world/artikel/2025/01/kanzlerkandidat-friedrich-merz-seine-zeit-ist-gekommen
60. Opas Bulle ist tot
Als die ersten Trommeln ertönten, hatte ich einen Traum. Ein dicker Malermeister ließ sich auf den Hintern fallen. Er trug einen Overall, der mal weiß war, stand auf, schaute über die Schulter zu mir herüber und ließ sich wieder fallen. "Schredda", sagte ich mir, "das hat was zu bedeuten", und nach einem kleinen Frühstück im Café Böhnchen wußte ich auch, was. Das Getrommel gehörte zum Wiwwerfastelovend, der um zehn Uhr begann, und der Akrobat im fleckigen Overall gehörte zu Tante Lioba, die immer sagte: "Mädel, Mädel, du kriegst höchstens mal einen Malermeister zum Mann, wenn du in der Schule so weitermachst wie bisher." Ich beschloß also, das Angebot zu prüfen, das ein freundlicher Kripomensch mir bei meiner letzten Festnahme gemacht hatte. Ich arbeitete damals für eine Agentur, die auf den etwas anderen Auftrag spezialisiert war. Mal ging ich als Putzfrau und fertigte hinterher Grundrisse an, mal nähte ich Markenlabels in nachgemachte Klamotten, und manchmal ließ ich mich auch von etwas besseren Herren zum Essen einladen und heimlich fotografieren, wenn's gemütlich wurde. Der für mich zuständige Mann im Polizeipräsidium hieß Fahrensohn und an seiner Tür stand Sonderkommission für Sonderausbildungsmaßnahmen. Er war etwa 40 Jahre alt und hatte ein Zimmer, das so groß war wie meine Besenkammer und auf den Waidmarkt hinausging, wo das Trommeln schon Fortschritte machte. Ich wußte, daß sie von nun an nicht aufhören würden zu trommeln, fünf lange Tage lang, auf verschieden großen Trommeln, in großen Gruppen, umringt von zahllosen Menschen, die schrille Schreie ausstießen und Pogo tanzten, night and day, ließ mir aber nichts anmerken. Wer mal Punk war, hält was aus, auch wenn Punker-Unruhen gemessen am Kölner Straßenkarneval ein Kindergartenfest sind. "Was trinken Sie?" frug Fahrensohn korrekt. "Was Sie trinken." - "Ich trinke Apfelsaft." - "Dann bringen Sie mir ein Kölsch", bat ich die junge Polizistin, die eine rote Knollennase trug. Sie wissen vermutlich was passiert, wenn ihr ganzes Sein von der Erwartungshaltung konditioniert wird, den ersten Schluck Kölsch des Tages zu kriegen, und nun aber etwas anderes ihren Geschmacksnerven widerfährt. Man kann dabei die interessante Feststellung machen, daß unser Gaumen ein Gedächtnis hat. Er weiß im voraus, wie ein Kölsch zu schmecken hat und reagiert verstört, wenn das ankommende Getränk seinem Vorwissen widerspricht. Der Apfelsaft, der an sich ja nicht unangenehm schmeckt, nimmt auf die Weise einen absolut ekelhaften Geschmack an. Es dauerte also eine Weile, bis wir uns wechselseitig, unter Entschuldigungen mit Papier- und anderen Taschentüchern trocken gewischt hatten und zur Sache kamen. Herr Fahrensohn beschwerte mit seiner gepflegten Hand eine Akte, auf die jemand mit Filzstift meinen Namen geschrieben hatte. Ich konnte mir denken, was in der Akte stand, also sagte ich erst mal gar nichts. Er sagte: "Frau Modjewski, machen wir uns nichts vor. Sie sind genau die Person, die wir suchen. Sie haben schauspielerisches Talent, Durchsetzungsvermögen, können die jeweilige Lage gut überblicken, sind kreativ, verlieren auch in brenzligen Situationen nicht die Nerven und können auf eine lange Erfahrung im Umgang mit Polizeibeamten zurückblicken. Habe ich recht?" Ich schwieg, gerührt von soviel Lob und Anerkennung, und vor meinem inneren Auge lief der dazu passende Film ab. Natürlich hatte er recht. "Was wir suchen", fuhr er fort, "sind simulationsfähige Subjekte, die in jeden Zielfahndungsraster passen und unseren AZUBIs auch in Extremsituationen nicht die Illusion rauben, tatsächlich die gesuchte und polizeilich zu behandelnde Zielperson vor sich zu haben. Für diese schwierige Aufgabe sind Sie genau die Richtige. Sie haben schauspielerisches Talent ..." "Ich weiß", sagte ich, "das sagten Sie schon. Gehe ich recht in der Annahme, daß es sich bei Ihren AZUBIs um auszubildende Zivilfahnder handelt, die anhand meines Körpers lernen sollen, wie man eine gesuchte, polizeilich zu behandelnde Person aufspürt, aufgreift, festnimmt, an den Ohren zieht ..." "Genau so ist es!" rief er enthusiasmutig. "Opas Bulle ist tot! Was wir brauchen, sind Fahndungsasse, die den besonderen Anforderungen der politischen Ebene an unsere Sicherheitsorgane gewachsen sind. Schauen Sie manchmal Krimis im Fernsehen? Kommissar Rex, Cobra, Derrick, Großstadtrevier?" Ich schwieg schuldbewußt. "Da sehen Sie", fuhr er fort, "Sie sehen sich den Quatsch gar nicht erst an, aber für unsere Einsatzkommandos ist es praktisch die einzige Schulung, die sie haben. Momentan ist es doch so: Wenn unsere Leute eine verdächtige Person anhalten, außer Gefecht setzen, durchsuchen, abführen etcetera, denken die Leute, wir drehen eine Szene für eine Vorabendserie und grinsen stupide in die versteckte Kamera. Wir brauchen mehr Realismus im Kampf gegen die kleine und große Kriminalität. No tolerance!" "Ich soll also ..." "Genau", sagte er, "durch möglichst perfektes Styling, Maske, Kleidung, Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Sprachgestik." "Ich verstehe", sagte ich. "Ich verkleide mich zum Beispiel als drogenabhängige Kleindealerin, gehe ahnungslos an einen Straßencafé vorbei, und in dem Augenblick, wo zwei junge Männer über die Straße kommen, die aussehen, als wären sie seit Jahren nicht beim Frisör gewesen, werfe ich ganz nebenbei eine Bombe in den nächsten Gulli und versuche wegzulaufen, aber Ihre Leute sind schneller." "Genau." "Also laß ich mich festhalten ..." - "Genau." - "Gegen die Hauswand drücken ..." - "So ist es." - "Das Gesicht zur Hauswand ..." - "Sie sagen es." - "Ich hebe die Arme ... spreize die Beine ..." - "Sie tun nur, was Sie gesagt kriegen." - "Lasse mir in den Schritt fassen ..." - "Aber hallo!" - "Die Titten kneten ..." - "Nur um zu prüfen, ob Sie was im Büstenhalter versteckt haben." - "Mich im Polizeigewahrsam vom halben Revier vergewaltigen ..." - "Ich weiß nicht, ob Sie so weit gehen sollten." Wir besprachen dann noch die arbeitsrechtlichen Details meiner zukünftigen Aufgabe, Dienstzeiten, Bezahlung, und eine Weile verhandelten wir auch über die Gefahrenzulage. "Was ist", sagte ich, "ich spiele eine kurdische Scheinasylantin, die abgeschoben werden soll, einer ihrer Jungs drückt mir dieses Spezialkissen ins Gesicht, damit ich nicht so laut schreien kann, und schon machen ihre Leute mich alle." Aber er beruhigte mich: "Da ist doch immer einer unserer Ausbilder in der Nähe, schon um zu checken, daß die Jungs alles richtig machen, auch wenn der in der Öffentlichkeit nicht eingreifen kann." "Und wieso, bitte, kann der nicht eingreifen?" "Aber verstehn Sie doch, Frau Modjewski. Das wäre kontraproduktiv. Der Bürger braucht die Illusion, daß wirklich etwas getan wird für seine innere Sicherheit, und die vermitteln wir ihm, indem wir polizeiliche Präsenz zeigen, wo er sie am wenigsten erwartet. Vor der Eisdiele, im Biergarten, in der U-Bahn, im Schwimmbad. Und nicht, indem wir den polizeilichen Einsatz als Farce entlarven." Draußen brachte der ostinate Beat einer fünfzigköpfigen Drummerband meinen Herzrhythmus auf Hochtouren. Ich trank zwei Kölsch im Fringsviertel, zog einer Tante, die eine Tunte war, das Portemonnaie aus der Tasche, und wartete auf meinen ersten Einsatz. Aus allen Lautsprechern tönte es: "Die Karawane zieht weiter, der Sultan hat Durst." Die AZUBIs griffen mich ab vor der Severinskirche, als ich eben das dritte Portemonnaie aus einer Hosentasche angelte, aber es war irgendwie nicht ihr Tag. Der eine hatte mir kaum an die Titten gefaßt, als schon ein halbes Dutzend üppige Nonnen sich ihrer annahm und ihnen die Hosen runterließ, so daß ich problemlos durch die Sakristei entkommen konnte. (Nächste Woche: "Neue Bewirtschaftung")
Peter O. Chotjewitz
Peter O. Chotjewitz: Das Wespennest
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dschungel
04.11.1998
https://jungle.world//artikel/1998/45/60-opas-bulle-ist-tot?page=0%2C%2C1
Legal, illegal, digital
Die älteren Leser werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass früher häufig von einem »unternehmerischen Risiko« die Rede war. In einer längst vergangenen Zeit ging man nämlich davon aus, dass ein Unternehmer Pleite gehen und gar mit seinem persönlichen Vermögen für den Bankrott haften könne. Historiker berichten, dass so etwas hin und wieder tatsächlich vorkam. Ein Unternehmer muss viel verdienen, weil er ja das unternehmerische Risiko trägt, sagte man damals. Seit es nicht mehr nötig ist, eine Rechtfer­tigung für die Aneignung des Mehrprodukts vorzubringen, wird auch das unternehmerische Risiko vermisst. Der Bankrott eines Großunternehmens ist kaum noch denkbar, und ein Manager, der einen Betrieb ruiniert, wird selten ohne einen Millionenbonus verabschiedet. Der moderne Unternehmer erwartet eine staatliche Profitgarantie. Wenn das Geschäft nicht läuft, ist die Regierung gefragt. Die deutschen Verleger etwa haben keinen Weg gefunden, im Internet viel Geld zu verdienen. Um dieses gottgegebene Recht durchzusetzen, muss also ein neues Gesetz geschaffen werden. »Im Internet darf es keine rechtsfreien Zonen geben«, fordern die Axel Springer AG, der Spiegel-Verlag und weitere Medienunternehmen in seltener Einmütigkeit. Zahlen, zahlen, zahlen, und immer an den Unternehmer denken. Das »Leistungsschutzrecht für Presseverlage« soll den erwünschten Profit garantieren. Da das maßlose Anspruchsdenken der Unternehmer allgemein akzeptiert wird, ist es bereits in einem erstaunlichen Ausmaß ­gelungen, Nutzungsbeschränkungen durchzusetzen. Wer eine Säge kauft, würde sich vom Hersteller wohl nicht vorschreiben lassen, dass er das Werkzeug nie dem Nachbarn leihen darf. Wer hingegen digitale Musik erwirbt, darf sie nicht weiterverbreiten. Im vergangenen Jahr löschte Amazon legal erworbene E-Books von den Kindle-Geräten seiner Kunden, passenderweise auch »1984« von George Orwell, weil der Anbieter die nötigen Rechte nicht hatte. »Unser Ziel muss es sein, die Hauptstraßen des Internets frei von Piraten zu halten«, sagte der nie um eine unpassende Metapher verlegene Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner. Zumindest unter den jüngeren Nutzern des Internets dürfte der Anteil der Kriminellen, die illegal Musik und Filme herunterladen, über 90 Prozent liegen. Jugendliche zu kriminalisieren, mag als ein geeignetes Mittel erscheinen, sie gegen Staat und Kapital aufzubringen. Doch leider ist ein entsprechender Effekt bislang nicht feststellbar. Nun soll noch ein neuer Straftatbestand hinzukommen, der des widerrechtlichen Lesens und Weiterverbreitens von Texten. Darf man hoffen, dass ein solches Gesetz das Interesse an illegalen Informationen wecken wird?
Jörn Schulz
Jörn Schulz:
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Inland
12.08.2010
https://jungle.world//artikel/2010/32/legal-illegal-digital?page=0%2C%2C3
Die Jugend von heute
Tim Renner, der Chef von Universal Deutschland, meinte vor kurzem, dass man sich beim Anpeilen von Zielgruppen vom Jugendlichkeitswahn verabschieden solle. Die Jugend, für die man dauernd frisches Material kreiert, scheint die Bemühungen der Plattenindustrie nicht gebührend zu schätzen und lädt sich ihre Musik lieber kostenlos aus dem Netz, anstatt ihr Taschengeld zum Plattendealer zu tragen. Man bekommt sie als kalkulierbare Zielgruppe einfach nicht in den Griff, deswegen wird nun versucht, die Älteren, die von der Plattenindustrie so genannten »Sleeper«, für die eigenen Produkte zu gewinnen. Der Jugendliche, so scheint es, wird in einer Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Erwachsen- und Jungsein immer weiter verwischen, weniger gebraucht denn je. Die Pisa-Studie, bei der sich ja herausstellte, dass in Deutschland Jugendlichen soziale Aufstiegschancen systematisch verbaut werden, unterstreicht diesen Befund noch einmal. Eine Trendwende zeichnet sich hier ab. Vielleicht auch, weil der Jugendliche ohnehin zu einer Minderheit gehört. Das Durchschnittsalter der Deutschen steigt, der Rentenvertrag wird bald nicht mehr funktionieren, und Kinder zu kriegen kommt immer mehr aus der Mode: Deutschland wird zum Seniorenland. Vielleicht sollte man sich aber auch einfach von dem Bild des Jugendlichen, wie man es bisher kannte, verabschieden: Schluss mit der Jugend, erwachsen ist man von Geburt an. Die soeben erschienene Shell-Studie, die 14. ihrer Art, gibt dementsprechend zwar vor, sich mit der Jugend des Jahres 2002 auseinanderzusetzen, doch am Ende der Lektüre muss man sich tatsächlich fragen, was an dieser Jugend überhaupt noch »jugendlich« ist, was sie von den Erwachsenen unterscheidet. Die Jugend von heute will »Karriere machen«, »aufsteigen statt aussteigen«, Leistung, Sicherheit und Macht sind ihr wichtiger denn je, so fasst die Shell-Studie ihre wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Jugendlichkeit als Phase der Rebellion oder als Zeit des Aufbegehrens, des sprichwörtlichen Jugendprotests, das war anscheinend einmal. Die Rede ist nun von »selbstbewussten Machern« und »pragmatischen Idealisten«, von »robusten Materialisten« und von den »Unauffälligen«. Was mit diesen Kategorien genau gemeint ist, muss man kaum erklären, sie sprechen für sich. Früher einmal, als der Jugendliche noch das wirklich unbekannte Wesen war, noch nicht trendberichtmäßig total durchleuchtet war und als Objekt einer akademischen Jugendforschung nicht wirklich ernst genommen wurde, spezifizierte man ihn unter »Halbstarker«, »Hippie« oder »Hänger«. Dahinter verbargen sich zwar die Arroganz des Nichtverstehens und das Misstrauen gegenüber den nachwachsenden Generationen, doch dieser Ansatz wirkt sympathisch im Vergleich mit den neuen Definitionen, hinter denen man Jugendliche vermuten muss, mit deren Vorstellung vom Leben man bestimmt nichts gemein haben will. Mit einem »robusten Materialisten« möchte man jedenfalls nicht den nächsten Kneipenbesuch planen. In den früheren Shell-Studien ging es noch darum, irgendwie das Anderssein von Jugendlichen verständlich zu machen. Die Jugendstudie verstand sich zwar noch nie als Durchleuchter von Jugendkulturen, deren kompliziertes Code-Geflecht es zu erklären gelte, sie verwandte zwar eine Technik wie die repräsentative Stichprobe, befragte Jugendliche konkret zu ihren Lebenssituationen und ließ sie auch selbst zu Wort kommen, doch blieb sie immer eine soziologische Bestandsaufnahme und hatte wenig gemein mit einer Studie im Sinne der Cultural Studies. Fakten, Fakten, Fakten zählten also schon immer mehr als die Untersuchung von subversiven Alltagspraktiken Jugendlicher oder die genaue Analyse von Kleidungscodes. Doch wenigstens ein bisschen interessierte man sich für die Hörgewohnheiten Jugendlicher, setzte sich noch 1997 in der zwölften Shell-Studie mit Rave und Techno auseinander, bewies etwas Sinn für Jugendliche als Teilhabende an Jugendkulturen. In der neuesten Shell-Studie ist davon nicht mehr viel zu spüren. Schon ihre Aufmachung ist seriös, kalt, sachlich. Sie soll eindeutig den interessierten Pädagogen ansprechen oder gleich Hans-Christian Ströbele, damit er besser checkt, wie er Jugendliche zu seinen Fans machen kann. An jungen Lesern, die etwas über sich selbst und ihre Generation erfahren wollen, scheint man nicht mehr so sehr interessiert zu sein. Man beschäftigt sich eigentlich nur noch mit der Frage, ob Jugendliche entgegen aller Unkenrufe noch politisch denken und ob sie überhaupt noch am bestehenden Demokratiesystem partizipieren. Der Schwerpunkt der Studie wurde auf, wie es heißt, »politische Einstellungen und politisches Engagement von Jugendlichen« gelegt. Bei dieser Fragestellung kommt dann heraus, dass sich nur noch 30 Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und 25 Jahren politisch interessiert zeigen, dass politischem Extremismus eine klare Absage erteilt wird, dass man sich mehrheitlich für ein Verbot der NPD ausspricht und dass sich für die Grünen niemand mehr wirklich interessiert. Der prototypische Jugendliche ist anscheinend der so genannte »Egotaktiker«. Er engagiert sich auch schon mal, wenn es sein muss, aber vor allem, um daraus einen persönlichen Vorteil zu ziehen, denn an sein eigenes Glück glaubt er allemal. Dass es irgendwann einmal eine gerechtere Gesellschaft geben könnte, hält er allerdings für ausgeschlossen. Das ist dann also der Jugendliche, der, so die meisten Reaktionen in den Medien bisher, gar nicht so schlimm ist, wie man eigentlich gedacht hatte. Mit einer gewaltigen Masse an Datenmaterial belegt der Bericht diesen Hang zum jugendlichen Politpragmatismus. Keinerlei Beachtung schenkt er allerdings jenen Gruppierungen, die eben nicht mehr mit allem einverstanden sind, ausgelassen wird die Frage, wie es zur »No Logo«-Bewegung kommen konnte, was es mit der wachsenden Zahl jugendlicher Globalisierungsgegner auf sich hat und warum etwa Attac unter jungen Menschen so einen Zulauf hat. Außerdem verträgt sich der Befund von der angeblich so gar nicht extremistisch eingestellten Jugend nicht mit deren manifesten politischen Ausdrucksformen; warum in den neuen Bundesländern »national befreite Zonen« eingerichtet werden konnten und warum zumindest im Osten der Rechtsextremismus zweifellos die Jugendkultur Nummer eins ist. Antworten darauf bleibt die Trendforschung schuldig. Schon der grundsätzliche Ansatz der 14. Shell-Studie ist falsch, nämlich zu sagen, dass politisches Bewusstsein von Jugendlichen auch tatsächlich mit einem Interesse an (Partei-) Politik gekoppelt wird. Wer bei der Umfrage sagte, er habe »kein Interesse an Politik«, kann dies unter Umständen ja durchaus politisch gemeint haben. Außerdem kann man auch den Shell-Studien-Befragern bewusst falsche Antworten geben, um das Ergebnis zu verfälschen und um dadurch nicht dazu beizutragen, dass man selbst zur berechenbaren Größe wird. Die Shell-Studie gibt vor, auf alle Fragen Antworten zu haben, die Jugendlichen und ihre Verhaltensweisen erklären zu können, am Ende aber bietet sie einfach nur unendlich viele Antworten auf Fragen, die man selbst nie gestellt hätte. Die vom Mineralölkonzern Shell herausgebene Studie »Jugend 2002« ist im Fischer-Verlag erschienen und kostet 12,90 Euro.
Andreas Hartmann
Andreas Hartmann: Die 14. Shell-Studie
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dschungel
28.08.2002
https://jungle.world//artikel/2002/35/die-jugend-von-heute?page=0%2C%2C3
100 Jahre jung
Tel Aviv. Israels Stadt am Meer ist in Partystimmung. Der Sommer ist schon länger da, Pessach wird gefeiert, und dann wird in diesen Tagen die Stadt auch noch 100 Jahre alt. Was nicht zu übersehen ist. Manche Straßen sehen aus wie bei uns die Innenstädte zu Weihnachten, silbriges Glitzerzeug hängt in den Bäumen, und die Jubiläums-»100er« prangen über den Boulevards. Dazu gibt es Festivitäten ohne Ende, kein Magazin und keine Zeitung vergisst, nochmals die wild bewegte Geschichte dieser aufregenden Stadt zu rekapitulieren. An jeder Ecke trifft man außerdem auf Plakate, die nochmals der Pioniertaten der ersten Zionisten gedenken, wobei das beliebteste Motiv die Siedlermutter mit Baby auf dem Arm ist. Seid fruchtbar und mehret euch, dieser Gedanke scheint dort heute noch so aktuell wie damals, und wenn man sich so umschaut, hat man tatsächlich das Gefühl, dass fleißig neue Israelis produziert werden in diesem Land.   aha
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dschungel
16.04.2009
https://jungle.world//artikel/2009/16/100-jahre-jung
Alte Jauche in alten Schläuchen
Europa Vorn (EV) hat sich auf seine Ursprünge besonnen und heißt jetzt Signal . Die im 11. Jahrgang erscheinende Zeitschrift der Neofaschisten trägt seit Juni unter Beibehaltung von "Konzept und Inhalt" den alten Namen, der "längst überfällig" gewesen sein soll. Während des Zweiten Weltkrieges propagierten die Nazis mit ihrer in mehreren Sprachen erscheinenden Illustrierten Signal die Germanisierung Europas.
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dschungel
03.06.1998
https://jungle.world//artikel/1998/23/alte-jauche-alten-schlaeuchen?page=0%2C%2C0
Monumente, die keiner braucht
Olympia als stilisierte Mutter Mazedoniens erfrischt sich im Brunnen. Im Hintergrund Philipp II. mit erhobener Faust »Welcome to Macedonia« steht in riesigen Lettern auf einer Tafel an der griechisch-mazedonischen Grenze. Sie begrüßt nicht die Besucher der ehemaligen jugoslawischen Republik, sondern prangt als Provokation auf der griechischen Seite, denn Griechenland hat den Namen seines nördlichen Nachbarstaats zum Politikum gemacht hat. Nach einem Referendum erklärte die Republik Mazedonien 1991 ihre Un­abhängigkeit von der jugoslawischen Föderation und forcierte die Stiftung ­einer nationalen Mythologie, was die bislang latenten Spannungen mit den Nachbarstaaten verschärfte. Bereits 1967 hatte sich ein Streit zwischen der ­jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien und Bulgarien entzündet, weil Bulgarien eine Politik der Assimilierung gegenüber der mazedonischen Minderheit und ihrer Sprache verfolgte. Im selben Jahr verfügte Josip Broz Tito die Autokephalie, die Autonomie der mazedonischen Kirche, die die serbische Orthodoxie bis heute nicht akzeptiert. Der 1978 bei griechischen Aus­grabungen in der Grabkammer von Philipp II. gefundene, 16strahlige »Stern von Vergina« bildete schließlich den Auftakt eines Kampfes um die Deutung der hellenistischen Antike, die sowohl Griechenland als auch Mazedonien als Tradition für sich reklamieren. Auf Ini­tiative der antikommunistischen Diaspora gelangte der Stern 1992 auf die erste Flagge des unabhängigen Mazedonien. Katerina Kolozova forscht am Institute of Social Sciences and Humanities ­Research in Skopje über diese politische »Antikisierung« und erinnert sich: »Ich war schockiert, als ich das Symbol im Parlament gesehen habe. Was ist das? Wie kann das unser Symbol sein? Niemand hat eine Ahnung, was das ist, und eine Beziehung dazu.« Trotz intensiver Bemühungen der Regierung ist die öffentliche Meinung in dieser Frage weiterhin gespalten. In einer Studie des Instituts aus dem Jahr 2013 erklärten lediglich sechs Prozent der Befragten die Antike zur wichtigsten Epoche für die mazedonische Identität. Je ein Fünftel der Stimmen entfielen auf die Slawenapostel Kyrill und Method und das sozialistische Jugoslawien. Weil die griechische Region Makedonien den Stern von Vergina bereits auf einer inoffiziellen Flagge führte und Gebietsansprüche befürchtete, verhängte die griechische Regierung 1994 ein Embargo gegen Mazedonien und blockierte dessen Integration in internationale Strukturen und die Anerkennung des Staatsnamens. Den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen und die von den anderen Bündnismitgliedern unterstützte Aufnahme Mazedo­niens in die Nato verhinderte Griechenland im Jahr 2004 durch ein Veto. »In jeder historischen Periode wurde das Vorherige verdrängt, obwohl das multiethnische Skopje eine Stadt der Brüche und des permanenten Wandels ist.« Natali Veleska, Architekturstudentin Nach dem Scheitern des Nato-Beitritts verstärkte die damals in Mazedonien regierende Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit (VMRO-DPMNE) ihren identitären Rückbezug auf die Antike durch neue Schwerpunktsetzungen in den Schulbüchern und rief eine Kampagne zur »Hebung der nationalen Würde und des Optimismus« aus. Der internationale Flughafen in Skopje und seine Zubringerstraße wurden nach Alexander von Mazedonien, das National­stadion nach seinem Vater Philipp II. umbenannt. Die Partei bezeichnete diese offensive Geschichtspolitik in ihrem Wahlprogramm als »Wieder­geburt in 100 Schritten«. Ihren radikalsten Ausdruck fand sie im Stadt­umbauprojekt »Skopje 2014«, das die Hauptstadt in ein »offenes Museum« ­verwandeln und die jugoslawische Vergangenheit aus dem Stadtbild verdrängen sollte. Seit dem Regierungsantritt des linken Bündnisses Syriza in Griechenland 2015 und einer neuen Regierungskoalition unter Führung der sozialdemo­kratischen Partei SDSM 2017 in Mazedonien gibt es jedoch Zeichen der An­näherung. Am 17. Juni unterschrieben die Außenminister der beiden Länder eine Vereinbarung, nach der Mazedonien die Bezeichnung Severna Make­donija (Nordmazedonien) annehmen soll. Der Schritt wurde auf beiden ­Seiten von nationalistischen Protesten begleitet. Wird der neue Name vom mazedonischen Parlament und schließlich in einem Referendum akzeptiert, will Griechenland seine Blockade der Aufnahme Mazedoniens in die Nato und die EU aufgeben.
Felix Schilk
Felix Schilk: Der Stadtentwicklungsplan »Skopje 2014« hat die mazedonische Hauptstadt monumental verkitscht
[ "Mazedonien", "Griechenland" ]
Reportage
28.06.2018
https://jungle.world//artikel/2018/26/monumente-die-keiner-braucht?page=0%2C%2C1
tim banning
Vor dem Gipfel der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek wollten die Behörden den internationalen Gästen eine saubere und ordentliche Stadt präsentieren. »Unerwünschte Elemente« wurden von der Polizei von den Straßen vertrieben. Dazu zählen insbesondere obdachlose Jugendliche und Kinder, die aus den armen Regionen in die Hauptstadt kommen. von tim banning (text und fotos)
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https://jungle.world//autorin/tim-banning
Auszeit in High Heels
So ziemlich jeder Thru-hiker, der heutzutage den 4 265 Kilometer langen US-amerikanischen Pacific Crest Trail läuft, verwurstet die Wanderung entweder zu einer Selfmade-Youtube-Doku (verwackelte Handyaufnahmen vom Boden, Hintergrundrauschen, dann setzt ein Lied von irgendeiner Indie-Band ein, dazu ein Voice-over: »I’ve never felt so much freedom in my life … «), schreibt ein Buch darüber oder macht ein »art project« daraus, um neben der Darstellung seiner selbst ein bisschen cashflow für die nächste »journey« zu generieren. Hollywood entdeckte den PCT 2014 mit »Wild«, der Verfilmung von Cheryl Strayeds gleichnamigem autobiographischem Buch: ein auf Sinnsuche und Ekelbilder reduziertes Filmchen, das mit der Realität kaum etwas gemein hat. Spätestens da war der PCT im Mainstream angekommen, und auch »Gilmore Girls« ließen in ihrem Comeback 2016 die Hauptfigur ­Lorelai zumindest versuchen, den Pfad zu wandern, was ihr dann aber doch zu viel Selbstverwirklichung war. Auch der deutsche Büchermarkt hat den PCT und das Reisen als Weg zur Selbstoptimierung für sich entdeckt. So findet man Titel wie »Mit 50 Euro um die Welt – Wie ich mit wenig in der Tasche loszog und als reicher Mensch zurückkam«, »Fräulein Draußen: Wie ich unterwegs das Große in den kleinen Dingen fand«, »Tausche Alltag gegen Leben: Meine Reise ins Glück«, »Gehen, um zu bleiben: Wie ich in die Welt zog, um bei mir anzukommen« oder »Die geilste Lücke im Lebenslauf: 6 Jahre Weltreisen«. Diese Liste ließ sich ziemlich lange fortführen. Gemeinsam haben diese Titel alle das Versprechen, durch Ent­sagung, Minimalismus, Mut und Achtsamkeit das große Glück, den inneren Frieden und Reichtum zu finden. Eine romantisierte Vorstellung von »Das Glück liegt auf der Straße«, der man bequem von der heimischen Couch aus frönen kann, und obendrein wird man noch mit Sinnsprüchen und Binsenweisheiten versorgt, die klingen, als seien sie direkt aus der Feder von ­Paulo Coelho geflossen, dem Meister des seichten Geschnatters. Als Ausnahme sei Christine Thürmer genannt. In ihrem Bestseller »Laufen. Essen. Schlafen.« (man beachte: der Titel kommt ohne die Wörter »Reichtum« oder »Glück« aus) beschreibt sie ihre Reise auf dem PCT und mahnt die Leserinnen und Leser, dass man selbst als sinnsuchender Wanderer eine Verdauung und somit auch Ausscheidungen hat. So schön kann die Reise zu (und in) sich selbst sein. Jetzt, obwohl eigentlich schon viel zu spät (manchmal braucht es eben einen Moment der Reflexion und des Innehaltens, um die aktuellen Trends zu entdecken), sind auch wir endlich drauf und dran, dem Ruf der Freiheit und der Selbsterkenntnis zu ­folgen und unsere Komfortzone hinter uns zu lassen. Was bewegt uns wirklich dazu, den PCT zu laufen? Vielleicht hat es tatsächlich ein wenig mit »Auszeit«, »Selbstfindung« und »dem Alltag entfliehen« zu tun. Der eigentliche Grund ist jedoch natürlich fame, Glanz und Gloria, wenn wir als Erste in High Heels den PCT laufen werden. Okay, das stimmt jetzt auch nicht ganz. Stöckelschuhe wurden zwar in Betracht gezogen, allerdings machen da Knie- und Rückenleiden einen Strich durch die Rechnung. Wieso braucht es also jetzt eine Reisekolumne über den PCT? Braucht es nicht, aber es wird sicherlich unterhaltsam.
Christian M. Fachinger,Jens Kraushaar
Christian M. Fachinger,Jens Kraushaar: »Walk on the Wild Side« – Neue Kolumne über eine Wanderung auf dem Pacific Crest Trail
[ "Wandern" ]
dschungel
14.04.2022
https://jungle.world//artikel/2022/15/auszeit-high-heels?page=0%2C%2C0
Care for the Revolution
Ein gängiges Szenario, das Ängste schürt, lautet: Künftig gibt es mehr Menschen, die gepflegt werden müssen, als solche, die sie pflegen könnten, und die Rente wird kaum für Miete und Medikamente reichen. Dieses Szenario dient als stra­tegisches Mittel, um Stimmung zu machen und Kassenbeiträge zu erhöhen. Doch man müßte gar nicht in die Zukunft blicken, denn Defizite und Ungerechtigkeiten im Pflegesektor gibt es schon heute. Der Pflegebereich ist stark vom neoliberalen Umbau des Sozialstaates betroffen. Eine gute Pflege erhält nicht, wer ihrer besonders bedarf, sondern wer sie sich leisten kann. Angestellte in der Pflege leiden unter der Prekarisierung ihrer Arbeit. Stellen werden abgebaut, was zu einem unzureichenden Personalschlüssel und folglich zu schlechter Versorgung führt. Befristete Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu und das Lohnniveau ist besonders niedrig – sind es doch vor allem Frauen und Migranten, die im Care-Sektor den größten Teil der Arbeit leisten. Wie können diese Ungerechtigkeiten thematisiert und angegangen werden? Wie kann eine Gesundheitsversorgung und Pflege­infrastruktur gestaltet werden, die sich am gesellschaftlichen Bedarf orientiert? Wie können die Gewerkschaften intervenieren? Diese Fragen diskutiert die Konferenz »Für neue Strategien in Gesundheit und Pflege«, die vom 16. bis 18. Oktober in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Franz-Mehring-Platz 1 stattfindet. Gemeinsam mit der Bundestagsfraktion der Linkspartei und dem Netzwerk »Care Revolution« organisiert die Rosa-Luxemburg-Stiftung dieses Zusammentreffen. Eine Vielzahl an Verbänden, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, kleinen Selbsthilfeorganisationen und linken Gruppen beteiligen sich an der Vorbereitung. Erwartet werden 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, unter ihnen Beschäftigte im Care-Sektor, Gewerkschafter, pflegende Angehörige, Menschen, die im Alltag auf Unterstützung angewiesen sind, kritische Wissenschaftler und interessierte Einzelpersonen. Die Konferenz möchte keine Fachtagung sein, sondern aktiv nach politischen Alternativen suchen. Bei Podiumsdiskussionen, Workshops, Arbeits- und Vernetzungstreffen und diversen Kulturveranstaltungen wird erörtert, wie es um Pflege und Assistenz steht und was mögliche Auswege aus der problematischen Situation sein können. Ausgangspunkte sind die Frustration und die schlechte ökonomische Lage der Beschäftigten. Es soll außerdem um zukünftige Arbeitskämpfe in der Pflege und im Gesundheitswesen gehen. Proteste organisiert beispielsweise die Bewegung »Pflege am Boden«: Gemeinsam veranstalten bezahlte und unbezahlte Pflegekräfte Flashmobs im öffentlichen Raum. Genau auf solche Bewegungen möchte die Konferenz zugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Themenschwerpunkte sind die Altenpflege, Arbeit im Krankenhaus, häusliche (unentlohnte) Sorgearbeit, Palliativmedizin und Hospize, ambulante Gesundheitsversorgung und die Zukunft der Daseinsvorsorge. Es werden Finanzierungsmodelle von Pflege erörtert, beispielsweise das Konzept der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, das Gerechtigkeitsdefizite aufheben soll. Weiterhin stehen das kirchlich geprägte Pflegeethos und die rechtlichen Bedingungen für gewerkschaftliche Organisierung und Arbeitskämpfe in kirchlichen Einrichtungen zur Diskussion. Einen besonderen Fokus legt die Konferenz auf das Thema Migration: Oft sind es migrantische Pflegekräfte, die gezwungen sind, für ihren Aufenthaltsstatus Knebelverträge zu akzeptieren. Unter dem Titel »Deutschland exportiert den Pflegenotstand: Care-Krise und Migration« diskutieren Carlos Aparacio (GAS – Grupo de acción sindical) und Heino Güllmann (Referent für globale Gesundheit bei Terre des Hommes) mit Pia Zimmermann (pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linkspartei) darüber, wie Pflegekräfte aus südeuropäischen Krisenländern angeworben werden. Dadurch werden nicht nur die Gesundheitssysteme in Ländern wie Griechenland und Spanien geschwächt, sondern es wird auch hierzulande der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen erhöht. Ein der Care-Arbeit immanentes Thema sind die Geschlechterverhältnisse. »Warum Care-Revolution und Feminismus zusammengehören« diskutieren Jette Hausotter vom Netzwerk »Care Revolution« und Julia Dück von der »Interventionistischen Linken Berlin« auf einer Podiumsdiskussion. Die gerechte Umverteilung von Tätigkeiten, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, ist eine Forderung queerfeministischer Bewegungen. Die Konferenz bietet auch Raum für eine Diskussion darüber, welche Lebens- und Arbeitsverhältnisse krank machen und umstrukturiert werden müssten, damit Gesundheit kein Gut bleibt, das man zu erkaufen gezwungen ist. So praxisorientiert die Konferenz ist, sind doch eine ganze Reihe theoretischer Reflexionen in das Konzept eingeflossen. Da ist die feministische Kritik an der biologistischen Zuweisung von Sorgekompetenzen. Aus ökonomiekritischer Perspektive wird die Verquickung von Care-Arbeit und Profitinteressen thematisiert. Auch die Debatte um Psychiatriekritik greift auf eine lange Theorietradition zurück. Und der praktische Aspekt der Veranstaltung? Was ist das revolutionäre Potential von Altenpflegerinnen und Altenpflegern? Wie kann ein Aktivismus von Hospizangestellten aussehen? »Für eine Linke, die an einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik festhält, aber keinen Grund hat, anzunehmen, dass sich dieser in einer Art Umsturz erledigen lässt, stellt sich doch folgende Frage: Wie können wir hier und heute Veränderungen anschieben, die die Bedingungen für weitere Schritte vorbereiten und Handlungsspielräume vergrößern? Wie lassen sich die Kräfteverhältnisse Stück für Stück so verschieben, dass grundlegendere Transformationen möglich werden? »Es sind hier vor allem Alltagskämpfe, an denen wir ansetzen können, die täglichen Sorgen und Nöten der Einzelnen«, meint Barbara Fried von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitorganisatorin der Konferenz. »Diese gilt es aber zu einem übergreifenden Projekt zu verallgemeinern. Nur dann kann ein effektiver Bruch mit den bestehenden Machtverhältnissen gelingen. Rosa Luxemburg nennt das ›revolutionäre Realpolitik‹.« Es geht also auch um die Frage, was eigentlich Lebensqualität ist, wie aus einem wachsenden Bewusstsein für die prekären Zustände Mut geschöpft werden kann. Nur so können Kräfte für die sogenannte Care-Revolution gebündelt werden.
Milan Ziebula
Milan Ziebula: Arbeitsbedingungen und -kämpfe im Pflegesektor
[ "Care", "Care-Arbeit" ]
Inland
01.10.2015
https://jungle.world//artikel/2015/40/care-revolution?page=0%2C%2C2
Die Aktien sind sicher
Noch so ein Konzept gegen Altersarmut, das auf die Politik von SPD und Grünen zurückgeht: Pfandflaschensammeln Immer mehr Senioren arbeiten. Im Sommer vergangenen Jahres waren etwa 300 000 Menschen im Rentenalter in einem sozialversicherungspflichtigen Angestelltenverhältnis tätig, nach Recherchen des MDR waren das 30 Prozent mehr als 2017. Rund eine Million Rentner hatten einen sogenannten Minijob, dies entspricht einem Anstieg von fünf Prozent im gleichen Zeitraum. Auch wenn nicht alle von ihnen aus Geldmangel arbeiten: Altersarmut ist ein Massenphänomen. Einer aktuellen Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und ­Jugend zufolge leidet fast ein Viertel der über 80jährigen unter Altersarmut. In der vergangenen Legislaturperiode hat die Große Koalition mit der Einführung der Grundrente den Versuch unternommen, der Altersarmut entgegenzuwirken. Der Kreis der Bezugsberechtigten ist bei der Grundrente allerdings sehr begrenzt, unter anderem weil dafür 35 Erwerbsjahre erforderlich sind. Die neue Bundesregierung plant hier keine Verbesserungen, sondern verfolgt ein höchst fragwürdiges Projekt: die sogenannte Aktienrente, die ein Einstieg in die kapitalgedeckte Altersvorsorge sein soll. Heutzutage wird die Rente als Umlagesystem organisiert: Erwerbstätige und Arbeitgeber finanzieren zu gleichen Teilen die Auszahlungen für die, die im Ruhestand sind. Hinzu kommen staatliche Zuschüsse, auch weil die Rentenkassen gesellschaftliche Aufgaben finanzieren, etwa Waisenversorgung oder Reha-Leistungen. Das größte Problem bilden die immer weiter verbreiteten prekären Arbeitsverhältnisse, die keine oder nur geringfügige Einzahlungen für die Altersvorsorge zulassen. Insbesondere in linken Medien wird die »Aktienrente« gerne als Projekt der FDP kritisiert, dabei stand sie auch in den Programmen zur Bundestagswahl von SPD und Grünen. Das Umlagesystem wurde in den fünfziger Jahren unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) eingeführt. Damit verbunden war der Anspruch, dass die gesetzliche Rente zum Leben reichen soll. Mit der Rentenreform der rot-grünen Bundesregierung von 2002 wurde dieser Anspruch aufgegeben. Die Rentenansprüche wurden gekürzt. Bürger sollten private Altersvorsorge betreiben, um die Rentenabsenkung auszugleichen. Dazu wurde die staat­liche Förderung von betrieblicher Altersversorgung und die sogenannte Riester-Rente eingeführt. Gefreut hat sich darüber in erster Linie die Finanzwirtschaft, die kräftig verdient hat. Für ärmere Bürger ist es kaum möglich, die entstandenen Lücken mit privater Vorsorge auszugleichen. Denn sichere Geldanlagen an Kapitalmärkten verursachen nicht unerhebliche Kosten, die Anbieter von Verträgen ziehen von den Einzahlungen einen erheblichen Anteil für Provisionen und Verwaltungskosten ab. Mit der Riester-Rente sollten die Bürger an den einst boomenden Kapitalmärkten beteiligt werden – kurz nach der Einführung war es mit dem Boom allerdings erst mal vorbei. Nach einigen Schwankungen sind die Börsenkurse derzeit auf einem Höhepunkt. Wohl auch deshalb baut die Ampelkoalition erneut auf die Kapitalmärkte. Dieses Mal wohl immerhin ohne Senkung der Renten. »Es wird keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben. Um diese Zusage genera­tionengerecht abzusichern, werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen«, heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Dazu soll ein Fonds aufgelegt werden, der von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Einrichtung verwaltet werden und das Kapital global anlegen soll. Insbesondere in linken Medien wird die »Aktienrente« dieser Tage gerne als Projekt der FDP kritisiert, allerdings stand sie auch in den Programmen zur Bundestagswahl von SPD und Grünen – genau wie in dem der Unionsparteien. SPD und FDP verwiesen dabei auf das Vorbild Schweden. Dort fließen seit einer Rentenreform Ende der neunziger Jahre 16 Prozent der Beiträge in eine gesetzliche Rente, 2,5 Prozent werden am Kapitalmarkt angelegt. Die Beschäftigten können selbst bestimmen, in welchen Fonds das Geld fließen soll. Die Hälfte der Arbeitnehmer investiert in den staatlichen Aktienfonds. Der legt bis zum 55. Lebensjahr das Geld der Versicherten in Aktien an, danach geht es Zug um Zug in festverzinsliche Papiere, weil die sicher seien. Einem Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von 2017 zufolge war die Rendite für die schwedischen Versicherten aus der staatlich organisierten kapitalgedeckten Rente höher als die der deutschen Riester-Rente, die zu einem erheblichen Teil staatlich gefördert, aber von privaten Finanzunternehmen betrieben wird. Einen wichtigen Punkt des schwedischen Modells übergeht die Bundesregierung allerdings, weil sie ihn nicht auf Deutschland übertragen will: In Schweden werden die Beiträge zur Rentenversicherung nicht wie hierzulande gleichenteils von Beschäftigten und Arbeitgebern gezahlt, vielmehr entrichten die Arbeitnehmer nur 40 Prozent der Beiträge und die Arbeitgeber 60 Prozent. Die Ampelkoalition orientiert sich nur in der Frage der Geldanlage an Schweden. Sie hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass der Staat als ersten Schritt zehn Milliarden Euro an die Deutsche Rentenversicherung zahlt, die das Geld am Kapitalmarkt anlegen soll. Unklar ist, ob oder in welcher Höhe die Beitragszahler Geld in diesen Fonds stecken müssen. Auch weitere Details der »Aktienrente« sind noch unklar. Anders als das Umlageverfahren ist das Kapitaldeckungsprinzip riskant. Nach einem Börsenkrach etwa ist eine Menge Geld einfach weg. Wird Geld aber vergleichsweise sicher und mit Garantien angelegt, ist die Rendite gering, die Kosten fressen sie womöglich ganz auf. Doch das Rentenkapitel im Koalitionsvertrag ist durchzogen von möglichen Neuerungen, die »Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen« versprechen; diese sollen auch der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge zugutekommen, also Betriebs- und Riester-Renten. Angesichts der hohen Notierungen des Deutschen Aktienindex und anderer Börsen scheint das verlockend, aber der nächste Crash kommt bestimmt. Einen wichtigen Punkt hat sich die neue Bundesregierung nicht vorgenommen, mit dem sie privat ­Altersvorsorgende hätte schützen können: ein Verbot von provisionsbasierter Beratung bei Geldanlageverträgen. Denn oft schwatzen sich als »Berater« ausgebende Verkäufer vor allem Ver­träge auf, an denen sie selbst viel verdienen, die aber für die Kunden nach­teilig sind – was die aber nicht oder erst zu spät durchschauen.
Anja Krüger
Anja Krüger: Die Bundesregierung plant die Einführung einer sogenannten Aktienrente
[ "Rente", "Altersvorsorge", "Aktienrente" ]
Inland
10.02.2022
https://jungle.world//artikel/2022/06/die-aktien-sind-sicher?page=0%2C%2C3
Einfach böse
Ich werde mir gleich ein Video angucken. Einen dieser richtig fiesen Kiddy-Pornos. Es ist sogar ein Snuff-Video (…) Das Video gehört Takashi, dem perversesten Schwein von uns vieren. Genauer gesagt, Takashis Vater.« Für die vier ist es ein schwindelig machender, erotischer Thrill, bald darauf in die schreckensgeweiteten Augen eines Siebenjährigen zu schauen und sich dabei die Schwänze zu reiben. Am Ende wird »das Gör« mit einer Kettensäge zersägt. Übrig bleibt ein Haufen menschlicher Matsch. Man kann nicht behaupten, die Autorin Akira Kuroda hätte in ihrem Buch »Made in Japan« irgendein Detail des Schreckens vergessen. Es sind Szenen, bei denen einem leicht schlecht werden könnte, müsste man sie mitansehen. Indifferent zurück lassen einen allerdings auch die Buchseiten nicht, obgleich sich die typische Unschärfe bloß vorgestellter Bilder wie eine kleine Schutzmauer vor die leiblichen Konsequenzen stellt. Trotzdem: Ein mulmiges Gefühl steigt auf und bleibt eine Weile. Als Kuroda »Made in Japan« schrieb, war sie 20 Jahre alt, bekam dafür den japanischen Bungei-Preis 2000 und drei Jahre später den Mishima-Preis. Im Verlauf der Geschichte zappt Kuroda mit harten Schnitten zwischen verschiedenen männlichen Ich-Erzählperspektiven hin und her. Schließlich befinden wir uns in einem Roman, der nicht nur schockieren, sondern uns zudem, wenn auch nur subtextuell oder implizit, etwas über die fatale Wirkung von Massenmedien sowie von der Ambivalenz hedonistischer, materialistischer Lebensformen erzählen möchte. Und der sich vermutlich auch deshalb – formal ästhetisch und semantisch gar nicht ungeschickt – der postmodernen Cut-Ästhetik von Musikvideos und Mangas bedient. Es geht um ein gewissermaßen mimetisches Spiel zwischen den Konsequenzen eines irre laufenden Kapitalismus und einer möglichst radikalen Textgestaltung. Aber vielleicht greift diese Interpretation auch zu weit, und bei der Radikalität der Form handelt es sich lediglich um eine betont zeitgemäße Art des Schreibens. Deshalb die ganzen Sprünge, die atemlose Sprache, das andauernd eingeflochtene Englisch, der Wechsel der Textformen zwischen reinen Dialogpassagen, inneren Monologen, Erzählungen in Erzählungen und direkter Anrede des Lesers: »Versteht ihr, es geht hier um zählbare Fakten. In einem Snuff-Video wird jemand wirklich ermordet. Vor euren Augen, immer wieder, sooft man auf ›Play‹ drückt.« »Made in Japan« ist kein raffinierter Krimi, kein doppelbödiger Thriller und auch sonst nicht sonderlich überraschend. Vor allem geht es um Gewalt oder den direkten, durchaus spannungsvoll erzählten Weg dorthin. Wie die meisten Bücher, die von nicht viel mehr als Gewalt erzählen, folgt es einer sehr typischen, beinahe zwanghaften Logik der Steigerung. Man hat daher nicht wirklich etwas verraten, wenn man schreibt: Einem der vier wird es am Ende ähnlich ergehen wie dem »Kiddy« aus dem Video. Er wird tot sein, zerstückelt. Zuvor wird er eine unfassbare Tortur durchlitten haben, den Mund verklebt, damit man seine unglaublichen Schreie nicht hören kann. Aber wer oder was sind die vier überhaupt? Da ist zunächst Shu, der erste und wichtigste Ich-Erzähler des Romans. Er hat ein ambivalentes, aus düsteren Kindheitserinnerungen gespeistes Verhältnis zu Gewalt: Er wäre fast selbst einmal vergewaltigt und ermordet worden, von einem Serienkiller, wurde aber von dessen Kumpanen beschützt. Selber Mörder, wollte dieser nicht, dass Shu stirbt, warum auch immer. Seitdem hat Gewalt für Shu einen Angst-, einen erotischen und einen Geborgenheitsaspekt. Es ist genau diese seltsame Unentschiedenheit gegenüber Gewalt, die Shu, der die brutale Hinrichtung seines »Freundes« am Telefon mit anhören wird, zu einem zwischen Entsetzen und Faszination pendelnden Voyeur werden lässt. Dann wäre da noch Satoru. Er ist bisexuell, recht einfach gestrickt und für die Handlung nicht weiter wichtig. Des Weiteren Shin: emotional fragil, auch bisexuell, grazil, wunderschön, schrecklich lebensmüde. Er ist wie geschaffen, später Takashis »Opfer« zu werden – entsprechend einem beliebten Topos aus Film und Literatur, der besagt, dass es viel reizvoller ist, etwas außergewöhnlich Schönes zu zerstören als etwas nur Durchschnittliches. Takashi selbst ist so etwas wie das Zentrum des Bösen. Das sieht man schon allein daran, wie er skatet: »Takashis Art zu skaten ist schon abartig. So brutal. (…) Wenn man zusieht, wie er die ramp hoch- und runterrast und seine turns macht, hat man fast den Eindruck, er würde dem Beton wehtun und nicht umgekehrt.« Mit der extrem eindimensionalen literarischen Anlage Takashis als permanent aggressiv provokativem, menschenverachtendem Psychopathen hat die Autorin »das Böse« allerdings ziemlich banalisiert. Eine Schutzmaßnahme, die dazu dient, sich »im Bösen« nicht wiedererkennen zu müssen. Durch seine Reduktion auf nur eine Qualität – die Bösartigkeit – verhängt man den Spiegel. Das soll nun nicht heißen, die Figuren Kurodas seien besonders unglaubwürdig, das nicht. Aber wären sie etwas komplexer, könnten sie fast aus einem Dennis-Cooper-Roman oder einem der besseren Larry-Clark-Filme stammen. Denn wie die Protagonisten von Clark und Cooper sind auch die vier auf unterschiedliche Weise von reichlich kaputter Normalität: Gelangweilt konsumieren sie, was ihnen die Gesellschaft an Drogen, Mädchen oder Jungs vor die Nase oder den Hosenstall schleudert. Sie sind sehr jung – so um die 17 – und können sich, obwohl sie gemeinsam die Zeit totschlagen, im Grunde nicht mal besonders leiden. So weit, so amerikanisch? Nun heißt das Buch aber »Made in Japan«. Ein Titel, der zwar nicht verkehrt ist, aber doch so tut, als sei der gewaltsame Exzess, um den es vor allem geht, ein Phänomen des gegenwärtigen Japans, was natürlich nicht stimmt. Sinn gewinnt der Titel erst durch eine Erläuterung Kurodas im Interview, das sich im Anhang des Buches befindet: Als junge verwöhnte Japaner, die eine Weile im Ausland gelebt haben, fühlen sich die vier Protagonisten nirgendwo wirklich aufgehoben. Hinzu kommt, so die Autorin, ein typisch (großstädtisch) japanisches »Gefühl der Unbestimmtheit« und »Hoffnungslosigkeit«, resultierend aus dem nicht abreißenden Strom von Waren und Informationen. Ein Außenseiter mit Entgrenzungswünschen Batailleschen Ausmaßes, wie Takashi einer ist, wartet dort gewissermaßen nur auf seine Geburt. Was auch immer soziologisch davon zu halten ist, als literarisches Motiv mögen Kurodas Erklärungen genügen. Faszinierend fand die Autorin Grenzen überwindende Außenseiter »schon immer«. Und weil die nichts ohne ihre Taten sind, oder besser: ihre Taten alles, nimmt die entsprechende ausführliche Metzelszene bis zum bitteren »Dead End« 44 Seiten der gerade mal 143 Seiten langen Geschichte ein. Man muss sie hier nicht nachzeichnen, ein paar Sätze reichen auch: »Während ich vor mich hin summe, schlage ich mit dem Hammer zu. Ich zertrümmere seine Beine. Es wäre doch nett, wenn jetzt Sternchen oder so etwas erschienen, wie in einem Manga. Ich weiß nicht, wie lange man schlagen muss, um Beine in eine Qualle zu verwandeln. (…) Ich lege den Hammer hin und knete seine Beine, um zu sehen, ob sie schon weich geworden sind.« So geht das weiter. Die eigentliche Boshaftigkeit des Buches indes besteht in einer geschickten Wendung. Denn der lebensmüde Shin ist ja zuerst vollkommen einverstanden mit seiner Hinrichtung. Nur werden die Schmerzen schnell unerträglich (absurderweise fällt er nicht in Ohnmacht). Was ziemlich fatal ist, da gerade Shins jäh zurückkehrender Wunsch, dies hier zu überleben, die brutale Gier seines Gegenübers immer weiter treibt. Ausgestattet mit absoluter Macht, wächst Takashi im Blut seines Opfers sozusagen ins Unendliche. Insofern erzählt »Made in Japan« von der unheilvollen Eigendynamik, die bestimmten Formen gewaltsamen Handelns innewohnt: Ist die Grenze erst überschritten, erzeugen die Schreie der Opfer gerade kein Erbarmen, sie steigern nur den Durst nach Blut. Das literarische Nachzeichnen dieser eher gewaltsoziologischen Beobachtung dürfte freilich kein Motiv für Kurodas äußerst detailverliebte Inszenierung des Blutfestes gewesen sein. Es liest sich eher so, als sei sie beim Schreiben selbst in einen immer obsessiveren Taumel geraten. Akira Kuroda: Made in Japan. JBook/Maas, Berlin 2004, 152 Seiten, 16 Euro
Michael Saager
Michael Saager:
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dschungel
20.04.2005
https://jungle.world//artikel/2005/16/einfach-boese?page=0%2C%2C2
Der Traum vom Exzellenz-Cluster
Im Haus des Henkers soll man nicht vom Strick reden. Öffentlich über den Alltag eines wissenschaftlichen Mitarbeiters in einem Institut für Neu­ere Deutsche Literatur zu lamentieren, ist doppelt unklug. Denn dort arbeiten professionelle Le­ser, die dem Nestbeschmutzer umso schneller auf die Schliche kommen könnten – wenn sie denn Zeitungen wie die Jungle World zur Kenntnis nähmen und nicht nur die »Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes«. Wenn man den kulturpessimistischen Klagen über die Verblödung der Bachelor-Studierenden folgen wollte, könnte man annehmen, zumindest bei den eigenen Schülern werde sich ein solcher Ausbruch billigen Selbstmitleids kaum herumsprechen. Doch genauso wenig wie es »den Italiener an sich« gibt, entspricht die Projektion einer »Generation doof« der Realität, die sich Dozenten gerne leisten, um zu überspielen, dass sie sich selbst wie promovierte Hochstapler vorkommen. Nein, so sehr man sich auch darüber wundern mag, dass es unter den Studierenden mittlerweile tatsächlich einige gibt, die im Examen nicht anzugeben wissen, wann der Zweite Weltkrieg en­dete, und die fest daran glauben, die »Wiener Moderne« sei literarhistorisch nach 1945 anzusie­deln – eine Verallgemeinerung solcher Anekdoten wäre unzulässig. Aber worüber darf man überhaupt noch meckern zu Zeiten, da man sich doch mit einer halben BAT-IIa-Stelle zu den privilegierteren Menschen zählen sollte? Dass man genauso wie alle anderen prekär lebenden Intellektuellen so gut wie überhaupt keine Freizeit mehr hat, dass man sein Brot mit Sorgen isst und eine Fernbeziehung führt, da die in diesem Beruf verlangte »Flexibilität« dies nun einmal so mit sich bringt – das dürften kaum Nachrichten sein, die die Massen empören. Auch mit solidem Gehalt auf Lebenszeit angestellte ältere Semester, die im Alltag kaum im Institut auftauchen und höchstens dadurch auffallen, dass sie alle paar Wochen einmal in ihrem Zimmer dabei zu hören sind, wie sie husten oder leise auflachen, dürfte es überall geben. Und doch könnte auch alles noch ein bisschen schöner sein. Natürlich würde man alles dafür tun, um als engagierter Nachwuchswissenschaft­ler eine Stelle im so genannten Exzellenz-Cluster »Languages of Emotion« an der FU Berlin zu bekommen – auch wenn dieser Name so klingt wie der Titel einer an der Duftöltheke des »Body Shops« erstandenen Wohlfühl-CD. In Neukölln wäre zumindest vorläufig die Miete bezahlbar und nicht so hoch wie in diesen muffigen deutschen Universitätskleinstädten, in die man uns so gerne verbannt. Auch gegen ein sicheres Auskommen an der Ludwig-Maximilians-Universität München hätte man nichts einzuwenden. Das käme, was die Lebenshaltungskosten betrifft, zwar wieder teurer, aber man könnte samstags beim Ordnen der Gedanken auf den vollgeschissenen Isarwiesen entlangflanieren und den Horden von Yuppie-Hündchen, die da Gassi geführt werden, bei der gegenseitigen Zerfleischung zusehen. In hippen Cafés wie dem »Soda« in der Türkenstraße hörte man dann, vielleicht versteckt hinter einer Süddeutschen Zeitung, zur Entspannung den neureichen Boheme-Damen dabei zu, wie sie sich Tipps zum schonenden Waschen ihrer neuen Kaschmirmän­tel gäben. Seit allerdings neulich in der Zeit von einem Besuch bei der Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger berichtet wurde, gibt es ein neues, unerreichbar erscheinendes Ziel: eine nette Stelle an der University of California in Irvine. Offenbar fährt man dort einfach im Bademantel von einem Pool zum nächsten. Der Himmel ist von unbeschreiblich tiefem Blau, und die Sonne scheint hell. Erst wenn der deutsche Akademiker ausgewandert ist, kann er auftatmen. Auf nach Irvine!
Jan Süselbeck
Jan Süselbeck: Lamento aus dem Mittelbau, Teil IV
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Inland
02.04.2009
https://jungle.world//artikel/2009/14/der-traum-vom-exzellenz-cluster?page=0%2C%2C3
Pamuk über Pamuk
Wir wollen uns einen Roman vorstellen. Einen vielschichtigen, aus mehreren Perspektiven erzählten und auf verschiedenen Zeitebenen handelnden Roman. Einen, der an den Schicksalen seiner Figuren Anteil nimmt und doch distanziert bleibt, der trotz seiner komischen Momente melancholisch und traurig ist. Einen Roman, der sich dem Verhältnis von Orient und Okzident widmet und von den gegenseitigen Beeinflussungen und Spiegelungen wie von den gegenseitigen Missverständnissen und Kränkungen spricht. Einen Roman, der von der Größe und der Unzulänglichkeit des Menschen handelt und von seiner Suche nach dem Glück. Schließlich einen Roman voller Reflexionen über die eigene Kunst­form, über die klassische Moderne, über den westlichen Blick auf Künstler aus der Peripherie. Und über die Entwicklung der türkischen Literatur von den Arbeiten im Dienste der Modernisierung über die sozialkritischen, doch ebenfalls erzieherischen späteren bis zu den skeptischen und individualistischen der Gegenwart. Die Hauptfigur wäre der bekannteste Repräsentant dieser Entwicklung. Zu Zeiten eines globalen Clashs der Zivilisationen und eines möglichen EU-Beitritts der Türkei würde er den Nobelpreis für Literatur erhalten – als erster türkischer Schrift-steller und als zweiter aus einem muslimischen Land. Der Held würde wirken, als wäre er der große Alte der türkischen Literatur, auch wenn er gerade einmal Anfang 50 wäre. Wie kaum ein kritischer Geist seiner Generation hätte er sich aus den Konflikten, die während seiner Jugend getobt hätten, herausgehalten und sich in sein Studierzimmer zurückgezogen, das stets sein liebstes Refugium geblieben wäre. Er würde auf dieser Enthaltsamkeit bestehen, die er in einem sehr politisierten und polarisierten Land als Bedingung der Kunst erachten würde. Dennoch würde er sich ab und an politisch betätigen. Und einmal würde er sich zu folgendem Satz hinreißen lassen: »Man hat hier 30 000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es. Und dafür hassen sie mich.« Ausländische Journalisten würden ihm dafür die höchste Wertschätzung zollen, während viele seiner Landsleute ihn spätestens danach tatsächlich hassen würden. Andere Landsleute, kritische Intellektuelle wie er, würden ihm dies ebenfalls verübeln. Sie hätten den Eindruck, der Schriftsteller sei eitel und hochnäsig gegenüber den Bemühungen anderer. Vielleicht hätten sie Recht, doch übersähen sie, wie zärtlich der Autor sich in seinen Werken in Andere Einfühlen könnte. Jedenfalls würden sie sich zurückhalten, wenn der Held wegen jener Äußerung vor Gericht erscheinen müsste, wo ihn Polizisten nur widerwillig vor den Übergriffen tobender Nationalisten schützen würden. Zu gegebener Zeit würde er seine inkriminierte Aussage relativieren. Seine türkischen Kritiker würden ihm dies als Opportunismus auslegen, seine europäischen Freunde verlegen darüber schweigen. Dann würde er, vielleicht im Gespräch mit einer linken Wochenzeitung, davon sprechen, dass außerhalb der westlichen Welt viele Menschen um ihre Bedeutungslosigkeit wüssten und dass dieser Schmerz für den Zorn von Nationalisten, Islamisten und Links­radikalen verantwortlich sei. Er würde feststellen, dass »der Westen« kaum eine Vorstellung von dem »Gefühl der Erniedrigung habe«, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung erlebe. Im Ausland würde man diese Gedanken zur Kenntnis nehmen, was aber nichts daran ändern würde, in dem Autor eine »westliche« Stimme zu sehen. Dann würde die Preisvergabe bekannt, just an dem Tag, an dem das französische Parlament beschließen würde, die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe zu stellen. Diese Dramaturgie, die der Leser wohl als unrealistisch missbilligen würde, würde erst recht dazu führen, beide Ereignisse zusammen zu verhandeln. So würde eine deutsch-türkische Journalistin in der Internetausgabe eines Nachrichtenmagazins berichten, dass sich die Türkei in »zwei Lager« gespalten habe, dass es wenige gebe, die die Ansichten des Schriftstellers teilten, und »Millionen«, die glaubten, dieser sei nur wegen seiner Kritik an der Türkei geehrt worden. Wir würden nicht erfahren, ob die Journalistin die Dinge wirklich so wahrnehmen oder den Vorstellungen ihrer Auftraggeber zu entsprechen versuchen würde. Dafür würde ein deutscher Feuilleton­chef auf der Titelseite seines Blattes schreiben, dass der preisgekrönte Autor an der »äußersten Front unseres westlichen Lebensstils und seiner Überzeugungen« stehe und nicht weniger sei als »der Westen«. Auch hier würden wir nicht erfahren, ob der Journalist aus Berechnung oder Borniertheit den Umstand übergehen würde, dass die schärfsten Gegner des Schriftstellers nicht unter den Islamisten zu finden wären, sondern unter nationalistischen und darum modernistischen Eliten. Auffallen aber würde uns, dass eine solche Vereinnahmung und Vereinheitlichung das Werk eines Autors beleidigen würden, der sich für die Übergänge und Vermischungen interessieren würde und zwar ein westlicher Denker, aber mitnichten ein Claqueur »des Westens« wäre. Auch die Melancholie seiner Stadt, über die er so oft geschrieben haben würde, dass auch das Nobelpreiskomitee darauf eingegangen wäre, würde er auf die widersprüchlichen und schmerz­lichen Erfahrungen der Modernisierung zurückführen. Hingegen würden derlei Gratulanten den Eindruck erwecken, sie seien dazu angetreten, die Kritik des Autors zu bestätigen, dass sich Europäer nur dann für Menschen aus der Peripherie interessierten und mit ihnen fühlten, wenn sie in ihnen Opfer sehen könnten, wodurch sie sich selbst als überlegen, klug und human fühlen könnten. In seinem Land wäre der Held den Schmeicheleien von Leuten ausgesetzt, die ihn zuvor als karrieristischen Nestbeschmutzer beschimpft hätten. »Der Nobelpreis gehört einem Türken«, würde die größte Zeitung titeln, und fast alle würden beteuern, »trotz allem« Stolz und Freude zu empfinden. Westliche Beobachter könnten kaum glauben, dass diese Gefühle nicht mehr und nicht weniger echt wären als der vorangegangene Zorn. Doch den Schriftsteller würde es freuen. Bescheiden, aber um die versöhnliche Wirkung solcher Worte wissend, würde er sagen, der Preis sei »eine Ehre für die türkische Sprache, die türkische Kultur und die Türkei«. Insgeheim aber wäre er enttäuscht, dass die Freude, die in seinem Land bei jedwedem internationalen Erfolg aufkommen und mit der unfreiwilligerweise das kollektive Gefühl der Unterlegenheit zelebriert würde, dieses Mal so gedämpft ausfallen würde. Schon bald würde sich ein böses Ende abzeichnen. Der Schriftsteller wäre hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Erwartungen, die fortan an ihn gerichtet werden würden, etwa der, dass er zeigen möge, was »unsere Welt von der Welt ihrer Todfeinde« trenne, oder jener, dass er bedacht und staatsmännisch auftreten solle. Er würde zerrieben zwischen dem wohltuenden Gefühl der Anerkennung, die er, in welch entstellter Form auch immer, endlich laugt hätte, und dem Schmerz darüber, sein inneres Exil einzubüßen. Er würde die ihm auferlegte politische Mission zurückweisen und sie doch übernehmen. Er würde sich bemühen, sein Land zu repräsentieren und zugleich darauf pochen, ein kosmopolitischer Weltliterat zu sein. Die Verzweiflung und die distanzierte Haltung, die ihn einst zum Schreiben gebracht hätten, würden allmählich sein Schaffen blockieren. Sein Buch, an dem er seit Jahren arbeitete, würde ihn mehr und mehr quälen, und das ursprüngliche Thema – ein Liebesroman, der in der zeitgenössischen Istanbuler Oberschicht spielen sollte – würde in seinen Händen zum Autobiographischsten gerinnen, was er je zu Papier gebracht hätte. Letztlich würde er scheitern. Später würde ein Freund aus früheren Tagen im Nachlass dieses Romanfragment finden, darum wissend, dass ein Roman nicht ganz Wirklichkeit ist. Aber auch nicht ganz Phantasie.
Deniz Yücel
Deniz Yücel:
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dschungel
18.10.2006
https://jungle.world//artikel/2006/42/pamuk-ueber-pamuk?page=0%2C%2C1
Dein Katalonien
Anarchismus-App. Selbst in Katalonien, der ehemaligen Hochburg des spanischen Anarchismus, gibt es so gut wie keine Gedenkkultur zu dieser einst einflussreichen politischen Kraft. Wenn überhaupt, tauchen die Anarchisten als Akteure im Spanischen Bürgerkrieg auf – und auch dann wird ihre Rolle eher stiefmütterlich behandelt. Etwa in dem Museu Memoria de l’Exili (MUME) in La Jonquera (Katalonien), das völlig dem Narrativ des katalanischen Nationalismus entspricht. Um dem etwas entgegenzusetzen, entwarf der Chilene Mariano Maturana, derzeit Professor am European Institute of Design (EID) und selbst Anarchist, eine historische Stadttour des anarchistischen Barcelona. Maturana arbeitete dabei eng mit Abel Paz zusammen, dem 2009 verstorbenen Biographen Buenaventura Durrutis. Die historische Tour gibt es mittlerweile als App auf Maturanas Website. Sie erlaubt dem User, auf den Spuren Durrutis, Francesco Ascasos, George Orwells und der anarchistischen Arbeiterschaft Barcelonas zu wandeln.   cm Fahren mit Stil Autofahren. »Wer die mediterrane Fahrweise nicht gewohnt ist, sollte lieber auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen«, schreibt der Reiseführer von Annodunnemals. Und Reiseführer haben bekanntlich in Fragen der Gepflogenheiten zeitübergreifend recht. Denn die Lebensweisen fremder Völkchen, die ändern sich nicht so schnell! Also: Die Spanier benehmen sich im Verkehr wie ein Rudel Wildsäue, manchmal vergessen sie sogar, den Blinker zu setzen, oder überholen einfach auf der rechten Spur. Wenn das mal nicht ein weiterer Grund für die Katalanen sein dürfte, die Unabhängigkeit zu fordern. Vielleicht ist es so wie zwischen den Hamburgern und Pinnebergern. Und zu Recht! Denn der Katalane fährt zwar mit flottem Fuß, ist dabei aber stets aufs Äußerste auf der Hut. Tausende Kilometer hat die Redaktion dieser Zeitung in Spanien zurückgelegt und es gab nicht eine brenzlige Situation. Zumindest keine, die von katalanischen Autofahrern verursacht wurden. Woran man die erkennt? An der Flagge am Fenster natürlich.   oko Guten Tag Gastfreundschaft. Passt mir das überhaupt gerade? Während in Deutschland sämtliche Eventualitäten erwogen, ganze WG-Versammlungen einberufen und Terminpläne konsultiert werden müssen, um sicherzustellen, dass der Besuch, der ohnehin nur eingelassen wird, wenn er voll okay in jedweder Hinsicht ist, in keiner Sekunde stört, hat man in Spanien schon längst die Türen geöffnet, eine extra Kanne Kaffee aufgesetzt und die Gäste zu mindestens zwei Familienfeiern eingeladen. Zu solcherlei Vermutungen kommt man angesichts der Recherche vor Ort. Wer auf der Suche nach einem Arbeitsplatz für 15 Leute ist, andernorts eine Höchstschwierigkeit, begibt sich in Spanien in die Nähe eines Tresens und bleibt dort eine Weile. Gut, ein paar Bekanntschaften sind von Vorteil. Aber dass sich nicht einmal ein übermäßig schlechtes Gewissen einstellt, wenn man für so viel Entgegenkommen nur Kaffeekonsum zu bieten hat, ist vermutlich wirklich eine Spezialität spanischer Gastfreundschaft.   oko Volltreffer Bombenskulptur. An der Fassade der berühmten Sagrada-Família-Kirche in Barcelona hat der Architekt Antoni Gaudí auch eine gewissermaßen politische Skulptur angebracht. Sie zeigt einen Dämonen, der einem Arbeiter eine sogenannte Orsini-Bombe überreicht. Entworfen und zuerst eingesetzt hatte sie der italienische Revolutionär Felice Orsini, der 1858 Napoleon III. in die Luft jagen wollte. 1893, in einer Periode härtester Repression, warf der spanische Anarchist Santiago Salvador in Barcelona zwei dieser Bomben in die »bürgerliche« Menge im Liceu-Theater, als Vergeltung für die Hinrichtung des Anarchisten Paulí Pallás. 22 Menschen starben, 35 wurden verletzt.   bb
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dschungel
15.10.2015
https://jungle.world//artikel/2015/42/dein-katalonien?page=0%2C%2C3
Autogeddon in Cornwall
Die sonnige Region Cornwall im Südwesten Englands fürchtet sich: Nicht vor der anstehenden Sonnenfinsternis, sondern vor britischen Anarchisten. Die örtliche Polizei warnt seit der vergangenen Woche, daß Anarchisten die Sonnenfinsternis nutzen könnten, um Chaos zu verbreiten. Bereits seit längerer Zeit kursieren in Großbritannien Flugblätter, auf denen zu einem Open-Air-Treffen von Anarchisten in Penzance einladen wird. Der örtliche McDonald's soll besetzt werden, eine "Autogeddon" genannte Aktion zur Abschaffung von Autos soll ebenso folgen wie die Plünderung von Supermärkten. "Dies ist Euer Tag, Eure Freiheit, Eure Welt", heißt es in dem Flugblatt. Für die Abwehr des drohenden Chaos wurden für die Polizei Sondermittel in Höhe von 500 000 Pfund aufgebracht.
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Ausland
04.08.1999
https://jungle.world//artikel/1999/31/autogeddon-cornwall?page=0%2C%2C2
Auf der Jagd nach Flüssiggas
Aus dem Meeresboden gestampft. Das Flüssiggas-Terminal in Wilhelmshaven Ende Oktober kurz vor seiner Fertigstellung Nur wenige Staaten haben in Deutschland derzeit eine so schlechte Presse wie Katar. Wegen der Fußballweltmeisterschaft berichten deutsche Medien ausgiebig über Menschenrechtsverletzungen und Missstände in dem kleinen Emirat am Persischen Golf. Da mutet es fast schon grotesk an, dass Katar gleichzeitig als Hoffnungsträger für die Energiekrise in Deutschland gehandelt wird. Sichtlich stolz präsentierte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vergangene Woche ein neues Abkommen mit Qatar Energy. Demnach soll der Staatskonzern ab 2026 mindestens 15 Jahre lang jährlich 2,7 Milliarden Kubikmeter Flüssigerdgas (LNG) nach Deutschland liefern. Das entspricht zwar gerade mal rund drei Prozent der Menge, die deutsche Haushalte und Unternehmen jährlich verbrauchen. Die vereinbarten Liefermenge sei aber noch ausbaufähig, betonte der katarische Energieminister Saad Sherida al-Kaabi kürzlich in ­einem Interview mit der Bild-Zeitung. »Wir werden so viel liefern, wie wir Aufträge bekommen«, sagte er. Habeck ist vor allem über die lange Laufzeit begeistert, die maßgeblich zur Energiesicherheit beitragen werde. »15 Jahre ist super«, meinte der Grünen-Politiker, denn der zeitliche Rahmen passe zu den Klimazielen der Bundesregierung. Diese sehen vor, dass spätestens ab 2040 der Gasverbrauch deutlich reduziert wird. Fünf Jahre später will Deutschland dann klimaneutral wirtschaften. »Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität«, heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Die Bundesregierung will also in wenigen Jahren den Verbrauch fossiler Energie drastisch reduzieren, während sie gleichzeitig langfristige Lieferverträge für Flüssiggas aushandelt. Niklas Höhne, Klimaexperte beim New Climate Institute, sieht darin, anders als Habeck, einen krassen Widerspruch zu den nationalen Klimazielen. »Wenn Flüssiggas zur Energiesicherheit beitragen soll, dann von jetzt an für etwa fünf Jahre. Spätestens dann sollten wir in Deutschland so viel Gas eingespart haben, das LNG-Importe nicht mehr nötig sind«, sagte Höhne dem Tagesspiegel. »Jetzt einen Vertrag auf 15 Jahre bis 2041 abzuschließen, steht der Energiewende im Weg.« Hinzu kommt, dass die für die Flüssiggaslieferung benötigte Infrastruktur erst noch gebaut werden muss, ein teures und aufwendiges Unterfangen. ­Allein für die schwimmenden LNG-Terminals hat die Bundesregierung rund 6,56 Milliarden Euro eingeplant. Um es für den Transport zu verflüssigen, muss das Gas extrem gekühlt werden, was im ungünstigsten Fall so viel Energie verbraucht, wie in einem Viertel der transportierten Gasmenge steckt. Energieeffizient ist das Verfahren also nicht. Künftig sollen auch große Mengen an Flüssiggas aus den USA kommen. Dort wird das Gas vorwiegend durch Fracking gewonnen – eine Methode, die Umweltschäden verursacht und bei der das Treibhausgas Methan freigesetzt wird. In Deutschland ist Fracking deswegen bislang nicht erlaubt. Finanzminister Christian Lindner hält aber die Fördermethode hierzulande für umweltverträglich und fordert, das Verbot aufzuheben. Der erste mit Flüssiggas beladene Tanker wird Ende dieser Woche in Wilhelmshaven erwartet. Bis Ende 2023 könnten sieben schwimmende LNG-Terminals an das Gasnetz angeschlossen sein. Hinzu kommen drei stationäre Anlagen in Wilhelmshaven, Stade und Brunsbüttel, die frühestens 2025 oder 2026 in Betrieb gehen sollen. Pipelines und Terminals seien auch für »grüne« Energie geeignet, die geplanten LNG-Projekte seien »wasserstoffready«, meint Habeck. Man denke »gleichzeitig die Loslösung der fossilen Infrastruktur« mit. Ob das wirklich stimmt, ist allerdings zweifelhaft. Einer neuen Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung zufolge sei eine spätere Umrüstung von LNG-Terminals für den Import von Flüssigwasserstoff oder Ammoniak zumindest mit großen Unsicherheiten verbunden. Gut möglich also, dass gerade mit sehr viel Geld eine Infrastruktur aufgebaut wird, die Deutschland für viele Jahrzehnte an den fossilen Energieträger Erdgas bindet. Weil die zusätzlichen Importe aus Katar erst in einigen Jahre kommen werden, ist die Bundesregierung ebenso wie die Europäische Union intensiv bemüht, zusätzliche Energielieferanten zu finden. So reiste die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits im Sommer nach Aserbai­dschan, einem Land, dass ebenso wie Katar über große Rohstoffvorkommen verfügt und zugleich für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt ist. Zwei Monate nach dem Besuch griff Aserbaidschan erneut Armenien an. Von der Leyen hatte damals eine Absichtserklärung über eine »strategische Energiepartnerschaft« verkündet. Das Abkommen sei ein Meilenstein in den Beziehungen zum »zuverlässigen Energielieferanten« Aserbaidschan, der der EU helfen werde, ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland zu verringern, sagte sie. Die Vereinbarung ist allerdings denkbar ­unverbindlich formuliert. Die aserbaidschanische Regierung soll demnach die Verdoppelung der Gasausfuhren des Landes »anstreben«. Pikanterweise hat Aserbaidschan kürzlich einen Gasliefervertrag mit dem russischen Staatskonzern Gazprom unterschrieben – das Land könnte also russisches Gas importieren, um selbst mehr an die EU zu liefern. Auch auf anderen Wegen importiert die EU weiterhin russisches Gas. Während die Pipelines zwischen Russland und der EU – außer der durch die Ukraine – stillgelegt sind, hat der Import von russischem Flüssiggas zwischen März und Oktober im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent zugenommen. Der europäische Hunger nach Flüssiggas hat weltweit Konsequenzen. Weil Staaten wie Deutschland bereit sind, für dieses hohe Preise zu bezahlen, geraten ärmere Regionen ins Hintertreffen. Länder wie Pakistan oder Bangladesh haben deutlich weniger Kaufkraft und können bei den Preissteigerungen nicht mehr mithalten. Sie müssen mit Stromausfällen rechnen oder wieder vermehrt Kohle nutzen. In Bangladesh kam es im Oktober bereits zu einem der schwersten Stromausfälle seit ­Jahren. Ein Großteil der Bevölkerung war betroffen – über 130 Millionen Menschen.
Anton Landgraf
Anton Landgraf: Deutschland importiert mehr Flüssiggas aus Katar, Aserbaidschan und sogar Russland
[ "Erdgas", "Energiepolitik" ]
Inland
06.12.2022
https://jungle.world//artikel/2022/49/auf-der-jagd-nach-fluessiggas?page=0%2C%2C2
Revolutionär im Ruhestand
Wer bei Google den Namen »Fidel Cas­tro« eingibt, bekommt direkt dazu das Adjektiv »tot« als ersten Suchvorschlag. Ob dies nun einem Wunsch vieler Nutzer entspricht oder den immer wiederkehrenden Spekulationen über sein Ableben geschuldet ist, sei dahingestellt. Fest steht: Fidel Castro lebt, er feierte am 13. August seinen 90. Geburtstag. Zu diesem Anlass ließ er sich sogar, seit April das erste Mal, wieder öffentlich blicken, bei einer Gala zu seinen Ehren im Karl-Marx-Theater in Kubas Hauptstadt Havanna. Wenn man aktuelle Bilder von Castro betrachtet, ist der Ergänzungsvorschlag von Google vielleicht auch nur eine Vorwegnahme dessen, was unweigerlich bald bevorsteht. Castro selbst hatte dies bei seinem öffentlichen Auftritt beim Parteitag der kommunistischen Einheitspartei im April angedeutet. »Wir alle kommen an die Reihe«, sagte er damals und fügte hinzu: »Vielleicht ist es eines der letzten Male, dass ich in diesem Saal spreche.« Vielerorts geht die Berichterstattung schon einen Schritt weiter. »Wer war Fidel Castro?« fragte eine Reportage im WDR, die auch sonst ausschließlich in der Vergangenheitsform über den letzten großen Revolutionär berichtete, als sei er bereits tot. Auch die meisten anderen Berichte, die derzeit weltweit die Zeitungen und Fernsehkanäle füllen, sind eher im Stile eines Nachrufs gehalten. Fidel Castro ist Vergangenheit, sein Geburtshaus ist bereits jetzt eine Touristenattraktion, besonders für die rasant wachsende Zahl an US-amerikanischen Touristen, die seit der politischen Annäherung zwischen Kuba und den USA ins Land strömen. Dass Castro noch lebt, erscheint tatsächlich als Anachronismus in einer Welt, in der der Sozialismus weder in seiner real existierenden Variante noch als ernstzunehmende politische Bewegung von großer Bedeutung ist. Dies gilt auch für Kuba selbst, wo sich trotz revolutionärem Pathos und überholter antiimperialistischer Rhetorik im Stil des Kalten Kriegs ebenfalls die Welt weitergedreht hat und nun eine andere ist als in den sechziger Jahren, in der der alte Castro festzustecken scheint. »Vamos bien« (Es läuft gut) kann man in großen roten Lettern neben seinem aktuellen Konterfei auf Schildern in der kubanischen Hauptstadt lesen, wobei seine Erscheinung eher das Gegenteil vermittelt. Es gibt aber wohl wenige Menschen, die auf so ein bewegtes Leben zurückschauen können, das zugleich solch einen Einfluss auf die Weltgeschichte hatte. »Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche« – den von Ernesto Che Guevara geprägten Spruch hatte sich Castro schon früh zu eigen gemacht. 1947, mit gerade einmal 21 Jahren, schloss er sich der Karibischen Legion an, einer bunten Truppe, die sich vorgenommen hatte, den Diktator Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik zu stürzen. Das Vorhaben scheiterte, Castro widmete sich vorerst wieder seinem Jurastudium und seinem Engagement in der sogenannten Orthodoxen Partei, dem Partido del Pueblo Cubano (Ortodoxos). Kurz vor den Wahlen im Jahr 1952, zu denen auch Castro antreten wollte, kam es zum Militärputsch, angeführt vom späteren Diktator Fulgencio Batista. Nachdem eine Verfassungsklage durch den mittlerweile promovierten Juristen Fidel Castro gegen den Putsch keinen Erfolg hatte, entschied sich der angehende Revolutionär zusammen mit 160 anderen Kämpfern kurzerhand, das Militärregime zu stürzen. 1953 wurde er dafür zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das ­erneute Scheitern tat seinem revolutionärem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. »Die Geschichte wird mich freisprechen«, so der bekannte Ausspruch Castros vor Gericht. Bereits nach zwei Jahren kam er frei – sein Schwager Rafael Díaz-Balart war in der Zwischenzeit zum stellvertretenden Innenminister aufgestiegen – und gründete daraufhin M-26-7, die Guerilla­gruppe Bewegung 26. Juli. Im mexikanischen Exil trainierte sie den Guerillakampf, bis Cas­tro Ende 1956 zusammen mit seinem Bruder Raúl, Che Guevara, Camillo Cienfuegos und 80 weiteren Genossen auf dem Schiff »Granma« auf die Insel zurückkehrte und dort den Guerillakrieg begann, mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung. Zu Jahresbeginn 1959 siegte die Revolution in Kuba. Legere junge Männer und Frauen mit einfachsten Waffen in der Hand nahmen die Straßen von Havanna ein, unter ihnen der mittlerweile 32jährige Fidel Castro, der sich schon damals in Szene zu setzen wusste. Zu den vielen Superlativen, mit denen seine Person bedacht wird, gehörte bis zu seinem Rücktritt auch das des am längsten regierenden Staatschefs der Welt. Ein halbes Jahrhundert blieb er an der Macht, trotzte dem US-Embargo, Wirtschaftskrisen und einigen Mordversuchen, bevor er sich Anfang des neuen Jahrtausends altersbedingt von seinem jüngeren Bruder ablösen ließ. Aus idealistischen und überzeugten Revolutionären, die mit der Waffe in der Hand und unter Einsatz ihres Lebens mit dem Kampf um Befreiung ernst machten, sind selbstgefällige alte Männer geworden, die sich selbst als angestammte Herrscher eingesetzt haben. Früher charismatisch und revo­lutionär, heute voll Pathos und Paternalismus. Aus der Bewegung ist eine Gerontokratie geworden. Castro personifiziert damit den real existierenden So­zialismus. Er steht für sein historisches Scheitern, in Form der von alten Männern autoritär konservierten »institutionellen Revolution«. Zugleich steht er auch für das Glücksversprechen des Sozialismus, das in Kuba zwar auch längst nicht erfüllt wurde, aber den Menschen dort ein Leben ermöglicht hat, das in Hinblick auf Bildungschancen, soziale Gleichheit, Gewaltkriminalität, Armut und Hunger weitaus besser ist als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas mit ihrer Diktatur des freien Marktes. Hierin liegt ein Grund, dass Castro in Kuba als Heiliger verehrt wird: Fidel, der »Erleuchtete«, der »heilige Sohn des Vaterlandes«, der »moderne Jesus«. Überall im Land lassen sich Gedenk­tafeln finden, wo er auf seinem Guerilla-Feldzug eine Nacht geschlafen oder eine leckere Paella verspeist haben soll. Der Helden- und Heiligenmythos, der Castro umgibt, ist aber keineswegs nur von oben verordnete Staatsdoktrin, sondern wird ebenso von unten gefüttert. Der kolumbianische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez schrieb vor einiger Zeit von »überwältigender und unwiderstehlicher Anmut, die nur diejenigen leugnen können, die nicht das Glück hatten, ihn zu erleben«. Selbst der kubanische Taxifahrer, dem kein gutes Wort über den comandante über die Lippen kommt, würde sich begeistert an die Straße stellen, sollte es nochmal eine Parade mit Fidel Castro geben. Wenn hingegen sein technokratischer Bruder Raúl auftritt, könne man jedem eine Kiste Bier anbieten und trotzdem würde niemand kommen. Fidel Castro steht für viele für die bis heute unerfüllte Hoffnung auf eine bessere Welt und für die längst vergangene Zeit, in der überall auf der Welt Menschen von der Revolution träumten und ­bereit waren, dafür zu kämpfen. In dieser Vergangenheit lebt Castro noch immer. »Sein Verhalten angesichts von Niederlagen (…) scheint einer privaten Logik zu gehorchen: Er gesteht eine solche nicht einmal ein und hat keine Minute Ruhe, bevor er es nicht schafft, die Bedingungen umzukehren und sie in einen Sieg zu verwandeln«, schrieb García Márquez weiter über den Revolutionär im Ruhestand. Mit dieser Mentalität haben sich Fidel sowie sein Bruder Raúl immer mehr von der realen Welt abgeschottet. »Jetzt haben wir den Krieg gewonnen!« heißt es auf riesigen Straßenschildern in Havanna, während Karl Lagerfeld mit Chanel in der Innenstadt Modeschauen veranstaltet und für Dieter Bohlen und »Deutschland sucht den Superstar« die kolonialen Prachtstraßen abgesperrt werden. Kuba hat den Krieg nicht gewonnen. Er ist längst vorbei, nur haben das die Castros und viele ihrer Mitstreiter verpasst. Die großen Kämpfe, deren wichtiger Teil sie waren, sind Geschichte, wenn auch die Gründe für Revolutionen nicht weniger geworden sind. Aber hiervon will man sich die Geburtstagsfeier nicht verderben lassen. Seit Monaten schon dreht sich das komplette öffentliche Leben Kubas nur um den Ehrentag. Stolze 25 Bücher über Fidel Castro haben kubanische Verlage anlässlich seines runden ­Geburtstags veröffentlicht, ein berühmter Zigarrendreher hat ihm eine 90 Meter lange Havanna vermacht, die längste der Welt. »Die Feiern zum 90. Geburtstag von Fidel Castro sind in Wahrheit seine Abschiedsfeier: ebenso unverhältnismäßig und nervig wie sein politisches Leben«, schrieb die kritische Bloggerin Yoani Sánchez. Castro selbst hat zu dem besonderen Anlass einen seiner selten gewordenen Texte im Staats- und Parteiorgan Granma veröffentlicht, mit dem schlichten Titel: »Der Geburtstag«. In den über 400 Kommentaren unter seinem selbst verfassten Geburtstagsgruß ­findet sich nicht eine kritische Stimme, was viel über die Einstellung der Partei zu Meinungsfreiheit und Zensur aussagt. Ein Geburtstagsgeschenk besaß ungewollt eine besondere Symbolik. Ein Computerclub der Insel hat dem »his­torischen Führer der Revolution« eine E-Mail-Adresse eingerichtet, an die man seine Glückwünsche schicken kann: [email protected]. Nach Meinung des Clubs zweifelsohne das bedeutendste Geschenk zu Ehren seines 90. Geburtstages. Dass auf der letzten Insel des real existierenden Sozialismus im Jahre 2016 die Einrichtung einer Mail-Adresse als revolutionärer Fortschritt angepriesen wird, steht exemplarisch dafür, auf welcher historischen Stufe der Tropensozialismus stehengeblieben ist. So kann man also nun dem máximo líder eine E-Mail in die Vergangenheit schicken. Und sich vorstellen, wie dort der Held des antiimperialistischen Kampfs, der längst seine Guerillauniform gegen einen Adidas-Trainingsanzug eingetauscht hat, im Schaukelstuhl auf der Veranda sitzt, den Blick auf die Karibik gerichtet hält, auf der linken Seite ziehen die dichten Rauchschaden der längsten Zigarre der Welt empor, in seiner rechten Hand hält er ein Glas halbvoll mit Rum. Es sei ihm gegönnt.
Thorsten Mense
Thorsten Mense: Zum 90. Geburtstag von Fidel Castro
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Ausland
18.08.2016
https://jungle.world//artikel/2016/33/revolutionaer-im-ruhestand?page=0%2C%2C3
Die Linken und die Bundeswehr
Seine heutige Existenz verdankt Deutschland lediglich seiner Frontlage nach dem Krieg. Da hatten beide politischen Blöcke der Siegermächte gewichtige Interessen, ihren Einfluss auf dem Boden der Kriegsanzettler und -verlierer zu festigen. Eine andere Existenzberechtigung kann ein Staat, der zwei Weltkriege plus Holocaust zu verantworten hat, wohl kaum vorweisen. Wenn Linke also »Nie wieder Deutschland« sagen, ist das definitiv eine vernünftige Losung, wenngleich auch unrealistisch. Wenn es nun aber schon ein Deutschland gibt, dann, das wurde in den fünfziger Jahren völlig zu Recht moniert, darf es keinesfalls wieder bewaffnet werden. Die Gründung von Bundeswehr und NVA waren historische Skandale, welche BRD und DDR ebenfalls nur dem Einverständnis der Siegermächte verdankten. Wenn nun Deutschland aber, so der nächste Schritt, schon eine Armee besitzt, dann, das zumindest hat die Linke, auch die antideutsche, immer betont, dürfe sie keinesfalls Auslandseinsätze unternehmen. Und die Geschichte geht noch weiter – und wird dabei immer schiefer: Wenn schon Auslandseinsätze, dann doch bitte nur humanitäre, wohltätige Wochenendausflüge. Wie es scheint, beobachten wir hier eine schrittweise Aufweichung historisch begründeter linker Positionen gegen deutsche Militärpolitik. Doch anhand dieser kleinen Chronologie wird noch etwas anderes sichtbar: Die äußeren Umstände haben sich drastisch verändert in den vergangenen 60 Jahren. Wer mehr als politisch korrekte Ideologiekritik betreiben will, kommt nicht umhin, dies zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Und so ist der vernünftige Teil der Linken in ein gewisses Dilemma geraten: einerseits aus guten Gründen jede Militarisierung Deutschlands abzulehnen und andererseits nun nicht ernsthaft den sofortigen Rückzug aus Afghanistan fordern zu können, wie es der andere Teil – ganz im Sinne der Taliban – tut. Dieser Widerspruch lässt sich nicht einfach beiseite wischen, Kriterien für eine differenzierte Beurteilung deutscher Auslandseinsätze hat die Linke nicht entwickelt. Doch die konsequente Ablehnung deutscher Auslandseinsätze ist nicht weniger widersprüchlich. Grundlage jener Kritik ist schließlich vor allem der Versuch Deutschlands, eine zunehmend wichtige Rolle in der internationalen Politik spielen zu wollen, seine Großmachtambitionen. Die Linke, die Friedensbewegung – und nicht nur sie – kritisieren am Einsatz in Afghanistan jedoch vor allem, dass Deutschland dort eben nicht genügend als selbständiger Akteur auftrete, sondern sich zum Hand­langer des US-Imperialismus mache. Deutschland solle sich zurückziehen und so Druck auf die USA ausüben. Nicht weniger deutschen Einfluss fordert man also, sondern mehr. So hat bereits die Ablehnung des Irak-Kriegs im rot-grünen Mainstream funktioniert. Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage nach Auslandseinsätzen haben also nicht nur die Grünen. Allerdings sollte sich niemand etwas vormachen und in einen umgekehrten Größenwahn verfallen: So entscheidend ist der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan auch wieder nicht. Deutschland ist im besten Sinne ersetzbar. Im Übrigen sind das abgehobene Debatten, solange dabei die Lage der Menschen in Afghanistan keine Rolle spielt. So wird am Hindukusch linke Ideologie verteidigt, zuweilen auch gegen die Realität.
Ivo Bozic
Ivo Bozic:
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Thema
13.09.2007
https://jungle.world//artikel/2007/37/die-linken-und-die-bundeswehr?page=0%2C%2C0
Zu wenig, zu spät
»Die ausführende Gewalt wird vom heutigen Tage an dem Volk zurückgegeben«, versprach König Gyanendra. In einer vierminütigen Fern­sehansprache bat er am Freitag die Opposi­tions­allianz, einen Premierminister zu benennen, der noch in dieser Woche sein Kabinett bilden könne. Doch nach 15 Monaten autokra­tischer Herrschaft reicht vielen Nepalis das An­gebot ihres Königs, sich auf seine Rolle als konstitutioneller Monarch zu beschränken, nicht mehr. Ursprünglich haben nur die maoistischen Aufständischen die Abschaffung der Monarchie gefordert. Derzeit reicht die republikanische Strömung weit in die bürgerliche Opposition hinein. Die Sozialdemokraten fordern eine Abdankung des Königs, die Anführer der anderen Parteien der Sieben-Parteien-Allianz wollen ihm unter dem Druck ihrer Jugend- und Studentenverbände nur eine zeremonielle Rolle zugestehen. Seit Anfang April ist Nepal im Generalstreik. Am Wochenende protestierten trotz Ausgangs­sperre und Schießbefehl erneut Hunderttausende in den von der Regierung kontrollierten Großstädten, 300 000 Demons­tranten lieferten sich in der gesperrten Innenstadt Kathmandus Straßenschlachten mit der Polizei und der Armee. Ein Dutzend Demonstranten wurde von den Sicherheitskräften in den vergangenen Wochen erschossen, Tausende wurden inhaftiert. Die Oppositionsallianz hat Gyanendras Angebot umgehend abgelehnt. Sie fordert die Wiedereinsetzung des Parlaments, andernfalls werde sie eine Gegenregierung bilden. Doch das 1999 gewählte Parlament wurde bereits vor vier Jahren aufgelöst, damals auf Bitte des Premierministers, dem seine Partei die Gefolgschaft aufgekündigt hatte. In den folgenden Jahren beauftragte der König verschiedene Mitte-Rechts-Parteien mit der Bildung von Übergangsregierungen. Die letzte entließ er im Februar 2005, verhängte den Ausnahmezustand und ließ Hunderte von Oppositionellen inhaftieren. Sein Kabinett aus engen Vertrauten hat scharfe Zensurbestimmungen erlassen und wird von Hardlinern aus dem Militär beherrscht. Sie haben die Regionalverwaltungen unter ihre Kontrolle gebracht und die Angriffe auf die Aufständischen verschärft, obwohl die Guerilla einen viermonatigen Waffenstillstand einhielt. Ein wieder eingesetztes Parlament kann nur der Vorbereitung einer verfassunggebenden Versammlung dienen, in der über soziale Veränderungen, die Kontrolle des Militärs und die Rolle der Monarchie diskutiert wird. Denn bei einer Rückkehr zum Status Quo der Verfassung bliebe der König Oberbefehlshaber der Armee und hätte bei vielen Gesetzen ein Vetorecht. Die maoistische Führungsspitze hat in einer Presseerklärung Anfang der vergangenen Woche noch einmal deutlich gemacht, dass sie sich schlichten Neuwahlen widersetzen werde. Ihr Bekenntnis zum Wettbewerb der Parteien, das sie seit Ende des vergangenen Jahres öffentlich und intern zu popularisieren versucht (Jungle World, Nr. 7/06), gilt nicht ohne Bedingungen: Bevorzugung von Frauen und Dalits (Unberührbaren), Selbstverwaltung der nicht nepalisprachigen Bevölkerungsgruppen, eine Land­reform und kostenlose Grundversorgung bei Gesund­heit, Bildung und Infrastruktur sollen verfassungsrechtlich verankert werden. Bisher hält das Bündnis zwischen den Aufständischen und der städtischen zivilen Op­position. Die Parteien haben dem Druck der EU, Indiens und der USA getrotzt, die eine Einigung mit dem Monarchen fordern. Sie wissen, dass ein Kompromiss wie 1990, aus dem die gegenwärtige Verfassung hervorging, ihren Anhängern nicht mehr reicht.
torsten otto
torsten otto:
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Ausland
26.04.2006
https://jungle.world//artikel/2006/17/zu-wenig-zu-spaet?page=0%2C%2C1
Je swing Charlie
Manche lösen Kreuzworträtsel, manche spielen Schach. Andere lernen eine neue Sprache. Beständiges Lernen hält gesund und jung, heißt es. Ich stelle meinen Körper und Geist immer neuen Herausforderungen, dadurch das ich seit fünf Jahren jede Woche in einen Swing-Tanzkurs gehe. Beim fortgeschrittenen Level des Unterrichts, auf dem ich mittlerweile angekommen bin, bestehen diese Herausforderungen zumeist im schnellen Umsetzen neuer Figuren. Neuerdings gehe ich auch in eine Solo-Jazz-Klasse, in der wir immer neue Choreographien lernen. Das Lerntempo ist zwar nicht besonders hoch, aber regelmäßig stolpere ich durch Bewegungen und hinter der Gruppe her. Alle bewegen sich nach links, ich bewege mich nach rechts. Und umgekehrt. Wie in »Dick & Doof beim Militär« scheint meine Horstigkeit die anderen anzustecken. Um weniger aufzufallen, verdrücke ich mich in den hinteren Teil des Raumes. Jede neue Figur fühlt sich schrecklich an. Ich fühle mich schrecklich und sicher tut es sogar weh, mich zu beobachten. Solange ich mich erinnern kann, hatte ich diese Lernschwäche. Als Kind war ich zu Hause der Allergrößte und Beste und wurde von meiner Helikoptermutter, einer Mischung aus Mutter Beimer und Zsa Zsa Gabor, mit Anerkennung und Liebe überhäuft. In der Schule konnte ich die Erwartungen nicht erfüllen. Schon in der ersten Klasse versagte ich, konnte dem Unterricht nicht folgen, machte Blödsinn, wurde aus dem Klassenraum geworfen. Verbrachte ganze Tage unter den Garderobenständern im Flur und flüchtete mich in Phantasiewelten. Und lernte, mich niemals zu langweilen. Mein Bruder wurde ein Jahr nach mir eingeschult, konnte da aber bereits lesen. Das hatte er ganz entspannt nebenbei gelernt, während er mich zu Hause nach der Schule beim Büffeln beobachtet hatte. Als ich mich unendlich abmühen musste. Lernen fällt mir bis heute schwer. Erschöpft und niedergeschlagen kam ich nach dem letzten Kurs nach Hause: »Oh Mann, heute wieder. Das war … « – »Dann geh da doch nicht mehr hin, das kostet soviel Geld«, meinte meine Freundin. Sie ist Lehrerin und hat kein Verständnis für meine Lernbehinderung. Außerdem ist sie klüger als ich und viel schneller im Aufnehmen. Warum tue ich mir das also an? Weil ich weiß, dass Lernen anstrengend ist und keinen Spaß macht. Den Frauen im Kurs – und natürlich sind es überwiegend Frauen, die Solo-Jazz machen – scheint es nicht so zu gehen. Die sagen immer: »Entspann dich.« Sie scheinen Spaß zu haben. Ich wünschte, es würde mir nicht so schwer fallen, aber wenn es mir leicht fällt, lerne ich nichts. Für mich ist Lernen Kampf. Wenn ich spüre, dass mir ein Move schwer fällt, wenn ich scheitere, dann will ich in die Richtung des Scheiterns gehen. Und dann scheitere ich solange und gebe nicht auf, bis ich es drauf hab’. Denn was in der Klasse passiert, ist natürlich egal. Nachts auf der Tanzfläche, da ist alles anders, da entspanne ich mich. Da denke ich nicht an Moves und Figuren, da bewege ich einfach nur meinen Körper. Und habe Spaß. Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.
Andreas Michalke
Andreas Michalke: Berlin Beatet Bestes. Folge 275.
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dschungel
29.01.2015
https://jungle.world//artikel/2015/05/je-swing-charlie?page=0%2C%2C0
Destabilisierung per Smartphone
So könnte man Diskussionen in den sozialen Medien illustrieren. Ausschnitt aus einer Darstellung des jüngsten Gerichts aus der Werkstatt von Hieronymus Bosch, 1500–1510 Bibelkenner wissen es: Am Anfang war das Wort. Dann schuf erst Gott die Welt und schließlich Axel Springer Die Welt (also die Zeitung), auf dass in dieser rechtzeitig zu Weihnachten 2024 wieder einmal das Wort verkündet werden solle. Ein mutmaßlich KI-generierter Text aus 626 Wörtern, als dessen Autor ein in Südafrika geborener US-amerikanischer Multimilliardär zeichnete, dessen finanzielle und inzwischen auch politische Macht ihn zunehmend gottgleich erscheinen lässt. Jedenfalls ihm selbst. Und also sprach beziehungsweise schrieb er von seinem Thron herab, dass Deutschland lange genug die Fron der Demokratie erduldet habe und die Wähler nach 80jähriger Entsagung dringend wieder eine rechtsextreme Partei an die Macht bringen müssten. Da ging ein Heulen und Zähneklappern durchs Land und all die niederen Geister aus Politik und Medien warfen eilfertig ihr Wort gegen seines, um … ja, warum eigentlich? Hat man denn immer noch nicht verstanden, wie die Kommunikationsstrategie der Neuen Rechten funktioniert? Dass jede Reaktion, gleich ob Empörung, argumentative Gegenrede oder partielles Entgegenkommen, den von ihr gesetzten Themen überhaupt erst Relevanz verleiht? Den Anfang machte Jan Philipp Burgard, zu diesem Zeitpunkt bereits designierter Chefredakteur der Welt, der Elon Musks Meinungsbeitrag mit einem eigenen konterkarierte, den er gar nicht hätte schreiben müssen, wenn man Musks einfach nicht publiziert hätte. Burgard attestierte Musk, dieser habe die drängenden Probleme des Landes (wenig überraschend: »Migrations-, Energie- und Sozialpolitik«) durchaus trefflich benannt, doch mit seiner Wahlempfehlung für die AfD die falsche Lösung angeboten. Schließlich fordere diese Partei doch den wirtschaftlich selbstmörderischen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union und kungele mit Despoten wie Wladimir Putin oder Xi Jinping. Gerade den USA müsse das doch missfallen, oder? Elon Musk, Burgard zufolge »das größte unternehmerische Genie unserer Zeit«, wird bei dieser Entgegnung wahrscheinlich Tränen gelacht haben, sofern er sie überhaupt gelesen hat. Denn selbstverständlich hat er ebenso wenig Interesse an einer prosperierenden deutschen Wirtschaft wie an einer stabilen EU. Zumindest in dieser Frage liegt die neue Regierung Trump auf einer Wellenlänge mit Russland und China. Damit »America great again« wird, müssen in erster Linie alle Konkurrenten kleiner, zerstrittener, beherrschbarer werden. Trumps Strategie lautet: »divide et impera« – teile und herrsche. Wer glaubt, es gehe Trump und Musk geostrategisch vorrangig darum, die eigene rechtslibertäre Ideologie zu exportieren, der irrt. Damit »America great again« wird, müssen in erster Linie alle Konkurrenten kleiner, zerstrittener, beherrschbarer werden. Trumps Strategie lautet: divide et impera – teile und herrsche. Deshalb befeuerte er in seiner ersten Amtszeit nach Kräften den Austritt Großbritanniens aus der EU – nicht obwohl, sondern weil klar war, dass der sowohl die Briten als auch die EU wirtschaftlich schwächen würde. Auch Trumps betont freundschaftlicher Umgang mit dem russischen Despoten Wladimir Putin, der mit der Annexion der Krim 2014 bereits deutlich verhaltensauffällig geworden war, erklärt sich über die destabilisierende Potentiale für Europa, die Trump in einer aggressiven Politik Russlands erkannte. Der Trumpismus, das belegte auch Elon Musks Verhalten, als er das ideologische Rangewanze des FDP-Parteivorsitzenden Christian Lindner (»mehr Musk und Milei wagen«) kalt abtropfen ließ, braucht keine schwächelnden Gleichgesinnten, sondern potente Erfüllungsgehilfen. Auch bei dem Live-Gespräch mit AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel auf seiner Plattform X, das dem Welt-Artikel folgte, ging es Musk vor allem darum, Wahlkampfhilfe für eine Partei zu leisten, deren Wirken die Handlungs- und Koalitionsspielräume der anderen Parteien immer weiter verringert. Dass Alice Weidel als Vertreterin des rechtslibertären Flügels der AfD in vielen Fragen ähnlich tickt wie er, mag das Gespräch für Musk angenehmer gemacht haben. Strategisch gesehen wäre es ihm aber auch egal, wenn sich der eher illiberal-völkische Flügel um Björn Höcke langfristig durchsetzen würde. Denn genau wie Putin sehen Trump und Musk die in vielen europäischen Ländern reüssierenden rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien schlicht als nützlichen Destabilisierungsfaktor für die EU. Für wirklich profitable Deals kann man am besten solche Verhandlungspartner gebrauchen, die politisch und wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand stehen. Das alles ist kein Geheimwissen, Trump und sein neuer Berater Musk haben sich immer wieder zu dieser Strategie bekannt und auch keinen Zweifel daran gelassen, dass sie bereit sind, ihre Verfügungsgewalt über wichtige Internetplattformen entsprechend zu nutzen. Umso verstörender, wenn der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Friedrich Merz, Musks Wahlkampfhilfe für die AfD in ehrlicher Entrüstung »übergriffig und anmaßend« nennt, als ginge es hier um nichts weiter als eine persönliche Verfehlung. Geradezu erfrischend wirkte dagegen die Replik des noch amtierenden Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) auf Musks Wahlempfehlung: »Auf Social-Media-Plattformen sind ja viele unterwegs, die mit schrillen Sprüchen Aufmerksamkeit erregen wollen. Da gilt: Don’t feed the troll.« Einerseits stimmt das, andererseits fragt man sich – wie so oft bei Scholz –, ob er die Brisanz der Lage wirklich nicht sieht. Es geht ja nicht um einen einzelnen Troll, sondern um gigantische Trollnetzwerke – nicht nur auf Musks X, sondern auch bei Facebook und Instagram von Mark Zuckerbergs Konzern Meta, der nun ebenfalls zu der Haltung zurückkehrt, dass Meinungsfreiheit die Freiheit zu Hassrede und Fake News umfasst. Und auch Tiktok könnte bald Musk gehören: Weil die USA ein Gesetz erlassen haben, das es dem chinesischen Konzern Bytedance verbietet, die Plattform in den USA zu betreiben, soll die chinesische Regierung Berichten zufolge darüber nachdenken, zumindest den US-Teil des Geschäfts an Musk zu verkaufen. Bedenkt man, wie einflussreich die russischen Propaganda- und Desinformationskampagnen in den vergangenen Jahren waren, ohne dass Putin einen so direkten Einfluss auf die Social-Media-Netzwerke gehabt hätte, wie es Trumps Unterstützer haben, kann einem angst und bange werden. Der einzige der im Februar zur Wahl stehenden Kanz­ler­kandidaten, der diese Gefahr zumindest benennt, ist Robert Habeck (Grüne). Im Interview mit dem Spiegel sagte er: »Die Kombination von ungeheurem Reichtum, der Kontrolle über Informationen und Netzwerke, dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz und dem Willen, Regeln zu ignorieren, ist ein Frontalangriff auf unsere Demokratie.« Den fatalen Irrglauben an einen nur erratisch und aus Unkenntnis agierenden Musk wischt er beiseite und beschreibt die neue US-Regierung zutreffend als Teil der weltweiten rechtspopulistischen Bewegung. Von korrekter Analyse bis zu funktionierenden Gegenstrategien ist es indes ein weiter Weg. Klar könnte die EU, wie Habeck fordert, bei der Kontrolle der sozialen Medien nicht nur Zähne zeigen, sondern auch »beißen«, aber will sie das überhaupt? In Ungarn regiert der völkische Rechtspopulist Victor Orbán, in der Slowakei der linkspopulistische Putin-Freund Robert Fico, in Italien die als »postfaschistisch« klassifizierte Partei Fratelli d’Italia. Österreich wird demnächst wohl vom – gemäß Eigenbezeichnung – »Volkskanzler« Herbert Kickl (FPÖ) regiert, und selbst in Frankreich müssen immer bizarrere parteipolitische Manöver ausgeführt werden, um die rechtsextreme Partei Rassemblement national von der Macht fernzuhalten. Wie ein verlässliches Bollwerk zum Schutz dessen, was man einst »westliche Werte« nannte, sieht das wahrlich nicht aus. Zudem ist da der immense Einfluss der gerade reihenweise sich mit Trump verbrüdernden US-amerikanischen Unternehmen auf die weltweite (also auch europäische) Wirtschaft: weg von Klimaschutz, Diversität, Inklusion und den letzten Resten sozialer Verantwortung, hin zu einem offenen Sozialdarwinismus in einem sowohl außenpolitischen als auch innergesellschaftlichen Krieg aller gegen alle. Wer also bislang dachte, der Kapitalismus ließe sich irgendwie zum Wohle von Mensch und Umwelt regulieren, kann diese immer schon absurde Hoffnung endlich fahren lassen. Bleibt die Frage, ob es in dieser Situation vielleicht auch linke Gegenstrategien gibt. Dummerweise sieht es nicht danach aus. Augenscheinlich fällt vielen zur derzeitigen Entwicklung nicht mehr ein, als ihre X-, Facebook- und Instagram-Aktivitäten zu Bluesky oder Mastodon zu verlagern. Bleibt die Frage, ob es in dieser Situation vielleicht auch linke Gegenstrategien gibt. Dummerweise sieht es nicht danach aus. Augenscheinlich fällt vielen in der linken und linksliberalen Blase zur derzeitigen Entwicklung nicht mehr ein, als ihre X-, Facebook- und Instagram-Aktivitäten zu Bluesky oder Mastodon zu verlagern. Musk und Zuckerberg werden das in ihren Bilanzen wohl kaum registrieren. Auch der Rechtspopulismus, der auf den großen Plattformen um sich greift, und die damit einhergehende Umwertung aller Begriffe, nach der etwa Faktenchecks nun »Zensur« heißen (Zuckerberg), wird man durch Wegsehen nicht bremsen. Um zum Schluss noch mal die Bibel zu bemühen: Das Scheiden von Licht und Finsternis passiert ganz vorne, im Alten Testament. Dass hingegen am Anfang das Wort gewesen sei, ist eine Idee aus dem Neuen Testament, an dessen Ende wiederum eine ziemlich irre und grausige Apokalypse steht. Die weltliche Analogie dazu beschreibt der stramm rechtsextreme frühere Berater Trumps, Steve Bannon, mit Blick auf Elon Musk so: »Geld und Informationen sind die beiden taktischen Atomwaffen der modernen Politik – und er kann beide in bisher ungekanntem Maßstab einsetzen. (…) Es gibt keine Mitte-links-Regierung in Europa, die diesem Ansturm standhalten kann.«
Markus Liske
Markus Liske: Was sich Donald Trump und Elon Musk vom Rechtspopulismus in Europa versprechen
[ "Donald Trump", "Elon Musk", "Rechtspopulismus", "Rechtsextremismus", "Social Media", "Bundestagswahl 2025" ]
Thema
16.01.2025
https://jungle.world//artikel/2025/03/donald-trump-elon-musk-rechtspopulismus-europa-destabilisierung-smartphone?page=0%2C%2C2
Ein afrikanischer Pate
Ich wurde vor 37 Jahren geboren und bin Christ. Mein Name ist Chris Uba. Ich bin Unternehmer im Auftrag der Regierung«, beschreibt sich der Mann, dessen Name seit fünf Wochen die öffentliche Debatte in Nigeria dominiert, in einem Interview mit dem Magazin The News. Der »Coup des Paten« wird täglich in den Zeitungen behandelt, Untersuchungskomitees des Senats und des Parlaments haben ihre Berichte geschrieben, und kein politischer Beobachter kommt dieser Tage um eine Erwähnung der erstaunlichen Vorgänge vom 10. Juli 2003 im Bundesstaat Anambra herum. Eine 50 Mann starke Abordnung der Polizei tauchte an jenem Tag unter der Leitung eines stellvertretenden Generalinspekteurs im Büro von Chris Ngige, dem seit knapp sechs Wochen amtierenden Gouverneur des südlichen Bundesstaates, auf und entwaffnete seine Sicherheitsbeamten. Nach vier Stunden wurde der Gouverneur in sein Heimatdorf gefahren. Zur gleichen Zeit präsentierte der Sprecher des Parlamentes von Anambra den Abgeordneten eine Rücktrittserklärung Ngiges, die mit großer Mehrheit angenommen wurde. Ngiges bisheriger Stellvertreter ließ sich umgehend ins Amt wählen und übernahm die Regierungsgeschäfte. Als Drahtzieher hinter diesem Miniatur-Staatsstreich gilt der Multimillionär Chris Uba. Einem Bericht von The News zufolge war er in jungen Jahren als Straßenverkäufer, Gangleader und Protegé im Umfeld eines Vertrauten des Militärdiktators Sani Abacha tätig. Danach stieg er vor allem dank obskurer Bauaufträge zu einem der Paten der politischen Klasse Nigerias auf. Im Laufe der Wahlen 2003, so brüstet sich Uba, habe er die gesamte Kandidatenliste der Regierungspartei PDP für den Senat, das Parlament und die regionalen Institutionen in Anambra gesponsert. Die Motive seines generösen Engagements erläuterte Uba gegenüber The News mit erfrischender Freimütigkeit: »Das tat ich für meine Partei, die PDP, und da ich Geschäftsmann bin, auch für mich, um mir saftige Kontrakte auf föderaler Ebene zu sichern.« Er behauptet, sich bereits vor der Wahl mit dem PDP-Kandidaten Ngige über dessen Rücktritt geeinigt zu haben, weil er ihn mittlerweile für ungeeignet hielt. Dass der Putsch in Anambra fehlschlug und Governeur Ngige nach einigen Tagen durch richterliche Verfügung wieder ins Amt gesetzt wurde, hat er zum großen Teil dem Aufschrei der gesamten Presse des Landes zu verdanken. Anfangs konnte er diese Plattform nutzen, um Stationen seines Leidenswegs wie den Schwur auf seinen Paten in einem örtlichen Schrein und die angebliche Erpressung um drei Milliarden Naira (20 Millionen Euro) auf einem Hotelklo darzustellen. Nun rückt die Macht der politischen Finanziers und die Abhängigkeit ihrer Klienten in den Mittelpunkt der Debatte. Warum unterzeichnete Ngige, wie viele seiner Kollegen auf allen Ebenen, ein Rücktrittsgesuch, in das nur noch das Datum einzusetzen war? Welche Zusagen hat er seinen spendablen Förderern vor der Wahl gemacht? Wie viel Unabhängigkeit von einflussreichen Paten besitzt die Regierungspartei noch? Angesichts der bis heute ausgebliebenen Reaktion aus dem Präsidialamt, der Entscheidung eines Richters, der Ngige vorübergehend wieder für abgesetzt erklärte, und der sich abzeichnenden Straffreiheit für die Beteiligten sind politische Beobachter skeptisch. Nicht wenige meinen, Nigeria gerate ungeachtet des offiziell proklamierten »Übergangs zur Demokratie« nach 16 Jahren offener Militärherrschaft in die Hände eines kriminellen Kartells. Der Richter im meistdiskutierten Rechtsfall des Landes, in dem die Ermordung des Justizministers Bola Ige im Jahre 2001 verhandelt wird und in dem sich neben anderen ein amtierender Senator der PDP zu verantworten hat, legte kürzlich sein Amt aufgrund von Morddrohungen und Bestechungsversuchen nieder. Wole Soyinka, ein kulturkonservativer Kritiker, Literat und Vertrauter des ermordeten Justizministers, schreibt in einem offenen Brief an Präsident Olusegun Obasanjo: »Es gibt ein Nest von Killern innerhalb der PDP. Die jüngsten Erfahrungen Ngiges lehren, dass die Schlangen in jenem Nest nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zubeißen. Ich wiederhole die Warnung, die du einmal in einem deiner seltenen Momente der Selbstlosigkeit und aufrichtigen Sorge um andere an mich gerichtet hast: Pass auf deinen Arsch auf!« Nach den manipulierten Wahlen am Beginn dieses Jahres steuert die PDP-Regierung auf eine Legitimitätskrise zu. Ablesen lässt sich das unter anderem an den nervösen Reaktionen von Teilen des politischen Establishments auf die Enthüllungen der rührigen Presse Nigerias. Als das Wochenmagazin Tell vor einigen Wochen über einen Korruptionsskandal in Zusammenhang mit der Organisation der All Africa Games berichtete, wurde kurzerhand die gesamte Auflage aufgekauft. Diese Art der Zensur hat es seit den Zeiten der Abacha-Diktatur nicht mehr gegeben. Drohanrufe gingen in der Redaktion ein, heißt es in einer Presseerklärung von Tell. Den Journalisten sei von gut informierten Sympathisanten geraten worden, »sehr vorsichtig zu sein angesichts der Verzweiflung einiger Politiker und einiger Leute in den Korridoren der Macht«. In einer derart instabilen innenpolitischen Situation kommt der Regierung die Intervention in Liberia gelegen. Angesichts der Bilder von bejubelten nigerianischen Soldaten in Monrovia lässt sich zum Beispiel der endlose Milizenkrieg um die Vorherrschaft in der Stadt Warri im ölreichen Nigerdelta leichter verdrängen. Des in diesem Gebiet herrschenden Gewirrs aus militanten Forderungen nach einer gerechteren Teilung der Erdölerträge, ethnisierten Machtkämpfen politischer Unternehmer und Aktivitäten der mit Teilen der Staatsklasse verbündeten Banditen wird die Zentralregierung immer weniger Herr. Die großen Ölfirmen haben die Produktion um Warri eingestellt. Nigeria will sich als regionale Ordnungsmacht profilieren, doch Think Tanks wie das Center for Strategic and International Studies vergleichen die Lage im Nigerdelta bereits mit dem kolumbianischen Bürgerkrieg. Und sogar die Stationierung von US-Truppen zum Schutz der Ölförderung im Nigerdelta wird diskutiert.
levin füks
levin füks:
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Ausland
20.08.2003
https://jungle.world//artikel/2003/34/ein-afrikanischer-pate?page=0%2C%2C2
Wer mit wem
Der 1. Mai ist für die linksradikale Szene in Berlin so etwas wie das Pokalfinale in Sachen Politik. Wer hier siegt, hält für ein Jahr den Titel. Gemeint ist aber nicht der Sieg im ritualisierten Straßenkampf zwischen Autonomen und der Polizei, sondern im Konkurrenzkampf der verschiedenen Demo-Bündnisse. Nachdem die Szene im vergangenen Jahr den Rekord von drei 1. Mai-Demos schaffte, sind es in diesem Jahr wieder zwei: eine von den stalinistischen Revolutionären Kommunisten (RK) und anderen ML-nahen oder klassisch antiimperialistischen Gruppen dominierte Demo, die um 15 Uhr beginnt, und eine von undogmatischen autonomen und gemäßigt antideutschen Gruppen getragene um 18 Uhr. Interessant ist, dass die beiden aus der kürzlich erst aufgelösten Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) hervorgegangenen neuen Gruppen nicht zusammen demonstrieren werden. Während die Antifaschistische Linke Berlin (ALB) das traditionslinke Kreuzberger 15-Uhr-Bündnis unterstützt, mobilisiert Kritik & Praxis Berlin (KP) wie im vergangenen Jahr um 18 Uhr zum Rosa-Luxemburg-Platz. Doch weder die ALB noch die KP Berlin dürften über die nun entstandene offene Konkurrenz zwischen den beiden Teilen der AAB besonders glücklich sein. Während dem einen Bündnis vorgeworfen wird, von ML-Sekten dominiert zu werden, gilt das andere den Antiimperialisten wiederum als zu antideutsch. Mit den beiden ehemaligen AAB-Gruppen haben diese Charakterisierungen zwar wenig zu tun, jedoch droht ein inhaltliches Auseinanderdriften durch die Konkurrenz um den 1. Mai in eben jene Lager, die zur Zeit eher Zuschreibungen von außen sind als selbst gewählte Positionierungen. Im vorigen Jahr gab es erstmals drei Demos, nachdem die AAB das zivilgesellschaftliche »Personenbündnis zur Repolitisierung des 1. Mai« des FU-Professors Peter Grottian unterstützt und den Unmut ihrer früheren Bündnispartner, darunter das Gegeninformationsbüro und die Autonomen Kommunisten, auf sich gezogen hatte. Diese riefen daraufhin zu einer eigenen Demo um 16 Uhr auf. Die RK veranstalteten ihre eigene Demo um 13 Uhr. 1992 hatten sie sich brutal mit Stangen und Latten in die 1. Mai-Demo hineingeprügelt und wurden seitdem von der Szene boykottiert. Dass sich in diesem Jahr die RK und das 16-Uhr-Bündnis des Vorjahres zusammentun, hat durchaus seine Logik. Zum einen dominieren in beiden Gruppen klassisch antiimperialistische Vorstellungen und zum anderen brachten es beide Demos nicht gerade zu spektakulären Teilnehmerzahlen. Außerdem lebten beide von der Abgrenzung zur AAB. Während die RK ihr Sexismus vorwarfen, unterstellte das 16-Uhr-Bündnis der AAB, durch die Kooperation mit Grottian zur Befriedung des 1. Mai beizutragen. Dass einige für die AAB-Politik des vergangenen Jahres verantwortliche Personen nun auch in der ALB und somit im 15-Uhr-Bündnis aktiv sind, scheint dieses Mal weder die RK noch das ehemalige 16-Uhr-Bündnis zu stören. Hauptsache, man nutzt die Gunst der Kriegsstunde, um die Szene noch tiefer zu spalten und sich radikal von jeder auch nur andeutungsweise antideutsch argumentierenden Linken abzugrenzen. Die durch den Eindruck der friedensbewegten Massen ausgelöste linke Mobilisierungseuphorie scheint dazu zu führen, dass sich die antiimperialistische Linke derzeit keine Sorgen um Bündnisse macht. Daher ist auch mit einigem Zulauf zur Demo um 15 Uhr zu rechnen. Da ihr Hauptthema der Irakkrieg sein wird – das Motto lautet: »Gegen Krieg nach außen und innen« –, wird man wohl nicht nur die übliche Kreuzberger Klientel vorfinden, sondern auch Teile der neuen deutschen Friedensbewegung. Da wird es die 18-Uhr-Demo schon schwerer haben mit ihrem kryptischen Motto: »Don’t fight the players – fight the game!« Dass die undogmatische ALB und übrigens auch die Ökologische Linke entschieden, lieber das Antiimp- als das 18-Uhr-Bündnis zu unterstützen, erklärt der Sprecher der ALB, Michael Kronewetter, damit, dass man schon als AAB eigentlich immer eine einzige gemeinsame Demo gewollt habe, aber in der Vergangenheit vor allem an den »verbretterten« RK gescheitert sei. Eine eigenständige 18-Uhr-Demo in diesem Jahr bezeichnet Kronewetter als »politisch fatal«, weil nur der »Kurs auf Abgrenzung gegenüber anderen Linken« festgeklopft werde, »ausgerechnet in Zeiten verschärfter Repression und Krieg«. Die Sorge, im 15-Uhr-Bündnis von politisch fern stehenden Gruppen vereinnahmt zu werden, habe man nicht: »Es gibt eine gemeinsame Demo, mehr Zusammenarbeit gibt es nicht.« Im Bündnis konnte die ALB immerhin erreichen, dass sie eine halbe Stunde des Auftaktprogramms völlig autonom gestalten darf. Auch die KP Berlin ist im Zuge des Konkurrenzkampfes um den Tag der Arbeit bereits kräftig in die Kritik geraten. Zwar gelang es ihr, neben einzelnen antideutschen Gruppierungen auch traditionelle autonome und antifaschistische Gruppen wie die Ajak, die Autonome Antifa Nordost, U7 und Subkutan ins Boot zu holen, doch bereits jetzt wird das Bündnis auf Indymedia als ein »Haufen von Bellizisten und Sharon-Linken« beschimpft. Dabei ist die Ablehnung des Krieges auch im 18-Uhr-Bündnis Konsens. In einer Presseerklärung heißt es: »Unsere Kritik gilt einem aus Hegemonialinteressen geführten Krieg und einem aus Hegemonialinteressen beschworenen Frieden. Denn der Frieden, der derzeit von der Bundesregierung bis hin in alle politischen Lager gefordert wird, bedeutet nichts anderes, als die reibungslose Exekution kapitalistischer Verhältnisse.« Auf die Frage, warum sich die Gruppen des 18-Uhr-Bündnisses nicht als undogmatischer Block an der Nachmittagsdemo beteiligen wollen, erklärt Juri Benjamin, der Sprecher der KP: »Unsere Absicht war, mit der 18-Uhr-Demo an die Mobilisierungen der AAB in den letzten Jahren anzuknüpfen.« Außerdem wolle man »linksradikale Kritik in die Mitte und nach Mitte tragen«, weshalb die Demo vom Rosa-Luxemburg-Platz am Auswärtigen Amt vorbei nach Kreuzberg führen solle. Benjamin bedauert, dass sich die ALB nicht an dieser Demo beteilige. Jetzt könne er ihr nur noch wünschen, sich mit ihren Inhalten bei der Demo um 15 Uhr durchzusetzen. Weil Inhalte am 1. Mai aber sowieso nur eine untergeordnete Rolle spielen und für die Mobilisierung praktisch irrelevant sind, versuchen beide ehemaligen AAB-Gruppen, ihre bewährte Pop-Politik weiterzuführen. Große Trucks sollen um 15 wie um 18 Uhr die Demos begleiten und bekannte Musikbands das Publikum anlocken. Während sich die linksradikale Szene weiter behakt, hält sich Peter Grottian in diesem Jahr dezent zurück. Er konzentriere sich, sagte er der Jungle World, wie in den Jahren zuvor auf eine ganz schlichte, aber wichtige Aufgabe: Er koordiniert ein Team von unabhängigen Demo-Beobachtern, um Polizeiübergriffe zu verhindern oder zumindest zu dokumentieren. Das jedenfalls kann nicht verkehrt sein.
Ivo Bozic
Ivo Bozic:
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Inland
09.04.2003
https://jungle.world//artikel/2003/15/wer-mit-wem
Buddha, Sex & Judentum
Is this what you wanted, a house that is haunted by the ghost of you and me«, singt Leonard Cohen in dem Song »Is This What You Wanted« auf seinem 1974 erschienenen Album »New Skin for Old Ceremony«. Gespenster bevölkern das lyrische Werk und die Songtexte Cohens, Geister der Vergangenheit, die in unzähligen Songs von ihm beschworen werden. Solche Gespenster verfolgen das lyrische Ich im Song »The Future« auf dem gleichnamigen Album von 1992. Darin sehnt sich Cohen in eine Vergangenheit zurück, in der die Zukunft noch ein utopisches Versprechen sein konnte: »Give me back the Berlin wall«. Denn von der Gegenwart aus betrachtet birgt die Zukunft nur noch Elend und Tod: »There’ll be phantoms/ There’ll be fires on the road/ And the white man dancing./ The blizzard of the world/ Has crossed the threshold and it has overturned/ The order of the soul«. Auch das Werk »Marx’ Gespenster« des französischen Philosophen Jacques Derrida, das zur gleichen Zeit mit Cohens Album »The Future« erschien, attestiert der Gegenwart eine Sehnsucht nach der verlorenen Vergangenheit und beschäftigt sich mit den Gespenstern der Vergangenheit, die über den Verlust eines Zukunftsversprechens trauern. Das »Ende der Geschichte«, von der das Feuilleton nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sprach, ließ Philosophie und Popkultur zugleich ­einen Blick zurück und einen nach vorne werfen, um die Gegenwart in den Griff zu bekommen. Cohen hat mit seinen Songs voll düsterer Metaphern und lyrischer Bilder auch sehr genau auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen reagiert, die er mit Melancholie und Sarkasmus kommentierte. So beschreibt Cohen in dem Stück »The Future« den Verlust eines Zukunftsversprechens und verband Motive aus der Mythologie und Religion mit Sexualität und Realpolitik. Er singt: »I’m the Jew who wrote the Bible«. Die melancholischen Gespenster sind wichtige Figuren in Cohens Songs und literarischen Texten. Sie vereinen Melancholie mit einem ­rebellischen Moment: Gespenster sind dazu verdammt, niemals zur Ruhe zu finden. Für dieses Getriebensein findet Cohen eine Sprache der Melancholie. Gespenster sind gleichzeitig auch Rebellen, sie lehnen sich auf gegen die Vergänglichkeit, gegen die Idee einer Welt, die nur auf das Materielle Wert legt, die das Spirituelle, Religiöse und Mystische an den Rand drängt. Diese doppelte Funktion des Gespenstes ist in zahlreichen seiner Songs spürbar. Es geht um Verlust, um Trauer, um die Suche nach etwas Unbestimmtem, nach der Liebe, nach einem Zufluchtsort; es werden Sehnsüchte beschrieben und die innere Zerrissenheit des Künstlers  – zerrissen zwischen Weltlichkeit und Spiritualität. Cohen hat auch immer wieder provoziert. Er spricht oftmals in einem einzigen Song über so unterschiedliche Themen wie Sexualität, die Shoah, den Antisemitismus in Kanada, es geht um Drogen, Begehren und Liebe. Etwa in seinem Gedicht »Liebende« aus seinem ersten Gedichtband »Let Us Compare Mythologies« von 1956, auf Deutsch unter dem Titel »Blumen für Hitler« 1971 im März Verlag erschienen: »Im ersten Pogrom trafen sie sich/Hinter den Ruinen ihrer Häuser –/Sanfte Händler tauschten ein: ihre Liebe/Gegen eine Geschichte voller Verse./Und bei den heißen Öfen/Erschwindelten sie sich listig einen/Kurzen Kuss, ehe der Soldat kam/Um ihr die Goldzähne auszuschlagen./Und im Feuerofen dann/Als die Flammen höher flammten,/Versuchte er, ihre brennenden Brüste zu küssen/Als sie im Feuer verbrannte«. Der kanadische Lyriker Eli Mandel unterstellte Cohen, er sei besessen von dem Motiv des Konzentrationslagers, worauf dieser antwortete: »Nun, ich wünschte, sie ließen mich heraus.« Die Geschichte hielt Cohen gefangen, seine eigene Biographie war eng verknüpft mit der Geschichte des Judentums des 20. Jahrhunderts, und diese Geschichte drang immer wieder, Gespenstern gleich, an die Oberfläche seines Werks. Der Ursprung dieser jüdischen Gespenstergeschichte hat mit Cohens familiärem Hintergrund im frankokanadischen Montreal zu tun. Dort hatte sich im 19. Jahrhundert eine sehr spezifische Form der jüdischen Diaspora entwickelt, die anders als im Nachbarland USA nicht Teil der kanadischen Mehrheitsgesellschaft geworden war. Hier wurde ein orthodoxes, an der osteuropäischen Herkunft der meisten kanadischen Juden orientiertes Judentum gepflegt. 1934 wurde Leonard Norman Cohen als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. In seinem autobiograhischen Roman »Das Lieblingsspiel« von 1963 erzählt Cohen von der Familie Breavman, mit der er ironisch überspitzt seine eigene Familie und deren zentrale Rolle für das kanadische Judentum darstellt: »Die Breavmans haben beinahe alle Einrichtungen gestiftet und geleitet, die die jüdische Gemeinde von Montreal zu einer der einflussreichsten der Welt gemacht haben. In der Stadt erzählte man sich diesen Witz: Dass die Juden das Gewissen der Welt sind und die Breavmans das Gewissen der Juden.« Und weiter heißt es: »Vor zehn Jahren hat Breavman den Kodex der Familie zusammengetragen: Jeder Kontakt mit Unbeschnittenen gilt als Übertretung. Wir trinken weniger als ihr und haben die Zivilisation lange vor euch entdeckt, ihr mieses, blutrünstiges Säuferpack.« Die Cohens gehörten zur Gründergeneration der jüdischen Gemeinde von Montreal. Leonard Cohens Vater Nathan, ein Ingenieur und Textilkaufhausbesitzer, war ein Urenkel von Lazarus Cohen, der als Reb Le-izer an einer Rabbinerschule in Litauern Karriere gemacht hatte, sich dann aber 1869 für die Übersiedelung nach Kanada entschied, wo er ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde. Leonard Cohens Großvater Lyon Cohen gründete die einflussreiche Zeitung The Jewish Times und wurde mit nur 35 Jahren der jüngste Vorsitzende der damals größten Synagoge Kanadas. Und Cohens Vater Nathaniel wurde Unternehmer, er starb bereits 1944, als Cohen gerade mal neun Jahre alt war. Tod und Verlust ziehen sich auch aufgrund dieser Erfahrung als Motive durch Cohens Werk. Auch mütterlicherseits spielte die jüdische Religion eine wichtige Rolle. Cohens Großvater Solomon Klinitsky-Klein war ein in Kanada bekannter Rabbiner, der 1923 mit seiner ­Familie aus Polen nach Montreal gekommen war. Die familiäre Migra­tionserfahrung war somit noch sehr frisch, und Cohens Mutter Masha sang ihrem Sohn oft jiddische und polnische Lieder vor, die ihn, wie Cohen in einem Interview erklärte, sehr geprägt haben. So wurde die ­Erfahrung des Verlusts der osteuropäischen Heimat, der Verfolgung und Ausgrenzung an die nächste Generation weitergegeben. Auch wurde die Sehnsucht nach Europa und nach der Gemeinschaft des jüdischen ­Lebens im Schtetl wachgehalten. Diese Sehnsucht spiegelt sich in Cohens Hommage an den osteuopäisch-jüdischen Künstler schlechthin: Marc Chagall, dem er das Gedicht »Out of the Land of Heaven« gewidmet hat, in dem ein Blick auf das Schtetl aus dem Himmel hinab beschrieben wird. Ein zentrales Motiv in der Kunst Chagalls war die Idee des schwebenden Menschen, der sich über die Anstrengungen des Lebens im Schtetl und die niederdrückende Erfahrung des alltäglichen Antisemitismus erhebt. Es bedeutete eine Errettung des Juden als Luftmenschen, während das Schweben gleichzeitig deutlich machte: Den Juden kann jederzeit der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Die Hoffnung, den Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft zu entkommen, zu entschweben und das Leid in die Poesie und Musik zu überführen, trieb auch Cohen um. Er hat sich intensiv mit Klischees und Stereo­typen des Jüdischen beschäftigt, so beispielsweise in seinem Gedicht »Genius«, in dem all jene Zuschreibungen aufgelistet werden, mit denen er als Jude umzugehen hatte: »Für dich/will ich ein Bankjude sein/ und zugrunde richten/einen stolzen alten Jägerkönig/und enden sein Geschlecht./Für dich/will ich ein Broadwayjude sein/und in den Theatern weinen/nach meiner Mutter/und Sonderangebote handeln/unterm Ladentisch./Für dich/will ich Dachaujude sein/und mich niederlegen im Kalk/mit verrenkten Gliedern/und maßlosem Schmerz/den kein Mensch begreifen kann«. Cohen hat Ausgrenzung immer wieder zu spüren bekommen, gerade auch aufgrund der spezifischen ­Situation des Judentums in Kanada, wo sich einerseits zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch jüdische Einwanderer aus Osteuropa Jiddisch zur am dritthäufigsten gesprochenen Sprache entwickelt hatte und es auch heute noch eine Jiddisch sprechende Gemeinde gibt. Die jüdische Bevölkerung wurde aber niemals wirklich in die bestehende Gesellschaft integriert. Diese Separierung der jüdischen Bevölkerung von der kanadischen Mehrheitsgesellschaft hatte zur Folge, dass osteuropäische jüdische Tradi­tionen als wichtiger Teil der kanadisch-jüdischen Kultur weiterlebten und insbesondere das orthodoxe ­Judentum in Kanada am stärksten vertreten war. Diese Prägung und Erziehung spiegelt sich in den tiefre­ligiösen Texten Cohens. Wie kaum ein anderer Musiker hat er die religiösen Aspekte des Judentums zum Thema seiner Songs gemacht, etwa in »Who by Fire« von 1974, der auf der Liturgie für die Feiertage Rosh Hashana und Yom Kippur basiert: »And who by fire, who by water, who in the sunshine, who in the night time, who by high ordeal, who by common trial«. Eine Folge der Ausgrenzung von Juden in Kanada war auch, dass die Gemeinde bis 1945, insbesondere im frankophonen Quebec, mit offenem Antisemitismus konfrontiert war, der die Abgrenzung von der restlichen Bevölkerung noch verstärkte. Nach 1945, als die Gemeinde von Montreal durch den Zuzug von Holocaustüberlebenden weiter angewachsen war, ließ der offene Alltagsantisemitismus im Angesicht der Shoah zwar nach, aber spätestens seit den ersten Bombenanschlägen der militanten Separationsbewegung »Front du Libération du Québec« Mitte der Sechziger, die sich gegen die nichtfranzösischsprachigen Minderheiten richtete, fühlten sich viele ­Juden in Montreal und Quebec nicht mehr sicher. Viele zogen nach Ontario, die nächstgelegenen Provinz Kanadas. Die kanadischen Juden in Québec wurden so zu Opfern eines Konflikts zwischen dem anglophonen und dem frankophonen Teil Kanadas. In dieser Zeit verließ auch Cohen das Land in Richtung Europa, behielt in Montreal zwar ein Haus, in dem er aber nicht mehr für längere Zeit leben sollte. Zunächst ging Cohen nach Griechenland, bevor er Ende der Sechziger nach New York zog. Er hatte zur Zeit seines Wegzugs bereits mehrere Gedichtbände und zwei Romane veröffentlicht und hat sich zeit seines Lebens immer zuerst als Lyriker und erst in zweiter Linie als Musiker gesehen. Während viele andere seiner Generation ihr künstlerisches Erweckungserlebnis im Rock’n’Roll ­eines Elvis Presley hatten, war für Cohen der spanische Dichter Federico García Lorca wichtig. Bald aber entdeckte Cohen mit der Popkultur etwas für sich, das er anderswo nicht finden konnte: eine hybride Kunstform, eine ortlose Kultur voller Unruhe und ohne Verwurzelung, voller Zitate und Bezüge zur Hoch- wie Volkskultur. Pop war für ihn eine Form von Kultur, die einen Raum bieten konnte, der frei war von den ­Zuschreibungen, die er in Gedichten wie »Genius« aufgelistet hatte. Ende der Sechziger wurde er Musiker, um für seine Gedichte ein größeres Publikum zu finden und nicht mehr auf das Erbe seines Vaters, von dem er lange noch leben musste, angewiesen zu sein. Sehr spät für einen Popmusiker, mit 33 Jahren, veröffentlichte er 1967 sein Debüt »Songs of Leonard Cohen«, mit dem er aus der Nische des verkannten ­Lyrikers – seine Bücher erschienen in winzigen Verlagen in kleinen Auflagen – zu einem gefeierten Star wurde. Bereits dieses Debütalbum enthielt mit »So long Marianne«, und vor allem »Suzanne« zwei seiner größten Erfolge. Dass er mit seinen Texten voller Verlusterfahrung, jüdischer Mystik und sexuellen Sehnsüchten einen solchen Erfolg hatte, verwundert bis heute. Faszinierend an Cohen sind vor allem die Widersprüchlichkeiten seiner Texte, das Pendeln zwischen expliziter Sexualität und dem Versinken in Religiosität und Spiritualitiät. In seinen Bezügen auf das Judentum, in den Aneignungen jüdischer Tradition, Religion und Kultur hat er stets versucht, das Judentum in der Gegenwart zu erden und auf die ihn umgebende Welt zu beziehen. Als Musiker hat er immer wieder versucht, über seine Bezugnahme auf jüdische Motive eine Kritik an politischen Entwicklungen der Gegenwart zu üben, wenn auch oft subtiler als die Protestsänger seiner Generation. So hat Cohen etwa in seinem Song »The Story of Isaac« von 1969, das die alttestamentarische Geschichte der Prüfung Abrahams durch die Opferung seines Sohnes aufgreift, einen Text verfasst, der als Song gegen den Vietnam-Krieg interpretiert werden konnte: »Then my father built an altar/He looked once behind his shoulder/He knew I would not hide/You who build these altars now/To sacrifice these children/You must not do it anymore«. Aber während der Song von vielen Kriegsgegnern der Generation der Achtundsechziger als Teil der Protestkultur angesehen und Cohen als politischer Sänger eingemeindet wurde, hat sich der Künstler immer wieder gegen solche Vereinnahmungen gewehrt. In einer Ansage während eines Konzerts in den Siebzigern stellte er dem Song die Worte voran: »Dieses Lied richtet sich an Menschen, die glauben, das Recht zu haben, die Jungen für einen bestimmten Zweck zu opfern, den sie als heilig oder richtig ansehen. Es ist ein Lied für diese jungen Menschen, aber auch für diejenigen, die sich mit mir gegen diese Jungen stellen. Denn ich will nicht Teil irgendeines Programms sein. Ich möchte meinen Namen nicht am Ende irgendeines Manifestes sehen.« Er verweigerte sich eindeutigen Aussagen, wollte sich von niemandem vor den Karren spannen lassen, weder in politischer, noch in religiöser Hinsicht. Vielen waren seine Songs zu religiös, für religiöse Juden waren sie wiederum sexuell zu explizit, für die Hippie-Kultur zu düster und schwer. Dennoch wurde er gehört, verkaufte Millionen Alben, vielleicht gerade weil er zwischen allen Stühlen saß und dabei virtuos mit Zitaten der christlichen und jüdischen Kulturgeschichte hantierte, in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens auch mit solchen des Buddhismus, mit Verweisen auf die Literaturgeschichte und die ihn umgebende Gegenwarts- und Protestkultur der Siebziger, ohne sich als Teil derselben zu sehen. So sehr Cohen das jüdische Leben in der Diaspora auch geprägt hat, wurde ihm dennoch mehr und mehr, auch aufgrund der eigenen Erfahrungen des spezifisch kanadischen Antisemitismus, die Bedeutung Israels für das Judentum als möglicher Zufluchtsort bewusst. Für dieses gelobte Land gab er auch die Verwei­gerung der politischen Eindeutigkeit auf. Im September 1973 hielt er sich länger in Israel auf, und als im Oktober des gleichen Jahres der Yom-Kippur-Krieg begann, unterbrach er eine Tour in Griechenland und reiste nach Israel, um zur Unterstützung der Soldaten zu singen. Die im Jahr darauf veröffentlichte Platte »New Skin for Old Ceremony« ist geprägt von dieser Erfahrung. Der bereits ­erwähnte Song »Who by Fire« ist geprägt von einer Liturgie für Yom Kippur, die unter anderem denjenigen gewidmet ist, »die vor ihrer Zeit sterben werden«. Weiter heißt es im für Cohen so zentralen Gebet namens »Unetane Tokef«: »Für die, die durch Feuer oder durch Wasser ­sterben werden, durch die Gewalt von Menschen, durch Hunger oder Durst, durch Katastrophen, Seuchen oder Hinrichtung.« »Who by Fire« ist ein Lied des Gedenkens, ein Lied der Einkehr und des Nachdenkens, gespeist aus Cohens biographischer ­Erfahrung, als er während des Yom-Kippur-Kriegs Israel besuchte und mit den Soldaten der IDF Zeit verbrachte. Vom selben Album stammt das Lied »Lover Lover Lover«, bei dem es sich, anders als der Titel suggeriert, um kein Liebeslied handelt, sondern um eine Zwiesprache des lyrischen Ichs mit Gott, die mit den hoffnungsvollen Worten endet: »And may the spirit of this song/ May it rise up pure and free./ May it be a shield for you/ a shield against the enemy.« Mehr als seine Musik konnte Cohen zur Unterstützung Israels nicht beitragen, dennoch war er erfüllt von der Hoffnung, dass auch dieser Beitrag eine eigene Kraft entfalten und zu einem schützenden Schild vor dem Feind werden kann. Nicht zuletzt wollte Cohen zeigen, dass das Judentum mehr ist als die Summe seiner Leiden, seiner Verfolgung und Vernichtung, sondern auch ein lebendiger Teil der globalen Popkultur. Musiker wie Cohen, aber auch Bob Dylan oder Lou Reed, haben mit ihren Songs auch an einem neuen Bild des Judentums gearbeitet, an einem Judentum, das mit Identitäten spielt und dabei gleichzeitig die Geschichte des 20. Jahrhunderts in sich aufnimmt, das im verspielten und ortlosen Moment der Popkultur eine Chance wahrgenommen hat, neue Formen jüdischer Identität zu entwickeln. Dabei ging es auch darum, neue Formen des Gedenkens zu entwickeln, um jüdische Tradition und Kultur in die Gegenwart zu überführen, lebendig werden zu lassen und so stets neue Generationen mit diesem Erbe in Berührung zu bringen, einem Erbe, das eben beides ist: Verfolgung aber auch eine Überwindung dieser Verfolgung. Und dies in einer Form wie jener Cohens, die Melancholie und Rebellion zusammenbringt und zusammendenkt. In der Sexualität und Religion, weltliche Genüsse und Spiritualität, aber auch Zen-Buddhismus und religiöses Judentum keine Widersprüche mehr sein müssen. In der die Gespenster eine Heimat gefunden haben. Sein Roman »Schöne Verlierer« endet mit Zeilen, die schon 1966 diesen Anspruch zusammengefasst ­haben: »Arme Menschen, Menschen wie wir, sie sind verschwunden und entflohen. Ich will aus der Flugzeugkanzel für sie sprechen. Ich bin hindurchgegangen durch das Feuer von Familie und Liebe. Ein Willkommen dir, der du mich heute liest. Willkommen dir, Geliebter und Freund, der du mich ewig vermissen wirst auf deiner Reise dem Ende entgegen.«
Jonas Engelmann
Jonas Engelmann: zum Tod von Leonhard Cohen
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dschungel
17.11.2016
https://jungle.world//artikel/2016/46/buddha-sex-judentum?page=0%2C%2C1