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Keine Bewegung | Punk im Osten. Fotoarbeit von Cornelia Schleime Gleich drei Künstlerinnen, die in der DDR tätig waren, porträtiert Pamela Meyer-Arndt in ihrem Dokumentarfilm »Rebellinnen«. Die Künstlerin und Schriftstellerin Gabriele Stötzer, die Fotografin Tina Bara und die Malerin, Filmemacherin und Performance-Künstlerin Cornelia Schleime eint eines: ihre Lust an der Subversion. Der immense Druck der Staatssicherheit, dem alle drei ausgesetzt waren, wirkte wie ein Katalysator für ihre künstlerischen Arbeiten, die auf ihre je ganz eigene Weise ein Ausdruck von Widerstand waren – ohne dabei aber explizit politische Kunst zu sein. Ein Akt des Kunstmachens, den Tina Bara im Laufe des Films treffend als »Melancholie« bezeichnet, »in der ein aufmüpfiger Gestus lag«. Mit verwaschenen Super-8-Aufnahmen steigt der Film ein. Man sieht eine kleine Aufziehtänzerin, kläglich gefangen in einem Wasserglas, dazu verdammt, auf ewig ihre Bewegungsmuster zu vollführen. Ein Raum im dämmernden Licht, vor dem Fenster eine Person mit hängenden Schultern, eiserne Gefängnistüren, vergitterte Fenster. Der Film verfährt stringent weiter so, mit abwechselnden Erzählsträngen. Ein dynamisches Narrativ, welches zwischen Archivaufnahmen, eindrücklichen Abbildungen, Ausschnitten aus Filmen und Aufnahmen aus den gegenwärtigen Leben der Frauen hin und her wechselt. In der Gegenwart: Gabriele Stötzer steht in ihrer Wohnung und faltet weiße Laken zusammen. Was zunächst als banale Alltagshandlung erscheint, wird schnell zum Teil eines von der Künstlerin angeleiteten Fotoshootings in ihrem Hinterhof. Ein Seil, das an einem Baum festgemacht ist, wird an der anderen Seite straff an ihre Haare einer jungen Frau gebunden, die wiederum versucht, trotzdem nach vorne zu gehen. Energisch und selbstsicher dirigiert Stötzer ihr Model: »Komm mal her, fass mal das an, merkste, dass da irgendwas ist? Zieh mal, merkste, dass da irgendwie ein Widerstand ist?« Ein zentrales Motiv in vielen der Arbeiten Stötzers ist das Gehindertsein an der freien Bewegung, das Angebundensein, sei es an die Vergangenheit oder vielmehr an die Erinnerungen an die Vergangenheit. Oft sieht man in ihren Fotografien Gesichter und ganze Körper, die in eng anliegende Stoffe eingewickelt sind – eine Metapher für das geknebelte Individuum innerhalb eines repressiven Systems, mit dem jede der drei porträtierten Frauen direkt konfrontiert war. Und Stötzers Erinnerungen daran sind äußerst schmerzhaft. Als im November 1976 der Ostberliner Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert werden sollte, initiierten namhafte Persönlichkeiten aus dem Kulturleben (darunter Heiner Müller und Christa Wolf) eine Unterschriftensammlungen dagegen. Stötzer war eine der Ersten, die unterschrieben, wohl wissend, dass sie dafür verhaftet werden konnte. In der Tat nahm die Stasi sie fest, und ein Jahr später wurde sie wegen »Staatsverleumdung« im Zuchthaus Hoheneck inhaftiert. Im Gefängnis begann sie mit dem Schreiben. Die Szenen, die ihre Inhaftierung erzählen, gehören zu den härtesten im Film. Zu Beginn noch in Einzelhaft, hörte Stötzer bald auf zu reden, zu essen und zu trinken, obgleich sie dies nicht als Hungerstreik verstand (»Dieses Wort ist mir gar nicht eingefallen«). In einer Nacht erlitt sie deshalb derartige Krämpfe, dass sie sich vor Schmerzen schreiend auf dem Boden wand. Daraufhin bäumten sich die restlichen Insassinnen auf der gesamten Etage im Trakt zu einem verzweifelten Akt der Solidarität auf, indem sie schreiend und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln lärmend versuchten, Aufmerksamkeit zu erregen und Hilfe zu holen. Stötzer war von diesem »Chor der Gefangenen«, wie sie ihn im Nachhinein nennt, zutiefst berührt, er prägte sie dauerhaft. Auch wenn sich die Frauen zumindest im Film selbst nie begegnen oder aufeinander verweisen, sind die Parallelen zwischen ihren damaligen Lebensumständen unübersehbar. Bei allen drei kehren künstlerische Motive des Eingesperrtseins und der Rebellion dagegen wieder. Ebenso bekamen sie es alle direkt mit der Gewalt der Staatssicherheit zu tun. Eine Fotografie von Tina Bara zeigt sie in ihrer Wohnung im Spiegel mit Henna-Farbe im Haar, die über Nacht einwirken musste. Kurz darauf, früh morgens um fünf Uhr, klingelten Vertreter der Staatssicherheit. Bara durfte sich gerade so noch die Farbe auswaschen, bevor sie abgeführt und anschließend über 13 Stunden lang verhört wurde. Baras meist schwarzweiße Fotografien, die aus zahlreichen Selbstporträts sowie Bildern von ihrem unmittelbaren Umfeld bestehen, offenbaren auf behutsame und subtile Weise die Zwänge, denen sie und ihre Freunde ausgesetzt waren. Ihre ersten Aufnahmen entstanden in Mecklenburg-Vorpommern während eines Treffens von »Frauen für den Frieden«, einer oppositionelle Gruppe, die nicht zuletzt deshalb gegründet worden war, weil die bereits bestehenden Oppositionsgruppen von Männern dominiert waren. Eine Serie zeigt die Frauen gemeinsam an einem heißen Sommertag am See nackt beisammen sitzend, in einfühlsamen, sinnlichen wie präzisen Bildern. Ein andermal fotografierte Bara heimlich die katastrophalen Zustände im Chemiewerk Buna, woraufhin ihr die Kamera abgenommen wurde. Cornelia Schleime spielte etwa vier Jahre in der Punkband Zwitschermaschine (die später Auftrittsverbot erhielt). Ihre künstlerische Karriere begann damit, dass sie ihren Bandkollegen und Bassisten in Alufolie einwickelte, auf eine Wiese mit Schafen stellte, ihn fotografierte und anschließend eine Collage aus den Bildern anfertigte. Diese Herangehensweise zeigt ihre schon frühe Experimentierfreudigkeit – allein zu fotografieren, das wäre ihr zu langweilig gewesen, wie sie betont. Bis heute ist eine Mischtechnik aus Collage und Malerei ihr Markenzeichen. Viele von Schleimes frühen Arbeiten, die in der Dokumentation eingeblendet werden, sind heute verschollen – es existieren von ihnen nur Fotografien. Die Stasi genehmigte Schleimes Ausreise in den Westen nur unter der Bedingung, ihre Arbeiten in der DDR zurückzulassen. Eine Schwarzweißaufnahme zeigt die Künstlerin rauchend vor einem ihrer Gemälde, auf der allerlei an Hieroglyphen erinnernde Zeichen zu sehen sind. Eine spätere Akteneinsicht offenbarte die absurde Paranoia der Staatssicherheit, die glaubte, auf dem Bild eine gefährliche Geheimsprache entdeckt zu haben. Während Schleime die Geschichte erzählt, wedelt sie genervt mit der Hand vor dem Gesicht, wie man es eben tut, wenn etwas komplett bescheuert ist. Herrlich trocken ist auch ihre Art im Umgang mit ihren Arbeiten, beispielsweise wenn sie auf die arg durchdachten Interpretationsansätze eines Galeristen beim Ausrollen eines ihrer Bilder (»Elemente, die so wirken wie eine Archäologie des Unterbewussten«) lediglich mit grobem Dialekt entgegnet: »Joa, kann ich schwer was zu sagen; was bezeichnend für dieses Bild ist, ist eigentlich, dass es links unten angefangen und rechts oben aufgehört hat.« Den drei Frauen wird im Film der größtmögliche Raum geboten. Die Regisseurin Meyer-Arndt ist zurückhaltend, hier stört keine Interviewfrage und keine kommentierende Stimme aus dem Off, Untertitel werden nur ein minimal eingesetzt. Das wiederum verstärkt das, worum es dem Film eigentlich geht: die Werke der Künstlerinnen, die immer wieder eingeblendet werden.
Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR. (D 2022). Buch und Regie: Pamela Meyer-Arndt. Mitwirkende: Tina Bara, Cornelia Schleime, Gabriele Stötzer. Filmstart: 3. November | Suse Fischer | Suse Fischer: Die Dokumentation »Rebellinnen« porträtiert Künstlerinnen aus der DDR | [
"DDR",
"Kunst"
] | dschungel | 03.11.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/44/keine-bewegung?page=0%2C%2C3 |
Die jüdische Turnlegende | Berühmte Lehrerin: Olympiasiegerin Ágnes Keleti (r.) 1960 als Lehrkraft für Gymnastik an der Universität Tel Aviv Im März hatte die beliebte Fernsehshow »Israel Got Talent« einen besonderen Gast: Eine 97jährige Frau, die vor den Augen der staunenden Jury und eines begeisterten Publikums Turnübungen vorführte, die die meisten 20jährigen nicht schaffen. Sie ging in den Spagat, machte die Grätsche und hob ein gestrecktes Bein über ihren Kopf. Dazwischen erzählte sie ein bisschen aus ihrem Leben und lachte dabei viel und laut. Bei der rüstigen Dame handelte es sich um Ágnes Keleti, und wenn es nach dem Willen Nazideutschlands und seiner Verbündeten gegangen wäre, hätte dieser Auftritt niemals stattfinden können, denn Keleti wäre seit über 70 Jahren tot, ermordet wie Millionen andere, weil sie Jüdinnen und Juden waren. Im Jahre 1944 freute sich eine reiche Familie von Nazikollaborateuren in Budapest darüber, ein »gutes christliches Mädchen« für die Hausarbeit gefunden zu haben. Was die Faschisten nicht wussten: Die freundliche und fleißige junge Frau war Jüdin und hieß in Wirklichkeit Ágnes Keleti. Sie hatte einer gleichaltrigen Christin deren Papiere abgekauft und lebte unter falschem Namen in der ungarischen Hauptstadt, wo sie sich als Haushaltshilfe und als Arbeiterin in einer Munitionsfabrik durchschlug. Den Schritt in den Untergrund machte Keleti, nachdem die Deutschen im März 1944 in Ungarn einmarschiert waren und sofort damit begannen, die Verfolgung der Juden mit dem Ziel ihrer Vernichtung zu intensivieren. Während der Spiele in Melbourne marschierte die Rote Armee in Ungarn ein, um einen Volksaufstand niederzuschlagen. Keleti (...) bat zusammen mit 44 weiteren Mitgliedern der ungarischen Delegation um politisches Asyl in Australien und bekam es auch gewährt. Keleti erinnerte sich später in einem Interview an den genauen Moment, in dem sie sich dazu entschied unterzutauchen: Am 31. März 1944 befahl die Marionettenregierung des Ministerpräsidenten Döme Sztójay allen Juden in Ungarn das Tragen eines gelben Sterns. »Ich wollte mich nicht auf diese Weise kennzeichnen lassen«, so Keleti. Ihre Mutter und Schwester überlebten den Holocaust dank der von Raoul Wallenberg ausgestellten sogenannten schwedischen Schutzpässe. Diese Dokumente identifizierten die Inhaber als schwedische Staatsbürger. Wallenberg wurde später von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als ein »Gerechter unter den Völkern« geehrt. Keletis geliebter Vater und alle anderen Mitglieder ihrer Familie wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nachts trainierte Keleti heimlich und manchmal spielte sie leise auf ihrem Cello. Während der Schlacht um Budapest im Winter 1944/45 meldete sie sich freiwillig jeden Morgen die Leichen der in der Nacht zuvor umgekommenen Zivilisten einzusammeln. Ihr Vater, »ein ungeheuer sportlicher Mann«, wie sich Keleti erinnerte, war es, der sie für das Turnen und die Gymnastik begeisterte. Die kleine Ágnes fing im Alter von vier Jahren damit an. Als sie 16 war, wurde sie ungarische Meisterin. Ein Titel, den sie noch zehn Mal gewinnen sollte. 1940 wollte Ungarn sie zu den Olympischen Spielen schicken, aber die wurden ebenso abgesagt wie die für 1944 geplanten. Mitten in einem Weltkrieg war es nicht möglich, eine internationale Sportveranstaltung abzuhalten, die unter anderem der Völkerverständigung und der Idee des friedlichen sportlichen Wettbewerbs dienen sollte. An den ersten Nachkriegsspielen 1948 konnte Keleti nicht teilnehmen, da sie sich kurz zuvor verletzt hatte. 1952, sozusagen nach drei verpassten Olympischen Spielen, konnte Keleti in Helsinki endlich zeigen, wofür sie so lange und hart trainiert hatte. Sie war bereits 31 Jahre alt – ein Alter, in dem sich viele Athleten vom aktiven Sport zurückziehen – und gewann Bronze am Stufenbarren und Gold im Bodenturnen. Zwei weitere Medaillen heimste sie in der Gruppengymnastik (Bronze) und der Mannschaftswertung (Silber) ein. Bei den Olympischen Spielen in Melbourne 1956 legte Keleti noch einen drauf und gewann sechs Mal Edelmetall, darunter drei Mal Gold in Einzelwertungen. Noch nie hatte eine Athletin im Alter von 35 Jahren das geschafft. Mit zehn olympischen Medaillen ist Keleti bis heute die erfolgreichste jüdische Olympionikin. Nur der jüdische Schwimmer Mark Spitz aus den USA hat das übertroffen – um eine Medaille. Während der Spiele in Melbourne marschierte die Rote Armee in Ungarn ein, um einen Volksaufstand niederzuschlagen. Keleti, die wusste, dass die Rote Armee einst Raoul Wallenberg verschleppt und vermutlich liquidiert hatte, bat zusammen mit 44 weiteren Mitgliedern der ungarischen Delegation um politisches Asyl in Australien und bekam es auch gewährt. Ein Jahr später wanderte sie nach Israel aus, wo sie heiratete und zwei Söhne auf die Welt brachte. 1957 nahm sie noch an der Makkabiade teil, der größten internationalen jüdischen Sportveranstaltung. Danach arbeitete sie jahrzehntelang als Lehrkraft für Gymnastik an der Universität von Tel Aviv sowie als Expertin am Wingate-Institut für Leibeserziehung und Sport in Netanya. Nebenbei baute sie mit einer Handvoll Enthusiasten den Gymnastiksport in Israel auf und war bis in die neunziger Jahre als Trainerin und Beraterin für die israelischen Teams aktiv. Die Sportlegende lebt heutzutage in einer kleinen, gemütlichen Wohnung in Herzliya, nahe am Strand. Sie hält sich dadurch fit, dass sie jeden Tag mindestens eine Stunde lang schwimmt, spazierengeht und Dehnübungen macht. Manchmal spielt sie auch auf ihrem geliebten Cello. Als Cellistin hatte sie einst in Ungarn ihr Brot verdient, denn eine Profisportlerin war Keleti nie. Für ihre Verdienste um den israelischen Sport verlieh man ihr 2017 den Israel-Preis, die höchste Auszeichnung, die der jüdische Staat zu vergeben hat. Davor schon war sie in die »International Gymnastics Hall of Fame«, die »International Jewish Sports Hall of Fame«, die »International Women’s Sports Hall of Fame« und die ungarische »Ruhmeshalle des Sports« aufgenommen worden. Ágnes Keleti wirkt, als wäre sie 20 Jahre jünger, als sie tatsächlich ist, und verfolgt immer noch das sportliche Geschehen – wenn auch nicht unbedingt immer wohlwollend. Reportern der israelischen Internetzeitung Times of Israel sagte sie, die Gymnastik habe es »vielleicht zu weit getrieben«. Heutige Athleten ähnelten eher »Zirkusakrobaten als Sportlern«. Sie selbst hätte wohl keine Chance mehr, wenn sie heute Anfängerin wäre, spielte Keleti ihre Fähigkeiten herunter. Als die Reporter Keleti fragten, ob sie ihnen wohl die zehn olympischen Medaillen zeigen könne, lachte sie und sagte etwas, das die israelische Mentalität so gut beschreibt wie kaum etwas anderes: »Medaillen sind nicht wichtig. Überleben ist wichtig.« | Bernhard Torsch | Bernhard Torsch: Ágnes Keleti - Ein Porträt | [
"Israel"
] | Sport | 02.08.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/31/die-juedische-turnlegende |
… es fehlen die Gefangenen | Es war eine gewaltige Detonation, die am 27. März 1993 das hessische Städtchen Weiterstadt erschütterte. Danach war der Gefängnisneubau eine Ruine. »Wir haben mit dem Kommando Katharina Hammerschmidt den Knast in Weiterstadt gesprengt und damit auf Jahre verhindert, dass dort Menschen eingesperrt werden«, erklärte die RAF in ihrem Bekennerschreiben. Und weiter: »Der Weiterstädter Knast steht exemplarisch dafür, wie der Staat mit den aufbrechenden und sich zuspitzenden Widersprüchen umgeht: gegen immer mehr Menschen Knast, Knast, Knast.« Und: »Für eine Gesellschaft ohne Knäste!« Es war kein großes Wahlkampfthema für die Linkspartei in Berlin, aber man kommt als Regierungspartei nun mal nicht drum herum. Im Wahlprogramm 2006 hieß es schlicht: »Für eine erfolgreiche Resozialisierung von Straftätern muss die Belegungssituation insgesamt verbessert werden. Mit dem Neubau einer Justizvollzugsanstalt in Großbeeren könnten die Haft- und Resozialisierungsbedingungen dauerhaft und nachhaltig verbessert werden.« Linke, die Gefängnisse sprengen, und Linke, die Gefängnisse bauen lassen – zu Verwirrungen führt das nicht in der linken Szene. Das Thema Knäste, jahrzehntelang ein zentrales Anliegen der Antiautoritären, ist – von Abschiebeknästen abgesehen – weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Der Verdacht liegt nahe, dass sich Linke vor allem dann für das Strafsystem interessieren, wenn sie selbst davon betroffen sind – oder wenn sich die Häftlinge in Guantánamo befinden. »Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen«, diese alte Demo-Parole war eben nur auf die »eigenen Gefangenen« gemünzt, die man nun kaum mehr auszumachen weiß, sei es, weil linke Gefangene tatsächlich »fehlen«, sei es, weil sie kaum mehr jemand als die »eigenen« definiert. Bei den Nazis ist das anders. Eine rührige »Hilfsorganisation« kümmert sich um die »nationalen Gefangenen«. Doch Lobbyarbeit für die eigenen Genossen oder Kameraden ist etwas anderes, als sich mit dem Sinn und Unsinn des Strafsystems auseinanderzusetzen. Seitdem mehr Rechtsextremisten als linke Aktivisten in den Knästen sitzen, scheint die Linke gar eine gewisse Sympathie für das Wegsperren gewonnen zu haben. Tatsächlich kann niemand bei Verstand heute fordern, einfach alle Gefängnistüren aufzumachen, und ein plausibles, halbwegs realistisches Szenario für eine »Gesellschaft ohne Knäste« liegt nicht vor. Dennoch kann es nicht sein, dass Linke angesichts der realen Notwendigkeit, die unhaltbaren Zustände in den Gefängnissen zu beenden, auf den Ausbau des Gefängniswesens setzen. Utopien sind als Alternative jedoch zu wenig, denn die derzeit Inhaftierten können nicht auf eine Gesellschaft warten, in der Knäste überflüssig sind. Und das nächtliche Sprengen von Gefängnisneubauten? In Weiterstadt steht mittlerweile ein enormes Vorzeigegefängnis. Es sollten vor allem offensiv Alternativen zum Wegsperren vertreten werden. Doch dafür müsste man das Thema erst einmal wieder auf die Agenda setzen. Die Linken jedoch sammeln derweil lieber schon mal Geld, um sich nach dem G8-Gipfel im Sommer 2007 um die dann endlich wieder vermehrt vorhandenen »eigenen Gefangenen« der Gipfelproteste kümmern zu können. | Ivo Bozic | Ivo Bozic: | [] | Thema | 13.12.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/50/es-fehlen-die-gefangenen?page=0%2C%2C3 |
Tod dem Faschismus, Freiheit für das Volk | Abstrakt-futuristisches Andenken. Spomenik für den Partisan:innenkampf im Sutjeskatal Imposant ragen die riesigen Konstruktionen in die Landschaft. Zwei weiße, flügelartige Betongiganten stehen einander auf einer Hügelkuppe gegenüber. Hinter ihnen erstrecken sich die Gipfel des Gebirges Durmitor, vor ihnen liegt ein weitläufiges Gedenkareal. Die abstrakte Skulptur dominiert das Sutjeskatal in dem gleichnamigen Nationalpark der südöstlich gelegenen Republik Srpska in Bosnien und Herzegowina. Steht man vor dem Denkmal, wird der Blick durch die zwei Flügel auf eine steile Schlucht gelenkt – es ist der Weg, den die Erste Proletarische Division der kommunistischen Partisan:innen 1943 während des Zweiten Weltkriegs in der Schlacht an der Sutjeska nahm, um den Kessel der Achsenmächte – in diesem Fall Deutschland, Italien, Kroatien und Bulgarien – zu durchbrechen. Diese hatten in der »Operation Schwarz« wochenlang die Partisanenarmee eingekesselt; es war der zweite Versuch, sie endgültig zu zerschlagen und ihres Marschalls Josip Broz Tito habhaft zu werden. Mit dem Durchbruch der Ersten Proletarischen Division scheiterte dieses Unterfangen, auch wenn etwa ein Drittel der Beteiligten auf Seiten der Partisan:innen ums Leben kam. Der Kesseldurchbruch an der Sutjeska gilt in Jugoslawien als Wendepunkt im Kampf gegen die Achsenmächte und als einer der Grundsteine des Partisanenmythos. An die Schlacht an der Sutjeska erinnert das große Denkmal im futuristischen Stil, dessen Darstellung an eine sozialistisch gewendete Nike von Samothrake denken lässt. Gebaut bis 1971 nach den Entwürfen des Belgrader Bildhauers Miodrag Živković, war es zu dieser Zeit das größte und anspruchsvollste Denkmalprojekt im damaligen Jugoslawien. Aber bei weitem nicht das einzige: Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg spielte eine zentrale Rolle beim Aufbau des kommunistischen Staats Jugoslawien. Die Erinnerung an den Partisanenkampf war das verbindende Element in der sonst so unterschiedlichen Geschichte der einzelnen Landesteile und Bevölkerungsgruppen. 11.000 Namen. Mauer im Gedenkpark Vraca in Sarajevo für die von der Ustaša Ermordeten Dieser vereinigende Gedanke erklärt in Teilen auch die Ästhetik dieser Denkmäler: Sie orientieren sich nicht am sozialistischen Realismus, sondern sind abstrakt-futuristisch. Die Offenheit dieser Bildsprache ermöglichte ein gemeinsames Gedenken trotz einer komplizierten Vergangenheit – denn im verheerenden Kriegsgeschehen in Jugoslawien war längst nicht immer klar, wer Opfer und wer Täterin war, wer Kollaborateur und wer Partisanin; viele waren beides gleichzeitig. Und obwohl sie an Vergangenes erinnerten, stellten die Denkmäler auch Bauwerke für die Zukunft dar. Sie symbolisieren die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, stehen für eine geeinte, solidarische Gesellschaft auf dem Weg in Richtung Utopie – und begreifen die Revolution als niemals abgeschlossenen Prozess. Über die Jahre wurden Tausende dieser Denkmäler, die im Westen unter dem Namen Spomenik (serbokroatisch für Denkmal) eine gewisse Bekanntheit erlangt haben, überall in Jugoslawien gebaut – viele entstanden aus lokalen Initiativen, manche, wie das in Sutjeska, wurden zentral aus Serbiens Hauptstadt Belgrad geplant und finanziert, die schon die Hauptstadt des Königreichs Jugoslawien gewesen war und nun die der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien darstellte. Nicht alle sind noch so gut erhalten wie die Flügel im Tal der Sutjeska, die in den vergangenen Jahren restauriert wurden. Im verheerenden Kriegsgeschehen in Jugoslawien war längst nicht immer klar, wer Opfer und wer Täterin war, wer Kollaborateur und wer Partisanin; viele waren beides gleichzeitig. Der Gedenkpark Vraca in Bosniens Hauptstadt Sarajevo hingegen zerfällt. Auf dem Gelände einer ehemaligen österreichisch-ungarischen Festung wurden während der Ustaša-Herrschaft etwa 11.000 Menschen ermordet, darunter viele Partisan:innen. Die 1929 von Ante Pavelić gegründete rechtsextreme Terrororganisation Ustaša wurde in den dreißiger Jahren vom italienischen Diktator Benito Mussolini unterstützt und errichtete während des Zweiten Weltkriegs als Verbündete Nazi-Deutschlands ein klerikalfaschistisches Regime im heutigen Kroatien, in Bosnien-Herzegowina und Teilen Serbiens. Obwohl der Gedenkpark mittlerweile unter Denkmalschutz steht, ist eine Mehrheit seiner Denkmäler beschädigt – in Teilen als Folge des Bosnien-Kriegs, aber auch aufgrund von Vandalismus und schlicht Verwahrlosung. Doch Anwohner:innen versuchen, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um das Gelände zu kümmern, das Denkmal für die Partisaninnen wird immer wieder in feministische Aktionen einbezogen, beispielsweise zum 8. März. Auch das Historische Museum von Bosnien und Herzegowina, das unweit des Gedenkparks im Stadtteil Grbavica beheimatet ist, organisiert immer wieder Putzaktionen in Vraca. Das einstige Museum der Revolution begreift seine Arbeit heutzutage auch als Aktivismus. Neben der Überzeugung, mit der Arbeit im Museum in die Gesellschaft hineinwirken zu können, hat das auch strukturelle Gründe. »Wir kommen über die Runden, irgendwie klappt es immer. Und keine Förderung bedeutet zumindest wirkliche Unabhängigkeit«, sagt Elma Hašimbegović, zuckt mit den Schultern und lacht. Sie leitet das Historische Museum – ein überraschend prekäres Amt. Denn anders als der Name vermuten lässt, wird das Museum nicht staatlich gefördert, obwohl es eines der bedeutendsten Museen des Landes ist. Es hat das Pech, eine gesamtstaatliche Kulturinstitution zu sein – und das ist in Bosnien ein Problem. Seit Ende des Bosnien-Kriegs 1995 besteht das Land aus zwei Teilen, den sogenannten Entitäten: der Republika Srpska und der Föderation Bosnien und Herzegowina. Direkt nach dem Krieg lagen viele staatliche Befugnisse bei den Entitäten und weniger beim Gesamtstaat. Nach und nach änderte sich das, doch Kulturpolitik ist nach wie vor ein besonders umstrittener Bereich und findet auf gesamtstaatlicher Ebene kaum statt. Gefördert werden in erster Linie Projekte, die sich mit der Kultur und Geschichte jeweils einer Ethnie des Landes befassen. Gesamtstaatliche, überregionale Kultureinrichtungen erhalten hingegen kein bis wenig Geld und werden regelrecht zugrunde gerichtet. Mehrere große Museen in Sarajevo waren jahrelang geschlossen – darunter auch das Bosnische Nationalmuseum und das Historische Museum. Institutionen, die eine gemeinsame Geschichte darstellen, passen nicht ins nationalistische Weltbild, das die bosnische Politik bis heute prägt. Erinnerung heißt darin immer, an die eigenen Opfer und an die Gräueltaten der anderen zu erinnern. Der politische Mythos, dass die Spaltung der bosnischen Gesellschaft natürlich und unüberwindbar sei, soll aufrechterhalten werden. Die gemeinsame Geschichte, an die Gedenkstätten wie das Historische Museum erinnern, stört da nur. Die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte sowohl des Partisanenkampfs als auch des Kommunismus ist auf nationalistischer Seite verpönt. »Aber unsere Arbeit hier ist wichtig und wird auch von vielen Menschen wertgeschätzt«, sagt Hašimbegović. »Das Historische Museum ist ein Ort, der sich gegen den vorherrschenden Nationalismus wendet. Das gefällt nicht allen, aber wir bekommen auch viel Unterstützung und Spenden.« Ein Rundgang durch das Museum zeigt ein Potpourri an Themen und Ausstellungsstücken. Die wichtige Dauerausstellung zur Belagerung Sarajevos während des Bosnien-Kriegs wird gerade überarbeitet. Dennoch gibt es einiges zu sehen. Eine kleine Ausstellung beschäftigt sich mit Architektinnen und ihren Werken; in einer Fotogalerie sind Aufnahmen von Sarajevo direkt nach Ende des Kriegs und von denselben Orten 20 Jahre später zu sehen. Ein Raum ist ein gelungener Nachbau eines deutschen Wohnzimmers – auf dem Fernsehbildschirm laufen Interviews von Bosnier:innen, die nach Deutschland migriert sind. Im Depot des Museums lagern Schätze aus der Zeit Jugoslawiens und davor. Uniformen der Partisan:innen, Waffen, gelbe Aufnäher mit einem großen schwarzen »Ž« – die kroatische Ustaša-Variante des Judensterns (der Buchstabe steht für »Židov«, Jude). Bosnien gehörte während des Zweiten Weltkriegs zum Unabhängigen Staat Kroatien, dem faschistischen Vasallenstaat der Ustaša. Juden, Roma und Serbinnen wurden verfolgt, viele von ihnen in Konzentrationslagern wie Jasenovac auf dem Gebiet des heutigen Kroatien ermordet. Die Partisanenbewegung leistete organisierten Widerstand dagegen. In einem Nebenraum des Depots hängen weiß-schwarz-rote Plakate. Eines fragt: »Ko su Heroji?« (Wer sind die Helden?) Ein anderes trägt die deutsche Aufschrift: »Das ist Walter.« Während in Bosnien für eine lange Zeit jedes Kind den Partisanenheld Walter kannte, ist er im Rest von Europa weitestgehend unbekannt. Unter dem Namen »Wer ist Walter?« läuft derzeit auch ein Forschungsprojekt zu Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland, Frankreich, Bosnien und Kroatien. Das Historische Museum ist Kooperationspartnerin auf der bosnischen Seite. Walter war während der Besatzung Sarajevos durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg eine geradezu mythische Figur, ein Partisan, dessen die Deutschen nie habhaft werden konnten. Einer der bekanntesten Partisanenfilme Jugoslawiens, »Walter verteidigt Sarajevo«, erzählt diesen Mythos. In ihm versucht der Deutsche Oberst von Dietrich, Walters habhaft zu werden. Am Ende steht er auf den Hügeln um Sarajevo und erkennt, warum er den Partisanen niemals zu fassen bekam. Er deutete den Hügel hinab und sagt zu seinem Begleiter: »Sehen Sie diese Stadt? Das ist Walter!« Der historische Walter hieß mit bürgerlichem Namen Vladimir Perić und liegt im Gedenkpark Vraca begraben. Sein Mythos war in Sarajevo auch jenseits staatlicher jugoslawischer Gedenkpolitik relevant. Auf der letzten großen Antikriegsdemonstration vor Beginn des Bosnien-Kriegs 1992 trugen Demonstrierende Sticker mit der Aufschrift »Ich bin Walter«, um sich gegen den grassierenden Nationalismus zu wenden. An diesen Geist möchten Hašimbegović und ihr Team mit der Arbeit im Museum anknüpfen – wenn auch mit einer gewissen Vorsicht, da ein ungebrochener Bezug auf den Kommunismus in Bosnien nicht möglich sei. Im bei Studentinnen und Touristen gleichermaßen beliebten Café Tito dreht sich alles um den einstigen Partisanenführer, der ab 1953 jugoslawischer Präsident war. Wenige Schritte vom Historischen Museum entfernt teilt man diese Bedenken nicht. Im bei Studentinnen und Touristen gleichermaßen beliebten Café Tito dreht sich alles um den einstigen Partisanenführer, der ab 1953 jugoslawischer Präsident war. Das in Rot gehaltene Innere des Cafés ist mit Bildern von Tito übersät, über der Bar prangt groß die Losung der Partisan:innen: »Smrt Fašizmu, Sloboda Narodu« – Tod dem Faschismus, Freiheit für das Volk. Neben Kriegsgerät und über Jeeps hängt im Garten des Cafés der Schriftzug »Tito je naš« – Tito sind wir. Wenn es einen Ort in Bosnien gibt, an dem Jugo-Nostalgie greifbar wird, dann hier. Der Begriff meint ein verklärtes, sehnsüchtiges Erinnern an Jugoslawien. Wie im Café hält Tito dabei häufig als Symbol für den kommunistischen Staat als Ganzes her. Neben Jugoslawien-Kitsch beinhaltet diese Sehnsucht oft auch sozioökonomische Aspekte. In dem Dokumentarfilm »Kein Land unserer Zeit?« (2010), der dem Phänomen nachspürt, treffen die Interviewten immer wieder ähnliche Aussagen: »Den Menschen ging es damals besser. Es gab mehr soziale Gerechtigkeit. Die Krankenversicherung, Schule und Uni waren kostenlos. Und der Pass.« Man brauchte nur für wenige Länder ein Visum. Politisch ist die Sehnsucht nach Jugoslawien eng verknüpft mit dem jugoslawischen Leitspruch »Brüderlichkeit und Einheit«. Denn mit Jugoslawien ging für seine Bewohner:innen auch etwas verloren, was über diesen Staat hinausging: ein progressives utopisches Moment, der Versuch, ethnische, nationale und religiöse Grenzen zu überwinden. Dieser Aspekt ist gerade in Bosnien zentral, das einen blutigen Zerfallskrieg erleben musste und bis heute ein gespaltenes Land ist. Die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte sowohl des Partisanenkampfs als auch des Kommunismus ist daher auf nationalistischer Seite verpönt. Nicht umsonst wurden während des Bosnien-Kriegs (und auch danach) viele der dem Zweiten Weltkrieg gewidmete Denkmäler zerstört. Doch gerade für jüngere Menschen in Bosnien, die sich eine Politik jenseits des vorherrschenden festgefahrenen Nationalismus wünschen, wird diese Erinnerung als Alternative wieder attraktiv. Sie sind zu jung, um einer angeblich besseren Vergangenheit hinterhertrauern zu können. Ihre Nostalgie ist vielmehr eine Erinnerung daran, dass etwas anderes als das Bestehende möglich war. Entwendeter Arm. Denkmal für die Antifaschistische Frauenfront Jugoslawiens Für die Älteren kommen ganz konkrete Erinnerungen hinzu. So auch für die Aktivistin und Künstlerin Andreja Dugandžić: »Immer wenn ich an meine Kindheit denke, frage ich mich, ob sie ein Traum war. Wenn ich über diese Zeit spreche, werde ich traurig und könnte weinen. Ich werde Jugoslawien immer vermissen.« Sie sagt von sich selbst, dass sie Bosnien sofort verlassen würde, wenn sie jünger wäre. »Für Linke gibt es hier keinen Platz.« Dugandžić arbeitet bei Crvena (serbokroatisch für »rot«), einer feministischen Organisation in Sarajevo. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit ist die Aufarbeitung der Geschichte der Antifaschistischen Frauenfront Jugoslawiens (Antifašistička fronta žena, AFŽ), einem wenig beachteten Teil der Partisanengeschichte. Die AFŽ umfasste im Zweiten Weltkrieg etwa 100.000 bewaffnete Partisaninnen sowie zwei Millionen Unterstützerinnen im Hinterland, die sich um Mobilisierung, Krankenpflege oder Infrastruktur kümmerten. Gegründet wurde sie 1942 und trug während des Kriegs und danach stark zur Emanzipation von Frauen bei, vor allem in ländlichen Gegenden. Besonders ihre Alphabetisierungskampagne veränderte die Gesellschaft dauerhaft. 1953 wurde die AFŽ aufgelöst – eine starke separate Frauenorganisation erschien dem Staat nicht mehr angebracht, die »Frauenfrage« wurde dem Klassenkampf untergeordnet und die AFŽ geriet in Vergessenheit. Mit Kunstprojekten, einem Online-Archiv, einem Stadtrundgang zu Geschichte der AFŽ in Sarajevo und dem Sammelband »The Lost Revolution – Women’s Antifascist Front Between Myth and Forgetting« kämpft Crvena gegen dieses Vergessen an. Dugandžić sieht darin einen wichtigen Beitrag zu einer widerständigen Erinnerung jenseits des nationalistischen Normalzustands. Auch ohne jegliche Jugo-Nostalgie bildet die antifaschistische Geschichte Bosniens für sie einen konkreten Bezugspunkt für ihre politische Arbeit. Oder wie sie und ihre Kollegin Tijana Okić es in »The Lost Revolution« formulieren: »Die Wiederaneignung dieses Erbes ist ein wichtiger Schritt zur Bewaffnung einer neuen Befreiungsbewegung im Kampf gegen die patriarchale, faschistische und kapitalistische Tyrannei.« Zurück im Sutjeksa-Nationalpark ziehen langsam dunkle Wolken über dem Denkmal auf. Ein alter Mann salutiert vor einem dem Denkmal vorgelagerten Sarkophag. Anders als die Losung »Einheit und Brüderlichkeit« haben die Betonflügel von Sutjeska die jugoslawischen Zerfallskriege überdauert – und erinnern beständig daran, dass es eine Alternative gibt. | Larissa Schober | Larissa Schober: In Sarajevo pflegen Aktivist:innen die Erinnerung an jugoslawische Partisan:innen | [
"Jugoslawien",
"Faschismus",
"Geschichte",
"Geschichtspolitik",
"Bosnien"
] | Reportage | 07.12.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/49/erinnerung-an-jugoslawische-partisanen-tod-dem-faschismus-freiheit-fuer-das-volk |
Sexismus auf dem Konto | Nach fünf Jahren Kampf für einen gerechteren Lohn mussten sich die zehn Packerinnen der Schwerter Erdnussrösterei Felix Knusperfrisch geschlagen geben. Ihre männlichen Kollegen wurden weiterhin zwei Lohngruppen besser bezahlt als sie – für die gleiche Arbeit. In den unteren Instanzen hatten die Frauen mit ihrer Forderung nach gleicher Entlohnung Erfolg gehabt. Doch 1995 scheiterten sie vor dem Bundesarbeitsgericht – aus formalen Gründen. Immerhin eines brachte die Klage: öffentliches Aufsehen. Und wenigstens in den Gewerkschaften bekam die Diskussion um Frauenlohngruppen enormen Auftrieb. Mehr als 20 Jahre später ist die Lohnlücke nach wie vor groß.
Eigentlich wäre die Sache ganz einfach: Unternehmen müssten die Löhne und Gehälter für Frauen auf das Niveau der Männer heben. Doch die denken gar nicht daran. Ihre Strategie ist, den tatsächlichen Unterschied klein zu rechnen und die Verantwortung für die Lücke der Gesellschaft im Allgemeinen und den Frauen im Besonderen zuzuschieben. Zu diesem Zweck halten sich Arbeitgeber- und Industrieverbände eigene Institute. »Lohnlücke zwischen Frauen und Männern existiert faktisch kaum«, heißt es zum Beispiel in einer Pressemitteilung des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. (ifaa). Dahinter steht ein Verein, dessen Mitglieder die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie sind. »Real existiert keine nennenswert große Lücke zwischen den Löhnen von Frauen und Männern. Sie liegt bei der Gesamtbetrachtung aller Faktoren um zwei Prozent«, erklärt Sven Hille, Leiter der Fachgruppe »Arbeitszeit und Vergütung« am ifaa. Das Statistische Bundesamt dagegen geht von einer Lohnlücke von 22 Prozent aus.
Anders als die bundeseigenen Statistiker hat der von den Arbeitgebern beauftragte Wissenschaftler Hille für seine Berechnung sämtliche Faktoren ausgeklammert, die für unterschiedliche Verdiensthöhen verantwortlich sind, wie die Arbeitszeit, den Beruf und die Dauer der Betriebszugehörigkeit – also Gesichtspunkte, bei denen aufgrund gesellschaftlicher Rollenbilder mit Unterschieden zu rechnen ist. Nach diesem Abzug kam Hille immer noch auf einen Unterschied von sieben Prozent bei der Entlohnung. »Rechnet man noch die ununterbrochene Beschäftigungsdauer hinzu, bleibt eine Lücke von zwei Prozent«, stellt er fest. Das Institut ist stolz. »Damit widerlegt der Experte des ifaa den Mythos um eine Lohnlücke von 22 Prozent«, lobt es.
Das Statistische Bundesamt ermittelt die Unterschiede anhand der durchschnittlichen Stundenlöhne. 2014 bekamen Frauen demnach 15,83 Euro, Männer 20,20 Euro. Diese Werte stellt auch das Arbeitgeberinstitut ifaa nicht in Frage. Aber wenn Frauen den gleichen Job ausüben, bekommen sie nicht weniger als Männer, sagt Hille. »Frauen werden definitiv nicht für die gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt«, behauptet er.
Doch das ist falsch. Tarifverträge dürfen bei der Bezahlung zwar nicht nach Männern und Frauen unterscheiden. Aber: Lohnkategorien, die etwa nach der Schwere der Arbeit unterscheiden und deshalb vor allem für Frauen gelten, sind zulässig. Immer wieder werden Männer systematisch in höhere Gehaltsstufen gruppiert als Frauen, obwohl sie die gleiche Tätigkeit verrichten. Die heutige zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, hat als Tarifsekretärin die Erfahrung gemacht, dass Arbeitgeber oft systematisch versuchen, auf Kosten der Frauen zu sparen. »Vielfach wurden Tätigkeiten von Teamassistentinnen unter Wert beschrieben, um sie entsprechend niedriger eingruppieren zu können«, berichtet sie. »Ein anderes Beispiel ist die tarifliche Leistungszulage. Ohne gute Betriebsvereinbarungen dazu wird sie meist nach Gutdünken unter den Beschäftigten verteilt, und dann bekommen Männer in der Regel höhere Zulagen als Frauen.« Nach Zahlen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erhielten 2013 zum Beispiel Köche im Monat ein Bruttogehalt von 2 090 Euro, Köchinnen nur 1 648 Euro, Metallarbeiter bekamen 2 659 Euro, Metallarbeiterinnen 2 078 Euro. Männliche Verwaltungsfachangestellte erhielten 3 309 Euro, weibliche 2 724 Euro.
Oft wissen Frauen gar nicht, dass der Kollege nebenan sehr viel mehr verdient. Denn in Deutschland gehört es zum guten Ton, nicht über die Höhe des eigenen Verdienstes zu reden. Bundesfrauenministerin Manuela Schwesig will mehr Transparenz schaffen und Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten zu einem Bericht verpflichten, in dem sie ihre Bemühungen für mehr Lohngerechtigkeit dokumentieren. Den Unternehmensverbänden geht schon das zu weit.
Mehr verspricht die flankierende Initiative zum Gesetz: Schwesig will gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern Projekte initiieren, »um die Muster von struktureller Entgeltungleichheit in Tarifverträgen zu erkennen und zu überwinden«, wie es in einer Erklärung ihres Ministeriums heißt.
Nach einer Untersuchung der Böckler-Stiftung profitieren Frauen stärker als Männer davon, wenn sie in tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen tätig sind. Bei Beschäftigungsverhältnissen ohne tarifvertragliche Bestimmungen entscheidet der Chef alleine über den Lohn – oft genug willkürlich. Sexismus spielt eine wichtige Rolle bei der Unterbezahlung von Frauen. Nicht nur Berufspausen für die Erziehung und Probleme bei der Kinderbetreuung blockieren Frauen – damit haben auch immer mehr Männer zu kämpfen. Aber erstaunlicherweise berichten viele Männer, dass ihnen eine Kinderauszeit bei der Karriere eher geholfen hat.
Dass es Handlungsbedarf gibt, weiß auch Hille. »Ändern müssen sich die Erwerbsverläufe von Frauen«, fordert er. Die Unternehmen würden schon allerlei dafür tun, etwa auf flexible Arbeitszeiten setzen. »Zu guter Letzt sind die Frauen auch selbst gefordert, sich für andere Karrierewege zu entscheiden«, teilt sein Institut mit. Die Botschaft: Frauen sind selbst schuld, sollen sie sich doch einen besser bezahlten Beruf suchen.
In diese Kerbe schlägt auch die deutsche Initiative »Equal pay day«, die sich am internationalen Aktionstag für die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen beteiligt. Der diesjährige findet Samstag statt – unter dem Motto »Berufe mit Zukunft«. Der Blick wird also konsequent auf die Beschäftigten selbst gerichtet und nicht auf diejenigen, die für die schlechtere Bezahlung verantwortlich sind. Kein Wunder: Teil des nationalen Aktionsbündnisses sind die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände und der Verband deutscher Unternehmerinnen. | Anja Krüger | Anja Krüger: Der Gender-Pay-Gap in Deutschland bleibt groß | [] | Inland | 17.03.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/11/sexismus-auf-dem-konto?page=0%2C%2C2 |
Russia Today | Dmitry Glukhovsky ist mit seinen postapokalyptischen »Metro«-Romanen international bekannt geworden. Sein neuer Roman »Text« ist keine Science-Fiction, sondern ein literarischer Thriller, der im Moskau der Gegenwart spielt. Die Realität im heutigen Russland sei, so Glukhovsky, phantastisch genug. Ilja, gerade für das Linguistikstudium zugelassen, geht mit seiner Freundin in einem Club tanzen. Bei einer Razzia steckt ihm der Polizist Petja, der ihn später verhaften wird, Drogen zu. Sieben Jahre sitzt Ilja unschuldig im Straflager. Nach der Freilassung ist von seinem früheren Leben nichts mehr übrig. Die Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation bildet den Hintergrund des Romans. Wer weiterkommen will, muss korrupt sein und andere denunzieren. Ilja wird zum zufälligen Opfer dieses Systems. Was für den einen ein Karriereschub war, hat dem anderen die Zukunft genommen. Voller Wut spürt Ilja Petja auf und ersticht ihn. Anschließend sucht er verzweifelt nach einer Möglichkeit, doch noch ein neues Leben zu beginnen. Sein einziger Bezugspunkt ist das iPhone, das er dem Toten entwendet hat. Er liest sich durch Chat-Verläufe mit Arbeitskollegen und besorgte E-Mails der Mutter, schaut sich Nacktfotos der Freundin an, versucht den Streit mit dem Vater zu verstehen und stößt auf ein verwirrendes Netz aus Drogengeschäften, Korruption und Geheimdienstkontakten. Erst will sich Ilja nur das Geld eines bevorstehenden Drogendeals schnappen, um das Land zu verlassen. Dann wird er aber immer tiefer in Petjas Geschichte hineingezogen und lebt, zumindest am Smartphone, dessen Leben stellvertretend für ihn weiter. Schnell wird klar, dass auch dem vermeintlichen Gewinner seine Machtposition wenig Glück gebracht hat. In kurzen, scharfen Sätzen teilt Ilja seine Gedanken mit, während er sich durch ein trübes, kaltes Moskau bewegt. Im Hintergrund läuft das Propagandafernsehen, es herrscht eine zynische Hoffnungslosigkeit. Dmitry Glukhovsky: Text. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Europa-Verlag, München 2018, 368 Seiten, 19,90 Euro | Norma Schneider | Norma Schneider: Platte Buch - »Text« von Dmitry Glukhovsky | [] | dschungel | 20.12.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/51/russia-today?page=0%2C%2C0 |
»Man schielt neidisch auf die Erfolge der Linken« | Was macht die Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz? Unsere Präventions- und politische Bildungsarbeit richtet sich vor allem an Jugendliche und junge Erwachsene. Wir bilden dabei Multiplikatoren aus und wollen für die Überschneidung von Natur- und Umweltschutzgedanken mit völkischen, rassistischen und biologistischen Ideen sensibilisieren. Gab es einen konkreten Anlass, ein solches Projekt zu beginnen? Nein, es war mehr eine gesellschaftliche Beobachtung des Erstarkens extrem rechter Kräfte auch im Bereich Natur- und Umweltschutz, etwa in Form der antisemitischen Anastasia-Bewegung und der Versuche von AfD-Mitgliedern, sich in Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen zu engagieren und dort anzudocken, indem sie etwa behaupten, Windkraftanlagen seien für Vogel- und Insektensterben verantwortlich. Diese Argumentation spielt den Natur- gegen den Umweltschutz aus. Aber ist die AfD bislang nicht vor allem als antigrüne Partei der Braunkohleförderung und der Atomkraft bekannt? Es gibt bei der AfD zwei durchaus gegenläufige Strömungen. Ganz offiziell versteht sich die AfD als Naturschutzpartei im Sinne Alexander von Humboldts. So formuliert es Alexander Gauland und so steht es auch in diversen Veröffentlichungen der Arbeitskreise zu Umwelt- und Energiepolitik. Gleichzeitig leugnet die Partei den menschengemachten Klimawandel und gibt sich dezidiert antiökologisch, was ihre Positionen zu erneuerbaren Energien, Kohlekraftwerken, Fahrverboten, Emissionsgrenzwerten und Dieselverbrauch angeht. Eine zweite Strategie findet man vor allem beim völkischen Flügel der Partei. Es handelt sich dabei um klassische rechte Ideologien, bei denen es nicht ganz klar ist, ob der Klimawandel wirklich geleugnet wird. Meist hält man sich diesbezüglich eher etwas bedeckt. Das gilt für das Umfeld um Björn Höcke. Da werden klassische rechte Ökologiekonzepte propagiert, die sich schon viel ökologischer anhören. Es geht auch um Wachstumskritik und regionale Wirtschaftskreisläufe. Da ist man auch viel näher an der altbekannten Parole der extremen Rechten, Umweltschutz sei »Heimatschutz«. Auch im Umfeld der Neuen Rechten um Felix Menzel, den Chefredakteur der Blauen Narzisse, Philip Stein vom Projekt »Ein Prozent für unser Land« oder Götz Kubitschek macht man sich exemplarisch Gedanken, wie eine Wachstumskritik zu einer Regionalisierung von Wirtschaftsräumen führen kann. Sie behaupten, diese Regionalisierung stärke die »Identität des Volkes«. Felix Menzel sagt, der Kauf regionaler Produkte sei ein patriotischer Akt. Die Postwachstumstheorie ist auch in Teilen der Linken beliebt. Besteht hier ein Querfrontpotential? Wachstumskritik kann unterschiedliche Motive haben. Es kommt dabei ganz darauf an, worauf man damit hinaus möchte. Also besteht bei einer oberflächlichen Wachstumskritik durchaus Querfrontpotential. Bei der extremen Rechten geht es bei genauerer Betrachtung schnell um antisemitische Bezüge, wenn Wachstum mit Kapitalismus und einer »jüdischen Finanzelite« verbunden wird. Im vergangenen Jahr hat die Umweltbewegung in Form von Fridays for Future enormen Zulauf erhalten. Bereits in den Jahren davor gab es erfolgreiche Aktionen der Kampagne Ende Gelände. Sind nicht derzeit linke Kräfte in der Umwelt- und Klimabewegung eindeutig die stärkeren? Diese Bewegung ist insgesamt eher dem linken Spektrum zuzuordnen. Auch die jüngsten Wahlerfolge der Grünen stehen in diesem Zusammenhang. Aber durch die Popularität, die das Thema Klimapolitik unter anderem Fridays for Future und Ende Gelände zu verdanken hat, ist auch in rechten Kreisen einiges in Bewegung gekommen. Man setzt sich dort inzwischen damit wieder stärker auseinander. Und die Mobilisierung von so vielen jungen Menschen macht auch auf der rechten Seite Eindruck. Man schielt neidisch auf die Erfolge der linken Umweltbewegungen. Gibt es derzeit eine rechte Strategie, die Umweltbewegung zu infiltrieren? Es lässt sich beobachten, dass Teile der extremen Rechten überlegen, wie sie auf die Umweltbewegung Einfluss nehmen könnten. Nach den Wahlen zum europäischen Parlament voriges Jahr kam aus der Jungen Alternative (JA) die Forderung, doch bitte die Leugnung des Klimawandels sein zu lassen. Damit erreiche man junge Menschen einfach nicht. Außerdem könne man mit dieser Position in der Umweltbewegung auf Dauer nicht Fuß fassen. Wo sehen Sie in der Umweltbewegung das größte Potential für den Einfluss rechter Ideen? Bei Fridays for Future oder Ende Gelände sehe ich diese Gefahr nicht. Beide Bewegungen orientieren sich klar am Konzept der Klimagerechtigkeit, das schwer von rechts zu besetzen ist. Der Gedanke einer globalen Solidarität richtet sich schließlich geradezu diametral gegen ein völkisch-rechtes Weltbild. Wenn man sich die Bewegungen ansieht, die es gerade so gibt, dann ist sicherlich Extinction Rebellion die Gruppe, wo das Einfalltor für solche Ideen am größten ist. Aber auch dort hat man sich zumindest in der Außendarstellung bemüht, sich von den verschwörungsideologischen und den Holocaust relativierenden Äußerungen innerhalb der Bewegung zu distanzieren. Wie ist denn Ihre Erfahrung mit der Präventionsarbeit? Wenn wir Mulitplikatorinnen und Multiplikatoren ausbilden, die mit jungen Menschen im ländlichen Raum zu tun haben, ob in Umweltschutzverbänden, in der Jugendhilfe oder der Sozialarbeit, erleben wir häufig Überraschung und sogar einen Moment der Überwältigung. Das Wissen über die Verbindungen des historischen Naturschutzes mit faschistischen oder völkischen Ideen, die es bis heute noch gibt, ist oft gering. Es ist für viele eine Überraschung, dass Natur- und Umweltschutz nicht zwangsläufig irgendwie links, jung, alternativ und weltoffen ist. Dann ist aber auch in diesen Workshops, die wir mit den Leuten machen, sehr viel Interesse dafür da. Und immer wenn die Leute darüber etwas erfahren, wollen sie sich weiter damit beschäftigen und auch die eigenen Denk- und Ausdrucksweisen kritisch reflektieren. Sie bieten unter anderem einen Workshop zum deutschen Wald an. Worum geht es da? Bei diesem Workshop geht es um romantische Vorstellungen und den Mythos eines deutschen Waldes, der seit der Romantik bis heute in der Umweltbewegung, aber auch in der extremen Rechten, eine große Rolle gespielt hat. Dem stellen wir dann forstwirtschaftliche Erkenntnisse gegenüber. Einerseits klären wir über die ideologische Vereinnahmung auf, andererseits stellen wir dem eine nüchterne ökologische Analyse gegenüber, was daran Blödsinn oder ungenau ist. Wir bieten diesen Workshop noch nicht lange an. Er ist aber beliebt, gerade bei Leuten, die im Bereich der Waldpädagogik oder im weitesten Sinne in der Forstwirtschaft arbeiten. | Carl Melchers | Carl Melchers: Ein Gespräch mit dem Naturfreunde-Bildungsreferenten Yannick Passeick über rechtsextreme Infiltration in der Umweltbewegung | [
"Antifa",
"Ökologie"
] | Thema | 16.07.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/29/man-schielt-neidisch-auf-die-erfolge-der-linken?page=0%2C%2C1 |
Traumatisiert im Lager | Eingesperrt mitten im Pazifik. Das Flüchtlingslager Nibok auf der Insel Nauru, 4. September Passiv, unbeweglich, stumm, unfähig zu essen und zu trinken. Das sind neben Inkontinenz und fehlender Reaktion auf körperliche Reize die Symptome, die in Zusammenhang mit dem sogenannten Resignationssyndrom genannt werden. Im April vergangenen Jahres erreichte Rachel Aviv mit ihrer Reportage für The New Yorker internationale Aufmerksamkeit für die rätselhafte Erkrankung, die insbesondere geflüchtete Kinder trifft. Sie beschrieb den Fall des russischen Jungen Georgi in Schweden, der – nachdem er seinen Eltern den zweiten Ablehnungsbescheid übersetzt hatte – den Brief fallen ließ und sich ins Bett legte. Nach Apathie folgte ein komaähnlicher Zustand. Begleitet wurde der Artikel mit Fotografien von Magnus Wennman. Eines der Bilder zeigt die Schwestern Djeneta und Ibadeta in Horndal, Schweden, mit geschlossenen Augen im Bett und Schläuchen in den Nasen, um sie am Leben zu halten. Mit diesem Foto der Schwestern, geflüchtete Roma aus dem Kosovo, gewann Wennman 2018 den Wettbewerb World Press Photo. In der Beschreibung des Fotos steht zu diesem Zeitpunkt noch, dass dieses Phänomen nur unter Geflüchteten in Schweden existiere und vor allem bei Kindern zwischen sieben und 19 Jahren aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawien auftrete. Auslöser der Krankheit sei oft ein negativer Asylbescheid. Nach einem Anfang September vom australischen Flüchtlingsrat und der NGO Asylum Seeker Resource Centre (ASRC) veröffentlichten Bericht mit dem Titel »Australia’s man-made crisis on Nauru: Six years on« (Australiens menschengemachte Krise auf Nauru: Sechs Jahre später) wurde das Resignationssyndrom nun auch in Nauru, einer Pazifikinsel vor Australien, beobachtet. Dort und auf der Pazifikinsel Manus werden seit 2013 Geflüchtete, in Lagern interniert, die versucht haben, über den Seeweg nach Australien zu kommen, um Asyl zu beantragen. Selbst wenn ihr Asylantrag zur Bearbeitung angenommen wird, dürfen sie australisches Festland nicht betreten. Immer wieder kritisieren NGOs wie Amnesty International dieses Verfahren und prangern an, dass die Geflüchteten ohne Zukunftsperspektive auf den Pazifikinseln festgehalten werden – und das unter katastrophalen Bedingungen. Es fehle an medizinischer Versorgung; die körperliche Unversehrtheit, insbesondere von geflüchteten Frauen und Kindern, sei nicht gewährleistet. Derzeit sollen noch rund 900 Flüchtlinge in Nauru interniert sein, darunter 109 Kinder; fast alle seit mehr als vier Jahren. Der Bericht betont, dass Selbstverletzung und Suizidversuche weit verbreitet seien, zwei Menschen hätten sich bereits umgebracht. Bei einer Pressekonferenz im April sagte Indrika Ratwatte, der Leiter des UNHCR-Büros für Asien und den Pazifik, über 80 Prozent der auf Nauru und Manus Internierten litten Untersuchungen zufolge unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Traumata und Depressionen. In den vergangenen Wochen wurde in den Medien immer wieder über selbstmordgefährdete Kinder im Flüchtlingslager auf Nauru berichtet. Es waren Fälle wie der eines zwölfjährigen Jungen, der 20 Tage nicht aß und schließlich nach Brisbane ins Krankenhaus geflogen wurde, oder der eines gleichaltrigen Mädchens, das Mitte August versuchte, sich selbst anzuzünden. Die Regierung verhinderte, dass das Mädchen zur medizinischen Versorgung nach Australien geflogen wurde. Dem NGO-Bericht zufolge seien im Haushaltsjahr 2016/17 29 Krankentransporte von Nauru nach Australien erfolgt, 2014/15 waren es noch 199. Derzeit würden rund 50 ärztliche Anträge auf Krankentransporte von Nauru nach Australien blockiert. Eine Verbesserung der Lage der Geflüchteten in Nauru ist nicht in Sicht. Die beiden größten Parteien Australiens, die Labor Party und die Liberal Party, verfolgen eine strenge Asylpolitik gegen sogenannte Bootsflüchtlinge. Journalistinnen und Journalisten wird der Zugang zum Flüchtlingslager verweigert, Interviewanfragen zum Thema werden abgelehnt. Marcella Brassett, die Kampagnenleiterin von ASRC in Melbourne, sagte der Jungle World, Naurus Präsident Baron Waqa habe behauptet, die NGOs selbst würden den Kindern einreden, eine Chance zu haben, nach Australien zu gelangen, wenn sie Anzeichen des Resignationssyndroms zeigen. Der Vorwurf, es handele sich bei den beobachteten Symptomen um Simulation, war auch in Schweden erhoben worden, wurde aber medizinisch widerlegt. Derzeit fordert ein Bündnis australischer NGOs in einer Kampagne unter dem Motto »Kids off Nauru« (Kinder weg aus Nauru), dass über 100 Kinder schnellstmöglich mit ihren Familien von Nauru nach Australien gebracht werden. 17 000 Unterschriften sind für die Petition auf der Website von Amnesty International Australia angestrebt, das Ziel ist bald erreicht; ASRC sammelte bereits über 18 000 Unterschriften. Natasha Blucher, die Leiterin der Rechtshilfe des ASRC, sagte der Jungle World, dass Schlimmeres nur verhindert werden könne, wenn alle diese Geflüchteten zusammen nach Australien gebracht werden, denn in jedem Fall einzeln darum zu kämpfen, könne Monate dauern. Das wäre angesichts des kritischen Zustands einiger suizidgefährdeter Kinder möglicherweise zu lang, so Blucher. Ärzte und Psychologen, mit denen ASRC arbeite, hätten in den vergangenen drei Monaten eine deutliche Zunahme an psychischen Störungen, Selbstverletzungen und Suizidversuchen festgestellt. In der Zeit seien vermehrt Asylanträge von den USA abgelehnt worden. Gemäß einem Abkommen zwischen Australien und den USA, das noch unter der Präsidentschaft Barack Obamas (2009–2017) zustande gekommen war, sollen über 1 000 Menschen aus den Flüchtlingslagern vor Australien in den USA Asyl erhalten. Nach Informationen verschiedener Hilfsorganisationen wurden bislang jedoch nur rund 400 Geflüchtete aufgenommen. Auch auf Nauru scheinen unsichere Lebensumstände und insbesondere Hoffnungslosigkeit nach einem Ablehnungsbescheid Kinder in einen selbstzerstörerischen Zustand zu versetzen. Wie bei Georgi, dem russischen Flüchtling in Schweden, scheinen auch auf Nauru unsichere Lebensumstände, fehlende Zukunftsperspektiven und insbesondere Hoffnungslosigkeit nach einem Ablehnungsbescheid Kinder in einen selbstzerstörerischen Zustand zu versetzen. Blucher erzählt, die betroffenen Kinder litten meist bereits unter Albträumen, hörten dann auf, mit Freunden und der Familie zu sprechen, und begännen schließlich, sich selbst zu verletzten. Das gehe bis zu dem Punkt, an dem sie keine physischen Reaktionen mehr zeigen und eine künstliche Nahrungszufuhr nötig sei, um sie am Leben zu halten. Blucher nennt dies traumatic withdrawal syndrome (traumatisches Rückzugssyndrom), hält es aber für das gleiche Krankheitsbild wie das in Schweden beobachtete Resignationssyndrom. Auch wenn dieses Syndrom bereits seit Anfang des Jahrtausends in Schweden untersucht wird, wirft es bis heute Fragen auf, insbesondere, was die Heilung betrifft. Den geflüchteten Kinder und ihren Familien einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu geben, könnte eine Lösung sein. So war es zumindest bei Georgi und weiteren Kindern in Schweden. Nachdem Georgis Familie schließlich einen positiven Bescheid bekommen hatte, soll es zwei Wochen gedauert haben, bis er wieder die Augen öffnen konnte. | Mirjana Mitrović | Mirjana Mitrović: | [
"Insel Nauru",
"Insel Manus",
"Australien",
"Migrationspolitik"
] | Ausland | 26.09.2018 | https://jungle.world/artikel/2018/39/traumatisiert-im-lager |
Paten im ZK | Steht die Partei Ho Chi Minhs unter dem Einfluss von Mördern, Zuhältern und organisierten Rauschgifthändlern? Diese Frage wird gegenwärtig in Vietnam ernsthaft diskutiert. Denn obwohl die Ausmaße der Verwicklung staatlicher Funktionäre noch nicht geklärt sind, ist mittlerweile erwiesen, dass es Verbindungen zwischen hohen KP-Mitgliedern und organisierten Kriminellen gab. Seit Jahren treibt eine nach ihrem Chef Nam Can benannte Bande ihr Unwesen in der südvietnamesischen Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt. Sie soll die Zuhälterszene der Stadt fest in Griff haben und den Drogenhandel im gesamten Süden des Landes kontrollieren. Prostitution ist in Vietnam streng verboten, und auf Drogenhandel steht die Todesstrafe. Der Bande werden auch mehrere Morde, Waffenschmuggel und Erpressungen zur Last gelegt. Doch jahrelang waren die Ermittler machtlos. Kein Zufall, wie man heute weiß. Die Bande hatte namhafte Unterstützer, darunter mutmaßlich mindestens zwei Mitglieder des Zentralkomitees der KP. Sie wurden im Juli aller Ämter enthoben. Mit ihrer Verhaftung sowie der weiterer hoher Funktionäre wird gerechnet. Zwischen Januar und April war den Ermittlern ein Durchbruch gelungen. 60 Mitglieder der Nam Can-Bande sowie 51 Polizisten und Polizeioffiziere wurden festgenommen. Ein ausgeklügeltes System der Verteilung von Bestechungsgeldern soll dafür gesorgt haben, dass die Bande über lange Zeit unbehelligt blieb. In Einzelfällen seien Bandenmitglieder auf Geheiß der Polizeiführung wieder auf freien Fuß gesetzt worden, falls ein nichts ahnender Polizist sie festgesetzt hatte. Die staatliche Nachrichtenagentur VNA sprach von »wöchentlichen und monatlichen Zahlungen in Höhe von 500 000 bis einer Million vietnamesischen Dong« pro Polizist, das sind umgerechnet zwischen 40 und 80 Euro. Das Monatseinkommen eines Polizisten liegt zwischen 60 und 100 Euro. Leben kann man davon nur schwer. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Polizisten ihr Einkommen aufbessern, indem sie Strafgelder und andere Gebühren kassieren, ohne eine Quittung auszustellen und das Geld an die Staatskasse weiterzuleiten. Diese Form der Korruption hat in Südostasien nicht nur eine jahrhundertealte Tradition, sie blüht im heutigen Vietnam auch dank des Einparteiensystems und der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung. Die jährlichen Wachstumsraten lagen zwischen 1990 und 1997 zwischen sieben und elf Prozent, gegenwärtig sind es vier Prozent. Doch die staatliche Verwaltung hielt mit der Entwicklung nicht Schritt. Es fehlen gesetzliche Regelungen und Beamte, die es dem Staat ermöglichen würden, Steuern im ausreichenden Maße einzunehmen und seine Angestellten bedarfsdeckend zu entlohnen. Die allmächtigen Verwaltungskräfte, Parteifunktionäre und Polizisten wollen aber auch ihren Teil an den Gewinnen abbekommen, die in der Privatwirtschaft zumindest in Vietnams Wachstumsregionen inzwischen erwirtschaftet werden. Zum Teil hat der Staat resigniert und seinen Beamten den Nebenerwerb gestattet. Lehrer und Hochschullehrer beispielsweise dürfen ihren eigenen Schülern und Studenten Nachhilfeunterricht gegen Bezahlung erteilen. Wer bereit ist, auf diese Weise seinen Lehrern finanziell behilflich zu sein, hat in den Prüfungen bessere Karten. Auch Polizisten dürfen offiziell Gebühren für die Benutzung von Brücken, den Schutz von Hotels usw. kassieren, müssten die Einnahmen aber eigentlich an die Staatskasse abführen. Doch wer das tut, gilt unter den Kollegen als Trottel. Unter den Festgenommenen in Ho-Chi-Minh-Stadt waren auch der Leiter der Kriminalpolizei, Duong Minh Ngoc, sowie seine beiden engsten Mitarbeiter. »Ngoc wurde unzählige Male von Bandenchef Nam Can zum Essen eingeladen und hat von ihm Geld angenommen«, hieß es aus Ermittlerkreisen, »er investierte mit dem Chef der Unterwelt gemeinsam in zwei berüchtigte Restaurants und eine Tanzbar.« Die hätte er als oberster Kriminalbeamter eigentlich schließen müssen. In Vietnam wird nun mit Schauprozessen gerechnet, denen in einigen Fällen auch öffentliche Hinrichtungen folgen könnten. Doch die Verbindungen der Gang reichen über Ho-Chi-Minh-Stadt hinaus. Festgenommen wurde im Mai auch Nguyen Thap Nhat, der Leiter eines Hanoier Umerziehungslagers. Ihm wird vorgeworfen, im Jahr 1995 für 11 000 US-Dollar Nam Can geholfen zu haben, aus dem Lager in ein gewöhnliches Hanoier Gefängnis überstellt zu werden. Später soll Thap Nhat noch einmal 2 000 Dollar genommen und als Gegenleistung der Tochter Nam Cans zur Freiheit verholfen haben. 1997, zwei Jahre nach seiner Festsetzung, kam Nam Can frei, obwohl er mit der Todesstrafe zu rechnen hatte. An der offiziellen Begründung, die Freilassung ginge auf ein Gnadengesuch seiner Ehefrau zurück, kommen jetzt Zweifel auf. Den Ermittlern fiel nämlich ein Papier in die Hände, in dem der Chef des staatlichen Rundfunks, Tran Mai Hanh, sich bei der Gefängnisleitung energisch für die Freiheit des Chefs der Unterwelt einsetzte. Hanh, der auch dem Zentralkomitee der KP angehörte, wurde im Juli aller Ämter enthoben und durfte auf Geheiß der staatlichen Wahlkommission seinen kürzlich errungenen Parlamentssitz nicht einnehmen. Weil ihm die Annahme von Bestechungsgeldern nicht nachgewiesen wurde, ist er noch auf freiem Fuß. Abgesetzt wurde auch das für die Staatsanwaltschaften zuständige Mitglied der Parteiführung. Ob mächtige Verbündete der Bande die Ermittlungen behinderten, ist nicht bekannt. Seit Juni herrscht eine strikte Nachrichtensperre zu diesem Thema. Das ist in Vietnam durchaus ungewöhnlich, denn in den letzten fünf Jahren wurde die Kontrolle der Medien gelockert. Journalisten ist es beim Thema Korruption erlaubt, eigenständig zu recherchieren. Viele Korruptionsfälle wurden durch Berichte in Zeitungen und im Fernsehen aufgedeckt. Aber wenn es nicht um kleine Provinzfunktionäre, sondern wie hier um Mitglieder des politischen Machtzentrums geht, greift die Zensur wieder ein. | marina mai | marina mai: Korrupte Kommunisten | [] | Ausland | 14.08.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/33/paten-im-zk?page=0%2C%2C3 |
Kein Schwein sprach mich an | Früher waren es ja noch regelrechte Ereignisse, die Fan-Artikel hervorbrachten. Einmal im Jahr kam der neue Disney-Film, exakt drei Monate vorher ging es los mit dem Merchandise. Die Supermärkte wurden mit »König der Löwen«- und »Mulan«-Produkten geflutet, so lange, bis das künstlich erzeugte Bedürfnis gestillt und der neue Film abgedreht war. Heute grasen automatisierte Content-Bots die sozialen Medien selbständig ab, um aus jedem kleinen Facebook-Kommentar ein T-Shirt zu drechseln, jede noch so kleine Mikrodemographie mit Meinungsäußerungsprodukten zu versorgen. »Hüte dich vor Event-Managern, die aus Fulda kommen«, werden die Textilien dann betextet, wenn ein Fuldaer Event-Manager als solcher identifiziert wurde. Rechtzeitig erhält dieser dann einen Bestelllink in der Facebook-Werbung, und dank modernster Print-on-Demand-Verfahren wird der Scheißdreck dann erst hergestellt, wenn der Nichtsnutz zum Bestellen auf den Button gedrückt hat. Weil die entsprechenden Lieferanten schon sehr gut verstanden haben, wie das deutsche Publikum so tickt, beschriften sie diese kleidungsförmigen Selbstanzeigen in Frakturbuchstaben, was irgendwie national, diffus widerständig und so metalmäßig provinziell wirken soll. Jede Anhängerschaft, jede Berufsgruppe hat so die Chance, sich selbst als Initiativbewerbung und zugleich als NPD-Plakat in Szene zu setzen. Die Sachen werden tatsächlich bestellt und getragen; in einem Bahnhof im Nordhessischen sah ich sogar ein ganzes Zweiergespann, dass seine Berufsbezeichnung dergestalt spazieren führte. Vor kurzem habe ich ebenfalls eine solche Anzeige erhalten, und ein perverser Kitzel brachte mich dazu, das entsprechende T-Shirt zu ordern: »Hüte dich vor Autoren, die aus München kommen«. Knapp sieben Tage später erreichte mich das computergeschneiderte Textil: überraschend solide verarbeitet und ohne Rechtschreibfehler betextet. Zu Testzwecken trug ich den Mist einen halben Nachmittag auf der Frankfurter Zeil, einem Ort, der wegen seiner kompletten Gleichgültigkeit für alle menschlichen Lebensäußerungen bekannt ist. Das Testergebnis: Das T-Shirt wirkt tatsächlich! Niemand wagte es, den Autoren, der aus München kommt, anzusprechen; alle hüteten sie sich aufs Prächtigste vor mir! Nicht dass ich auf der Zeil besonders oft angesprochen würde, aber für eine längere Testreihe fehlt mir leider die Zeit.
An dieser Stelle schreibt Leo Fischer über seine persönlichen Erfahrungen in der Welt des Konsums. Seine Erlebnisse und Meinungsäußerungen erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. | Leo Fischer | Leo Fischer: Der Kolumnist drückt den Bestellbutton für ein T-Shirt mit persönlicher Botschaft | [
"Perfekten Genuss erleben"
] | dschungel | 21.07.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/29/kein-schwein-sprach-mich?page=0%2C%2C0 |
Kein Stipendium für die »First Lady« | Olena Semenyaka war bereits in Wien, als sie von der Aberkennung ihres Stipendiums erfuhr. Sechs Monate sollte sie am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) an ihrem Forschungsprojekt über Jan Patočkas Ernst Jünger-Rezeption arbeiten und dafür monatlich eine Summe von 1 800 Euro erhalten. Doch nachdem ihre Teilnahme an einem Fellowship-Programm für ukrainische Nachwuchsforscher öffentlich geworden war, hagelte es Kritik. Semenyaka ist Funktionärin der ukrainischen Partei »Nationalkorps«. Googelt man ihren Namen, findet man Fotos von ihr mit Hakenkreuz und Hitlergruß. Das IWM distanzierte sich sofort und erkannte das Stipendium ab. Doch offen blieb, wie es überhaupt zu der Vergabe kommen konnte. Die Direktorin des Instituts, Shalini Randeria, sagte der Zeit, für die vier Ukraine-Experten in der Jury sei weder aus dem Lebenslauf noch aus zwei Empfehlungsschreiben ersichtlich gewesen, dass Semenyaka Rechtsextremistin sei. Eine Sprecherin des IWM sagte der Jungle World, dass man jetzt an einem »Kriterienkatalog« arbeite, um mit solchen Fällen besser umzugehen. Semenyakas akademisches wie politisches Interesse gilt dem als »Konservative Revolution« bekannten faschistischen Denken der deutschen Zwischenkriegszeit. »Aber wie kann dann bitte so was sein?« fragte sich die Osteuropa-Korrespondentin der Zeit, Alice Bota, auf Twitter. Eine solche Juryentscheidung sei nicht nachvollziehbar, wenn man sich mit Ukraine befasse, kenne man Semenyaka. Zumindest ist sie keine Randfigur: Sie war Pressesprecherin beim »Rechten Sektor«, einem Zusammenschluss von ultranationalistischen und rechtsextremen Gruppen, die eine Schlüsselrolle bei den Kämpfen auf dem Maidan-Platz 2014 spielte, und stieg später zum öffentlichen Gesicht der faschistischen Asow-Bewegung auf. Als internationale Sekretärin der aus Asow-Strukturen hervorgegangenen Partei »Nationalkorps« ist sie für die Vernetzung in ganz Europa zuständig, in Deutschland vor allem mit der Nazipartei »Der III. Weg«, den »Jungen Nationalisten« der NPD, und der Identitären Bewegung, wie unter anderem das Antifa-Infoblatt berichtete. Der französische Rechtsextremismusforscher Adrien Nonjon bezeichnete sie als »First Lady des ukrainischen Nationalismus«. Das Regiment Asow, hervorgegangen aus einem 2014 gegründeten paramilitärischen Freiwilligenbataillon, das gegen prorussische Separatisten kämpft, baut in der Ukraine systematisch Strukturen einer faschistischen Bewegung auf. Die ukrainische Hauptstadt Kiew soll, wenn es nach dem Regiment geht, zum Zentrum auch des internationalen Rechtsextremismus werden. Dabei spielen auch Musik und Kampfsport eine Rolle: Semenyaka war an der Organisation von Mixed-Martial-Arts-Turnieren und nationalsozialistischen Black-Metal-Konzerten wie dem »Asgardsrei-Fest« beteiligt. Videos zeigen sie bei Konferenzen mit dem wegen Mordes verurteilten deutschen Neonazi Hendrik Möbus und dem weißen Ethnonationalisten Greg Johnson. Semenyakas akademisches wie politisches Interesse gilt dem als »Konservative Revolution« bekannten faschistischen Denken der deutschen Zwischenkriegszeit. 2018 war sie als Rednerin bei einer Tagung des Dresdner Verlags Jungeuropa eingeladen. Der von dem Neurechten Philip Stein geführte Kleinstverlag veröffentlichte im vergangenen Jahr mit »Natiokratie« von Mykola Sziborskyj einen Klassiker des ukrainischen Ultranationalismus, das darin enthaltene Vorwort stammt von dem Asow-Mitglied Mykola Krawtschenko. Dem Online-Portal Belltower News zufolge war Semenyaka als Rednerin bei einer rechtsextremen Konferenz in Stockholm 2019 angekündigt, bei der unter anderem der neurechte Wiener Autor und Verleger Martin »Lichtmesz« Semlitsch und der Rassenideologe Jared Taylor auftraten. Ausgerechnet drei Experten für ukrainischen Rechtsextremismus – Adrien Nonjon, Vyacheslav Likhachev und Anton Schechowzow – verteidigten die Stipendienvergabe an Semenyaka. Besonders Schechowzow tat sich hervor, der deutschen Medien ein gefragter Gesprächspartner ist und selbst mehrere Jahre Stipendiat des IWM war: Es sei nicht das erste Mal, dass eine liberale Institution den Erpressern der »Cancel Culture« nachgebe; der »Mob« habe gesiegt, schrieb er auf Twitter. Dem Magazin Cicero sagte Schechowzow, er sei der festen Überzeugung, dass der Zugang zu Wissen und akademischen Studien die liberale Kultur selbst unter den Illiberalen fördere. Außerdem sei es falsch, Rechtsextreme »für immer von unserer Gesellschaft« auszuschließen, auch sie sollten »einen Ausweg haben«. Semenyaka hatte sich anschließend in einem Blog-Beitrag positiv auf Schechowzows Einschätzung bezogen. Die Asow-Bewegung kann überwiegend frei agieren, doch zuletzt ist der internationale Druck auf die ukrainischen Institutionen gestiegen. 2019 veröffentlichte das Investigativportal Bellingcat eine Untersuchung über die »Wotanjugend« des russischen Nazis Aleksej Lewkin, die in die Ukraine übersiedelte und unter dem Dach der Asow-Bewegung paramilitärische Trainings organisierte und den Massenmörder von Christchurch glorifizierte. Semenyaka hatte lange mit Lewkin zusammengearbeitet, aber auch kritisiert, dass die kaum verschleierte Hitler-Verehrung der Organisation ihre Versuche erschwere, Verbindungen zu europäischen Parteien aufzubauen. In den vergangenen Jahren gab es vermehrt Berichte über eine Vernetzung des Asow-Milieus mit US-amerikanischen militanten faschistischen Gruppen wie der »Atomwaffen Division« oder des »Rise Above Movement«. So zog das Regiment Asow die Aufmerksamkeit von US-amerikanischen und europäischen Behörden auf sich, die die Vernetzung gewaltbereiter Rechtsextremer beobachteten. Nach dem Massaker in Christchurch verlangten 40 Abgeordnete des US-Kongresses, dass unter anderem das Regiment Asow zur internationalen Terrorgruppe erklärt werden sollte. Im Februar 2020 warnten der Abgeordnete Max Rose und der Antiterrorexperte Ali Soufan in der New York Times, dass Rechtsextreme »den Konflikt in der Ukraine als Labor und Trainingslager« benutzten. Noch 2014 veröffentlichten renommierte Ukraine-Experten einen Aufruf, die Rolle der Rechtsextremen bei den Maidan-Protesten nicht überzubewerten. Zu den Unterzeichnern gehörten Schechowzow und Andreas Umland, die 2020 den Think Tank »Centre for Democratic Integrity« gründeten. Ihre Expertise über das rechtsextreme Milieu in der Ukraine kombinieren sie mit einem eindeutigen Plädoyer für die Westbindung der Ukraine. »Sie sind so etwas wie bequeme Experten für den ukrainischen Rechtsextremismus«, kritisiert der Sozialwissenschaftler Wolodymyr Ischtschenko im Gespräch mit der Jungle World. »Sie erkennen an, dass es ein Problem gibt, aber betonen gleichzeitig immer, dass man es nicht übertreiben dürfe, dass man vorsichtig sein müsse, wie man darüber spreche.« Ein Beispiel lieferte kürzlich Umland. Mit Bezug auf einen Time-Artikel über das Regiment Asow schrieb er auf Facebook: »Einige antifaschistische Autoren geben sich in ihren Texten über Asow & Co. einem allzu bequemen moralischen Maximalismus hin.« Im Krieg brauche man traurigerweise Soldaten, die bereit seien, zu töten und für ihr Vaterland zu sterben: »Viele Nationalisten und Faschisten sind dazu aus unterschiedlichen Gründen bereit.« Eine Äußerung Umlands irritiert besonders: Die ukrainische extreme Rechte habe seit 2014 »viel gebellt, aber bisher nicht gebissen«. Dabei gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Einschüchterungen und gewalttätige Angriffe insbesondere gegen Feministinnen, LGBT-Personen, Roma, Linke und politische Gegner. Wolodymyr Ischtschenko, der als linker Kritiker des radikalen Nationalismus systematisch bedroht wurde und auf Angriffslisten gewaltbereiter Neonazigruppen steht, hat deshalb das Land verlassen und arbeitet heute an der TU Dresden. Er warnt davor, das Regiment zu verharmlosen. »Asow mag nicht gut bei Wahlen abschneiden, aber diese Bewegung ist selbst im europäischen Kontext außergewöhnlich, wenn man sich anschaut, wie organisiert sie ist, was für einen Zugang zu Waffen sie hat, und wie sie sich international vernetzt«, sagte er der Jungle World. | Paul Simon | Paul Simon: Die ukrainische Rechtsextremistin Olena Semenyaka verliert ihr Stipendium | [
"Ukraine"
] | Antifa | 04.02.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/05/kein-stipendium-fuer-die-first-lady?page=0%2C%2C1 |
Nie wieder! | An den Jahrestagen der Befreiung vom Faschismus wird wie kaum an einem anderen Tag die Gegenwart an den Hoffnungen und Idealen der Befreiten gemessen. Rosel Vadehra-Jonas, Ravensbrück 2005 Die Besonderheit des 60. Jahrestages, der in vielen Ländern mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen und Feierlichkeiten begangen wurde, findet in diesem Zitat ihren Ausgang. Für viele der Menschen, die bei Kriegsende in den Konzentrations- und Vernichtungslagern oder auf den Todesmärschen von alliierten Soldaten befreit wurden, bot sich zum 60. Jahrestag vielleicht eine der letzten Möglichkeiten, unter den Augen einer großen Öffentlichkeit über die vielschichtigen und persönlichen Erlebnisse zu sprechen, die sie miteinander verbinden. Viele der heute 80- bis 90jährigen engagieren sich seit Jahrzehnten in Opferverbänden, andere fanden erst in den letzten Jahren die Kraft, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Besonders in den Begegnungen zwischen ehemaligen Häftlingen und jungen Menschen, die dieser Tage stattfanden, aber auch in gemeinsamen und kontinuierlichen Formen des Engagements der verschiedenen Generationen, spiegeln sich die Hoffnungen der Überlebenden wider: dass ihr Wunsch und die Verantwortung, nie wieder Faschismus und Unmenschlichkeit zuzulassen, auch zukünftig weitergetragen wird. Mittlerweile sind viele Überlebende der nationalsozialistischen Gräueltaten verstorben oder zu alt, um an den Gedenktagen zu den Orten ihrer Leiden zurückzukehren. Die Männer und Frauen aus den verschiedenen Ländern, ehemalige Häftlinge und Veteranen, denen es möglich war, 60 Jahre später diese Reise anzutreten, stehen im Mittelpunkt dieses Dossiers, das dem Bildband »Begegnungen« entnommen ist. Verbunden damit ist der Wunsch, das Vergessen nicht über ihre Erinnerungen siegen zu lassen. In Zeiten der »Erinnerungskonkurrenzen«, der Gefahr von Geschichtsumdeutungen und neuer deutscher Selbstzufriedenheit wird die Bedeutung lebendigen Erinnerns neben reiner Aufklärung über die NS-Zeit offenkundig. Dies in den Vordergrund zu stellen und solche Formen der Auseinandersetzung mit den Dimensionen der Nazi-Verbrechen zu nutzen und zu erschließen, die den Erlebnissen der Augenzeuginnen und Augenzeugen gerecht werden, steht in der Verantwortung der heutigen Generation. Die Betonung dessen scheint gerade vor dem Hintergrund der aktuellen öffentlichen Debatten nötig, in denen die Opfer des Faschismus mit den deutschen Opfern des Krieges oder den Vertriebenen auf eine Stufe gestellt werden. Bestseller wie Jörg Friedrichs »Brand« oder mediale Repräsentationen des deutschen Leids wie Guido Knopps Dokumentationsreihe »Die große Flucht« leisten dazu genauso einen Beitrag wie Bernd Eichingers Film »Der Untergang«. Indem der kritische Blick auf die faschistischen Täter verstellt und ihre Verbrechen relativiert werden, muss auch 60 Jahre nach Auschwitz die Frage nach der politischen Verantwortung gestellt werden. Kann sie in einem selbstzufriedenen Umgang mit der NS-Geschichte bestehen, in dem eine »Lange-her«-Rhetorik ein Gedenken ohne Konsequenzen nach sich zieht? Oder müssen, auch jenseits der Gedenktage, die Erinnerungen der NS-Opfer immer wieder thematisiert und antifaschistisches Handeln eingefordert werden? Die Bejahung der zweiten Frage, die eng mit dem Anspruch dieses Dossiers verknüpft ist, bedarf keiner Rechtfertigung. Rechtskonservative Meinungsbilder, Neonazis in deutschen Landtagen, faschistische Organisationsstrukturen und Opferzahlen rassistischer Anschläge liefern genügend Gründe dafür. In einer deutlichen Abkehr vom Trend der Relativierung und Verallgemeinerung rücken in diesem Dossier die Einzelnen in den Blick des Betrachters, die Überlebenden des Nationalsozialismus, aber auch ehemalige alliierte Soldaten in ihrer Rolle als Befreier. Die Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag, die Momente am Rande dieser Veranstaltungen, Orte und Landschaften, die Erinnerungen wachrufen, Begegnungen mit Menschen, die das eigene Schicksal teilen oder Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte sind, bilden den Kontext der Fotografie. Die Realisierung meines Vorhabens, aus dem die Bilder entstanden, setzten die oft mehrtägige Begleitung der Porträtierten, zahlreiche Gespräche mit ihnen und einen aufmerksamen und immer neuen Situationen angepassten Umgang mit ihren Gefühlen, Erinnerungen, Interessen und Ansichten voraus. Dass dies möglich wurde, ist nicht zuletzt den vielen engagierten MitarbeiterInnen der Gedenkstätten zu verdanken, die aus ihrem Interesse an der eigenen Arbeit oft unkonventionell, spontan und durch viele Informationen die Umsetzung meiner Ideen unterstützten. Ihrem Engagement, dem der Häftlingsorganisationen und Unterstützerkreise ist es auch zu verdanken, dass viele der ehemaligen Häftlinge die Reise zu den Gedenkveranstaltungen und teilweise neu gestalteten Gedenkorten realisieren konnten. Sie ein Stück auf dieser Reise zu begleiten, war von Anfang an die Grundidee meines Herangehens. Sich darauf einzulassen, sich dem einzelnen Menschen zu nähern, kann als Gegenstück zur Abstraktheit historischer Daten verstanden werden und in Porträt- und Momentaufnahmen eine angemessene Ausdrucksform finden. Das Offizielle, das Organisierte, das bei großen Gedenkveranstaltungen schnell ins Unpersönliche abgleitet, stand dabei nicht im Mittelpunkt. Die Worte, Gedanken und Gefühle der ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager und der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der NS-Grausamkeiten sind auch nach 60 Jahren nicht Geschichte, sondern gegenwärtig. Sie sind es, die man, in Anlehnung an das Eingangszitat, nach ihren Vorstellungen und Maßstäben für eine menschliche Zukunft, aber auch für eine angemessene Gedenkkultur fragen kann und muss, solange es noch möglich ist. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Mark Mühlhaus: Begegnungen. Bildband 60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus. Herausgegeben von Arug & Attenzione. 90 Fotografien, Texte von Claudia Lübcke, 12 Euro. Bezug über www.arug.de, www.attenzione-foto.com | mark mühlhaus | mark mühlhaus: | [] | Dossier | 02.11.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/44/nie-wieder |
Wenn alle Nazis lange Haare hätten | Wenn man sich der eigenen Marginalität bewußt wird - wie auch immer -, kann das schon bitter sein. Es kann ein Kollektiv ebenso hart treffen wie das Individuum. Während sich die noch Wenigeren jedoch mit diesem Umstand arrangieren, konstruieren die meisten Wenigen Optionen, die sie entweder Ideale, Utopie, Perspektive oder - tagesaktuell - Bündnis nennen. Auf jenes Optionen-Sammelsurium beruft sich die Linke seit Jahrhunderten. Auch wenn sie dabei im nachhinein immer ins Leere geschaut hat, tut das der Sache scheinbar keinen Abbruch. In der Jungle World, Nr. 20, sinniert Hanno Martens vom Antifa-Infoblatt über die Option seines Kollegen Michael Thomas, der mit Haut und Haaren "in die Gesellschaft hineinwirken" möchte, wie er in Jungle World, Nr. 17, großspurig verkündete. Abgesehen vielleicht von der Tatsache, daß es durchaus überlegenswert wäre, inwieweit eine Linke unter Umständen in die Gesellschaft hineinwürgen sollte, kann der beschränkte Antifa-Ansatz des Kollegen Thomas wahrlich nicht froh stimmen. Das umso mehr, als sein Kollege Hanno Martens ihm mit den Worten zur Seite springt, die Gesellschaft, die deutsche zumal, sei kein "monolithischer Block". Würde es beispielsweise in Nazikreisen hip, lange statt kurze Haare zu tragen, wären die Nazis vermutlich immer noch dieselben Nazis. Nun, vielleicht nicht unbedingt beim Kollegen Hanno Martens - bei mir und bei einigen mir bekannten Leuten jedoch bestimmt. Nicht anders verhält es sich mit den von Martens angeführten Beispielen für eine mutmaßlich heterogene Gesellschaft. Als da wären, wie er schreibt, "Subkulturen, Tendenzen, Trends und auch Machtverhältnisse". Alle Genannten unterliegen nun mal einem ganz bestimmten Gesellschaftstyp, der nach mir vorliegenden Informationen immer noch Kapitalismus heißt und dessen Warenfetischismus tatsächlich die gesamte Gesellschaft durchdringt. Nun ist es so, daß diese Tatsache nur geblickt werden kann, wenn man sich in kritischer Distanz zu ihr befindet. Meinetwegen leider, aber so ist das nun mal, verhilft dazu nur Ideologie. Genau jene aber weist Kollege Hanno Martens strikt von sich, wenn er schreibt, eine antifaschistische Politik müsse sich "an den realen Gegebenheiten und nicht an moralischen Imperativen orientieren". Realpolitik ist bekanntlich das Ersaufen in Sachzwängen. Flöten geht dabei immer die Gesellschaftskritik - aber das nur am Rande. Viel schwerer wiegt hier, daß sich Martens mit der Zurückweisung eines "moralischen Imperativs" des einzig sicheren Kriteriums für gesellschaftlichen Durchblick entledigt, um ready "für Bündnispolitik" zu sein und damit folgerichtig seiner Erkenntnis Tribut zollt, "daß Gesellschaft sich aus unterschiedlichen Strömungen, Gruppierungen und Institutionen zusammensetzt und sich eben nicht nur entlang einer 'ethnischen Zugehörigkeit'" begreifen ließe. Nun ist der Wunsch, die Antideutschen, die von Martens insbesondere verteufelt werden, der Einfachheit halber Ethnozentristen schimpfen zu können, durchaus deutlich ablesbar. Aber unbeeindruckt davon schreit es schon zum Himmel, das gesellschaftlich konstitutive Element des Deutschseins so hartnäckig zu ignorieren und damit auch jegliche deutsche Spezifik zu übergehen. Alles in allem müßte Martens schon den Beweis antreten, daß das Monolithische dieser deutschen Gesellschaft tatsächlich nicht im Bekenntnis zum Deutschtum liegt. Nur wird ihm das wohl ohne Kaschierung der wirklichen Verhältnisse kaum möglich sein. Insofern wird er vermutlich auch davor zurückschrecken, seine potentiellen BündnispartnerInnen aus Gewerkschaften, Kirchen und Parteien mal danach zu befragen, welchen nationalistischen und rassistischen Organisationen sie denn da möglicherweise angehörten. Es läßt sich an fünf Fingern abzählen, wie die Bündnispolitik aussieht, für die Martens so eindringlich plädiert: Der berühmte kleinste gemeinsame Nenner, der ja keine Widersprüche aufkommen läßt und der nur zustandekommt, indem sich autonome Antifas immer wieder aufs neue selbst verleugnen und in die Tasche lügen. Hinterfragte Martens nur einmal, warum in Deutschland immer mehr durchgeknallte Arbeits-Wahnsinnige die Lohnarbeit anhimmeln und auf den Knien rutschend nach Arbeit flehen, könnte er für sich eine wichtige Entscheidung treffen: Entweder, er möchte genau zu diesen Idioten gehören, oder aber er merkt, daß er mit denen, schon des Wertekanons wegen, eigentlich nicht viel am Hut hat. Verübeln darf er mir jedoch nicht, daß ich ihm für den Fall, daß er sich für ersteres entscheidet, eher die Mitarbeit in einer Jobber-Ini empfehlen würde, weil mein antifaschistisches Verständnis durchaus um die Parallelität des normalen deutschen Arbeitsethos und das der Nationalsozialisten weiß. Gerade weil auch Martens "die Verantwortung, die wir den Opfern des Nationalsozialismus (Ö) gegenüber haben", anmahnt, möchte ich ihm mit auf den Weg geben, daß das Werben für den Ausstieg aus der deutschen Volksgemeinschaft genau dieser Verpflichtung nachkommt. Dazu gehört aber eben auch zu sagen, daß Arbeit grundsätzlich scheiße und mit den Deutschen kein Nationalsozialismus zu stoppen ist. Ich gebe Martens recht, wenn er schreibt, daß auch eine radikale Linke letzteres nicht vermag und das Festhalten daran eine "Illusion" ist. Trotzdem, und das macht einen Bruch mit den Traditionen der deutschen Linken unumgänglich, taugt gerade der Topos Nie-wieder-Deutschland zum tatsächlich individuellen Imperativ eines radikalen Linken in Deutschland. Der Autor ist in der sächsischen Antifa aktiv. Zum Thema erschienen Beiträge in Jungle World, Nr. 17, 20 und 21/98. | kay claus | kay claus: | [] | Antifa | 27.05.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/22/wenn-alle-nazis-lange-haare-haetten?page=0%2C%2C3 |
Linkspartei XL | Es geht ums Pferd. Man muss es präzisieren: Es geht um ein silbernes Ross auf weißem Hintergrund. Die niedersächsische CDU verwendet es im derzeitigen Wahlkampf in ihrem Logo. »So nicht!« schimpft die Linkspartei. Denn das Pferd erinnere an das niedersächsische Wappentier. Und das dürfen dem Wappengesetz des Landes zufolge »nur die Dienststellen des Landes führen oder in sonstiger Weise verwenden«. In einem Brief an die Staatskanzlei in Hannover verlangte die Linkspartei deshalb am vergangenen Freitag, »die missbräuchliche Anwendung des Wappentiers zu unterbinden«. Das leuchtet ein. Das Pferd ist ja irgendwie auch öffentliches Eigentum. Wenn niemand die CDU in die Schranken weist, privatisiert sie das Wappen vielleicht in der nächsten Legislaturperiode und verhökert den Gaul einfach an die meistbietende Heuschrecke. Deshalb: Pferd statt Profit! Der Kampf für die ordnungsgemäße Verwendung des niedersächsischen Stammesmaskottchens dient einem höheren Ziel: Bei den »Winterwahlen«, wie die Linkspartei die Landtagswahlen in Niedersachsen, Hessen und Hamburg im Januar und Februar schicksalsträchtig nennt, möchte sie wie in Bremen im Mai 2007 ins Parlament gelangen. »2007 war das Jahr der Linken«, resümierte der Bundestagsabgeordnete Dietmar Bartsch auf der abschließenden Pressekonferenz der Partei im Dezember. Auch der Parteivorsitzende Lothar Bisky gab sich auf derselben Veranstaltung stolz: »Wir haben 2007 erfahren: Die Linke wirkt!« Man habe in Bremen über acht Prozent der Stimmen erhalten, Wasg und PDS im Juni vereinigt und zum Ende des Jahres einen Anstieg der Mitgliederzahl auf über 72 000 verzeichnet. Bartsch frohlockte: »Wir haben im Jahre 2007 Deutschland und auch Europa ein Stück weit verändert. Das Jahr 2008 soll dann ein noch besseres Jahr werden.« Der Parteiapparat steht, das politische Personal brennt auf Taten. »In diesem Lande ist alles möglich – sogar Sozialismus!« verkündet Manfred Sohn, einer der Spitzenkandidaten in Niedersachsen, auf der Homepage des Landesverbands. Welche Form des Sozialismus ihm vorschwebt, lässt sich erahnen: Sohn war Mitglied im Marxistischen Studentenbund Spartakus, später im Sekretariat des Parteivorstands der DKP. Aber vor allem ist er Gewerkschafter. Das marxistisch-leninistische Hohelied auf die monotone Maloche hat er jedenfalls verinnerlicht: »Seit fast 20 Jahren arbeite ich im selben Betrieb.« Andere Landstriche als Niedersachsen sind nicht unbedingt nach seinem Geschmack: »Ich habe mein ganzes Leben in diesem Bundesland gelebt.« Er sieht es als seine Aufgabe, sich »für ein gerechteres, friedlicheres, waffen- und AKW-freies Niedersachsen« einzusetzen. Seine Ausführungen enden kämpferisch-romantisch mit: »Venceremos!« Überhaupt scheint eine ehemalige Mitgliedschaft in der DKP von Vorteil gewesen zu sein, um einen vorderen Platz auf der Landesliste der Linkspartei in Niedersachsen oder Hessen zu erhalten. Fast ein Viertel der Spitzenkandidatinnen und ‑kandidaten in den beiden Ländern kann auf eine Zeit in der »Partei des arbeitenden Volkes« verweisen. Ein weiteres Viertel der Bewerberinnen und Bewerber hat sich auf den Oster- und Friedensmärschen der Siebziger und Achtziger Blasen gelaufen, wie etwa der hessische Spitzenkandidat Willi van Ooyen. Den ersten Listenplatz der Hamburger Linkspartei besetzt Dora Heyenn. »1971 trat ich in die SPD ein – die schleswig-holsteinische SPD Jochen Steffens!« gibt sie Auskunft über sich. 1999 ist sie aus der Partei ausgetreten und zählt sich selbst zum Kreis der »vielen enttäuschten Gewerkschaftler und Sozialdemokraten«. Sie ist nicht die einzige Kandidatin der Linkspartei in Hessen, Niedersachsen und Hamburg, die nostalgisch auf den westdeutschen Klassenkompromiss zurückblickt. Gewapptnet sind die Bewerberinnen und Bewerber der Linkspartei mit einem »positiven Image«, dessen fünf Merkmale der Parteivorstand bereits im vergangenen Jahr angesichts der bevorstehenden Wahlen in einem Beschlusspapier herausgestellt hat: »Die Linke ist eine neue Partei. Die Linke ist die Partei der sozialen Gerechtigkeit, der kleinen Leute. Die Linke ist Antikriegspartei. Die Linke ist eine Partei, die in der Öffentlichkeit durch ihre führenden Politikerinnen und Politiker überzeugend repräsentiert wird. Die Linke ist eine erfolgreiche Partei.« Dass sich in den gegenwärtigen Wahlkämpfen die NPD ganz ähnlich als die »Partei des kleinen Mannes« vorstellt und in Fragen des Mindestlohns, der Arbeitsmarkt- und Wohnungspolitik, der direkten Demokratie und des Umgangs mit multinationalen Konzernen und dem Finanzkapital Nähe zur Linkspartei aufweist, dürfte diese nicht sonderlich stören. Schließlich legen die Landesverbände auf den hinteren Seiten ihrer Programme die üblichen, folkloristischen Bekenntnisse zum Antifaschismus ab. In den vorderen Teilen wird mit Zuschnitt auf das jeweilige Bundesland die Generallinie heruntergerattert: Arbeit für alle schaffen, Sozialstaat retten! Denjenigen, die in einem regulären Arbeitsverhältnis stehen, versprechen die Landesverbände, Bundesratsinitiativen für den gesetzlichen Mindestlohn einzubringen. Wer keine Arbeit hat, muss auch nicht traurig sein: Die hessische Linkspartei stellt in ihrem »Aktionsprogramm« in Aussicht, jährlich eine Milliarde Euro in den öffentlichen Beschäftigungssektor zu investieren, die niedersächsische verspricht die gleiche Maßnahme, hält sich jedoch mit genauen Beträgen zurück. So soll die Trutzgemeinschaft aus arbeitender Bevölkerung und starkem Staat letztlich die Unbill der globalen Wirtschaft abwehren. Verziert wird das von der Partei hinlänglich bekannte Plädoyer für die etatistische Krisenlösung in den Programmen mit Floskeln der Betroffenheit über die »Kälte des entfesselten Markts« und heimeligen Phantasien von »solidarisch organisierten Gemeinwesen«. Doch nicht nur die »soziale Gerechtigkeit« ist ein Anliegen der Linkspartei. In Niedersachsen und Hessen hat sie die Ökologie für sich entdeckt. Das dürfte die Attraktivität für manchen enttäuschten, ehemaligen Wähler der Grünen steigern. Der hessische Verband hat seinem Programm ein kleines ökologisches Manifest beigefügt: »10 Punkte für ein ökologisches Hessen: Mensch, Tier und Natur vor Profit!« Bei den Parteikollegen aus dem nördlicheren Bundesland heißt der betreffende Abschnitt: »Im Einklang mit der Natur!« Während die Hessen den drohenden »Kali-Tod der Werra« aufgreifen, warnt man in Hannover: »Niedersachsen darf nicht das Atomklo Deutschlands werden!« Neben dem schnellstmöglichen Ausstieg aus der Erzeugung von Atomenergie und dem Gewässerschutz befürworten die Verbände den biologisch-dynamischen Ackerbau, die Vermehrung von Feuchtbiotopen und die »intensivere Mülltrennung«. Nicht ausgeschlossen, dass die Linkspartei mit solchen Programmen sogar Erfolg haben wird. In Hamburg werden ihr für den 24. Februar sieben, in Hessen für den 27. Januar fünf bis sechs Prozent der Stimmen vorhergesagt. Bei den am selben Tag stattfindenden Wahlen in Niedersachsen könnte die Partei den derzeitigen Umfragen zufolge an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Beim Landesverband gibt man sich aber zuversichtlich. Auch auf der Bundesebene sind markige, optimistische Töne zu vernehmen. Dort arbeitet man zudem schon den Bundestagswahlen 2009 entgegen. Dann soll das Ergebnis nämlich heißen: »10 Prozent plus XXL!« | Markus Ströhlein | Markus Ströhlein: | [] | Inland | 10.01.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/02/linkspartei-xl?page=0%2C%2C2 |
Homestory #31 | Brummbrumm!
Wie Sie, liebe Leserin, lieber Leser, wahrscheinlich wissen, wenn Sie an dieser Stelle immer aufmerksam die Berichte aus dem Innenleben Ihrer Lieblingswochenzeitung verfolgen, arbeitet der größte Teil der Redaktion noch immer im Homeoffice. Zuweilen kommt es dabei zu slapstickhaften Situationen. So fragte sich ein Kollege kürzlich während der für das Homeoffice obligatorischen Telefonkonferenz, wo er denn sein »zweites Gehirn« habe: »Wo ist es denn bloß?« Lautes Scheppern zeugte von einer verzweifelten und aufwändigen Suchaktion unter Tischen und Stühlen, ehe das zweite Gehirn alias Smartphone im Büro vermutet wurde, wo der Kollege am frühen Morgen schnell noch ein Interview transkribiert hatte. Doch ehe die wenigen Mitglieder des Jungle World-Kollektivs, die sich im Redaktionsbüro aufhalten, sich an Ort und Stelle als Suchhunde betätigen mussten, fand sich das Gerät doch noch an. Wieder angefunden hat sich auch unser kleines Gespenst aus der Leitung (Jungle World 27/2020). Zwischenzeitlich fast in Vergessenheit geraten, war der geisterhafte Brummton plötzlich zurück. Just als ein Kollege betonte, dass ein bestimmter Kommentar im Blatt aber mal stärker das herrschende politisch-ökonomische System unter die Lupe nehmen müsse, meldete sich der Brummer an strategisch günstiger Stelle zu Wort. Der Dialog ging ungefähr so: Redakteur: »Kapitalismus abschaffen!« Redaktionsgeist: »Brumm! Brummbrumm!« Tja, ob das nun der Qualität der Kritik am Kapital zuträglich war, mögen andere entscheiden. Die Redaktion der Jungle World hat sich jedenfalls entschieden, zur Diskussion wichtiger Zukunftsfragen (Wann gibt es endlich einen Coronaimpfstoff? Wie geht es weiter mit der Klimakrise? Wann ist Schluss mit dem Kapitalismus?) nach Wochen des social distancing mal wieder zu einem physischen Treffen zusammenzukommen. Aber ach, es ist alles schwierig. Der Konferenzraum ist fensterlos, hat also das höchste Infektionspotential überhaupt. In Parks wiederum kommt wenig Arbeitsatmosphäre auf. Ein großer Garten mit Regenschutz – das wäre es. Virtuell blicken sich alle betreten an. Nein, so was hat leider niemand zu bieten. Schließlich soll es der Innenhof des ehemaligen Fabrikgebäudes richten, in dem Ihre Lieblingszeitung residiert. Mit Abstand? Ja, könnte klappen. Mit Masken? Da sind die Meinungen wieder geteilt. Am Ende erscheint einigen der Beteiligten die Belästigung durch den Redaktionsgeist bei den Telefonkonferenzen schon als das kleinere Übel. Brummbrumm! | : | [
"Homestory",
"homeoffice"
] | Homestory | 30.07.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/31/homestory-31?page=0%2C%2C1 |
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Milizen in Rios Parlament | »Freiheit für Lula! Marielle ist anwesend!« Unter diesem Motto demonstrierten am vorvergangenen Mittwoch Tausende Menschen in São Paulo. Aufgerufen hatten politische und zivilgesellschaftliche Gruppen, darunter die Arbeiterpartei (PT) und der Gewerkschaftsdachverband CUT. Für die kommenden Wochen sind ähnliche Proteste im ganzen Land geplant. Demonstriert wurde gegen die Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (PT) vor zwei Wochen und für die Aufklärung des Mordes an Marielle Franco, einer Stadträtin Rio de Janeiros von der sozialistischen Partei PSOL, einer Linksabspaltung des PT, vor einem Monat.
Dass die Schicksale der beiden zusammen thematisiert werden, ist kein Zufall. In der Lesart der brasilianischen Linken ist die umstrittene Verhaftung da Silvas ein Beispiel für die politisch-juristische Verfolgung der Linken. Der Mord an Franco ist ein Beispiel für die Verfolgung von Linken mit brutaler Gewalt. Inzwischen deuten etliche Indizien darauf hin, dass am Mordkomplott gegen Franco einige ihrer Kollegen beteiligt waren. Die Mordkommission ermittelt auch im Umfeld einiger Stadträte von Rio de Janeiro. Am 4. April wurden unter anderem die Stadträte Marcello Siciliano, Jair Barbosa Tavares (beide von der Humanistischen Solidaritätspartei, PHS) und Cristiano Girão Matías (Sozialdemokratische Christliche Partei, PSDC) verhört. Im Abschlussbericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission des Stadtparlaments zum Milizwesen aus dem Jahr 2008 wurde Barbosa Tavares verdächtigt, mehrere Milizen im Norden Rio de Janeiros anzuführen. Dem Stadtrat Girão Matías wird vorgeworfen, die Miliz im Viertel Gardênia Sul anzuleiten. Sicilianos Wahlkreis liegt im Viertel Jacarepaguá, wo die Milizen sehr stark sind. Die Milizen in Rio sind kriminelle Vereinigungen, die von ehemaligen und aktiven Polizisten, Soldaten und Feuerwehrleuten geführt werden. Ursprünglich wurden sie in den siebziger Jahren von Vereinigungen von Geschäftsinhabern gegründet. Diese heuerten Polizisten als privates Sicherheitspersonal an, um sich gegen die Expansion der Drogenmafias zu schützen. Doch schnell verselbständigten sich die Milizen, sie sind inzwischen hauptsächlich in kriminellen Geschäften aktiv, insbesondere in den armen Vierteln im Norden der Stadt. Sie erpressen vor allem Schutzgeld. Wo sie sich etabliert haben, kann man kaum eine Dienstleistung – von Kabelfernsehen bis zur Kochgaslieferung – erhalten, ohne eine »Steuer« an die lokale Miliz zu entrichten. Wer sich nicht beugen will, wird terrorisiert, gefoltert oder getötet. Dennoch propagieren die Milizionäre weiterhin ihr Image als »Saubermänner«, die die Bevölkerung vor den Drogenmafias schützten.
Immer stärker drängen die Milizen in die Politik. In den von ihnen kontrollierten Vierteln dürfen nur Kandidaten Wahlkampf machen, die von den Milizen akzeptiert werden und mit ihnen in Verbindung stehen. Manchmal kandidieren auch mutmaßliche Milizchefs selbst für politische Ämter, meist auf der Liste rechter Splitterparteien – dies ist auch der Vorwurf, der gegen Barbosa Tavares und Girão Matías erhoben wird. Wegen des wachsenden Einflusses der Milizen in allen gesellschaftlichen Bereichen hatte das Stadtparlament von Rio de Janeiro im Jahr 2008 eine Untersuchungskommission ins Leben gerufen. Ihr stand der Abgeordnete Marcelo Freixo vom PSOL vor. Marielle Franco war damals seine Assistentin und arbeitete intensiv in der Kommission mit. Auch nachdem sie 2016 selbst als Abgeordnete ins Stadtparlament gewählt worden war, setzte sie sich gegen Polizeigewalt und Milizwesen ein. Aus diesem Grund ermittelt die Polizei im Mordfall Franco intensiv in Richtung der Milizen. Die hohe Professionalität des Mordes an der Stadträtin legt nahe, dass die Täter in der polizeilichen Beschattung von Personen geschult waren. Am Abend des vorvergangenen Sonntags wurde schließlich ein Mitarbeiter Sicilianos, Carlos Alexandre Pereira Maria, ermordet. Er war der Kontaktmann des Stadtrats zur Bevölkerung im Viertel Jacarepaguá. Zeugen berichteten, die Täter hätten kurz vor dem Mord gerufen: »Dem müssen wir auch noch das Maul stopfen!« Das könnte ein Indiz sein, dass ein potentieller Zeuge ermordet wurde – oder dass die Täter eine falsche Fährte legten. In brasilianischen Medien stehen die Korruptionsvorwürfe gegen die Arbeiterpartei und ihren Präsidentschaftskandidaten da Silva im Fokus, die tiefe Verstrickung kleiner rechter Parteien in mafiöse Strukturen in Rio de Janeiro dagegen wird kaum thematisiert. So ist es zumindest verständlich, dass die brasilianische Linke von einer politischen Verfolgung da Silvas durch die Justiz spricht. Auf jeden Fall ist es angemessen, beide Fälle auf Demonstrationen zu thematisieren. | Thilo F. Papacek | Thilo F. Papacek: Die Ermittlungen zum Mord an der Politikerin Marielle Franco offenbaren den Einfluss von Milizen in der brasilianischen Politik | [
"Brasilien",
"Marielle Franco",
"Luiz Inácio Lula da Silva"
] | Ausland | 19.04.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/16/milizen-rios-parlament?page=0%2C%2C0 |
Im Osten | Die Kusine ist aus Südamerika zurückgekehrt und hat eine Menge zu erzählen. Da ging es jedenfalls hoch her! Mit dem Schulleiter ihrer Kinder an der deutschen Schule allerdings waren sie nicht so ganz zufrieden. Der hat als Erstes einen Mercedes gekauft und für drei Jahre in die Garage gestellt. Danach durfte er den im Lande verkaufen; bis dahin waren da 400 Prozent Zoll drauf. Da hat er dann einen schönen Schnitt gemacht, aber wenn man im Ausland ist, möchte man sich ja auch mal was gönnen. Was sie nicht so gut fanden: Im Winter hat er alle Öfen aus den Klassenzimmern entfernt - in Südchile ist es manchmal sehr kalt, aber ich sage immer, es ist einem nicht kalt, wenn man nur die richtige Kleidung anhat - und hat sie in seinem Bootshaus wieder aufgestellt, damit seine frischgestrichene Yacht trocknen konnte. Es ist sehr wichtig, dass eine Yacht gleichmäßig trocknen kann, sonst verzieht sich alles, und das sieht nicht schön aus, das konnten letztlich auch die Eltern einsehen. Dass er die Schulbediensteten dazu gebracht hat, sein Wohnhaus zu renovieren und einen Bach mitten durch sein Wohnzimmer fließen zu lassen, konnten sie auch noch gerade tolerieren, immerhin war das ja eine gute Idee und fast schon ökologisch oder was. Und es war zwar traurig, dass einer der Schuldiener, die er dazu abgestellt hatte, seine Pferde einzureiten, dabei zu Tode gestürzt war, aber das waren erwachsene Männer, die wahrscheinlich recht wild mit den Pferden umgegangen waren. Kurz und gut, er hätte sicher noch endlos so weitergemacht, wenn er nicht blöderweise ein Verhältnis mit der Frau des Schulpräsidenten angefangen hätte. Da ging es ihm an den Kragen. »... und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir: Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen ... und ich lächelte und war froh und es kam schlimmer.« Kam es aber nicht wirklich, denn er wurde zurück nach Deutschland versetzt und wurde dort Schulrat. Im Osten. »Das ist ja noch gar nichts«, sagt Torsten, er sagt immer, wenn ich was Interessantes erzähle: »Das ist ja noch gar nichts« und fängt dann selber an: »In K. ...« Die Geschichte kenne ich schon, von dem Oberbrandmeister, der eine private Öl-Feuerwehr hatte, also, das ging alles auf sein Sparbuch, was die so machten, z.B. umgestürzte Tanklaster, ausgeflossenes Benzin ... der hatte diverse Feuerwehrleute mit gefährlichen Übungsaufgaben betraut, und einer ist dabei abgestürzt ... der Brandmeister hatte Verbindungen in allen Parteien, dem konnte man nichts, aber diesmal doch, und da kam er eben auch in den Osten. (Wo haben wir eigentlich all diese Leute hingesteckt, als wir noch keinen Osten hatten?) Da hat er wieder dasselbe gemacht, Oberbrandmeister, eigene Öl-Feuerwehr und so weiter. Bloß dass ihm eines Tages eine Frau mit ihrem Fahrrad ins Auto gebrettert ist, die war dann tot. Er hat davon nichts gemerkt, hat aber vorsichtshalber den Wagen ein halbes Jahr lang in der Garage stehen gelassen. Irgendwie ist es dann doch rausgekommen, und er hat ein Jahr auf Bewährung gekriegt. So kann es im Leben zugehen, man macht diesen oder jenen Fehler, bereut ihn vielleicht sogar, aber zum Schluss wird alles gut. Oder beinahe. Im Osten. | : Fanny Müller über alles | [] | dschungel | 22.08.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/34/im-osten?page=0%2C%2C2 |
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Einer boxte sich durch | Elf Jahre war Ole Klemetsen alt, als das Parlament seines Herkunftslandes eine Entscheidung traf, die das spätere Berufsleben des Jungen beeinträchtigen sollte: Im Jahr 1981 wurde das Profiboxen in Norwegen verboten. Die Abgeordneten des norwegischen Parlaments orientierten sich bei ihrer Entscheidung an den schwedischen Nachbarn, die bereits im Jahr 1970 professionelle Faustkämpfe gesetzlich untersagt hatten. Der damaligen Entscheidung sei »keine nennenswerte gesellschaftliche Diskussion vorangegangen«, beschrieb ein Pressesprecher des norwegischen Innenministeriums 20 Jahre später die große öffentliche Zustimmung in einem BBC-Interview: »Es gab keine Kritik an dem Gesetz, im Gegensatz zu heute, wo man generell gesetzlichen Beschränkungen der individuellen Freiheit skeptisch gegenübersteht.« Außer in den beiden skandinavischen Ländern ist das Profiboxen in Ländern wie Nordkorea und dem Iran verboten. Dass sich Norwegen freiwillig in die Gesellschaft dieser Schurkenstaaten begeben hat, störte bislang keinen Politiker. Im Gegenteil, die Regierung sieht die Gesundheitsgefahren, die damals zu dem Gesetzesentwurf geführt haben, noch immer als ein wichtiges Thema an. Und sie plant, als Reaktion auf eine heftig geführte Debatte über »Knockout Sports«, zusätzlich das professionelle Kickboxen zu verbieten. Da halfen auch klare Worte des derzeit besten norwegischen Boxers Kim Jenssen nicht, der das Verbot als »dumm« bezeichnet und erklärte, »keinerlei Respekt vor den Politikern und allgemein den Menschen« zu haben, die »keine Ahnung von professionellem Boxen haben, aber entscheiden wollen, was für mich und die anderen Profis, die wir einfach nur von unserem Sport leben wollen, am besten ist«. Was Ole Klemetsen an dem Tag tat, an dem das Parlament entschied, dass sein späterer Job illegal sei, kann nur vermutet werden. Vielleicht trainierte er in seinem Boxverein, vielleicht wurde er aber auch ausgeschimpft, weil er eine Klassenarbeit versiebt hatte – ein besonders guter Schüler war er schließlich nie. Dafür ein sportliches Talent. Zunächst wollte er Bergsteiger werden, aber nachdem er im Alter von 14 Jahren norwegischer Boxmeister der Amateure geworden war, dürfte seine Berufswahl festgestanden haben. Jahre später wird er auf Äußerungen moralisch empörter Boxgegner, die ihm als Weltmeister vorwarfen, eine lebensgefährliche und menschenverachtende Sportart zu betreiben, sagen: »Ich boxe, seit ich ein kleiner Junge bin, für mich ist das ein Teil meines Alltags. Aber natürlich ist das kein Sport für jedermann. Ich fürchte mich nur vor Niederlagen, denn die sind das Ekligste, was man sich vorstellen kann. Sonst habe ich keine Angst.« Wie aber kam er dazu, in einem derart boxfeindlichen Land ausgerechnet Boxer zu werden? Die Karriere des Mannes mit dem Spitznamen »Lukkøye« (auf Deutsch: Sandmann) lässt sich nur vor dem Hintergrund seiner Familiengeschichte erklären. Das sagt jedenfalls der Autor Bjørn-Erik Hanssen, der die Biographie des berühmtesten Boxers Norwegens verfasste. Er meint: »Die Triebfeder vieler erfolgreicher Boxer ist Hass, sie kommen aus dem Ghetto und kämpfen, um zu überleben. Der physische Schmerz, den sie dabei erleben, gleicht den inneren Schmerz aus. Ole ist dagegen eine Art Zirkusartist. Er boxte, weil er Spaß daran hatte und das Publikum unterhalten wollte. Das hat mir erst seine Familiengeschichte klargemacht.« Klemetsens Opa jobbte als Musiker, Kirmeshelfer und Rummelplatzboxer, Fischer und Hafenarbeiter, während er gleichzeitig politisch aktiv war. In den zwanziger Jahren trat er in die Kommunistische Partei Norwegens (NKP) ein und blieb dort auch noch Mitglied, als er sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Geschäftsmann selbständig machte. Sein Sohn John, der Vater von Ole Klemetsen, trat ebenfalls der NKP bei, mit allen Konsequenzen: »Beim 1. Mai-Umzug war er immer mit dabei und demonstrierte für höhere Löhne für die Werktätigen – während seine Angestellten lachend am Straßenrand standen.« John Klemetsen hatte aber auch noch eine andere Seite. In den sechziger Jahren war er als Musiker landesweit bekannt, seine Johnny-Band schaffte es mit dem Stimmungs-Hit »Ola var fra Sandefjord« in die Charts, und noch heute kann man ihn als Alleinunterhalter buchen. Ole Klemetsen hingegen verlegte sich aufs Boxen. Im Jahr 1992 nahm der Mittelgewichtler an den Olympischen Spielen teil. Obwohl er keine Medaille gewann, wurde er anschließend Profi. Und zwar in Dänemark, weil dort das Profiboxen erlaubt ist. So konnte er nie vor heimischer Kulisse antreten, sondern musste seine Kämpfe grundsätzlich im Ausland austragen. Seine norwegischen Fans organisierten Reisen nach Dänemark oder England, denn natürlich wurden die Fights um Titel wie WBC oder IBF International Light Heavyweight nicht im staatlichen Fernsehen übertragen. Beklagt hat sich der »Sandmann« mit der Kampfbilanz von 45 Siegen, 6 Niederlagen und 36 KOs darüber nie. Allerdings verlegte er einmal einen Schaukampf auf eine Fähre und boxte los, sobald das Schiff internationale Gewässer erreicht hatte. Die sportlichen Erfolge führten dazu, dass sich die norwegische Öffentlichkeit für ihn zu interessieren begann. Die Zeitungen schickten ihre Berichterstatter zu seinen Kämpfen und porträtierten den »Klemetsen-Klan«, der hauptsächlich aus dem Vater John, der seinen Sohn managte, und einem für gute Laune sorgenden Onkel bestand. War die Familie anfangs noch sehr stolz auf ihren berühmten Spross, so änderte sich das schlagartig, als er den Medien ein sorgsam gehütetes Geheimnis lüftete: Ihre Vorfahren waren so genannte Tater, wie die Roma in Norwegen verächtlich genannt wurden. »50 Jahre haben wir darüber geschwiegen, war es wirklich nötig, diese Geschichten an die Öffentlichkeit zu zerren?« sollen Klemetsen manche Familienmitglieder damals gefragt haben, berichtete ein Journalist. Das Schweigen hatte durchaus einen Grund, denn noch in der Nachkriegszeit wurden die Roma nicht nur diskriminiert, sondern von den Behörden regelrecht verfolgt. Erst vor einigen Jahren wurde bekannt, dass Roma-Kinder noch in den sechziger Jahren grundlos aus ihren Familien gerissen und in Heime gebracht und einige Mädchen dort sogar zwangssterilisiert wurden, weil Beamte fanden, dass ihr Lebensstil dem der Norweger nicht entsprach. Gesprochen wurde darüber in der Familie Klemetsen nicht, und Ole fiel es auch später nicht ein, seine prominente Stellung zu nutzen, Entschädigungszahlungen für die damaligen Opfer zu fordern. Nachdem seine Karriere am 16. Juni 2001 mit einer K.O.-Niederlage in der zweiten Runde gegen Thomas Hansvoll endete, engagierte er sich allerdings durchaus politisch, und zwar ausgerechnet für die rechtskonservative Anti-Einwanderungspartei »Demokratene«. Deren Vorsitzenden Jan Simonson hatte er bei einer Prominenten-Staffel von »Robinson« kennen gelernt, einer in Skandinavien extrem erfolgreichen Doku-Soap, die auf einer Insel spielt. Er habe mit Simonson in seiner Zeit auf der einsamen Insel »lange Gespräche über das Leben und die Politik geführt und dabei viele Gemeinsamkeiten entdeckt«, sagte Klemetsen, der sich eigentlich nur für die Partei engagieren wollte, um seinem neuen Kumpel zu einem Parlamentssitz zu verhelfen. Auf die Frage nach dem Wahlprogramm musste er entsprechend passen: »Ich habe keinen hundertprozentigen Durchblick, wofür die Demokratene stehen, aber damit werde ich mich noch beschäftigen.« Aber sein Engagement nutzte nichts – die »Demokratene« erreichten lediglich 2 706 Stimmen und damit knapp 0,1 Prozent. Mittlerweile arbeitet der »Sandmann« als Boxtrainer in einem Martial Arts Gym in Stavanger und führt nach eigenen Angaben ein »sehr glückliches Leben«. | Elke Wittich | Elke Wittich: | [] | Sport | 28.03.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/13/einer-boxte-sich-durch?page=0%2C%2C0 |
Hatte Punkpause | Hey, hallo Andi! Lange nicht gesehn.«
»Hallo! Ja, ich weiß. In den letzten Monaten habe ich mich fast aussschließlich mit Schelllackplatten beschäftigt. Wird Zeit, dass ich ein paar neue Platten kaufe.«
»Gern. Sind grad ’ne Menge neuer Singles reingekommen.«
»Kannst du irgendwas empfehlen?«
»Ja, hier zum Beispiel Black Lungs ›Valley Of The Dolls/Stay Out Of Parkdale‹ auf Deranged. Rockt ohne Ende. Beide Seiten voll geil! Brat Farrar aus Australien auf P. Trash sind auch super. ›It’s On Me‹, isn’t it? Die Crusades, sehr schnell, aber eingängig und poppig. Ebenfalls toll. Auf Scared To Death.«
»Klingt gut. Nehm’ ich. Und was ist das hier?«
»Oh, die sind cool. Särkyneet aus Finnland.«
»Wow! Die machen ja reinen Pop. Die klingen so wie eine finnische Version von Masshysteri. Dabei ist Combat Shock eher ein Punklabel. Schön.«
»Hey, Andi! Ach, da lauf’ ich allein in der Sadt rum, und hier sind sie alle!«
»Hey!«
»Wie geht’s? Lange nicht gesehn.«
»Ich hatte Punkpause. Aber jetzt bin ich wieder heiß. Kannst du irgendwas empfehlen?«
»Hast du die schon? Vaccines ›Human Hatred‹ auf Painkiller. Straightedge Hardcore. Superbrutal. Hammer! Die machen keine Gefangenen.«
»Wahnsinn! Nehm’ ich.«
»Aber völlig irrsinnig sind die hier: Insurgents ›Fad Cash‹. Total durchgeknallte Australier. Superschnell, superaggressiv, superschräg.«
»Musst du haben!«
»Na, wenn ihr beide die empfehlt, dann leg ich die ungehört zu meinem Stapel dazu.«
»Und wie ist die hier? Iron Lung bringt ja eigentlich nur gutes Zeug raus.«
»No Statik? Super! Superaggrohardcore. Die B-Seite ist ganz anders, aber auch interessant: Trance-Punk. Taucht auch mehrfach in den 2010er Top-Ten-Listen von Maximum Rock’n’Roll auf.«
»Und hier … Whatever Brains? Sorry State war ja eher für Early-Eighties-Hardcore bekannt.«
»Die ist eher schräg. Der Sänger singt richtig schön, aber dann kippt das in so’n kaputten Kunst-Punk.«
»Ich find’s cool. Man merkt, dass die mehr sein wollen als Retro. Und wie ist die Brain Flannel auf Static Shock Records?«
»Trio aus North Carolina. Treibend, wütend und mit schönem weiblich/männlichem Harmoniegesang. ›Restraining Order‹ ist ein Knaller.«
»Hast du auch was Neues aus Berlin?«
»Dramamine sind aus Berlin. Klingen hymnisch, modern, treibend und sehr eingängig. Ganz toll. Nicht ganz so modern, aber genauso eingängig sind die Modern Pets. Klingen wie die Berliner Briefs. ›The Famous Beach Of Doom‹ ist ein richtiger Sommerhit über einen Strand in Berlin. Auch auf P. Trash. Blood Robots, sind Berliner, klingen aber wie coole Indie-rockende Briten. Zwei tolle Songs. Auf Zeitstrafe.«
»Tja, das wär’s. Ich glaube, ich bin satt.«
»Hier, die musst du noch haben. Brausepöter waren mal ’ne Zick-Zack-Band, aber diese Single ist nie erschienen. Erst jetzt. ›Bundeswehr‹ und ›Keiner kann uns ab‹ sind zwei wunderschöne schrammelige deutsche Punkstücke, die es nicht verdient hatten, 30 Jahre unveröffentlicht zu bleiben.«
»Okay. Jetzt ist aber wirklich genug. Wie viel macht das?« | Andreas Michalke | Andreas Michalke: | [] | dschungel | 17.03.2011 | https://jungle.world//artikel/2011/11/hatte-punkpause |
Die Mitte bebt | »Alerta, alerta antifascista«! Jan »Monchi« Gorkow von der Band Feine Sahne Fischfilet (l.) und der Rapper Marteria beim »Wir sind mehr«-Konzert in Chemnitz, 03. September Ein Mensch wird in Chemnitz getötet. Demonstrationen »zu seinem Andenken« finden statt, über diese wird zwei Wochen lang berichtet und die ganze Republik scheint sich einig darüber zu sein, dass weite Teile der Republik dieses »Trauern« nicht recht verstünden. Die Politik verspricht, sich des Problems anzunehmen. Woher kommt die ganze Trauer? Was unterscheidet den Toten von Chemnitz von all den anderen, die mit Gewalt um ihr Leben gebracht wurden? Die Antwort darauf ist der Öffentlichkeit einigermaßen klar: Das Opfer war Deutscher, die mutmaßlichen Täter hingegen gehören der Gruppe an, gegen die seit Monaten immer deutlicher Stimmung gemacht wird, längst auch bis in die linksliberale Öffentlichkeit hinein. Es handelte sich um Flüchtlinge. Die Parole »Wir sind mehr« ist nicht nur in Anbetracht der tatsächlichen Zahlenverhältnisse bei vielen Konfrontationen fragwürdig. Es bestätigt sich zudem, dass die AfD nach Chemnitz nicht etwa Einbußen in den Wahlumfragen erleidet, sondern sogar zulegt. Jede Eskalation, die die Rechten herbeiführen können, bestätigt sie in ihrer These, dass es einen starken Staat brauche. So fragte etwa die Wochenzeitung Die Zeit noch unlängst ihre Leserschaft ganz unverfänglich und dem demokratischen Diskurs verpflichtet, ob es nicht längst überfällig sei, auch einmal Geflüchtete ertrinken zu lassen, um andere von der gefährlichen Überquerung des Mittelmeers abzuhalten. Freilich war die Fragestellung – »Seenotrettung: Oder soll man es lassen?« – nur als provokanter Debattenbeitrag gemeint, aber sie sprach all denjenigen aus der Seele, die sich schon länger fragten, ob man den Schutz von Flüchtlingen mit dem Wenigen, was der Rechtsstaat für sie bereit hält, nicht auch einmal lassen könnte. Als Zeichen der Trauer und ausgelöst durch die Tötung von Daniel H. in Chemnitz kam es zu den Szenen, von denen Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer in einer Regierungserklärung im Landtag am 5. September in aller Bestimmtheit sagte, es habe sie nicht gegeben: Es sei »kein Mob« in Erscheinung getreten, es hätten »keine Hetzjagd« und »keine Pogrome« stattgefunden. Angesichts der rassistisch motivierten Verfolgungsjagden, all der Hitlergrüße und der 6 000 Trauernden, die mit Sätzen wie »Ausländer raus« und »Unser Schlachtruf heißt Töten« durch Chemnitz zogen, war Kretschmers Klarstellung in Sachen der Wortwahl tatsächlich notwendig. Schließlich galt es auch zu rechtfertigen, weshalb die sächsische Polizei nur mit 300 Beamten zugegen war, um die Rechtsextremen in Schach zu halten, was dann auch nur notdürftig gelang. Es fällt freilich leicht, in Anbetracht all dieser Versäumnisse hämisch auf Sachsen zu blicken und von Staatsversagen zu sprechen, zumal diese Häme es ermöglicht, den Sachsen immerhin ein lautstarkes »Wir sind mehr« entgegenzuhalten. Dann wird, wie Anfang September, einmal ein großes Konzert veranstaltet, zu dem man Linke aus der ganzen Republik herankarrt, um zu demonstrieren, dass mit der Demokratie alles in bester Ordnung sei, auch wenn sie gelegentlich Aussetzer hat. Grundsätzlich allerdings hält man daran fest, dass die Mehrheit heute wie morgen auf Seiten der »Anständigen« sei. | Konstantin Bethscheider | Konstantin Bethscheider: Chemnitz – Das Problem ist nicht Staatsversagen | [
"Chemnitz"
] | Disko | 13.09.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/37/die-mitte-bebt?page=0%2C%2C2 |
Altfälle werden keine Neubürger | Einen Tag vor der Sonderkonferenz der Innenminister am vergangenen Donnerstag stand das Thema noch ganz oben auf der Tagesordnung: die rot-grüne Vereinbarung über eine Altfallregelung für Flüchtlinge. Doch dann ka-men die Kurden-Proteste. Den Ministern war es danach wichtiger, über die Verschärfung des Straf- und Ausländerrechtes zu diskutieren - gegen die kurzfristige Änderung der Tagesordnung protestierte keiner. Eigentlich sollte es auf der Innenministerkonferenz um die Altfallregelung für abgelehnte Asylbewerber gehen, die seit Jahren mit ungeklärtem Status in Deutschland leben: Ein Aufenthaltsrecht haben sie nicht, und in ihre Herkunftsländer können sie aus verschiedenen Gründen nicht abgeschoben werden. Die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnisgrünen sieht deshalb ein humanitäres Bleiberecht für seit langen Jahren hier lebende abgelehnte Asylbewerber vor - auf flüchtlingspolitischem Gebiet der einzige Punkt, bei dem die Grünen sich in den Koalitionsverhandlungen hatten durchsetzen können. Wer genau von der Altfallregelung profitieren sollte, stand nicht in der Regierungsvereinbarung. Dort hieß es nur, daß eine solche Regelung einmalig zu-stande kommen sollte. Was wohl der Grund war, warum auch die Grünen das Thema letzte Woche noch nicht verabschieden wollte: Denn schlechter als nach der Hessenwahl und den Kurdenprotesten kann das Klima für ihre Forderung nach einem humanitären Um-gang mit Flüchtlingen kaum noch werden. Doch viele der nach offiziellen Angaben 525 000 abgelehnten Asylbewerber warten auf das Bleiberecht, und die Innenministerkonferenz kommt erst wieder im Juni zusammen. Die Konzepte, die seit November von einer Arbeitsgruppe des Bundesinnenministeriums und der Innenministerien von Sachsen, Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz hinter verschlossenen Türen diskutiert werden, lassen nichts Gutes ahnen. Nach weitgehend übereinstimmenden Informationen, die dem sachsen-anhaltinischen Landtagsabgeordneten Matthias Gärtner (PDS) sowie den Flüchtlingsräten Berlin und Rheinland-Pfalz vorliegen, sollen abgelehnte Asylbewerber ohne Kinder, die seit An-fang 1990 in der Bundesrepublik leben, sowie abgelehnte Asylbewerber mit Kindern, die vor Mitte 1993 eingereist sind, ein Bleiberecht erhalten. Versehen mit zahlreichen Einschränkungen: Voraussetzung für ein Bleiberecht ist demnach, daß die Flüchtlinge nicht oder nur geringfügig straffällig ge-worden sind, daß sie ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik nicht durch "unnütze" Rechtsmittel und Asylfolgeanträge in die Länge gezogen und daß sie innerhalb kürzester Zeit eine Arbeitsstelle gefunden haben. Von der Bleiberechtsregelung ganz ausgeschlossen werden sollen bosnische und jugoslawische Staatsbürger. Die CDU- und CSU-regierten Länder wollen darüber hinaus auch Vietnamesen pauschal aus der Regelung ausnehmen, und im Moment sieht es aus, als könnten sie sich damit durchsetzen. Unter den seit Jahren hier lebenden abgelehnten Asylbewerbern sind jedoch gerade diese drei Gruppen die größten. Der Grund dafür ist, daß ihre Herkunftsländer sie selbst dann nur zögerlich oder gar nicht zurücknehmen, wenn die Bundesrepublik sie abschieben will. "Der Ausschluß dieser Gruppen", so Gärtner, "wird damit begründet, daß mit den jeweiligen Staaten Rückübernahmeabkommen existieren. Man wolle nicht in zwischenstaatliches Recht eingreifen." Ein vorgeschobenes Argument, denn kaum ein Vertrag der deutschen Diplomatie wird so schlecht umgesetzt wie dieses Abkommen. Von den bis Ende 1998 mit Vietnam vereinbarten 20 000 Rückkehrern nahm die vietnamesische Regierung nur 5 800 tatsächlich auf. Bei 8 300 Menschen lehnte Hanoi die Rückübernahme ab, weil sie nicht als vietnamesische Staatsbürger akzeptiert wurden. Ein humanitäres Bleiberecht macht wenig Sinn, wenn es ausgerechnet die Leute ausschließt, die keinerlei Rückkehr-Perspektive haben. Und auch das Argument von der angeblich besonders hohen Kriminalität dieser Bevölkerungsgruppen zieht nicht: Gerade das Beispiel der Vietnamesen zeigt, daß eine Aufenthaltsperspektive entkriminalisierend wirken kann. Als sich die Innenminister 1993 zu einem humanitären Bleiberecht für ehemalige Vertragsarbeitnehmer durchgerungen hatten, zogen die sich aus dem illegalen Zigarettenhandel zurück. Ihre Verkaufsplätze nahmen allerdings ihre Landsleute ein, die nunmehr als abgelehnte Asylbewerber perspektivlos waren. Andreas Günzler vom Arbeitskreis Ausländerrecht der Berliner Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte geht da-von aus, daß die beabsichtigte Bleiberechtsregelung noch aus einem anderen Grund ein Riesenflop wird: weil die Hürden für die Arbeitssuche zu hoch sind. Nach dem 1997 novellierten Arbeitsrecht erhalten Ausländer, die erstmals in der Bundesrepublik arbeiten, nur dann eine Arbeitserlaubnis, wenn sich die Bezahlung an den üblichen Tarifen orientiert. Für Leute, die seit Jahren per Gesetz zum Nichtstun verdammt waren, ist es utopisch, eine solche Stelle zu finden. Günzler glaubt, daß von einer Altfallregelung mit den beabsichtigten Ausschlußgründen fast keiner der Mandanten seiner Kollegen profitieren würde. Auch Flüchtlinge aus Afghanistan, Algerien und vielen schwarzafrikanischen Staaten, denen bei einer Abschiebung Folter und Tod drohen, erhielten dann kein Bleiberecht. Bereits 1996 hatten die Innenminister eine Altfallregelung für abgelehnte Asylbewerber mit ähnlichen Stichtagen für die Einreise beschlossen. 7 856 Flüchtlinge kamen damals in die Gunst dieser Regelung. Eine weit größere Zahl jedoch scheiterte an der Auflage, binnen kürzester Zeit Arbeit zu finden. Damals - unter der schwarz-gelben Bundesregierung - gab es jedoch mehrere Ausschlußkriterien nicht, die jetzt diskutiert werden: so etwa den pauschalen Ausschluß von Bosniern und Vietnamesen sowie von Flüchtlingen, die lediglich einen Billig-Job finden. Thorsten Koch vom Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz, selbst Juso, fordert deshalb von den SPD-regierten Ländern, keinen Scheinkompromiß mit den Unions-Ländern einzugehen. Die CDU habe in mehreren Positionspapieren eine Altfallregelung für unnütz erklärt. Sie werde in den Verhandlungen Positionen vertreten, die lediglich den Schein einer Regelung wahren, in Wirklichkeit aber fast allen Flüchtlingen ein humanitäres Bleiberecht vorenthalten. Nur bei einem Scheitern des angeblichen Kompromisses würde das Thema erneut im Koalitionsausschuß in Bonn landen, so Koch. | marina mai | marina mai: | [] | Inland | 03.03.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/09/altfaelle-werden-keine-neubuerger?page=0%2C%2C1 |
Neue deutsche Unbefangenheit | Ein deutscher Kommisskopp ist jetzt Chef über die 40 000 Kfor-Krieger im Kosovo. Am vergangenen Freitag übernahm der General des deutschen Heeres Klaus Reinhardt das Kommando über die Truppe, als Nachfolger des britischen Generalleutnants Michael Jackson. Erstmals ein Nato-Kommando außerhalb Deutschlands unter deutscher Führung - das kann gefeiert werden. Für den AP-Korrespondenten George Boehmer ist die Sache klar: "Deutschland hat wieder eine zentrale Rolle im Weltgeschehen übernommen." Die FAZ wollte lieber nicht mit der Tür ins Haus fallen. Sie schwiemelte rum: "Mit seiner Kommandoübernahme in Pristina ist keine wie auch immer zu beschreibende Aufwertung Deutschlands im Bündnis verbunden, wohl aber die Überwindung einer bestimmten Befangenheit, die in der Vergangenheit fußt." Aha. | : | [] | Ausland | 13.10.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/41/neue-deutsche-unbefangenheit?page=0%2C%2C1 |
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Daum rauf, Daum runter | Englische Boulevardzeitungsmacher konnten ihr Glück wahrscheinlich tagelang nicht fassen: Kurz vor dem gleichermaßen wichtigen wie prestigeträchtigen WM-Qualifikationsspiel gegen die deutsche Nationalmannschaft ging die Diskussion um den künftigen Bundestrainer in die wahrscheinlich entscheidende Runde. »Don't mention the whore!« hatte die englische Sun im Hinblick auf Daums geplanten Englandbesuch ihre Leser gewarnt - und damit an die TV-Serie »Fawlty Towers« erinnert, in der Hoteldirektor Basil Fawlty seinen Angestellten in Erwartung deutscher Gäste einschärft, den Krieg mit keiner Silbe zu erwähnen. Die Prostituierte wurde dann tatsächlich von niemandem erwähnt, denn Christoph Daum sagte den Besuch des letzten Spiels im Wembley-Stadion kurzfristig ab. Er wolle die Vorbereitungen des deutschen Teams nicht stören, erklärte er. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass er es einfach satt hatte, Fragen beantworten zu müssen. Z.B. die, ob er tatsächlich im nächsten Jahr das deutsche Team trainieren will. Denn nachdem Interims-Coach Rudi Völler mit dem deutschen Team zweimal hintereinander nicht verloren hatte, waren sich Fans und Experten bereits einig, dass man wohl lieber auf die geplante Verpflichtung von Christoph Daum verzichten solle. Maßgeblich daran beteiligt waren die Angestellten des FC Bayern München. Hatten Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer der Berufung Daums zunächst noch nachdrücklich zugestimmt - wahrscheinlich auch in der Hoffnung, durch die über kurz oder lang unweigerlich folgende Leverkusener Nachfolgersuche den Rivalen zu schwächen -, so waren sie nun die ersten, die darauf beharrten, dass der mit seinem Team bemerkenswert schlecht in die Saison gestartete Trainer Daum vielleicht doch nicht die richtige Wahl sein könne. Zu Hilfe kam ihnen dabei vor zwei Wochen der Coach selbst. Nachdem er erfahren hatte, dass der ehemalige Präsident des 1. FC Starnberg, der Immobilienmakler Joachim Kress, Strafanzeige gegen ihn erstattet hatte und eine Illustrierte zu dem Fall recherchierte, hatte Daum nichts getan, um die seltsame Affäre öffentlich zu erklären. Anstatt darauf hinzuweisen, dass Kress der Ex-Mann seiner neuen Lebensgefährtin sei und daher vielleicht ein persönliches Rachemotiv haben könnte, »sprach Daum in einem Interview nebulös von Erpressungsversuchen« (Spiegel). Und deutete an, dass er ja auch nicht unbedingt Bundestrainer werden müsse, wenn sein Privatleben weiterhin in den Schmutz gezogen werde. Damit brachte er weitere Reporter auf den Plan, die sich weniger um die Richtigkeit der Vorwürfe kümmerten, sondern mehr darüber berichteten, dass gegen Daum tatsächlich wegen Unterschlagung und Betrug ermittelt werde, es geht um Immobiliengeschäfte auf Mallorca. Weitere Personen, alle aus dem Kress-Umfeld, durften öffentlich angeblich ausstehende Provisionszahlungen einfordern oder sogar über Geldwäsche spekulieren. Daum hatte in der Zwischenzeit seine Meinung über den Bundestrainer-Job wieder geändert. Er werde am 1. Juli 2001 seine neue Stelle antreten. Rudi Völler erklärte zusätzlich, ihm auf jeden Fall Platz zu machen. Damit hätte die ganze Diskussion auch schon vorbei sein können, wenn Uli Hoeneß nicht in einem Interview mit der Welt die charakterliche Eignung Daums in Frage gestellt hätte. Er bezog sich nicht auf die recht dürftigen Vorwürfe des heute in Haft sitzenden Kress. Hoeneß ging - selbstverständlich in nicht justiziablen Formulierungen - gleich in die Vollen. Falls sich die seit langem in der Fußball-Szene kursierenden Gerüchte, dass der Trainer kokse und Bordelle besuche, als wahr erweisen sollten, erklärte er, dann sei Daum als Bundestrainer nicht tragbar. Das saß. Zumal Hoeneß auch in den Tagen danach keinerlei Anstalten machte, irgendetwas zurückzunehmen. Er habe damals bei der Ernennung von Erich Ribbeck zum Chefcoach nichts gesagt, begründete Hoeneß seine Äußerungen, nun sehe er es jedoch als seine Pflicht an, nicht länger zu schweigen. Was seiner Meinung nach gegen Ribbeck vorlag, außer dass er ebenfalls einmal Trainer von Leverkusen gewesen ist, erwähnte er nicht. War er im Nebenerwerb Chef eines Schutzgelderpresserrings? Buchhalter eines niederrheinschen Heroinkartells? Am Ende sogar ein Hurenkunde? Nein, nichts von alledem, sondern nur ein schlechter Trainer, jedenfalls according to Bayern München. Was eigentlich in Bezug auf die deutsche Nationalelf kein besonders verwerflicher Tatbestand ist, aber Hoeneß sah sich verpflichtet, neuerlichen Schaden vom deutschen Fußball abzuwenden. Was ihm zumindest die Öffentlichkeit bisher nicht abnahm: In jeder Umfrage halten ihn mindestens zwei Drittel der Befragten für unglaubwürdig. Nicht nur, weil man mit dem Ex-Nationalspieler seit seinem verschossenen Elfmeter beim EM-Endspiel 1976 in Belgrad gegen die Tschechoslowakei sowieso noch eine Rechnung offen hat, wie empörte Leserbriefe in der Bild belegen. Die Feindschaft zwischen Daum und Hoeneß hat eine lange Vorgeschichte. Begonnen hatte sie Ende der achtziger Jahre, als Christoph Daum, Trainer beim 1. FC Köln, immer wieder die Bayern und deren Coach Jupp Heynckes angegriffen hatte. Der »Lautsprecher Daum« (Bild) provozierte den Abonnementsmeister immer wieder, bis es im »Aktuellen Sportstudio« schließlich zum Showdown kam. Als Heynckes' Verteidiger agierte damals Manager Uli Hoeneß, der Daums Entgleisungen Punkt für Punkt ansprach und den 1. FC-Trainer ziemlich in Bedrängnis brachte. Spätestens seit diesem Samstagabend war klar, dass sich diese beiden nicht ausstehen können. Am Ende sang das ganze Studio zwar »Zieht den Bayern die Lederhosen aus«, aber Meister wurden die Kölner trotzdem nicht. »Ich weiche keinen Millimeter«, beharrt Hoeneß nun darauf, dass er lediglich die Wahrheit gesagt habe. »Ich weiß, dass ich im Moment allein stehe. Aber eines Tages wird mir der deutsche Fußball dankbar sein.« Wie ein dankbarer Fußball aussehen mag, erklärte er zwar nicht, aber kaum jemand glaubt, dass der Manager, der Bayern München zum umsatzstärksten deutschen Verein machte, Daum völlig ohne Beweise angegriffen hat. Journalisten deutscher Boulevardzeitungen berichten privat gern darüber, dass es seit langem Gerüchte über Daums exzessiven Kokskonsum gebe. Jedem, der mit dem Trainer längere Gespräche geführt habe, sei aufgefallen, dass »der Typ beängstigend unter Strom« stehe, selbst wenn es »eigentlich um gar nichts ging«. Bekannt sei das alles schon lange, nur Beweise gebe es offenbar nicht. Und insgeheim hoffen viele, dass Hoeneß doch noch nachlegt. Zumal sich andere Offizielle merklich zurückhalten. Allein Franz Beckenbauer erklärte nach dem 1:0 gegen England ausdrücklich, die Koksgerüchte seien seit langem bekannt. Dennoch sei er der Auffassung, dass das »jedem seine Privatsache« sei. Auffällig war auch, dass man bei Bayer Leverkusen sehr lange zögerte, dem Trainer beizustehen. Manager Rainer Calmund griff erst vor wenigen Tagen ein und erklärte, auf Daums Seite zu stehen. Die Strafanzeige kam schließlich nicht vom Verein, sondern vom Coach selbst. Andererseits gibt es bei den Münchner Bayern auch kaum jemanden, der Hoeneß offen unterstützt. Selbst beim DFB hielt man sich nach einem halbherzigen Versuch, die beiden Kontrahenten zu einem Gespräch zu bewegen, merklich zurück. Als eine Haaranalyse Daums gefordert wurde, mit der bis zu einem Jahr zurückliegender Drogenkonsum nachgewiesen werden kann, erklärten offizielle Verbandsvertreter zwar, dass man das für keine gute Idee halte, schließlich habe Daum sich nicht zu verteidigen, sondern sein Ankläger müsse Beweise vorlegen. Aber insgesamt verhielt man sich weiter abwartend. Erst nach dem Spiel gegen England ergriff der Verbands-Vize Gerhard Mayer-Vorfelder das Wort und forderte eine Dringlichkeitssitzung der kürzlich gegründeten Task Force. »Ich sehe keine Möglichkeiten, die Sache zu beerdigen. Sie muss ausgetragen werden. Es muss auf den Tisch, wer Recht hat. Und dann müssen gegebenenfalls Konsequenzen gezogen werden.« Gleichzeitig machte er klar, dass Hoeneß seine Drogen-Vorwürfe endlich zu beweisen habe: »Hoeneß hat eine Bringschuld, zu belegen, was er behauptet.« Auch Schalke 04-Vorstand Jürgen W. Möllemann reagierte plötzlich und forderte einen unabhängigen Sonderermittler des DFB, denn der Verband müsse nun beweisen, »dass er überhaupt noch in der Lage ist zu führen«. Wenn nicht, stehe die gesamte DFB-Spitze zur Disposition. Nachdem sein Sponsor RWE ihn offenbar gedrängt hatte, erklärte Christoph Daum ebenfalls nach dem Länderspiel, zu einem Drogentest bereit zu sein. Auch werde er die medizinischen Akten zu seinen vier Nasenoperationen veröffentlichen, die auch Untersuchungsergebnisse seiner Nasenschleimhäute enthielten. Kurze Zeit später widerrief Daum. Uli Hoeneß dagegen beharrte auf seinen Vorwürfen. »In einigen Tagen werden sich sehr viele Leute bei mir entschuldigen müssen«, kündigte er an, ohne gleichzeitig darauf einzugehen, was er als Nächstes plant. Das ist aber auch eigentlich egal: Für diejenigen, die dem deutschen Fußball eher Böses wollen, ist mit dieser Geschichte eine sehr schöne double win situation entstanden. Einen der beiden Protagonisten wird man am Ende der Affäre auf jeden Fall los sein. Ein koksender Bundestrainer könnte zudem für reichlich Spaß sorgen. Nicht nur, weil die Zahl der Freundschaftsspiele gegen Kolumbien rasant zunehmen würde. Auch die Spannung, ob und wann der Coach an irgendeiner Grenze verhaftet wird, könnte die Fans massenweise ins Wettbüro treiben. | Kim Bönte | Kim Bönte: Streit um den designierten Bundestrainer | [] | Sport | 11.10.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/41/daum-rauf-daum-runter?page=0%2C%2C3 |
Deutsches Haus | Die Staatsanwaltschaft Limburg (Hessen) hat Anklage gegen zwei Männer wegen »Mordes aus niedrigen Beweggründen, nämlich Fremdenfeindlichkeit« erhoben. Wie aus einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 10. März hervorgeht, wird ihnen vorgeworfen, im Oktober einen 55 Jahre alten Mann aus Ruanda aus rassistischen Motiven umgebracht zu haben. Die Beschuldigten im Alter von 43 und 22 Jahren haben ihr Opfer der Staatsanwaltschaft zufolge »durch massive Schläge und Tritte getötet«. Der ältere von beiden wohnte wie der Mann aus Ruanda in der städtischen Unterkunft, in der sich die Tat ereignet haben soll. Der jüngere Mann lebte in einer Wohnung in der Nähe. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft haben die Angeklagten keine Verbindungen ins rechtsextreme Milieu. Ein dritter Tatverdächtiger nahm sich in Untersuchungshaft das Leben. Unbekannte beschmierten das alte Bahnhofsgebäude in Baar-Ebenhausen (Bayern) mit rassistischen Parolen und Nazisymbolen. Wie die Augsburger Allgemeine ebenfalls am 10. März berichtete, hinterließen sie an den Wänden Hakenkreuze und den Spruch »Fuck Asylanten«. Zudem zündeten die Unbekannten einen Feuerwerkskörper. In dem Gebäude soll demnächst eine Unterkunft für Asylsuchende eingerichtet werden. Der Staatsschutz ermittelt. Wie aus einem Bericht der Mitteldeutschen Zeitung vom 10. März hervorgeht, kam es in Halle (Sachsen-Anhalt) zu einem rassistischen Angriff. Dabei prügelte ein 26jähriger, der den Fahrstuhl in einem Wohnblock benutzte, nach dem Öffnen der Kabinentüren unvermittelt auf eine auf den Lift wartende 44jährige Frau mit dunkler Hautfarbe ein. Der Mann versetzte ihr Schläge ins Gesicht, trat sie und beschimpfte sie auf rassistische Weise. Die 44jährige erlitt Hämatome und Schwellungen und musste im Krankenhaus behandelt werden. Die Polizei konnte den Angreifer identifizieren, er ist polizeibekannt. Die Sprecherin der zuständigen Polizeidienststelle sagte der Mitteldeutschen Zeitung: »Wir ermitteln auch in die Richtung eines fremdenfeindlichen Motivs.« Wie Der Westen am 6. März berichtete, ereignete sich in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) ein rassistischer Vorfall. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund stieg in einen Bus in Richtung des Stadtteils Bilk. Schon im Fahrzeug beleidigte sie ein etwa 40 Jahre alter Mann auf rassistische Weise. Als sie ausstieg, verfolgte er sie zunächst. Dann stieß der Mann, der als kräftig beschrieben wird, die Frau von hinten zu Boden und trat sie. Eine Passantin bot der 20jährigen Hilfe an, der Angreifer flüchtete. Die Angegriffene wurde leicht verletzt und musste einen Arzt aufsuchen. Der Staatsschutz ermittelt. mst | : | [] | Antifa | 19.03.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/12/deutsches-haus?page=0%2C%2C3 |
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Spiel mit den Ängsten | »Herz meines Vaterlandes« heißt die Wahlkampagne von Hugo Chávez. Das Pathos ist typisch für den 58jährigen Präsidenten Venezuelas, der zurzeit kreuz und quer durch das Land reist und Wahlkampf macht. Dabei gibt sich der ehemalige Fallschirmspringer als Landesvater, väterlicher Freund und Ratgeber. Ungewohnt zahm sozusagen, denn schließlich ist Chávez ein Freund der großen, markigen Worte, der Attacken auf die Opposition und auf die finsteren Spießgesellen aus den USA, die er hinter seinen Gegnern stehen sieht.
Doch diesmal scheint alles anders zu sein. Eine der Ursachen dafür könnte die von brasilianischen Beratern erarbeitete Wahlkampfstrategie sein, die andere die Tatsache, dass viele Wähler und Wählerinnen in Venezuela noch nicht entschieden haben, für wen sie stimmen wollen. Dem ehemaligen Oberstleutnant, der seit 1999 amtiert, steht mit dem moderat auftretenden Henrique Capriles Radonski nun ein ernstzunehmender Herausforderer gegenüber. Immerhin ein Drittel der Wahlberechtigten hat sich bisher nicht entschieden. Diese ninis, so haben die Umfrageinstitute sie getauft, werden den Ausschlag geben. Die allermeisten von ihnen sind weiblich, jung, stammen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten und plädieren für den Fortschritt. Allerdings wollen sie den auch im alltäglichen Leben spüren, und das könnte für die Wahl entscheidend werden, so das regierungskritische Umfrageinstitut Datanálisis. Ein Urteil, dem auch die anderen Institute nicht widersprechen. Doch sehen sie anders als Datanálisis den derzeit amtierenden Präsidenten mit einem erheblichen Vorsprung in Führung liegen. Chávez könne mit etwa 56 bis 58 Prozent der Stimmen rechnen, so heißt es.
Wenn ihm die ninis nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Kritik muss sich der zumindest offiziellen Quellen zufolge von seiner Krebserkrankung geheilte Chávez nämlich gefallen lassen. Nach 14 Jahren Amtszeit, von denen allerdings etliche von einer extremen Polarisierung innerhalb der Gesellschaft geprägt waren, sind viele der ambitionierten Pläne der »Bolivarischen Revolution« längst Makulatur. Beispielsweise die Wiederbelebung einer einst erfolgreichen Agrarwirtschaft, die berühmt war für die besten Kakaobohnen der Welt. Auch mit der ausufernden Korruption wollte die Regierung Chávez aufräumen. Doch das Ranking der NGO Transparency International zeigt, dass zwischen Anspruch und Realität eine Lücke klafft. Auf Platz 172, zwischen Burundi und Haiti, befindet sich die nach Simón Bolívar, dem Befreier Lateinamerikas, benannte Republik. Die Korruption wird von Herausforderer Capriles ebenso in den Vordergrund seiner Kampagne gerückt wie die wenig erfolgreiche Wirtschaftspolitik von Hugo Chávez. Auf 3,2 Prozent beläuft sich das durchschnittliche jährliche Wachstum seit dessen Amtsantritt. Damit, so die Kritiker, liegt das Wachstum unter der lateinamerikanischen Quote von rund vier Prozent im gleichen Zeitraum. Auch die Abhängigkeit von den Lebensmitteleinfuhren aus Brasilien und anderen Ländern wird in der Kampagne von Capriles hervorgehoben. Immerhin 70 Prozent der Nahrungsmittel müssen derzeit importiert werden, und die Quote hat sich in den 14 Jahren unter der Ägide des Oberstleutnants aus Sabaneta merklich erhöht – obgleich das Gegenteil als Ziel ausgegeben wurde. Die wenig erfolgreiche Wirtschaftspolitik mit ihren zahlreichen Verstaatlichungen, die längst nicht immer eine positive Wirkung hatten, könnte somit wahlentscheidend werden. Zumal sich der Herausforderer Capriles Radonski, der ebenfalls brasilianische Wahlberater beschäftigt, moderat gibt, sich als Sozialdemokrat präsentiert und mehrfach versprochen hat, an den Sozialprogrammen der Regierung festzuhalten.
Doch entscheidend ist, ob die Bevölkerung dem 40jährigen Anwalt aus Caracas auch glaubt. Warum die Kopie wählen, wenn das Original noch zugegen ist? Chávez hat die Sozialprogramme schließlich initiiert. An diese Programme haben sich viele Venezolaner gewöhnt, und die sozialen Maßnahmen haben die Armut in dem so rohstoffreichen Land, dessen Erdölreserven neuen Schätzungen zufolge die größten der Welt sind, von 49 Prozent im Jahr 1998 auf 24 Prozent im Jahr 2009 reduziert. Auch die offiziellen Arbeitslosenzahlen sind rückläufig. So lag die Erwerbslosenrate Ende 2010 bei sieben Prozent, 1999 waren es noch 14,5 Prozent. Bei der Umverteilung der Reichtümer des Landes, in erster Linie der Erdöleinnahmen, hat die Regierung ebenfalls Fortschritte gemacht, denn die ökonomische Ungleichheit wurde reduziert. Berechnet nach dem Gino-Koeffizienten, sank die Ungleichheit von 0,49 im Jahr 1998 auf 0,39 im Jahr 2010. Erfolge, die genauso wie die höhere Einschulungsquote kaum zu bestreiten sind und doch gern ignoriert oder mit dem Argument begegnet werden, dass dafür die Öleinnahmen vergeudet würden.
Immerhin 40 Milliarden US-Dollar hat der staatliche Ölkonzern PDVSA 2011 für Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Entwicklungsprogramme bezahlt. Eine erhebliche Summe, daran ändern auch die Vorwürfe nichts, dass oft nicht effektiv mit den Mitteln gewirtschaftet wird, dass Klientelismus bei der Vergabe eine Rolle spiele und dass vieles, so zum Beispiel der Wohnungsbau, kaum vorankommt. Doch wie könnte Capriles es besser machen? Droht mit ihm nicht die Rückkehr zur alten oligarchischen Herrschaft? Das ist eine Frage, die in Armenviertel wie Petare immer wieder gestellt wird. Diese Viertel hat auch Capriles aufgesucht, denn er braucht die Stimmen der Armen, um Chávez aus dem Präsidentenpalast Miraflores zu verdrängen.
Folgerichtig vermeidet Capriles jedes Wort, das den Verdacht schüren könnte, er stehe für die traditionelle Oligarchie, die bis 1998 ein einträgliches Geschäft mit den von ihr kontrollierten Ressourcen des Landes machte. Er konzentriert sich in seiner Kampagne auf die offensichtlichen Defizite des Chavismo, die zunehmende Zahl von Gefängnisunruhen, die hohe Mordrate, das Bedürfnis nach mehr Sicherheit und die immer wieder kursierenden Gerüchte über desaströse Zustände in den Ölanlagen des Landes. Und Capriles lässt nichts unversucht, um Hugo Chávez zum Fernsehduell zu bewegen. Doch darauf hat sich der an sich nicht publikumsscheue 58jährige, der den iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad ebenso wie Fidel Castro zu seinen persönlichen Freunden zählt, bisher nicht eingelassen. Das könnte daran liegen, dass es zu viele negative Schlagzeilen gibt, sei es der Brand in der Raffinerie von Amuay oder der Protest im Stahlwerk Sidor, dessen Belegschaft bei Chávez’ Stippvisite einen neuen Arbeitsvertrag forderte.
Gleichwohl kann sich Hugo Chávez aber auch relativ sicher sein, in Führung zu liegen. Zu seinem Sieg beitragen könnten auch seine Aussagen, dass ein Wahlerfolg des Herausforderers Venezuela ins Chaos stürzen könnte. Außenminister Nicolás Maduro schürte jüngst die Ängste, als er Hugo Chávez als die »große Garantie für den Frieden« und als »Impfstoff gegen die Gewalt« rühmte. Das könnte der Kampagne von Chávez zusätzlichen Schwung verleihen. Ohne ihn wäre die Zukunft ungewiss, lautet die Botschaft, und eine rechte Regierung unter Capriles müsste mit Widerstand der Bevölkerung und eventuell auch aus des Staatsapparats rechnen. Ein Szenario, das auch bei den ninis Befürchtungen auslösen dürfte. So könnte es sein, dass sie sich für Chávez entscheiden – nicht, weil sie die Revolution wollen, sondern weil sie Stabilität wünschen. | Knut Henkel | Knut Henkel: Vor den Präsidentschaftswahlen in Venezuela | [] | Ausland | 04.10.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/40/spiel-mit-den-aengsten?page=0%2C%2C1 |
Iran macht mobil | Was hat die Hansestadt Rostock mit dem islamischen Taliban-Staat Afghanistan gemeinsam? Die Parole "Ausländer raus" ist zur Zeit sowohl an der deutschen Ostseeküste als auch rund um Kabul ziemlich angesagt. Bis auf Mitarbeiter der Uno und der internationalen Hilfsorganisationen (die schon längst alle gegangen sind) sowie Diplomaten hätten Ausländer das zentralasiatische Land umgehend zu verlassen, forderte die Taliban-Regierung am vergangenen Wochenende. Fast gleichzeitig demonstrierten Hunderttausende im westlichen Nachbarstaat Iran. Fotos von Ruhollah Khomeini und Ali Khamenei - erster frühere, zweiter aktuelle Nummer eins der iranischen Theokratie - wurden hochgehalten, man erklärte sich für den "heiligen Krieg" bereit und skandierte "Tod den Taliban, Tod Israel und Tod den USA". Die Bilder aus Teheran erinnern an die Demonstrationen aus den Jahren 1978 und 1979. Nur protestierten damals die fanatisierten Massen gegen die Schah-Diktatur und gegen den "westlichen und den sowjetischen Imperialismus". Dieses Mal richtet sich der Haß der Bevölkerung gegen die afghanischen Taliban. Und dort findet er sein Echo: Ein hoher Taliban-Funktionär rief am letzten Freitag ebenfalls zum "heiligen Krieg" auf. Gegen die "Tyrannen" im Iran natürlich. Doch die Mullahs in Kabul setzen auch auf Taktik. Mit der Freilassung von fünf gefangenen Iranern signalisierten sie nur einen Tag später nach Teheran, daß ein Krieg abgewendet werden könne. Weitere 40 iranische Geiseln würden umgehend freigelassen, sobald der Iran die mittlerweile mehr als 250 000 Soldaten - die Mehrheit davon wird von den Khamenei-treuen Pasdaran (Revolutionswächter) gestellt - von seiner Grenze zu Afghanistan wieder abziehen würde. 30 000 nicht minder gerüstete Taliban-Kämpfer, die während der letzten beiden Wochen im Westen Afghanistans Stellung bezogen haben, würden dann wohl ebenfalls den Heimweg antreten. Die Beziehungen der beiden Staaten könnten wieder so harmonisch werden, wie sie es einst waren: Als die Sowjetunion im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierte, sammelten Anhänger der iranischen Hisbollah (Partei Gottes) in allen iranischen Städten und Dörfern Geld zur Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die gottlosen Russen. Als in Afghanistan der dem Etikett nach kommunistische Staatschef Muhammed Nadschibullah 1992 zurücktrat und der Tadschike Burhanoldin Rabbani zum Präsidenten gewählt wurde, applaudierten die iranischen Glaubensgenossen. Auch die im September 1996 erfolgte Hinrichtung Nadschibullahs durch die etwas übereifrigen Taliban löste in Teheran keinen Ärger aus. Erst im Oktober desselben Jahres kam es zum Bruch. Der religiöse Führer des Iran, Khamenei, kritisierte die Taliban und sprach sich für einen "Hohen Rat zur Verteidigung Afghanistans" aus, der sich aus pro-iranischen Politikern und aus den Schiiten-Milizen Wahdat und Ismael Khan zusammensetzen sollte. Die antisowjetische Front der Mudschaheddin war längst gespalten. Zwar kam es nach den US-Raketenangriffen auf Stützpunkte des von den Taliban verstecken Terroristen Ussama Bin Laden im August noch einmal zu gemeinsamen Protesten, denen sich auch Pakistan anschloß. Doch ist der Haß auf die USA zur Zeit wohl das letzte Bindeglied. Darüber können auch Be-kundungen des "grundsätzlichen Friedenswillens unter Muslimen" aus Teheran und Kabul nicht hinwegtäuschen. Zu weit sind die Interessen der beiden Staaten auseinandergerückt: Unterschiedliche ökonomische und politische Optionen vermischen sich mit den jeweiligen innenpolitischen Problemen und geostrategischen Erwägungen. Hinzu kommen konfessionelle Differenzen und das Ausspielen der ethnischen Karte. Mit der Ermordung von neun iranischen Diplomaten (Jungle World, Nr. 38/98) und Tausenden von schiitischen Hazaras in Afghanistan haben die Taliban dem Iran einen Vorwand für eine Militärintervention geliefert. Der iranische Präsident Mohammad Khatami, dessen Regierung von der orthodoxen religiösen Führung um Khamenei von einer politischen Krise zur nächsten gedrängt wird, begründete die militärischen Aktivitäten Irans entsprechend: "Ethnische Säuberungen" an den traditionell pro-iranischen Hazaras gelte es künftig zu verhindern. In der afghanischen Stadt Bamjian schnitten im August Taliban-Krieger mehreren Tausend Hazaras die Kehlen durch oder hackten ihnen die Hände ab. An diesem Gemetzel sollen nach Angaben verschiedener Menschenrechtsorganisationen auch Kämpfer der paramilitärischen Gruppe Sipah-i-Sipah aus Pakistan beteiligt gewesen sein. Doch die eigentlichen Gründe, lukrative Transitgebühren für geplante Pipelines und die Frage, wer denn die Hegemonialmacht der Region ist, werden so überdeckt. Pakistan und Iran machten noch vor wenigen Monaten friedliche Miene zum bösen Spiel und sprachen davon, die verfeindeten afghanischen Clans versöhnen zu wollen. In Wirklichkeit versuchten beide Staaten die verschiedenen afghanischen Gruppierungen zu instrumentalisieren. Pakistan wählte dabei die richtigen Bündnispartner, die Taliban, die sich mittlerweile in 29 der 32 Provinzen Afghanistans militärisch durchgesetzt haben. Und mit der pakistanischen Atombombe bedroht die Achse Islamabad/Kabul nun die Vormachtstellung des Iran in der Region. Doch auch der Iran weiß Nutzen aus der Konfrontation zu ziehen. Der UN-Sicherheitsrat mußte letzte Woche einräumen, daß die iranischen Vorwürfe gegen die Taliban berechtigt waren. Und die internationale Diplomatie hofiert den Iran, der bislang weitgehend isoliert war, wie nie zuvor. Eine Krisensitzung brachte Anfang dieser Woche auf hoher diplomatischer Ebene Iran, Afghanistan, Rußland, Tadschikistan, Usbekistan, Turkemenistan und Pakistan an einen Tisch - zusammen mit den USA und China. Damit haben erstmals nach einer zwanzigjährigem Sendepause iranische und US-Politiker gemeinsam beraten. Bis Redaktionsschluß blieb aber offen, ob, wie schon so häufig, auch dieses Mal auf eine Friedenskonferenz unmittelbar ein Krieg folgt. | belanna bashir und wahied wahdathagh | belanna bashir und wahied wahdathagh: | [] | Thema | 23.09.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/39/iran-macht-mobil?page=0%2C%2C3 |
Pressevielfalt | "VW-Produktion in Emden ruht weiter wegen Protesten": Überschrift einer Reuters-Meldung am 29. April; "VW-Produktion in Emden ruht weiter wegen Protesten": Meldungsüberschrift im Remscheider Generalanzeiger am 30. April; "VW-Produktion in Emden ruht weiter wegen Protesten": Meldungsüberschrift in der Heidenheimer Presse am 30. April; "VW-Produktion in Emden ruht weiter wegen Protesten": Meldungsüberschrift in der Pforzheimer Zeitung am 30. April; "VW-Produktion in Emden ruht weiter wegen Protesten": Meldungsüberschrift im Böblinger Boten am 30. April; "VW-Produktion in Emden ruht weiter wegen Protesten": Meldungsüberschrift in der Landeszeitung Lüneburger Heide am 30. April. "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Überschrift einer dpa-Meldung am 29. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift in der Leipziger Volkszeitung am 30. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift im Kölner Stadt-Anzeiger am 30. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift im General-Anzeiger Bonn am 30. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift in der Aachener Zeitung am 30. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift in der Chemnitzer Freien Presse am 30. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift im Isar-Donau-Wald am 30. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift in den Lübecker Nachrichten am 30. April; "VW-Betriebsräte und IG Metall beraten weiteres Vorgehen": Meldungsüberschrift in den Westfälischen Nachrichten am 30. April. | : | [] | dschungel | 05.05.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/18/pressevielfalt?page=0%2C%2C0 |
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K. lebt hier nicht | Vielleicht existiert ja eine geheime Untersuchung, wonach Leute, die online einkaufen (und sich die Ware zuschicken lassen) überdurchschnittlich großen Spaß an Rätseln haben? Und irgendwie haben Paketauslieferungsunternehmen Kenntnis von dieser Studie bekommen und glauben seither, sie müssten ihrer Kundschaft bei jeder Auslieferung eine Extra-Freude machen? Das wäre jedenfalls eine Erklärung dafür, dass es seit einiger Zeit so furchtbar kompliziert geworden ist, seine Bestellungen zu bekommen.
Ein Beispiel? Ein Beispiel: Weil ein Paketauslieferer, dessen Namen wir nur aus purer Freundlichkeit nicht nennen (Tipp: Er besteht aus drei Buchstaben), es versäumt hatte, eine Ware rechtzeitig loszuschicken, schickte er sie per Expresssuperdingens-Service, was beim Kunden nicht etwa große Freude, sondern pure Angst auslöst. Denn bei dieser Versandart werden nicht angenommene Pakete zur Abholung ins Zentrallager am Arsch der Welt verfrachtet, was, richtig: lange Autofahrten und viel verplemperte Zeit bedeutet.
Aber diesmal hatte der Paketauslieferungsangestellte eine Ausnahme gemacht und die Ware laut Benachrichtigungszettel im Haus bei Herrn oder Frau K. (Namensanfangsbuchstabe geändert) abgegeben. Dumm bloß, dass keiner der Nachbarn K. heißt, wie der erste Check von Klingelbrett und Briefkästen ergab. Nachdem auch ein Spaziergang durch Vorder- und Hinterhaus sowie sämtliche Seitenflügel ergebnislos verlief – kein K. weit und breit –, begann das Paketdetektivspiel erst so richtig, bei dem die Telefonhotline der Firma keine große Hilfe war, weil, genau: Wochenende. Exzessives Rätseln brachte immerhin ein Ergebnis: K. könnte ein südamerikanischer Nachname oder, wenn man großzügig einige Vokale hinzufügt, ein deutscher Vorname sein, heißt allerdings niemand im ganzen Haus so. Natürlich nicht. | Elke Wittich und Boris Mayer | Elke Wittich und Boris Mayer: | [] | dschungel | 30.08.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/35/k-lebt-hier-nicht?page=0%2C%2C0 |
Ressentiment fressen Seele auf | Mein Guter – bitte wundere Dich nicht über diese Anrede, aber ich kenne Dich schon lange und weiß deswegen, dass Du ja eigentlich nur das Gute willst. Außerdem mache ich mir ernste Sorgen um Dich, denn Du hast es im Moment wirklich nicht leicht. Fast könntest Du mir sogar leidtun.
Denn das mit dem Iran ist aber auch so was von bescheuert. Wie konnte das nur passieren? Jetzt revoltieren die Menschen in der bedeutendsten Bastion des weltweiten Widerstandes gegen Imperialismus und Zionismus! Ausgerechnet dort! Welch diebische Freude haben Dir die Jungs in Teheran doch immer bereitet, wenn sie den Imperialismus mal wieder an der Nase herumgeführt haben. Ihre etwas andere kulturelle Prägung, etwa ihr vielleicht gewöhnungsbedürftiges Verständnis von der Rolle der Frau, hat Dich nie gestört, schließlich bist Du kein Rassist. Und erst die schönen Reden von Ahmadinejad, die man immer so ausführlich auf den Seiten des Friedensratschlags nachlesen kann – bei ihnen sind Dir doch die warmen Schauer nur so den Rücken heruntergelaufen, wenn er es dem Imperialistenpack mal wieder so richtig gegeben hat. Die hinterhältigen Zionisten, die ihn voller Heimtücke permanent falsch übersetzen und ihm absurderweise unterschieben, er wolle ihr verdammtes Gebilde ausradieren, konnten Dich selbstverständlich nie vom Glauben an seine Friedensbereitschaft abbringen. Denn Du, das bist Du Dir schließlich schuldig, gehörst doch nicht zu denen, die auf die manipulierten Medien hereinfallen. Natürlich hast Du auch nie vom Zionistengebilde geredet. Du weißt schließlich, wie man das formulieren muss. Hierzulande, wo man ja aus bekannten Gründen aufpassen muss, was man sagt. Und der ganze aufgebauschte Käse mit den Atomwaffen, was soll’s, genau besehen ist es doch gar nicht so schlecht, hast Du immer bei Dir gedacht, hoffentlich ist Chávez auch bald so weit, das wäre eine schöne Schlappe für den Imperialismus.
Und dann aus heiterem Himmel plötzlich das! Seit Jahr und Tag träumst Du von einer revolutionären Situation. Du weißt natürlich, dass dann die da unten nicht mehr so weitermachen wollen und die da oben nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Schließlich hast Du Deinen Lenin gelesen. Ich verschone Dich jetzt mal für einen Moment mit meiner Nörgelei an Deinen heißgeliebten Völkern und lass mich ganz auf das Gute ein, das in Deiner Seele waltet. Du siehst doch, wie das Volk im Iran gegen seine Unterdrücker aufsteht, Du hörst doch, wie es nach Freiheit ruft. Drängt da nicht irgendwas in Dir mit Macht an seine Seite? Mal ehrlich und unter uns: Spräche nicht alles dafür, dass Du Dich endlich mal wieder so richtig der revolutionären Begeisterung hingibst?
Doch es ist wie verhext. Sie will sich partout nicht einstellen. Warum nur? Es gibt nur eine Erklärung dafür: dieses unangenehme Gefühl in Deiner Magengrube, das Dir immer wieder zuraunt: »Achtung. Dies ist das falsche Volk. Schließlich rebelliert es doch gegen die Richtigen.« Denn dass die Regierung in Teheran irgendwie ziemlich richtig liegt, das war Dir doch immer klar. Du denkst geopolitisch. Deswegen rechnest Du nach, um wie viel größer die Einflusssphäre der Yankees und Zionisten wohl wäre, wären da nicht die widerständigen Iraner. Denn diese beiden, also bitte, das ist ja nun wirklich das kleine Einmaleins eines jeden aufrechten Friedensfreundes und Revolutionärs, diese beiden sind ja wohl unbestreitbar der Gipfel des Übels auf der Welt, die wahre Achse des Bösen, wenn man so will. Die Jungs in Teheran sprechen ja nicht ganz zu Unrecht vom großen und vom kleinen Satan. Mein Guter, vielleicht überrascht es Dich, aber ich unterstelle Dir jetzt einfach mal, dass Du einer von der feinfühligeren Sorte bist und Dich, wenn Du an die iranischen Regimegegner denkst, nicht so recht dafür begeistern kannst, »dass Ahmadinejads Leute den einen oder andern in einen Darkroom befördert haben«. Tja, denkst Du Dir, das mit den Foltergefängnissen und dem Abknallen von Demonstranten ist halt doch nicht ganz das Wahre. Aber sofort meldet sich Deine Magengrube: Was weiß man denn überhaupt wirklich darüber? Wie viel hat denn da die CIA bloß wieder erfunden? Und überhaupt: Muss man das nicht im Interesse der Sache in Kauf nehmen? Könntest Du das Siegesgeheul der Imperialisten ertragen, wenn die Konterrevolutionäre gewönnen? Nicht auszudenken!
Weißt Du eigentlich, dass Deine iranischen Genossen vor 30 Jahren genauso gedacht haben, damals, als sie geholfen haben, Khomeini an die Macht zu bringen? Und dass sie dafür nach wenigen Monaten mit dem Leben bezahlt haben? Oder willst Du es bloß nicht wissen? Spürst Du immer noch so viel Nähe zu den Teheraner Kämpfern gegen Imperialismus und Zionismus, dass Du noch nicht einmal das an Dich heranlassen kannst? Ist Dein antiamerikanisches und antizionistisches Ressentiment so groß, dass du nicht merkst, wie Du auch noch das letzte Quäntchen Freiheitsanspruch aufgibst, wenn Du Dich mit denen weiter einlässt? Pass auf, mein Lieber, Ressentiment fressen Seele auf.
Da ist er wieder, dieser verdammte Magenkrampf, der sich in letzter Zeit immer öfter bei Dir meldet. Also erst mal schnell die Droge einwerfen: »Alles nur ein schmutziges Machwerk des Imperialismus und seiner durchtriebenen Strippenzieher und Ränkeschmiede!« Ah, spürst du schon, wie es nachlässt, wie sich alles wieder entkrampft. Diese wohltuende Wirkung. Jetzt kannst Du Dich wieder zurücklehnen, Dein Weltbild ist wieder im Lot.
Für den Moment jedenfalls. Denn gleich darauf trifft Dich der Schlag: Jetzt geht der Zirkus doch wahrhaftig sogar schon in der Jungen Welt los. Da streiten sie sich auch schon über diese Sache im Iran. Sollte denn der Mossad seine Leute sogar in Deinem Leib- und Magenblatt platzieren? Andererseits, gib’s zu: In irgendeiner abgeschirmten Ecke Deines Herzens hattest Du schon immer ein blödes Gefühl, wenn der geniale Führer der Sozialistischen Einheitspartei in Caracas mal wieder so schamlos dem Holocaust-Leugner von Teheran in den Armen lag. Könnten die das nicht ein wenig unauffälliger machen? Na, merkst Du schon, wie der imperialistische Agent in Dir zu rumoren beginnt? Verdammt, die CIA ist wirklich überall. Dabei war Dir doch bis jetzt alles so klar in Deiner Welt. Betrüger, Strippenzieher, Heuschrecken und Kriegstreiber beherrschten sie und Dich. Ob sie die Völker knechteten – ganz besonders das palästinensische natürlich – oder ob sie Dir die Arbeit wegnahmen und die Sozialhilfe kürzten, allein ihre Profitgier war an allem schuld. Und wie gut Deine Welt doch erst eingerichtet gewesen wäre, hätten deinesgleichen nur endlich ans Ruder gedurft.
Ich fürchte, mein Guter, Du wirst Dich irgendwann auch noch mit Kapitalismus befassen müssen. Das ist die Produktionsweise, die zwar Riesenprobleme schafft, aber wenigstens keine personale Herrschaft mehr braucht, keinen Wächterrat und keine Sittenpolizei, die aufpasst, dass der Schleier richtig sitzt, keinen lebenslänglichen Caudillo oder ähnliches. Aber dazu will ich Dir ein andermal schreiben. Für heute will ich Dir nur noch das sagen: Die gute Linke, die automatisch auf der richtigen Seite steht, weil sie schließlich allen andern haushoch moralisch überlegen ist – die gibt es nicht. Was sich seit geraumer Zeit herausbildet, riecht nach etwas anderem. Nach einer kackbraun-blutrot-giftgrünen Einheitsfront aus Nazis, Antiimps und Islamisten nämlich, die ihr kollektivistisches Ressentiment unter der Fahne des Kampfes gegen Spekulanten, USA und Israel ausagiert. Möchtest Du dazugehören? Einige deiner Freunde wollen das.
Kann man denen natürlich nachmachen. Muss man aber nicht. Denn da gibt es erfreulicherweise noch etwas anderes. Eine emanzipatorische Strömung nämlich, deren Markenzeichen die Kritik an fetischistischer Vergesellschaftung ist (das sind Zustände, ihn denen sich die Menschen von ihren eigenen Hirngespinsten beherrschen lassen, verstehst Du?). Sie hat keine Fahne, aber wenn sie eine hätte, wäre es die der freien Assoziation der Individuen. Auch entsteht sie auf verschlungenen Pfaden und unter Geburtswehen, bringt mitunter – wie jede Befreiungsbewegung – sogar Karikaturen ihrer selbst hervor und ist sich über ihre Konturen oft selbst noch nicht im Klaren. Aber schau, Du singst doch ab und zu das hier (oder brummst es wenigstens mit): »Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern, er will unter sich keinen Sklaven sehn und über sich keinen Herrn.« Glaub mir, wenn Du es damit wirklich ernst meinst, wirst Du Dich früher oder später dieser Strömung zurechnen. Tja, mein lieber Noch-Antiimp, auch Du wirst Dich entscheiden müssen. Wie sagte doch einst Dein Lenin: »Ein Mittelding gibt es hier nicht.« | lothar galow-bergemann | lothar galow-bergemann: Die deutsche Linke und die Proteste im Iran: Offener Brief an einen aufrechten Antiimperialisten | [] | Disko | 10.09.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/37/ressentiment-fressen-seele-auf?page=0%2C%2C1 |
Die Finger einer Hand | Als ich 1980 mit Freunden im Zug Spanien durchquerte, enterte ein orientierungsloser junger Mann unser Abteil. Ohne sich mit kleinbürgerlichen Höflichkeitsformeln wie »Hola« aufzuhalten, fragte er: »Welche Drogen nehmt ihr?« Eine Antwort war ihm nicht so wichtig, mit einem gewissen Stolz zählte er an den Fingern ab, welche er nahm. Er brauchte dazu beide Hände. Dann erkundigte er sich bei uns, in welcher Stadt er zugestiegen sei. Beim Zählen hatte er offenbar nicht übertrieben. Ich verstand bereits so viel von Politik, dass ich erkannte: Spanien verändert sich.
Der Klerikalfaschismus Francos hatte einen düster-machistischen Obrigkeitsstaat geschaffen. Der erzwungene Stumpfsinn dieser Diktatur musste überwunden werden, sollte Spanien den Anschluss an die kapitalistische Entwicklung nicht verlieren. Die an neuen Erfahrungen interessierten Jugendlichen holten dann die 68er-Bewegung nach, mit allen Problemen, die das mit sich bringt. Die Finger einer Hand sollten zum Zählen der eingenommenen Drogen ja genügen. Doch schließlich normalisierten sich die Gewohnheiten wie anderswo auch. Spanien fand den Anschluss an die kapitalistische Entwicklung, mit allen Problemen, die das mit sich bringt. Aber bis zum Beginn der Austeritätspolitik konnte man eine positive Gesamtbilanz ziehen: Erhöhung des Massenwohlstands, weitgehende Entmachtung der Kirche, Liberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Milderung des Machismo. Einen nennenswerten Beitrag zum Sturz der Diktatur hatten die westlichen Regierungen nicht geleistet, die europäische Integration half jedoch bei der Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie, indem sie der spanischen Bourgeoisie, aber auch den Lohnabhängigen neue Verdienstmöglichkeiten bot. Reisefreiheit gab es nicht mehr nur in der Theorie. Das Leben in anderen Ländern war für eine kurze Zeit nicht mehr ein Privileg der Reichen oder eine existentielle Entscheidung für die Arbeitsmigration, mit allen Problemen, die junge Menschen im Ausland, die von ihnen konsumierte Alkoholika mit beiden Händen abzählen müssen, mit sich bringen. Dennoch war es ein bemerkenswerter Fortschritt, dass die EU kurz davor stand, die Möglichkeit einer transnationalen europäischen Gesellschaft zu schaffen. Doch die Austeritätspolitik führt nun zu einer Retraditionalisierung der gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen, von der Entrechtung der Lohnabhängigen bis zur erzwungenen Rückkehr in den Schoß der Familie. Als Spanien 1981 in die EWG aufgenommenen wurden, meinte die Linke, das Land würde zu einem von den reicheren Staaten abhängigen Mitglied zweiter Klasse. Eine Zeitlang schien diese These falsch zu sein, doch nun hat die EU ihr fortschrittliches Potential erschöpft. Es ist nicht immer erfreulich, wenn man letzlich doch recht behält. | Jörn Schulz | Jörn Schulz: | [] | Inland | 15.10.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/42/die-finger-einer-hand?page=0%2C%2C0 |
Teuflisch deutscher Papst | »Eine gute und kluge Rede«, fand Andrea Nahles, und auch die Grünen fühlten sich gepauchpinselt, weil der Papst im Bundestag irgendwas mit Natur gesagt hatte. So umstritten vorher war, dass der Papst reden sollte, so freundlich fiel die Reaktion auf diese Rede aus. Und das, obwohl der Papst nichts weniger tat, als mitten im Parlament den Gottesstaat anzupreisen. Dezidiert erklärte er, weshalb er nicht viel vom Rechtsstaat hält. Das allerdings rhetorisch derart ausgebufft und mit schläfrig-sanfter Stimme vorgetragen, dass es offenbar niemandem auffiel. Der Trick geht so: Erst lobt er den Rechtstaat und das Recht. »Nimm das Recht weg, was ist dann ein Staat noch anderes, als eine große Räuberbande«, zitiert er Augustinus. Dann erklärt er, was er unter Recht versteht, und dass dies nicht mit der Rechtslage deckungsgleich sein müsse. »Wie erkennen wir, was Recht ist?« fragt er scheinheilig und ist keinesfalls der Meinung, dass man die Antwort in den Gesetzestexten findet. Und demokratische Mehrheitsentscheidungen seien ja auch nicht immer hilfreich. Wenn man gezwungen wäre, unter gottlosen Gesetzen zu leben, so Benedikt, dann sei es rechtens, gegen diese Gesetze zu verstoßen. Dass es dem Papst bei dieser Verteufelung des Rechtsstaats nicht um besetze Häuser oder ums Kiffen geht, dürfte klar sein. Er redet vielmehr dem Gottesstaat das Wort. Bevor dies jemandem auffällt, kommt der perfideste Dreh. Die »Widerstandskämpfer gegen das Naziregime« hätten aus demselben Grund zu Recht gegen geltendes Recht verstoßen. Darauf muss man erstmal kommen: Mit dem Antifaschismus für den religiösen Fundamentalismus und gegen die Demokratie – nie war ein Papst deutscher. Der Gottesmann verfügt über teuflische Perfidie. Dass er mit seiner vermeintlichen Anbiederung an die Ökologiebewegung in Wirklichkeit nur die »Natur des Menschen« gegen Homosexualität und Abtreibung in Stellung brachte, hat ihm ebenfalls kaum jemand angelastet. Recht hat am Ende die Bild-Zeitung, nämlich wenn sie »Wir sind Papst!« sagt. | Ivo Bozic | Ivo Bozic: | [] | Inland | 29.09.2011 | https://jungle.world//artikel/2011/39/teuflisch-deutscher-papst?page=0%2C%2C1 |
General gegen General | Zwischen zwei ehemaligen Generälen werden sich die Nigerianer bei der Präsidentenwahl am 19.April diesen Jahres entscheiden können. Beide Kandidaten, der derzeitige Präsident Olusegun Obasanjo und sein Rivale Muhammadu Buhari, sind sehr religiös, gelten nicht als korrupt und haben in der Vergangenheit Militärdiktaturen angeführt. Beiden wird von Mitgliedern ihrer Parteien vorgeworfen, bei den internen Nominierungen in der letzten Woche getrickst und Absprachen im Hinterzimmer getroffen zu haben. Unterstützt werden beide von einer heterogenen Schicht einflussreicher Männer, die Nigeria seit der Unabhängigkeit meistens mit Gewalt, manchmal auch mit Wahlen, seit der Entdeckung der Ölquellen im Südosten des Landes aber immer durch die Lenkung der Petrodollars in die eigenen Taschen regiert haben. Unter diesen Voraussetzungen werden die ersten von einer zivilen Regierung abgehaltenen Wahlen seit fast 20 Jahren nicht zu einer Stabilisierung der Demokratie führen. Bestenfalls werden im April und im Mai auch das Parlament und die Regionalregierungen ohne allzu großes Blutvergießen gewählt. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass beide Kandidaten die ethnisch-religiösen Spannungen, die seit dem Übergang zu einer gewählten Regierung vor vier Jahren tausende Todesopfer forderten, nicht weiter vergrößern, um ihre Wahlchancen zu erhöhen. Für den Herausforderer Buhari wird die Betonung seiner Religiosität und seiner Herkunft aus dem überwiegend muslimischen Norden allerdings eine verlockende Strategie sein, um den Machtapparat des christlichen, aus dem Süden stammenden Obasanjo zu erschüttern. Mehr als die Hälfte der Nigerianer ist muslimisch, und die Einführung der Sharia in einigen Bundesstaaten sowie die Entstehung ethnisch definierter Privatmilizen haben das Verhältnis der Religionsgruppen nicht gerade verbessert. Zwar hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass die Wähler ihre Stimme nicht ausschließlich nach Kriterien der Religion und der Herkunft vergeben. Doch die Gewalt der letzten Jahre führte zu einer Verstärkung der ethnisch-religiösen Identitäten. In seiner ersten Wahlkampfrede betonte Buhari, der für die All Nigeria People’s Party (ANPP) kandidiert, zwar seinen Einsatz für Toleranz, Religionsfreiheit und die Gleichbehandlung aller Bürger. Allerdings dürfen seine demokratischen Ansichten angezweifelt werden, auch heute noch verteidigt er seinen Putsch gegen die zivile Regierung im Jahr 1983: »Es liegt an den Leuten. Wenn die richtige Führung gewählt wird, gibt es keinen Bedarf an einem Militärregime.« Präsident Obasanjo wird versuchen, im Norden des Landes verlorene Sympathien zurückzugewinnen. Vor vier Jahren erhielt er dort die größte Unterstützung, doch in der Zwischenzeit wandte sich ein Teil der muslimischen Oligarchie von ihm ab. Die Einführung der Sharia gegen seinen Willen war das deutlichste Signal. Erst in letzter Minute gelang es ihm, auf dem Wahlparteitag seiner People’s Democratic Party (PDP) die Gouverneure aus dem Norden auf seine Seite zu ziehen. Offenbar sicherte er den zum Teil selbst von der Abwahl bedrohten Parteifreunden im Gegenzug seine Unterstützung zu. Die Nominierung der beiden ehemaligen Generäle resultiert aus den Macht- und Verteilungskämpfen in der politischen Klasse. Beide sind Veteranen der Oligarchie, Alternativen zu deren Herrschaft versprechen sie nicht einmal. | Alex Veit | Alex Veit: | [] | Ausland | 15.01.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/03/general-gegen-general?page=0%2C%2C2 |
Der plötzliche Aufstand | Einen Namen erhielt der Aufstand in Kirgisien schnell. Nach der »samtenen Revolution« in Georgien und der »orangen Revolution« in der Ukraine ist es diesmal die Tulpe, die zum Symbol des Machtwechsels in Kirgisien erklärt wird. Gerade in diesem Staat mit seinen für Zentralasien vergleichsweise demokratischen Verhältnissen hatte kaum jemand ernst zu nehmende Aktivitäten der Opposition erwartet. Ende Februar fand im Land der erste Durchgang der Parlamentswahlen statt, bei denen erwartungsgemäß präsidententreue Parteien die absolute Mehrheit erringen konnten. Nach Ansicht von Wahlbeobachtern der OSZE hielt sich der Wahlbetrug in erträglichen Grenzen. Lediglich in der Kreisstadt Uzgen im Süden des Landes erlaubten sich unzufriedene Anhänger eines recht populären oppositionellen Kandidaten nach Verkündung von dessen Niederlage die Stürmung eines Wahllokals. Die Stimmenzählung brachte das gewünschte Ergebnis hervor, und alle gaben sich zunächst damit zufrieden. Doch noch vor dem zweiten Wahldurchgang am 13. März begannen im Süden Protestkundgebungen, und es entstand eine Koalition von Vertretern oppositioneller Parteien. In Osch und Dshalal-Abad im Süden erfolgten erste Besetzungen von Regierungsgebäuden, bis die Unruhen am 23. März die Hauptstadt Bischkek erreichten. Nur einen Tag später wurde die sensationelle Nachricht verkündet: Präsident Askar Akajew habe klammheimlich mit seiner Familie die Flucht in das Nachbarland Kasachstan ergriffen. Am Samstag hieß es, er halte sich in Moskau auf. Viele Kirgisen nutzten die Gelegenheit für Plünderungen vor allem in Bischkek, bevorzugt wurden Waren aus den Supermärkten, die Familienangehörigen des Präsidenten gehören. Zunächst sah es so aus, als hätte ein schwacher Präsident jede Kontrolle verloren. Doch Akajew, der das Ausmaß der Proteste offenbar zunächst unterschätzt hat, scheint sich nun Chancen auszurechnen, sein Amt zurückzugewinnen oder zumindest eine Position zu erringen, die es ihm gestattet, Macht und Pfründe seiner Familie zu erhalten. Die Opposition ist gespalten, sie hat weder eine populäre Führungsfigur noch ein politisches Programm. Via Internet ließ Akajew am Wochende verbreiten, die Gerüchte über seinen Rücktritt als Präsident seien verlogen und böswillig und seine Abwesenheit sei lediglich vorübergehend. In Bischkek rivalisierten am Wochenende zwei Parlamente, das neu gewählte, in dem Anhänger Bakajews dominieren, und das alte, dessen Mandat abgelaufen ist, das jedoch nach Akajews Flucht den Oppositionspolitiker Kurmanbek Kabijew zum Interimspräsidenten ernannte. Am Montag wurde das alte Parlament für aufgelöst erklärt, aber die Lage ist weiter unübersichtlich. »Heute haben wir zwei Präsidenten«, erklärte der Sprecher des neuen Parlaments, »in einigen Gebieten drei oder vier Gouverneure und bis zu sechs regionale Führer in den Provinzen.« Am Wochenende sammelten sich zudem Akajews Anhänger in der Umgebung der Hauptstadt. Viele Oppositionpolitiker sind ehemalige Anhänger Akajews. Der Interimspräsident Kabijew war bis 2002 Premierminister, der wegen Überschreitung seiner Amtsvollmachten zu sieben Jahren Gefängnis verurteilte Felix Kulow war Minister für Staatssicherheit, Roza Otunbajewa fungierte als Vizepremier und Außenministerin, bis sie zurücktrat und fortan als Botschafterin in London und bei der Uno tätig war. Akajew ist einer der dienstältesten Präsidenten in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Er war fast 15 Jahre im Amt und galt für mittelasiatische Verhältnisse als weiche und konfliktscheue Führungsfigur. Die Opposition wuchs, weil Akajew nach dem Clanprinzip regierte und einzig und allein die Interessen seiner Großfamilie bediente. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre schaltete er aus der Führungsriege des Landes jegliche Konkurrenz aus. Mittlerweile fehlt es ihm schlicht an fähigen Kadern. Die Opposition hat jedoch das Prinzip der Clanpolitik nicht überwunden und besteht aus regionalen Interessengruppen. Fast alle erfahrenen Politiker stammen aus dem Norden des Landes, es ist fraglich, ob sie in der Lage sind, den Süden zu kontrollieren. Die Lebensbedingungen im bevölkerungsreichen Süden gelten als deutlich schlechter als im Norden. Vor allem innerhalb der recht gut organisierten usbekischen Minderheit, die hauptsächlich im an Usbekistan grenzenden Ferganatal ansässig ist, gibt es islamistische Tendenzen. Die letzten gewaltsamen Unruhen brachen dort 1999 infolge von Übergriffen islamistischer Kämpfer aus Usbekistan aus. Dass Akajew sich gegen einen Einsatz von Waffengewalt entschied, mochte nicht zuletzt mit der Befürchtung zusammenhängen, neuerliche unkontrollierbare Gewaltausbrüche zu provozieren. Die Ursache der unerwarteten Proteste ist offenkundig die soziale Misere des Landes. Kirgisien zählt zu den ärmsten Ländern in der Region, über die Hälfte der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft, die zu Sowjetzeiten entwickelte Industrie und Infrastruktur befinden sich in einem desolaten Zustand. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Renten sind verschwindend gering, und nach unterschiedlichen Angaben leben bis 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Als erste Republik der ehemaligen Sowjetunion trat Kirgisien 1998 der Welthandelsorganisation WTO bei, allerdings zu extrem ungünstigen Bedingungen und ohne vorherige Absprachen mit seinen Partnern innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion. Dies führte neben der Einrichtung eines US-Militärstützpunktes auch zu erheblichen Missstimmungen bei den Nachbarstaaten. Seit der Unabhängigkeit betreibt Kirgisien die Politik eines von ambitionierten Großmächten umzingelten Kleinstaates und pflegt enge Beziehungen sowohl zu Russland und den USA als auch zu China. Russland und Kirgisien unterzeichneten im Dezember 2002 ein Sicherheitsabkommen über die gegenseitige Nutzung militärischer Objekte, welches in der russischen Duma kurz vor Ausbruch der Unruhen ratifiziert wurde und nach Versicherungen der Interimsregierung in Bischkek auch weiterhin umgesetzt werden soll. In Kant, 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, eröffnete Russland im Oktober 2003 den ersten Militärstützpunkt außerhalb des Landes seit dem Zerfall der Sowjetunion. Auf den Fall des Verbündeten Akajew reagierte Moskau recht verhalten. Der russische Präsident, Wladimir Putin, betonte seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der neuen Führung, bot zugleich aber auch Akajew Rückhalt an. Es wurden jedoch auch Stimmen laut, die eine militärische Intervention russischer Truppen nicht ausschließen wollten. Die USA hingegen schlugen sich sofort offen auf die Seite der neuen kirgisischen Führung, wiesen gleichzeitig jedoch den Verdacht von sich, die Proteste finanziell unterstützt zu haben. Allerdings ist es kein Geheimnis, dass neben Förderprogrammen des IWF gerade US-amerikanische Gelder in den vergangenen Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung zahlreicher NGO und sogar der kommunalen Selbstverwaltung in Kirgisien geleistet haben. So bildet sich mit der Zeit eine neue Elite heraus, die sich Russland gegenüber nicht mehr so wohlgesonnen verhalten dürfte. Moskau sieht sich einem wachsenden internationalen Druck ausgesetzt, den zu meistern es offenbar einer neuen Strategie bedarf. | Ute Weinmann | Ute Weinmann: | [] | Ausland | 30.03.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/13/der-ploetzliche-aufstand |
Weg vom deutschen Weg | Im Kern«, so dozierte der konservative Publizist Arnulf Baring Anfang Mai, gehe es »zwischen Tschechen und Deutschen um etwas Moralisches, um Emotionales: um das Eingeständnis, dass das, was 1945 geschah, ein großes Unrecht, ein Verbrechen war. (...) Ich wüsste auch nicht, wie man eine solche Katastrophe, ein solches Unglück wieder gutmachen könnte.« Der hessische Ministerpräsident Roland Koch und der damalige Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Edmund Stoiber, dagegen wussten knapp zwei Wochen später beim 53. Sudetendeutschen Tag etwas genauer zu sagen, wie die Tschechen das »Unrecht« wieder gutmachen können. Die Aufhebung der Benes-Dekrete wäre aus ihrer Sicht ein Anfang. Dieser Forderung schloss sich auch Innenminister Otto Schily in etwas zurückhaltenderer Form an. Was das mit der Friedensbewegung zu tun hat? Nach Ansicht fast aller Demonstranten bedauerlicherweise nichts. Drei Tage nachdem bedeutende deutsche Politiker die antifaschistischen Grundlagen der europäischen Nachkriegsordnung offen in Frage gestellt hatten, gingen über 50 000 Menschen auf die Straße, und die Politik der europäischen Großmacht Deutschland war kein Objekt der Kritik. Weder die aggressive Instrumentalisierung der »Verbrechen von 1945« noch deutsche Militäreinsätze in der Balkanregion waren von Interesse. Die Proteste richteten sich ausschließlich gegen den Besuch des US-Präsidenten George W. Bush. Und während dieses dreitägigen Demonstrationsspektakels zeigten die deutschen Linken deutlich, wo ihre Sympathien liegen: Der Feind ist ein Cowboy in Washington, Kritik an Deutschland ist überflüssig oder unerwünscht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lautete die schärftse Kritik an Schröder, dass er nicht energisch genug aus dem »Vasallenstatus« ausbricht und den Krieg gegen den Irak als Handlanger der US-Politik womöglich doch unterstützen könnte. Am 26. Oktober wiederholte sich dieses Spektakel. Die Aufrufe des Bündnisses »Achse des Friedens« proklamierten schlicht, es gehe »um Öl und die Vorherrschaft in der Golfregion«, wobei selbstverständlich allein den USA ökonomische und machtpolitische Interessen unterstellt wurden. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Politiker der Bundesregierung sich »vor der Bundestagswahl gegen die Teilnahme Deutschlands an diesem Krieg aussprachen und vor seinen Folgen warnten - oft mit den Argumenten der Friedensbewegung«. Statt darüber nachzudenken, was es wohl zu bedeuten hat, wenn ein Kanzler, der sich rühmt, das Tabu des Militärischen in der deutschen Politik gebrochen zu haben, mit der Friedensbewegung einer Meinung ist, wurde Schröders Ankündigung als Erfolg gefeiert. Nun gelte es, die Bundesregierung »beim Wort« zu nehmen. Weil die Friedensbewegung glaubt, mit der Wiederwahl der Bundesregierung schon viel erreicht zu haben, sollen Schröder und Fischer jetzt ihren »deutschen Weg« fortsetzen. Ich habe an dieser Demonstration nicht teilgenommen. Wenn die Friedensbewegung den Schulterschluss mit der Bundesregierung übt, weshalb offenbar die deutschen Militäreinsätze in aller Welt keiner kritischen Erwähnung wert sind, dann hat das mit dem Kampf gegen den Krieg nichts mehr zu tun. Wer seine Kritik auf die Irakpolitik der USA verengt, hat zudem keine Möglichkeit, das komplexe Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation zwischen den westlichen Staaten zu analysieren und die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn Deutschland sich verstärkt in Mazedonien und im Kosovo, in Afghanistan und Ostafrika engagiert, ist das eine Art Ausgleich der ablehnenden Haltung zum Irakkrieg. Die Entlastung durch die Bundeswehr erleichtert verbündeten westlichen Staaten den nächsten Einsatz im Irak. Trotz der Konkurrenz im Nahen und Mittleren Osten gibt es im Rahmen der Nato eine Arbeitsteilung in den Krisenregionen. Wenn ausgerechnet die deutsche Friedensbewegung hier die Politik der deutschen Regierung unterstützt, wird sie staatstragend. Der Antinationalismus, den bedeutende Strömungen der Linken früher vertraten, ist in der Friedensbewegung in Vergessenheit geraten. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik mit ihren deutschtümelnden und antiamerikanischen Parolen trägt nichts zur Verhinderung des Krieges bei, sie stützt vielmehr die Verhältnisse, die zum Krieg führen. Ihre Aktivitäten in den letzten Monaten erleichterten es der rot-grünen Regierung maßgeblich, ihren angeblich friedlichen, auf jeden Fall aber »deutschen Weg« erfolgreich zu propagieren. Damit konnte sie im September nicht nur dringend benötigte Wählerstimmen sowohl von links als auch von rechts holen. Beide Regierunsparteien, die sich im entscheidenden Moment friedfertig gaben, schafften es auch, ihre militärischen Einsätze und Interessen der innenpolitischen Kritik zu entziehen. Geblendet von so viel Friedenswillen, fühlte sich die Friedensbewegung in ihrer Position dadurch bestärkt, dass der Bundeskanzler dem Cowboy und Kriegstreiber jenseits des Atlantik so deutlich widersprach. Und sie erwartete, dass er ihm weiterhin widerspreche. Das führt jetzt, da die Bundesregierung in der Irakfrage den geordneten Rückzug antritt, zu kaum lösbaren Problemen. Die deutschen Interessen konnten nicht im Alleingang gegen die USA durchgesetzt werden, und es ist deutlich geworden, dass Deutschland den Krieg zumindest indirekt unterstützen wird, um an der Gestaltung der Nachkriegsordnung beteiligt zu werden. In zentralen Punkten wie der Nutzung der US-Militärbasen und der Luftwege über Deutschland zu Kriegszwecken kündigte Schröder bereits seine Zustimmung an, wobei kaum vorstellbar ist, dass eine negative Entscheidung jemals ernsthaft im Gespräch war. Weitere Zugeständisse dürften folgen. Ohnehin waren die »Vergiftung« der deutsch-amerikanischen Beziehungen und die zur Schau getragenen beleidigten Mienen der Spitzenpolitiker nicht allein ein Ausdruck realer Differenzen, sondern auch eine inszenierte Show. Die Friedensbewegung hat auf den Kurswechsel der Regierung nur noch mit Erstaunen reagieren können. Man kann nun zusammen mit allen anderen, die sich von Schröder betrogen fühlen, beklagen, wie schnell der Kanzler von der Wahlkampfrhetorik wieder zur Tagesordnung übergeht. Eine Wende vom Bündnis mit der Bundesregierung zur Kritik an Deutschland aber wird die Friedensbewegung nicht mehr schaffen. Nicht nur weil die antiamerikanischen Ressentiments zu tief sitzen, sondern auch weil der kommende Irakkrieg von der deutschen Friedensbewegung weiterhin isoliert von allen anderen westlichen Militärinterventionen gesehen wird. Ohne eine Thematisierung etwa der Intervention in Afghanistan, wo deutsche Spezialeinheiten seit fast einem Jahr Seite an Seite mit US-Soldaten kämpfen und die Bundeswehr die Führung der multinationalen Truppen übernehmen wird, fehlt dem Aktivismus jeder oppositionelle oder gar emanzipatorische Ansatz. Sich stattdessen über die Bedrohung durch den Cowboy in Washington und die Buletten von McDonald's zu empören und die irrsinnige Parole »kein Blut für Öl« in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet, auf die für jede wirklich emanzipatorische Friedenspolitik notwendige Kritik an den Gewaltverhältnissen in der deutschen Gesellschaft zu verzichten. Allerdings mündet die Kritik an der Friedensbewegung derzeit in eine aufgeheizte Debatte unter den deutschen Linken, wo es nur noch Friedensbewegte oder Bellizisten, Antisemiten oder Antideutsche zu geben scheint. Es ist eine selbstbezogene Debatte, in der die Perspektiven emanzipatorischer Politik keine Rolle spielen. Notwendige Initiativen wie der Widerstand gegen den neuesten Vorstoß der Sudetendeutschen Landsmannschaften, die Asylpolitik der Bundesregierung und den Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft, der in erster Linie gegen die in der Bundesrepublik lebenden Juden gerichtet ist, unterbleiben. Ein nicht antiamerikanischer und nicht verdeckt oder offen antisemitischer Antikapitalismus wie auch die alltägliche antirassistische und -sexistische Politik werden derzeit nur von einer verschwindend kleinen Minderheit der deutschen Linken vertreten. Eine Unterbrechung dieser Debatte zur Klärung theoretischer Grundfragen könnte daher nicht schaden. Kleine Gruppen machen es vor, wenn sie sich in Veranstaltungen zuerst einmal fragen, was Antisemitismus überhaupt ist. Um zu neuen politischen Ansätzen zu kommen, müsste die Linke ihre Theorien über den Krieg und den Nahen Osten kritisch überprüfen und vor allem debattieren, wie internationalistische Politik im 21. Jahrhundert aussehen kann. Notwendig wäre auch ein internationaler Meinungsaustausch, denn die deutschen Linken verlieren sich in streng kategorisch geführten Debatten, die außerhalb der Landesgrenzen kaum jemand nachvollziehen kann. Die Debatten beispielsweise in der US-Friedensbewegung, für die der Kampf gegen den Abbau der Bürgerrechte eine Selbstverständlichkeit ist, zur Kenntnis zu nehmen, könnte helfen, eine andere zentrale Schwäche zu überwinden. Denn die deutsche Linke, die sich seit über einem Jahr fast ausschließlich mit dem Leitthema »USA vs. Irak« beschäftigt, hat darüber alle anderen wichtigen Bereiche emanzipatorischer Politik vergessen. | William Hiscott | William Hiscott: USA vs. Irak | [] | Disko | 04.12.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/49/weg-vom-deutschen-weg?page=0%2C%2C1 |
Es war einmal ein Rechtsstaat | Mehr Rechtsbrüche wagen! Friedrich Merz (CDU) bei einer Veranstaltung vom Verband der Familienunternehmer am Freitag vergangener Woche in Berlin Wie groß die unter Konservativen derzeit grassierende Lust am Tabubruch ist, war eindrücklich in der FAZ zu besichtigen. Der dort für »Staat und Recht« zuständige Redakteur Reinhard Müller sah sich Anfang Juni zu der Feststellung genötigt, dass »kein Verwaltungsgericht die Regierungspolitik bestimmt. Auch nicht das in Berlin.« Daher, so Müller, müsse die Regierung »bei ihrer Migrationspolitik bleiben«. Müller hatte einen Beschluss kommentiert, den das Berliner Verwaltungsgericht am Vortag in einem Eilverfahren gefällt hatte: Direkte Zurückweisungen Asylsuchender bei Grenzkontrollen an den deutschen EU-Binnengrenzen sind demnach rechtswidrig. Genau diese Einschätzung hatten zahlreiche Jurist:innen in den vergangenen Monaten immer wieder geäußert. Gleichwohl hatte der im Mai ins Amt gekommene Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) – der Forderung des Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) folgend – eben jene Zurückweisungen angeordnet. Merz und Dobrindt begründen ihre Grenzpolitik mit einem vermeintlichen Notstand – obwohl die Asylzahlen im Mai zuletzt im Jahr 2021 so niedrig waren wie im vergangenen Monat. Dagegen hatten drei Somalier, zwei Männer und eine Frau, geklagt. Sie waren am 9. Mai mit dem Zug aus Polen in Frankfurt (Oder) angekommen. Die Bundespolizei hatte sie kontrolliert. Nachdem die drei angegeben hatten, Asyl beantragen zu wollen, wurden sie am selbem Tag nach Polen zurückgewiesen. Das Gericht folgte ihrer Beschwerde: Deutschland sei nach der Dublin-Verordnung der EU dazu verpflichtet, bei Asylgesuchen, die auf deutschem Staatsgebiet gestellt werden, in jedem Fall das Gesuch vor einer Abschiebung zu prüfen. Sich auf eine Notlage zu berufen, um diese Verpflichtung auszusetzen, sei nicht zulässig. Die FAZ sah in dem Urteil eine unzulässige Einmischung in die Politik und feuerte Dobrindt an, nicht einzuknicken. Das wäre freilich nicht nötig gewesen. Noch am Tag des Urteils sagte Dobrindt, an der Praxis, Schutzsuchende an den Grenzen abzuweisen, werde sich »aktuell« nichts ändern. Kanzler Merz nannte die Gerichtsentscheidung nur vorläufig, man wolle das Hauptverfahren abwarten. Die Entscheidung werde das Vorgehen an den Grenzen nicht grundsätzlich in Frage stellen: »Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können«, behauptete Merz. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Hoffmann, verwies darauf, dass in anderen Teilen Deutschlands weitere Einzelfallentscheidungen über zurückgewiesene Asylbewerber zu erwarten seien – möglicherweise mit anderem Ausgang. So gebe es in Bayern eine »relativ restriktive Spruchpraxis«. Unterm Strich taten die Konservativen also genau das, was die FAZ von ihnen verlangte: Sie ignorierten das Urteil. Darin zeigt sich ein seit einiger Zeit immer häufiger zu beobachtendes Muster: Autoritäre und populistische Politiker schränken Grundrechte ein – und wo Menschen- oder Verfassungsrechte ihren Plänen im Weg stehen, wird die Justiz zum Gegner der Volkssouveränität erklärt. Doch der Frankfurter Juraprofessor Maximilian Pichl wies auf der Plattform Bluesky darauf hin, dass das Verwaltungsgericht Berlin »nicht die ›Politik‹, sondern die Exekutive in Form von Innenministerium und Bundespolizei eingehegt« habe. Die Richter:innen hätten Recht »nicht fortgebildet oder erfunden«, sondern ein »in einem politischen Verfahren beschlossenes Gesetz konkret angewendet«, um »eine obskure Weisung des Innenministeriums ohne demokratische und empirische Begründung als rechtswidrig einzustufen«. Das sei Gewaltenteilung, so Pichl. »Das Rechtsverfahren hat in Erinnerung gerufen, was Politik beschlossen hat. Die Exekutive ist an Recht und Gesetz gebunden – das ist hier eingelöst worden.« Die Praxis, Gerichtsentscheidungen nassforsch die Rechtmäßigkeit abzusprechen, greift seit längerem um sich. Populist:innen und von diesen angespornte Konservative verbreiten die Vorstellung, es gebe ein vom kodifizierten Recht abweichendes Interesse des Souveräns: eine Art vermeintlich gesunden Volksempfindens, das von Politikern erkannt und gegen rechtliche Hürden durchgesetzt werden müssten. Ist das auf gesetzgeberischem Weg nicht möglich, setzen sich Regierungen oder Behörden in der Praxis einfach über solche Hürden hinweg. Der US-Präsident Trump drückte das kürzlich auf X in aller Konsequenz mit einem Napoleon zugeschriebenen Zitat aus: »Wer das Land rettet, bricht kein Gesetz.« Merz und Dobrindt begründen ihre Grenzpolitik immer wieder mit einem vermeintlichen Notstand – obwohl die Asylzahlen im Mai zuletzt im Jahr 2021 so niedrig waren wie im vergangenen Monat. Auch hierzulande wird die Ansicht vertreten, der Staat könne sich bei Bedarf über Grundrechte und geltendes Recht hinwegsetzen. So befürwortete etwa der Oldenburger Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler schon vor der Wahl den Vorstoß des CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz, eine Notlage auszurufen, um Geflüchtete an den deutschen Grenzen zurückweisen zu können. »Deutschland würde sich nicht mehr an das geltende EU-Recht halten, sondern sein eigenes Ding machen«, sagte Boehme-Neßler der Bild-Zeitung – und sprach von einer »drastischen, aber zumindest kurzfristig sinnvollen Maßnahme«. In ähnlicher Weise nennt der CDU-Politiker Jens Spahn die Genfer Flüchtlingskonvention – einen integralen Bestandteil der internationalen Menschenrechte – »heute nicht länger praktikabel«. Polen wiederum lobt sich selbstbewusst für Pushbacks an den Außengrenzen, obwohl es damit gegen EU-Recht verstößt. Die EU-Kommission, die die Pushbacks lange »inakzeptabel« genannt hatte, gab dem politischen Druck nach und gestattete es Polen in einer Stellungnahme Ende des Jahres, an den Grenzen »alles Notwendige« zu tun, um die »öffentliche Ordnung und Souveränität zu schützen«. In Großbritannien entschied der Oberste Gerichtshof Ende 2023, die geplante massenhafte Abschiebung von Asylsuchenden nach Ruanda sei rechtswidrig. Lee Anderson, seinerzeit stellvertretender Chairman (dieser stellt eine Art Geschäftsführer dar) der Konservativen Partei, inzwischen aber zur rechtspopulistischen Konkurrenzpartei Reform UK gewechselt, nannte das Urteil einen »schwarzen Tag für das britische Volk«. Dieses sei »sehr geduldig« gewesen, nun aber wolle es Taten sehen. »Wir sollten das Recht ignorieren und sie (die Ankommenden; Anm. d. Red.) direkt zurückschicken«, sagte Anderson. In Italien bekam die römische Richterin Silvia Albano im Oktober 2024 Morddrohungen, nachdem sie die Abschiebung von zwölf Asylsuchenden in ein neues Lager in Albanien verboten hatte. Sie erhielt Polizeischutz, ebenso wie drei Staatsanwälte in Palermo. Diese waren von Unbekannten bedroht worden, weil sie eine sechsjährige Haftstrafe für den rechtsextremen Politiker Matteo Salvini wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch beantragt hatten. In dem Prozess ging es unter anderem darum, dass Salvini in seiner Zeit als Innenminister ein Rettungsschiff wochenlang am Einlaufen in einen italienischen Hafen gehindert hatte. Ende vergangenen Jahres wurde Salvini freigesprochen. Ein angeblich Linksextremer, der mit Grünen und »Asyllobby« unter einer Decke steckt, damit Deutschland weiter mit Flüchtlingen geflutet wird – es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Plot Bedrohungen gegen den Richter nach sich ziehen könnte. Das rechte Krawallportal Nius des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt mühte sich nach Kräften, gegen die an dem Berliner Urteil beteiligten Richter zu hetzen: »Ein grüner Richter, zwei NGOs und drei Somalis: So lief der Geheimplan der Asyllobby gegen Dobrindts Zurückweisungen«. Nius skandalisierte, dass Pro Asyl die Klage der Somalier unterstützt hatte, und warf dem Richter Florian von A. vor, als Student Mitglied einer Gruppe gewesen zu sein, die vom Verfassungsschutz als »linksextremistisch« eingestuft wurde. Mit dem Urteil habe A. sein »asylpolitisches Lebenswerk« vollendet. Ein angeblich Linksextremer, der mit Grünen und »Asyllobby« unter einer Decke steckt, damit Deutschland weiter mit Flüchtlingen geflutet wird – es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Plot Bedrohungen gegen A. nach sich ziehen könnte. »Zwei Kolleginnen und ein Kollege haben in Berlin gemeinsam über eine Rechtsfrage zur Zurückweisung von Asylsuchenden entschieden. Deswegen werden sie persönlich diffamiert und bedroht. Das geht zu weit!« schrieben der Verein der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter in Berlin und der Berliner Landesverband des Deutschen Richterbundes in einer gemeinsamen Stellungnahme. Doch es wird so weitergehen, solange in der Union eine Stimmung herrscht, wie sie die Zeit im Januar beschrieben hatte: Niemand, so sagte demnach ein »Unionsmann«, könne »die Ausreden mehr hören, wegen irgendeines ›Scheiß-Gerichts‹ gehe dies nicht oder wegen des Europarechts oder der Genfer Flüchtlingskonvention jenes nicht«. | Christian Jakob | Christian Jakob: Die Bundesregierung lässt sich bei ihrer Asylpolitik von Gerichtsurteilen nicht beirren | [
"Flüchtlinge",
"Grundrechte",
"Rechtsstaat",
"Gerichtsverfahren",
"Asylpolitik",
"Festung Europa",
"Autoritarismus",
"Rechtspopulismus",
"Konservatismus"
] | Inland | 12.06.2025 | https://jungle.world//artikel/2025/24/bundesregierung-asylpolitik-gerichtsurteile-es-war-einmal-ein-rechtsstaat?page=0%2C%2C1 |
Aus der Einöde | Der neue Big-Brother-Abklatsch auf Sat.1 ist noch nicht angelaufen, das mal vorweg. So ganz genau weiß man also nicht, was bei »Newtopia« alles passieren wird – dass das »Sozialexperiment« unguckbar sein wird, steht allerdings jetzt schon fest. Fangen wir mit den Zutaten an: »Newtopia« spielt auf dem Land. Und zwar in einer Einöde namens Zeesen, was ja schon schlimm genug wäre (keine Berge, kein Meer, nur plattes Brandenburg), und dort sollen die insgesamt 15 Kandidaten (es wird Wochen dauern, sich deren Gesichter und Namen zu merken, Woooochen) eine neue Gesellschaftsform mit eigenen Gesetzen begründen. Dazu bekommen sie eine Scheune ohne Heizung, was durchaus üblich ist, denn Heu und Krams brauchen es nicht kuschelig warm zu haben, und die Kandidaten müssen vermutlich eh Tag und Nacht schuften, denn sie haben ja nichts. Außer zwei Kühen, ein paar Hühnern und Äckern, was alles nicht sehr interessant im Fernsehen anzugucken sein wird.
Aber natürlich setzt man bei Sat.1 aufs Zwischenmenschliche, das heißt, irgendwer wird vergessen, das Viehzeugs zu füttern, und es wird deswegen ganz viel Ärger geben, dazu stundenlange Diskussionen, ob man die Tiere nicht vielleicht doch besser aufisst, und dazu wird viel getratscht und gehetzt und gemeines Zeugs verbreitet. Und möglicherweise auch Sex gehabt. Wirklich spannend klingt das nicht, ne? Das alles wird zwölf Monate dauern und jeden Tag um 19 Uhr übertragen. Und am Ende wird ganz sicher kein neuer Gesellschaftsentwurf stehen, sondern ein erfolgloses Fernsehformat, bei dem ein paar nette Hühner und Kühe mitwirken und eine Menge komischer Leute, die anschließend nie mehr miteinander reden werden, außer die beiden, die heiraten werden, sich aber bald scheiden lassen, wetten? | Elke Wittich und Boris Mayer | Elke Wittich und Boris Mayer: | [] | dschungel | 26.02.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/09/aus-der-einoede?page=0%2C%2C1 |
Mit der Flexi-Peitsche | Am Ausgangspunkt des Luxemburger Gipfels stand die französische Linksregierung: Im Juni hatte sie, frisch ins Amt gekommen, ihre Unterschrift unter den Amsterdamer Vertrag gesetzt, der das Maastricht-Abkommen verlängert und fortschreibt. Im Gegenzug hatte sie eine gemeinsame Initiative zur Beschäftigungspolitik und Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit der Europäischen Union (EU) gefordert, die sich einerseits in einer symbolischen Passage im Amsterdamer Vertragstext selbst, andererseits in der Einberufung des Luxemburger Sondergipfels niederschlug. In Luxemburg fielen die Franzosen, die mit einer doppelten Delegation angereist waren - eine angeführt vom sozialistischen Premierminister Lionel Jospin, die andere vom bürgerlichen Staatspräsidenten Jacques Chirac -, wiederum auf. Chirac kritisierte vor versammeltem Gipfelpublikum die Maßnahmen der Linksregierung zur Beschäftigungspolitik, die er als "Trugbild gewagter Experimente" bezeichnete. Das Hickhack der französischen Repräsentanten in Luxemburg deutet bereits an, daß die Pariser Politik in Sachen Arbeitslosigkeit Gegenstand politischen Streits ist und über bloße technokratische Reparaturmaßnahmen hinauszugehen beansprucht. Dies gilt vor allem für die am 10. Oktober beschlossene Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Wochenstunden und die Schaffung von 350 000 Arbeitsplätzen durch den Staat (siehe Jungle World Nr. 39). Auf symbolischer Ebene jedenfalls hat die Politik hier Marksteine gesetzt. Bei näherem Hinsehen jedoch zeigen sich die Grenzen des Bestrebens, die "Marktkräfte" zu bändigen bzw. gegen sie anzusteuern. Auch findet man Parallelen und Kontinuitäten zur Politik der konservativ-liberalen Vorgängerregierung. So verabschiedete das französische Parlament mit seiner damals noch erdrückenden konservativen Mehrheit am 11. Juni 1996 ein Gesetz, das nach dem Fraktionsvorsitzenden des bürgerlichen Parteienbündnisses UDF, Gilles de Robien, als "Loi Robien" bezeichnet wird. Dieser Text regt Unternehmer und Gewerkschaften an, auf Betriebs- und Branchenebene Abkommen zu schließen, die eine Reduzierung der Arbeitszeit (z. B. auf 35 Stunden) enthalten, als Gegenleistung der abhängig Beschäftigten aber eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten, etwa mittels Jahres-Arbeitszeitkonten, vorsehen. Dafür gibt es vom Staat massive finanzielle Anreize in Form von Steuer- und Abgabennachlässen für die Unternehmen, die solche Abkommen eingehen. Was das Loi Robien experimentell einführte, ermöglicht der aktuelle 35-Stunden-Beschluß auf breiter Ebene. Denn dieser schreibt derzeit nur als allgemeingültig fort, was das Loi Robien im kleinen Maßstab erprobte: Das Gesetz über die 35-Stunden-Woche, das spätestens bis Januar 1998 zu verabschieden ist, besagt nichts anderes, als daß in allen Branchen und Betrieben - dort, wo die Gewerkschaften am schwächsten sind - Abkommen "auf Gegenseitigkeit" zu schließen sind. Die "Linksregierung" hat sich so die symbolische Einführung der 35 Stunden reserviert, sozusagen das Zuckerbrot, während die Peitsche, die Flexibilisierung von Arbeitszeiten bzw. die "Mäßigung der Lohnentwicklung", den sogenannten Sozialpartnern überlassen bleibt. Die Regierung wird in zwei Jahren eine Bilanz der bis dahin stattfindenden Verhandlungen ziehen und daraus ein zweites Gesetz formen. Zu erwarten ist insbesondere, daß es zu einer massiven Zunahme der Jahres-Arbeitszeitkonten kommen wird, womit die Obergrenzen der Wochenarbeitszeit aufgehoben und durch eine Berechnung der Arbeitsdauer im Jahresdurchschnitt ersetzt werden. Jüngstes Beispiel dieser Entwicklung ist der, von der Regierung und vor allem vom KP-Transportminister Gayssot favorisierte Tarifabschluß im Transportgewerbe infolge des Streiks der Fernfahrer Anfang November. Liest man den Text genauer, so findet sich darin eine Klausel, dieden einzelnen Betrieben die freie Wahl läßt: zwischen einer Bezahlung nach stündlich geleisteter Arbeitszeit (umgerechnet knapp 3 000 Mark für 200 Stunden pro Monat) oder aber Zahlung eines nach Arbeitsdauer im Jahresdurchschnitt berechneten Lohns. Um die zweite Variante durchzusetzen, ermöglicht das Abkommen den einzelnen Transportunternehmen ausdrücklich, den bestehenden Tarifvertrag aufzukündigen. Dafür, daß sie unter das Abkommen vom 7. November ihre Unterschrift setzten, erhalten die Unternehmen wiederum finanzielle Vergünstigungen vom Staat. | Bernhard Schmid | Bernhard Schmid: | [] | webredaktion | 27.11.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/48/mit-der-flexi-peitsche |
Töpferkurs mit Romeo | Das hatte einem die Bravo damals hinterrücks verschwiegen: Wenn der erste richtige Freund erst beschafft war, so hatte man gedacht, würde alles gut werden. Klar würde es Probleme geben, die gehörten schließlich zu so einer echten Beziehung dazu, man würde sich streiten, aber eben auch versöhnen und es würde Grund zur Eifersucht geben und Ärger um die gemeinsame Freizeitgestaltung und vielleicht auch Nervereien mit der besten Freundin. Auf einen Punkt hatte einen aber keiner der hauptberuflichen Ratgeber vorbereitet: das erste offizielle Zusammentreffen von Eltern und Freund. Dunkel geahnt hatte man schon einige Tage vor dem großen Meeting, dass die Qualitäten, die einen dazu gebracht hatten, sich in den Star der Parallelklasse zu verlieben, für Mama und Papa eher Sekundärtugenden sein könnten. Die Fähigkeit, in Rekordzeit einen Joint zu bauen oder auf der Kirmes derart gut Autoscooter zu fahren, dass selbst die Schausteller staunten und dem Schwarm umgehend einen Job anboten, würde die Erziehungsberechtigten nicht unbedingt für den künftigen Schwiegersohn einnehmen, soviel war klar. Auch dass er unglaublich gut küssen konnte und einen fortwährend mit »mein Engel« anredete wäre für sie kein Qualitätsbeweis. Also musste der Kerl zunächst auf Linie gebracht werden: »Fall bloß nicht auf meine Eltern rein, sie tun zwar nett, aber sie sind die Hölle!« Anschließend wurde geübt: »Sag bloß nicht, dass du eigentlich nix werden willst, dann hast du gleich verschissen. Behaupte einfach, dass du studieren willst, aber noch nicht weißt, was!« Auch die Familie wurde umfassend auf den großen Tag vorbereitet. Der kleine nervige Bruder, der ganz gern aus dem schwesterlichen Tagebuch zitierte, das man doch besser hätte abschließen sollen, soviel stand nun fest, wurde ausquartiert. Das war einfach. Papa zu überreden, auf seine geliebte schlumelige braune Feierabend-Cordhose zu verzichten, war nicht weiter schwierig, denn unerklärlicherweise hatte die seit einigen Tagen einen Riss überm Hintern. Der Vorstellungstermin geriet trotzdem zum peinlichsten Abend des Lebens. Der Kerl saß entweder völlig verstockt auf der Couch und zeigte nur wenig von der den Eltern zuvor ziemlich großspurig angekündigten Eloquenz und Intelligenz – oder er quasselte in einer Tour durch. Den größtmöglichen Unsinn selbstverständlich, wobei die eigenen Eltern auch nicht viel besser waren. Sie erzählten im schlimmsten Fall lustige Geschichten aus dem Familienleben, die man selbst eigentlich absolut geheimhalten wollte – nun würde man für immer mit dem Typen zusammen bleiben müssen, denn sowie man sich trennen würde, erzählte er sie bestimmt überall herum. Am besten war es tatsächlich, wenn alle Beteiligten bereits nach zehn Minuten feststellten, dass man einander einfach nichts zu sagen hatte. Dann durfte man den Typen mit aufs Zimmer nehmen und ein wenig knutschen; erst später würden die Eltern taktvoll anmerken, dass sie den Kerl eher nicht mochten. Das war aber auch völlig okay, denn einen Freund zu haben, den Mama und Papa mochten, wäre derart uncool gewesen, dass man ihn sofort hätte wegschicken müssen. Die Macher der neuen Sat.1-Show »Family Date« können solche Probleme niemals erlebt haben. Denn sonst wären sie nie auf die Idee gekommen, das US-Format »Meet my folks« fürs deutsche Fernsehen zu editieren. Alles daran ist schließlich höchst schmierlappig – und weckt traumatische Erinnerungen. Drei Männer bewerben sich in »Family Date« um die große Chance, nach umfassenden Tests mit der – meist sehr schwer vermittelbar aussehenden – Tochter des Hauses in Urlaub fahren zu dürfen. Der Glückliche wird dabei jedoch nicht von der Betroffenen ausgesucht, sondern es sind die Eltern, die täglich einen Bewerber wegschicken. Was bedeutet: Die Kerle schleimen sich nicht nur an die Tochter ran, sondern auch ganz massiv an Mama und Papa. Man wohnt unter einem Dach und entsprechend hilfsbereit und aufmerksam und freundlich und gut gelaunt präsentieren sich die Männer. Ständig. Andauernd lassen sie sich kleine Überraschungen einfallen, die Frauen im Leben meist dazu bringen würden, laut schreiend wegzulaufen. Denn wer möchte schon auf eine idyllische Waldlichtung geführt werden, wo ein reich mit italienischen Spezialitäten bedeckter Tisch wartet? Zum einen ruiniert man sich an solchen Orten grundsätzlich die Absätze, zum anderen müsste mittlerweile wirklich jeder wissen, das es in Wäldern vor Zecken, Wespen, Spinnen, Käfern und Ameisen wimmelt und das gesammelte Viecherzeugs wahrscheinlich nur darauf wartet, auf dem Parmaschinken Platz zu nehmen, im Champagner baden zu gehen und anschließend mit schmutzigen Füßchen über die Butter zu trampeln. Romantisch ist das jedenfalls nicht, aber die zu vergebende Tochter strahlt den Wannabe-Romeo selbst dann noch tapfer an, als ein Mandolinenspieler aus dem Unterholz tritt und mit dem Abspielen absolut verbotener Schnulzen beginnt. Die Überraschung des nächsten Kandidaten ist ebenfalls nichts für richtige Frauen. Er lädt zum gemeinsamen Töpfern ein – Töpfern! I.e: Ekliges Geschirr oder fiese Vasen herstellen! Sich dabei pausenlos mit schleimigem Matsch vollkleckern! Die Tochter tut trotzdem so, als freue sie sich halbtot, anstatt den Kerl mit dem Gesicht zuerst auf die Töpferscheibe zu werfen und diese dann einzuschalten, wie es eigentlich angebracht gewesen wäre. Denn die Frau scheint wirklich dringend ein Date haben zu wollen, schließlich erwürgt sie auch den dritten Kandidaten nicht, dessen Überraschung in einem Body-Painting besteht. Nicht etwa, dass sich nun ein international renommierter Künstler über ihren Körper hermachen würde, nein, man malt sich in Badekleidung gegenseitig an mit etwas, das schwer an Fingerfarben erinnert. Hier ein Strichmännchen, da ein Wölkchen oder ist es doch ein Herzchen, dazu wird gequält gelacht. Später dann kommen die Ex-Freundinnen und erzählen Nachteiliges über die Herren, wobei besonders die Väter sehr aufpassen. Denn natürlich sind sie es, die das letzte Wort bei der Auswahl haben. Wozu einem jede Menge Assoziationen kommen, die man aber allesamt nicht aufschreiben möchte. Eigentlich, so hatte man eben noch gedacht, sei »Dismissed« auf MTV die schlimmste Sendung der Welt. Die sich beständig gegenseitig dissenden Typen, die all ihren Ehrgeiz daran setzen, eine blonde Schnalle zu gewinnen, sind wirklich nur schwer zu ertragen. Frauen, die einander in Grund und Boden bitchen – obwohl es objektiv dabei nur um einen dieser Kerle geht, denen man selbst auf kürzeren Distanzen wie auf dem Weg zum Zigarettenautomaten am Nachbarhaus zu jeder Tages- und Nachtzeit ungefähr bei jedem zweiten Schritt begegnet – sind sogar noch ekliger anzusehen. Aber »Family Date« schlägt sie um Längen. Denn alle Beteiligten nehmen die Sendung absolut ernst. Die Töchter glauben wirklich, dass es den Jungs tatsächlich nur um sie geht und nicht etwa um den Fernsehruhm; die Eltern diskutieren die Vor- und Nachteile der Kandidaten so intensiv, als ginge es wirklich darum, den Gewinner für die nächsten 30 Jahre als Schwiegersohn am Hals zu haben; und die Kandidaten scheinen zu glauben, dass sie sich in einer Castingshow für die Gottschalk-Nachfolge bei »Wetten dass« befinden, so schmierig versuchen sie, ihre TV-Kompatibilität und Weltläufigkeit unter Beweis zu stellen. | Elke Wittich | Elke Wittich: | [] | Lifestyle | 01.10.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/40/toepferkurs-mit-romeo |
Keine Tagesordnung, kein Frieden | Nicht einmal über die Tagesordnung konnten sich die Kontrahenten einigen: Die Verhandlungen zwischen der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) und der sudanesischen Regierung sind vergangenes Wochenende gescheitert. Es gilt als sicher, daß die Kämpfe weitergehen, sobald die Regenzeit in dem ostafrikanischen Staat vorüber ist. Somit bleiben internationalen Hilfsorganisationen noch knapp drei Monate, um 2,6 Millionen vom Hungertod bedrohte Menschen zu versorgen. Die Konstellation bei den Verhandlungen war ungewöhnlich. Die Rebellenbewegung sprach sich für die Einheit des Landes aus, während die islamistische Regierung ein Referendum über dessen Teilung vorschlug. An diesen gegensätzlichen Konzepten und dem Streit um den Geltungsbereich des Referendums scheiterten die Verhandlungen. Die SPLA fordert die Einbeziehung der Ölfördergebiete und der von ihr beherrschten Nuba-Berge, die Zentralregierung will nur über jene Gebiete verhandeln, die einst von der britischen Kolonialmacht zum Südsudan erklärt wurden. Der Südsudan wurde von der früheren Mandatsmacht Großbritannien vom Norden des Landes isoliert. Nur diesem wurde ökonomische und politische Bedeutung zugesprochen. Diese indirekte Herrschaft formte aus der Stammesaristokratie eine koloniale Elite, die nach der Unabhängigkeit 1956 die Macht übernahm. Gegen den "inneren Kolonialismus" erhob sich 1955 die Anyanya-Bewegung. Der Krieg endete 1972 mit einer Autonomieregelung, die Anyanya-Guerilla wurde in die Armee integriert. Die ökonomische Macht teilten die Herrschenden des Nordens jedoch nicht. Als das Militärregime unter Gaafar Nimeiri 1983 die Regierungen der Autonomie-Provinzen entmachtete, rebellierten Militäreinheiten im Süden. Nimeiri entsandte Oberst John Garang, um die Rebellion niederzuschlagen, doch Garang setzte sich an deren Spitze - und wurde Chef der entstehenden SPLA. Die Einführung der Sharia im Herbst des gleichen Jahres gab dem Konflikt weiteren Zündstoff. Doch handelt es sich nicht um einen allgemeinen Konflikt zwischen arabisch-islamischem Norden und schwarzafrikanischem Süden: Die herrschende Elite des "politischen Nordens" rekrutiert sich keineswegs aus allen arabischen oder islamischen Bevölkerungsgruppen. Zudem hat der Aufstand auch überwiegend islamische Regionen erfaßt. Gekämpft wird um die Teilhabe der benachteiligten Regionen an der Staatsmacht und um die Verteilung der Ressourcen, auch von der SPLA. Diese versteht sich als gesamtsudanesische Opposition und fordert ein föderalistisches, säkulares und demokratisches System. In der von Offizieren dominierten Führung setzten sich jedoch schnell autoritäre Strukturen durch. Es kam zu einer Reihe von Spaltungen, bei Kämpfen wurden "feindliche" Gruppen massakriert oder ausgehungert. Wie die Zentralregierung besteuert die SPLA Hilfslieferungen, verkauft Nahrungsmittel, um ihre Kriegsmaschinerie in Gang zu halten und setzt den Hunger als Waffe ein. Seit dem Putsch General Omar al-Beshirs 1989 steht der SPLA eine islamistische Militärdiktatur gegenüber. Hinter den Offizieren steht die Nationale Islamische Front (NIF), eine aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene Ka-derorganisation. Ihr Führer Hassan al-Tourabi, der eigentliche Staatschef, erklärte den Krieg gegen den Süden zum Jihad. Der sudanesische Islamismus wird hauptsächlich von den gebildeten Mittelschichten unterstützt, die in Armut leben und die Rolle der abgewirtschafteten Oligarchie übernehmen wollen. Diese kontrolliert weiterhin die mächtigen islamischen Bruderschaften. Sie hat sich jedoch als unfähig erwiesen, politische Opposition oder einen Guerillakrieg zu organisieren. Sadiq al-Mahdi, ihr wichtigster Führer, hat sich 1995 mit der SPLA verbündet. Doch von der zweiten Front, die er von seinem eritreischen Exil aus organisieren wollte, ist bisher wenig zu sehen. Da auch die in den Städten einst starke säkuläre Linke kaum noch Einfluß hat und es nach "Säuberungen" gelungen zu sein scheint, die Armee effektiv unter Kontrolle zu bringen, sitzt das Regime relativ fest im Sattel. Zumal es eine Reihe seiner Feinde kooptiert hat - Warlords des Südens ebenso wie Politiker der alten Garde des Nordens. Der Sudan steht auf der US-Liste der "Schurkenstaaten", unterhält aber gute Beziehungen zu Frankreich. Obwohl immer wieder nach einer "humanitären Intervention" gerufen wird, muß das Regime dergleichen kaum befürchten. Die Kontrolle der Ölquellen ist zentral für das Kräfteverhältnis im Sudan, angesichts des Überangebots auf dem Ölmarkt hat ihre Erschließung für den Westen jedoch kaum Priorität. Die Lage ist nicht so verzweifelt, daß Tourabi ernsthaft eine Teilung des Landes erwägen würde. Das Angebot eines Referendums - das sich, wie das Beispiel der Westsahara zeigt, mit dem Streit über Abstimmungsmodi unbegrenzt herauszögern läßt - soll die SPLA von ihren Verbündeten im Norden trennen und das Image des Regimes aufbessern. Auch eine Offensive in den Nuba-Bergen im Westen wäre somit nicht ausgeschlossen. Deren Rückeroberung ist von zentraler Bedeutung, denn ein dauerhafter Verlust dieser überwiegend islamischen Region könnte von anderen benachteiligten Gruppen im Norden als Signal verstanden werden, sich ebenfalls gegen das Regime zu stellen. | Jörn Schulz | Jörn Schulz: | [] | Ausland | 12.08.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/33/keine-tagesordnung-kein-frieden?page=0%2C%2C3 |
Thanks, merci, dankeschön | Vor dem 60. Jahrestag der Befreiung der letzten 7 000 Überlebenden des KZ Auschwitz und seiner Nebenlager durch die Rote Armee erleben drei europäische Länder die Skandale, die sie verdienen. Im Vereinigten Königreich war es mit Prinz Harry ein Mitglied der königlichen Familie, der in einem Wüstenfuchs-Kostüm samt Hakenkreuzbinde für Aufregung sorgte, in Frankreich der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen, der in einem Interview die Auffassung vertrat, die deutsche Besatzung in Frankreich sei »nicht besonders unmenschlich« gewesen. In die Empörung mischte sich in beiden Fällen eine Spur der Erleichterung: Ohne das entscheidende Moment der Selbstversicherung auf einen nationalen Gedenkkonsens, der gegen reale oder eingebildete Gegner verteidigt werden muss, fehlt dem politischen Erinnern die notwendige sinngebende Würze. Nun muss Harry die Gedenkstätte Auschwitz besuchen, und Le Pen sieht sich einem Sturm der Entrüstung ausgesetzt, in dem alle sich gegenseitig versichern, wie Unrecht der Rechte habe. Dabei stellt sich die Frage, was diesen Sturm tatsächlich ausgelöst hat. Waren es die relativierenden Bemerkungen Le Pens über das Massaker von Oradour, die Verhöhnung der Deportierten (die KZ wären überflüssig gewesen, wenn die Deutschen »tatsächlich« in großem Umfang Massenerschießungen vorgenommen hätten) oder vielleicht doch der Hinweis, dass die deutsche Besatzungsmacht sich gegenüber der nicht jüdischen französischen Bevölkerung zunächst korrekt verhalten hat? Tatsächlich unterstützte anfänglich die Mehrheit die Kollaboration des Vichy-Regimes. Das Blatt wendete sich erst, als die Folgen des Krieges in Lebensmittelknappheit und Flüchtlingsströmen überall spürbar wurden – und nicht etwa mit der Deportation der Juden, die die Besatzungsmacht gemeinsam mit französischen Stellen durchführte. Dass man diese Wahrheit nicht hören wollte, und schon gar nicht von Le Pen, hat nichts mit Solidarität mit zumeist jüdischen Opfern von Besatzung und Kollaboration zu tun, sondern ist der Verdrängung der eigenen Rolle geschuldet. Le Pen tat seine Äußerungen in einem nicht sonderlich verbreiteten radikalfaschistischen Magazin, weshalb es auch eine Weile dauerte, bis seine Worte in die Öffentlichkeit drangen, die das Angebot zur Abgrenzung gern annahm. Le Pen erfüllt einmal mehr seine Rolle in der französischen Demokratie. Er ist der Antisemit alter Schule, dessen Ausgrenzung leicht fällt, leichter jedenfalls als die eines solchen vom Schlage des als Vertreter eines »europäischen Islam« gefeierten Tarek Ramadan, der Bestandteil des globalisierten Konsenses gegen Israel ist. Der arme Prinz Harry, der die Nazis nur aus Hollywood-Filmen kennt, wird dagegen mit allen Finessen gedenkpädagogischer Didaktik traktiert werden, bis er gelernt hat, dass man nur in Hollywood-Filmen über Nazis lachen darf. Sein Auftritt auf der Kostümparty ist Anlass zu einer Diskussion darüber, weshalb in Großbritannien, im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Staaten, die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen kaum einen politischen Rahmen kennt; ein staatliches Gedenken der Shoah, das dem in Frankreich oder Deutschland vergleichbar wäre, gibt es dort nicht. Vielleicht ist Harry der Auslöser für die ausstehende Verstaatlichung der Erinnerung auf der Insel, mit Holocaust-Erziehung, Gedenkstätten und der dazugehörigen Berufssparte. Angesichts der antiisraelischen Berichterstattung in einem Großteil der britischen Medien und der gesellschaftlichen Entwicklung, die London zum Zentrum islamistischer Hassprediger werden ließ, die von dort aus den Aufruf zum Judenmord in alle Welt verbreiten, scheint die Empörung über den Prinzen bigott. Wenn sie wenigstens zur Folge hätte, dass dem tatsächlich antisemitischen Unwesen ein Ende gesetzt würde: Aber der Blick auf den Kontinent zeigt, dass staatliches Gedenken und kulturrelativistische Akzeptanz von Antisemitismus sich keineswegs ausschließen, im Gegenteil. Gerade weil man gedenkt, darf man auch über Israel urteilen, das wird man auch in Großbritannien schnell lernen. In Deutschland bedurfte es dagegen einer regelrechten Inszenierung, um der notwendigen Entrüstung einen Anlass zu bieten. Die Chance dazu bot, wie immer dem nationalen Interesse dienend, die NPD. Sie hatte im sächsischen Landtag eine Debatte über das Gedenken an die Bombardierung Dresdens durchgesetzt und wollte eine Schweigeminute allein für die Opfer der Bombardierung Dresdens am 13. Februar beantragen. Die demokratischen Parteien reagierten mit Bedacht: Landtagspräsident Erich Iltgen rief dazu auf, anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz und der Bombardierung Dresdens mit einer Schweigeminute »den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken«. Auch die Bombenopfer werden in Deutschland heute zu den Opfern der »nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« gezählt, ohne dass noch Widerspruch erhoben würde. Dass dieses Ansinnen schon eine Relativierung darstellt, sah wohl keiner der Abgeordneten so. Die notwendige Abgrenzung zu den Neonazis konnte man dagegen demonstrieren, weil die Vertreter der NPD während des Gedenkens den Raum verließen. Anscheinend hätten die Abgeordneten gerne zusammen mit den Neonazis der Bombenopfer der Nationalsozialisten gedacht. Die Abgrenzung von den Neonazis ging aber nicht so weit, sie in der anschließenden Debatte daran zu hindern, von »angloamerikanischen Terrorangriffen« und einem »Bombenholocaust« zu sprechen. Anhänger der Partei hatten sich für das Schauspiel auf den Zuschauertribünen des Landtags eingefunden, einer kommentierte den Auftritt des Alterspräsidenten Cornelius Weiss mit den Worten »alter Jude«. Dass im sächsischen Landtag überhaupt der wirklichen Opfer Nazideutschlands gedacht wurde, verdanken die demokratischen Parteien dennoch der NPD: Ein Gedenken zum 27. Januar war zuvor gar nicht in Betracht gezogen worden – und jetzt sind alle empört und rufen zum wahrlich demokratischen Umgang mit der NPD auf. Einige Abgeordnete nämlich wollten sich die revisionistischen Ausfälle nicht mehr länger anhören und verließen den Saal, wofür sie nun kritisiert werden. Aber alle beteiligten sich daran, den neuen Konsens des Gedenkens zu manifestieren: Am 27. Januar und am 13. Februar wird Nazi-Opfern die Ehre erwiesen. Um sich in die Riege der vom Nazifaschismus befreiten Länder einzureihen, werden am 8. Mai 2005 alle Deutschen Opfer der Nazis gewesen sein. Die neueste »Opfergruppe« präsentierte der Regisseur Dennis Gansel mit seinem Schmachtfetzen »Napola – Elite für den Führer«: den Nazi-Nachwuchs. In der Berliner Zeitung weiß man das zu würdigen: Dass sich Gansel »nicht der kollektivierten, codifizierten Sicht der Generation seiner Väter von ’68 beugt, sondern auch die Großväter begreifen will, um das Gewordensein und darin sich selbst zu verstehen, macht Hoffnung auf seine weiteren Filme«. Und Hoffnung auf eine ungetrübte Zukunft voller Demokratie, Toleranz und Verständnis, vor allem für die ehemaligen und gegenwärtigen Nazis. | kerstin eschrich und tjark kunstreich | kerstin eschrich und tjark kunstreich: | [] | dschungel | 26.01.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/04/thanks-merci-dankeschoen?page=0%2C%2C3 |
Große Überraschung | Wir haben das Teil besetzt!« Renate Gemkow, eine Sozialarbeiterin, die in der Flüchtlingsberatung tätig ist, lacht und deutet in die Richtung der 50 Roma, die es sich im Konsultations- und Informationszentrum (KIZ) des Karl-Liebknecht-Hauses gemütlich gemacht haben. Am Montag, dem 18. November, nahm die Roma-Gruppe »Amen acas kate« (»Wir bleiben hier«) um 10 Uhr morgens das Gebäude, in dem die Bundes- und die Landesgeschäftsstelle der PDS untergebracht sind, für drei Tage in Beschlag. Mit der Besetzung protestierten die Roma gegen die geplanten Abschiebungen nach Jugoslawien. Strafrechtliche Konsequenzen hatten sie nicht zu fürchten. »Schließlich muss man im Kopf klar haben, was für eine Verantwortung man hat«, meint Carsten Schatz, der Landesgeschäftsführer der PDS Berlin, und ergänzt: »Die Roma können hier so lange bleiben, wie sie wollen.« Auch die Berliner Polizei hielt sich zurück. Das war nicht immer so. Bei Demonstrationen von Roma im Juni stürmten Berliner Polizeieinheiten offensichtlich eigenmächtig die Unterkünfte der Protestierenden und nahmen erkennungsdienstliche Maßnahmen vor. Drei Hauptforderungen richteten die BesetzerInnen an die Adresse des Senats: die sofortige Beendigung der Abschiebungen von Roma aus Berlin nach Serbien, ein Gespräch mit dem Innensenator Ehrhart Körting (SPD) und das generelle Bleiberecht für Roma in der Bundesrepublik Deutschland. Das Karl-Liebknecht-Haus wurde von der Romagruppe wegen der Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin ausgewählt. »Die PDS hat nicht verhindert, dass Innensenator Körting und seine wild gewordene Ausländerbehörde weiterhin unsere Menschen abschieben«, ließen die Roma verlauten. In Jugoslawien erwarten sie verheerende Lebensbedingungen sowie Repression und Diskriminierung. »Das heißt zum Beispiel, dass die Polizei oder die Öffentlichkeit nichts dabei finden, wenn wir grundlos beleidigt oder geschlagen werden.« Wohnraum und Schulen sind nicht vorhanden, die ärztliche Versorgung ist schlecht. »Die Krankenhäuser verfügen nicht über ausreichend Medikamente und sind häufig nicht in der Lage, selbst Notfallpatienten angemessen medizinisch zu versorgen«, schreibt sogar das Auswärtige Amt auf seiner Homepage und empfiehlt nach Jugoslawien Reisenden deswegen einen Auslandskrankenschutz mit Rückholversicherung. Den gibt es für die Roma nicht. Zoran Djordjevic ist verzweifelt. Zwei seiner vier Kinder leiden unter LSE, einer schnell fortschreitenden Erkrankung mit häufig tödlichem Ausgang, wie ein Arzt aus Berlin attestiert. Helfen könne nur eine Therapie. »Es ist nicht realistisch zu erwarten, das dieses Therapieprogramm in der Stadt Nis realisiert werden kann«, antwortete Tugomir Popovic, ein Arzt aus der jugoslawischen Stadt, auf eine Anfrage aus Berlin. Zurzeit fällt Familie Djordjevic noch unter die Härtefallregelung, die die Abschiebung zunächst aussetzt. Ungewohnt kooperativ entschied der Senat, auf die Gesprächsaufforderung der Flüchtlinge einzugehen. Milan, eines der drei Delegationsmitglieder, zeigte sich überrascht vom Verlauf der Unterredung, zu der Körting in Begleitung zweier Beamter des Landeskriminalamtes erschien, die für seine Sicherheit sorgen sollten: »Körting war mehr als nur Politiker, er war hilfsbereit.« Die Delegierten konnten einen vermeintlichen Teilerfolg melden. »Familien mit Kindern sollen bleiben dürfen«, kündigte der Senator an. Entscheidend sei, sagte seine Sprecherin, Henrike Morgenstern, »dass es sich um Familien mit mindestens einem Kind handeln muss, welches hier mindestens seit zwei Jahren zur Schule geht oder eine Kindertagesstätte besucht. Also um integrierte Familien, die sich hier verfestigt haben.« Als Bedingung für diese Altfallregelung wurde die Einreise der Familien in die Bundesrepublik bis zum 1. Juli 1996 genannt. Sollte diese Regelung in Kraft treten, schlösse dieses Datum alle Roma aus, die vor den Bomben der Luftstreitkräfte der Nato im Jugoslawienkrieg flüchteten. Die Wahl des Stichtages sei kein Zufall gewesen, bestätigt Morgenstern: »Bei Bürgerkriegsflüchtlingen ist es grundsätzlich so, wenn sich die Lage beruhigt hat, ist es diesen Flüchtlingen durchaus zuzumuten, zurückzukehren.« Im Gespräch mit den BesetzerInnen soll der Senator eingestanden haben, die Roma aus Serbien seien bis jetzt schlicht übersehen worden, berichtete eine Teilnehmerin. Auch Morgenstern gesteht Probleme der Berliner Innenbehörde bei der Erfassung von Flüchtlingen ein. »Es wird nur die Volkszugehörigkeit vermerkt, so zum Beispiel die Zugehörigkeit zum jugoslawischen Staatsvolk, die Ethnie wird aber nicht erfasst.« Auf die Tatsache hingewiesen, dass von »dieser Veranstaltung« ungefähr 1 000 Roma allein in Berlin betroffen seien, zeigte sich der Innensenator »schlicht überrascht«. Dabei ist spätestens seit dem Inkrafttreten des Rückführungsabkommens mit der Bundesrepublik Jugoslawien am 16. September klar, dass aus Deutschland 50 000 Roma nach Serbien abgeschoben werden sollen (Jungle World, 41/02). Körtings Ahnungslosigkeit verwundert um so mehr, als das Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September beschloss, den Roma wegen ihres besonderen Verfolgungsschicksals - gemeint ist die NS-Vernichtungspolitik -, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Auch im Koalitionsvertrag hieß es: »Das Land Berlin wird sich beim Bund für ein dauerhaftes Bleiberecht für langjährig in Deutschland lebende Roma einsetzen.« Trotz allem begann die Ausländerbehörde damit, Roma abzuschieben. Morgenstern sieht darin keinen Widerspruch, denn von all diesen Beschlüssen seien Personen ausgeschlossen, die straffällig geworden seien. Trotz offensichtlicher Fehlentscheidungen in mehreren Fällen nimmt er die Ausländerbehörde in Schutz: »Die Behörde hat nicht eigenmächtig gehandelt, um Tatsachen zu schaffen. Sie hat sich an die Richtlinien des Ausländerrechts gehalten.« So oder so hängen Körtings Vorschläge von der Zustimmung des Bundesinnenministers und der Kollegen der Länder ab. Sie einigten sich bereits Anfang Juni auf der Innenministerkonferenz in Bremerhaven darauf, Roma aus Deutschland abzuschieben. Die Zusage Körtings, sich für das Aufenthaltsrecht von Romafamilien zu engagieren, garantiert den Betroffenen keine Sicherheit. Nur zwei Tage nach dem Gespräch mit Körting versuchte die Berliner Ausländerbehörde, eine Frau mit ihren beiden Kindern abzuschieben. Die Mutter beging einen Selbstmordversuch aus Angst vor der Zwangsausweisung. | Martin Kröger | Martin Kröger: Roma besetzten die Zentrale der PDS | [] | Inland | 27.11.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/48/grosse-ueberraschung?page=0%2C%2C0 |
Dorian Gray ganz unten | Dschungelcamp. Falls das mit dem Bachelor nichts mehr werden sollte, hat RTL ja immer noch das Dschungelcamp im Angebot, das ab dieser Woche zu sehen ist. Dort geht es eigentlich nur um eine Frage: Wie wird es im Dschungel so mit Helmut Berger laufen? Der Mann, der einmal als Alain Delon Österreichs gehandelt wurde und in einer Oscar-Wilde-Verfilmung Dorian Gray spielte, hat sich in den letzten Jahren einen Ruf als veritables enfant terrible erarbeitet. Und er hat angekündigt, sich nicht an die Regeln im Dschungel halten zu wollen, außerdem sprach er davon, im Camp nur auf Italienisch und Französisch zu parlieren. Der Mann tut immer noch gerne so, als sei er ein Weltstar, dem man dauernd den roten Teppich ausrollen müsste. In Wahrheit ist er aber längst ein kauziger Greis, den sich niemand mehr zu engagieren traut und bei dem nichts mehr darauf hindeutet, dass er mal ein echtes Sexsymbol war. Dank der zu erwartenden Eskapaden Bergers könnte die Rückkehr in den Dschungel richtig kurzweilig werden. AHA | : | [] | dschungel | 10.01.2013 | https://jungle.world//artikel/2013/02/dorian-gray-ganz-unten |
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Die Bischöfe warnen: »Abort gefährdet den Glauben« | Nicht für die erwartete Klarheit, sondern für Verwirrung sorgte der Beschluß der deutschen Bischofskonferenz zur Schwangerschaftskonfliktberatung beim deutschen Katholikenvolk: Ab dem 1. Oktober müssen die katholischen Beratungsstellen auf dem schriftlichen Beratungsnachweis vermerken, dieser könne nicht "zur Durchführung einer straffreien Abtreibung" verwendet werden. Mit dieser Vorgabe reagierten die Bischöfe auf eine Aufforderung des Papstes, der seine deutschen Untergebenen in einem Brief dazu gedrängt hatte. Vom juristischen Standpunkt aus gesehen - so jedenfalls die meisten Fachleute und auch Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin - hat ein solcher Zusatz auf dem Beratungsschein keine Bedeutung für die nach Paragraph 218 Strafgesetzbuch nur dann legale Abtreibung, wenn die Frau dem ausführenden Mediziner einen Nachweis dafür erbringt, daß sie sich einer Schwangerschaftskonfliktberatung unterzogen hat. Diese Meinung teilen jedoch nicht alle Juristen und Ärzte, denn, so der Münchner Gynäkologe Andreas Freudemann gegenüber der Berliner Zeitung: "Die Politik kann sagen, was sie will, es kommt immer auf den Staatsanwalt an." Auch wenn aufgrund der bayerischen Abtreibungsprozesse in jüngster Zeit die Vorsicht in diesem Bundesland besonders ausgeprägt sein dürfte - der geplante Zusatz schafft offensichtlich neue Rechtsunsicherheiten. Vor allem aber, so die Kritik, schafft er Verunsicherung und Verwirrung bei den betroffenen Frauen selbst. Politikerinnen und Politiker von SPD, Grünen und in einzelnen Fällen auch der CDU nennen den Beschluß der Bischofskonferenz falsch und "bigott" (so die Grüne Christa Nickels) und befürchten, den katholischen Beratungsstellen könnte damit die Grundlage ihrer Arbeit auf dem Gebiet der Schwangerenberatung entzogen werden. In der Tat ist die materielle Absicherung dieser Einrichtungen gefährdet, sollte sich zeigen, daß der vom Papst geforderte einschränkende Ausdruck auf dem Beratungsschein wirklich die beabsichtigten Auswirkungen hat. Däubler-Gmelin hat bereits angekündigt, die Arbeit der katholischen Paragraph-218-Beratungsstellen genau zu prüfen. Es sei noch nicht absehbar, welche Auswirkungen der modifizierte Beratungsschein haben werde. Gemeint sind damit nicht nur die juristischen Anforderungen des Gesetzgebers, der die Beratung zur zwingenden Vorbedingung für eine legale Abtreibung macht. Wie viele andere Kritikerinnen fürchtet Däubler-Gmelin vor allem eine Verunsicherung der betroffenen Frauen. Diese Vermutung scheint nicht aus der Luft gegriffen zu sein: Viele Frauen gehen nur deswegen zur Beratung, weil der Nachweis hierüber die erste Hürde für einen Schwangerschaftsabbruch nach Paragraph 218 darstellt. Und in der Situation einer ungewollten Schwangerschaft ist es schon einigermaßen kompliziert, die entsprechenden Arzt- und Beratungstermine wahrzunehmen. Der geplante Zusatz wird die Konfusion sicherlich verstärken. Wahrscheinlich werden viele der katholischen Betroffenenen nun eine zweite Beratungsstelle aufsuchen. Über kurz oder lang wird es wohl auch zu Prozessen über die Aussagekraft der katholischen Beratungsscheine kommen. SPD und Grüne, aber auch viele Praktikerinnen aus den Beratungsstellen, fordern nun die Streichung der staatlichen Förderung für die etwa 270 in katholischer Hand liegenden Einrichtungen. Ein solcher Verlust öffentlicher Gelder würde vor allem die Caritas treffen, deren Beratungsschwerpunkt zwar in den katholischen Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz liegt, die aber unter anderem auch in den Großstädten Berlin und Hamburg vertreten ist. Die Förderung der Schwangerschaftskonfliktberatung durch den Staat ist eine Folge des Paragraphen 218: Nach wie vor führt der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch, zusammen mit Mord und Totschlag, in Abschnitt 16 des Strafgesetzbuches: "Straftaten gegen das Leben". Paragraph 218a stellt Abtreibungen lediglich straflos, wenn bestimmte Indikationen gegeben sind, darunter die umstrittene "besondere Bedrängnis" der Frau und eine medizinische Notlage. Aus Paragraph 219 ergibt sich für den Staat die Verpflichtung, Institutionen für die Pflichtberatung zu schaffen und zu fördern. Der Bischofsbeschluß wollte zwei konkurrierende Interessen gleichzeitig bedienen - die des Papstes einerseits; die der katholischen Kirche als Trägerin vieler Beratungsstellen und damit Arbeitgeberin andererseits. Einige konkurrierende Träger von Beratungsstellen haben bereits - wie die evangelische Kirche in Berlin - angekündigt, sie wollten und könnten die bisher von den Katholiken geleistete Arbeit auf diesem Gebiet übernehmen. Andere fordern die Streichung der öffentlichen Gelder für die katholische Beratungsarbeit, die unter den neuen Bedingungen nicht mehr tragbar für die Frauen sei. Pragmatische Einschätzungen wie die der früheren Berliner Bildungssenatorin Hanna-Renate Laurien, die sich als Kirchenfrau in die Debatte wagte, bleiben in der Minderheit. Laurien bezeichnete den Bischofsbeschluß als "genialen Litfaßsäulentrick" und maß der künftigen Sonderregelung auf dem katholischen Beratungsschein nicht mehr Bedeutung bei, als der Warnaufdruck auf Zigarettenschachteln habe. Sollte es sich wirklich als juristisch irrelevant erweisen, was die Bischöfe da beschlossen haben, dann könnte Laurien recht behalten. Es ist aber zu befürchten, daß der nächste Papstbrief und die darauf folgende Bischofskonferenz noch engere Einschränkungen für die katholische Praxis beschließen werden. Möglicherweise muß die katholische Kirche dann wirklich aus dem Beratungsgeschäft aussteigen. | katja leyrer | katja leyrer: | [] | Inland | 30.06.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/26/die-bischoefe-warnen-abort-gefaehrdet-den-glauben?page=0%2C%2C2 |
Tel Avivo | Als Rheinländer war ich natürlich sehr gespannt auf Purim, das jüdische Karnevalsfest. Es hat, völlig im Unterschied zum Fasching in Deutschland, biblische Ursprünge. Am Ende läuft es jedoch auf dasselbe hinaus: Kostüme, Umzug durch die Stadt und Saufen, bis der Arzt kommt. Das Zechen ist bei Purim sogar religiöse Pflicht, weshalb man in den orthodoxen Vierteln Israels prima tanzende und kotzende Orthodoxe bestaunen kann. Die Schulkinder haben zwei Tage frei und laufen als Cowboy, Batman oder Prinzessin durch die Straßen. Das Wochenende vor Purim war partytechnisch schon Purim. Ob beim OpenAir-Techno in Florentin oder beim Rave in der Wüste, überall hopsten Schlümpfe, Engel, Teufel und sexy Nurses (»adult costume«) umher. Auch die Nächte in Tel Aviv hatten es in sich. Und good old DJ Lawrence aus Hamburg heizte mit den Pacotek-Leuten zusammen mächtig ein. Ein schwer alkoholisiertes russisches Pärchen hatte alte Rotarmisten-Uniformen übergestreift, ich ging als halbwegs schwuler Polizist (jedoch nicht die »adult«-Version). Am Purim-Tag selbst dann der zentrale Umzug in Holon, einem Vorort von Tel Aviv. Tausende Menschen säumten den Sokolov-Boulevard, auf dem die Wagen und Tanzgruppen vorbeizogen. Es sollte dieses Jahr erstmals eine Parade der Nationen werden, eine Art Karneval der Kulturen. Vorneweg marschierte das Polizeiorchester. Die Figur auf dem Israel repräsentierenden Wagen war ein Kaktus, der einen Pionier-Hut trug und in der einen Hand einen Fleischspieß (Grillen ist eine sehr beliebte Freizeitbeschäftigung in Israel) und in der anderen – natürlich – ein Handy hielt. Auf dem deutschen Wagen prangten eine schwarz-rot-goldene Fahne und ein Fußball, hinter einem prunkvollen Theatervorhang tanzten ein schwarz, ein rot und ein golden gekleidetes Mädchen Ballett. Auf dem jordanischen Wagen wurde unter einem riesigen Pappmaché-Kamel Bauchtanz geboten. Zwischen den Wagen immer Tanzgruppen, meist aus Schulen oder Jugendzentren rekrutiert, hauptsächlich Mädchen. Vor allem asiatische Länder waren stark vertreten, sie hatten im Gegensatz etwa zu Deutschland auch eigenes Personal. Thailand, Myanmar, Nepal (mit einem »Free-Tibet«-Ballon und dem Foto des Dalai Lama), China – und auch die 50 Mitarbeiter der philippinischen Botschaft hatten sich viel Mühe gegeben für ihren Auftritt. Besonders bunt und ausgelassen waren selbstverständlich die Brasilianer (grüne Federboas mit gelben Davidsternen). Kamelle, also Bonbons, gab es nicht, stattdessen gehört es zur Tradition, sich gegenseitig mit Sprühschaum einzusauen. Ein Bützchen bekommt man dafür aber nicht. Jedenfalls nicht beim Umzug, der nach zwei Stunden schon wieder vorbei war. Aber abends ging die Sause ja in den Clubs und Straßen weiter, und wer nach vier Tagen immer noch nicht genug hatte, konnte noch nach Jerusalem fahren, wo Purim traditionell einen Tag später gefeiert wird. Dort vor der Klagemauer sollen schwer besoffene, Luftgitarre spielende Orthodoxe gefeiert haben. Ich habe es aber nicht mehr bis zur Mauer geschafft. Bei allem Respekt vor dem religiösen Saufgebot, irgendwann klingt auch das schöne »Lechájim« (Auf das Leben) wie eine Durchhalteparole. ivo bozic | Ivo Bozic | Ivo Bozic: | [] | dschungel | 14.03.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/11/tel-avivo?page=0%2C%2C3 |
Sozialismus oder Klopapier | Venezuela ist weiterhin gespalten. Am 1. Mai gingen in der Hauptstadt Caracas ein weiteres Mal sowohl Anhänger als auch Gegner der Regierung von Nicolás Maduro zu Tausenden auf die Straße. Seit Beginn der Auseinandersetzungen im Februar ist die Situation fast unverändert. Die Heftigkeit der Proteste, in denen sich der Wunsch der antikommunistischen Oberschicht nach ökonomischen Reformen mit der Unzufriedenheit der Durchschnittsbevölkerung angesichts von Inflation, Güterknappheit und Gewaltkriminalität mischt, hat in den vergangenen Wochen zwar abgenommen, ein Ende ist aber ebenso wenig in Sicht wie eine Lösung der Probleme. Offiziellen Angaben zufolge sind während der Proteste bisher 41 Menschen gestorben, über 700 wurden verletzt, es gab mehr als 2 600 Festnahmen. Knapp 200 Personen sitzen noch immer in Haft. Mittlerweile reden Opposition und Regierung wieder miteinander, schon dreimal gab es einen runden Tisch mit Vertretern der Regierungsparteien sowie des Oppositionsbündnisses »Mesa de Unidad Democratica« (MUD), das 40 Prozent der Sitze im Parlament innehat. Der »Friedensdialog« unter Beteiligung von Vertretern der Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) sowie des Vatikans scheint die Spannung im Land ein wenig verringert zu haben. Gemischte Arbeitsgruppen beschäftigen sich nun mit der Aufarbeitung der Gewalt der vergangenen Monaten, einem möglichen Amnestiegesetz sowie der kommunalen Verwaltungsstruktur. Aufgrund der Kritik am gewalttätigen Vorgehen von Polizei und Militär hat die Regierung bereits gegen fast 100 Angehörige der Sicherheitskräfte Verfahren eingeleitet. Teile der Opposition lehnen den Dialog jedoch grundsätzlich ab und bezeichnen die Teilnahme am runden Tisch als Verrat. Sowohl die Studierendenvereinigungen als wichtiger Akteur der Proteste als auch der radikale Flügel um den inhaftierten Oppositionspolitiker Leopoldo López wollen nicht reden, sondern die Krise nutzen, um mit dem Sozialismus light in Venezuela endgültig aufzuräumen. »Mit Gesprächen stürzt man keine Diktatur«, lautet derzeit ein beliebter Slogan jener vorrangig rechten oppositionellen Kräfte. Statt auf Verhandlungen setzen diese weiterhin auf die sogenannten guarimbas, meist brennende Straßenblockaden, die vorrangig in wohlhabenden Stadtvierteln errichtet werden.
Parallel zum Dialog versucht die Regierung, mit einer »neuen ökonomischen Offensive«, die anhaltenden wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Sie soll die Produktivität steigern, den Mangel an Gütern und Nahrungsmitteln verringern sowie die Einhaltung der festgesetzten Höchstpreise sicherstellen. Am vergangenen Wochenende waren im ganzen Land Inspekteure im Einsatz, die die Einhaltung des »Gesetzes der gerechten Preise« überwachen sollen. Es schreibt eine maximale Gewinnspanne von 30 Prozent vor, um dem »Irrsinn des spekulativen und parasitären Kapitalismus« Einhalt zu gebieten, wie es Präsident Maduro ausdrückte. Zugleich hat er eine Erhöhung des Mindestlohns um 30 Prozent angekündigt, was angesichts einer Inflationsrate von derzeit 60 Prozent jedoch nur wenige zufriedenstellen wird. Ein neues Wechselkurssystem soll zudem die Spekulation mit Devisen eindämmen, eines der großen Probleme der venezolanischen Wirtschaft. Bisher konnte man auf dem Schwarzmarkt für Devisen bisweilen das Zehnfache des staatlich festgelegten Wechselkurses bekommen. Abgesehen von den ökonomischen Reformen führt die Regierung ihr desaströses Krisenmanagement fort. Sie führte eine Anmeldepflicht für Demonstrationen ein und macht auch weiterhin für alle Probleme ausländische Verschwörungen und die »faschistische Opposition« im eigenen Land verantwortlich. Seit Beginn der Proteste hatte die Regierung ebenso wie ihre Unterstützerinnen und Unterstützer im In- und Ausland von einem Putschversuch imperialistischer Kräfte gesprochen. Ende März verkündete Maduro dann die Festnahme von drei Generälen der Luftwaffe, die in Zusammenarbeit mit oppositionellen Kräften einen Staatsstreich geplant hätten. Mittlerweile wurden 30 Angehörige der Streitkräfte verhaftet. Die Regierung zeigt bisweilen einen erstaunlichen Einfallsreichtum, um den bösartigen Charakter der Opposition zu beweisen. Umweltminister Miguel Rodríguez warf Ende März im Staatsfernsehen den Demonstrierenden vor, sie würden die Umweltzerstörung als politische Waffe benutzen, und verwies auf das Holz, das zum Bau von Barrikaden verwendet wurde. »Für die 5 000 Bäume, die sie dafür gefällt haben, werden wir eine Million neue pflanzen«, verkündete der Minister kämpferisch. Darüber hinaus seien Pläne der Opposition aufgedeckt worden, Hunde mit Bombengürteln bei Demonstrationen von Regierungsanhängern einzusetzen sowie das Trinkwassernetzwerk der großen Stadt Mérida im Westen des Landes zu vergiften, behauptete er. Auch die großen ökonomischen Probleme des Landes seien in erster Linie die Folge des »Wirtschaftskriegs«, der gegen Venezuela geführt werde, wie die Regierung unermüdlich betont.
Bei der Bekanntgabe der jüngsten, erneut äußerst schlechten Wirtschaftszahlen machte die Zentralbank die Proteste für die anhaltende Knappheit an Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern verantwortlich – obwohl eben jene Probleme erst der Auslöser für die Proteste waren. Die gleiche Taktik wird auch bezüglich der Gewaltkriminalität angewendet. Als vergangene Woche Eliezer Otaiza, ein Wegbegleiter von Hugo Chávez und hoher Funktionär der Regierungspartei PSUV, Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, war für die Regierung sofort klar, wer dahinter steckte: Der Mord sei aus Miami in Auftrag gegeben worden, von Kreisen, die früher in Venezuela die Macht hatten. Dahinter stecke der Versuch, das Land zu destabilisieren und ein weiteres Beispiel für die angeblich hohe Kriminalität zu liefern, wie Maduro in seiner Ansprache zum 1. Mai erklärte. Ob sich so auch die weiteren 4 000 Morde, die sich jedes Jahr in Caracas ereignen, erklären lassen, ließ er offen. Stattdessen beschwerte er sich wieder einmal über Manipulationen und Lügen in der Berichterstattung. Es ist fraglich, wie lange sich Maduro mit dieser Mischung aus Arroganz gegenüber gesellschaftlichen Problemen und Verschwörungstheorie noch halten kann. Denn damit verärgert er auch seine Basis immer mehr. Ein Fernsehspot, der Mitte April zum ersten Jahrestag seines Amtsantritts veröffentlicht wurde, zeigt ihn als gefeierten Helden der Bevölkerung, unterlegt mit Musik aus »Superman«. Nicht nur die Opposition machte sich über den Superhelden-Trailer lustig, auch seine Anhänger waren verstört. »Fliegt er gleich weg?« fragte eine Kommentatorin auf dem chavistischen Internetportal aporrea.org.
Die große Frage, ob der »Sozialismus« in Venezuela auch ohne den Comandante überlebensfähig ist, scheint sich langsam aber sicher von selbst zu beantworten. Selbst der ehemalige Berater von Chávez, Heinz Dieterich, der den Begriff »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« geprägt hat, gibt Maduro keine Chance mehr. In einem Interview mit dem Spiegel erklärte der deutsche Soziologe Anfang März, dass Maduros Politik »unweigerlich das Ende der bolivarianischen Ära« bedeute: »Die Politik muss um 180 Grad gewendet werden, sonst geht alles verloren.« Zwar hat Maduro bereits länger als die von Dieterich vorhergesagten acht Wochen durchgehalten – aber wer weiß, wie lange noch. | Thorsten Mense | Thorsten Mense: Die Krise in Venezuela ist noch nicht gelöst | [] | Ausland | 08.05.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/19/sozialismus-oder-klopapier |
Arrived! Arrivé! ¡Ya está aquí! | Deutscher Euro Ist der Euro nur eine verkappte D-Mark, eine neue Währung, die faktisch eine deutsche ist, nur diesmal für ganz Europa? Vieles deutet darauf hin. Der Euro solle hart sein wie die alte Deutschmark, forderten Stoiber, Schröder und Duisenberg schon lange vor seiner Einführung. Die Maastrichter Kriterien - Stabilität um jeden Preis - entsprachen den Forderungen aus Frankfurt. Dort sitzt nun auch folgerichtig die Herausgeberin des neuen Geldes, die Europäische Zentralbank. Mit dem Euro wird nun die alte deutsche Wirtschaftspolitik unter einem anderen Label fortgesetzt, von der Weichsel bis zum Atlantik. Die Macht kommt aus den Bankautomaten. Mit dem Euro hat die EU die Voraussetzung geschaffen, sich als ökonomische Weltmacht in Konkurrenz zur bislang einzigen globalen Währung, dem Dollar, zu profilieren. Und nach dem Euro kommt die schnelle Einsatztruppe. Wer sich eine globale Währung leistet, muss auch in der Lage sein, sie militärisch abzusichern. Nicht nur auf dem Balkan, sondern überall auf der Welt. In diesem Sinne ist das neue Geld nur die Fortsetzung des alten Übels auf höherem Niveau. Vieles wird sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist. Immerhin gibt es einen Trost: Mit der Mark verlieren die Deutschen auch eines ihrer wichtigsten Objekte der Identifikation. Schließlich sind sie jetzt nicht mehr allein, sondern müssen sich den Euro mit Griechen, Portugiesen und vermutlich in einigen Jahren auch mit Polen teilen. Und irgendwann, das ist nicht auszuschließen, vielleicht sogar mit Türken. Viel ändern wird das zwar auch nicht. Aber es reicht bereits, um den meisten Deutschen die Freude am neuen Geld zu verderben. Immerhin. Anton Landgraf Bare Münze Wie kein anderer Integrationsschritt zuvor wird die neue Währung, der Euro, die Identifikation mit Europa befördern. Der Euro leistet damit einen entscheidenden, epochemachenden Beitrag zum Zusammenwachsen der Völkerfamilie. Das Karlspreisdirektorium ehrt mit dem Euro eine Maßnahme, die stabilisierend für die Gemeinschaft wirkt, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unterstützt und die Basis bildet für eine abgestimmte Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie für andere politische Felder der Gemeinschaft. Die Einführung des Euro begründet somit eine neue Stufe des europäischen Einigungsprozesses. Wir verdanken der europäischen Integration die längste Friedensperiode in unserer Geschichte. Dass auf dem europäischen Kontinent Krieg und Diktatur, totalitäre Ideologie und Spaltung überwunden wurden, dass Friede, Freiheit, Verständigung und Versöhnung sich durchsetzten, mag vielfältigen Ursachen zu danken sein. Ohne die zentrale Stellung, die der Gedanke der europäischen Einigung einnahm, wäre diese positive Entwicklung allerdings ausgeblieben. Ein wesentlicher Baustein für dieses Vereinte Europa ist die europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Unser Kontinent - mit so vielen Völkern und Nationen, Sprachen und Kulturen - wächst hierdurch enger zusammen als jemals zuvor. Und diese Integration ist aus freien Stücken, in Frieden und Freiheit erfolgt - ein seltener Augenblick in der jahrtausendealten Geschichte Europas. Wenn die Menschen an der Algarve und in Dublin, in der Bretagne und im Burgenland, in Lappland und auf Sizilien - um nur einige Regionen zu nennen - in der gleichen Währung zahlen, dann werden sie Europa wortwörtlich als bare Münze in der Tasche mit sich tragen, dann werden sie buchstäblich mit den Händen greifen können, dass Europa eine gewachsene Gemeinschaft und der Euro ein Symbol hierfür ist. Der Euro ist die überzeugendste, pragmatischste Lösung auf dem Weg zur europäischen Gemeinsamkeit seit mehr als 1 200 Jahren. Aus der Begründung zur Verleihung des Internationalen Karlspreises an den Euro Fluid Art Der Euro ist da, alles wird teurer, und jetzt warnen Wissenschaftler auch noch davor, dass die neuen Münzen Nickelallergikern Probleme bereiten könnten. Schwedische Forscher fanden heraus, dass Schweiss die Oberfläche der Münzen angreift, bei verschwitzten Händen werde in einer Minute ein Mikrogramm Nickel freigesetzt. Euro, ich krieg 'ne Allergie? Nein, in Wirklichkeit ist die Einführung des Euro ein Kunstwerk, und zwar ein fließendes. Denn auf den Euro-Banknoten prangt zwar in allen Ländern dasselbe Motiv, doch die Münzen haben nur die gleiche Vorderseite, aber länderspezifische Rückseiten. Während etwa die französische Euro-Münze mit einem gezeichneten Baum aufwartet, der in einem Rechteck steht und von dem Motto »Liberté, Égalité, Fraternité« umgeben ist, zeigt die in Spanien ausgegebene Münze ein Bildnis von König Juan Carlos I. Schön ist die italienische Münze: Sie ziert der menschliche Körper in seinen idealen Proportionen, das berühmte Bild von Leonardo da Vinci. Sehr beliebt sind auch Tiermotive. Der finnische Euro zeigt auf seiner Rückseite zwei fliegende Schwäne, der griechische eine Eule, die auf einer Vier-Drachmen-Münze des antiken Athen aus dem fünften Jahrhundert abgebildet war. Und wie zu erwarten war, zeigt der deutsche Euro: einen Adler. Wie einfallsreich! Aber das macht nichts, denn - und jetzt kommt die gute Nachricht - diese Münzen werden sich vermischen. Deutsche werden in den Urlaub fahren, werden dort ihren Adler-Euro ausgeben und Juan-Carlos-Euro oder da-Vinci-Euro als Wechselgeld erhalten und mit nach Hause nehmen. Wieder zurück, werden sie eben nicht zur Bank laufen und das fremdländische Geld umtauschen, denn es ist in Deutschland genauso gültig. Die Banken denken auch nicht an den Rücktransport der Münzen in ihre Herkunftsländer. Und das bedeutet, dass die Europäer an einer alle Dimensionen sprengenden interaktiven Performance teilnehmen. Es wird interessant zu beobachten sein, welche Münzen sich am Ende in welchen Ländern häufen. Und die Deutschen verzichten nicht nur auf die D-Mark, nein, mit der Zeit verflüchtigt sich auch noch der Adler. Stefan Wirner Radikaler Leveller Das bloß atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktionsprozess und daher die von ihrer Kontrolle und ihrem bewussten individuellen Tun unabhängige, sachliche Gestalt ihrer eignen Produktionsverhältnisse erscheinen zunächst darin, dass ihre Arbeitsprodukte allgemein die Warenform annehmen. Das Rätsel des Geldfetischs ist daher nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs. (...) Da dem Geld nicht anzusehn, was in es verwandelt ist, verwandelt sich alles, Ware oder nicht, in Geld. Alles wird verkäuflich und kaufbar. Die Zirkulation wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen. Dieser Alchemie widerstehn nicht einmal Heiligenknochen und noch viel weniger minder grobe res sacrosanctae, extra commercium hominum. Wie im Geld aller qualitative Unterschied der Waren ausgelöscht ist, löscht es seinerseits als radikaler Leveller alle Unterschiede aus. Das Geld ist aber selbst Ware, ein äußerlich Ding, das Privateigentum eines jeden werden kann. Die gesellschaftliche Macht wird so zur Privatmacht der Privatperson. Die antike Gesellschaft denunziert es daher als die Scheidemünze ihrer ökonomischen und sittlichen Ordnung. Die moderne Gesellschaft, die schon in ihren Kinderjahren den Plutus an den Haaren aus den Eingeweiden der Erde herauszieht, begrüßt im Goldgral die glänzende Inkarnation ihres eigenen Lebensprinzips. Karl Marx Die Härte Endlich mal ein Grund zum Feiern: Die Deutschmark verschwindet im Orkus. Das Symbol für Deutschlands wirtschaftliche Macht und Größe ist nicht mehr. Optimistische Psychologen hatten bereits ein nationales Trauma der Deutschen prophezeit, wenn ihnen ihre harte Währung nicht mehr die notwendige emotionale Stütze verschafft, die man braucht, um die ganze Welt mit den Segnungen des german way of life zu beglücken. Tatsächlich sind die Auswirkungen des Wechsels zum weichen Euro für die deutsche Seele nicht leicht zu verkraften. Hart wie Kruppstahl - so wollte der Volksgenosse früher sein. Und die deutschen Kanonen waren ein Exportschlager. Hart wie die Deutschmark - so war die logische Fortführung des Programms. Und die deutsche Währung wurde ebenfalls exportiert. Ins Kosovo beispielsweise, wo sie nach dem Nato-Krieg den völkermörderischen, serbo-nationalistischen Dinar Milosevics ablöste. Kaum aber hat sie sich dort etabliert, wird sie abgeschafft. Da ist guter Rat teuer. Wie soll der deutsche Staat, der am Verlust seiner Währung selbst hart zu knabbern hat, das dem alten albanischen Verbündeten schmackhaft machen? Einen Landserstiefel ins Genick setzen? Eine Parabellum unter die Nase halten? Die alten deutschen Überzeugungskünste scheinen doch ein wenig zu brachial. Die Rettung kommt von Übersee. In Gestalt der Psychological Operations Group der US-Army. Sie bringt derzeit mit moderner psychologischer Überzeugungsarbeit den Einwohnern des Kosovo nahe, dass es keine nationale Katastrophe ist, wenn der Euro eingeführt wird. Vielleicht ist ihr Einsatzgebiet noch ein wenig beschränkt. Denn wer weiß, ob nicht allgemeines Durchknallen angesagt ist, wenn den Deutschen der Verlust ihrer heiß geliebten Währung am 1. Januar so richtig zu Bewusstsein kommt. Wenn sie etwa anfangen, die neuen Cents als endgültigen Beweis für die Amerikanisierung und Überfremdung Deutschlands zu betrachten und entsprechend zu handeln. Dann bliebe nur noch eine Frage offen: Reichen die sanften Überzeugungskünste US-amerikanischer PsyOps noch aus oder muss zu härteren Maßnahmen gegriffen werden? Carlos Kunze | anton landgraf, stefan wirner, karl marx und carlos kunze | anton landgraf, stefan wirner, karl marx und carlos kunze: Die Einführung des Euro | [] | Disko | 19.12.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/51/arrived-arrive-ya-esta-aqui?page=0%2C%2C3 |
Knie an den Schädel | Mitten in Schöneberg schauen 150 Menschen zu, wie ein Mann auf dem Boden liegt und geschlagen wird. Sein Gegner hockt ihm auf der Brust. Mit Knien und linker Hand blockiert er die Arme des Liegenden. Die rechte, mit einem dünnen Handschuh umhüllte Faust schlägt zu. Auf die Schulter. Auf die Brust. Ins Gesicht. Mindestens zehn Mal. »Ruhig bleiben!« ruft ein Mann dem Liegenden zu. »Mit rechts auf links greifen!«
Vielleicht ist es an der Zeit zu erwähnen, dass die Zuschauer sich im »MMA Berlin« in der Crellestraße befinden, mit 350 Mitgliedern eine der größten Kampfsportschulen der Stadt. Dass der Mann in der Ecke ein Trainer ist und die beiden Kämpfer in einem Ring ihrem Sport nachgehen. Ihre Disziplin heißt »Mixed Martial Arts« (MMA). MMA gilt derzeit als härtester Kampfsport. Neben Faustschlägen sind auch Tritte, Würfe und Hebelgriffe gestattet. Auf dem Rücken zu liegen und aus kürzester Distanz ins Gesicht geschlagen zu werden, nennt man in der Fachsprache »Ground and Pound«-Position. Für die Athleten ist das noch lange keine Katastrophe.
Auch nicht in Schöneberg. Plötzlich schafft es der Mann unten tatsächlich, den linken Arm seines Kontrahenten zu erfassen, wie sein Trainer es ihm zugerufen hat. Mit einer jähen Bewegung dreht er ihn auf den Rücken. Der eben noch wie der sichere Sieger aussehende Kämpfer klopft zum Zeichen der Aufgabe auf den Boden. Die beiden Männer erheben sich. Lachend. Klopfen sich gegenseitig auf den Rücken und danken sich für den schönen Kampf.
MMA boomt seit Jahren. Im Jahr 2006 setzte die Sportart im US-amerikanischen Pay-TV erstmals mehr Geld um als das Boxen. In einer Welt, die politisch wie wirtschaftlich immer unübersichtlicher wirkt, schien es nur ein logisches Abbild, dass auch im Ring kaum noch Regeln gelten. DSF präsentiert 20 Mal jährlich Übertragungen der US-Variante der MMA. Die UFC (»Ultimate Fighting Championship«) wirkt bereits auf den ersten Blick viel härter als das, was bei den Amateuren in Schöneberg geschieht. Denn nach dem UFC-Regelwerk wird in einem achteckigen Ring gekämpft, der mit Maschendraht umzäunt ist.
Nach der Vorbereitung per Fernsehbild versucht die UFC gerade, live die Ringe der Welt zu erobern. Am 13. Juni gibt es die erste Veranstaltung in Köln.
Der Grundgedanke der MMA lautet schlicht: »Wer ist der beste Kämpfer, wenn keine Regeln gelten?« Ob Ringer oder Boxer stärker sind, wurde bereits zur Zeit der antiken olympischen Spiele gemutmaßt. Also kam 648 v. Chr. das »Pankration« ins Programm. Der Allkampf, den die griechische Mythologie zurückführt auf den Kampf zwischen Herkules und Theseus. Die Kämpfe dauerten bis zur Aufgabe eines der Athleten. Oder bis zu dessen Tod. Die Sieger gehörten zu den bestbezahlten und begehrtesten Sportlern ihrer Zeit.
Der Durchbruch der heutigen MMA beginnt in den frühen neunziger Jahren. Der US-amerikanische Regisseur John Milius (»Conan, der Barbar«) wollte die alte Frage nach dem besten aller Kämpfer neu beantworten. Deshalb lud er Vertreter verschiedener Disziplinen (u.a. Karate, Jiu-Jitsu, Boxen, Kickboxen und Sumo) zum »War of the Worlds«. Nur Beißen sowie Stiche in die Augen waren verboten. Beim ersten Kampfabend am 12. November 1993 in Denver flogen, so will es die Mythenbildung, Blut und Zähne bis in die ersten Reihen. Senator John McCain, der später Gegenkandidat von Barack Obama werden sollte, sprach von »menschlichem Hahnenkampf«. In den meisten US-Bundesstaaten erhielt die UFC von den Athletic Commissions keine Zulassung mehr, die Übertragungen im Kabel-TV blieben aus. Die UFC war arm und bedeutungslos, als sie 2001 von den Brüdern Frank und Lorenzo Fertitta gekauft wurde, zwei Glücksspielunternehmern aus Las Vegas. Sie machten die MMA binnen weniger Jahre populär. Gewichtsklassen wurden eingeführt, gefährliche Techniken wie das »Einführen von Fingern in Körperöffnungen« ausdrücklich verboten. Zudem führt Doping automatisch zu langen Sperren. Doch die Klischees der frühen Jahre blieben: MMA-Kämpfer seien vor allem dumm und brutal. Deutsche Kritiker ergänzen die Einschätzung gern um das Wort »rechtsradikal«. Seitdem vor allem in Ostdeutschland bei MMA-Kampfabenden Nazi-Symbole zu sehen waren, ist die gesamte Sportart in Misskredit gebracht.
Dumm, brutal und rechtsradikal ist der nächste Kämpfer in der Crellestraße garantiert nicht. Sven Holländer, 30, war vor seinem Medizinstudium Physiotherapeut und absolviert gerade sein praktisches Jahr im Klinikum Neukölln. Im Gegensatz zu den anderen Kämpfern und Kämpferinnen stand er schon mehrfach als Profi im Ring. Von MMA leben kann in Deutschland allerdings niemand. »Bei einem Kampf habe ich 50 Euro bekommen«, sagt Holländer. Profilizenzen für MMA gibt es hierzulande auch nicht. Ob man nach Amateur- oder Profiregeln kämpft, ist eine Frage der sportlichen Herausforderung. Amateure kämpfen zwei Runden zu je fünf Minuten, Profis zuvor noch eine dritte, zehnminütige Runde.
In der ersten Runde setzt Sven Holländer zu einem Tritt zum Kopf an. Ein Geräusch wie ein Peitschenknall ist bis in die Zuschauerreihen zu hören. Eine Sehne ist gerissen. Holländer bricht zusammen und muss nach kurzer Untersuchung auf einer Bahre abtransportiert werden. Zwar folgen an diesem Nachmittag noch drei Kämpfe, doch die Stimmung bleibt gedrückt.
Auch bei Wolf Menninger. Der 29jährige ist Besitzer der Sportschule und seit Kindertagen mit dem Verletzten befreundet. »Erst sagen mir kurzfristig zwei Kämpfer ab, dann passiert das mit Sven.« Zu allem Überfluss musste heute auch noch seine Oma Katharina zuhause bleiben, weil sie sich erkältet hat. Die alte Dame ist mittlerweile 88 Jahre alt, lässt es sich aber nicht nehmen, bei jedem Kampfabend in der ersten Reihe zu sitzen und die Kämpfer frenetisch anzufeuern.
Menninger begann mit dem Kampfsport, als er sieben Jahre alt war. Mit 15 schon begann er zu unterrichten. Vor einigen Jahren eröffnete er seine eigene Kampfschule, die ein überwiegend junges, studentisches Publikum anzieht. Von seiner Zukunft hat Menninger klare Vorstellungen: »Ich wollte nie Weltmeister werden. Lieber möchte ich auch mit 80 noch in der Schule stehen.«
Spricht man ihn auf den UFC-Boom in den USA und die Bemühungen an, auch in Europa Fuß zu fassen, verzieht er allerdings das Gesicht. »Für Deutschland ist es für die UFC zu früh.« Besonders ärgert ihn, dass die Profis aus Übersee gar nicht erst den Versuch machen, mit den Amateuren aus Europa in Kontakt zu kommen. Als er hörte, dass der Kampfabend für Köln geplant war, schrieb er an die Zentrale in Las Vegas, ob er mit Kontakten oder logistischer Unterstützung helfen könnte. »Aber die haben mir nicht mal geantwortet.«
Marek Lieberberg heißt der Mann, der die Profis nach Köln holt. Eigentlich betreut seine Konzertagentur Tourneen von Künstlern wie Depeche Mode und Bruce Springsteen. Auf die UFC wurde er zunächst im amerikanischen Fernsehen aufmerksam. Als er bei einem Kampfabend in Las Vegas die Gebrüder Fertitta kennen lernte, war der Plan bald gefasst. »Ich glaube, dass UFC die Menschen begeistern wird«, sagt Lieberberg mit seiner fröhlichen, aufgekratzten Stimme.
Ihm ist klar, dass die Amateurbasis hierzulande nicht unbedingt begeistert ist von der Invasion der Profis. »Wir legen jetzt erst mal das Augenmerk auf Köln. Dass für weitere Veranstaltungen ein Local Hero aufgebaut werden soll und wir dafür auch bei den Amateuren schauen werden, ist doch klar.«
Konfrontiert mit den Vorwürfen, dass bei MMA-Veranstaltungen vor allem eine Ansammlung dummer rechter Schläger am Ring säße, ändert sich die Stimme von Lieberberg, dessen jüdische Eltern wie durch ein Wunder mehrere KZ überlebten. Sie wird hart, fast wütend. Schon vor Jahren organisierte er Anti-Nazi-Konzerte wie das »Heute die, morgen Du« in Frankfurt. »Wenn mir jemand unterstellt, ich würde versuchen, die ultrarechte Szene zu mobilisieren, fühle ich mich persönlich diffamiert und beleidigt.«
Sven Holländer humpelt mittlerweile an zwei Krücken durch seine Wohnung in Kreuzberg. Die Verletzung war schlimmer als gedacht: Das vordere Kreuzband und der Innenmeniskus sind gerissen. Ein Kunststoffband muss eingesetzt werden; für mindestens ein halbes Jahr wird er nicht trainieren können. Mit einiger Mühe setzt er sich auf einen Küchenstuhl. Eine Katastrophe ist die Verletzung für ihn nicht. In nächster Zeit hätte er sich ohnehin stärker auf seine Mediziner-Karriere kümmern müssen. Nach dem praktischen Jahr möchte er Anästhesist oder Schmerztherapeut werden. Seine Situation betrachtet er so, wie er auch seine Gegner abschätzt. »Es geht darum, Akzeptanz zu üben. Man muss in der Lage sein, sich geistig auf anderes einzustellen.« Wut oder Hass bringen gar nichts.
Beim nächsten Kampftag in Schöneberg will Sven Holländer auf jeden Fall wieder am Ring sitzen. | Knud Kohr | Knud Kohr: Mixed Martial Arts in Schöneberg | [] | Sport | 07.05.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/19/knie-den-schaedel |
In echt total nett | Larry Hagman. »Dallas«, diese so ungemein wichtige Serie aus den Achtzigern, gibt es ja wieder, auch wenn sie in Zeiten von »The Wire« einfach ein wenig altbacken wirkt. Larry Hagman, der das vielleicht bekannteste Ekel der Fernsehgeschichte verkörperte, J.R. Ewing, machte auch wieder mit, schon deswegen, weil die Darstellung des schwerreichen Fieslings die Rolle seines Lebens war. Das Faszinierende an Hagman war, dass er so sehr in dieser J.R.-Nummer aufging, dass man sich gar nicht vorstellen konnte, dass der Typ nicht auch im wirklichen Leben ein Südstaaten-Redneck mit Vorliebe für die Tea Party und Schusswaffen war. Aber Hagman war ein absoluter Obama-Fan, der sich für die Legalisierung weicher Drogen stark machte und für die Nutzung von Sonnenenergie warb, was besonders bizarr wirkte, wenn man bedenkt, dass J. R. ein Ölbaron war. Larry Hagman ist schon vor einiger Zeit an Krebs erkrankt, vorige Woche ist er im Alter von 81 Jahren gestorben. AHA | : | [] | dschungel | 29.11.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/48/echt-total-nett?page=0%2C%2C2 |
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Generalstreik nicht in Sicht | Psychologische Konfliktführung ist ein wichtiges Element in der Krisenverwaltung der französischen Regierung. Als Antwort auf die Streiks und Demonstrationen, die seit Wochen gegen ihre Pläne zur Reform des Rentensystems abgehalten werden, setzt sie vor allem auf eine Botschaft: Normalität soll wiederkehren. Am Dienstag wurde entsprechend die Meldung in den Vordergrund gestellt, drei von zwölf Raffinerien hätten ihren Streik beendet. In Wirklichkeit ist die Situation etwas komplexer. Zwar entschieden die Streikenden in den Raffinerien von Fos-sur-Mer in Südfrankreich, Gravenchon bei Rouen sowie Reichstett bei Strasbourg tatsächlich, ihren Ausstand zu beenden. Aber dies im vollen Wissen, dass ihre Anlagen trotzdem nicht wieder anfahren werden. Alle drei werden über Ölterminals und Pipelines versorgt, die wegen des Streiks in den Ölhäfen von Fos-sur-Mer und Le Havre selbst trocken liegen.
Um vermelden zu können, der Streik bröckele ab, hatte die jeweilige Direktion überraschend hohe Angebote gemacht. Der Ölkonzern Esso bezahlt für seine beiden Raffinerien über zwei Wochen sämtliche Streiktage, und die Schweizer Firma Petroplus verpflichtet sich, auf die geplante Schließung der Anlage in Reichstett zu verzichten. In den übrigen Raffinerien werden erst am Abend nach dem gewerkschaftlichen Aktionstag am Donnerstag Vollversammlungen über eine Fortsetzung des Streiks oder Wiederaufnahme der Arbeit entscheiden. Auch anderswo gibt es Vollversammlungen, zu denen mitunter Streikaktivisten aus unterschiedlichen Sektoren zusammenkommen. In Paris beispielsweise trat eine berufsübergreifende Vollversammlung schon seit Ende September mehrmals zusammen. Erst in einem Schuppen am Rande des Pariser Ostbahnhofs – wo man die Diskussion immer wieder unterbrechen musste, wenn der sich aufheizende Motor eines TGV alle Beiträge übertönte –, vergangene Woche dann in einem gemütlicheren Raum im Pariser Gewerkschaftshaus. Dazu kamen Eisenbahnbeschäftigte, Lehrer und Linksradikale aus verschiedenen Sektoren.
Doch gemessen an der Gesamtdynamik einer Protestbewegung, die bislang in den meisten gesellschaftlichen Bereichen weitaus stärker auf Demonstrationen mit massenhafter Beteiligung als auf Streiks und Kämpfe am Arbeitsplatz setzte, blieben diese Versuche eher marginal. Zumal die Forderungen der radikalen Linken nach einem Generalstreik bis jetzt keine Wirkung zeigen. Der soziale Protest wird derzeit von einzelnen Sektoren mit starker Streikbeteiligung getragen, wie Raffinerien und Petrochemie, auf weiteren Gebieten, wie dem Transportsektor, ist die Resonanz geringer, in anderen Branchen gibt es keine nennenswerten Streiks. Generell unterstützen die Lohnabhängigen zwar mehrheitlich den Protest, der jüngsten Umfragen zufolge nach wie vor über 60 Prozent der Gesamtbevölkerung hinter sich weiß. Aber viele gehen lieber einzeln oder in kleinen Gruppen demonstrieren, hinter einem Transparent ihrer Gewerkschaft oder auch ohne Bezug auf ihren Arbeitsplatz, als den Verlust von mehreren Tagen Lohn hintereinander durch zeitlich unbefristete Streiks zu riskieren. Die wachsende Prekarisierung, die sinkenden Reallöhne und gewerkschaftliche Niederlagen sind nicht überall spurlos vorbeigegangen. Dennoch beginnen nun Beschäftigte in manchen Sektoren, sich zu organisieren, um zu versuchen, dem Risiko eines längerfristigen Lohnverlusts im Streikfall vorzubeugen oder entgegenzuwirken.
In der Metallindustrie – wo derzeit vielfach zwei Stunden zu Schichtbeginn oder -ende gestreikt wird – oder bei der Müllabfuhr in Marseille, die bis Montag streikte, wurde etwa beschlossen, dass Beschäftigte sich abwechseln und im Rotationsverfahren streiken oder dass Nichtstreikende Geld in eine gemeinsame Kasse einzahlen, aus der die streikenden Kollegen alimentiert werden. Denn eines der Grundprobleme vieler Streiks in Frankreich ist der fehlende Lohnersatz. Die Gewerkschaften zahlen grundsätzlich kein Streikgeld, üben aber auch keinerlei Kontrolle darüber aus, wann Lohnabhängige streiken oder die Arbeit wieder aufnehmen. Die Gewerkschaft kann ihnen zwar folgen und einen Arbeitskampf unterstützen, auf keinen Fall jedoch über Ausbruch und Dauer der Aktionen entscheiden. Historisch ist das ein großer Vorzug. Aber heute macht sich der materielle Verlust stärker als in der Vergangenheit bemerkbar. Früher zahlten oft kommunistische Rathäuser den Streikenden eine Unterstützung. Zu Zeiten, in denen die Gewerkschaften stärker waren, wurde nach einem erfolgreichen Streik noch ein »Nachstreik« durchgeführt, um die Arbeitgeber zur Zahlung eines Teils der Streiktage zu zwingen. All dies ist in den vergangenen Jahren schwieriger geworden.
Die Linksfront, ein wahltaktisch motivierter Zusammenschluss aus der französischen kommunistischen Partei und der Linkspartei unter Jean-Luc Mélenchon, organisierte am Wochenende eine Solidaritäts-Spendensammlung an einigen Orten in Paris. Allein vor dem Centre Pompidou in Paris sammelte sie innerhalb einer Stunde 6 000 Euro. Solche Spendensammlungen sind inzwischen zum Massenphänomen geworden und werden etwa im Internet, durch die CGT vor dem Total-Hochhaus im Pariser Geschäftsiviertel La Défense und anderswo organisiert. Die Antwort der Regierung auf die Streiks besteht in Dienstverpflichtungen. So wurden in Marseille, wo der Streik der Müllabfuhr am Dienstag beendet wurde, bereits vergangene Woche zum Müllräumen unter anderem Militärs verpflichtet. Allerdings blieb ihr Tun zunächst auf die psychologische Wirkung beschränkt: Von 8 000 Tonnen Müll, die sich stapelten, konnten sie gerade einmal 200 einsammeln. Und die Feuerwehr hatte alle Hände voll damit zu tun, die von genervten Nachbarn angezündeten Feuerchen an Abfallhaufen zu löschen. Gespalten hat sich dabei die örtliche Sozialdemokratie. Während der sozialistische Regionalpräsident Michel Vauzelle die Streikenden unterstützte, forderten sozialistisch geführte Rathäuser sowie Jean-Noël Guérini, Fraktionsvorsitzender der Partei im Regionalparlament, die Müllabfuhr ebenso wie die Hafenarbeiter dazu auf, den Ausstand zu beenden. Am Montagabend erklärte die Marseiller Müllabfuhr jedoch ihren Streik »aus Hygiene- und gesundheitlichen Gründen« für beendet. Dienstverpflichtet wurden in den vergangenen Tagen auch mehrere Raffinerien. Am Freitag wurden Streikposten auf dem Raffineriegelände in Grandpuits, östlich von Paris, von der Bereitschaftspolizei abgeräumt. Drei Menschen wurden dabei verletzt. Die Regierung berief sich offiziell auf »zwingende Notwendigkeiten der Landesversorgung«. Bei der Dienstverpflichtung geht es nicht darum, das gesamte streikende Personal zur Arbeit zu karren. Vielmehr ist das Ziel, den Abtransport des auf dem Raffineriegelände in Tanks lagernden und bereits zu Treibstoff verarbeiteten Rohstoffs zu gewährleisten. Dafür wird ein Teil des Personals zur Arbeit verpflichtet. Zuwiderhandlungen können, sofern die Beweggründe zur Dienstverpflichtung bei einer gerichtlichen Überprüfung als ausreichend betrachtet werden, mit Gefängnis bestraft werden.
Auf dem Gelände der Raffinerie von Grandpuits lagerten rund 20 000 Tonnen bereits fertigen Treibstoffs. Deren Abtransport sollte eine vorübergehende Treibstoffversorgung vor allem im Raum Paris garantieren. Die Gewerkschaften kritisieren eine »gravierende Verletzung des Streikrechts«, da es sich nicht um zwingende Sicherheitsforderungen handele. »Wenn das durchkommt, können wir morgen nicht einmal mehr die Löhne streiken«, sofern der Raffineriebetrieb beeinträchtigt werde, empörte sich ein Gewerkschafter in Libération. In mehreren Fällen annullierten die Verwaltungsgerichte solche Dienstverpflichtungen, so am Freitagabend auch jene für Grandpuits, der Präfekt von Melun sprach allerdings eine neue aus. Dagegen gab im westfranzösischen Nantes ein Gericht den Behörden gegen streikwillige, dienstverpflichtete Arbeiter der Raffinerie von Donges im Nachhinein Recht.
Was die Versorgung mit Treibstoff angeht, ist unterdessen keineswegs jene Beruhigung eingekehrt, die die Regierung vorzuspiegeln sucht. Am Sonntag verkündete der Verband der französischen Erdölunternehmen Ufip, ab Montag sei eher noch mit einer Verschlechterung der Situation zu rechnen, nachdem am Wochenende jede vierte Tankstelle in Frankreich ohne Sprit gewesen ist. Am Montag drohte nun bereits jede dritte Tankstelle trocken zu liegen. Offenkundig hatte die Regierung aus psychologischen Gründen darauf gesetzt, vor allem die Tankstellen entlang der Autobahnen aufzufüllen, da am Wochenende viele Französinnen und Franzosen in die Herbstferien gefahren sind.
Unterdessen rief der Studierendenverband Unef für Dienstag die lernenden oder studierenden Jugendlichen zu einem neuen Aktionstag auf. Die Gewerkschaftsdachverbände riefen die abhängig Beschäftigten zu neuen Aktionstagen auf, mit Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen.
Am Freitag und Samstag marschierten in Lyon und Paris mehrere Hundert jugendliche Anhänger des außerparlamentarischen neofaschistischen Bloc Identitaire auf. Ihre Aufmärsche standen in Lyon unter dem Motto »Gegen das Gesocks«, in Paris lautete es: »Die andere Jugend«. Sie richteten sich vor allem gegen die subproletarischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die sich vergangene Woche massiv den Protesten angeschlossen hatten und sich in Lyon und Nanterre Scharmützel mit der Polizei lieferten. Vor allem in Lyon kam es dabei auch zu Plünderungen. Die »identitätstreuen« Aktivisten wurden in Lyon mit ebenso zahlreichen Gegendemonstranten konfrontiert und von der Polizei in Bussen abtransportiert. In einem Kommuniqué schäumte der Bloc Identitaire daraufhin, die Polizei habe »den Widerstand am Aufräumen gehindert«. Zu Paris hieß es, die »anderen Jugendlichen« sorgten sich um kämpferische Werte und um die »Identität ihres Volkes«, nicht um ihre Renten, »die sie im Jahr 2040 oder 2050 ohnehin nicht erhalten dürften«, weil es dann wohl ohnehin keine mehr geben werde. | Bernhard Schmid | Bernhard Schmid: In Frankreich wird weiter gestreikt | [] | Ausland | 28.10.2010 | https://jungle.world//artikel/2010/43/generalstreik-nicht-sicht?page=0%2C%2C0 |
Bewegte Bilder | Hinter dem seltsamen Namen "AK Kraak", das "Tiefseh-Video-Magazin für ferneres und bewegtes Sehen", verbirgt sich weder ein trashiger Spielfilm noch eine Unterwasserdokumentation, sondern ein Videomagazin aus Berlin, das seit 1990 mehr oder weniger regelmäßig zweimal pro Jahr zusammenfaßt, was so abgeht in "der Linken". Acht Hauptbeiträge, aufgelockert durch Werbung für ein Antirassistisches Sommer-Camp und weitere kurze Sequenzen sammelt die jüngste Folge des Tiefseh-Magazins. Der Untertitel ist durchaus eindeutig, vermittelt der 70minütige Film doch einen authentischen Einblick in die Abgründe der "linken Szene": mit Beiträgen zu ausländischen Putzfrauen, "Zero Tolerance" in New York, zu Geschlechteridentität und zur Welthandelsorganisation WTO. In "Häuser besetzen und räumen" wissen Besetzer nicht so recht, warum sie sich gerade über ein Haus hergemacht haben. Statt dessen sind sie mit ihren Bierflaschen beschäftigt - bis sie die subversive Aktion wegen eintreffender Polizeibeamten abbrechen müssen. Und zwei Antifas demonstrieren, wie es sich prima ohne eigene politische Inhalte auskommen läßt, solange man den halben Bundesvorstand der NPD auswendig aufzusagen weiß und sich über die neuesten Nazi-Strategien den pubertären Bart fußlig zu quatschen vermag. Die medial inszenierte Selbstdarstellung des Sehens und Gesehenwerdens ist offensichtlich auch identitätstiftendes Element linker Gemeinschaft. So fehlt auch nicht der Dank an jene, "die diesmal vergeblich gehofft haben, sich selbst auf der Leinwand wiederzufinden". In den ersten Jahren konzentrierte sich das fast nur aus Autodidakten bestehende Videoprojekt auf Hausbesetzungen und Wagenburgen. Dann habe man den Blickwinkel aber auf die "klassischen Themen der Autonomen" erweitert, sehe aber auch das mittlerweile nicht mehr so eng. Dennoch führt die Gruppe ihren Ursprung als Hausbesetzerprojekt weiterhin im Namen; kraaken ist das niederländische Wort für "besetzen". Und AK steht für "Aktuelle Kamera" - in Anlehnung an die DDR-Nachrichtensendung - oder für "Arbeitskreis". Ästhetik spielt eine untergeordnete Rolle. Bestimmte Themen sollen gesetzt, aufgewertet und inhaltlich gefüllt werden. Das ist aber nicht immer einfach. Die "linke Szene" ist nämlich nicht nur eine große Familie, sondern ziemlich heterogen. Die "Fun-Fraktion" und das "kritische Polit-Publikum" lassen sich eben nicht ganz so leicht unter einen Hut bringen. Insbesondere Militanz-Fans kommen zu kurz: Bilder von den alljährlichen Mai-Festspielen und sonstigen Krawall-Events fehlen. "Eigentlich haben unsere verschiedenen Zielgruppen gar keine gemeinsame Ebene", weiß auch Sybille K. - außer, daß sie halt irgendwie alle "links" seien. Von Judith Butlers Geschlechtsdekonstruktion zeigen sich Teile des Premierenpublikums allerdings wenig begeistert. Schließlich kann die Welt auch einfacher gesehen werden. Witz und Ironie spielen im Kraak-Konzept eine wichtige Rolle. Erklärtermaßen nimmt man die Protagonisten linker Events nämlich nicht immer ernst. So wird schon mal "Wir sind die Guten" eingeblendet oder das Gejammer einer Interviewten, die Welthandelsorganisation WTO habe sich bereits zur "heimlichen Weltregierung" entwickelt, mit gespieltem Entsetzen kommentiert. Bisher auf Berlin beschränkt, soll die bundesweite Szene in die linke Video-Gemeinschaft eingebunden werden. "AK Kraak" Nr. 17 kostet 40 Mark. AK Kraak, Torstraße 216, 10115 Berlin | mathias lembke | mathias lembke: Videomagazin AK Kraak | [] | Lifestyle | 22.07.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/30/bewegte-bilder |
Sechs Kugeln für 180 Mark | Mit sechs Schüssen in den Kopf wurde am vergangenen Wochenende der populäre Generalsekretär der türkischen Gewerkschaft Turk-Is, Semsi Denizer, ermordet. Cengiz Balik, der nach Aussage von Denizers Bruder ein Freund des Ermordeten ist, hat den Mord gestanden. Angeblich hatte der Gewerkschaftler Balik umgerechnet 180 Mark geschuldet. Denizer hatte 1991 die größte Demonstration in der türkischen Geschichte organisiert und war mit 50 000 Bergarbeitern nach Ankara gezogen, um gegen Lohnkürzungen zu protestieren. Die Regierung hatte damals nachgeben. Daß Denizer nun wegen ein paar Mark sterben mußte, ist wenig glaubwürdig. Es gebe sicher andere Hintergründe für die Tat, sagte der Präsident des größten türkischen Gewerkschaftsverbandes, Bayram Meral, der Nachrichtenagentur Anatolien. Die Gewerkschaften stehen derzeit wegen der anstehenden Reform des Sozialwesens unter großem Druck. Die Regierung will die Pensionsgrenze von 45 auf 58 Jahren bei Frauen und von 50 auf 60 Jahre bei Männern anheben. Das Thema wurde zwar bei einem Treffen zwischen Turk-Is und Regierungsvertretern vergangene Woche ausgeklammert; die Gewerkschaften verschoben daraufhin einen geplanten eintägigen Streik. Gleichzeitig warnte Bayram Meral in der Tageszeitung Hürriyet, daß die Regierungspläne den "Frieden im Land gefährden" würden. Die Reformen gehören zu den Bedingungen, die der Internationale Währungsfonds der Türkei für die Gewährung weiterer Kredite gestellt hat. | : | [] | Ausland | 11.08.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/32/sechs-kugeln-fuer-180-mark?page=0%2C%2C2 |
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Keine Kompromisse mehr | Eine Jugend in den frühen Neunzigern bestand oft aus den Komponenten Instrument lernen und mit Schulfreunden eine Postpunk- oder Grungeband gründen. Wichtig waren die musikalischen Referenzen und vor allem das Durchscheinen von etwas Besonderem, schließlich wollte man sich von den Bands unterscheiden, die zuvor die Bühne des Jugendzentrums gerockt hatten.
Diese Sehnsucht nach dem Anderen kann man als Positionierung in einem allgemeinen »Wir-Gefühl« bezeichnen oder kurz Haltung nennen. Nach dieser mühsam erarbeiteten hedonistischen Phase setzt der schmerzhafte Prozess der Desillusionierung ein, spätestens dann, wenn im Bewerbungsschreiben der Punkt »Motivation« zur Sprache kommen soll.
Solche Erfahrungen sammelten auch die Studienfreunde und Harvard-Absolventen Keith Gessen, Mark Greif, Benjamin Kunkel und Marco Roth, als sie begannen, Literaturrezensionen für große amerikanische Zeitungen zu schreiben. Ihre klugen Interpretationen, komplexen Analysen und das umfangreiche Wissen in Kritischer Theorie und Poststrukturalismus interessierte aber so ziemlich niemanden. Stattdessen mussten sie ihre Texte in die Agenda des Literaturbetriebs einpassen, formatgerechte Arbeiten abliefern und sich auf die Interview-Angebote der PR-Agenturen beschränken.
Gesprengt wurde die Frustrationstoleranz der vier Autoren jedoch vor allem durch Redakteure, die den eigenen Lesebetrieb in den fünfziger Jahren eingestellt hatten, oder beispielsweise durch James Wood, Chefkritiker des New Yorker, der W.G. Sebald als revolutionären Autor feierte, weil er erstmals seit Beckett die Grenzen des realistischen Romans erweitert habe. Capote, Pynchon, Bernhard und hundert bessere Beispiele waren ihm wohl entgangen. Gessen, Greif, Kunkel und Roth kompensierten den schockierenden Berufsalltag nicht mit der Gründung einer Punkband, was mit Anfang Dreißig vermutlich keine echte Alternative mehr ist, sondern beendeten die Zeit der Kompromisse, als sie im Herbst 2004 mit durchaus punkiger Attitüde die Zeitschrift n+1 gründeten, die seitdem zweimal jährlich in einer sehr überschaubaren Auflage erscheint. Unter dem treffenden Titel »Ein Schritt weiter. Die n+1-Anthologie« hat der Suhrkamp-Verlag nun die besten Essays der ersten fünf Ausgaben in deutscher Übersetzung herausgebracht. Beschleunigt wurde diese Entscheidung sicher nicht nur durch berühmte n+1-Fans, wie Jonathan Franzen und Barbara Epstein, sondern auch durch den Erfolg von Kunkels Debütroman »Indecision« (2005), der von der New Yorker Presse mit dem fast schon reflexartig für Nachwuchsautoren verwendeten Salinger-Vergleich geadelt wurde.
Die Eliteausbildung der Herausgeber, ihre Kritik am Literaturbetrieb und der konsequente »Wir«-Modus, der im Intro von n+1 und bei Interviews von den Autoren durchgehalten wird, könnten, zumindest entfernt, beim deutschsprachigen Publikum Erinnerungen an »Tristesse Royale« wachrufen. 1999 gab ein Dandy-Kollektiv um Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre diesen Höhe- und Tiefpunkt der deutschen Popliteratur heraus. Im gediegen-distinguierten Ambiente des Berliner Hotels Adlon wurde der Themenkomplex Markenwelt und Selbstfindung inszeniert, die Provokationen und Gesten wurden sorgfältig eingebettet in das ironische Verweissystem einer hyperästhetisierten Popkultur. Das Projekt ist sicher nicht nur daran gescheitert, dass sich die Begriffe Dandy und Kollektiv wechselseitig ausschließen. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der New Economy lagen Kracht und seine Freunde mit ihrem an Bret Easton Ellis orientierten Fetischbegriff der Ware ganz weit neben dem gesellschaftlichen Lebensgefühl.
Zwischen »Tristesse Royale« und n+1 liegen nur unfassbare fünf Jahre, sehr viel größer könnten die Unterschiede jedoch kaum ausfallen. Die Zeit ist schlichtweg heute eine andere, und was bei »Tristesse Royale« nicht mehr als Geplapper war, ist bei n+1 smarte Intellektualität. Die Redaktion der amerikanischen Zeitschrift befindet sich in der Lower Eastside, ganz in der Nähe des inzwischen abgewickelten CBGBs, des Clubs, in dem die Ramones und Patti Smith Punk erfanden. Die Herausgeber machen zwar einen sehr smarten Eindruck, bezeichnen sich aber als »angry«, positionieren sich links und kokettieren mit dem Begriff »Sozialismus«, der im Amerika von George W. Bush sicher nicht seine schockierende Wirkung verfehlt. Arrogantes Verhalten lehnen sie ab, falsche Bescheidenheit ist aber auch nicht ihr Ding. Als Vorbild für n+1 nennen sie die Partisan Review, das Vorwort trägt den Titel »Zur intellektuellen Lage«, jede Ausgabe hat ein großes Thema wie »Glück« oder »Entzivilisierung«, hier werden also keine Kleinigkeiten verhandelt, aber für das Leichte gibt es schließlich Lifestyle-Magazine.
Die Texte sind kompliziert, dicht, analytisch klar, gleichzeitig auch ironisch, witzig – so nebenbei ganz flüchtig lassen sie sich nicht lesen. Die Autoren machen keine methodischen Unterschiede zwischen Alltagsphänomenen, Literatur und politischen Themen – Foucault, Barthes, Derrida laufen immer mit, das Setting ist vor allem bei Greif und Roth an die eigene Biographie gekoppelt. Keine schlechte Strategie, hier geht es nicht um Selbstfindung, sondern um Selbstvergewisserung oder Lebensgefühl, und der Leser kann das Spiel mitspielen und sich fragen, wie war das eigentlich bei mir, wo bin ich gerade angekommen und wie geht’s jetzt weiter. In solchen Momenten funktioniert dieser obsessive Gebrauch von »wir«, zwischendurch wehrt man sich aber schon dagegen, ständig als Angehöriger einer Bewegung angesprochen zu werden.
Großartig sind die Artikel, wenn es um Ablehnung geht, Mark Greifs Abrechnung mit dem Fitnesswahn, »Gegen das Training«, wurde gleich mit in die Anthologie »The Best American Essays 2005« aufgenommen. Schwieriger gestaltet sich die Sache mit dem offensiv geforderten politischen Aktionismus, letztlich fällt den theoretisch avancierten Verfassern dazu relativ wenig ein. Eine Ausnahme ist die Geschichte vom Aktionär, der zum tortewerfenden Aktionärsaktivisten wird, als er feststellt, dass sein Portfolio keinesfalls mit seiner Mitgliedschaft bei den »United Students Against Sweatshops« vereinbar ist.
Die fünfte Ausgabe von n+1 führte vor allem beim jüngeren Teil der treuen Lesergemeinde zu Protesten, weil E-Mail, Handy und Blog in den »Prozess der Entzivilisierung« eingeordnet wurden, mit einer brüsken Überleitung zum Problem Netzpornographie: »Zu den schmerzhaften postindustriellen Zivilisationsleiden wie Karpaltunnel-Syndrom, RSI-Syndrom oder Augenüberlastung gesellt sich der Masturbationsdaumen.« Die Blog-Argumentation der Herausgeber ist allerdings interessant, neben dem Hinweis, dass Blogs oft hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, werden Lit-Blogger als Marketing-Avantgarde des 21. Jahrhunderts bezeichnet, die vor allem unbezahlte Arbeit leisten. n+1-Autoren selbst schreiben übrigens für die Zeitungen und Magazine, gegen die sie gleichzeitig antreten, wegen der Miete. Hoffen wir mal, dass das keine größeren Auswirkungen auf ihre Haltung hat. Benjamin Kunkel / Keith Gessen: Ein Schritt weiter. Die n+1-Anthologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, 293 Seiten, 12 Euro | Martina Mescher | Martina Mescher: Das linksintellektuelle New Yorker Magazin n+1 | [] | dschungel | 04.09.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/36/keine-kompromisse-mehr?page=0%2C%2C2 |
Die Höcke-Jugend | Die Kräfte in der AfD, die zumindest aus taktischen Gründen der Partei eine eher gemäßigte Fassade verleihen wollen, verlieren immer weiter an Einfluss. Das zeigte sich zuletzt in Baden-Württemberg. Dort hatte das Landesamt für Verfassungsschutz Mitte Juli mitgeteilt, dass es den AfD-Landesverband offiziell als rechtsextremen Verdachtsfall einstuft. Entsprechendes galt bereits für die Bundespartei, seit dem entsprechenden Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts im März auch gerichtlich bestätigt – auch wenn die Partei dagegen beim Oberverwaltungsgericht in Münster klagt. Als Begründung verwies der Landesverfassungsschutz auf extremistische Strömungen innerhalb der AfD, zum Beispiel den formal aufgelösten »Flügel« um den Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, aber auch die »Junge Alternative« (JA), die Jugendorganisation der Partei. Die JA wird ebenso wie der »Flügel« schon seit 2019 als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft. Die Mitteilung der Behörde kam nur wenige Tage vor dem Landesparteitag der AfD in Baden-Württemberg am 17. Juli – bei dem dann mit Reimond Hoffmann und Severin Köhler zwei Mitglieder der JA in den Landesvorstand gewählt wurden. Der ehemalige Co-Vorsitzende der Jungen Alternative, Marvin T. Neumann, hatte auf Instagram geschrieben, »weiße Europäer« könnten Deutsche sein, »Schwarzafrikaner aber nicht«. Auch beim Bundesparteitag in Riesa im Juni hatte sich der völkische Flügel weitestgehend durchgesetzt. Kurz darauf hatte sich die »Junge Alternative« in einer Stellungnahme an den neu gewählten Parteivorstand gewendet. »Nach Jahren der Lähmung und Selbstbeschäftigung« erhoffe man sich »einen jugendpolitischen Kurswechsel«. Neben mehr »Kampagnenfähigkeit« fordere man eine »echte Erneuerung mit und nicht gegen die eigene Parteijugend«. Dazu gehöre »insbesondere Respekt« für jene, »die in jungen Jahren für ein besseres Deutschland berufsbiographisch fast alles« riskierten. Die JA ist seit dem jüngsten Bundesparteitag mit Dennis Hohloch und dem JA-Bundesvorsitzenden Carlo Clemens im Bundesvorstand der AfD vertreten. Deshalb überrascht das selbstbewusste Auftreten der Jugendorganisation nicht. Bemerkenswert ist es dennoch – schließlich hatte der frühere Parteisprecher Jörg Meuthen noch vor nicht allzu langer Zeit die Auflösung der JA angedroht. Die JA war in den vergangenen Jahren wegen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz und Verbindungen zur Identitären Bewegung auch innerparteilichem Druck ausgesetzt. Immer wieder waren rassistische Äußerungen von JA-Personal zu hören, die man sogar in der AfD wohl nur hinter verschlossenen Türen akzeptieren wollte. Marvin T. Neumann beispielsweise, ehemals Co-Vorsitzender der JA zusammen mit Clemens, hatte 2021 auf Instagram geschrieben, »weiße Europäer« könnten Deutsche sein, »Schwarzafrikaner aber nicht«. Das war seinerzeit zu viel, Neumann trat auf Druck des Parteivorstands aus der AfD aus. Doch der damalige Parteivorsitzende Meuthen hat die Partei inzwischen selbst verlassen, die extremeren Kräfte haben sich durchgesetzt. Und auch die JA scheint an Einfluss zu gewinnen. Das zeigte sich unter anderem bei der Bundestagswahl, in der zahlreiche JA-Mitglieder (erneut) in den Bundestag gewählt wurden. Was die JA unter dem geforderten »jugendpolitischen Kurswechsel« und »Kampagnenfähigkeit« versteht, darauf deuten Kampagnen und Aktionen der vergangenen Monate hin. Zu Beginn des Pride-Monats Juni forderte die JA ihre Follower in den sozialen Medien auf: »Zeige jetzt deinen Nationalstolz und setze ein Zeichen gegen den linken Zeitgeist!« Profilbilder in abgestuften Deutschlandfarben als Pendant zu Regenbogenflaggen und Solidaritätsbekundungen für queere Menschen – »#nationalpride« statt Pride Month war die Devise. Im März waren JA-Mitglieder in den nordhessischen Naturpark Reinhardswald gereist, um gegen den Bau einer Windkraftanlage zu protestierten. »Märchenwald muss bleiben« war das Motto des Protests. Auf Plakaten forderten sie »Heimat schützen!« und »Für echten Naturschutz!«. Zu den Mitreisenden gehörte neben Carlo Clemens, Mary Khan (stellvertretende Bundesvorsitzende der JA) und weiteren Vorstandsmitgliedern auch Jonas Schick. Dieser war früher in der Identitären Bewegung aktiv und schreibt für den Blog der Sezession. Außerdem tritt er als Herausgeber eines rechten Ökomagazins in Erscheinung, das Björn Höcke zufolge »Heimatliebe und Naturschutz« vereint. Wie schon vergangene Aktionen der JA wurde das Protestgeschehen im Wald von dem Verein »Filmkunstkollektiv« aus Dresden begleitet. Diesem gehören auch Personen an, die für rechtsextreme Kampagnen oder Medien tätig sind, wie für das Kampagnenprojekt »Ein Prozent« oder das Compact Magazin. Die Verbindungen zwischen diesem Milieu und der JA sind eng. Nachdem zum 1. Juli die Diäten von Bundestagsabgeordneten erhöht wurden, ließ Hannes Gnauck, AfD-Bundestagsabgeordneter und JA-Mitglied, seinem Unmut darüber in den sozialen Medien freien Lauf: »Perfide und falsch« sei es, »in dieser Zeit« mehr Geld an Mitglieder des Bundestags zu zahlen. Statt die zusätzlichen 350 Euro zu behalten, wolle er sie an das Filmkunstkollektiv spenden: »Aktivisten brauchen Unterstützung aus dem Parlament!« Die besagten Aktivisten zeigten sich erfreut und schrieben auf Twitter: »Hannes, Du bist ein echter Ehrenmann. Wir machen so lange weiter, bis sich in Deutschland alles wieder zum Guten wendet, versprochen!« Die Arbeit des Filmkollektivs besteht vor allem darin, Proteste mit laufender Kamera zu begleiten, unter anderem Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen. Um Bilder zu liefern, die »die Mainstreammedien verschweigen«, berichtete man Mitte Juli zudem von den Bauernprotesten in den Niederlanden – gemeinsam mit der stellvertretende Bundesschatzmeisterin der JA, Anna Leisten. Leisten und Gnauck sind Mitglieder des AfD-Landesverbands Brandenburg, der bis 2020 von Andreas Kalbitz angeführt wurde. Damals war herausgekommen, dass Kalbitz früher Mitglied der neonazistischen »Heimattreuen Deutschen Jugend« war, weshalb er die Partei verlassen musste. Seitdem ist Kalbitz zwar offiziell parteilos, aber weiterhin Mitglied der AfD-Fraktion im Landtag. Er ist regelmäßig bei AfD-Veranstaltungen zu Gast und pflegt ein enges Verhältnis zu Angehörigen der JA. Im Dezember lief Kalbitz bei einer Demonstration der JA in Berlin mit. Beim Bundesparteitag in Riesa war Kalbitz zwar nicht mehr dabei, doch konnte sein früherer Verbündeter Björn Höcke mehrere Erfolge einfahren: »Ein Parteivorstand von Höckes Gnaden« titelten Zeitungen anschließend, auch mit Blick auf die Wahl des JA-Vorsitzenden Clemens in den Parteivorstand. Auf einen guten Draht zur Jugendorganisation hat Höcke schon immer Wert gelegt. »Das Wichtigste« sei nun, »Ruhe in den Laden« zu bekommen und die komplette Kraft »auf den politischen Gegner zu lenken«, betonte er während des Parteitags im Gespräch mit dem rechten österreichischen Sender Auf 1. | Sebastian Beer | Sebastian Beer: Der Jugendverband der AfD, die Junge Alternative, gewinnt immer mehr Einfluss | [
"AfD",
"Junge Alternative"
] | Antifa | 28.07.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/30/die-hoecke-jugend?page=0%2C%2C3 |
Wie es ihnen gefällt | Mit internationaler Besetzung will vom 20. bis 23. November das Berliner Musikerinnen-Festival "Wie es ihr gefällt" brillieren. Musizierende Frauen aus Italien, Frankreich, Japan, Finnland, den USA und der Tschechischen Republik haben sich im Grünen Salon der Volksbühne angesagt. Bei soviel Internationalität wollten die Veranstalterinnen offenbar auf professionelle Hilfe nicht verzichten: Neben der alternativen tageszeitung und dem ebensolchen Stadtmagazin zitty - die dafür nichts können - prangt auf den Plakaten der Schriftzug der Firma Sorat. Und die betreibt in Berlin die am meisten gefürchteten Wohnheime für Asylbewerber. | : | [] | Inland | 06.11.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/45/wie-es-ihnen-gefaellt |
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Am laufenden Band | Die kopflose, verbrannte Leiche eines regierungskritischen Journalisten und ein Tonband, auf dem angeblich festgehalten ist, wie der ukrainische Präsident Leonid Kutschma das »Verschwinden« des Journalisten anordnet, Demos und Zeltlager oppositioneller Studenten vor dem Präsidentenpalast - nach allen klassischen Kriterien steckt die Ukraine in einer veritablen Staatskrise. Der Online-Journalist Georgi Gongadze verschwand im September 2000. Wochen später wurde eine enthauptete Leiche mit großer, aber nicht vollkommener Sicherheit als die seine identifiziert. Im November veröffentlichte Kutschmas Rivale, der Chef der sozialistische Partei, Aleksander Moroz, im Parlament Abhörprotokolle, aus denen hervorgehen soll, dass Präsident Kutschma die Entführung des Journalisten befohlen habe. Ein inzwischen ins Ausland geflohener Geheimdienstoffizier und Leibwächter Kutschmas hatte dem Oppositionsführer ein Tonband übergeben, auf dem drei Stimmen zu hören sind. Am besten sei es, so einigten sich die Sprechenden, Gongadze von Tschetschenen entführen zu lassen, die ein unbezahlbares Lösegeld verlangen. Alexandr Moroz erklärte, die Stimmen gehörten Kutschma, seinem Innenminister und seinem Stabschef. Zwei Parlamentsmitglieder haben die Stimmenzuordnung bestätigt, Staatsanwälte und eine unabhängige niederländische Kommission sehen sich aber nicht in der Lage, die Stimmen zu identifizieren. Jean-Christophe Menet von Reporter ohne Grenzen sagt, es geschehe immer häufiger, dass ukrainische Journalisten bedroht oder angegriffen werden: »Es passieren bizarre Dinge.« Die Journalistengewerkschaft teilte mit, dass in den neun Jahren der unabhängigen Ukraine 38 Journalisten auf mysteriöse Weise starben. Teils kamen sie bei Unfällen ums Leben, teils wurden sie auf offener Strasse erschossen. Seit vier Wochen demonstrieren nun Studenten und Journalisten in Kiew. Das kam den mit der Kutschma-Fraktion konkurrierenden Oligarchengruppierungen gelegen; sie schlossen sich in einem »Forum der Nationalen Rettung« zusammen, das aus gemäßigten Nationalisten, Vereinigungen von Geschäftsleuten, Sozialdemokraten und den Sozialisten von Aleksander Moroz besteht, die ukrainischen Kommunisten jedoch nicht einschließt. Die Oppositionsführer haben ebenso wie Kutschma meist eine Hausmacht in einem der staatlichen oder halbstaatlichen Großbetriebe der Ostukraine. Die einzige inhaltliche Gemeinsamkeit besteht in der Gegnerschaft zu Kutschma und dem Anspruch auf die Macht im Staat. Der Präsident, die Wirtschaftskartelle und die regierungstreuen Medien können bisher alle Proteste und Demonstrationen ignorieren. Und selbst ein Sturz Kutschmas würde innenpolitisch nur wenig ändern. Beide Seiten werfen sich Korruption, die Verzögerung von Reformen und eine antidemokratische Gesinnung vor. Kutschma hält einige der Oppositionsführer für »Lenins«, die »nicht Menschen, sondern eine Kuhherde« auf die Straße schicken. Der Tonbandskandal sei wohlorganisiert und -finanziert. Kutschma entließ die Vorgesetzten des Leibwächters, der das fragliche Gespräch aufgenommen hat, den Staatsanwalt, der im Fall Gongadze ermittelte, und ging ansonsten zur Tagesordnung über. Vor zwei Wochen empfing Kutschma Wladimir Putin. Die beiden Präsidenten vereinbarten eine enge Kooperation in den Bereichen Raumfahrt und Energiepolitik. Die Revitalisierung der ukrainisch-russischen Zusammenarbeit wird im Westen misstrauisch beobachtet. Associated Press hält das Abkommen für einen Schlag gegen die USA, die die Ukraine als einen Puffer gegen russische Ambitionen finanziell und militärisch unterstützt hätten. Auch die Los Angeles Times kritisiert, dass Kutschma nun wieder die Unterstützung des Kreml suche, obwohl die Ukraine mit viel US-Hilfe als Gegengewicht zur russischen Macht aufgebaut worden sei. Kutschma pokert weiterhin nicht nur mit Russland, sondern auch mit dem Westen. Einen Tag nach Putin tauchten Vertreter der Europäischen Union in Kiew auf. Die schwedische Außenministerin Anna Lindh, deren Land derzeit die EU-Präsidentschaft innehat, sprach mit Kutschma über »die europäische Integration der Ukraine und über Sicherheitsfragen«. Als sich Kutschma Ende Januar in Berlin mit Bundeskanzler Gerhard Schröder traf, ging es um »Möglichkeiten der verbesserten Zusammenarbeit«. Weder Lindh noch Schröder hielten sich lange beim Journalistenschwund auf. Doch offenbar kam man sich in Wirtschaftsfragen trotzdem kaum näher und konnte keinen nennenswerten Vertrag abschließen. Kutschmas derzeitige Annäherung an Russland resultiert also wohl auch aus dem Mangel an Alternativen. Weder militärisch noch ökonomisch kam man in den letzten Jahren mit der EU voran. Zwar hält Felicitas Möllers von der Deutschen Bank Research, die auch Mitglied der Beratergruppe der ukrainischen Regierung ist, die wirtschaftliche Stagnation der vergangenen Jahre für überwunden. Das 1 000-Tage-Programm des prowestlichen Premierministers Wiktor Juschtschenko habe die Wirtschaft stabilisiert, resümiert sie in ihrer Studie »Ukraine on the Road to Europe«. Doch die wirtschaftliche Lage der Ukraine hat sich ständig verschlechtert. Im vergangenen Jahrzehnt nahm die Industrieproduktion um 70 Prozent ab. Seit 1990 hat sich die landwirtschaftliche Produktion halbiert. Experten befürchten eine Hungerkatastrophe, falls die für dieses Jahr angekündigten Agrarreformen des IWF tatsächlich durchgeführt werden. Die Löhne einfacher Arbeiter seien in den vergangenen zehn Jahren um 70 Prozent gesunken, berichtet die ukrainische Zeitung Den. Ihr ohnehin kümmerliches Einkommen wird von einer galoppierenden Inflation noch weiter gemindert. Schon im vergangenen Mai stand das Land vor der Zahlungsunfähigkeit. Nur durch eine Umschuldung unter Leitung einiger führender europäischer Banken, wurde der drohende Kollaps verhindert. Kurz nach Beginn der Demonstrationen gegen Kutschma gab der IWF mit 246 Millionen Dollar die erste Tranche eines 2,6-Milliarden-Kredits frei. | lutz eichler | lutz eichler: Kutschma unter Druck | [] | Ausland | 28.02.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/09/am-laufenden-band |
Triebabwehr im Braunlichtmilieu | Der zweite Sitzungstag des NPD-Bundesvorstands am vorvergangenen Wochenende verlief unangenehm für Peter Marx. Vier Tage zuvor hatte Spiegel Online den Generalsekretär der Partei betreffend getitelt: »Partyfotos könnten NPD-Spitzenmann Amt kosten.« Der Parteivorsitzende Udo Pastörs wurde in dem Artikel zitiert, er habe die Entwicklung des Generalsekretärs »mit gewisser Überraschung zur Kenntnis genommen«. Marx gab sein Amt schließlich am zweiten Sitzungstag auf, nach eigener Aussage, um Schaden von der Partei abzuwenden. Auf Facebook konterte er, es sei »eine Unverschämtheit, wenn sich Vorstandsmitglieder an die Medien wenden«, um einen Rücktritt zu fordern. Im Saarland bleibt Marx aber Landesvorsitzender. Grund für die Rücktrittsforderungen und Streitereien in der NPD waren zwar auch organisatorische Fehler, die Marx unterlaufen waren. Für erhebliche Irritationen hatten aber seit Februar im Internet verbreitete Bilder einer privaten Party mit NPD-Kadern, Parteisympathisanten, rechtsextremen Hooligans und Rockern in Saarbrücken gesorgt. Auf einigen Fotos war Marx zu sehen – ebenso wie ein Geburtstagskuchen in Penisform, eine Stripperin sowie die frühere Pornodarstellerin und ehemalige Sexarbeiterin Ina G. Diese beschert der NPD seit Wochen national wie international hämische bis schlüpfrige Schlagzeilen, sogar in den USA und Taiwan erhielt die Partei Aufmerksamkeit. Die Meldungen über Marx’ Rücktritt überschrieben selbst seriöse Medien mit der Wortschöpfung »Peniskuchenaffäre«, der Berliner Kurier meldete gar: »NPD-Boss stolpert über (…) Pimmeltorte.« Die Partei sieht sich zwar mit einem Verbotsverfahren konfrontiert, überdies stehen 2014 Landtags- und Kommunalwahlen sowie die Europawahl an. Doch sie zermürbt sich mit Rücktritten und Schlammschlachten. Marx war nicht der erste hochrangige Funktionär, der wegen einer Art Sexskandal seinen Rücktritt erklären musste. Holger Apfel, der ehemalige NPD-Vorsitzende, verließ Ende 2013 seine Partei. Es kursierten Vorwürfe, er habe zwei junge »Kameraden« sexuell belästigt. Ende März gab Sigrid Schüßler, die von einigen als zu modern empfundene Vorsitzende der NPD-Frauenorganisation »Ring Nationaler Frauen«, ihr Amt auf. Auf Facebook schrieb Schüßler, trotz ihres eigenen »bewusst erotisch aufgeladenen genderkritischen Kurses« sei es der Partei nicht gelungen, »politische Akzente zu setzen und aktuelle frauen- und familienpolitische Themen in der Öffentlichkeit zu besetzen«. Der politischen Hygiene geschuldet war hingegen die Amtsenthebung des Hamburger NPD-Landesvorsitzenden Thomas »Steiner« Wulff Anfang April durch den Bundesvorstand. Wulff hatte sich in seiner Bewerbungsrede für das Amt öffentlich als Nationalsozialist bezeichnet. Zudem habe er, so die NPD, »wiederholt und schwerwiegend gegen die Grundsätze und Ordnung der Partei verstoßen«. Wulff, einer der wichtigsten deutschen Neonazis, fungierte jahrelang als Mittelsmann zwischen der NPD und den militanten Kameradschaften und war ein Gegner Apfels. Im April 2013 hatte Wulff dessen Führungsriege noch öffentlich als »eine Trümmertruppe von Unfähigen und asozialen Selbstbedienern« bezeichnet. Innerparteiliche Konkurrenten bekämpfen sich auch in der »Peniskuchenaffäre«, in der es weniger um Kuchen als um die ehemalige Pornodarstellerin und Sexarbeiterin Ina G. geht. Sie tummelt sich seit Monaten in der NPD, unter nicht parteigebundenen Neonazis und rechtsextremen Hooligans. G. posierte auch für ein Foto mit Apfels Vorgänger, dem NPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Udo Voigt. Der NPD-Vorsitzende Pastörs, ein erbitterter Konkurrent Voigts, griff diesen einen Tag nach Marx’ Rücktritt wegen des Fotos an. Dieses sei »eine politische Eselei« und ein »politisches Fehlverhalten«, rügte Pastörs den Spitzenkandidaten öffentlich im »Nordmagazin« des NDR. Der NPD-Aussteiger Andreas Molau hatte Pastörs einst einen »völkischen Taliban« genannt. Im NDR kritisierte Pastörs denn auch nicht nur Voigts Foto mit Ina G., sondern auch die »Durchsexualisierung der BRD-Gesellschaft«, die er zutiefst bedauere und bekämpfe. Die Gesellschaft sei »durchlöchert von Triebdarstellungen«, fand Pastörs. So dürfte auch den Parteimitgliedern und -anhängern nach diesen Aussagen deutlich geworden sein, dass Pastörs weiter hart durchzugreifen gedenkt, sollte der Skandal um Ina G. nicht beendet werden. Die NPD hatte die junge Frau schon Mitte März zur »unerwünschten Person« erklärt, die künftig »in keinem Fall zu NPD-Veranstaltungen und sonstigen Aktivitäten aller Art zugelassen werden« dürfe. Doch in der Naziszene gibt es immer noch eine Vielzahl überwiegend männlicher Unterstützer der Frau, die Pastörs und der NPD Spießertum vorwerfen. G. fühlt sich offensichtlich weiterhin der Szene verbunden und sorgt für neue Konflikte. Nach dem gescheiterten Engagement bei der NPD stellte sie einen Aufnahmeantrag bei dem rheinland-pfälzischen Landesverband der Splitterpartei »Die Rechte« (DR). Der Landesvorsitzende Oliver Kulik stimmte dem Antrag zu, wurde aber vom Bundesvorsitzenden Christian Worch umgehend gemaßregelt. G. müsse erst auf einem Bundesparteitag angehört werden und dann solle die Partei über die Mitgliedschaft abstimmen, stellte Worch klar. Kulik trat daraufhin Anfang April von seinem Amt zurück, der Fachdienst »Blick nach rechts« titelte: »Porno-Streit zerlegt ›Die Rechte‹«. G. selbst gab zur gleichen Zeit einem Naziportal ein Interview und sagte, bei der Familienplanung solle »dem Erhalt des deutschen Erbgutes und damit auch kultureller sowie traditioneller Vererbung eine Priorität verliehen werden«. Ein Rechtsextremist kommentierte im Forenbereich: »Als mehrfacher Familienvater, der versucht, seinen Kindern halbwegs Werte zu vermitteln, muss ich zudem etwas schmunzeln, wenn eine kinderlose Ex-Hure und Pornodarstellerin von der Weitergabe deutschen Erbgutes, kultureller Vererbung usw. schwadroniert.« Für weitere Unruhe dürfte ein älterer, aber nun neu aufgelegter Pornofilm sorgen, in dem G. zu sehen ist. Ein Pornounternehmen bewirbt ihn derzeit als Neuproduktion mit einer »Porno-Nazi-Braut« und »ehemaligen NPD-Aktivistin«. | Michael Klarmann | Michael Klarmann: Porno-Affären bei der NPD | [
"NPD"
] | Antifa | 17.04.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/16/triebabwehr-im-braunlichtmilieu?page=0%2C%2C3 |
Identitär nationalistisch | Nationalistinnen haben es nicht leicht. Ständig müssen sie sich über irgendetwas aufregen, das den »Nationalstolz« verletzen könnte. So offenbar auch Valérie Pécresse, seit 2015 Präsidentin des Regionalrats der Region Île-de-France und seit dem 4. Dezember Präsidentschaftskandidatin der konservativen französischen Partei Les Républicains (LR). »Europa vorsitzen, ja; die französische Identität auslöschen, nein!« twitterte sie Ende vergangener Woche. Die Angst vor Auslöschung ausgelöst hatte ein simples Stück Stoff: Am Arc de Triomphe in Paris wehte am 31. Dezember und 1. Januar die EU-Flagge, um den Beginn des EU-Ratsvorsitzes Frankreichs zu zelebrieren. Nicht nur Pécresse sah darin einen antifranzösischen Affront. »Ich bitte Emmanuel Macron feierlich, unsere Trikolore neben der Flagge Europas unter dem Arc de Triomphe wieder zu hissen. Das sind wir all unseren Kämpfern schuldig, die ihr Blut für sie vergossen haben«, ging ihr Tweet weiter.
Aufgeregt hatte sich unter anderem auch ihre rechtsextreme Konkurrenz im Präsidentschaftswahlkampf, Éric Zemmour und Marine Le Pen. Als die EU-Flagge wieder abgehängt worden war, begrüßte Letztere das gar als »schönen patriotischen Sieg« dank der »Massenmobilisierung aller Liebhaber Frankreichs und der Republik«. Die französische Regierung widersprach allerdings dieser Darstellung: Die Flagge habe sowieso nicht länger gehisst bleiben sollen. Pécresse gilt als moderate Konservative, sie konnte sich bei der Wahl für die Präsidentschaftskandidatur von LR gegen den Rechtsaußenpolitiker Éric Ciotti durchsetzen. Doch offenbar versucht sie nun, auch weiter rechts Stimmen zu fischen. Ihr Claim für ihre Kandidatur lautet: »Für den wiederentdeckten französischen Stolz«. Jaques Chirac, als dessen Beraterin sie arbeitete, gilt als ihr politischer Ziehvater. Unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys war sie 2007 bis 2011 Forschungs- und Hochschulministerin – ihre Hochschulreform hatte damals monatelange linke Proteste zur Folge – und anschließend bis Mai 2012 Haushaltsministerin. Als Wirtschaftsliberale nennt sie Margaret Thatcher als Vorbild, »zu zwei Dritteln« jedoch Angela Merkel. Umfragen von Montag zufolge würde Macron im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl im April 26 Prozent der Stimmen bekommen, Pécresse und Le Pen jeweils 16 Prozent. | Nicole Tomasek | Nicole Tomasek: Valérie Pécresse sieht die französische Identität durch eine EU-Flagge am Arc de Triomphe bedroht | [
"Frankreich"
] | Hotspot | 06.01.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/01/identitaer-nationalistisch?page=0%2C%2C1 |
Rechte Umtriebe allerorte | Braunes Stelldichein. Zur Beerdigung des Chemnitzer Hooligans Thomas Haller am 18. März kamen auch zahlreiche Mitglieder der rechtsextremen Szene Für einen Skandal sorgte der Chemnitzer FC zu Beginn des Fußballjahres. Am 9. März wurde in einer offiziellen Gedenkminute vor der Partie gegen die VSG Altglienicke des einige Tage zuvor verstorbenen Thomas Haller gedacht. Die Fantribüne präsentierte eine Choreographie zu Ehren desselben. Haller war unter anderem als Gründer der Gruppe »HooNaRa« (Hooligans, Nazis, Rassisten) bekannt, der Verbindungen zum rechtsterroristischen NSU nachgesagt wurden. Im Nachhinein wurde darüber spekuliert, dass Vereinsverantwortliche durch Bedrohungen aus der Hooliganszene zu der Inszenierung genötigt worden sein könnten. Das Medienecho war groß, beim nächsten Heimspiel verteilte der damalige Regionalligist T-Shirts mit der Aufschrift »Toleranz, Weltoffenheit, Fairness« – die einige der örtlichen Ultras prompt im Stadioninneren entsorgten. Gedenkspruchbänder für Haller wurden auch in Cottbus und Braunschweig gezeigt. Einige Monate später, am 24. August, sollen Chemnitzer Fans bei der Partie gegen die zweite Mannschaft von Bayern München Medienberichten zufolge das eigene Team rassistisch und antisemitisch beleidigt haben. Zwar hatte die Neonazi-Fangruppe »New Society« bereits im April ihre Auflösung bekanntgegeben – ob diese allerdings auch erfolgt ist, wird sich noch zeigen müssen. Am 3. Mai zeigten Fans von Dynamo Dresden in Richtung Gästeblocks des FC St. Pauli ein großes Plakat mit der Aufschrift »Antifa = Linksfaschisten, ihr habt Blut an euren Händen«. In Cottbus wurde im Laufe des Jahres deutlich, dass trotz der offiziellen Auflösung der führenden extrem rechten Ultra-Gruppe, Inferno Cottbus, nach wie vor Neonazis in der Fankurve aktiv sind. Ende November beispielsweise zeigten Fans in eben dieser Kurve ein Spruchband gegen die Klimaproteste in der Lausitz: »Wann Ende im Gelände ist, bestimmt nicht ihr! Unsere Heimat – unsere Zukunft! Ende Gelände zerschlagen!« Auch in Hannover setzten sich politische Auseinandersetzungen aus dem Vorjahr fort. Bereits im Februar sollen sich Ultras von Hannover 96 und Linke im Stadtteil Nordstadt geprügelt haben. Das Blog »Hannover rechtsaußen« spricht davon, dass die Gruppe der Ultras aktiv die Konfrontation gesucht habe. Zudem werden in dem Blog weitere Übergriffe der 96-Fans aufgeführt. Am 20. September zeigten 96-Ultras das Spruchband »Keep on fighting, Gustav« beim Auswärtsspiel in Kiel. Hannover 96 distanzierte sich im Nachhinein aufgrund von Erkenntnissen, nach denen Gustav ein schwedischer Ultra sei, der »in der Vergangenheit deutlich durch rechtsradikale Verhaltensweisen in Erscheinung getreten« sei. Szenekenner bestätigten diese Einschätzung, Gustav ist demnach ein Fan des AIK Solna, der beim Europe-League-Match gegen Celtic Glasgow der Hauptverantwortliche für rassistische Beleidigungen der Gästespieler Odsonne Édouard und Boli Bolingoli Mbombo war.
Im April fühlten sich die Freiburger »Natural Born Ultras« zu einer Stellungnahme bemüßigt, nachdem in der Fankurve des SC eine antisexistische Choreographie gezeigt wurde. Die Ultras sprachen sich gegen eine »Feminismus/Sexismus-Debatte« bei ihrem Fußballverein aus – und ernteten Spott in den sozialen Medien. | Simon Volpers | Simon Volpers: Hooligans, Nazis, Rassisten - ein Rückblick auf das Fußballjahr 2019 | [
"Fußball",
"Chemnitz",
"Rassismus",
"Sexismus",
"Antisemitismus"
] | Sport | 19.12.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/51/rechte-umtriebe-allerorte?page=0%2C%2C3 |
Kann denn Deutsch-Fühlen Sünde sein? | Im Prozeß gegen einen Ex-Republikaner hatte Claus Bohmann, Richter am Landgericht Landshut, eigentlich nur veranschaulichen wollen, wie problematisch ein Verbot von Fahnen oder Abzeichen sei: Vor zehn Jahren, so Bohmann in dem von ihm geführten Verfahren wegen der Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen, habe er bei einem Besuch in Namibia eine Reichskriegsflagge erstanden. Nach seiner Rückkehr wollte er diese in seinem Büro aufhängen, wozu es jedoch nie gekommen sei, weil er immer wieder vergessen habe, Nägel mitzubringen. Erst später dann habe er erfahren, daß das Zeigen der Flagge verboten ist, und sie wieder mit nach Hause genommen. Nach dieser Erzählung stellte der Staatsanwalt einen Befangenheitsantrag gegen Bohmann, dem dieser auch stattgab, ihn später in einer dienstlichen Stellungnahme jedoch bedauerte: "Man kann doch noch deutsch fühlen, das allein kann nicht strafbar sein." In einem Vorermittlungsverfahren wird nun geklärt, ob sich der Richter in einem förmlichen Disziplinarverfahren wegen Verletzung der richterlichen Neutralität verantworten muß. | : | [] | Inland | 19.03.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/12/kann-denn-deutsch-fuehlen-suende-sein?page=0%2C%2C1 |
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Die Philly-Verschwörer | US-Amerikanische Parteitage zeichnen sich traditionell durch ein hohes Maß an demokratischer Kultur aus. Am Rande des Parteitags der Republikaner in Philadelphia vom 1. bis 4. August sind deshalb 391 Demonstranten verhaftet worden. Über die Hälfte von ihnen saß bis Redaktionsschluss weiter hinter Schloss und Riegel, weil sie entweder ihre Namen nicht nennen wollten oder die extrem hohe Kaution nicht aufbringen konnten. Fast alle Gefangenen sind aus Protest gegen ihre Verhaftung und die Haftbedingungen in den Hungerstreik getreten. Zunächst hatte sich Philadelphias Polizei, eigentlich berüchtigt für Brutalität und Korruptionsskandale, merklich zurückgehalten. Tausende von Demonstranten jeglicher politischen Couleur durften auf den vorgegebenen Routen protestieren. Polizeichef John F. Timoneys Sondertruppe war nicht in Uniform erschienen, sondern in T-Shirt und kurzen Hosen herbeigeradelt. Doch der smarte Look täuschte: Die Polizei war wieder überaus motiviert bei der Arbeit. Sogar die konservative Lokalpresse wirkte verunsichert. Der Philadelphia Inquirer brachte täglich Artikel über offensichtlich brutale Polizeiaktionen, und die Philadelphia News zitierten jede Menge Beschwerden über die Haftbedingungen. Es war sogar von illegaler Schutzhaft die Rede. Sechs Protestführer seien nur zu dem Zweck eingesperrt worden, sie an der Reise nach Los Angeles zu hindern. Dort findet diese Woche der Parteitag der Demokraten statt. Die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberty Union (ACLU), deren Anwälte die Mehrheit der Verhafteten vertreten, prangerte vor allem die Kautionssummen an: »Seit wann ist gewaltfreier Ungehorsam in Amerika ein kriminelles Delikt? Wieso gelten Organisatoren gewaltfreier Aktionen als Verschwörer, die mit einer Million Dollar Kaution festgehalten werden dürfen?« Solch ein exorbitant hoher Betrag ist in den USA noch nie bei Delikten wegen zivilen Ungehorsams angesetzt worden. Doch Philadelphia ging mutig voran. John Sellers, Direktor der kalifornischen Ruckus-Gesellschaft für gewaltfreie Aktion, wurde verhaftet, als er fernab der Demonstrationen mit seinem Handy am Ohr herumspazierte. Sellers Handy wurde als Indiz einer Verschwörung zum Aufruhr identifiziert - gefährlich genug für eine Kaution in Höhe von einer Million Dollar. Sechs Tage saß Sellers hinter Gittern, bevor die Summe auf 100 000 Dollar heruntergesetzt wurde. Hätte Polizeichef Timoney das Sagen gehabt, wäre die Kaution für Sellers und andere »Rädelsführer« nicht gesenkt worden. Timoney will die bekanntesten Aktivisten vor das Bundesgericht bringen: »Diese Menschen planen eine Verschwörung, indem sie von Stadt zu Stadt reisen, um Chaos zu verursachen, Körperverletzungen an Polizisten und Bürgern zu begehen und großen Sachschaden anzurichten.« Dass bei den Protestaktionen nur geringer Sachschaden entstanden war, interessierte ihn nicht. Die Protestorganisation R2K network (Republikaner-2000-Netzwerk) und die Ruckus-Society haben inzwischen eine Haft-Beschwerdeliste veröffentlicht. Darin wird sexuelle Belästigung beklagt, Entzug von Wasser und Schlaf, brutale Behandlung durch Wärter sowie in vier Fällen die Verweigerung ärztlicher Hilfe. Die Polizei hat die Vorwürfe zurückgewiesen: Alle Inhaftierten würden gleich und »mit Respekt« behandelt. Ob die Behörden in L.A. dasselbe Verständnis von Respekt haben wie die in Philadelphia, bleibt abzuwarten. | Barbara Jentzsch | Barbara Jentzsch: Hungerstreik nach dem Parteitag der Republikaner in Philadelphia | [] | Ausland | 16.08.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/33/die-philly-verschwoerer?page=0%2C%2C3 |
Google Minus, setzen! | Was macht eigentlich dieses Google+? Genau, das soziale Netzwerk, das im Frühsommer vergangenen Jahres als Facebook-Konkurrenz gestartet war und von dem viele Internetexperten ganz sicher waren, dass es in nur wenigen Monaten Mark Zuckerbergs Unternehmen die Marktführerschaft und viele User kosten würde. Das Konzept sei, so die selbsternannten Gurus, schließlich genial: keine Belästigung durch ständige Farmville-Anfragen, dafür unfassbare Innovationen. Beispielsweise die Möglichkeit, den Freundeskreis in Zirkeln zu organisieren und dadurch individuell zu informieren oder zu unterhalten, plus die Option, Videokonferenzen abzuhalten und äh, den Freundeskreis in Zirkeln zu organisieren sowie keine Farmville-Anfragen lesen zu müssen – wow, das müsse einfach ein Riesenerfolg, ach was, das Ding werden, das das Internet in den nächsten Jahrzehnten dominieren und definieren werde und was es sonst noch so an wichtigen Verben gibt.
Der Anfangsärger um die strikten Regeln, nach denen nur Klarnamen erlaubt waren, spielte in den euphorischen Kommentaren nur eine untergeordnete Rolle, wegen der Videokonferenzen, der Freundeszirkel und selbstverständlich auch wegen »kein Farmville« – und auch die meisten User fanden das Problem vernachlässigenswert, schließlich wurde es dadurch ausgeglichen, dass man sich zu den Pionieren zählen durfte, schließlich war man viel früher beim »Facebook-Killer« als die vielen Millionen, die noch kommen würden.
Nun, sie kamen durchaus. 62 Millionen hatten sich bis Ende Dezember bei G+ angemeldet. Erstaunlich, wie viele Leute in der SEO-Branche (das sind die Nervköppe, die Websites so optimieren, dass sie von Google als erste gefunden werden) und im Bereich Internetmarketing arbeiten, nicht wahr? | Elke Wittich und Boris Mayer | Elke Wittich und Boris Mayer: | [] | dschungel | 08.03.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/10/google-minus-setzen?page=0%2C%2C1 |
Dias statt Debatten | Auch Bewerber um das Amt des Präsidenten der USA dürfen sich mal erholen. John Kerry, de facto Kandidat der Demokratischen Partei, hat sich eine Woche Winterurlaub gegönnt. Und während er sich entspannte, konnte er beobachten, wie George W. Bush weiter in Bedrängnis geriet. Denn bei der öffentlichen Anhörung der regierungsunabhängigen Kommission zu den Anschlägen vom 11. September war in der vergangenen Woche von unerwarteter Seite eine vernichtende Kritik an der Politik Bushs vor und nach den terroristischen Attacken zu hören. Richard Clarke, der sich selbst als Republikaner bezeichnet und bis zum Januar 2003 Antiterrorismus-Koordinator des Weißen Hauses war, brachte seinen ehemaligen Arbeitgeber schon dadurch in Verlegenheit, dass er sich zu Beginn seiner Aussage bei den anwesenden Angehörigen der Anschlagsopfer entschuldigte. »Eure Regierung, deren Aufgabe es ist, euch zu schützen, hat versagt, und ich habe versagt«, stellte Clarke fest. »Wir haben uns bemüht, aber das ist egal, denn wir haben versagt.« Weit unbequemer noch ist Clarkes Behauptung, dass al-Qaida von der Regierung nicht wirklich ernst genommen wurde. Bush habe sich vom ersten Tag seiner Amtszeit allein auf den Irak konzentriert und nach dem 11. September fieberhaft nach einem Grund gesucht, in den Irak einzumarschieren. Bei einem Treffen am 12. September 2001 habe der Präsident wiederholt nach einer Verbindung zwischen den Anschlägen und Saddam Hussein gefragt. Als Clarke darauf bestand, dass allein al-Qaida verantwortlich sei, habe Bush verärgert befohlen: »Schau mal in den Irak, nach Saddam!« Der Terrorismus, so Clarke, spiele für Bush weiterhin eine untergeordnete Rolle und »mit der Irak-Invasion unterminierte der Präsident der USA den Krieg gegen den Terrorismus«. In Clarkes Schilderung erscheint Bush nicht nur als Versager, der die Bedrohung für die Bevölkerung der USA nicht rechtzeitig sah, sondern als ein Besessener, der sich in seinem Starrsinn von den Fakten nicht beeindrucken ließ. Zudem stärkt Clarkes Aussage die These, dass Bush entschlossen war, irgendeinen Vorwand für den schon fest eingeplanten Irakkrieg zu finden. Zum wichtigsten Kriegsgrund wurden dann die Massenvernichtungswaffen erhoben. Auf dem Presseball in der vergangenen Woche, der dem Präsidenten traditionell eine Präsentation seines Humors abverlangt, führte Bush eine Diashow vor, die ihn bei der Durchsuchung des Oval Office zeigt. »Irgendwo müssen die Massenvernichtungswaffen ja sein«, witzelte der Präsident. In seinem Büro fand er sie nicht. Im Irak allerdings auch nicht, und da bereits mehr als 500 US-Soldaten dort starben, mochten nicht alle Amerikaner mit ihrem Präsidenten lachen. »Ehrlich gesagt finde ich es empörend, dass sich der Präsident mit der Begründung, er habe außerordentlich große Dinge gegen den Terrorismus vollbracht, zur Wiederwahl stellt«, erklärte Clarke dem liberalen Fernsehsender CBS. »Er hat den Terrorismus ignoriert. Er ignorierte ihn monatelang, währenddessen hätten wir vielleicht etwas tun können, um den 11. September zu verhindern.« Diese Vorwürfe liegen auf einer Linie mit der Kritik der Demokraten, die Bush vorwerfen, einen »miserablen Job« gemacht zu haben. Und es macht die Position der Regierung nicht glaubwürdiger, dass sie die Untersuchungskommission in ihrer Arbeit behindert. Ihr Vorsitzender, Tom Kean, ehemaliger Gouverneur des Bundesstaats New Jersey, hatte die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice anhören wollen. Stattdessen schickte die Regierung Richard Armitage, Staatssekretär im Außenministerium. Er wurde von dem Anwalt und Kommissionsmitglied Richard Ben-Veniste kühl begrüßt: »Sie sind hier, weil die Regierung Sie darum bat. Wir haben nach Dr. Rice gefragt.« Der Republikaner Kean kommentierte: »Ich denke, dass die Regierung sich dadurch, dass sie ihr untersagte, öffentlich auszusagen, ins Knie geschossen hat.« Die Regierung holte sofort zum Gegenschlag aus. Clarke, dem ehemaligen Berater Reagans, Clintons und George W. Bushs, wird Inkompetenz, Untätigkeit und Eitelkeit vorgeworfen. Pressesprecher Scott McClellan nennt seine Vorwürfe »sehr verantwortungslos, anstößig und schlichtweg falsch«, und Rice behauptet, Clarke habe »genügend Gelegenheiten gehabt, die Regierung zu informieren«, die er jedoch nie nutzte. Die liberalen Medien, allen voran die New York Times und die Washington Post, nutzen die Gelegenheit, die Regierung wegen ihrer Antiterrorismuspolitik, ihrer Angriffe auf Clarke und ihrer restriktiven Haltung gegenüber der Untersuchungskommission zu attackieren. Weite Teile der Presse, die wegen monatelanger Schikane seitens eines journalistenfeindlichen Weißen Hauses sichtlich gereizt ist, kritisieren Bush und seine Regierung auffällig hart. David Ignatius schreibt beispielsweise in der Washington Post: »Sie entfachen die Flammen der Parteidebatte, wenn ihnen unangenehme Fragen gestellt werden, mauern sie, statt vor den Kameras auszusagen.« »Bush hat die Prüfung nicht bestanden«, resümiert Ignatius. »Anstatt daran zu arbeiten, das Land zusammenzuführen, hat das Bush-Team die widerlichen politischen Spaltungen verstärkt und es gestattet, dass sie die Arbeit der Kommission kontaminieren.« Deutlich härter als jemals zuvor kritisiert auch die New York Times den Präsidenten: »Das Weiße Haus ist so dünnhäutig und defensiv, dass es sich einfach nicht an dem beteiligen kann, was eine Debatte unter Erwachsenen über den besten Weg der Terrorbekämpfung sein sollte.« Bush erscheine als jemand, der »viel mehr daran interessiert ist, Clarkes Glaubwürdigkeit zu unterminieren als auf den Kern seiner Kritik zu antworten«. Im Wahlkampf versuchte Bush, sich als »wartime president« für die ganze Nation zu präsentieren. Doch er lässt die nötige Souveränität vermissen, und es werden mehr und mehr Fakten bekannt, die seine Politik im Irakkrieg und im »Krieg gegen den Terror« als Stümperei eines beratungsresistenten Dilettanten erscheinen lassen. Das weiß die demokratische Opposition zu nutzen. Clarke veröffentlichte kurz vor seiner Anhörung das Buch »Against all Enemies«, das sofort zum Bestseller wurde. Es ist vielleicht kein Zufall, dass es bei Free Press, einer Tochterfirma von Viacom, einem der größten Medienkonzerne der USA, erschien. Viacom, dem auch der TV- und Radiosender CBS gehört, hat sich im Wahlkampf gegen Bush positioniert. Dies und die erstmals lautstark regierungskritische Haltung der renommierten liberalen Presse verschafft den Demokraten ein Gegengewicht zu dem republikanisch kontrollierten Block der Massenmedien. Der demokatische Wahlkampf ist in Schwung gekommen, die Partei hat sich, nachdem die Vorwahlen durch den bereits gesicherten Sieg Kerrys faktisch beendet sind, geschlossen hinter ihren Kandidaten gestellt. Nahezu alle Prominenten der Partei, die Clintons, der ehemalige Präsident Jimmy Carter, die ehemalige Außenministerin Madeleine Albright, Kerrys ehemalige Gegenkandidaten John Edwards und Howard Dean sowie fast alle demokratischen Kongressmitglieder, Senatoren, Gouverneure und Parteibosse haben sich der Kampagne angeschlossen. Mit einer großen »Unity Party« verschafften sie dem im Vergleich zu Bush klammen Kerry sogar beträchtliche Finanzmittel. In zehn Tagen gingen Wahlkampfspenden in Höhe von zehn Millionen Dollar ein. Am Wochenende trat Kerry, der immer noch wie ein Kandidat ohne Eigenschaften wirkt, erfrischt wieder zum Wahlkampf an. Und während Bush sich mit seiner Diashow blamierte, machte Kerry beim Snowboarding eine gute Figur. | William Hiscott | William Hiscott: | [] | Ausland | 31.03.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/14/dias-statt-debatten?page=0%2C%2C0 |
Gewalt bringt nichts … | Kaum war Sheikh Yassin von der israelischen Armee getötet worden, da wusste ganz Europa, dass der Tod des Hamas-Chefs den Terror im Nahen Osten nur verschlimmere. Gewalt, so die monoton und gegen alle historische Erfahrung geäußerte Festellung, sei kein wirksames Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus. Es sind keineswegs nur pazifistische Humanisten, die derartiges zum Besten geben, sondern Präsidenten und Außenminister von Staaten, die in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder minder erfolgreich Gruppen, die sie als terroristisch bezeichneten, gewaltsam ausgeschaltet haben. Schließlich schaffte die BRD in den siebziger Jahren den Kapitalismus ebenso wenig ab wie Frankreich Korsika in die Unabhängigkeit entließ oder London Schritte zur Vereinigung Irlands unternahm. Im Gegenteil herrschte in den Staatsetagen kämpferisch geäußerte Einigkeit, dass Organisationen, die sich terroristischer Methoden bedienen, mit aller Härte zu begegnen sei. Warum nun sollten die USA und Israel, die mit ähnlichen Methoden islamistischen Terrorismus bekämpfen, weniger erfolgreich sein? Dabei sind die Parallelen frappierend: Die Hamas und die Hizbollah als national verankerte politische Parteien, die einen militärischen Flügel unterhalten, ähneln in ihren Strukturen Sinn Fein und Batasuna. Das al-Qaida-Netzwerk, dessen Untergruppen sich »Armeen« nennen, versucht eine diffuse politische Massenstimmung mit terroristischen Aktionen zu manipulieren und Konflikte militärisch zuzuspitzen, ohne dabei auf eine legale und nationale Organisation Rücksicht nehmen zu müssen. Es erinnert strukturell, nicht inhaltlich, an linke europäische Gruppen, die dem »bewaffneten Kampf« frönten. Während Gruppen, die über einen politischen und einen militärischen Arm verfügen, legal operieren und auf eine institutionell organisierte Basis zurückgreifen können, vergleichsweise schwerer zu zerschlagen sind, waren bislang, wie David Fromkin in einem Standardwerk über Terrorismus feststellte, Terroristengruppen ohne klar definierte politische Basis immer dann mit Gewalt besiegbar, wenn sie sich nicht in von der Bevölkerung gedeckte Guerillorganisationen verwandeln konnten. Sobald sie isoliert und – früher oder später – ihrer Führung beraubt wurden, zerfielen sie in Fraktionskämpfen oder gaben auf. Auch wenn die terroristischen Aktivitäten semilegaler Parteien schwieriger zu bekämpfen sind als selbst ernannte terroristische »Armeen«, gelang selbst dies immer dann, wenn der jeweilige Staat stark genug und willens war. Sowohl in Algerien wie auch Ägypten besiegten die Sicherheitskräfte, wenn auch mit unbeschreiblicher Brutalität und einer Welle von Repressalien gegen Unbeteiligte, die terroristischen Flügel der islamistischen Bewegungen. Zudem gelang es, diese Gruppen von ihrer Basis weitgehend zu isolieren, da staatliche Repression und immer blutigere, auch gegen Zivilisten gerichtete Anschläge, mit denen die Bewaffneten Islamischen Gruppen (Groupement Islamique Armée; Gia) und Jamaa Islamiya reagierten, sie ihren Unterstützern sukzessive entfremdeten. In Ägypten stellte die Jamaa Islamiyya 1997 den bewaffneten Kampf ein, die Gia wurde bis zur Handlungsunfähigkeit dezimiert. Während die USA in al-Qaida eine rein militärische Organisation bekämpft, hat Israel es mit politischen Parteien mit fester institutioneller Basis und einem karitativen Netzwerk von Suppenküchen und Kindergärten zu tun. Anders als Ägypten und Algerien aber kann Israel dem politischen Arm dieser Parteien keine weitgehenden Zugeständnisse machen. Weder mit der Hamas noch mit der al-Qaida sind Kompromisse denkbar, weil ihre Ziele – die Zerstörung Israels bzw. der USA – nicht verhandelbar sind. Mit Sheikh Yassin traf die israelische Armee die zentrale Integrationsfigur der Hamas, der es seit über einem Jahrzehnt virtuos gelungen ist, den politischen und den militärischen Fügel der Bewegung zu koordinieren. Einen adäquaten Ersatz für ihn gibt es offenbar nicht. Yassins Tod könnte deshalb erstmals zu offenen Flügelkämpfen zwischen denjenigen Teilen der Hamas führen, die eine Annäherung an al-Qaida-Operationsweisen und -ziele zu Lasten der politischen und sozialen Aktivitäten der Partei anstreben, und jenen, die an der ursprünglichen politisch-zivilen Konzeption der Muslimbrüder festhalten wollen. Das ägyptische Beispiel zeigt, dass eine forcierte Radikalisierung langfristig zu einer Entfremdung zwischen militärischem Flügel und politischer Basis führen kann. Dass sich nun mit Rantisi ein Vertreter des radikalen Flügels der Hamas entgegen den Regularien der Muslimbrüder nicht zum neuen Chef wählen ließ, sondern sich noch innerhalb der dreitägigen Trauerfrist selbst ernannte, scheint in diese Richtung zu weisen. Eine Annäherung der Hamas an den internationalen Jihadismus aber würde für Israel nicht nur Gefahren bergen, sondern auch Chancen eröffnen. Anders als das supranationale al-Qaida-Netzwerk ist die Hamas eine national verankerte Organisation, deren Ziele regional begrenzt sind: die Schaffung eines islamischen Staates in ganz Palästina und die Vertreibung oder Ausrottung der israelischen Juden. Bislang vermied deshalb Hamas jede offene Konfrontation mit den USA und versuchte vielmehr, einen Keil in das israelisch-amerikanische Bündnis zu treiben, um, auch mit Hilfe Europas, Israel zu isolieren. Als Teil der im ganzen Nahen Osten agierenden Muslimbruderschaft hat die Hamas sich bislang weitgehend an deren Agenda gehalten, derzufolge der bewaffnete, auch gegen israelische Zivilisten gerichtete Kampf ein im Sinne antikolonialer Befreiungskriege legitimes, sogar durch internationales Recht gedecktes Unterfangen sei. Anders als al-Qaida suchen die Muslimbrüder den politischen Dialog mit Europa, selbst mit den USA. Nutzt die Hamas eine antikolonialistische Phraseologie, die an die Rhetorik nationaler Befreiungsbewegungen anknüpft, so ist das Programm der al-Qaida nicht einmal im schlechtesten Sinne antiimperialistisch, vielmehr verfolgt sie selbst imperiale Ziele: die Errichtung eines islamischen Kalifates, die langfristige Unterwerfung Europas und die Zerstörung der USA. Spezifisch nationale Belange spielen im Programm der al-Qaida bestenfalls eine taktische Rolle: Palästina, der Irak oder Afghanistan sind für al-Qaida lediglich Schlachtfelder, das Wohlergehen der jeweiligen Bevölkerung kümmert sie nicht. Sollte es al-Qaida gelingen, im Gaza-Streifen nach der Tötung Sheikh Yassins Fuß zu fassen, so müssen diese beiden sich letztlich ausschließenden Konzepte islamistischer Machtergreifung früher oder später kollidieren. Je weiter die palästinensischen Terroristen sich dem internationalen Jihadismus nähern, desto enger rücken die Vereinigten Staaten und Israel zusammen. So verwundert es nicht, dass Rantisis Drohungen gegen die USA innerhalb der Hamas auf Kritik stießen, während inzwischen auch offen die Strategie al-Qaidas in Frage gestellt wird. Kürzlich tauchte ein von der Jamaa Islamiyya verfasster Text mit dem Titel »Strategie und Bombenanschläge von al-Qaida« auf, in dem Ussama bin Ladens Politik scharf kritisiert wird. Der gegen die USA gerichtete Terror des Netzwerkes sei kontraproduktiv, auf Dauer nicht finanzierbar und entfremde die USA von der islamischen Welt. Hätten früher die USA nicht nur die Jihadisten gegen die Sowjetunion unterstützt, sondern sogar den Dialog mit den Taliban gesucht, so bekämpften sie nun die Islamisten weltweit. Anders als im Libanon 1982 oder in Somalia elf Jahre später habe Amerika am Golf strategische und ökonomische Interessen, die so existenziell seien, dass es auch den Tod Hunderter GIs in Kauf nehme. Ist man sich offenbar in islamistischen Kreisen, seit der »War on Terror« die Region zu verändern beginnt, zunehmend uneinig, wie mit dem »großen Satan« zu verfahren sei, besteht über die Notwendigkeit, dass der »kleine Satan« Israel vernichtet werden müsse, weiterhin ein alle Gruppen verbindender Konsens. | Thomas von der Osten-Sacken | Thomas von der Osten-Sacken: | [] | Ausland | 31.03.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/14/gewalt-bringt-nichts?page=0%2C%2C1 |
Konsequent dumm. Für Berlin | So kennt man die FDP: pragmatisch und effizient. Zumindest in Berlin-Mitte hingen ihre Plakate als erste. Die Forderungen sind schlicht: »Schlaglöcher weg – Straßensanierung jetzt!« Oder auch: »Leinen los – Für Hundeauslaufgebiete!« Welche Wähler die Liberalen ansprechen wollen, ist ebenfalls klar: »Mehr Unternehmen für Berlin!« Und wer wirklich wissen möchte, welche Überzeugungen die Partei vertritt, muss nur den zentralen Satz ihres Kurzwahlprogramms lesen: »Privat ist meistens besser als Staat!« Oft muss man sich fragen, was die Werbestrategen der Parteien dazu bewegt, bestimmte Bildmotive für die Plakate auszuwählen. »Konsequent gastfreundlich« ist eines der SPD betitelt. Darauf ist ein Taxifahrer zu sehen, der sich an sein Auto lehnt und Zeitung liest. Der passende Slogan müsste also lauten: »Dieser Mann macht Pause. Sollten Sie es wagen, ihn anzusprechen, wird er Sie zur Schnecke machen. Dit is Berlin.« Die Linkspartei hat für ihr großes Plakat ein Zitat von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1927 ausgewählt: » … für diese Stadt, in der immerhin Bewegung ist und Kraft und pulsierendes rotes Blut. Für Berlin.« Das soll wohl von linker Tradition und Lokalpatriotismus zeugen. Doch Tucholsky drückte mit dem Text, der in der Weltbühne erschien, eigentlich etwas ganz anderes aus, nämlich dass er Berlin im Vergleich zu anderen Städten in Deutschland lediglich weniger unerträglich fand. So heißt es an einer anderen Stelle: »Ich liebe Berlin nicht.« Die CDU hat ein Problem: Niemand würde ihren Spitzenkandidaten Friedbert Pflüger auf der Straße erkennen. Deshalb ist sein Gesicht auf großen Plakaten zu sehen mit dem Slogan »Arbeit für Berlin!« Im Hintergrund ist eine Großbaustelle abgebildet. Man sieht also Dreck, Stahl, Beton, Leute mit Bauhelmen und Friedbert Pflüger. So wird er natürlich auch nicht bekannt. Deshalb ist ihm anscheinend alles recht, was Stimmen bringt. Er spricht sich gegen den Neubau einer Moschee in Berlin-Heinersdorf aus. Und das könnte die NPD, die das genauso sieht, etliche Wähler kosten. Wie im Bundestagswahlkampf ist orange die Farbe der CDU. Das sorgt für Verwirrung. Denn die Plakate der Wasg haben einen ganz ähnlichen Ton. Erst wer sich auf weniger als zehn Meter nähert, erkennt den Unterschied. Mit den zu erwartenden Parolen wirbt die Wasg: »Sozialabbau? Privatisierung? 1-Euro-Jobs? Zwangsumzüge? Gute Bildung nur für Reiche? Nicht mit uns!« Die Grünen haben es bei der Farbgebung recht leicht. Auf dem Hauptplakat der Partei sieht man einer Frau ins stechend grüne Auge. Der Slogan lautet: »Bevor Sie rot sehen – Berlin grün!« Die Botschaft ist klar: Wir wissen zwar auch nicht, was man tun kann. Aber die SPD und die Linkspartei sind noch schlimmer. Da die Plakate wenig sagen, muss man die Wahlprogramme lesen. Die SPD hat ihres mit dem Titel »Konsequent Berlin« versehen. Die Partei treibt die hohe Arbeitslosigkeit um. Doch sie weiß Rat: Die »Wachstumsbranchen« und den »Mittelstand« stärken! Und ihre Lektion in Globalisierungskritik hat sie ebenfalls gelernt: »Im Wettbewerb um Global Player kann und will Berlin nicht mithalten.« Dass Jugendliche ab 16 Jahre an den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung im September teilnehmen dürfen, wird als Verdienst der Sozialdemokraten gepriesen. Wenn die Kids schon keine Arbeit bekommen, sollen sie sich also wenigstens aussuchen, von wem sie verwaltet werden. Angesichts der Probleme zählt für die SPD ganz besonders der »soziale Zusammenhalt«. Was sich hinter der Floskel verbirgt, erfährt man auch. »Ziel unserer Politik ist es, den sozialen Zusammenhalt in den Bezirken und Kiezen zu verbessern. Wir setzen dabei auf die Eigenkräfte der Quartiere, auf Kompetenzen, Kreativität und Fähigkeiten der Menschen, die dort wohnen.« Schöner lässt es sich nicht umschreiben, die verarmten Stadtteile sich selbst zu überlassen. Das Vertrauen, das in ihre »Fähigkeiten« gesetzt wird, dürfte die jungen Neonazis in Lichtenberg oder Marzahn freuen. Und es wird spannend sein zu verfolgen, welche »Eigenkräfte« in Neukölln oder im Wedding entstehen. Auch die CDU will die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Das Programm heißt: »Berlin kann mehr!« Die Partei will an die Wurzel des Übels, und das heißt, die Arbeitslosen zu gängeln: »Die Hilfesuchenden müssen erfahren, dass Fordern und Fördern zusammen gehören.« Dieser Grundsatz soll schon früh verinnerlicht werden. In den Schulen sollen wieder »Leistung, Qualität, Werte« oder auch »Fleiß, Ehrgeiz, Pünktlichkeit« zählen. Die CDU möchte eine »Kultur der Verantwortung« schaffen. Und damit niemand auf falsche Gedanken kommt und meint, er sei nur für sein eigenes Wohl verantwortlich, stellt das Programm klar: »Verantwortung übernehmen für unser Gemeinwesen und für das Gemeinwohl!« Den schwarzen Schafen soll mit »Null Toleranz« begegnet werden. Und wer sind die bösen Buben? »Viele Delikte werden zu einem hohen Teil von oft arbeitslosen jungen Männern nichtdeutscher Herkunft begangen.« Diese Ausländer! Die Linkspartei hat zwar den Slogan »Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren« eins zu eins von der CDU abgeschrieben, hat aber andere Ideen. Sie will die »Kreativwirtschaft« stärken. Das ist schlau, denn die jungen Kreativen sind gerne arm und meckern nicht. Darüber hinaus setzt die Partei vor allem auf die »öffentlich geförderte Beschäftigung«. Ein Teil davon soll »ausschließlich dem Gemeinwohl dienen«. Das ist fantasievoll ausgedrückt. »Staatlicher Zwangsdienst« klänge auch wirklich sehr unvorteilhaft. Und wenn einem gar nichts mehr einfällt, kann man das Programm mit sinnlosen Sätzen füllen: »Eine konsequente Innovationspolitik mit dem Motto: Die Stärken stärken!« Die Grünen tun sich schwer, irgendeinen eigenen Gedanken zu Papier zu bringen. Den »sozialen Zusammenhalt« will auch die SPD stärken. Den »gemeinwirtschaftlichen und gemeinwohlorientierten Sektor« will auch die Linkspartei fördern. »Mehr Selbständige«? Da hilft schon die FDP. Es bleibt also nur noch die Ökologie. Da fordern die Grünen »feinstaubfreie Schulen« und »saubere Luft zum Leben«. Und vielleicht findet sich noch jemand, der diesen Slogan versteht: »Verkehr macht Arbeit – am besten mit Zukunft!« Auch die Wasg klagt, dass der »soziale Zusammenhalt« fehlt. Mutig will man der »Allparteienkoalition« entgegentreten und der »neoliberalen Umverteilungspolitik« mit dem »Notopfer Haushalt« ein Ende setzen. Man könne doch einfach »das obere Drittel des Geldvermögens in Deutschland abschöpfen«. Wo in Berlin das Internierungslager für die enteigneten Bonzen errichtet werden soll, erwähnt das Wahlprogramm der Wasg aber nicht. | Markus Ströhlein | Markus Ströhlein: | [] | Inland | 09.08.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/32/konsequent-dumm-fuer-berlin?page=0%2C%2C3 |
Olle Kamellen | Zwei Tage nach dem Presserummel um die Einführung des neuen Staatsbürgerschaftsrechts war scheinbar Fußball wieder Trumpf. »Ausländer-Stopp? Vorstoß von Fifa und Uefa: Mindestens 6 Deutsche müssen spielen« titelte Bild und berichtete über, ja, worüber eigentlich? Über olle Kamellen. »Im November« und am »15. Dezember« seien die Fifa- und Uefa-Bosse Blatter und Johannsson wegen einer angestrebten Revision des Bosman-Urteils bei der EU-Kommission vorstellig geworden. Um was ging es Bild also in Wirklichkeit? Um »Ausländer raus!« Fußball war nicht Trumpf, sondern nur Vehikel zum Transport der rassistischen Botschaft. Das Titelfoto zeigte die Mannschaft des 1. FC Kaiserslautern - alle Nicht-Deutschen, von Sforza bis Ratinho, mit einem fetten X markiert, genauer: durchgestrichen. Die Bild-Macher verfielen nicht von ungefähr beim Versuch, gegen das von Rot-Grün initiierte, vermeintlich migrantenfreundliche neue Gesetz zu hetzen, auf den Fußball. Seit fünf Jahren ziehen der DFB, Beckenbauer und Co. gegen das im Dezember 1995 ergangene Bosman-Urteil zu Felde, das nichts weiter als Freizügigkeit für EU-Fußballprofis garantiert. Schoben die Urteils-Gegner anfangs noch das Argument vor, durch den Wegfall der Transfererlöse seien kleine Vereine dem Untergang geweiht, liegt mittlerweile, nachdem der heraufbeschworene Fußball-Gau ausgeblieben ist, auf der Hand, warum Leute vom Schlage der CDU-Rechtsaußen Scholz und Kanther die Anti-Bosman-Liga so lautstark unterstützen. Die ausländischen Spieler bedrohen das landsmannschaftliche und nationale Fußball-Wir-Gefühl, auch Identität genannt. Ex-Cosmos-New-York-Profi Beckenbauer, der als Mitglied der Fifa-Kommission die letzte Initiative Blatters guthieß und von einer »Ausländerschwemme ohne Ende« (FAZ, 1. November 1999) faselte, ließ bereits vor drei Jahren die entscheidenden Sätze ab: »Wir haben mit den Ausländern in den letzten Jahren keine guten Erfahrungen gemacht. (...) Es gibt ausländische Spieler, die kommen und benutzen dich. Die kassieren ihr Geld und identifizieren sich nicht mit dem Club.« (FAZ, 4. Juni 1997) Uefa-Generalsekretär Gerhard Aigner, von Kicker-Chefredakteur Holzschuh auf die »beängstigenden Formen« angesprochen, welche »die Anzahl der ausländischen Spieler in den nationalen Ligen« annähmen, verdichtete das Stammtisch-Geschwalle der Marke Beckenbauer in einem perfiden Begriff: »Wir sprechen nicht von ausländischen Spielern, sondern von selektionierbaren Spielern, das heißt Spieler, die in der betreffenden Nationalmannschaft spielberechtigt sind.« (Kicker, 2. August 1999). Bild selektionierte, diesmal im Wortsinne, und strich die Ausländer durch. Das Kapital greife nach dem Fußball, klagte DFB-Präsident Braun anlässlich des Fußball-Jahrhundertrückblicks der ARD. Hoffentlich. Manager Uli Hoeneß jedenfalls, den die Welt am Sonntag am 28. November 1999 unter dem Stichwort »Söldner-Mentalität« zum Thema ausländische Spieler befragte, bleibt eiskalt auf Modernisierungslinie. Ihn interessiere »diese Bayern- und Deutschtümelei« nicht. Er brauche Spieler, die »gut kicken können« - Leute wie Maradona, Cantona, Higuita, Vialli, Elber oder auch Berthold, könnte man hinzufügen. Was die gemeinsam haben? Sie spielten am 27. April 1997 in Barcelona auf Seiten der Weltelf zu Gunsten des verarmten Jean-Marc Bosman, obwohl der spanische Verband und einige spanische Profis von einer Provokation sprachen. | Gerd Fischer | Gerd Fischer: Ausländerstopp beim Fußball | [] | Sport | 19.01.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/03/olle-kamellen?page=0%2C%2C0 |
Kontinuität IV | "Lassen Sie uns gemeinsam ans Werk gehen."
Oskar Lafontaine, Finanzminister, an die größtenteils von der Union eingestellten Beamten seines Hauses, Bonn, 28. Oktober 1998 | : | [] | Inland | 04.11.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/45/kontinuitaet-iv?page=0%2C%2C0 |
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Der kosmische Kurier | Rashied Ali. Der Tod des Jazz-Schlagzeugers Rashied Ali ist zwar nun schon über zwei Wochen her, aber das heißt nicht, dass dieser Mann hier vergessen werden darf. Denn er war ein Jazzdrummer von ganz besonderer Größe. Denkt man an freien Spiritual-Jazz, dann fallen einem Namen wie Pharoah Sanders ein oder der späte John Coltrane. Und Rashied Ali, der folgerichtig für beide Schlagzeug spielte. Ali blieb auch nach den goldenen Sechzigern ein Mann der Avantgarde, er spielte mit Alice Coltrane, mit dem großen Außenseiter Leroy Jenkins, mit James Blood Ulmer, mit all den Ikonen des radikalen Jazz. Dem Plattenkäufer war immer klar: Wo Ali mittrommelte, da passiert was, da werden Grenzen überschritten. Mit ihm ist einer der Großen der goldenen Zeit der Jazz-Avantgarde gestorben. Hoffentlich bleibt uns Ornette Coleman noch ein paar Jahre erhalten. Aha | : | [] | dschungel | 27.08.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/35/der-kosmische-kurier?page=0%2C%2C1 |
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Die Hemmschwelle sinkt | In der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt plant die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde den ersten Neubau einer Moschee in dem östlichen Bundesland. Die Gemeinde hat eine Bauvoranfrage für eine Moschee mit Kuppel und einem elf Meter hohen Minarett in einem Gewerbegebiet im Ortsteil Marbach gestellt. Bevor jedoch von den Behörden eine Entscheidung getroffen wurde – das Grundstück gehört der Landesentwicklungsgesellschaft –, artikulierte sich bereits breiter Protest.
Am Sonntag versammelten sich im Marbacher Sport- und Freizeitzentrum derart viele Anwohner zu einer Informationsveranstaltung der Ahmadiyya-Gemeinde, dass aus Sicherheitsgründen nicht alle hineingelassen werden konnten. Viele Bürger beschwerten sich, sie seien »viel zu spät informiert« worden. Dabei ist noch längst nichts entschieden. Die Bauvoranfrage wird noch geprüft, bestätigte der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) während der Versammlung. Einige Anwohner forderten immer wieder lautstark einen Volksentscheid, dem widersprach Bausewein allerdings energisch. Im Grundgesetz ist die Religionsfreiheit festgeschrieben, deshalb sei ein Bürgerbegehren nicht möglich, so der Sozialdemokrat.
Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Erfurter Stadtrat, Matthias Bärwolff, bedauerte nach der Versammlung die mangelnde Gesprächsbereitschaft vieler Anwohner. Vor allem sei die Veranstaltung von »erkennbaren Aktivisten der rechtsradikalen Szene« genutzt worden, um »durch Gebrüll und Buhrufe einen Informationsaustausch zu verhindern«. In den Wochen zuvor polemisierte die Alternative für Deutschland (AfD) inner- und außerhalb des Landtages gegen den geplanten Neubau. Auf einer Kundgebung Mitte Mai auf dem Erfurter Domplatz mit dem Pegida-Führungskader Siegfried Däbritz sagte der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag, Björn Höcke, bei seiner Rede: »Ich bin in Sorge, dass in einer gar nicht so fernen Zukunft auf unserem Dom der Halbmond zu sehen sein wird. Wollt ihr das?« Das versammelte Publikum rief »Nein!« und »Niemals!«. Die Ahmadiyya-Gemeinde nannte Höcke einen »Wolf im Schafspelz«, begrüßte aber »Muslime, die sich in unsere Ordnung einordnen wollen«, um dann mit dem Ruf »AfD – Nein zur Moschee!« seine Rede zu beenden.
Im Landtag begründete Höcke seine Ablehnung der Moschee damit, dass er angesichts der 80 Mitglieder der Gemeinde keinen gesellschaftlichen Bedarf sehe. Außerdem müsse eine Moschee im Einklang mit den Wertvorstellungen vor Ort stehen. »Die Religionsfreiheit gilt für alle Religionen«, entgegnete ihm die Landtagsabgeordnete Astrid Rothe-Beinlich (Bündis 90/Die Grünen). Sie warf der AfD vor, den Landtag als Bühne für Populismus und Menschenverachtung zu missbrauchen. Aus ihrer Sicht sei es angesichts der zwölf muslimischen Gemeinden in Thüringen »höchste Zeit, dass Moscheen gebaut werden«. Die Abgeordnete Marion Walsmann (CDU) forderte dagegen von der Erfurter Stadtverwaltung eine »sorgfältige Güterabwägung« sowie eine »breite öffentliche Beteiligung«. Des Weiteren liege für die fragliche Baufläche bereits eine Pachtanfrage des Technischen Hilfswerks vor. Diese Anfrage müsse zuerst geprüft werden.
Im Internet tauchte ein Video auf, in dem eine nicht zu erkennende Person mit einem Hitlergruß und dem Ruf »Heil Hitler« ihre Ablehnung des Moscheebaus martialisch in Szene setzt. In dem siebenminütigen Video beschimpft die Person Mitglieder der Ahmadiyya-Gemeinde als »Kanakenschweine« und ruft zur Brandstiftung an dem geplanten Moscheebau auf: »Wenn ihr in Erfurt wohnt, nehmt euch Öl und bisschen Benzin, geht da auf die Baustelle in der Nacht und brennt sie ab. Und wenn die Schweine wieder beginnen, sie zu bauen, dann brennt sie aufs Neue ab. Wir brennen dieses Dreckshaus ab.«
»Dass aus Brandreden schnell auch Brandsätze werden können, scheint die AfD bewusst einzukalkulieren«, sagte die Sprecherin für Antifaschismus der thüringischen Landtagsfraktion von »Die Linke«, Katharina König. In einer gemeinsam mit Rothe-Beinlich unterzeichneten Erklärung schrieb sie, »die Grenzen des Erträglichen sind schon lange überschritten«. König stellte Strafanzeige bei der Kriminalpolizei Erfurt sowie der Staatsanwaltschaft. Ende Mai stellte sich der Produzent des Hassvideos im Beisein seines Anwalts der Polizei. Es handelte sich um einen 15jährigen aus Erfurt. Zuvor hatte er seinen Youtube-Kanal gesperrt und sich auf der Videoplattform entschuldigt.
Ende Mai ermittelte die Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes (LKA) Thüringen mehrere Verdächtige, denen vorgeworfen wird, das Autonome Jugendzentrum (AJZ) in Erfurt am Himmelfahrtstag angegriffen zu haben. Aus einer Gruppe von zehn bis 15 Personen heraus wurden zunächst Flaschen auf den Innenhof des AJZ geworfen, dann stürmte die Gruppe das Zentrum, versprühte Reizgas und schlug auf die anwesenden Jugendlichen ein. Die Opfer erlitten Schnittverletzungen, Platzwunden, Hämatome und Augenreizungen. Durchsuchungen des LKA fanden in mehreren Objekten in Erfurt, im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt und in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover statt. Ermittelt wurden neun Beschuldigte im Alter von 24 bis 32 Jahren, die mit Straftaten unter anderem im Bereich »Gewalttäter Sport« in Erscheinung getreten sind. Ermittelt wird wegen Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Beleidigung sowie des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
»Schon längerfristig ist zu beobachten«, so Katharina König, »dass sich unter anderem in Erfurt und Saalfeld neue neonazistische Strukturen verankern konnten. So stellte Ezra, die mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, bereits für das Jahr 2015 fest, dass Erfurt und Saalfeld die Statistik der Übergriffe rechter und rassistischer Gewalt anführen.« König, die selbst ständigen Anfeindungen von Neonazis ausgesetzt ist, beobachtet, dass »die Hemmschwellen Thüringer Neonazis immer weiter sinken«, während »gleichzeitig eine Praxis der unmissverständlichen Solidarität mit den Opfern rechter Gewalt« fehle. König fordert einen »besseren Opferschutz, insbesondere mit Blick auf Asylsuchende, die nach Deutschland geflüchtet sind und hier erneut Opfer von Gewalt werden«.
Derzeit beispielsweise stalkt die wiederbelebte »Anti-Antifa Ostthüringen« nicht nur auf Facebook die Politikerin. Ende März posierte ein Dutzend Neonazis vermummt vor dem Saalfelder Wahlkreisbüro der Abgeordneten, Mitte April detonierte eine selbstgebastelte Sprengvorrichtung vor der Eingangstür und verrußte den gesamten Eingangsbereich. Bereits Anfang des Jahres erhielt König eine Morddrohung in einem anonymen Brief. | Ralf Fischer | Ralf Fischer: Thüringische Rechtpopulisten und Neonazis gehen in die Offensive | [] | Antifa | 09.06.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/23/die-hemmschwelle-sinkt?page=0%2C%2C2 |
Durch die Wüste der Langeweile | Sind die nicht völlig überschätzt? Vor allem aber scheinen die Songs von Tocotronic nicht in meinen Kopf zu passen. Sie sind einfach zu sperrig. Jedes Mal, wenn ich etwas von der einstigen Hamburger, heute Hamburg-Berliner Band höre, geht es mir so, als müsste ich einen Steinway-Flügel in einen Fiat Panda pressen. Das passt einfach nicht. Allein schon wie die Band und ihre Anhänger früher aussahen: mit den Samba von Adidas in Schwarz und den Trainingsjacken, die Opa früher beim Stammtisch nach dem Fußball anhatte. Das alles war in meinen Augen einfach nur schrecklich. Doch damit hörte es ja nicht auf. Hinzu kamen diese Frisuren, diese Hikuvolas – hintenkurzvornelang –, unter denen glattrasierte, gelangweilte Typen in Richtung Weltschmerz starrten. Hallo? Die Welt ist schon mies genug, dann muss man doch nicht auch noch so gucken.
Aber was soll man machen, diese Art Typen waren überall, auch in meinem Freundeskreis, und die Tocs liefen natürlich immer irgendwo. Denen konnte man gar nicht entfliehen. Also muss doch bei mir irgendetwas schief gelaufen sein. Es kann doch nicht sein, dass es immer, wenn ich dieses Bumm-Chack-Schlagzeug und diese unerträglich glasklare, jeden Dialekt verneinende Stimme höre – besonders bei der Buchstabenfolge l und t –, irgendetwas in meinen Kopf »ist das deren Ernst« sagt. »Der Zauber von Dirk von Lowtzows Traumlyrik liegt ja nach wie vor im Unnennbaren, in den Leerstellen und namenlosen Orten«, schrieb Jan Wigger über das Album »Pure Vernunft darf niemals siegen«. Vielleicht konnte ich mit dieser »Traumlyrik« nichts anfangen, weil die pure Vernunft bei mir schon gesiegt hatte. Es kann aber auch daran liegen, dass Lyrik für mich immer zu dicht mit der Romantik verbunden ist. Und war die Romantik nicht die Epoche, als sich das hässliche Gesicht der deutschen Nation allmählich erhob? Doch so leicht sollte man es sich nicht machen – allein schon deshalb nicht, weil Dirk von Lowtzow und seine Band immer so kluge Sachen in Interviews sagen.
Zehn Studioalben hat die Band um Dirk von Lowtzow bisher veröffentlicht. Die letzten drei Alben wurden von Moses Schneider produziert. Das Label von Tocotronic war seitdem Major und Schneider gilt fast schon als Genie. Er lässt die Bands meistens live einspielen, was zwar extrem teuer ist, verglichen mit der heutigen Produktionsweise des digitalen Nachproduzierens, aber dem Sound eben die Tiefe gibt, die die seltsame Poesie von Lowtzow butterweich einbettet. Nun steht das elfte Album in den Startlöchern: »Das rote Album« wird am 1. Mai download- und kaufbereit sein. Es wird, wie die anderen zuvor, garantiert wieder in die Charts einsteigen, was aber angesichts des Krempels, der es normalerweise in die Charts schafft, auch egal ist. Die elf Songs sind wieder verschwurbelt, wie man es kennt. Es gibt die Wüste der Langeweile und die Menschen, die unter Spießbürgern Spießruten laufen. Doch diesmal lasse ich mir den Spaß an Tocotronic nicht durch meine Voreingenommenheit nehmen. Ein Anruf bei von Lowtzow. Der so früh morgens ganz anders klingt als in den Liedern – verraucht, verkratzt. So sollte der mal singen.
Zuerst eine Frage, die mir nach dem Hören nicht aus dem Kopf ging: Wieso schweben die Texte immer noch in einer Art Uneigentlichkeit? Pegida, brennende Asylbewerberheime: Man hatte immer schon das Gefühl, in einem rassistischen Land zu wohnen, jetzt ist es Fakt. Sollte man nicht weniger poetisch damit umgehen?
»Politik und Ästhetik müssen immer zusammenfallen«, antwortet der Sänger. »Organisatorisch ist es schwierig, Popsongs tagesaktuell zu produzieren. Da sind andere Medien, wie beispielsweise eure Zeitung, doch immer noch schneller und besser. Andererseits haben wir mit ›Fuck you Frontex‹ einen Song gemacht, mit dem wir sehr schnell auf eine Nachricht reagieren konnten. Da helfen soziale Netzwerke, Handys und andere Entwicklungen. Mit ihnen kann man heute viel zügiger produzieren – natürlich nicht in Studioqualität – aber für so einen inhaltlich wichtigen und aktuellen Song ist es genau das Richtige.« Ich muss gestehen: Das leuchtet ein.
Dennoch müssen die Nachrichten doch auch etwas ausgelöst haben, das man nicht mehr mit dem Nebel der Poesie verständlich machen kann. »Mit dem Lied ›Solidarität‹ gehen wir auch auf diesen Umstand ein. Der Anstoß für dieses Stück war Hellersdorf. Was da abging, erinnerte uns sofort an die neunziger Jahre, an Solingen und Rostock. Auch wenn sich die Dimensionen und die Hintergründe geändert haben: Die Fassungslosigkeit bleibt. Das meinten wir auch mit ›Unter Spießbürgern/Spießruten laufen‹.« Ich höre mir den Song noch einmal an und muss zugeben, dass die blutleere Stimme und die angedeuteten Country-Elemente den Inhalt erst richtig beklemmend machen. Es ist, als wäre man in Eichenfurnier gefangen, das den dumpfen Gestank alten Biers verströmt. Gruselig, aber gut. So langsam scheine ich die Band zu verstehen. Der Steinway-Flügel wird plötzlich kleiner, beziehungsweise der Fiat Panda größer.
Doch dann hakt es wieder. Der Song »Die Erwachsenen« macht mich ein bisschen wütend. Was soll das denn? Dieses Kinder-sind-die-besseren-Menschen-Motto, dieses ekelhafte Hippie-Mantra vom inneren Kind kommt mir sofort in den Sinn und schreckt mich wieder ab. »Bei ›Die Erwachsenen‹ war es ein Erlebnis aus unserem Alltag, das sich in dem Refrain wiederfindet«, erzählt von Lowtzow. »Wir waren im Studio, und unser Gitarrist Rick McPhail hatte seinen Sohn dabei. Es ging um ein typisches Vater-Sohn-Problem – Rick wollte, dass sein Sohn aufräumt oder irgendwie so etwas. Da sagte er: ›Ich kann das nicht, ich bin noch ein Baby.‹ Das ist wohl eine der reflektiertesten Verweigerungen, die man sich vorstellen kann. Infantilität als Widerstand. Der Song ist zudem ein Vexierbild: Die Erwachsenen als solche zu bezeichnen, denn eigentlich sind sie ja die Babys.«
So verstehe selbst ich diese Zeilen, die musikalisch von einer hymnischen Leichtigkeit eingerahmt werden. Dennoch bin ich von der »Wüste der Langeweile« noch nicht in der »Oase der Langeweile« angelangt, wie es im Song »Prolog« heißt, der ersten Single-Auskopplung des Albums. Vielleicht ist das aber auch gar nichts Schlechtes. Denn wenn von Lowtzow darüber spricht, hört sich das ganz anders an. »Langeweile ist für mich ein entscheidender Begriff. Denn ich könnte mir ein Leben ohne Langeweile gar nicht vorstellen. Als Kind kennt man das Gefühl der bleiernen Langeweile. Es ist ein Bestandteil des Lebens. Ich brauche das Gefühl zum Arbeiten, also zum Texten. Und obwohl ich genug erlebe, bleibt das Gefühl fast notwendig.«
Und so öffne ich mich der Langeweile beim nächsten Song, der zufälligerweise »Ich öffne mich« heißt. Statt wie sonst mit Wut ausgestattet, erlaubt mir der Schleier der Langeweile, der sich mit den Songs einstellt, die aus meinen Kopfhörern kommen, das samstägliche Gute-Wetter-Deutschland der Großstadt aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten: Die Leute werden kleiner, sie verschwinden bald und nerven nicht mehr. Vielleicht ist das der Reiz an diesem Sound: Man fühlt sich geborgen. Jetzt passen auch der sperrige Sound und der seltsame Gesang in meinen Kopf. Aber Geborgenheit macht mich immer nervös. Daher frage ich von Lowtzow, der seit einigen Jahren in Berlin lebt, abschließend, ob er glücklich darüber sei, dass die Eventsoße Olympia nicht über die Stadt gegossen wird. »Ich will jetzt zwar nicht über Gentrifizierung sprechen – darüber wurde schon soviel geredet, da braucht es meinen Senf nicht auch noch –, aber es kann ja nur alles noch schlimmer werden«, meint der Musiker. »Es verschwinden immer mehr Dinge, die einem wichtig sind beziehungsweise sind in Gefahr. So auch die Volksbühne. Mit René Pollesch habe ich da zuletzt noch an einem Stück zusammengearbeitet und nun weiß keiner so genau, wie es weitergehen soll. Es macht mich wahnsinnig wütend. Dass sich zwanghaft immer etwas ändern muss. Das liegt auch daran, dass immer mehr zynische und profilierungssüchtige Marketing-Menschen an der Macht sind.«
Bleibt am Ende Folgendes: Ich werde wahrscheinlich die klugen Sachen, die Tocotronic mit ihrer Musik ausdrücken, weiterhin lieber in Interviews lesen wollen. Doch »Das rote Album« hat mir wenigstens einen Eindruck vermittelt, was an dieser Band so toll ist. Und mehr kann man aus meiner Perspektive gar nicht loben. Tocotronic: Das rote Album (Universal) | Thomas Ewald | Thomas Ewald: „Das rote Album“ von Tocotronic | [] | dschungel | 30.04.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/18/durch-die-wueste-der-langeweile?page=0%2C%2C3 |
Kein Mais für die Massen | "Wer am Mittwoch zur Arbeit geht, wird verprügelt." Diese Drohung, die am 20. Januar nachmittags aus sämtlichen Faxgeräten Zimbabwes ausgespuckt wurde, nahm dann doch keiner mehr ernst. Eine bislang unbekannte "International Socialist Party" wollte angeblich die Chance der anhaltenden Unruhen in Zimbabwes Städten dazu nutzen, die allmächtige Staatspartei, die ZANU-PF, herauszufordern und aus den Protesten um stetig ansteigende Nahrungsmittelpreise eine Revolution zu zaubern. Waren es im vergangenen Monat noch die Proteste gegen angekündigte Steuererhöhungen, die zu einem eintägigen Generalstreik führten, so sind es diesmal die um bis zu 60 Prozent gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel, die die Bevölkerung zu Protesten, teilweise auch gleich zu Plünderungen in den Läden veranlaßt haben. Insbesondere die Verteuerung des Grundnahrungsmittels Maismehl um 21 Prozent sorgte für die erbitterten Proteste. In der ersten Wochenhälfte kam es zu rund 2 400 Verhaftungen, mindestens drei Todesopfer haben die landesweiten Proteste mittlerweile gefordert. In heroischer Verteidigung seiner Trinkhalle hat der vor einem Monat unter fragwürdigen Umständen gewählte Bürgermeister der schwarzen Zwillingsstadt von Harare, des Millionentownships Chitungwiza, einen angeblichen Plünderer erschossen. In einem Fernsehinterview am Donnerstag sprach Macheka von der Regierungspartei ZANU-PF dann von "Tieren", die die Unruhen dazu nutzten, sich selbst zu bereichern. Nachdem die Polizei am Dienstag vergangener Woche der Demonstrationen und Plünderungen - weniger im Zentrum Harares, meist in den Townships - nicht mehr Herr geworden war, wurde die Armee eingesetzt. Innenminister Dabengwa drohte deutlich: "Die schießen nicht mit Gummigeschossen!" Am Donnerstag waren die Revolten weitgehend erstickt. Angesichts der gewalttätigsten Proteste seit der Unabhängigkeit richtete die Regierung eine Regulierungskommission ein, die die Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel überprüfen soll. Mittlerweile hat Staatspräsident Robert Mugabe die Mühlen angewiesen, die Preissteigerung bei Maismehl zu annullieren. Die Regierung von Mugabe hat in den letzten drei Monaten die meisten ihrer vermeintlichen Trümpfe verspielt, mit denen sie die Bevölkerung bei der Stange hätte halten können. 17 Jahre nach der Unabhängigkeit sollte es für die rund 50 000 Veteranen des antikolonialen Befreiungskampfs, der 1980 zur Unabhängigkeit Zimbabwes von Großbritannien geführt hatte, Entschädigungs- und Pensionszahlungen geben. Im August vergangenen Jahres hatte Mugabe Zahlungen in Höhe von umgerechnet etwa 400 Millionen Mark zugesagt, nach Ansicht des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank aber war das zu viel. Die drängende Landfrage sollte mit der Enteignung von 1 480 Großfarmen, die im Besitz von Weißen sind, endlich entschärft werden; Entschädigung waren für Gebäude und die Wertsteigerung des Farmlands vorgesehen, nicht aber für das Land selbst. Mugabe empfahl auf dem Commonwealth-Gipfel von Edinburgh dem britischen Premier Tony Blair, die enteigneten weißen Großfarmer, die sich das Land ursprünglich von den Schwarzen angeeignet hätten, doch vom britischen Staat entschädigen zu lassen. Noch immer sind rund 4 000 weiße Farmer im Besitz von etwa 60 Prozent der fruchtbarsten Bodenfläche, die Arbeitsbedingungen auf den Landgütern haben sich gegenüber der Kolonialzeit kaum verändert. Sie hatten einen der vorrangigen Gründe für den bewaffneten Kampf im damaligen Rhodesien dargestellt. Das Ergebnis von Mugabes Politik war fatal. Steuererhöhungen zur Finanzierung der Zahlungen an die Freiheitskämpfer mußten angesichts des Drucks der Straße Ende November zurückgenommen werden; IWF, Weltbank und westliche Länder stornierten ihre Zahlungen. Wegen der drohenden Enteignungen wurden jegliche Investitionen zurückgestellt. Der Zimbabwe-Dollar hat allein in den letzten drei Monaten 40 Prozent seines Wertes verloren. Die dadurch verursachten Preiserhöhungen machen die Zimbabwer nun nicht mehr mit. Schuld an der Misere, ebenso wie an den Protesten gegen die Steuererhöhungen, haben nach Ansicht der Regierung die Weißen, Großgrundbesitzer wie Industrielle. Derlei Anschuldigungen nimmt aber kaum jemand mehr richtig ernst, nachdem die in eine Vielzahl von Korruptionsskandalen verwickelte Regierung in den letzten Monaten gezeigt hat, wie weitsichtig ihre Planungskompetenz ist: Beispielsweise fehlen Konzepte, auf welche Weise die auf Exportprodukte wie Tabak und Blumen programmierte Landwirtschaft, zweitgrößte Devisenquelle des Landes, auf eine kleinbäuerliche Bewirtschaftung umgestellt werden soll. Mittlerweile hat die Regierung ihre Enteignungspläne aufgegeben. Weltbank und Europäischer Union haben sich durchgesetzt. Dafür gab die Weltbank Gelder in Höhe von 60 Millionen, Brüssel in Höhe von 20 Millionen Dollar frei. Für 3,3 Millionen Dollar sollen nun Farmen aus weißem Besitz gekauft werden. Soviel war im knappen Haushalt dafür vorgesehen. Angesichts der unter Druck zurückgenommenen Preiserhöhungen sagen zimbabwische Ökonomen eine in Kürze eintretende Verknappung von Mais voraus. | thomas kempf | thomas kempf: | [] | Ausland | 29.01.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/05/kein-mais-fuer-die-massen?page=0%2C%2C3 |
Eindeutig zweideutig | Hermaphroditen, Zwitter oder Intersexuelle, wie die Medizin geschlechtsuneindeutige Menschen heute nennt, kämpfen seit einigen Jahren um Sichtbarkeit in einer Gesellschaft, die geradezu zwanghaft nach Geschlecht kategorisiert. Während intersexuelle Menschen Aufklärung und freie Wahl der geschlechtlichen Identität auch jenseits der Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Personenstand fordern und ihre Erfahrungen mit der medizinischen Praxis nicht selten mit Begriffen wie »Genitalverstümmelung« oder »Vergewaltigung« beschreiben, herrscht unter MedizinerInnen und PsychologInnen auch weiterhin Einigkeit über den Umgang mit Intersexualität. Wer bei der Geburt nicht eindeutig als Mädchen oder Junge identifiziert werden kann oder beim geschlechtlichen Reifungsprozess von der Norm abweicht, der bzw. die wird eindeutig gemacht. Operative Eingriffe an den Genitalien mit zum Teil schweren Auswirkungen auf die Psyche, Hormonbehandlungen und jahrelange Pathologisierung durch besorgte TherapeutInnen sind die Folgen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Existenzweisen außerhalb des männlichen oder weiblichen Geschlechts sind nicht vorgesehen. Doch die Kritik an dieser Praxis wird lauter. Zwitter-Initiativen politisierten den Umgang mit der Intersexualität, MenschenrechtlerInnen stoßen in eine Grauzone medizinischer Verschleierungsstrategien vor, und KulturwissenschaftlerInnen stellen die Idee der Zweigeschlechtlichkeit in Frage. Sie wird nicht länger als etwas selbstverständlich Gegebenes betrachtet, sondern als kulturell reproduzierter Effekt von Wissensorganisation und politisch-sozialen Herrschaftsinteressen verstanden. Auf dem 45. Symposium der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, das vom 7. bis zum 10. März zum Schwerpunktthema »Intersexualität« in Magdeburg stattfand, sollte der fachübergreifende Dialog gewagt werden. In der Hoffnung, dass ein Austausch zwischen MedizinerInnen und KulturwissenschaftlerInnen neue Ansätze für die diagnostisch-therapeutische Praxis eröffnet, hatten Klaus Mohnike vom Zentrum für Kinderheilkunde der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Stefanie von Schnurbein vom Nordeuropa-Institut der Berliner Humboldt-Universität WissenschaftlerInnen gebeten, zum Auftakt des Symposiums über die historischen, sozialen und juristischen Dimensionen des Themas zu sprechen. Gabriele Dietze, die an der Humboldt-Universität in Berlin Amerikanistik und Gender Studies lehrt, referierte über die »Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit«. Sie legte dar, welche politischen und ökonomischen Veränderungen dazu geführt haben, die Geschlechterverhältnisse radikal zu polarisieren, und wie mit dem Verweis auf eine behauptete Natürlichkeit weiblicher und männlicher Wesenseigenschaften die soziale Ungleichheit zwischen Frauen und Männern legitimiert wurde. Die Naturalisierung der geschlechtlichen Arbeitsteilung diente ebenso wie die staatliche Sorge um die Reproduktionsfähigkeit und Gesundheit der Bevölkerung dazu, die ökonomische Basis der frühkapitalistischen Gesellschaft zu stabilisieren. »Gott« wurde als Fixpunkt aller Behauptungen durch »Natur« ersetzt. Intersexuelle wurden zu »Monstern« erklärt, weil sie die »natürliche Ordnung« durchkreuzten. Das juristische Interesse, die Frage nach dem Personenstand von Intersexuellen zu klären, verband sich mit dem Bedürfnis der Medizin, Normalität zu konstruieren und Abweichungen zu pathologisieren. Intersexualität ist demnach ein Effekt medizinischer Wissensorganisation und ein Phänomen, das erst vom gesellschaftlichen Zwang zur geschlechtlichen Eindeutigkeit zu einer Krankheit gemacht wurde. Medizin kann eben immer nur das erkennen, was eine Kultur auch als Erkenntnis zulässt, deshalb sind medizinische Befunde weder überzeitlich noch überkulturell, sondern kritikwürdig. Eine Aufgabe, die beim Magdeburger Symposium den ReferentInnen aus dem kultur- und sozialwissenschaftlichen Spektrum zugedacht war. Hanne Loreck, Kunstwissenschaftlerin aus Potsdam, demonstrierte, wie in der Kunst Zweigeschlechtlichkeit parodiert und destabilisiert wird. Ulrike Klöppel, Psychologin an der Universität Potsdam, äußerte Kritik am bisherigen Behandlungskonzept. Während MedizinerInnen betonen, dass der operative Eingriff möglichst früh, also bereits im Säuglingsalter, vorgenommen werden müsse, um den Intersexuellen eine »normale« Kindheit zu ermöglichen, kritisierte Klöppel, dass die Geschlechtsidentität zu einem Zeitpunkt festgeschrieben wird, zu dem der oder die Intersexuelle noch gar keine Vorstellung vom Geschlecht artikulieren kann. Die Medizin fixiere sich auf die Herstellung von Mädchen und Jungen, orientiere sich dabei aber zu wenig an der Lebensqualität. Eine Geschlechtsidentität, wie die Medizin sie definiere, bleibt, so Klöppel, zudem der Vorstellung von Bipolarität und Heterosexualität verhaftet und lasse eine Alternative zum Frau- oder Mann-Sein erst gar nicht denkbar werden. Konstanze Plett von der Universität in Bremen reflektierte die Debatte auf juristischer Ebene. Ihr Verweis darauf, dass das deutsche Gesetz keine Definition des Geschlechts kennt, ließ Zweifel an der Rechtmäßigkeit der geschlechtlichen Zuordnung aufkommen. Der operative Eingriffe am neugeborenen Kind kollidiere zudem mit dem Recht des Individuums auf körperliche Unversehrtheit. Für die Statements von Intersexuellen, den eigentlichen ExpertInnen zum Thema, war dagegen wenig Zeit eingeplant. Helen Guhde von der AIS (Androgyn Insensitivity Syndrome)-Kontaktgruppe »XY-Frauen« kritisierte den verkrampften Umgang mit dem Thema und forderte die MedizinerInnen auf, Intersexuellen und ihren Familien alle verfügbaren Informationen zur Verfügung zu stellen, klare Angaben über verschiedene Möglichkeiten des Vorgehens zu machen und die »Dinge beim Namen zu nennen«. Nicht auf das Podium geladen waren die VertreterInnen der radikalen, anti-integrativen AgGPG (Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in Pädiatrie und Gynäkologie). Michel Reiter von der AgGPG, der sich strikt gegen den operativen Eingriff an Säuglingen ausspricht und sich gegen jede Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit wendet, fand den MedizinerInnen gegenüber jedoch auch aus dem Auditorium heraus klare Worte: »Etwas kulturwissenschaftliche Bildung könnte Ihnen nicht schaden.« Der innerhalb der sich formierenden Intersex-Bewegung bekannte Aktivist übte zugleich scharfe Kritik am Ausschluss radikaler Intersex-AktivistInnen aus der Veranstaltung. Dass Reiter mit seiner Kritik am Konzept des Symposiums keinesweg Unrecht hatte, zeigte sich an den Referaten von MedizinerInnen im zweiten Teil. Während sich die Referentinnen aus dem Kulturspektrum noch bemüht hatten, Normalitätskonzepte und Vorstellungen von »Krankheit« kritisch zu befragen, wurde im zweiten Teil ungeniert von »Störungen« und »Fehlentwicklungen« gesprochen. Hatte sich Stefanie von Schnurbein von der Bezeichnung »Betroffene« distanziert und sich selbst als von der medizinischen und gesellschaftlichen Praxis »betroffen« bezeichnet, so wurde nun von »PatientInnen« gesprochen, die unter der ärztlichen »Fürsorge« zu Objekten degradiert wurden. Einen »streitbaren und konstruktiven Dialog« hatte Schnurbein sich gewünscht. Dazu hätte es allerdings einer besseren Integration der kulturwissenschaftlichen Perspektive bedurft. So war die Idee eines interdisziplinären Streits zwar gut gemeint, führen ließ er sich allerdings nicht. Eine Auseinandersetzung hätte nur dann gelingen können, wenn der Begriff der »Krankheit« in Frage gestellt worden wäre. Ist eine als überdurchschnittlich groß wahrgenommene Klitoris krank oder ist es eine Gesellschaft, die nur zwei Bilder von Genitalien denken kann? Ist es krank, die eigene Geschlechtsidentität als nicht klassifizierbar oder brüchig zu verstehen, oder ist es krank, Menschen ohne ihre Einwilligung zu operieren? Im konkreten Einzelfall kann wohl nur der oder die Intersexuelle selbst über die eigene geschlechtliche und sexuelle Identität entscheiden. Zuerst aber müsste er oder sie die Chance dazu erhalten. Unter dem Titel »Patriarchale Herrschaft operiert mit medizinischer Gewalt« ruft ein Aktionsbündnis zum Protest gegen das 4. Symposium für Gynäkologie und Pädiatrie an der Berliner Charité auf. Ziel der angemeldeten Gegenkundgebung ist es, Körpernormierung und Genitalverstümmelung zu skandalisieren. Das aus Transgender-Aktivisten, Zwittern, Krüppeln, Schwulen und Lesben bestehende Bündnis trifft sich donnerstags im Büro für Antimilitaristische Maßnahmen, Berlin, Görlitzerstr. 63, 20.00 Uhr. Die Kundgebung findet am 24. März zwischen 12 und 15 Uhr vor der Charité in der Luisenstraße 5/ Ecke Robert Koch-Platz statt. Infos unter www.aggpg.de oder Tel. 0421-3762905 | sven glawion | sven glawion: Intersexualität in Magdeburg | [] | dschungel | 14.03.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/11/eindeutig-zweideutig?page=0%2C%2C1 |
»Wir sagen nicht, Opel muss bleiben« | Haben die Pläne eines Verkaufs von Opel an Magna und Sberbank schon Auswirkungen für die Beschäftigten? Nein. Der Großteil der Belegschaft ist nach wie vor in Kurzarbeit, auch wenn bestimmte Bereiche aus der Kurzarbeit herausgenommen worden sind, die für andere Werke mitproduzieren. Aber jetzt ist die Debatte durch neue Verzichtsforderungen angeheizt worden. Welche Verzichtsforderungen? Aktuell geht es um einen seltsamen Aktienfonds, durch den die Belegschaften einen Anteil von zehn Prozent an Opel aufbringen sollen – insgesamt geht es dabei um eine Milliarde Euro. Die Summe soll etwa durch den Verzicht auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie den Verzicht auf die tariflich vereinbarte vierprozentige Lohnerhöhung aufgebracht werden – und durch weiteren Belegschaftsabbau. Dieser Aktienfonds soll vom Betriebsrat und der IG Metall verwaltet werden. Um das Geld zusammenzubekommen, wird in Bochum der Belegschaft von der Betriebsratsmehrheit beigebracht, dass die Beschäftigten an anderen Standorten schon ihre Zustimmung signalisiert hätten. Es heißt auch, dass Opel Bochum erneut von Schließung bedroht wäre, wenn man da nicht mitmache. Sollen der Betriebsrat und die Gewerkschaft dann auf Dauer einen zehnprozentigen Aktienanteil verwalten? Ja, aber es ist noch nicht wirklich klar, ob das bisherige Modell, in dem dieser zehnprozentige Aktienfonds vorgesehen ist, mit dem Aufkauf durch Magna wirklich zum Tragen kommt. Klar ist, dass die Gewerkschaftsbürokratie da die Regie übernehmen wird. Das wäre ein weiterer Schritt, um die Menschen in die Konkurrenz, in die Wettbewerbszwänge hineinzuholen – und damit wäre das auch ein Schritt dazu, dass sich die Beschäftigten womöglich noch selber gegenseitig treten, um vielleicht mal irgendwann etwas über diesen Aktienfonds zurückgezahlt zu bekommen. Wird das bei Opel Bochum hingenommen? In Bochum gibt es in der Belegschaft seit langem Opposition gegen das offizielle Gewerkschaftsvorgehen – etwa in Form der so genannten wilden Streiks im Jahr 2000 über sechs Schichten und im Oktober 2004 über elf Schichten. IG Metall-Führungsleute wie etwa der Bezirksleiter Oliver Burghard wurden bei uns in Bochum ausgepfiffen. Die Stimmung schwankt zwischen Wut und Verzweiflung: Man organisiert sich ja nicht in der Gewerkschaft, damit die dann den Verzicht durchzieht.
Bei Opel Rüsselsheim ist das anders, dort steht anscheinend die Mehrheit der Belegschaft hinter dem Verzichtskurs, aber bei uns ist der sehr umstritten. Verzichtsverträge bekamen wir seit 1993 einen nach dem anderen aufgedrückt. Wir waren damals noch 19 200 Beschäftigte in Bochum, jetzt sind wir nur noch 5 200. Mit jedem Verzicht gingen ein paar tausend Arbeitsplätze und auch Errungenschaften flöten. Da gibt es wenig Vertrauen, dass man mit Verzicht seine Zukunft retten könne.
Typisch für die oppositionelle Stimmung in Bochum ist aktuell auch die Tatsache, dass nur hier die IG Metall die Beschäftigten persönlich über Verzichtsleistungen abstimmen lässt. Das sollte eigentlich überall so sein. Denn viele Kolleginnen und Kollegen sind einerseits sehr resigniert, was ihre eigenen Kampfmöglichkeiten betrifft, andererseits – was auch ein Ergebnis der traditionellen Stellvertretungspolitik ist – verstecken sie sich aber auch gerne hinter dem Geschimpfe auf »die Gewerkschaft« oder »den Betriebsrat«, um nicht selbst aktiv werden zu müssen. Daher sollten sie selber abstimmen, ob sie für weitere Zugeständnisse sind oder nicht. Bei der ersten Abstimmung über die Lohnerhöhung im April haben 40 Prozent gegen einen Verzicht gestimmt. Allerdings muss man dazu sagen, dass sich von 4 200 Gewerkschaftsmitgliedern nur 2 100 an der Abstimmung beteiligt haben – auch weil viele den Brief mit dem Stimmzettel leider nicht erhalten hatten. Aber immerhin haben 900 Mitglieder glatt »Nein« gesagt. Das sind diejenigen, die auf diesen Verzichtskurs wirklich keine Hoffnung mehr setzen. Gibt es Solidarität zwischen den verschiedenen Opel-Standorten, oder kämpft jeder für sich? Letzteres. Es war für uns 2004 sehr schwierig, dass die Bochumer Opel-Belegschaft mit ihrer Streikaktion alleine blieb. Es gab zwar eine unglaublich große Solidarität aus der Bevölkerung hier in Bochum und Umgebung, aber es gab keine Unterstützung durch die anderen Belegschaften. Wir haben in den Betriebsräten der Großbetriebe mehrheitlich Leute, die sich aggressiv zum Co-Management bekennen – also zu einer Strategie, die die Konkurrenzfähigkeit und die Profitabilität »ihres« Unternehmens stärken will. Die Losung dieser Betriebsräte ist: Wir sind hier gewählt worden, wir müssen hier die Belegschaft vertreten. Jeder standortübergreifende gewerkschaftliche Standpunkt wird da mit einer Handbewegung weggewischt. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Franz hat das so ausgedrückt: »Ich bin an erster Stelle Opel-Betriebsrat und erst an zweiter Stelle Gewerkschafter.« Im Rahmen von deren internalisierter Konkurrenzideologie gilt, dass man erst mal sehen müsse, dass der eigene Laden durchkommt. Von 55 000 Opel-Beschäftigten arbeitet fast die Hälfte in Werken in Spanien, England, Schweden, Polen, Belgien, Österreich und Frankreich. Die sitzen dann wohl am Katzentisch? Klaus Franz ist nicht nur Vorsitzender des Gesamtbetriebsrates in Deutschland, sondern auch des Euro-Betriebsrates. Er wird öffentlich als vorbildlicher Organisator europäischer Solidarität dargestellt. Es heißt immer, kein Werk in Deutschland werde geschlossen, und das gelte auch für ganz Europa. Die IG Metall hat hier vor ein paar Tagen ein Flugblatt verteilt, auf dem stand: »Faire Lastenverteilung!« Klaus Franz vertritt das Ziel: »Wir wollen erreichen, dass nicht eine Belegschaft besonders blutet und die anderen erleichtert sind«. Er sagt: »Geteiltes Leid ist halbes Leid.« Diese regulierte Verteilung des Leids ist die offizielle Linie der IG Metall. Das soll Solidarität organisieren. Im Endeffekt ist das Resultat aber eine Solidarität im Interesse der Aktionäre, der Besitzer des Unternehmens. Habt ihr mit eurem Slogan »Gegenwehr ohne Grenzen« dagegen überhaupt eine Chance? Habt ihr Kontakte in die Werke in anderen Ländern? Zurzeit haben wir keine funktionierenden Kontakte zu den anderen Standorten. Das war mal anders. Der jetzige Vorsitzende des Antwerpener Betriebsrates zum Beispiel war mit uns noch zusammen bei Vauxhall in Ellesmere Port, im Liverpooler Werk, um dort die Verbindung zu englischen Kollegen herzustellen. Der ist auch umgeschwenkt zu diesem aggressiven Co-Management. Wir waren sehr enttäuscht, dass die Leute, mit denen wir in den anderen Werken Kontakt hatten, mit unserer Richtung von gewerkschaftlicher und politischer Arbeit nichts mehr zu tun haben wollten. Und eure Richtung ist die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen statt Co-Management? Unsere Leitlinie ist nicht die Vertretung von Interessen, sondern die Ermächtigung von Belegschaften, sich selbst zu wehren. Wir haben auch bei den Betriebsratswahlen gesagt, ihr könnt uns nicht ankreuzen, wenn ihr glaubt, wir könnten dann für euch die Kohlen aus dem Feuer holen. Dafür bekommt man weniger Stimmen, aber das ist die Wahrheit. Es ist sicher ganz gut, wenn es ein paar Betriebsräte gibt, die aufklären und mobilisieren wollen. Aber das Entscheidende ist doch, ob man als Belegschaft zusammen in Erscheinung tritt. Ihr benutzt den Slogan »Wir zahlen nicht für eure Krise« – was bedeutet das konkret? Das Motto heißt erst mal: Verzicht verweigern. Durch Verzicht kann keine zukünftige Beschäftigung gesichert werden, das ist hoffnungslos. Je weniger wir uns auf die Parole »Opel muss bleiben« reduzieren lassen, je mehr wir Forderungen vertreten und Aktionen machen, die über den Betriebsrahmen hinausgehen, desto größer ist die Chance, dass sich andere anschließen. Mit der Vorstellung »Wir wollen weiter so arbeiten wie bisher«, die jetzt von den einzelnen Belegschaften hochgehalten wird, kommt man bei der Tragweite dieser Krise nicht weit. Man kann nicht einfach weiterhin bei Opel in Bochum jeden Tag 1 200 Autos bauen wollen. An diesem Punkt sehen wir uns ziemlich alleine. Ihr habt mit eurer Parole der standortübergreifenden Solidarität woanders keinen Rückhalt? Weltweit setzen die Führungen der großen Industriegewerkschaften zuerst auf die nationale Rettung ihrer nationalen Wirtschaft und ihrer eigenen jeweiligen Mitglieder. Das können wir kritisieren. Aber die Leute spüren, dass wir zwar ganz gute Gedanken haben, aber dass dahinter keine Macht steht.
Und was die Unterstützung und Aktionsvorschläge aus den Reihen der radikaleren Linken angeht: Dass die Beschäftigten auch sechs Monate später ihre Miete zahlen müssen und deshalb kurzfristige »Lösungen« suchen, wird von denen gar nicht berücksichtigt. Meist beschränken sich die Linken auf abstrakte Vorschläge zur langfristigen Produktkonversion oder auf knallharte Aktionsaufrufe, in denen die Frage, wer da jetzt mit welchen Forderungen wohin marschieren soll, gar nicht beantwortet wird. Oft findet man nur Leerformeln von der »ganz anderen Gesellschaft«. Wird das so naiv formuliert, dann winken die Leute eher resigniert ab. Und was plant ihr? Wir fragen uns, mit welchen Forderungen sich ein »Wir« vorstellen lässt, ein »Wir«, wie es Linke jetzt im Slogan »wir wollen für eure Krise nicht bezahlen« auf die Straße tragen. Darin sollen sich die Leute wiederfinden können und auch eine gewisse Hoffnung darauf setzen können, dass unsere Gegenwehr zu Angst und Zugeständnissen bei den Herrschenden führt. In dem Sinne haben wir geschrieben: »Wir müssen bleiben.« Wir halten nämlich kein Schild hoch: »Opel muss bleiben«, »Nokia muss bleiben«, »Karstadt muss bleiben«, irgend so eine dumme Rüstungsfabrik soll auch bleiben. Nein, davon müssen wir uns lösen. Wir sind doch nur zufällig in unserem Leben in einer Autofabrik gelandet, an der Kasse bei Karstadt oder sonstwo, weil man seine Arbeitskraft irgendwo verkaufen muss, um leben zu können. | Gaston Kirsche | Gaston Kirsche: Wolfgang Schaumberg im Gespräch über Opel und die Gewerkschaft | [] | Interview | 25.06.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/26/wir-sagen-nicht-opel-muss-bleiben |
Jiu zai | Die westlichen Medien zeigten sich von den Maßnahmen der chinesischen Regierung zur Rettung der Opfer der Erdbeben in der Provinz Sichuan stark beeindruckt. Tausende Soldaten und Helfer mit den Zeichen »Jiuzai« auf dem Rücken wurden aus dem ganzen Land eingeflogen. Das immer noch relativ große Ansehen der Volksbefreiungsarmee in der chinesischen Bevölkerung basiert im Wesentlichen auf der effizienten Katastrophenhilfe bei Überschwemmungen, Dürren oder Erdbeben.
In China gibt es eine lange Tradition, nach der der Herrscher verpflichtet ist, bei Naturkatastrophen seinen Untertanen zu helfen, schon die konfuzianischen Klassiker mahnten, dass der Herrschende verantwortlich sei, wenn als Folge von Erdbeben oder Überschwemmungen Hungersnöte ausbrechen. Zu den ureigensten Aufgaben des Kaisers gehörte es daher, dafür zu sorgen, dass die Getreidespeicher gefüllt und die Wasserwege befahrbar sind. Die Qing-Dynastie (1644 bis 1911) baute ein weltweit einzigartiges staatliches Getreidespeichersystem auf, dass durch lokale Speicher ergänzt wurde. Im Falle einer drohenden Hungersnot wurden die Speicher geöffnet, um die Preise zu kontrollieren und die Armen zu ernähren. Durch das Eindringen imperialer Mächte und den Zerfall des Zentralstaats nach 1840 brach dieses System allerdings zusammen und China wurde zum Land der Hungersnöte, 40 Millionen Menschen sollen allein zwischen 1876 und 1900 verhungert sein.
Die KPCh baute ihre Legitimation nach der Machtübernahme 1949 auch auf dem Versprechen auf, dass nie wieder ein Chinese verhungern soll. Der Wiederaufbau des Speichersystems und die Zähmung des Gelben Flusses sollten China vor Naturkatastrophen schützen. Während dem »Großen Sprung nach vorne« (1958 bis 1961) kam es jedoch wieder zu einer verheerenden Hungersnot, die geschätzten Opferzahlen liegen zwischen 15 und 40 Millionen Toten. Dieses Mal waren die Speicher allerdings nicht leer gewesen, das Getreide war in die Sowjetunion exportiert und damit der Dorfbevölkerung vorenthalten worden, um die Industrialisierung in den Städten im vollen Tempo voranzutreiben. Nach dieser Katastrophe betrieb die Partei eine vorsichtige Politik gegenüber den Dörfern und importiert seit 1962 Getreide, um das Land zu versorgen.
Bis heute gilt die Zentralregierung solange als legitim, solange sie sich während Katastrophen bewährt. Laut dem traditionellen Aberglauben kündigt die Häufung von Naturkatastrophen einen Dynastiewechsel an. | Felix Wemheuer | Felix Wemheuer: Subversives Chinesisch, Teil 3 | [] | Sport | 22.05.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/21/jiu-zai?page=0%2C%2C2 |
Der Einzelne und sein Eigenheim | Was wäre, wenn Ussama bin Laden an der derzeitigen Krise des US-Immobilien- und weltweiten Börsenmarkts schuld wäre? Eine absurde Frage für all jene, die ihr Wissen über ökonomische Zusammenhänge aus den Medien beziehen. Und eine gar nicht so absurde Frage für all jene, die auch die Literatur zu Wort kommen lassen wollen, wenn es darum geht, die so genannte Wirklichkeit zu ergründen. Literatur bedient sich ja nur bedingt des Faktenwissens und setzt ihm – mal vergnüglich, mal luzide, mal destruktiv – das Reich der Fiktionen entgegen oder verknüpft es mit der Welt der Nachrichten bis zur Unkenntlichkeit beider. Jay McInerney heißt einer der Schriftsteller, die das besonders gut können. In seinem neuen Roman »Das gute Leben«, der jüngst auf Deutsch erschienen ist, baut er geschickt einen so gut wie unbekannten Aspekt der US-Immobilienkrise in den Plot ein. Der Plot, das ist: 9/11. McInerney untersucht literarisch, was dieser Tag an individuellen und kollektiven Traumata samt der dazugehörigen Bewältigungsversuche ausgelöst hat. Nach den Anschlägen denken immer mehr New Yorker darüber nach, ihre geliebte Metropole in Richtung Umland zu verlassen. Vor allem Familien sind es, die plötzlich überlegen, ob es sich nicht auch gut in Connecticut leben ließe. Wären die zwei, drei Stunden Pendelverkehr pro Tag zur Arbeit in New York nicht in Kauf zu nehmen, wenn es im Gegenzug ein größeres Maß an Sicherheit gäbe? In der Folge steigen die Grundstückspreise im New Yorker Umland rasant an – und mit ihnen, wie man aus der Welt jenseits der Fiktionen weiß, die Kreditzinsen. McInerneys Zugang zum Thema ist auch deshalb interessant, weil er einen zentralen Topos der US-Literatur aufnimmt und aktualisiert. In kaum einem Land kommt der Mobilität des Einzelnen so viel Bedeutung zu wie in den USA. Ohne Auto bist du nichts, wer den Greyhound oder einen der abgehalfterten Amtrak-Züge benutzt, muss den Führerschein verloren haben oder arm sein. Der britische Reisejournalist Richard Grant schrieb in »Ghost Riders«, seinem herrlichen Buch über amerikanische Nomaden, er verstehe den weitverbreiteten Hass weißer US-Amerikaner auf die American Natives nicht. »Die Comanchen, so wird behauptet, stiegen selbst für einen Weg von 100 Metern aufs Pferd, genauso wie ein Amerikaner heute für die gleiche Strecke das Auto benutzt«, schreibt er und verbindet damit zwei Bevölkerungsgruppen, deren jeweils größter Teil bis heute jede Gemeinsamkeit bestreitet. Anders, mit einem Klischee gesagt: Hätte es damals schon Briefkästen gegeben, wären die Comanchen zu Pferde dahin geritten. Wo Grant bedauert, dass der Mobilitätsfixierung der US-Amerikaner keine konsequente Verweigerung der Sesshaftigkeit folge, da schlägt die große Stunde der auf mikrokosmische Beobachtung spezialisierten US-Literaten. John Updike hat fünf Romane – seine so genannte Rabbit-Pentalogie – darauf verwandt, das Leben in der fiktiven Kleinstadt Brewster genauer einzufangen, als es der Stadtarchivar eines realen Provinznests je könnte. Hier begegnet uns das Gegenbild zu McInerneys örtlich wenig gebundenem Metropolenleben. Es ist ohne ein Eigenheim, das fast immer ein Einfamilienhaus ist, so wenig denkbar wie der Weg zu Fuß zum Briefkasten. Das Einfamilienhaus gilt den Arbeitern als Ziel schlechthin. Keines zu haben, käme der Reise im Greyhound gleich. Der Mittelschicht gilt das eigene Haus als ein Gut, das man um jeden Preis verteidigt. In Zeiten der Wirtschaftskrisen verzichtet man lieber auf den Urlaub und gewisse Statussymbole, als das Häuschen zu verkaufen (oder eines der Autos). Folgt man Updike weiter, so ist allein der Oberschicht der Haus- und Grundbesitz nicht mehr so wichtig. Denn man verfügt ja über mehrere Häuser, Eigentumswohnungen und Grundstücke, die der Bebauung noch harren, so dass der Verkauf eines Objekts kaum ins Gewicht fällt. Ein wichtiger Punkt bleibt bei Updike seltsam unterbelichtet – die Binnenmigration. In Brewster sind die wenigsten Bürger gezwungen, in andere Städte oder Landkreise zu ziehen, um Arbeit und Einkommen zu finden. Das ist bei Jonathan Franzen anders. Die meisten seiner Bücher sind bestimmt von der Dialektik von Mobilität und Hausbesitz. Sein Bestseller »Die Korrekturen« beginnt im Haus der in die Jahre gekommenen Eltern. Die Kinder sind erwachsen geworden und leben quer übers Land verstreut, wo sie studieren, arbeiten oder abhängen; die Eltern bleiben zurück und warten sehnsüchtig auf ihre Besuche an Thanksgiving oder Weihnachten. Diese Besuche im Elternhaus bilden quer durch Franzens Werk die dunklen Höhepunkte seiner Prosa. Erwachsen geworden und wahlweise allein oder an der Seite des gegenwärtigen Lebenspartners, gestaltet sich die Rückkehr an den Ort der Kindheit zum meist quälenden Mix aus Erinnerungen und Veränderungswünschen. Man will den egomanischen Vater vom Sockel stoßen, die Mutter mit den Errungenschaften des Feminismus konfrontieren und dabei auch noch die Kindheitserinnerungen genießen, vielleicht sogar den Geschwistern oder dem Partner mitteilen. Das Einfamilienhaus bietet den Rahmen, in dem das Scheitern an solch einem riesigen Unterfangen vorprogrammiert ist. Franzen ist es auch, der in seinem autobiografischen Bericht »Die Unruhezone« das Elternhaus nach dem Tod der Mutter zum Ausgangspunkt für Reflexionen über sein Leben nimmt. Das immobile Haus wird zum Zentrum in einer mobilen und unruhigen Welt. Die Rückkehr dorthin dient der Sammlung der Gedanken, dem Bündeln und Verarbeiten der Erinnerung. Kindheit wird nicht verklärt, sondern durch intensive Arbeit an der Vergangenheit nutzbar gemacht, um zu erkennen, wie man selbst so tickt. Es kehrt Ruhe ein, und mit ihr eine souveräne Akzeptanz der Dinge und Verhältnisse. Diese Ruhe und Akzeptanz bilden den Ausgangspunkt für alle noch kommenden Aufbruchs- und Veränderungsversuche. Stewart O’Nan hat vor ein paar Jahren etwas Ähnliches mit seinem Roman »Abschied von Chautauqua« geleistet, obwohl es darin »nur« um ein Ferienhaus geht. In John Cheevers jüngst neu aufgelegter »Wapshot Chronicle« ergeben sich aus der Havarie eines Bootes, dem der Charakter eines Hausersatzes zukommt, Abnabelungen, die in alle Welt führen. Von der Existenz der Dialektik von Mobilität und Hausbesitz auch in weiter zurückliegenden Zeiten zeugen viele moderne Klassiker: Die US-Dramatik wartet mit Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« auf, die Lyrik mit Edgar Lee Masters »Die Toten von Spoon River« (man setze hier einfach Kleinstadt und Haus gleich), die Prosa mit Sherwood Andersons Erzählungen in »Winesburg, Ohio«, die Kurzprosa mit Teilen des Werkes von Raymond Carver. Vor allem mit Anderson und Carver kommen wir zwei weiteren Aspekten des Hausbesitzes in der US-Literatur auf die Spur: der Ideologie und der Abwesenheit des Glücks. »Life, liberty, and the pursuit of happiness« – dieser legendäre Satz aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist sowohl Versprechen als auch Ideologie. Thomas Jefferson zählte »the pursuit of happiness« – das Streben nach Glück – zu den »selbstverständlichen Wahrheiten«, ohne darauf einzugehen, dass die Formel von dem Philosophen John Locke entlehnt war. Bei ihm hieß sie noch »life, liberty and estate (or property)« und man sieht daran gut, wie eng »happiness«, »estate« und »property«, also Glück, Grundbesitz und Eigentum, verknüpft sind. Die US-Journalistin Joan Didion erzählt in ihrem Essay-Band »Im Land Gottes«, wie sich der damalige Präsident Ronald Reagan auf einen anstehenden Staatsbesuch aus der Sowjetunion vorbereitete. Er wollte mit seinem Gast im Flugzeug in geringer Höhe über Kalifornien fliegen, und wenn dieser dann spöttisch über die vielen Häuser mit Swimmingpool bemerke, das seien wohl die berühmten Villen der Millionäre, dann werde er, Reagan, antworten: Nein, das seien nur die Häuser der Arbeiter. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Wo das Eigenheim vielleicht noch in Träumen zum Symbol für Glück taugt, da hat die Literatur sich längst daran gemacht, das Trügerische dieses Traums zu offenbaren oder sich gleich auf das unerfüllte Glücksversprechen gestürzt. Ob Angst vor dem sozialen Abstieg, familiäre Enge, Scheitern der Ehe, ökonomische Krise, Abkapselung von der Gesellschaft oder der Umbau des schnuckeligen Heims in eine Mischung aus Hochsicherheitstrakt und Statussymbol – in der Literatur wohnt der Niedergang oft im Einfamilienhaus. Updike spricht im Vorwort zu Andersons »Winesburg, Ohio« von der ausbleibenden Erlösung, dem »bohrenden Gefühl, dass das Leben anderswo spielt«. Carver schreibt in seiner Kurzgeschichte »Nachbarn«: »Die Millers hatten den Eindruck, dass die Stones ein erfüllteres und schöneres Leben führten.« Auf der ersten Seite von Franzens »Die Korrekturen« heißt es: »Überall im Haus läutete eine Alarmglocke, die außer Alfred und Enid niemand hörte. Es war die Alarmglocke der Angst.« In Bret Easton Ellis’ letztem Roman wendet sich sogar das gerade erworbene Haus gegen die Besitzer und entwickelt ein grauenvolles Eigenleben. Richard Ford schließlich zeigt in seinem Roman »Unabhängigkeitstag«, dass man es den Hausbesitzern ohnehin nicht recht machen kann. Im Gegensatz zu McInerney, der seine Protagonisten über die steigenden Grundstücks- und Immobilienpreise sprechen lässt, ist Fords Hauptfigur Frank Bascombe besorgt wegen der »fallenden Immobilienpreise«, die »wie ein böser Wind durch die Bäume ziehen«. Denn es müsse »für eine Stadt, für ihren Lokalesprit, ja auch etwas bedeuten, wenn ihr Wert auf dem freien Markt fällt. (Warum sonst wären die Immobilienpreise ein Index für das nationale Wohlergehen?)« Ja – warum nur? Wenn die Kredite für’s Eigenheim zu hoch sind, geht es den Hausbesitzern schlecht. Ebenso, wenn die Immobilienpreise zu niedrig sind. So oder so – ums nationale Wohlergehen der USA scheint es nicht gut bestellt zu sein. Ums Wohlergehen der US-Literatur, die dazu so viel zu sagen hat, hingegen schon. | Maik Söhler | Maik Söhler: | [] | dschungel | 18.10.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/42/der-einzelne-und-sein-eigenheim?page=0%2C%2C0 |
Grüße von der Antifa | Einer der wenigen Fußballvereine, die sich in Kroatien gegen Faschismus und Rassismus engagieren, ist der NK Zagreb 041. Die Ultras des Vereins sehen sich das Spiel gegen Mala Mlaka an 39 Jahre nach seinem Tod kämpft Genosse Josip Broz Tito weiter gegen den Faschismus. Der Marschall blickt einem dabei streng in die Augen, als wolle er betonen, dieser Kampf sei noch lange nicht gewonnen. Diesen Eindruck vermittelt die Büste, die im Konferenzraum des »Rats der Antifaschistischen Kämpfer und Antifaschisten« in Zagreb steht. Den Raum nutzen Partisanen, die noch unter Tito gekämpft haben, aber auch deutlich jüngere Antifas. Eine von ihnen ist die 27jährige Historikerin Anja Grgurinović. Sie schaut auf die Büste und sagt: »Diese Persönlichkeit hat dabei geholfen, uns vom Faschismus zu befreien. Leider finden das in Kroatien nicht alle gut.« Grgurinović schreibt Texte und organisiert mit anderen Antifaschistinnen Solipartys und Demonstrationen, darunter das große Fest zur Befreiung vom Faschismus, das immer am Wochenende zum 8. Mai gefeiert wird. Manchmal laufen sie durch die Stadt und übermalen faschistische Symbole. »Dominant ist das U der Ustascha, es gibt aber auch immer wieder Hakenkreuze und Hassbotschaften gegen Schwule und Lesben«, sagt Grgurinović. Die 1929 von Ante Pavelić gegründete rechtsextreme Terrororganisation Ustascha wurde in den dreißiger Jahren von Benito Mussolini unterstützt und errichtete während des Zweiten Weltkriegs als Verbündete Nazideutschlands ein klerikalfaschistisches Regime im heutigen Kroatien, in Bosnien-Herzegowina und Teilen Serbiens. Auf mehrfache Nachfrage, ob ihr Name anonymisiert werden soll, antwortet Grgurinović entschieden mit nein. Sie sagt: »Die Glorifizierung der Nazikollaborateure der Ustascha ist in Kroatien allgegenwärtig, doch vor körperlichen Übergriffen fürchte ich mich nicht. Es gibt hier noch gewisse Grenzen, die bislang nicht überschritten wurden.« Die jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten lassen auch T-Shirts bedrucken. Auf einem T-Shirt ist der jugoslawische Partisan Stjepan Filipović abgebildet, der im Mai 1942 von serbischen Nazikollaborateuren gehängt wurde. Als die Schlinge um seinen Hals gelegt wurde, hob er die Arme in die Höhe und schrie: »Smrt fašizmu, sloboda narodu!« (»Tod dem Faschismus, Freiheit für das Volk«). Das Bild wurde zum Symbol des antifaschistischen Widerstands, der Ausspruch zum Motto der jugoslawischen Linken. 1949 wurde Stjepan Filipović zum Volkshelden Jugoslawiens erklärt, doch für viele Kroatinnen und Kroaten ist er das nicht mehr. »Geschichtsrevisionismus wird in Kroatien zum Mainstream. Viele Veteranenverbände aus dem Kroatien-Krieg der neunziger Jahre hängen offen der Ustascha-Ideologie an und werden nicht kritisiert. Auch die katholische Kirche ist sehr mächtig und vertritt meist erzkonservative und revisionistische Ansichten«, sagt Grgurinović. Rechte Hegemonie
Mit dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien Anfang der Neunziger übernahmen in Kroatien die Rechten die Macht. Das Land erklärte sich für unabhängig und viele sehnten sich nach einer neuen nationalen Identität und einer glorreichen Geschichte. Die meinte man beim sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zu finden, einem Satellitenstaat Nazideutschlands, den die Ustascha unter Pavelić regierte. Hunderttausende Juden, Serben, Roma und Oppositionelle wurden von dem Regime ermordet. Knapp 50 Jahre später formierten sich im Kroatien-Krieg die rechtsextremen paramilitärischen HOS-Milizen, die positiv auf die Ustascha Bezug nahmen, deren Uniformen kopierten und deren Gruß »Za dom spremni« (»Für die Heimat bereit«) übernahmen – das kroatische Pendant zu »Sieg Heil«. Die »Verteidiger des Vaterlands« wurden zu Helden stilisiert, deren faschistische Symbole bis weit in die Mitte der kroatischen Gesellschaft akzeptiert sind. Nach wie vor gelten die Veteranen vielen in Kroatien als Helden, die nicht kritisiert werden dürfen. So wird in Kroatien einiges hingenommen, das in anderen Teilen Europas als rechtsextrem eingestuft würde. Dabei nennt die kroatische Verfassung den Antifaschismus als eines der Fundamente des Staates und man kann im Stadtbild Zagrebs Statuen und Denkmäler sehen, die an den Partisanenkampf erinnern. Diese werden allerdings oft mit rechten Symbolen und Parolen beschmiert. Im November versuchte ein Mann in der Hafenstadt Split, das Monument für den antifaschistischen Partisanen Rade Končar, der 1942 von der italienischen Geheimpolizei ermordet wurde, umzuwerfen. Beim Umfallen brach die Büste dem Mann ein Bein. Die Erinnerungspolitik in Kroatien hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten radikal verändert. Der Kampf gegen die Ustascha und die Nazis nimmt immer weniger Platz im öffentlichen Raum ein. Dafür werden der Ustascha Denkmäler gebaut. Unweit des ehemaligen Konzentrationslagers Jasenovac, in dem die Ustascha über 80 000 Juden, Serben, Roma und Oppositionelle ermordete, wurde eine Gedenktafel mit dem Ustaschagruß angebracht. Nach Protesten wurde sie wieder entfernt. Der zentrale Tito-Platz in Zagreb wurde 2017 in »Platz der Republik Kroatien« umbenannt. An die Stelle von Tito trat in der Erinnerungspolitik ein anderer Mann, der nun als großer Kroate verehrt wird: Kroatiens Kriegspräsident Franjo Tuđman, der sich nur deswegen nicht vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten musste, weil er vorher verstarb. Linker Journalismus in Gefahr
Im Zentrum Zagrebs hat sich eine Gruppe Männer chic gemacht und will nun öffentlich Zeitungen verbrennen. Ihr Anführer ist Dražen Keleminec. Er trägt Jeans, Hemd, Sakko und eine markante Brille. Der 54jährige ist der Vorsitzende der rechtsextremen Autochthonen Kroatischen Partei der Rechten (A-HSP) und organisiert Demonstrationen, bei denen faschistische Parolen und Slogans wie »Tod den Serben« gegrölt werden. Vor der Redaktion der Wochenzeitung Novosti zieht Keleminec ein Feuerzeug aus seinem Sakko und setzt ein Blatt mit der Titelseite in Brand. Seine Fans applaudieren. An ihrer Kleidung tragen sie Verzierungen mit dem Ustaschagruß und Abzeichen der HOS-Milizen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Männer Zeitungen verbrennen. Beim ersten Mal zündete Keleminec noch eine Originalausgabe an, inzwischen fackelt er eine ausgedruckte Kopie des Titelblatts ab, um nicht noch die Auflage der Zeitung zu steigern. Es ist kein Zufall, dass sich der Mob die Novosti ausgesucht hat: Die Wochenzeitung wird vom Nationalrat der serbischen Minderheit in Kroatien herausgegeben und gilt als links. Die großen Feindbilder der kroatischen Rechten sind Serben und Linke. Keleminec hält eine Rede, während er das brennende Titelblatt in die Luft streckt. Die Journalistinnen und Journalisten der Zeitung nennt er Terroristen. Er gibt ihnen die Schuld an den verheerenden Waldbränden, die wegen der Trockenheit im Sommer 2017 weite Teile der Adriaküste verwüsteten. Die Redaktion der Novosti schaut dem Treiben der Rechten von ihren Büros aus zu. An den Wänden hängen auch hier mehrere Bilder des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs Tito und Porträts von bekannten Serben aus Kroatien. Obwohl draußen Männer stehen, die ihnen lauthals den Tod wünschen, bleiben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelassen. »Kein Grund zur Panik, wir sind das schon gewohnt«, sagt die Journalistin Ana Brakus. »Als Organ der serbischen Minderheit werden wir von den kroatischen Nationalisten als Erzfeind angesehen«, sagt ihr Kollege Hrvoje Šimičević, »sie hassen uns aber auch, weil wir eine linke, antifaschistische Zeitung machen. Für die kroatischen Nationalisten ist ›Antifaschist‹ ein Schimpfwort.« Der 34jährige gehört selbst nicht zur serbischen Minderheit, er ist Kroate. »Für die Nationalisten bin ich ein Verräter«, sagt Šimičević. »Das ist die einzige Gruppe, die sie noch mehr hassen als die Serben.« Der Hass auf Novosti werde nicht nur von offen Rechtsextremen, sondern auch von der kroatischen Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović und der mächtigen katholischen Kirche geschürt, so Šimičević. »Die Frage ist, wie lange diese Leute vor unserer Redaktion stehen und nur Papier verbrennen. Und wann sie anfangen, uns physisch anzugreifen.« Grabar-Kitarović wurde 2015 mit einer knappen Mehrheit zur kroatischen Präsidentin gewählt. Die entscheidenden Stimmen erhielt sie von der extremen Rechten, bei der sie sich seither einschmeichelt. Sie zweifelt öffentlich die offizielle Zahl der Opfer an, die in den kroatischen Konzentrationslagern getötet wurden, und besuchte in Argentinien Ustascha-Kollaborateure, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg ihrer Strafe entzogen hatten. Als im November 2017 der Kriegsverbrecher Slobodan Praljak im Gerichtssaal in Den Haag einen Giftcocktail trank, um per Selbstmord einer Haftstrafe zu entgehen, stellte sich die Präsidentin auf die Seite derjenigen Kroatinnen und Kroaten, die Praljak als Helden verehren. »Das kroatische Volk wurde tief in seinem Herzen getroffen«, ließ sie verlauten. Die Zeitung Novosti ist bekannt für ihre investigativen Recherchen. So veröffentlichte sie etwa Fotos des ehemaligen Kulturministers Zlatko Hasanbegović, die ihn in einer an die Ustascha erinnernden Uniform zeigten. In einer anderen Recherche entlarvten sie die Lügen im Film »Jasenovac – Die Wahrheit«, in dem behauptet wird, es habe sich beim Konzentrationslager Jasenovac lediglich um ein Arbeitslager gehandelt (Jungle World 19/2016). Obwohl die Journalistinnen und Journalisten dem Regisseur Jakov Sedlar Dutzende bewusste Fälschungen nachweisen konnten, erhielt er 2017 den mit rund 4 000 Euro dotierten »Preis der Stadt Zagreb«. »In manchen Ländern wird man strafrechtlich verfolgt, wenn man den Holocaust relativiert. In Kroatien bekommt man dafür einen Preis«, sagt Šimičević. Novosti sei auch deswegen so verhasst, weil sie die rechtsextreme und geschichtsrevisionistische Grundlage des kroatischen Identitätskonstrukts benennt. | Krsto Lazarević | Krsto Lazarević: In Kroatien sind Antifaschisten in der Minderheit | [
"Kroatien",
"Antifaschismus",
"Antifa"
] | Reportage | 31.01.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/05/gruesse-von-der-antifa?page=0%2C%2C3 |
Nicht nur die Milizen morden | »Die Region Nord-Kivu ist ein zum Leben erwecktes Gemälde von Hieronymus Bosch.« So beschrieb Mark Jenkins, Autor des National Geographic, im Juli, noch vor der Eskalation der Kämpfe, die Lage im Ost-Kongo. Seit Jahren wird die Zivilbevölkerung von Milizen und der Armee terrorisiert. Diverse bewaffnete Gruppen setzten Vergewaltigungen gezielt als Kriegswaffe ein. Doch auch Angehörige der kongolesischen Streitkräfte machen sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig.
Die sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat nicht nur zu einer HIV-Rate von etwa 30 Prozent unter der weiblichen Bevölkerung im Ost-Kongo geführt. Viele werden nach Vergewaltigungen von ihren Familien verstoßen. Immer öfter werden nach Angaben der Organisation Heal Africa in den Flüchtlingslagern Frauen und Mädchen von anderen Vertriebenen vergewaltigt und misshandelt.
Seit einigen Wochen ist die Kivu-Region im Osten des Kongo nun wieder in den internationalen Medien präsent. Laurent Nkunda, ein ehemaliger General der kongolesischen Armee, setzte seine etwa 6 000 Kämpfer starke Truppe des CNDP (Nationalkongress zu Befreiung des Volkes) in Bewegung und schaffte es in kurzer Zeit, die Regierungstruppen aus strategisch wichtigen Orten zu vertreiben. Mehr als 1,3 Millionen Menschen hausen in der Kivu-Region derzeit in provisorischen Lagern.
Der UN-Sicherheitsrat beschloss Ende November die Entsendung weiterer 3 100 Blauhelme, um die gegenwärtig 17 000 Soldaten umfassende UN-Truppe zu unterstützen. In der Kivu-Region sind derzeit etwa 6 000 UN-Soldaten stationiert. Die weltweit größte UN-Mission Monuc gilt als schlecht ausgerüstet. Ihr Mandat für das peacekeeping gestattet, »alle notwendigen Mittel« zur Erfüllung ihrer Aufgaben einzusetzen. Sie dürfen jedoch in keine Kampfhandlungen eingreifen, bei denen Zivilisten zu Schaden kommen könnten. So verhinderten die UN-Soldaten weder den Vormarsch der Truppen Nkundas, noch konnten sie Plünderungen und Vergewaltigungen durch Angehörige der kongolesischen Armee stoppen. »Die kongolesische Armee begeht hier mit die schlimmsten Menschenrechtsverbrechen. Den Blauhelmen sind aber weitestgehend die Hände gebunden, gegen die regulären Truppen vorzugehen. Nkunda ist nur ein Teil des Problems«, sagte Olivier Etsou*, ein ruandischer Anwalt, der in Goma Opfer von Menschenrechtsverletzungen vertritt, gegenüber der Jungle World. »Seit dem Beginn der Kämpfe kommt es nicht nur zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Auch unser Spielraum, überhaupt etwas gegen Täter unternehmen zu können, wird täglich kleiner. Damit hier ansatzweise wieder zivile Strukturen aufgebaut werden können, müssen die Militäraktionen aufhören.«
In den vergangenen Jahren entstanden in der Kivu-Region einige Netzwerke zivilgesellschaftlicher Gruppen. Viele Initiativen werden von internationalen Organisationen unterstützt. Einige Anwälte vertraten in den letzten Jahren trotz Drohungen immer wieder Opfer bei Klagen gegen Armeeangehörige, wenn auch mit einer geringen Erfolgsquote. Meist werden die Verfahren eingestellt, da die Armee kleinere Geldbeträge an die Opfer verteilt oder die Kläger erfolgreich einschüchtert.
Den schwachen Strukturen zivilgesellschaftlicher Initiativen stehen die von Korruption geprägte kongolesische Armee und Bürokratie sowie mehrere Milizen gegenüber. Nkundas Truppen werden nach Angaben von BBC von Ruanda logistisch unterstützt. Roger Usabase*, der 1994 mit 12 Jahren in den Reihen der RPF (Ruandische Patriotischen Front) gekämpft hat, bestätigt gegenüber der Jungle World, dass der CNDP sowohl unter ehemaligen RPF-Kämpfern als auch in den Reihen der ruandischen Armee Kombattanten rekrutiert. Nkunda legitimiert seine militärischen Aktionen mit der Präsenz von 6 000 bis 7 000 Milizionären der FDLR (Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas), einer Organisation der für den Genozid in Ruanda verantwortlichen Hutu-Extremisten. Die FDLR hat offizielle Sprecher, die teilweise unbehelligt auch in Deutschland leben, und einflussreiche Finanziers in aller Welt. Der Großteil der ehemaligen génocidaires aber lebt unter einfachsten Bedingungen im Busch. Die FDLR ist Human Rights Watch zufolge für die meisten Menschenrechtsverletzungen in der Region verantwortlich, derzeit kämpfen ihre Milizionäre gemeinsam mit der kongolesischen Armee gegen die Einheiten Nkundas. Dieser sieht sich wiederum bereits als Regierungschef, »bis nach Kinshasa« will er den Krieg tragen.
Vom kongolesischen Präsidenten Joseph Kabila ist hingegen auffallend wenig zu hören. In Angola sicherte er sich Unterstützung gegen Nkundas Truppen, mit Ruanda vereinbarte er einen weiteren Plan zur Entwaffnung der FDLR. Doch ein entschiedendes Vorgehen ist nicht zu erwarten, da sich die FDLR-Kämpfer derzeit gegen Nkundas Truppen einsetzen lassen. Direkte Gespräche mit Nkunda lehnt Kabila ebenso ab wie eine Stellungnahme zu dem in der vergangenen Woche veröffentlichten Bericht von Human Rights Watch. Die Organisation dokumentierte staatliche Gewalt gegen Oppositionelle in Kinshasa und der angrenzenden Provinz Bas-Kongo. Demzufolge wurden zwischen August 2006 und März 2008 von der Präsidentengarde mindestens 125 Menschen hingerichtet und über 300 Angehörige der Autonomiebewegung Bundu dia Kongo von Soldaten getötet.
In der Kivu-Region hält die vom CNDP ausgerufene Waffenruhe weitgehend an. Strategisch geschickt hält Nkunda einen Korridor für humanitäre Hilfe offen und versucht nicht, das von kongolesischen Truppen verlassene Goma einzunehmen. Dennoch geht die alltägliche Gewalt gegen die Zivilbevölkerung weiter. Das Vertrauen der Zivilbevölkerung werden die UN-Truppen nur zurückgewinnen können, wenn sie in Zukunft konsequent gegen alle Menschenrechtsverletzungen vorgehen, auch gegen die Regierungssoldaten. Mit Diplomatie und Selbstverteidigung wird dies nicht zu bewerkstelligen sein. Zumal eine weitere Miliz aktiv geworden ist, die Lord’s Resistance Army (LRA) aus Uganda drang in den vergangenen zwei Monaten mehrfach in den Ost-Kongo vor, ermordete nach Angaben von Human Rights Watch mindestens 20 Zivilisten und verschleppte mehr als 80 Kinder. John Norris, Direktor der NGO Enough, fordert ein entschiedenes Vorgehen gegen die LRA und ihren Anführer Joseph Kony, gegen den ein internationaler Haftbefehl vorliegt. Ansonsten »wird der Krieg gegen die Zivilbevölkerung weitergehen, und die ohnehin fragile Region wird weiter destabilisiert werden«. * Name von der Redaktion geändert | David Schwarz | David Schwarz: Die Lage im Ostkongo | [] | Ausland | 04.12.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/49/nicht-nur-die-milizen-morden?page=0%2C%2C0 |
Endlose Sommer | Dauerte der Sommer früher länger? Und dann ist es auf einmal schon fast Mitte Juli und man war immer noch nicht in einem Meer mit ordentlich Salz drin schwimmen, weil ja noch dies und das zu tun ist, und jenes natürlich auch noch, und daran, wie sich sandige Füße anfühlen, kann man sich schon fast nicht mehr erinnern. Früher dauerten die Sommer länger. Meistens hatten sie schon vor dem plötzlich gar nicht mehr so schrill klingenden Klingelton begonnen, mit dem die letzte Schulstunde vor den so sehnsüchtig erwarteten Sommerferien endete, mit langen, trägen Nachmittagen im Freibad. Oder ultracoolem Kleinstadt-Herumlungern, immer ein bisschen zu warm angezogen, weil es natürlich gar nicht in Frage kam, vor so etwas Profanem wie dem Wetter zu kapitulieren und die schicke Lederjacke nicht zu tragen, so wie es umgekehrt natürlich absolut undenkbar war, im Winter dicke Anoraks oder gar klobige Boots anzuziehen, aber das ist eine andere Geschichte. Hat es überhaupt jemals geregnet, damals, als die Sommer dauerten und dauerten und nie ein Ende zu nehmen schienen und alles aufregend war, weil es so viel zu entdecken und so viel Verbotenes zu tun gab? Vielleicht ja, vielleicht nein, ganz bestimmt aber war es egal, wurd’ man halt ein bisschen nass, so what. Und wenn dann auf einmal der Sommer doch zu Ende ging, war das sogar völlig in Ordnung. Schließlich war jeder Tag vollkommen ausgekostet worden und wer weiß, was für Abenteuer der Herbst bringen würde.
Und heute ist dies und das zu tun und dann ist es auf einmal schon fast Mitte Juli und man war immer noch nicht in einem Meer mit ordentlich Salz drin schwimmen und ojeoje, laut Wetterprognose soll es kommende Woche kühler werden, na hoffentlich ist das nur ein kleines Zwischentief, nicht auszudenken, wenn ein ausgedehntes Regengebiet heranziehen würde. | Elke Wittich | Elke Wittich: Das Medium - Sommer für Teenager | [] | dschungel | 12.07.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/28/endlose-sommer?page=0%2C%2C3 |
Neutralität als Vorwand | Die Schweizer sind ihrem EM-Kooperationspartner Österreich nicht nur in fußballerischen Belangen voraus. Während die österreichische Mineralölverwaltung immer noch über ihr 22-Milliarden-Euro-Geschäft mit dem iranischen Regime verhandelt, hat die Schweizer Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg Mitte März einen Vertrag über die jährliche Lieferung von 5,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas ab 2011 ratifiziert. Auf Wunsch der iranischen Seite, für die der Vertrag von der Iranian Gas Export Company unterzeichnet wurde, war die Außenministerin der Schweiz, Micheline Calmy-Rey, eigens zur Vertragsratifizierung nach Teheran gereist.
Bereits daran wird deutlich, dass es dem iranischen Regime bei derartigen Geschäften nicht nur um erfolgreiches Wirtschaften geht. Die Außenhandelsbeziehungen sind stets auch ein Instrument, um im politischen Streit um das Nuklearprogramm und gegen die US-amerikanischen und israelischen Isolierungsbemühungen propagandistische Erfolge zu erzielen. Die Sozialdemokratin Calmy-Rey kam dieser Intention mit ihrem Besuch in Teheran nach und präsentierte sich herzlich lachend samt Kopftuch neben Präsident Mahmoud Ahmadinejad. Sie ist für diese Rolle durchaus prädestiniert, hatte sie doch im Jahr 2006 der iranischen Regierung vorgeschlagen, in der Schweiz ein gemeinsames Seminar zur »unterschiedlichen Perzeption des Holocausts« zu organisieren, womit sie dem Regime in Teheran Interpretationsspielraum signalisiert und die Leugner und Relativierer der Shoah legitimiert hat. Die iranische Botschaft in Bern zeigt sich zufrieden mit der Schweiz, die die »Islamische Republik« unmittelbar nach der Revolution von 1979 anerkannt hat: Die Beziehungen »entwickelten sich im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern (…) sehr gut und freundschaftlich«. Die Schweiz pflegt auch Kontakte zu den iranischen Verbündeten an den israelischen Grenzen. Dass sowohl die Hamas als auch die Hizbollah, die beide zur Vernichtung Israels aufrufen, vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten als Gesprächspartner akzeptiert werden, hat zu scharfer Kritik des israelischen Botschafters Ilan Elgar geführt. Das Vorgehen wird von der Schweiz aber mit dem Hinweis auf ihre Neutralität verteidigt. Der Iran-Besuch der Außenministerin war von der Schweiz bis zuletzt nicht offiziell angekündigt worden, was damit zusammenhängen dürfte, dass die USA schon frühzeitig an dem Geschäft Kritik geübt hatten. Diese Kritik ist ebenso verständlich wie jene des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds und der offizielle Protest, den Israel Mitte März eingelegt hat: Die Gaslieferungen sind auf 25 Jahre angelegt und werden dem iranischen Regime geschätzte 18 Milliarden Dollar einbringen – nach Angaben der Neuen Zürcher Zeitung gar 18 Milliarden pro Jahr.
Offensichtlich sind Firmen wie die Schweizer Axpo-Tochter EGL oder der teilstaatliche österreichische Erdölkonzern OMV gewillt, die angedrohten Sanktionen der USA in Kauf zu nehmen. Anders als etwa die Schweizer Großbank UBS, die ihre Geschäfte mit dem Iran 2006 offiziell eingestellt hat, scheinen für die österreichischen und schweizerischen Energiekonzerne die Gewinne im Iran, wo man zudem die mächtige US-Konkurrenz nicht zu fürchten braucht, schwerer zu wiegen als eventuelle Einbußen am US-Markt.
Ein durchaus auch ökonomisches Risiko bleibt dabei allerdings unberücksichtigt: Es sind derartige Geschäfte, die jegliche Sanktions- und Isolationsbemühungen gegenüber dem antisemitischen Apokalyptiker-Regime in Teheran zum Scheitern verurteilen und dadurch einen Krieg in der Region, der durchaus auch massive Konsequenzen für im Iran tätige Firmen haben könnte, immer wahrscheinlicher werden lassen. Stephan Grigat ist Mitherausgeber des Buches »Der Iran – Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer«, das soeben im Studienverlag Innsbruck erschienen ist. | Stephan Grigat | Stephan Grigat: Die Schweiz und ihre Geschäfte mit dem Iran | [] | Ausland | 03.04.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/14/neutralitaet-als-vorwand |
Der Einfluss des Vollmondes | Der Mann wird »Haiders Handy« genannt und hat diesen Spitznamen wirklich verdient. FPÖ-Klubobmann Peter Westenthaler gilt als Vollstrecker der Wünsche des ehemaligen Parteichefs der Freiheitlichen, und vollstreckt wird eben meistens per Mobiltelefon. Besonders mit den Chefs des österreichischen Rundfunks ORF telefoniert Peter Westenthaler häufig, um sich zu beschweren, wenn ihm ein Bericht im Fernsehen wieder einmal zu kritisch gegenüber der eigenen Partei oder der blau-schwarzen Regierungskoalition erscheint. Westenthalers Anrufe während diverser Live-Sendungen gehören inzwischen zum Kulturgut des Landes. Der Pressesprecher des grünen Parlamentsklubs Stefan Schennach etwa unterhält seine Zuhörer immer wieder mit der Anekdote, dass Westenthaler am 3. Oktober 2000, ein Jahr nach der folgenschweren Nationalratswahl in Österreich, »genau 22 Mal beim ORF angerufen hat«. Nicht immer kann Westenthaler auf Verständnis am anderen Ende der Leitung hoffen. Unter Mitarbeitern des ORF besonders beliebt ist die Zote von seinem Anruf im Büro des Generalintendanten Gerhard Weiss. Der 62jährige ORF-Chef, ansonsten mit beinahe klischeehafter Wiener Gemütlichkeit ausgestattet, soll von den Beschwerden derart genervt gewesen sein, dass er einfach die eindeutigen Worte »Gehen's doch scheißen«, ins Telefon gemurmelt und aufgelegt haben soll. Auch die Organisation Reporter ohne Grenzen stellt in ihrem jüngsten Bericht fest, dass die ständigen Versuche der Partei, eine kritische Berichterstattung über die Freiheitlichen zu verhindern, ein ernstliches Problem darstellen. Ansonsten kümmert sich Reporter ohne Grenzen eher um Regime in der Dritten Welt. Dass Österreich in diesem Bericht erwähnt wird, wirkte wie ein Schock. Minutiös listet die in Paris ansässige Institution die Einschüchterungsversuche der blau-schwarzen Regierung gegenüber dem ORF und der Presse des Landes auf und zitiert den Redakteursrat des ORF mit den Worten, inzwischen habe der »von der Regierung ausgeübte Druck auf die ORF-Redaktionen ein unerträgliches Ausmaß« erreicht. Dabei beschränken sich die Freiheitlichen nicht mehr darauf, öffentlich gegen die »linken Redakteure« des ORF zu poltern. Manchmal haben Westenthaler und sein politischer Freund Andreas Kohl, der Klubobmann der konservativen Volkspartei (ÖFP), auch Erfolg mit geschickteren Interventionen: Nach einem Anruf Kohls beim ORF änderten Redakteure die Formel »Sanktionen der EU-Mitgliedsstaaten gegen die Bundesregierung« um in die agitatorische Formulierung »EU-Sanktionen gegen Österreich«. Aber nicht nur der staatliche Rundfunk gerät unter Druck, auch die Presse ist massiven Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Reporter ohne Grenzen zufolge haben die Freiheitlichen eine regelrechte Prozesslawine gegen kritische Zeitungen im Lande losgetreten. Gegen das Nachrichtenmagazin News hat die FPÖ nach Auskunft von News-Chef Wolfgang Fellner in den vergangenen acht Jahren rund 100 Prozesse angestrengt, gegen die Wiener Stadtzeitung Falter laufen zwölf Prozesse. Gegen die Nachrichtenmagazine profil und Format haben die selbst ernannten Medienwächter der FPÖ jeweils 20 Klagen eingebracht. Kläger war in den meisten Fällen ein Mann, der jetzt in der Hierarchie der Republik ganz oben steht: Justizminister Dieter Böhmdorfer. Bevor er den Ministerposten übernahm, war er als Anwalt für Jörg Haider tätig. Keine Einwände hingegen hatte Böhmdorfer gegen die Neuordnung des österreichischen Zeitschriftenmarkts, der eine international wohl einzigartige Konzentration aufweist. In der vergangenen Woche billigte die österreichische Justiz die Bildung eines flächendeckenden Magazin-Kartells. Der News-Verlag und der trend-profil-Verlag schlossen sich zusammen zum wohl zukunftsträchtigsten Medienkonzern der Republik: Die politischen Wochenmagazine profil und Format, das Wirtschaftsmagazin trend, die Illustrierte News, die Fernsehzeitschrift tv-media und die New-Business-Postille e-media erscheinen in dem neuen Großverlag. In seinem aktuellen Jahresbericht stellt das renommierte Salzburger Institut für Kommunikationswissenschaft daher eine neuerliche »Drehung der ðKonzentrationsschraubeÐ auf dem Medienmarkt« fest. Dabei hätte Justizminister Böhmdorfer die Möglichkeit gehabt, gegen dieses Kartell seinen Widerspruch einzulegen, er verzichtete aber darauf und sorgte so dafür, dass die Fusion, gegen die auch renommierte Rechtsexperten Bedenken angemeldet hatten, schließlich ohne Komplikationen vollzogen wurde. Nach den jüngsten Zensurskandalen verspricht sich Böhmdorfer von dieser Geste offenbar eine gewisse Zurückhaltung der Medien gegenüber seiner Person und der Politik seiner Partei. Und es scheint so, als könnte das Kalkül des Justizministers aufgehen. Selbst dem staatlichen Fernsehen war einer der größten Umbrüche in der österreichischen Medienlandschaft lediglich eine Kurzmeldung in den Abendnachrichten wert. »Wenn man über den Einfluss des Vollmondes auf den Baumwuchs berichtet, darf ich mir auch hier mehr erwarten«, kritisierte der grüne Medienexperte Stefan Schennach den Umgang des ORF mit dem Thema. Schennach sollte sich vom öffentlichen Rundfunk allerdings nicht zu viel Unabhängigkeit erhoffen.Nicht nur, dass die größte Tageszeitung des Landes, die Neue Kronen Zeitung, und der ORF neuerdings in einer Art medialem Konkubinat leben. Bei der Ski-WM in St. Anton teilten sich der staatliche Sender und das einflussreichste Blatt des Landes schon mal das offizielle Austria-Haus. | Martin Schwarz | Martin Schwarz: Kritik an restriktiver Pressepolitik in Österreich | [] | Lifestyle | 07.03.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/10/der-einfluss-des-vollmondes?page=0%2C%2C0 |
Der Patriarch als Partner | Er erreichte nicht ganz die Wahlergebnisse aus sowjetischen Zeiten, aber mit mehr als 80 Prozent errang Eduard Schewardnadse, der letzte Außenminister der UdSSR, bei den georgischen Präsidentschaftswahlen am 9. April einen Erfolg, der ihn als einen der beliebtesten Politiker der Welt erscheinen lassen könnte. Die georgischen Behörden und die Anhänger seiner Bürgerunion haben da allerdings ein wenig nachgeholfen, Beobachter sprechen von massivem Wahlbetrug. Die OSZE-Mission formulierte es diplomatisch: »Georgien muss noch bedeutende Fortschritte machen, um seine Verpflichtungen als Mitgliedsstaat der OSZE zu erfüllen.« Doch selbst Dschumber Patiaschwili, Schewardnadses einziger ernst zu nehmender Gegenkandidat, gestand ein, dass er auch ohne die Wahlmanipulationen seines Gegners verloren hätte. Er errang etwas mehr als 16 Prozent der Stimmen, alle anderen Kandidaten blieben bedeutungslos. Seit 1992 an der Macht, führt Schewardnadse ein autoritäres Präsidialregime, das sich demokratisch geriert. Ähnlich wie in Russland wird in Georgien der kapitalistische Wettbewerb durch mafiose und klientelistische Strukturen überlagert. Mit dabei die »Familie« der Schewardnadse-Getreuen. Sein Neffe kontrolliert den Ölhandel, hohe Bürokraten protegieren ausgedehnte Schmugglerringe - nur etwa ein Fünftel der Importe wird korrekt verzollt. 70 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, wegen des Zusammenbruchs der Gesundheitsversorgung ist die Lebenserwartung drastisch gesunken. Schewardnadse verdankt seine unangefochtene Führungsposition dem Mangel an politischen Alternativen. Patiaschwili, der ehemalige Vorsitzende der georgischen KP, gilt als Kandidat Russlands, und prorussische Positionen dominieren nur in den rebellischen Regionen Abchasien, Adscharien und Süd-Ossetien, in denen sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 bewaffnete Bewegungen erhoben hatten. Bedrohlich war vor allem der abchasische Aufstand. Obwohl der abchasische Bevölkerungsanteil in Georgien sehr gering ist, gelang es deb Aufrührern mit russischer Unterstützung, die georgische Armee in die Flucht zu schlagen. Der Krieg endete 1993 mit der Stationierung einer Friedenstruppe, die ein Mandat der GUS hat, aber ausschließlich aus russischen Soldaten besteht. Abchasien blieb faktisch unabhängig. Erfolgreicher war die georgische Politik gegenüber Süd-Ossetien und Adscharien. Aslan Abaschidse, der einflussreichste adscharische Politiker, gehörte ursprünglich zu den Gegenkandidaten Schewardnadses bei den Präsidentschaftswahlen. Einen Tag vor der Wahl zog er seine Kandidatur zurück, die georgische Presse vermutet ein Abkommen mit dem Präsidenten, das im Gegenzug Abaschidses regionale Position absichert. Schewardnadse, dem die Mittel fehlen, um ein effektives und zentralisiertes Klientelsystem zu errichten, ist zu Kompromissen mit regionalen Machthabern gezwungen. Auch die Armee ist nicht in der Lage, alle Landesteile zu kontrollieren. Sie zählt nur 26 000 Soldaten und verfügt über ein dürftiges Budget von 57 Millionen Dollar (1998), das auch noch zu einem beachtlichen Teil von Offizieren veruntreut wird - im März desertierten 50 Soldaten, nachdem sie tagelang nichts zu essen bekommen hatten. Georgien versucht, die politische und militärische Schwäche durch eine Politik zu kompensieren, die sich auf die strategische Schlüsselstellung des Landes als Transitroute für den Transport von Öl und Erdgas aus Zentralasien und Aserbaidschan und als potenzielles Aufmarschgebiet der Nato an der Südgrenze Russlands stützt. Im Ringen um Einfluss auf Zentralasien und den Kaukasus gibt es zur Zeit aber Turbulenzen. So gilt es mittlerweile als unwahrscheinlich, dass die US-Politik ihr Ziel, Russland und den Iran vom Geschäft mit den Energievorräten der Region auszuschließen, erreichen kann. Die Ölgesellschaften murren über die hohen Kosten der im November 1999 von den USA durchgesetzten, über Georgien führenden Pipeline Baku-Ceyhan, und die US-Regierung zögert, den zugesagten Beitrag zur Finanzierung zu zahlen. Der Versuch der USA, im Alleingang die Geschäftsbedingungen festzulegen, stößt auf wachsenden Widerstand vor allem bei den zentralasiatischen Staaten, die eine einseitige Abhängigkeit und einen Bruch mit Russland vermeiden wollen. Zudem werden die US-Interessen nicht von allen westlichen Verbündeten geteilt. Die deutsche Außenpolitik bemüht sich um gute Beziehungen zu jenen Staaten, die vom Pipeline-Geschäft ausgeschlossen werden sollen - und zumindest in der Iran-Politik sind die anderen EU-Staaten auf die deutsche Linie eingeschwenkt. Vieles spricht dafür, dass die Bundesregierung nun auch in der Kaukasus-Politik außenpolitisches Profil gewinnen will. So wäre es nicht nötig gewesen, den BND-Chef August Hanning nach Tschetschenien zu schicken - geheimdienstliche Kooperation wird in der Regel diskreter abgewickelt. Wahrscheinlicher ist, dass der Besuch, ebenso wie das deutsche Bemühen, Resolutionen europäischer Institutionen gegen den Tschetschenien-Krieg abzuschwächen, Verständnis für russische Sicherheitsinteressen signalisieren soll. Ob das genügt, um russische Maßnahmen gegen die Interessen der Nato in den Kaukasus zu verhindern, bleibt unsicher. Die Einbeziehung Georgiens in die Nato-Strategie wird, soweit ersichtlich, von allen Mitgliedsstaaten getragen. Erschreckt über die Meldung, es seien gemeinsame russisch-georgische Manöver im Grenzgebiet zu Tschetschenien geplant, lösten sich seit Februar dieses Jahres westliche Besucher in der georgischen Hauptstadt Tiflis in rascher Folge ab. Am 23. Februar kam der britische Außenminister Robin Cook und befürwortete »die Integration Georgiens in die Euro-Atlantischen Strukturen«. CIA-Direktor George Tennet folgte ihm am 27. März, drei Tage später erschien Gerhard Schröder. Schewardnadse versicherte ihnen, an der Präferenz für ein Bündnis mit dem Westen festzuhalten. Die georgische Regierung wünscht die Anwesenheit von Nato-Truppen, um Russland von militärischen Vorstößen auf georgisches Territorium abzuhalten. So will mander Nato einen Truppenübungsplatz zur Verfügung stellen und plant gemeinsame Manöver. Zugleich betont Schewardnadse: »Bislang befinden wir uns in der Phase partnerschaftlicher Beziehungen zur Nato. Die nächste Etappe wird davon bestimmt, wie sich Russlands besondere Beziehungen zum Nordatlantikpakt entwickeln.« Solange Georgien zwischen der Nato und Russland laviert, müssen beide Seiten Zugeständnisse machen. Russland stundet die Gasrechnungen, der Westen zahlt weiter Kredite. Ob diese Politik auf Dauer funktioniert, hängt von der künftigen russischen Politik und der Entwicklung im Tschetschenien-Krieg ab. In den Bergen haben die tschetschenischen Truppen neue Stellungen ausgehoben, gleichzeitig mehren sich die Angriffe in den von Russland kontrollierten Gebieten. Erstmals erklärte die russische Regierung sich jetzt zu Verhandlungen bereit, doch an der Ernsthaftigkeit des Angebots muss gezweifelt werden, denn ein Kompromiss würde die Position des neuen Präsidenten Wladimir Putin deutlich schwächen. Wenn der Krieg weitergeht, steht Putin vor der Frage, ob er seinen Truppen gestatten soll, bei der Verfolgung tschetschenischer Partisanen die Grenze nach Georgien zu überschreiten. Auch wenn die russische Regierung keine Konfrontation mit der Nato riskieren will, bleiben ihr andere Optionen. Russland unterhält Militärbasen in Abchasien und Adscharien. Sie sollen nach einem 1999 geschlossenen Abkommen im nächsten Jahr geräumt werden. Doch der Tschetschenien-Krieg bietet ausreichende Vorwände, den Rückzug zu verschieben. Am 29. März beantragte Putin im Parlament die Verlängerung des Mandats für die russischen Truppen in Abchasien. Ihre Anwesenheit sei notwendig zum Schutz der Rechte der Abchasen, erklärte Putin, ein russischer Rückzug könne den gesamten Kaukasus destabilisieren. Die kaum verhüllte Drohung dürfte in Tiflis verstanden worden sein. Georgien wird auch in Zukunft Rücksicht auf russische Interessen nehmen müssen. | Jörn Schulz | Jörn Schulz: Erfolg für Schewardnadse in Georgien | [] | Ausland | 19.04.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/16/der-patriarch-als-partner?page=0%2C%2C1 |
Frank Schäfer | Gibt es Vorbilder? Wo bleibt der Roman? Und welche Rolle spielt die Stadtrundfahrt
im Werk des Kolumnisten? Fragen von frank schäfer
und Antworten von max goldt Peter Glaser gehörte zu den Grenzgängern zwischen Musik, Literatur
und Journalismus in den Tagen des Punk. Jetzt erlebt er
sein Comeback als Autor. von frank schäfer Verspießerung kannn auch schön sein. Das zeigt Mark Lindquists Roman »Never Mind Nirvana«. von frank schäfer Heute Übach-Palenberg, morgen die ganze Welt.
Zwei neue Bücher verhandeln die eigentümliche Beziehung
zwischen Pop und Provinz. von frank schäfer Die Crumbs waschen »Schmutzige Wäsche«. Sky Nonhoff nimmt uns mit in die Provinzkinos der Siebziger. In seinem neuen Roman plottet sich Douglas Coupland um Kopf und Kragen. Im Büchergroßmarkt gehen die Leute ihren Leidenschaften nach. <none> In Kurt Vonneguts frühen Brotarbeiten blitzt die Antimoderne auf. <none> Sherwood Andersons Roman »Winesburg, Ohio« erschien 1919, ist aber noch immer taufrisch. Alexa Hennig von Langes neuer Roman liest sich ein bisschen wie »Crazy« für Mädchen. J.T. Leroy überschreibt seine desolate Kindheit mit Privatmythen. Stefan Zweig fand ihn widerlich, Thomas Mann bewunderte ihn. Über Hermann Ungars Roman »Die Verstümmelten«. | [] | https://jungle.world//autorin/frank-schaefer |
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Hommage an die BRD-Punks | Ihr getragener Sophisti-Pop erinnert an reduzierten elektronischen Post-Punk der Achtziger: Stefanie Schrank Politische Kunst muss nicht unbedingt ästhetisch anspruchsvoll oder herausragend gelungen sein, um ihre Wirkung zu entfalten – zum Beispiel, wenn es darum geht, jugendlichen Zuhörern Zugehörigkeit sowie Orientierung für die zukünftige Weltsicht zu vermitteln. Und so singt die 1980 geborene Stefanie Schrank im herrlichen Titelstück ihrer neuen EP dann auch: »Für ein Mädchen wie mich, ’96 im Wohngebiet / Als Style nicht zu gebrauchen, aber manche Lieder waren schön / Es war der Beginn von irgendetwas, so wie ich es seh’«. Musikalisch handelt es sich bei Schrank um eine Artschool-Punkerin mit Synthesizer. Der erste Sampler der hier besungenen Reihe »Schlachtrufe BRD« erschien am 1. Mai 1990, bis 1995 folgten drei weitere Kompilationen, die vor allem Deutschpunk enthielten, von arrivierten Bands wie Chaos Z, Razzia oder Toxoplasma bis zur nächsten Generation mit Gruppen wie Wizo, Zusamm-Rottung und Terrorgruppe. Für irgendwie linksalternative Teenager mit Punk-Faible gehörte die Reihe schnell zum Inventar. Der Kölner Musikerin und bildenden Künstlerin Schrank, auch bekannt als Mitglied der Indie-Band Locas In Love, gelingt es in ihrer verschmitzten Würdigung, Sentimentalität ohne Verklärung zu erzeugen, ohne dabei die Ambivalenz der parolenhaften Orthodoxie und maskulinen Bierseligkeit zu ignorieren, welche die eingängigen Songs damals auszeichneten: Eben ein »kleiner Katechismus deutscher Punks mit Gitarren«. Und dennoch: »Ich trage sie im Herzen, Schlachtrufe BRD«. Stefanie Schrank - Schlachtrufe BRD (Official Video) Musikalisch handelt es sich bei Schrank aber vielmehr um eine Artschool-Punkerin mit Synthesizer. Ihr getragener Sophisti-Pop erinnert an reduzierten elektronischen Post-Punk der Achtziger oder den avancierten, vom Krautrock geprägten Indie-Sound von Stereolab, die Mitte der Neunziger tatsächlich mit ästhetisch anspruchsvoller Polit-Kunst aufwarteten. Stefanie Schrank: Schlachtrufe BRD (Staatsakt) | Maik Bierwirth | Maik Bierwirth : Die neue EP »Schlachtrufe BRD« von Stefanie Schrank | [
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"Platte Buch",
"Musik",
"Punk",
"Postpunk",
"Stefanie Schrank"
] | dschungel | 20.06.2024 | https://jungle.world//artikel/2024/25/neue-ep-schlachtrufe-brd-stefanie-schrank-hommage-die-brd-punks |
Egalitäre Organisationen | Vor einiger Zeit brach großes Wehklagen unter Hamburger Sportjournalisten aus. Der Grund: drei unerfreuliche Vorkommnisse innerhalb weniger Wochen. Zunächst meldete der Insolvenzverwalter der Betriebsgesellschaft des Handball-Sport-Vereins Hamburg – ein Projekt, in das ein Medizinunternehmer dem Hamburger Abendblatt zufolge im Laufe von elf Jahren »wohl mehr als 50 Millionen Euro« gesteckt hatte – die Mannschaft vom Spielbetrieb in der 1. Liga ab. Dann beantragten die Volleyballerinnen der VT Aurubis aus finanziellen Gründen keine Spielberechtigung für die oberste Spielklasse, und schließlich wickelte ein US-amerikanischer Unterhaltungskonzern seine notorisch defizitäre Hamburger Eishockey-Filiale ab. Von Hamburg als »Sportstadt« könne nun ja keine Rede mehr sein, seufzten oder schimpften daraufhin die Sportjournalisten. Ein besonders charmantes Kerlchen, das sein Geld beim NDR verdient, rempelte aufgrund der Entwicklung die Gegner der Hamburger Olympia-Bewerbung an, die sich im November 2015 bei einem Referendum durchgesetzt hatten. »An alle NOlympics: Glückwunsch nachträglich! Da habt Ihr eine schöne Lawine ausgelöst!« twitterte er.
Wenn man denn schon mit seinem Lokalpatriotismus hausieren gehen möchte, könnte man auch andere Geschichten erzählen. Zum Beispiel, dass der Hamburger Club Sportspaß mit 73 000 Mitgliedern Europas größter Aktivensport-Verein ist. Oder dass Hamburg darüber hinaus europaweit die Stadt mit den meisten Großvereinen ist, also Vereinen mit mehr als 2 000 Mitgliedern. Hinzu kommt die historische Pionierfunktion vieler Vereine: Der etwas seltsam benamte Hamburger und Germania Ruderclub, 1836 gegründet, ist der zweitälteste Ruderverein der Welt, der Wandsbeker Athleten-Club von 1879 deutschlandweit der älteste im Bereich Kraftsport. Das kümmert aber die meisten Sportjournalisten wenig, denn sie sind fixiert auf den Spitzensport und seine Stars. Zum Breitensport fällt ihnen eher wenig ein.
Wäre die Formulierung nicht mit einer ganz anderen Bedeutung belegt, könnte man sagen: Hamburg ist die Hauptstadt der Bewegung. Diese Entwicklung hat nun der Sportsoziologe Hans-Jürgen Schulke, einst unter anderem Vizepräsident des Deutschen Turnerbundes, aufgearbeitet. »Als Vereine in Bewegung kamen. Eine faszinierende Zeitreise durch den Sport«, lautet der Titel des von ihm herausgegebenen Buchs. In Hamburg beginnt diese Geschichte 1815 auf einem improvisierten Turnplatz in einem Garten der heutigen Speicherstadt. Aus einer Gruppe von 15 bis 20 Leuten entwickelte sich ein Jahr später die Hamburger Turnerschaft von 1816 (HT 16). Deren 200jähriges Jubiläum in diesem Jahr ist der Anlass des Buchs.
Bis in die neunziger Jahre bestand kein Zweifel daran, dass die HT 16 der älteste Verein der Welt ist. Doch nach der Wende stand plötzlich der TSV 1814 Friedland aus Mecklenburg auf der Matte und beanspruchte diesen Status für sich. Wer in diesem Sinne die Nummer eins ist, lässt sich, wie Schulke umfänglich erläutert, nicht mehr eindeutig klären, es kommt unter anderem darauf an, wie man »Verein« eigentlich definiert.
Eine Vereinschronik ist das von Schulke herausgegebene Buch allerdings nicht, vielmehr betten seine Co-Autoren und er die Entwicklung der Turnerschaft in die gesamte Geschichte der Sportvereine seit dem frühen 19. Jahrhundert ein. Die HT 16 sei »ein Prisma, das mit seinen Flächen das Geheimnis der Sportvereinsentwicklung in Hamburg und darüber hinaus erkennen lässt – die gemeinschaftliche Bewältigung neuer Herausforderungen von Sport und Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit«, schreibt Schulke.
Hehre Worte, die einem heutzutage beim Stichwort Sport eher nicht als Erstes einfallen. Beim Bild, das der Sport heute abgibt, gerät aus dem Blick, dass Sportvereine aufgrund ihrer Organisationsweise als Pioniere der Demokratie gelten können. Man könne sich heute kaum noch ausmalen, was für eine mitreißende Wirkung auf die Bevölkerung »egalitäre Organisationen« gehabt hätten, »in denen jeder eine Stimme hatte, unabhängig von Einkünften, Geschlecht, Zunft, Stand oder Religion«, sagt Schulke. Die ersten Vereine, ergänzt der 70jährige, seien »entstanden, als sich der herrschende Adel noch auf das Gottesgnadentum berief, alle Lebensbereiche streng hierarchisiert waren und Kinder noch den Vater, wenn nicht gar beide Elternteile siezen mussten«.
Hamburg spielte in dieser Entwicklung unter anderem deshalb eine maßgebliche Rolle, weil es »eine der ältesten Bürgerrepubliken weltweit« ist, wie Schulke sagt. Der Adel wurde früher als in anderen Regionen entmachtet. Die ersten Vereine trafen hier »auf ein Bürgertum, das liberal war, verglichen jedenfalls mit den militärischen und adligen Zirkeln, die anderswo die politischen Geschicke festlegten«.
Anderswo waren die Turner den Herrschenden derart suspekt, dass sie auch in den Karlsbader Beschlüssen von 1819 Berücksichtigung fanden. Eine vom österreichischen Außenminister Klemens Wenzel von Metternich einberufene Konferenz verabschiedete damals eine Reihe repressiver Maßnahmen – unter anderem ein Turnverbot, das zumindest in einigen Teilen Deutschlands durchgesetzt wurde. Erst in den vierziger Jahren hob der preußische König Friedrich Wilhelm IV. diese »Turnsperre« auf.
In der HT 16 gab es noch in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Kritik an einem Paragraphen der Vereinsverfassung, der das Duzen festschrieb. Die Regelung blieb zwar bestehen, aber die Diskussion vermittelt einen Eindruck davon, wie tiefgehend der gesellschaftliche Wandel war, für den die Vereine in der ersten Hälfte des vorvorigen Jahrhunderts sorgten.
Von Dauer war die im weiteren Sinne fortschrittliche Haltung natürlich nicht, Zum 100jährigen Jubiläum der HT 16, begangen während des Ersten Weltkriegs, dominierte eine Haltung, die sich von der anderer bürgerlicher Vereine nicht unterschied. »Kritik am Waffengang an sich wurde nicht geübt, Fragen nach dem Sinn des Krieges wurden nicht gestellt«, schreibt Schulke. »Von einer Besinnung auf die demokratischen Grundwerte bei der Vereinsgründung« habe keine Rede mehr sein können.
Die Demokratie innerhalb der Vereine werde heute dadurch geschwächt, dass sich bei Mitgliedern »verstärkt eine Dienstleistungsmentalität durchsetzt«, sagt Schulke. »Man erwartet, dass alles funktionieren soll. Die Leute gehen zum Sport, wie sie zum Friseur gehen.« Er meine das »gar nicht vorwurfsvoll«, ergänzt der Buchautor. »Wenn jemand 55 Stunden pro Woche arbeitet und eine Familie hat, will er nicht abends noch umständlich über irgendwas diskutieren, auch wenn es mindestens mittelbar ihn selbst betrifft.« Das mangelnde Interesse an der Mitbestimmung im eigenen Verein hänge aber auch mit veränderten Freizeit- und Mediennutzungsgewohnheiten zusammen, meint Schulke. »Andererseits gibt es bei konkreten Projekten wie Baumaßnahmen oder jetzt der Flüchtlingsbetreuung weiterhin ein großes Engagementpotential.«
»Als Vereine in Bewegung kamen« benennt auch Schwächen in der bisherigen Aufarbeitung der Sportgeschichte: Schulkes Co-Autor Bernd Lange-Beck erwähnt zum Beispiel den Umgang mit dem Arbeitersport: Die Geschichte des deutschen Arbeitersports sei zwar mittlerweile »breit aufgearbeitet«, Vereinsstudien seien »allerdings noch rar«. Viele nach 1945 wiedergegründete Vereine haben sich mit diesem Teil ihrer eigenen Geschichte zu wenig befasst. Damit, dass sie sich noch eines Besseren besinnen, ist allerdings nicht zu rechnen. Hans-Jürgen Schulke (Hrsg.): »Als Vereine in Bewegung kamen. Eine faszinierende Zeitreise durch den Sport«. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2016, 320 Seiten, 34,90 Euro | René Martens | René Martens: Ein Buch über die Geschichte von Sportvereinen | [] | Sport | 23.06.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/25/egalitaere-organisationen?page=0%2C%2C2 |
Trittin bleibt weg | Ein Mann wie Jürgen Trittin hat viele Termine. Ganz sicher deshalb musste er jetzt seine Teilnahme an den Feiern zum 25. Jahrestag der Bauplatzbesetzung in Wyhl absagen. Dabei wäre der Bundesumweltminister bestimmt gerne nach Südbaden gekommen, um an die erste große Aktion der Anti-AKW-Bewegung zu erinnern. Schließlich gehört die Verhinderung des dort geplanten Atommeilers zu den wichtigsten Erfolgen jener AktivistInnen, die später die grüne Partei gründeten. Aber vielleicht hat Trittin ja zum Dreißigsten wieder mehr Zeit. | : | [] | Inland | 23.02.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/08/trittin-bleibt-weg?page=0%2C%2C3 |
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Zur Ökonomie des Cornerns | Musik für die Straßenecke oder für MTV? Die HipHop-Formation Public Enemy mit Rapper Chuck D (im Bild unten Mitte, mit Jacke der American-Football-Mannschaft Oakland Raiders), 1988. Anfang Juni erfreuten die (Neu-)Berliner Rapper Pöbel MC und Tiger & G.G.B. ihre Fans mit einem kostenlosen Auftritt auf dem Nettelbeckplatz. Kein Grund, sich verwundert die Augen zu reiben, wenn man um die quasianarchische Selbstorganisation des Kreises um das Weddinger Musiklabel »Upstruct« weiß, zu dem auch Shacke One und MC Bomber gehören. Dass sie dabei jedoch »freundliche Unterstützung« von der Großbrauerei Warsteiner bekommen haben, wirft Fragen auf, wo doch die Unbestechlichkeit der Musiker des Labels unbestritten ist. Neuerdings versucht die nordrhein-westfälische Großbrauerei, im Zeitalter von Mikrobrauereien und Craft Beer neue Zielgruppen nicht mehr nur als Sponsor von Mainstreamfestivals wie dem Melt, sondern offenbar auch in Nischen zu erreichen. Aber Warsteiner in den Händen der einzig wahren Sprüherrapper? Dem einzigen Fan, der auf Facebook wenigstens die Qualität der selbsternannten Premiummarke beargwöhnte, antwortete Upstruct souverän im Paarreim, bei geschenkten Drogen werde nicht nachgewogen. Nüchtern betrachtet steht die Veranstaltung jedoch stellvertretend für die unaufhaltsame Kommerzialisierung der Straßenecke. Durch den HipHop wurde die Straßenecke ein zentrales Symbol afroamerikanischer Subkultur. »Am Cornern« lautete das Motto der ursprünglich an drei Straßenecken geplanten Konzertreihe von Upstruct. Der Titel spielt auf eine soziale Praxis an, die sich nicht nur in Berlin großer Beliebtheit erfreut. Mit der gewöhnlichen Verspätung ist sie auch von Lokalredaktionen entdeckt worden; dem Zukunftswissenschaftler Ulrich Reinhardt zufolge stellt sie eine Alternative zum bloßen Konsum dar. Die Soziologie ist dagegen bislang blindlings an der Straßenecke vorbeimarschiert – mit Ausnahme von William F. Whyte, der ein Bostoner Italienerviertel in seiner 1943 publizierten Langzeitstudie »Street Corner Society« teilnehmend beobachtete. In diesem Meisterwerk der soziologischen Feldforschung differenziert Whyte idealtypisch college und corner boys (girls eingeschlossen). Beide Gruppen internalisieren in ihrer Sozialisation ein je spezifisches Verhaltensmodell. Während das der college boys auf Selbsterhaltung ausgerichtet ist und deren Aufstieg erleichtert, sabotiert das Freundschaft favorisierende Verhaltensmodell der corner boys deren Aufstieg. Die Studie verweist auf die große soziale Bedeutung der Straßenecke und stellt zumindest implizit das bürgerliche Glücksversprechen in einer antagonistischen Klassengesellschaft in Frage. Als mehr als eine Generation nach Veröffentlichung der Studie in den USA allmählich der HipHop entstand, wurde die street corner zum Epizentrum der afroamerikanischen Unterschicht in der New Yorker Bronx und andernorts. Während die Straßenecke den Gangs als Arena ihrer Revierkämpfe und als Marktplatz für den Drogenhandel diente, wetteiferten dort auch die Breakdancer und Freestyler. Anwohner versammelten sich um das Schauspiel, zur Unterhaltung inmitten eines von Armut geprägten Alltags. Solche Ansammlungen waren ein nichtintendierter Nebeneffekt einer in den USA bis heute vorherrschenden Stadtplanung, die den urbanen Raum wie ein Schachbrett zergliedert. Dadurch entsteht, was in der Terminologie des französischen Soziologen Henri Lefebvre als »abstrakter Raum« par excellence gelten kann. An den Straßenecken Harlems und der Bronx fehlten jedoch die für dieses Konzept vorbildlichen Hochhäuser, die gleichgültig gegenüber dem Raum ohne eine bevorzugte Frontalansicht in den Himmel ragen. Da, wo mit den Fassaden auch die Straße erhalten blieb, fielen in den Worten Lefebvres »Repräsentation des Raums« und »räumliche Praxis« auseinander, und die Nutzung des Raums ging nicht in seiner Planung auf. Cornern war nicht vorgesehen. Durch den HipHop wurde die Straßenecke ein zentrales Symbol afroamerikanischer Subkultur. Diese bekam einerseits staatliche Repression zu spüren und wurde andererseits von der Kulturindustrie vereinnahmt. HipHop war zwar in den Worten des Rappers Chuck D das »CNN der Schwarzen«, ab Mitte der achtziger Jahre popularisierte MTV den Stil aber auch für andere Bevölkerungsgruppen. HipHop gelang der Aufstieg vom Bordstein zur Skyline. Im Zuge seiner massenmedialen Inszenierung wurde das Cornern zu einer »glokalen« Praxis, die prinzipiell überall auf der Welt (»global«) und nicht nur an der Straßenecke (»lokal«) vollzogen werden kann, eine Praxis, die immer an ihren Ursprung erinnert, während sie ihn gleichzeitig verleugnet. Am Herumlungern an Straßenecken erfreuen sich heute so unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wie Hipster, Trinker, Aktivisten, Künstler, Touristen, Schüler, Studierende und Marginalisierte. Eine kostenlose Freizeitbeschäftigung für die einen, ein wertvolles kollektives Erlebnis für die anderen. So ist auch der Habitus beim Cornern, wie es heutzutage in deutschen Städten praktiziert wird, vorwiegend kleinbürgerlich. Das herumlungernde Subjekt will sehen, was auf der Straße passiert, ihre Reize aufnehmen, das Geschehen zum Gegenstand seiner Konversation machen. Das hektisch an ihm vorbeiziehende Leben der Stadt dient als bewegtes Hintergrundbild seiner Zerstreuung. Es fühlt sich von Lärm und Gestank angezogen. Das herumlungernde Subjekt ist jedoch nicht nur Voyeur, sondern auch Exhibitionist. Es will gesehen werden, wie es sich mit Gleichgesinnten ostentativ die Zeit vertreibt. Der zur Schau gestellte Rausch gehorcht jedoch nicht nur der Leidenschaft hedonistischer Sozialcharaktere, sondern unterwirft sich einer Ordnung, die im Vollzug dieser Praxis reproduziert wird. Die demonstrative Untätigkeit parodiert sich in ihrer Geschäftigkeit selbst. Zudem konkurrieren heutzutage die college boys mit den Marginalisierten um die Straßenecken. Das alles läuft natürlich nicht ohne die Konflikte zwischen college boys und corner boys ab, wie sie bereits Whyte beschrieb. Einige Konflikte eskalieren und landen vor Gericht. Es zeichnen sich aber auch Auseinandersetzungen mit Anwohnern ab, die am Herumlungern keinen Gefallen finden. In fast alle Zeitungsartikeln ist das Cornern negativ konnotiert, und auch besorgte Anwohner und jene Kleinstkapitalisten, die davon nicht zu profitieren vermögen, empören sich über die Praxis: Schmutz, Lärm, Verkehrschaos und Kneipensterben werden ihm zugeschrieben. Rufe nach Restriktionen werden laut und von einer zuverlässig alarmistischen Berichterstattung verstärkt. Liberale Metropolen wie Berlin ziehen Touristen aus Ländern mit strenger Gesetzgebung an, wodurch sich die Probleme in diesen Metropolen noch potenzieren. Infolge der sukzessiven Produktion eines neuen städtischen Raums ändern sich urbane Lebensweisen. Anwohner fühlen sich oft als »Touristen in der eigenen Stadt«. In dieser Wahrnehmung gerät das Cornern zum Menetekel des sogenannten Easyjetset-Tourismus. Man wähnt sich in einer außer Kontrolle geratenen Kolonialisierung der Stadt durch Menschen, die mit den Folgen nicht leben müssen, da sie am Tag danach vielleicht schon wieder zu Hause sind – was im Zweifel auch nur ein anderer Bezirk sein kann. Das von Warsteiner gesponsorte Konzert war, um wieder zum Nettelbeckplatz zurückzukehren, gut besucht. Die Brauerei hielt sich mit offensiver Eigenwerbung zurück und überließ die übriggebliebenen Bierkästen den Veranstaltern – das spricht für die Cleverness der Battlerapper. Und zeigt wiederum, wie trotz fortschreitender Kommodifizierung das Cornern noch etwas Resilienz und Renitenz gegen diese enthält. | Martin Hesse | Martin Hesse: Das herumlungernde Subjekt | [
"Cornern"
] | Lifestyle | 20.06.2019 | https://jungle.world/artikel/2019/25/zur-oekonomie-des-cornerns |
»Immer wieder Selbstmordgedanken« | Wie geht es Herrn Pfeifer zurzeit?
Er ist kollabiert und lag mehrere Tage auf der Intensivstation. Er hat sie mittlerweile verlassen. Sein Zustand ist immer noch kritisch.
Warum ist Herr Pfeifer in den Hungerstreik getreten?
Er ist 54 Jahre alt. Er hat 37 Jahre als Drucker gearbeitet. Nun bezieht er Hartz IV und ist erstmals mit dieser menschenunwürdigen Behandlung konfrontiert. Er wurde schikaniert. Seine Anträge wurden verschleppt, Leistungen zu spät bewilligt oder gekürzt.
GT aktiv, der für Herrn Pfeifer zuständige Arbeitsvermittler, soll rechtswidrig gehandelt haben.
Das Essen, das Herr Pfeifer im Februar im Krankenhaus bekommen hätte, wurde in einen Geldwert umgerechnet und von der Regelleistung abgezogen. Das Landessozialgericht in Nordrhein-Westfalen hat entschieden, dass die Arbeitsvermittler diese Kürzungen nicht mehr vornehmen dürfen. Sie tun es dennoch.
Am vergangenen Samstag gab es eine Demonstration vor dem Gebäude der GT aktiv. Wie hat die Firma reagiert?
Die Demonstration hat dazu geführt, dass der Geschäftsführer sich entschuldigt hat. Die Leistungen, die rechtswidrig zurückgehalten wurden, hat er auszahlen lassen.
Konnten Sie Herrn Pfeifer nicht von der recht drastischen Protestform abhalten?
Wir haben es mehrfach versucht. Aber es geht nicht nur um Herrn Pfeifer. Es gibt unzählige Menschen in seiner Lage, die keine Öffentlichkeit haben. Viele geraten dann in einen emotionalen Zustand, aus dem sie nicht mehr herauskommen. Betroffene äußern immer wieder Selbstmordgedanken. | Markus Ströhlein | Markus Ströhlein: | [] | Inland | 17.04.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/16/immer-wieder-selbstmordgedanken?page=0%2C%2C3 |
Der Fluch der Ölrente | An der Tankstelle sind die caraqueños immer noch die Könige. Volltanken für umgerechnet weniger als einen US-Dollar ist in Caracas normal. Seit rund 20 Jahren ist der Preis für einen Liter Super nahezu unverändert. 0,097 Bolívar kostet er (rund ein Eurocent) und das, obwohl Präsident Nicolás Maduro bereits im Januar 2014 angekündigt hatte, dass der Preis angesichts sinkender Einnahmen steigen müsse. 2,7 Bolívar kostet die Produktion eines Liters Super in Venezuela. Wirtschafts- und Finanzminister Rodolfo Marco hat erst Mitte Februar gegenüber dem Fernsehsender Telesur vorgerechnet, dass der Staat den überaus billigen Sprit im Jahr mit 12,592 Milliarden US-Dollar subventioniere.
Das kann sich das über die größten Erdölreserven der Welt verfügende Land nicht mehr leisten. Venezuela muss sparen, denn es hat in China Kredite über rund 40 Milliarden US-Dollar aufgenommen. Die werden in Erdöl bedient – täglich verlassen Tanker mit mindestens 626 000 Barrel Erdöl die venezolanischen Häfen in Richtung China. Auch bei den Investitionen ist Venezuela auf chinesische Hilfe angewiesen. Ein wesentlicher Grund, weshalb Präsident Nicolás Maduro im Januar in China weilte und mit der positiven Nachricht zurückkam, dass chinesische Unternehmen in den kommenden Jahren rund 20 Milliarden US-Dollar zwischen Maracaibo und Ciudad Guayana investieren werden. Ein Anschub für die Wirtschaft, die auf dem Export von Erdöl und Schmierstoffen fußt. Mittlerweile sind es 96 Prozent der Exporte, die auf Erdöl und seine Derivate entfallen, im Dezember 1999, kurz bevor Hugo Chávez in den Präsidentschaftspalast einzog, waren es noch 68 Prozent, schreibt der venezolanische Soziologe Edgardo Lander. Er zählt zu den Anhängern der sogenannten bolivarischen Revolution und verteidigt deren Erfolge, kritisiert aber das ökonomische Modell.
Das Grundproblem sei, dass nie die Wirtschaftsstruktur in Frage gestellt und die einseitige Abhängigkeit zurückgedrängt worden sei, wie es der damalige Präsident Hugo Chávez 1999 angekündigt hatte. Damals sollte die Wirtschaft des Landes deutlich stärker diversifiziert werden. Die Kakaoproduktion sollte genauso wie die von Zucker und anderen Agrarprodukten angekurbelt, die Aluminiumindustrie ausgebaut werden und das Auto aus venezolanischer Produktion war nicht nur ein Traum – der Volkswagen aus Venezuela wurde sogar auf mehreren Messen in verbündeten Ländern wie Kuba vorgestellt. Das war 2007, doch von den Vorhaben ist wenig bis nichts übriggeblieben. Vom Zuckersektor, der unter kubanischer Ägide ausgebaut werden sollte, ist nur noch selten die Rede, und auch die Renaissance der goldenen Jahre des Criollo-Kakaos, des einst besten Kakaos der Welt, lässt immer noch auf sich warten. Viele der Projekte, die die Regierung zu Beginn dieses Jahrtausends angeschoben hat, um die Wirtschaft zu diversifizieren, sind gescheitert. Das bestätigen auch Chavistas wie Elías Jaua, der dem Kabinett von Nicolás Maduro angehört. Verantwortlich dafür macht er die habitualisierte Konkurrenz um die Ölrente. Wer erhält welches Stück vom Erdölkuchen, ist eine Frage, die in Venezuela seit 100 Jahren immer wieder gestellt wird. Das hat viel mit der Alimentierung zu tun, die in der Gesellschaft weit verbreitet ist: Jobs beim Staat oder beim größten Unternehmen des Landes, Petróleos de Venezuela S. A., sind begehrt. Auch ein Grund, weshalb im Gegensatz zu den Plänen der Regierung zu Beginn des Jahrtausends kaum etwas im Land produziert wird, so die venezolanische Sozialwissenschaftlerin Margarita López Maya. »Der Agrarsektor ist nie wie anvisiert auf die Beine gekommen und die Industrieproduktion ist seit 1999 um rund die Hälfte gesunken. Die ökonomische Krise ist gravierend. Wir importieren 60 bis 70 Prozent unserer Nahrungsmittel aus dem Ausland und nahezu alles andere auch. Das können wir uns aber nicht mehr leisten.«
Das bestätigen die nackten Zahlen. Der Ölpreis ist von Rekordhöhen mit über 140 US-Dollar auf unter 50 US-Dollar pro Fass (159 Liter) gefallen. Die Devisenreserven sinken und nun rächt sich, dass Venezuela nicht dem Beispiel von Staaten wie Norwegen und Chile gefolgt ist, sondern das Gros der Erdöleinnahmen konsumiert hat. In Norwegen werden große Teile der Ölrente in Wertpapieren angelegt, in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist das auch der Fall und in Chile wird ein Teil der Kupfereinnahmen beiseitegelegt, um Reserven für schlechte Zeiten zu haben und das Inflationsrisiko zu senken.
In Venezuela beläuft sich die jährliche Inflationsrate, traditionell relativ hoch, je nach Quelle auf 40 bis 70 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass die Petrodollars traditionell konsumiert werden – früher gern durch die Oberschichten, die die Erdölrendite zwischenzeitlich unter sich aufteilten. Heute wird die Erdölrente auf mehr Köpfe verteilt, denn die bolivarische Revolution hat real durchaus etwas gebracht: Die Gesundheitsversorgung funktioniert auch in Armenvierteln und mehrere dieser ranchos, wie sie in Venezuela genannt werden, wurden per Seilbahn an den öffentlichen Nahverkehr angebunden. Zudem ist die materielle Grundversorgung der Bevölkerung in aller Regel gewährleistet, wie auch UN-Einrichtungen bestätigen.
Außerdem sind zahlreiche Basisorganisationen entstanden, die neben anderen Erfolgen auch selbstverwaltete Wohnkomplexe geschaffen haben – wobei ähnlich wie in Kuba auch gemeinsam gebaut wurde. Das schafft nachbarschaftliche Strukturen, auf die Soziologen wie Edgardo Lander hinweisen. Ein Problem ist jedoch, dass diese Strukturen vom Zufluss staatlicher Mittel abhängen. Der könnte jedoch versiegen, weil nach der Regierung Chávez nun auch die von Maduro auf das falsche Pferd setzt – die Erdölrente.
Die sprudelte zu Beginn der bolivarischen Revolution munter. Waren es Anfang 1999 noch zwölf US-Dollar pro Barrel, wurde 2005 die 50 US-Dollar-Marke passiert, am 3. Juli 2008 waren es schließlich gut 140 US-Dollar. Venezuela schwamm in Petrodevisen und die Regierung Chávez hatte Milliarden für Sozialprogramme im eigenen Land, aber auch für die Unterstützung befreundeter Staaten wie Kuba und Nicaragua zur Verfügung. Nun wird das Geld knapp und gerade hat Präsident Maduro Außenstände in Höhe von vier Milliarden US-Dollar in der Dominikanischen Republik eingetrieben. Doch das ökonomische Modell bleibt unangetastet. Das zeigt das Festhalten am Benzinpreis, der immer noch nicht erhöht wurde. Der Grund dafür ist einfach, denn sowohl die Abwertung des Bolívar, der nationalen Währung, als auch die Reduzierung der Benzinsubventionen sind als neoliberale Mechanismen verschrien. Die letzte Erhöhung des Benzinpreises führte 1989 zu einem Aufstand, dem sogenannten Caracazo.
Damals hatte Präsident Carlos Andrés Pérez ein Bündel neoliberaler Maßnahmen auf den Weg gebracht, gegen die viele Venezolaner auf die Straße gingen. Der Caracazo kostete Schätzungen zufolge rund 3 000 Menschen das Leben, auch wenn offiziell nur rund 300 registriert worden waren, und war ein Auftakt zum Widerstand gegen die neoliberale Politik der politischen Führung. Seitdem ist der Benzinpreis unantastbar. Für Edgardo Lander ist das jedoch ein Symbol der Sackgasse, in der sich Venezuelas Wirtschaft befindet. »Die Abhängigkeit von Erdöl und die öffentliche Alimentierungspolitik haben keine Zukunft«, schreibt er. Nicht nur weil ein Sinken des Ölpreises wie derzeit verheerende Folgen hat, sondern auch weil das Rentenmodell zentrale Ziele wie die angestrebte Nahrungsmittelsouveränität de facto sabotiert. Der Grundkonsens ist Lander zufolge: »Wir haben die größten Erdölreserven der Welt und das Recht, reich zu sein. Auch wenn wir nicht arbeiten.«
Doch die umfassende Alimentierung blockiert nicht nur die Ziele der Chavistas, sondern erweist sich auch als immer schwieriger. Die Bedeutung des Erdöls ist Rohstoffexperten wie Henning Völpel vom Hamburger Weltwirtschaftsinstitut zufolge rückläufig. Staaten wie Russland, Venezuela und Nigeria seien Länder, die sich seit der Jahrtausendwende zu stark auf ihre Erdölvorkommen verlassen haben. Die Bedeutung der Vorkommen sei durch energieeffizientere Technologien, alternative Energien und durch das Fracking gesunken. Staaten wie die USA sind heute auf dem Weg, zum Nettoexporteur von Energie zu mutieren. Diese Entwicklung wurde in Venezuela weitgehend verschlafen. Das Vertrauen auf den eigenen Reichtum hat auch dazu geführt, dass innovative Technologien zumindest teilweise ignoriert wurden – im Vertrauen auf die eigenen Erdölvorkommen.
Nun steht die Regierung Maduro vor den Konsequenzen und der Herausforderung, mit dem traditionellen Modell zu brechen. Das Ende der hohen Benzinpreissubventionen könnte ein Anfang sein. | Knut Henkel | Knut Henkel: Die »holländische Krankheit« in Venezuela | [] | Lifestyle | 12.03.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/11/der-fluch-der-oelrente?page=0%2C%2C3 |
Im Dauerwahlmodus | Definitiv nicht Lenin. Eine Skulptur von Bojko Borissow des Bildhauers Andrey Vrabchev von 2016 wurde erst einige Stunden in Sofia ausgestellt, bevor sie in das Haus des Humors und der Satire in Gabrovo umzog Die Zeichen stehen nicht auf Veränderung in Bulgarien. Bei der Wahl zur Narodno Sabranie (Nationalversammlung), dem Einkammerparlament des Landes, am 2. Oktober hat die konservativ-bürgerliche Oppositionspartei »Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens« (GERB) mit knapp 25 Prozent die meisten Stimmen erhalten. Um regieren zu können, muss GERB unbedingt Koalitionspartner finden – womit die Partei des wegen Korruptionsvorwürfen umstrittenen langjährigen Ministerpräsidenten Bojko Borissow allerdings Probleme hat. Im EU-Parlament gehört die GERB zur Europäischen Volkspartei (EVP), in Bulgarien ist sie aber seit der Wahl im April 2021 und dem Rücktritt Borissows politisch isoliert. Sieben Parteien erhielten bei den Wahlen vier Prozent oder mehr der abgegebenen Stimmen und ziehen somit in das neue Parlament mit seinen 240 Sitzen ein. Die zuletzt regierende liberale Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Kiril Petkow »Wir setzen den Wandel fort« (PP) hat an Stimmen verloren und wurde mit knapp 20 Prozent zweitstärkste Kraft. Auf Platz drei wurde mit 13 Prozent die »Bewegung für Rechte und Freiheiten« (DPS) gewählt, eine Partei, die den Ruf hat, zwar die türkische Minderheit zu repräsentieren, aber auch mit Oligarchen gemeinsame Sache zu machen. Der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), ein ehemaliger Koalitionspartner der PP, droht der Abstieg zur Kleinstpartei. Zu den Verlierern der Wahl gehört auch die populistische »Es gibt ein solches Volk« (ITN), die sich aufgrund von Meinungsverschiedenheiten aus der letzten Koalition zurückgezogen, was den Sturz der Regierung Petkow einleitete. Die vom Musiker Stanislaw Todorow »Slawi« Trifonow geführte ITN hatte die Parlamentswahlen im Juli 2021 noch gewonnen, dieses Mal konnte sie die Vierprozenthürde nicht überwinden und steht kurz davor, in der politischen Versenkung zu verschwinden. Die vom früheren Interimspräsidenten Stefan Janew gegründete rechtspopulistische Partei »Bulgarischer Aufstieg« (BW) schaffte es mit etwa 4,5 Prozent ins Parlament. Janew war als Verteidigungsminister aus der Regierung Petkow entlassen worden, weil er den russischen Überfall auf die Ukraine nicht als Krieg bezeichnen wollte. Auch die ultrarechte und prorussische Partei »Wiedergeburt« schaffte es mit knapp zehn Prozent wieder ins Parlament und konnte sogar einen leichten Stimmenzuwachs verzeichnen. Ihr Vorsitzender Kostadin Kostadinow hetzt regelmäßig gegen Minderheiten und die Presse. Die politische Krise scheint nach der vierten Wahl in eineinhalb Jahren und einer Wahlbeteiligung von nur 39,4 Prozent nicht vorbei zu sein. In den vergangenen zwei Jahren hat keine Regierung länger als ein paar Monate durchgehalten. Das Parteiensystem in dem 6,5 Millionen Einwohner zählenden Land ist zersplittert, zwischen den Parteien herrscht Misstrauen. Borissow war bereits dreimal Ministerpräsident, nach der Wahl im April 2021 gelang es ihm jedoch nicht, eine Regierung zu bilden. Auch diesmal dürfte ihr das nach Auffassung von Beobachtern schwerfallen. Offen ist, ob Borissow mit »Wiedergeburt« koalieren würde (was allerdings nicht für eine Regierungsmehrheit genügt), die sich unter anderem für die Souveränität Bulgariens mit eigenständiger Währung, einem Austritt aus EU und der Nato einsetzt. GERB ist nicht für eine ungebrochen proeuropäische Politik bekannt, auch wenn sie sich oft so verkauft. So hatte sich die Partei für ein Misstrauensvotum und damit die Absetzung der vorherigen proeuropäischen Regierung unter Petkow eingesetzt. Das Misstrauensvotum war im vergangenen Juni mit den Stimmen von »Wiedergeburt« und DPS erfolgreich. In Borissows Regierungszeit legte das Land ein Veto gegen die Aufnahme Nordmazedoniens in die EU ein, die PP wiederum forderte dessen Aufhebung. Der GERB-Vorsitzende Borissow ließ verlauten, dass er zu Kompromissen bereit sei. Bisher gaben sich die Pro-EU-Kräfte PP und Demokratisches Bulgarien aber nicht gesprächsbereit. Bis eine neue Regierung gebildet wird, führt der russlandfreundliche Präsident Rumen Radew eine Interimsregierung. Auch nochmalige Neuwahlen sind nicht unrealistisch. Die politische Schwäche Bulgariens, in dem ein nicht unbeträchtlicher Bevölkerungsanteil prorussisch eingestellt ist, sieht Russlands Führung gerne. Zudem gibt es nach der Explosion am 8. Oktober auf der strategisch wichtigen Brücke über die Straße von Kertsch, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet, Anschuldigungen aus Russland. Der Geheimdienst FSB behauptet, dass der mutmaßlich an der Explosion beteiligte LKW aus Bulgarien gekommen sei. Auch wenn diese Behauptung fragwürdig ist, kann Russland damit versuchen, Druck auf das Nato-Land auszuüben. Bulgarien nimmt ukrainische Geflüchtete auf und leistet humanitäre Hilfe. Präsident Radew hatte sich aber gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen. Ihm zufolge droht die Gefahr, dass Bulgarien in einen Krieg hineingezogen wird. Die Beziehungen zwischen dem ehemaligen Satellitenstaat der UdSSR und Russland waren im vergangenen halben Jahr von Spannungen geprägt. Die Einladung der russischen Botschafterin Eleonora Mitrofanowa zur geplanten Eröffnungssitzung der bulgarischen Nationalversammlung am 19. Oktober hat bei vielen neugewählten Abgeordneten für Aufruhr gesorgt. Berichten zufolge haben russische Hacker kürzlich in eine größer angelegte Attacke die Websites der Regierung, des Präsidenten, wichtiger Ministerien sowie des Verfassungsgerichts verübt. Im Gespräch mit der Jungle World hebt Ruslan Trad vom Digital Forensic Research Lab (DFR Lab) des Atlantic Council, Verfasser zahlreicher Artikel zur russischen Außenpolitik, hervor, dass in Bulgarien Nato-Truppen stationiert sind und der Fokus Russlands auch auf dem Schwarzen Meer liegt, an das Bulgarien angrenzt. Bulgarien treffe politische Entscheidungen oder vertrete Positionen, die laut russischen Kanälen gegen Russland gerichtet sind. »Der Angriff der Hackergruppe erfolgte vor dem Hintergrund von Anschuldigungen gegen Bulgarien, dessen Regierung sei an der Explosion der Kertsch-Brücke beteiligt gewesen und habe neue Waffen an die Ukraine geliefert.« | Mathias Fiedler | Mathias Fiedler: Nach der Wahl in Bulgarien wird die Koalitionsbildung sehr schwierig | [
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] | Ausland | 20.10.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/42/im-dauerwahlmodus?page=0%2C%2C2 |
Zeitenwende in der Immobilienwirtschaft | Schön zu wissen, wo die Miete hingeht. Das Ruhrstadio in Bochum Seit Jahren geht es dem Immobilienkapital in Deutschland blendend. Auf die Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 hatte die Europäische Zentralbank (EZB) reagiert, indem sie Zinsen senkte und Staatsanleihen aufkaufte. Es gab also günstigere Kredite, aber weniger lukrative Anlagemöglichkeiten. Und so begann im Jahr 2009 ein Boom auf dem deutschen Wohnungsmarkt. Von überall her strömte Kapital in deutsches Betongold, weil dort noch stabile Renditen zu holen waren. Eine Studie der Deutsche Bank Research stellt fest: »Die Nachfrage nach deutschen Immobilien hat seit der Finanzkrise stetig zugenommen.« Für Investoren seien »Immobilien ein Ausgleich für den Mangel an rentierlichen Anleihen« gewesen. Die nominalen Hauspreise stiegen der Studie zufolge in den vergangenen 13 Jahren um 84 Prozent. Gleichzeitig stiegen auch die Mieten in den deutschen Großstädten stark an. Immer wieder prognostizierten Analysten in den vergangenen Jahren ein Ende dieses Booms, doch wann er endet, lässt sich nur schwer vorhersagen. Anfang Juni machte Rolf Buch, der Vorstandsvorsitzende des deutschen börsennotierten Immobilienkonzerns Vonovia, mit einer Ankündigung Schlagzeilen, die für Hunderttausende Mieterinnen wie eine Drohung geklungen haben muss. Dem Handelsblatt sagte er: »Wenn die Inflation dauerhaft bei vier Prozent liegt, müssen auch die Mieten künftig jährlich dementsprechend ansteigen.« Nachdem Buch für diese Aussage kritisiert worden war, versuchte er wenige Tage später auf Twitter, die Wogen zu glätten. Er habe im Handelsblatt keine Mieterhöhung angekündigt. Allerdings sorge die Inflation für steigende Kosten, etwa bei Löhnen oder im Neubau und werde sich daher mittelfristig auch auf die Mieten auswirken. Dass Vonovia womöglich bald Mieten erhöht, hat wohl einen anderen Grund, nämlich das sich abzeichnende Ende des Ankaufs von Staatsanleihen und der Niedrigzinsphase, wie es die EZB-Präsidentin Christine Lagarde für den Sommer angekündigt hat. Seit Monaten sinkt der Aktienkurs der Vonovia. Durch die Übernahme der Deutsche Wohnen im vorigen Jahr hat sich der Konzern stark verschuldet. Steigen nun die Zinsen, ist das für die Vonovia eine schlechte Nachricht, denn Immobilien würden dadurch als Anlageobjekt an Attraktivität verlieren. In der Studie von Deutsche Bank Research heißt es dazu, »das traditionelle Kerngeschäft von Pensionsfonds und Versicherungen« bleibe der Anleihemarkt. Sie würden »ab einem gewissen Zinsniveau Anleihen wieder gegenüber Immobilien präferieren«. Bislang beruhten die Renditen von Vonovia vor allem auf sogenannten Buchwertgewinnen – also einer stetigen Höherbewertung seines Wohnungsbestandes auf Basis der steigenden Immobilienpreise. Steigende Zinsen könnten dem ein Ende bereiten, da Kapital aus dem Immobiliensektor in andere Anlagen, etwa Staatsanleihen, abfließen dürfte. Die Mieterhöhungen sind wohl als Signal an die Anleger der Vonovia zu verstehen, dass der Konzern aus seinen mehr als 500 000 Wohnungen auch ganz konventionell Gewinne schöpfen kann. Einsparungen bei Instandhaltungen, Neubau und Modernisierungen sowie der Verkauf von Wohnungsbeständen sind weitere Möglichkeiten, sich zu konsolidieren. Das Geschäft der Immobilienwirtschaft könnte in Zukunft schwieriger werden. Derzeit steigen bereits die Bauzinsen, also die Zinsen, die bei Krediten zum Hauskauf, für Modernisierungen oder Neubauten anfallen. Auch der Stopp der KfW-Förderung für energieeffiziente Neubauten und Sanierungen und die durch den Krieg in der Ukraine stark steigenden Baukosten sowie Materialknappheit machen Investitionen in Neubau wie in Modernisierungen immer weniger rentabel. Einer Umfrage des Unternehmensverband GdW von Anfang Mai zufolge sehen sich rund zwei Drittel der »sozial orientierten Wohnungsunternehmen« gezwungen, Neubauprojekte zurückstellen, fast ein Viertel muss Pläne für den Bau neuer Mehrfamilienhäuser vollständig aufgeben. Damit dürfte es der privaten Immobilienwirtschaft zukünftig schwerer fallen, sich als »Lösung« der Wohnungskrise zu verkaufen. Zugeständnisse wie ein freiwilliger Verzicht auf Mieterhöhungen sind derzeit ebenso so wenig zu erwarten wie feste Zusagen beim Wohnungsneubau. Für Mieterinnen und Mieter ist diese Zeitenwende daher kein Grund zur Hoffnung. »Rekord-Kosten belasten Deutschlands Mieter«, warnte jüngst die Vermietungsplattform Immobilienscout 24 mit Bezug auf steigende Energiekosten und Mieten. Die Wohnungsmärkte bleiben angespannt und bislang gibt es kaum Anzeichen, dass die Politik ihren Kuschelkurs gegenüber der Wohnungswirtschaft aufgibt. | Philipp Möller | Philipp Möller: Die Zinswende verschlechtert das Geschäftsklima für Wohnungsunternehmen | [
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] | Inland | 16.06.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/24/zeitenwende-der-immobilienwirtschaft?page=0%2C%2C0 |
Von der Leine gelassen | Wenn am 1. Oktober gewählt wird, geht der wohl unappetitlichste Wahlkampf in der jüngeren Geschichte Österreichs zu Ende. Vorbei dürfte es dann auch mit der Koalition zwischen ÖVP und dem Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) sein: Allen Prognosen zufolge wird das Bündnis, eine neoliberale Abspaltung von der FPÖ, das am 1. Oktober vergangenes Jahr von Jörg Haider gegründet wurde, den Einzug in den Nationalrat nicht schaffen. Damit wäre wohl endlich auch Haider Geschichte. Das drohende politische Ende vor Augen, konzentriert sich das BZÖ auf Kärnten, wo man hofft, ein Direktmandat zu erringen. Nur hier weist die Truppe unter Landeshauptmann Haider einen gewissen Organisationsgrad auf. Und weil man in Kärnten eine Mehrheit nur gegen die slowenische Minderheit gewinnen kann, versuchte sich Haider intensiver als jemals zuvor als deutschnationaler »Abwehrkämpfer«. Offen setzte er sich über Verfassung und Staatsvertrag hinweg, als er die Aufstellung weiterer zweisprachiger Ortstafeln verhinderte. Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs kündigte er in Inseraten unter dem Titel »Kärnten wird einsprachig« gar die gänzliche Streichung der slowenischen Ortsbezeichnungen an. Bundesweit schickt das BZÖ den ehemaligen FPÖ-Generalsekretär Peter Westenthaler ins Rennen. Mit der Ankündigung, er wolle Innenminister werden, um dann höchstpersönlich den »Ausländeranteil« um die versprochenen 30 Prozent zu reduzieren, machte er seinen ehemaligen Kameraden von der FPÖ den Status als die größten Inländerfreunde streitig. Aber Westenthaler verdanken wir auch den (unfreiwillig) komischsten Beitrag: Im Fernsehen präsentierte er einen Brief des Alpenvereins, in dem auf die Forderung eines prominenten Vertreters der muslimischen Gemeinde, die Gipfelkreuze durch Halbmonde zu ersetzen, eingegangen wurde. Was als Beleg für die drohende Islamisierung herangezogen worden war, entpuppte sich als Aktion einer Spaßguerilla, die mit dieser Fälschung den Rechtspopulismus vorführen wollte. Von sich reden machte auch der Zweite auf der BZÖ-Bundeswahlliste, Veit Schalle. Der ehemalige Chef eines großen Lebensmittelkonzerns bezeichnete gegenüber dem Nachrichtenmagazin profil das NS-Wirtschaftsprogramm als »beeindruckend«. Zuvor hatte er die SlowenInnen darauf hingewiesen, dass sie in Kärnten nur ein »Gastrecht« hätten. Vergangene Woche sorgte ein Interview, das der deutsche Sozialwissenschafter Oliver Geden im Jahr 2004 mit dem späteren Staatssekretär der BZÖ, Eduard Mainoni, geführt hatte, für Aufregung: Damals hatte Mainoni gestanden, dass die ÖVP-FPÖ-Regierung mit den Entschädigungszahlungen an ehemalige ZwangsarbeiterInnen bloß an internationaler Reputation gewinnen wollte: »Da haben wir uns eingekauft.« Die Zahlungen seien initiiert worden, um nach der internationalen Isolation der schwarz-blauen Koalition eine »liberale« Haltung zu signalisieren. Weil mit diesem Geständnis die zentrale Legitimationsstrategie der rechtskonservativen Koalition in sich zusammenbrach, reagierten ÖVP-Politiker prompt. Nationalratspräsident Andreas Khol wies Mainonis Offenheit »entrüstet zurück«: »Das war Ethik und nicht Kalkül.« Aus dem Konkurrenzkampf um das rassistisch-autoritäre Stimmpotenzial dürfte die FPÖ als eindeutige Siegerin hervorgehen. Ihr werden über zehn Prozent der Stimmen prognostiziert. Mit Parolen wie »Daham (Zu Hause, H. S.) statt Islam« oder »Pensionen statt Asylmillionen« und Forderungen wie der nach der Einführung eines Verwaltungsstraftatbestandes »Anpassungsverweigerung« oder der Entziehung der Staatsbürgerschaft bei »fortgesetzter politischer Agitation« will die Partei an alte Oppositionszeiten anknüpfen. Nach der Spaltung der Freiheitlichen in einen neoliberal-postfordistischen und einen nationalsozial-fordistischen Flügel ließen Letztgenannte jede Zurückhaltung fallen. Der Parteivorsitzende der FPÖ, Heinz-Christian Strache, wie die gesamte Führungsmannschaft burschenschaftlich sozialisiert, signalisierte schon im Mai angesichts einer angeblichen »Überfremdung« seine Bereitschaft, »den Kampfanzug anzuziehen«. Auch mit den zahllosen Verweisen auf die Türkenkriege und der Rede vom »Überlebenskampf unserer Kultur« wurde an rassistische Militanz appelliert. Prompt deponierten mutmaßlich Neonazis am 11. September einen Sprengsatz vor dem Büro der Muslimischen Jugend Österreich. Aber auch die SPÖ wollte nicht abseits stehen und stellte im Juni ein »Zehn-Punkte-Programm« zur Zuwanderung vor. Diese sei »österreichischen Interessen« zu unterwerfen. Und um die »österreichische Identität« macht sich nun auch die SPÖ öffentlich Sorgen. Die von Seiten der Konservativen angestrebte und in Teilen zunächst auch erfolgreiche »Zähmung« der freiheitlichen Radaubrüder entpuppte sich als wenig nachhaltig. Kaum aus der Regierungsverantwortung entlassen, positionierte sich die FPÖ offener als je zuvor im Rechtsextremismus. Wahlaufrufe von prominenten Neonazis und die Teilnahme des NS-Kaders Gottfried Küssel an einer freiheitlichen Veranstaltung in Braunau am 26. August ließen sogar das BZÖ von einer »braunen Partei« sprechen. Dass nun die ÖVP verspricht, mit der FPÖ keine Koalition zu bilden, sollte nicht allzu ernst genommen werden. Bereits im Jahr 2000 ließ sich Wolfgang Schüssel entgegen aller vorherigen Beteuerungen von der FPÖ zum Kanzler machen. Aber dennoch weist diesmal mehr auf eine ÖVP-SPÖ-Koalition hin. Die Freiheitlichen können sich dann in der Opposition wie schon unter Haider als die bessere Sozialdemokratie (»soziale Heimatpartei«) regenerieren. Wenn FPÖ und BZÖ auch die Grenzen politischer Gestaltungsmöglichkeiten im Zeitalter von Neoliberalismus und Globalisierung anerkennen mussten, so konnten sie die Regierungsbeteiligung doch in mehrerlei Hinsicht nutzen: Hier wäre an erster Stelle die Besetzung führender Stellen im Beamtenapparat und in der staatsnahen Wirtschaft zu nennen. Aktuell sorgt die Unverschämtheit, mit der Burschenschafter sich im Forschungszentrum Seibersdorf, der größten außeruniversitären Forschungseinrichtung Österreichs, breit machten, für Aufregung. Dauerhafte Spuren hat die freiheitliche Regierungsbeteiligung im universitären Bildungsbereich hinterlassen. Studiengebühren und die weitgehende Einschränkung studentischer Mitbestimmung verbuchen FPÖ/BZÖ öffentlich auf ihrem Konto. Hingegen wäre die weitere Verschärfung der Migrationspolitik wohl auch unter sozialdemokratischer Mitverantwortung erfolgt. Dies hat die SPÖ auch mit ihrer Zustimmung zum umstrittenen Fremdenrechtspaket deutlich gemacht. | Heribert Schiedel | Heribert Schiedel: | [] | Ausland | 27.09.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/39/von-der-leine-gelassen?page=0%2C%2C3 |
Rechte auf See | In den vergangenen Wochen versuchte eine Gruppe internationaler Funktionäre der »Identitären Bewegung« (IB), mit dem Schiff »C-Star« im Mittelmeer gezielt die Seenotrettung dort arbeitender NGOs zu stören. Bedingt durch lokale Proteste und eine kritische Berichterstattung in vielen internationalen Medien gelang es den Rechtsextremen zwar kaum, tatsächlich ihre Pläne zu verwirklichen und plakative Bilder zu produzieren. Das Geschäft der Flüchtlingsabwehr auf dem Mittelmeer erledigt die EU-Agentur Frontex im Verbund mit der sogenannten Küstenwache Libyens weit effizienter. Dennoch kann nicht von einer völligen Niederlage für die IB die Rede sein. »Ich konnte keine Banner auf Gebäuden mehr sehen«, schrieb Martin Sellner, ein führender Planer der Kampagne, nach Wochen auf See in einem ersten Fazit auf der Website von Götz Kubitscheks neurechtem Magazin Sezession über die Motivation für die identitäre Schiffsfahrt. »Nach drei Jahren identitärem Aktivismus« hätten ihn »Aktionsformen wie die symbolische Okkupation« nur noch gelangweilt. Was klingt wie das Fazit eines des langjährigen Politaktivismus überdrüssigen extremen Rechten, fasst die Entwicklung der IB in den vergangenen Jahren zusammen. Es ist das Bild einer international bestens vernetzten Gruppe von Reaktionären, deren führende Mitglieder in einem Prozess der stetigen Fanatisierung und Verrohung gegenüber sich selbst und anderen nach neuen und immer drastischeren Formen des Aktionismus suchen – gleichgültig, ob diese das eigene Leben und das anderer gefährden könnten. Sellner selbst verklärt diesen Prozess, der den Tod als eigentlich unhintergehbares Moment der »identitären Bilderproduktion« billigend in Kauf nimmt, »als den maximalen Akt des Widerstands, der notwendig mit maximalem Risiko verbunden war«, einem »Risiko für Leib und Leben«. Monate zuvor hatten die Identitären unter Federführung österreichischer Mitglieder begonnen, Geld für die Schiffskampagne zu sammeln. Die Österreicher haben Erfahrung in der Finanzierung größerer Vorhaben, auch wenn sie diese manchmal nicht realisieren. So haben sie nicht nur das Gros der eigenen Organistaionsstrukturen durch Spenden finanziert, sondern auch mit dem Projekt einer rechtsextremen App namens »Patriot Peer«, die sich allerdings seit Jahren in der Entwicklung befindet, erste Erfahrungen im Aufbringen größerer Geldsummen gesammelt. Ebenso wie bei »Patriot Peer« setzte die IB auch bei »Defend Europe«, wie die Identitären ihr Schiffsprojekt großspurig nannten, von Beginn an auf eine sich von der gewohnten Inszenierung absetzende Ästhetik. Eigene Logos, die das sonst inflationäre Lambda-Symbol nur dezent aufscheinen ließen, eine eigene Farbgebung, eigene Twitter- und Facebook-Accounts und eine Kommunikationsstrategie, die sich auf wohlwollende Berichterstattung in nahestehenden Magazinen wie Info-Direkt oder Compact stützte – all das sollte helfen, den Anschein von etwas Neuem zu erwecken. Dass Personen aus dem Umfeld der rechtsextremen Organisation »Ein Prozent für unser Land« die Kampagne über weite Strecken dokumentierten und teils versuchten, selbständige Analysen und Berichte zu verfassen, ist wohl gleichfalls dieser Idee geschuldet. Die Funktionäre suchen in einem Prozess der Fanatisierung und Verrohung nach drastischeren Formen des Aktionismus. Neu war tatsächlich, dass die Gruppe, die das Vorhaben maßgeblich ausführen sollte, sich nicht nur von Beginn an aus internationalen Funktionären zusammensetzte, sondern dass sie konsequent versuchte, der Internationalität auch durch eine mehrsprachige Medienkommunikation gerecht zu werden. Vor allem über die Accounts »DefendEuropeID« auf Twitter und Facebook posteten die Identitären teils mehrmals am Tag mehrsprachige Nachrichten und versuchten, mit Hilfe kleinerer englischsprachiger Videos das Bild der Schiffsreise zu prägen. Weil mit Lauren Southern eine bekannte Figur der nordamerikanischen Alt-Right für die Sache geworben und sie in den ersten Tagen sogar selbst begleitet hatte, war die mehrsprachige Berichterstattung wohl auch der Internationalität der Spender geschuldet. Sellner gab in seinem Resümee auf der Website der Sezession zu, dass die amerikanischen Rechten das Projekt maßgeblich mitfinanziert hatten. Der »Neuen Rechten«, die sich über diverse gemeinsame Vorhaben und Großveranstaltungen, wie zum Beispiel den »Kongress der Verteidiger Europas« in Linz, hervorragend vernetzt hat, sind demnach im deutschsprachigen Raum Grenzen bei der Finanzierung gesetzt. Aktionen wie »Defend Europe« können nur durch größere Spenden von außerhalb Europas realisiert werden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Form der finanziellen Zusammenarbeit einmalig war oder ob sie zur Regel wird. Die starke Präsenz nordamerikanischer Teilnehmer auf den Veranstaltungen der IB in den vergangenen Jahren lässt vermuten, dass die Bande zwischen den Gruppen eher enger werden. Für die Identitären typisch war das Merchandising: Direkt auf den Websites konnte man T-Shirts als Fanartikel erstehen. Manchmal ist der extrem rechte Aktivismus eben nicht nur ein Akt des »maximalen Widerstandes«, sondern auch des schnöden Geschäfts. Was in der medialen Fokussierung auf die Schiffskampagne und auf einige der beteiligten Kader fast immer unterging, ist die Tatsache, dass die IB in Europa längst nicht mehr nur aus den wenigen Funktionären besteht, die sich an Bord der »C-Star« aufhielten, sondern in mehreren Ländern über sich stetig verfestigende Strukturen verfügt. So fand gleichzeitig mit »Defend Europe« in Frankreich die jährlich von französischen Gruppen organisierte »Sommerakademie« unter dem Titel »Verteidiger Europas« statt – ein Slogan, der mittlerweile viele Gruppen der extremen Rechten eint. Nach eigenen Angaben nahmen über 160 Personen unter anderem aus Deutschland, Österreich und der Schweiz teil. Das Sommercamp war in den vergangenen Jahren immer wieder der Ausgangspunkt für eine größere internationale Vernetzung.
Zugleich initiierte der in Halle an der Saale ansässige IB-Ableger, die Gruppe »Kontrakultur«, mit Unterstützung aus dem Umfeld von Kubitscheks »Instituts für Staatspolitik« und der AfD ein Hausprojekt (Jungle World 29/2017), das nicht von ungefähr an die neofaschistische »Casa Pound« in der italienischen Hauptstadt Rom erinnert. Im Frühjahr waren Führungsmitglieder aus Halle in Italien auf einem Kongress des zur »Casa Pound« gehörenden »Blocco Studentesco« anwesend. Hinzu kommen noch diverse Informationsstände und Banneraktionen, die kleinere Gruppen in den vergangenen Wochen in Deutschland und Österreich verantworteten.
Obwohl bei »Defend Europe« vieles nicht im Sinne der Organisatoren lief: Dass das Vorhaben überhaupt verwirklicht wurde, zeugt von einem immer stärkeren Zusammenrücken reaktionärer Gruppen und Einzelpersonen. Zudem zeigt es eine in ihrer Gefährlichkeit nicht zu unterschätzende Fanatisierung einzelner Funktionäre, die sich längst nicht mit den bislang von ihnen erprobten Formen des Aktivismus begnügen wollen und auf ihrer Suche nach immer drastischeren Formen der politischen Intervention in einer Spirale der Todessehnsucht, des narzisstischen Geltungsbedürfnisses und des Verschwörungswahns befinden. »Die Leute wollten mehr und auch wir wollten mehr«, beschreibt Sellner ungewollt treffend diese Tendenz. | Eva Grigori,Jerome Trebing | Eva Grigori,Jerome Trebing: Die »Identitäre Bewegung« war auf großer Fahrt gegen Flüchtlinge | [
"Identitäre"
] | Antifa | 31.08.2017 | https://jungle.world//artikel/2017/35/rechte-auf-see |
Alle lieben Apo | Wenn der DKP-Opa mit dem Autonomen und dem Vegananarchisten zum kurdischen Märtyrergruß den Arm erhebt und ein V mit den Fingern bildet, ist es höchste Zeit, sich mit der Linken und ihrem Verhältnis zur PKK zu beschäftigen. Wenn Abdullah Öcalan Monchi von Feine Sahne Fischfilet oder Torsun von Egotronic als Vorbild ablöst und man beim Gang in die Szenekneipe von überzeugten Anarchisten mit Schals in kurdischen Farben und einem fröhlichen »Biji« begrüßt wird, dann weiß man, die radikale Linke hat wieder mal ein Affirmationsobjekt gefunden. Es gibt drei Typen von Kurdistan-Fans in der deutschen radikalen Linken. Da sind die klassischen Antiimps und Marxisten-Leninisten, die endlich mal wieder eine nationale Befreiungsbewegung feiern können. Bewaffneter Kampf ist bei diesen Gruppen ja sowieso ein Fetisch und so schmücken Blogs, Facebook und Instagram-Profile aus diesem Lager zahlreiche Bilder von kurdischen Kämpferinnen mit Kalaschnikows in der Hand. Die MLPD trägt auf jeder Demonstration gegen den Krieg in Afrin Schilder mit der Aufschrift »Freiheit für Kurdistan und Palästina!« Der antiimperialistische Traum aus den siebziger Jahren ist zurück. Ein unterdrücktes Volk im Kampf, und das auch noch im Zeichen des roten Sternchens. Aber auch im eher »antideutschen« Millieu herrscht Begeisterung. In Rojava zeigen die Kurden ein linkes Selbstverständnis, bekämpfen Islamisten und die Absolution aus Israel gibt es auch noch. Israel unterstützt die Autonomie im Nordirak und auch über die kurdischen Kämpfer in Rojava sind aus Jerusalem kaum kritische Worte zu hören. Die dritte Gruppe der Kurdistanfans sind die Anarchisten. Für sie ist Rojava und der vom PKK-Chef Abdullah Öcalan propagierte »Demokratische Konföderalismus« eine Weiterentwicklung der Theorien des amerikanischen Ökoanarchisten Murray Bookchin. Bookchin, mit dessen Schriften sich Öcalan im Gefängnis intensiv auseinandergesetzt hat, hatte eine Gesellschaftsordnung entworfen, die dezentral, demokratisch und ökologisch sein soll. Seit 2005 wird von der PKK ein darauf aufbauendes Gesellschaftsmodel entwickelt. In mehreren Büchern äußert Öcalan seine Gedanken dazu, wie man eine solche Gesellschaft aufbaut. Der Norden Syriens, von den Kurden als Rojava (Westkurdistan) bezeichnet, wird als erstes Gebiet der Erde genannt, in dem dieses Konzept umgesetzt werde. Anarchistinnen und Anarchisten sind es auch, die die Praxis in Rojava bisher am härtesten kritisieren. So berichtet eine Anarchistin aus dem Rheinland in der Zeitschrift Găidào, dass zwar viele Strukturen in Rojava von Männern und Frauen gleichermaßen besetzt seien, aber die alten Männer noch immer die Fragen beantworteten, wenn es darauf ankäme. Insgesamt erschiene die Rolle der PKK undurchsichtig. In anarchistischen Gruppen gibt es eine kontroverse Debatte. Denn die Kader der PKK haben politische Erfahrungen, sie drohten daher die Strukturen in Rojava zu dominieren. Viele von ihnen kämen auch nicht aus Westkurdistan, sondern seien Kämpfer aus der Türkei und dem Irak. Eine weitergehende Kritik äußerte die »Antideutsche Aktion Berlin«. Die Gruppe kritisiert die Unterdrückung von Minderheiten in den von PKK und PYD beherrschten Gebieten, in arabischen Dörfern seien Kriegsverbrechen begangen worden. Außerdem hätten sich diese beiden Organisationen mit dem Assad-Regime arrangiert. Genaues über das Handeln und die Struktur der kurdischen Linken zu erfahren ist schwierig. Auch bei Reisen nach Rojava erhalten Besucher nur eingeschränkte Einblicke. Zweifellos sind die politischen Verhältnisse dort viel besser als unter der Herrschaft Assads oder der Jihadisten, doch entsprechen sie nicht den revolutionsromantischen Mythen. Es gibt gute Gründe, sich nicht vorbehaltlos dem kurdischen Befreiungsnationalismus zu verschreiben. Auch eine kritische Distanz zur PKK muss niemanden davon abhalten, sich gegen den türkischen Krieg in den kurdischen Gebieten zu stellen und repressive Maßnahmen in Deutschland zu kritisieren. | Sebastian Weiermann | Sebastian Weiermann: Deutsche Linke lieben die Kurden | [
"Kurden",
"PKK",
"Rojava"
] | Thema | 05.04.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/14/alle-lieben-apo?page=0%2C%2C3 |
Das Startseitenproblem | Zeig mir deine Startseite, und ich sage dir, wer du bist! Google, ja sicher. Aber welche Google-Seite? Die mit dem Suchfeld? Sie verrät, dass der User immer noch Hilfe braucht, um irgendwohin zu gelangen. Vorsichtiger Mensch, vermutlich Angestellter oder Student, SPD-Wähler. Die allgemeine Google-News-Seite? Hier will jemand Informationen und Nachrichten über die Welt erlangen, ohne sich auf ein bestimmtes Medium festzulegen. Typus leitender Angestellter oder Selbständiger, bildet sich viel auf seine »Medienkompetenz« ein, FDP-Wähler. Oder gar eine personalisierte Google-Seite? Individualist, Narziss, will von allem ein bisschen, und das soll um ihn selbst angeordnet sein. CSU- oder Linkspartei-Wähler. Es folgen die Startseiten der auch im Netz präsenten Medien wie Spiegel-online, Süddeutsche.de oder Faz.net, wahlweise auch Tagesschau.de oder Bild.T-Online.de. So etwas wählen Medienkonformisten mit schwachem Selbstbewusstsein, also Akademiker und Arbeiter. CDU-, SPD- und Wechselwähler. Schnell weg von den Medien und hin zu den allgemeinen Startseiten jenseits von Google! Jüngere User bevorzugen die sozialen Netzwerke. Immer mehr gehen mit ihrem MySpace- oder Facebook-Account ins Internet. Typus: jung, dynamisch, erfolglos. Wechselwähler, Nichtwähler, wählen das, was alle wählen. Die älteren bleiben bei dem, was ihnen vertraut ist: AOL, GMX, Ebay, Otto-Versand. Hier regiert die nackte Angst vor den Weiten des Netzes, vor denen man in den Muff der Käseglocke flieht. CDU-Wähler, Wechselwähler. Und dann gibt es ja noch about:blank. www.jump100.de www.google.de/igoogle | Maik Söhler | Maik Söhler: | [] | dschungel | 23.08.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/34/das-startseiten-problem |
Knast wegen Blasphemie | Emna Chargui Kleine Ursache, große Wirkung: Anfang Mai teilte die tunesische Bloggerin Emna Chargui auf ihrer Facebook-Seite ein offenbar in Frankreich geschaffenes satirisches Posting, das – auch als »Coronasure« bezeichnet – im Stil einer Koransure zum Händewaschen und social distancing auffordert. Vergangene Woche verurteilte ein Gericht die 27jährige in erster Instanz zu sechs Monaten Haft und umgerechnet etwa 620 Euro Geldstrafe wegen »Anstiftung zum Hass zwischen Religionen«, de facto also wegen eines Blasphemiedelikts. Chargui hat Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt, über das im September oder Oktober entschieden werden soll; sie bleibt bis dahin in Freiheit.
Hunderte haben mittlerweile das Posting zusammen mit dem Hashtag #FreeEmnaChargui geteilt, um die junge Frau zu unterstützen, die sich als Atheistin begreift und sich 2012 das Tattoo »Outlaw« stechen ließ. Seit sie das Posting teilte, hat sie, nicht zuletzt von religiösen Tugendwächtern, Hunderte Todesdrohungen und Androhungen sexueller Gewalt erhalten. In einem Telefonat teilte sie der New York Times mit: »Ich dachte, es sei ein guter Weg, den Leuten bewusst zu machen, sie sollten sich die Hände waschen und mit dem Coronavirus vorsichtig sein, mit einem Stil, den alle kennen.«
Das erstinstanzliche Urteil gegen Chargui löste eine scharfe Polemik in Tunesien aus. Ein Artikel auf dem kritischen Webportal Nawaat.org erinnert unter anderem an die beiden Blogger Ghazi Béji und Jabeur Mejri, die 2012 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt wurden, weil sie auf Facebook Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatten. Zudem zitiert der Artikel Wahid Ferchichi, Professor für öffentliches Recht und Gründer der Tunesischen Vereinigung zur Verteidigung der individuellen Freiheiten (ADLI): »Seit 2011 haben wir einen riesengroßen Akteur auf der politischen Bühne: den politischen Islam. Er stützt sich grundsätzlich auf das Heilige, um seine Macht und seine Manipulation der öffentlichen Meinung zu festigen.« Und er fügte hinzu: »Das Ziel ist auch, zu zeigen, dass der Islam und die Identität in Gefahr sind. Das Ziel ist, ihren Einfluss über eine bestimmte Bevölkerungsgruppe auszuweiten, indem man auf einen zu bekämpfenden Feind deutet: die Laizisten, die Künstler, die Freidenker.« | Bernd Beier | Bernd Beier: Die tunesische Bloggerin Emna Chargui wurde wegen Blasphemie zu einer Haft verurteilt | [
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] | Hotspot | 23.07.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/30/knast-wegen-blasphemie?page=0%2C%2C3 |
Herrin über ihr eigenes Bild | Die Wahrheit der Masken: Shermans Arbeit »Untitled #322« von 1996 Die Bremer Weserburg zeigt noch bis zum Februar kommenden Jahres Arbeiten der Fotografin Cindy Sherman aus der Sammlung von Thomas Olbricht. Im Prinzip eine schöne Sache. Jedoch, um es gleich zu Beginn zu sagen: Zeigen ist buchstäblich der passende Begriff, kuratiert wurde hier nichts. Man scheint genommen zu haben, was zu kriegen war, und hat dann damit uninspiriert die Wände vollgehängt. Wenigstens wurden die meisten Arbeiten nach Serien sortiert und gemeinsam gezeigt, ansonsten scheint man nach dem Prinzip »Hier an die Wand muss noch ein großes Foto, da drüben in die Ecke passt noch was Kleines!« vorgegangen zu sein. Dass es keiner Fotografie guttut, in einer kleinen, dunklen Nische direkt neben einem Feuerlöscher präsentiert zu werden, sollte selbstverständlich sein. Am Katalog hat man mehr Freude als an diesem Museumsbesuch. Apropos Katalog: Die Weserburg produzierte keinen eigenen, sondern verkauft einen älteren aus Dänemark, der mit einer deutschsprachigen Einlage bestückt wurde. Auf dem Deckblatt schrieb man den Namen der Künstlerin falsch – Shermann. Das ist ärgerlich. Cindy Sherman ist eine der erfolgreichsten und bekanntesten lebenden Künstlerinnen. Die Tatsache, dass man sie ausstellt, scheint mittlerweile wichtiger als eine echte Auseinandersetzung mit ihrem Werk. Cindy Sherman wurde 1954 im US-Bundesstaat New Jersey geboren, studierte zusammen mit den ebenfalls wichtigen Konzeptkünstlern Robert Longo und Richard Prince und wurde mit ihnen und anderen vom Kurator Douglas Crimp 1977 in der sagenumwobenen Ausstellung »Pictures« in New York präsentiert. Die sogenannte »Pictures Generation«, die daraufhin entstand, zeichnete sich dadurch aus, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter medial vermittelte Bilder wie die der Werbung einer kritischen Überprüfung unterzogen. Die feministische Kunstkritik erkannte in der jungen Künstlerin daraufhin ihr neues Postergirl. Dieses wollte diese Rolle aber nicht erfüllen und lehnte dieses Label für ihre Kunst ab. Noch während ihres Studiums entwickelte Sherman ihre bis heute aktuelle, zwischen Performance und Fotografie pendelnde Methode. Sherman nutzt ihren Körper einerseits, um mit ihm weibliche Rollenklischees durchzuspielen, andererseits fotografiert sie diese angenommenen Identitäten dann in einer Weise, die den männlichen Blick zum Thema macht. Ihren Durchbruch schaffte sie 1977 mit der Serie »Untitled Film Stills«, die in Teilen auch in Bremen zu sehen ist. In 70 Schwarzweißbildern erscheint sie als Schauspielerin in verschiedenen Szenen. Szenen aus Filmen, die es nicht gibt, aber hätte geben können, alle im Stile des amerikanischen Autorenkinos. Sherman räkelt sich, weint, lacht, öffnet Briefe, geht durch die Straße, raucht, ist einsam. Die Inszenierungen von Frauen im Film werden von ihr minutiös ein zweites Mal in Szene gesetzt. Die feministische Kunstkritik erkannte in der jungen Künstlerin daraufhin ihr neues Postergirl. Dieses wollte diese Rolle aber nicht erfüllen und lehnte dieses Label für ihre Kunst ab. Wer da wen missversteht oder verkennt, lässt sich wohl nicht klären. Schließlich sind Shermans Themen klassisch feministische: Sex, Gewalt, die Zurichtung von Frauen auf eine bestimmte Rolle. Dabei ist Sherman stets Herrin über den Blick auf den Körper, den sie jeweils für sich erfunden hat. Der Kunstmarkt goutiert das, zwingt sie aber gleichzeitig, ihre Selbstinszenierungen immer weiter fortzusetzen. Die Serie »Broken Dolls« von 1999, in der Sherman wohl absichtlich auf sich selbst verzichtete und stattdessen zerstückelte Puppen fotografierte, ist eher ein Nebenschauplatz in ihrem Werk, nicht echt Sherman. In der folgenden Reihe »Head Shots (Hollywood /Hampton-Types)« aus den Jahren 2000 bis 2002 zeigt sie sich wieder selbst. Hatte jeder Körper der »Film Stills« an sich etwas Glaubhaftes und Natürliches, ist jeder Körper, jedes Gesicht der »Head Shots« eine Farce. Man sieht grotesk überzeichnete Damen der Gesellschaft: Da rutschen Brustprothesen aus dem Negligé, die Nase ist offensichtlich angeklebt und die Zähne strahlen viel zu weiß. Man kann sich sicher sein, dass jedes dieser Bilder genau so aussieht, wie es aussehen soll, dass jede Prothese genauso sichtbar ist, wie sie sein soll, dass jedes Detail geplant ist. So unecht die Körper wirken, so wahrhaftig sind die Posen. Diese Figuren sind Frauen, die ihre Jugendlichkeit verloren haben, sie aber verzweifelt versuchen aufrechtzuerhalten. Die Blicke sind aufrichtig und voller Unsicherheit, manchmal Trauer. Diesen Blicken merkt man an, dass diese Frauen längst wissen, dass sie zum alten Eisen gehören und sich mühen und plagen können, wie sie wollen: schöner wird’s nicht mehr. »Altern in Würde« wird als das gezeigt, was es ist: ein schwer zu erreichendes Ideal, bei dem Frauen, die ihm nacheifern, oft entweder unsichtbar oder lächerlich werden. | Hannah Wolf | Hannah Wolf: In Bremen werden Arbeiten der Fotokünstlerin Cindy Sherman gezeigt | [
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] | dschungel | 02.08.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/31/herrin-ueber-ihr-eigenes-bild?page=0%2C%2C3 |
Fortsetzung folgte | Die Friedensbewegung gewann mit schlichten Weltbildern zu Zeiten des Irakkriegs die Massen: Alle gegen den imperialistischen Bösewicht USA, der einmal mehr ein armes, kleines und schwaches Land angriff, und für Old Europe, den Club der ehemaligen Kolonialmächte, die zivile Friedensmacht. Auf Demonstrationen wurde die »Achse des Friedens« von Paris über Berlin und Moskau bis Peking gelobt, und mancher bekannte stolz, ein Deutscher zu sein, weil der Bundeskanzler vier Jahre nach dem Überfall auf Jugoslawien mit der Friedenspalme wedelte. Der Antikriegskongress unter dem Titel »Fortsetzung folgt«, der am vergangenen Wochenende im Münchner Gewerkschaftshaus stattfand, unterschied sich angenehm von solchen Manifestationen. Die Referenten auf den Podien kritisierten scharf die Interventionspolitik der Bundesregierung, die Aufrüstung der EU und den Sozialabbau, der auch dazu diene, finanzielle Mittel einzustreichen, um Deutschland im europäischen Tarnanzug als neue Weltmacht zu etablieren. So forderte Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen eine Kampagne gegen die geplante EU-Verfassung, die für ein militarisiertes Kerneuropa unter deutsch-französischer Führung stehe. Immerhin sei auf dem EU-Gipfel in Rom, der als gescheitert gilt, weil man sich nicht auf die Verfassung einigen konnte, ein Präventivkriegskonzept beschlossen worden, erklärte Pflüger. »Der Hauptfeind bleibt im eigenen Land«, betonte Thomas Seibert von Medico International. Die Veranstaltung diente der Mobilisierung gegen die 40. Nato-Sicherheitskonferenz, die Anfang Februar in München stattfinden wird. Allerdings sorgte dieses Motiv auch dafür, dass Differenzen nicht kontrovers ausgetragen wurden. So nahmen die Teilnehmer der Auftaktveranstaltung am vorigen Freitag ungerührt zur Kenntnis, dass die Vertreterinnen des Bündnisses »Krieg ist Frieden« (KIF) die Friedensdemonstrationen des Vorjahres als »populistisches Strohfeuer« rügten. Seibert hatte zuvor die weltweiten Demonstrationen vom 15. Februar 2003 als historisches Ereignis gefeiert. Dagegen sprach Samira von KIF von einer »Feierabendpolitik«. Ihr damaliger Vorschlag, verantwortlichen Politikern »die Türen einzutreten«, sei abgelehnt worden. »Die Restlinke hat sich mit dem Krieg arrangiert, weil hier keine verkohlten Leichen herumliegen«, lautete ihr Fazit. Ariane Brenssell vom Antipatriarchalen Netz Berlin rügte, dass die Geschlechterverhältnisse von den Antimilitaristen, auch auf dem Podium, ausgespart würden. Seiberts Hymne auf die Sozialforen, die er als revolutionäre Idee mit den Sowjets von 1917 verglich, quittierte Brenssell mit dem Hinweis, zum Weltsozialforum in Bombay würden bereits drei Gegenforen vorbereitet. Der Moderator Michael Backmund von der Deutschen Journalistenunion (DJU) versuchte vergeblich, eine Kontroverse zwischen Pflüger und Sabine Leidig von Attac anzustiften, nachdem diese erklärt hatte, die Mobilisierung gegen die Nato-Sicherheitskonferenz sei kein Schwerpunkt ihrer Organisation. Backmunds Frage nach dem Antisemitismusstreit bei Attac ignorierte Leidig einfach. Es kam auch nicht zur Debatte über den Irak, den Krieg und die aktuelle Lage dort. Vor der Veranstaltung wurden sowohl Flugblätter der Arbeiterkommunistischen Partei Irans gegen die Kampagne, zehn Euro für den irakischen Widerstand zu spenden, verteilt als auch die Samstagsausgabe der jungen Welt, in der Werner Pirker unterstellte, die Iraner könnten den Text jenes Flugblatts nicht selbst geschrieben haben, weil er in der Sprache »verwestlichter Intellektueller« gehalten sei. Pflüger stellte auf dem Podium klar, dass für ihn eine Unterstützung militärischer und reaktionärer Kräfte nicht in Frage komme. Man müsse inhaltliche Kriterien aufstellen und den demokratischen und zivilen Widerstand gegen die Besatzungsmacht stärken. »Ich habe da eine leichte Differenz zu Pflüger«, sagte Claus Schreer dazu der Jungle World. Für ihn sei auch bewaffneter Widerstand legitim. In keinem Fall aber wolle er rechten Gruppen und religiösen Fanatikern helfen. Schreer distanzierte sich auch von der Zehn-Euro-Kampagne, die von der Antiimperialistischen Koordination Wien (AIK) initiiert wurde, »solange man nicht weiß, an wen das Geld geht und was für Ziele die vertreten«. Schreer ist Mitglied der DKP und eine der zentralen Personen der Linken in München. Seit Jahren organisiert er den Protest nicht nur gegen die Nato-Sicherheitskonferenz. In einem umstrittenen Beitrag für Indymedia schrieb er vor kurzem, der irakische Widerstand sei so legitim wie die antikolonialen Kämpfe der fünfziger und sechziger Jahre und verglich den Widerstand gar mit dem Kampf der Résistance gegen die deutsche Besatzung. (Jungle World, 3/04) Der Politologe und Autor Sabah Alnasseri, der selbst aus dem Irak emigrieren musste, sagte bei der Auftaktveranstaltung, er habe den Irakkrieg als imperialistischen Krieg abgelehnt, ohne sich mit dem Regime zu solidarisieren. Er räumte aber indirekt einen »Kollateralnutzen« des Krieges ein, wie der Publizist Heiner Möller es nannte, da die irakische Bevölkerung jetzt Meinungs- und Pressefreiheit genieße. Alnasseri wandte sich gegen einen angeblich neuen »Befreiungsimperialismus«, der seiner Meinung nach das ursprünglich linke Konzept, die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen, übernommen habe. Inhaltliche Unterschiede wurden auf dem Kongress deutlich, als Michael Wendl, bei der Landesbezirksleitung der Gewerkschaft Verdi für Wirtschaftsfragen zuständig, erklärte, die Welt befände sich im Übergang zu einem »finanzgetriebenen statt produktionsgetriebenen kapitalistischen Akkumulationsregime«, einem globalen Regime des »Wall-Street-Kapitalismus«. Der Sozialabbau hierzulande komme in erster Linie dem internationalen Finanzkapital zugute. Die These von einem neuen »Euro-Imperialismus«, wie sie etwa Pflüger vertritt, nannte Wendl unbefriedigend. Es war der eher kritische Teil der Friedensbewegung, der sich zu diesem Kongress traf. Eindeutig wurde gegen die Nato, die EU und die Bundesregierung Stellung bezogen. An der Auftaktdiskussion am Freitag nahmen etwa 200 Menschen teil, der Saal war nicht voll besetzt. Zu den Foren und Workshops am Samstag erschien höchstens noch die Hälfte der Leute. Jahrelang hatten nur kleine Gruppen gegen die früher »Wehrkundetagung« genannte Veranstaltung protestiert. Im vergangenen Jahr beteiligten sich wegen des damals bevorstehenden Irakkrieges 25 000 Menschen an einer Demonstration. Ohne einen solchen aktuellen Anlass dürften es in diesem Jahr deutlich weniger Demonstranten sein. Dass die 40. Nato-Sicherheitskonferenz in München auch die letzte sein wird, wie Pflüger und andere hoffen, ist darum kaum zu erwarten. | Peter Bierl | Peter Bierl: | [] | Inland | 14.01.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/03/fortsetzung-folgte?page=0%2C%2C1 |
Lonely Norway | Auf den ersten Blick musste man in den letzten Jahren den Eindruck haben, dass die EU für Norweger im Grunde nur aus der Frage bestand: »Wie hältst du’s mit dem Alkohol?« Bier-, Schnaps-, und Weintrinker sahen in einem Beitritt die einzige Chance, irgendwann ihren Rausch günstig im Supermarkt erstehen zu können, während christlich-fundamentalistische Abstinenzler eine Art dauertrunkene Vorhölle prophezeiten. Die große Befürchtung der meisten norwegischen Politiker lautete dagegen, die Brüsseler Bürokraten würden ihnen das Verbieten verbieten. Nicht ganz zu Unrecht: Staatlich importierte Alkoholika ausschließlich zu staatlich festgesetzten Preisen in staatlich geführten Läden anzubieten, gehört definitiv nicht zu dem, was in der EU unter freiem Wettbewerb verstanden wird. Aber auch ohne Beitritt passt sich Norwegen mittlerweile zunehmend der EU an. Die Nachbarn Schweden und Finnland geraten wegen ihrer Alkoholpolitik schließlich unter Dauerdruck. Am 1. März kürzte gerade erst die finnische Regierung die Alkoholsteuern um 33 Prozent. Eine Flasche Wodka kostet seither z.B. umgerechnet nur noch knapp 18 Euro. Die norwegische Botschaft in Finnland unterrichtete das Sozialministerium umgehend über »die negativen Konsequenzen liberaler Alkoholpolitik«: Der Schnapsverkauf stieg in Finnland in der ersten Märzwoche demnach im Vergleich zum Vorjahr um fast die Hälfte an, es gab 500 Trunkenheitsfahrten mehr, die Anzahl der Gewaltdelikte stieg um 20 Prozent. Der norwegische Sozialminister Ingjerd Schous reagierte jedoch gelassen auf die diplomatische Horrormeldung und betonte, die Regierung denke weiterhin ebenfalls über Preissenkungen nach: »Die Zeit, die wir mit einem deutlich höheren Preisniveau leben können als unsere Nachbarländer, ist einfach begrenzt. Es gibt einen Dominoeffekt, wonach unsere Nachbarländer nach und nach ihre Preise senken müssen, da die Einfuhrquoten innerhalb der EU-Länder fast unbegrenzt sind.« Die bisherigen traditionellen politischen Mittel der Alkoholpolitik wie hohe Preise und begrenzte Zugänglichkeit würden dadurch immer wirkungsloser. Schous weiß zudem sehr wohl, dass es schon lange nicht mehr nur um Alkohol geht: »Die Dänen kaufen ihre billigen Waren in Deutschland, während die Schweden zu ihren dänischen oder finnischen Nachbarn fahren. Die Finnen reisen nach Estland und die Norweger zum Svinesund.« Preisbewussten Norwegern gilt der westschwedische Svinesund als Handelszentrum, riesige Supermärkte und ein staatlicher Alkoholladen entstanden gleich hinter der Grenze. Die Kunden fahren oft mehrere hundert Kilometer, um dort preisgünstig einzukaufen. Selbst die norwegischen Handelsketten haben der schwedischen Billigkonkurrenz kaum etwas entgegenzusetzen. Im Sommer wird zudem das deutsche Unternehmen Lidl, das bereits 200 Filialien in Dänemark betreibt, erste Filialen im Land eröffnen. Sie arbeiteten zwar erst nach gut zehn Jahren profitabel, aber weil Lidl langfristig mit Verlusten plant, erwarten Experten einen unmittelbar einsetzenden Preiskrieg. Und einen schleichenden Abbau der Arbeitnehmerrechte, auf die man in Norwegen jahrzehntelang so stolz war. Denn Lidl versuchte zunächst, in Deutschland gängige Arbeitsverträge auch in Norwegen durchzusetzen. Ein potenzieller norwegischer Lidl-Mitarbeiter, der sich für einen Arbeitsplatz als Distriktchef beworben hatte, erklärte im Jahr 2003 in einem Interview mit der Boulevardzeitung Dagbladet: »Mir wurde gesagt, dass ich ungefähr 60 bis 65 Stunden pro Woche arbeiten müsste, um den Job zufriedenstellend erledigen zu können. Aber als mir nach dem Bewerbungsgespräch tatsächlich ein Arbeitsplatz angeboten wurde, dachte ich nur: Nein! Stop! Die lausige Bezahlung, die unglaublich langen Arbeitszeiten und dann auch noch eine Ausbildungszeit von sieben Monaten in Deutschland reizten mich einfach nicht.« Von den leitenden Angestellten werde schließlich erwartet, während der gesamten Öffnungszeit, also von 7.30 Uhr bis 21.30 Uhr anwesend zu sein. »Lidl will wohl auch deswegen am liebsten nur Leute verpflichten, die keine Familie haben!« Und nur dem Unternehmen genehme Bekannte: »Soziale Kontakte außerhalb der Arbeitszeit sind streng verboten. Sich nach dem Job noch auf ein Bier zusammenzusetzen, gilt als extrem verpönt. Mir wurde knallhart gesagt, neue Freunde bei Lidl zu finden, könne ich sofort vergessen.« Wenn Lidl herausfindet, dass zwei Angestellte sich ineinander verliebt haben, würde beiden gekündigt, erklärte der Mann weiter. Der Konzern habe wohl Angst, dass freundschaftliche Kontakte die umfangreichen Kontrollanforderungen an die Chefs aufweichen könnten. »Zu meinen Arbeitsaufgaben sollte es gehören, mich morgens ganz früh in den Büschen vor einer Filiale zu verstecken und zu beobachten, ob vielleicht Angestellte heimlich Waren in ihre Autos schaffen. Dann sollte ich den Laden betreten und nachschauen, ob der Filialleiter womöglich die Einstellung am Tresor geändert hat. Nach vielen weiteren Kontrollen hätte mein Arbeitstag wieder dort geendet, wo er begann: in den Büschen, um Angestellte auszuspionieren« Ein Mitarbeiter des Dagbladet nahm daraufhin an einer Lidl-Anwerbeveranstaltung für Studenten der Osloer Wirtschaftshochschule teil. Unverblümt erklärte ein Firmenvertreter: »Auf Sie wartet viel Arbeit. Dies ist eine deutsche Firma, Kreativität wird nicht belohnt, um es einmal so auszudrücken. Es gibt sehr strenge Vorschriften, wer die einhält, wird allerdings belohnt.« Der norwegische Gewerkschaftsbund überprüfte schließlich die vorgesehenen Arbeitsverträge und fand gleich drei Hauptpunkte, die mit geltendem Recht nicht übereinstimmten: Die Filiale, in der sie tätig sein würden, wurde in den Papieren nicht als Arbeitsplatz genannt, statt dessen hieß es, die Arbeitnehmer könnten in einer bis zu 100 Kilometer entfernten Niederlassung eingesetzt werden. Außerdem wurde von den in Führungspositionen Beschäftigten verlangt, dass sie während der gesamten Öffnungszeit, also mindestens 14 Stunden täglich, erreichbar sein müssten. Bezahlte Überstunden kamen jedoch in keinem vorgesehenen Vertrag vor. Zudem gab es Unstimmigkeiten über die Krankenkassenbeiträge. Im Februar 2004 gab Lidl dem Druck der Gewerkschaften schließlich nach – einige Bezirksverwaltungen hatten angekündigt, dem Unternehmen auf keinen Fall die Ansiedlung zu erlauben –, räumte den Beschäftigten das Recht auf Betriebsratswahlen ein und reduzierte die möglichen Einsatzorte der Beschäftigten auf Filialen in einem Umkreis von nur noch 50 Kilometern. Kein Grund jedoch zum gewerkschaftlichen Aufatmen. Eine weitere für ihre rigide Personalpolitik berüchtigte deutsche Handelskette plant angeblich bereits norwegische Niederlassungen: Rema 1 000, die größte Supermarkt-kette des Landes, bekam vor kurzem Besuch von Aldi-Mitarbeitern, die das Warenangebot ebenso untersuchten wie die Preisgestaltung. »Die nordischen Märkte sind für ausländische Lebensmittelketten sehr interessant«, erklärte Carsten Færge vom Retail Institute Scandinavia kürzlich der Financial Times. Eine bloße Frage des Alkohols ist die EU schließlich schon lange nicht mehr. | Elke Wittich | Elke Wittich: | [] | Ausland | 09.06.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/24/lonely-norway |
Kairo im Winter | Der Muslimbruder trägt ein rosafarbenes Polohemd von Lacoste und trinkt Coca-Cola. Mohammed, der seinen Nachnamen nicht nennen will, ist nicht allein gekommen. Zwei junge Männer Anfang zwanzig begleiten ihn. Sie gehören zu seiner usra (»Familie«). So heißen die kleinen Verbände von etwa fünf Personen, in denen junge Anwärter indoktriniert und auf ihre ideologische, moralische und religiöse Ergebenheit geprüft werden. Die usra ist die niedrigste Stufe in der Hierarchie der Muslimbruderschaft. Die jungen Anwärter auf die Aufnahme in der Bruderschaft stehen am Beginn einer Transformation, die fünf Stufen kennt und mindestens fünf Jahre dauert. Am Ende werden sie, jeder Individualität beraubt, ein weiteres Rädchen einer totalitären Maschine sein. »Gegenwärtig rekrutieren wir nicht mehr«, sagt Mohammed. Er ist der Kapitän, er ist seit 20 Jahren in der Organisation und der erfahrene Führer der Gruppe.
Seit dem Militärcoup Ende Juni 2013 wurden die Aktivitäten der Muslimbruderschaft in den Untergrund gedrängt, Tausende Menschen wurden inhaftiert, über 1 000 Todesurteile, oft in hastigen Schau- und Massenprozessen, gefällt. Viele sind ins Ausland geflohen. »Das Regime versucht uns zu zerstören, also versuchen wir, die grundlegenden Dinge so gut wie möglich am Leben zu halten, um die Bewegung durch diese schwere Zeit zu bringen«, sagt Mohammed, »die Ausbildung läuft unvermindert weiter. Es braucht Anführer aus der neuen Generation.«
Seit der Absetzung des ehemaligen Präsidenten Mohammed Mursi im Jahr 2013 sehen sich Mitglieder und Sympathisanten der Muslimbrüder einer Unterdrückung sondergleichen ausgesetzt. Kein anderes ägyptisches Regime hat je so viele repressive Gesetze erlassen wie die Regierung von General Abd al-Fattah as-Sisi.
Mehr als 41 000 Menschen wurden seit seinem Putsch aus politischen Gründen inhaftiert, über 3 000 getötet. Aus Mohammeds usra wurde ein Junge namens Omar zu zehn Jahren Haft verurteilt. Doch betroffen sind nicht nur die Islamisten, die während ihrer kurzen Herrschaft selber nicht gerade zimperlich mit der Opposition umgegangen waren. Auch die säkularen Aktivisten für die Demokratie sind unerbittlicher Verfolgung ausgesetzt. Viele fürchten, dass dieses brutale Durchgreifen zu einer noch stärkeren Radikalisierung der Muslimbrüder führen könnte. Je gewalttätiger die Opponenten auftreten, desto einfacher fällt die Rechtfertigung drakonischer Maßnahmen. Längst wurde die Muslimbruder-Bewegung als Terrororganisation gelistet. Im Ausland sitzende Fernsehsender, die den Islamisten nahe stehen, rufen zu Mord und Gewalt gegen die ägyptische Regierung, säkulare Aktivisten und Ausländer auf. Auch im Internet verbreiten sich die Scharfmacher. »Die Bewegung ruft nicht zu Gewalt auf, aber natürlich müssen wir uns gegen die Gewalt des Regimes verteidigen«, sagt Mohammed, gesteht jedoch ein, dass es einzelne Ideologen gebe, die nach einer härteren Gangart verlangen.
»Friedlich heißt nicht, dass du nackt vor den Waffen der anderen stehst. Alles erfordert eine Reaktion. Sie müssen Angst davor haben, auf dich zu schießen«, meint Malik, einer der Anwärter, ein Student des Tourismusmanagement, der T-Shirt und Jogginghose trägt. Für den 20jährigen Amir war das Protestlager der Muslimbrüder und ihrer Unterstützer gegen den Coup auf dem Rabaa-Platz im August 2013 der Protest jener, die nach »wahrer Freiheit« verlangen. Die Auflösung des Camps, die in ein Massaker der Sicherheitskräfte mit etwa 1 000 Opfern kulminierte, vergleicht er mit dem Holocaust: »Deswegen werden wir uns dem Regime niemals beugen«, sagt er mit einer seltsamen Teilnahmslosigkeit. Der junge Student der Computertechnik hat die Ideologie der Muslimbruderschaft verinnerlicht und arbeitet in ihrem Medienkommittee. Er spult das Programm herunter, ohne dass sich auch nur die Stimmlage änderte. Er glaubt, dass die Leute den Islam missverständen: Der Prophet habe den Islam in die ganze Welt tragen wollen, wer den Glauben also in die Moschee verbanne, verrate sein Vermächtnis und das seiner Gefährten. »Es sind die Juden«, sagt er mechanisch, »sie versuchen den Islam zu zerstören. Die wahren und einzigen Feinde sind die Kreuzfahrer und die Juden. Der einzige Grund, warum wir noch nicht bewaffnet sind, ist, weil wir nicht wie Syrien enden wollen. Das wollen sie. Die Juden wollen, dass wir Waffen tragen und uns gegenseitig töten.«
Nationalistische Generäle und alte, eher säkulare Machtkader auf der einen, religiöse Fundamentalisten auf der anderen Seite: Beide autoritäre Lager wollen die arabische Welt auf ihre jeweilige Seite zwingen. Verschwörungsideologien nutzen beide Seiten. Jene, die einen dritten Weg suchen und nach Demokratie verlangen, werden zunehmend marginalisiert, sehen sich oftmals gezwungen, sich einer der beiden Lager anzunähern. Millionen folgen deren einfachen Antworten und davon profitieren die Machthaber. »Bist du für Sisi oder für die Muslimbrüder?« heißt es in Ägypten. Auch die wichtigste noch legale radikalislamische Bewegung, die salafistische al-Nour-Partei, die einst Partner der Muslimbrüder war, gibt heute vor, hinter der Armee zu stehen. Ein Dazwischen gibt es nicht und darf es auch nicht geben, denn es wäre eine politische Alternative.
»Heute sind die, gegen die 2011 protestiert wurde, frei, und jene, die demonstrierten, im Knast«, sagt Ahmed müde. Der junge Aktivist für die Demokratie sitzt in einem kleinen Café im bitterarmen Arbeiterviertel Imbaba im Nordwesten Kairos. Draußen wälzt der Verkehr vorbei, abgetrennt durch eine dreckige Plastikplane. Ahmed ist 28 Jahre alt, hat seine krausen schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden und trägt eine Lederjacke. Er sammelt Geld für die Familien der politischen Gefangenen. »Das Regime tötet die Menschen und sperrt sie ein. Egal ob säkular oder islamistisch. Sie wollen den Leuten Angst machen, damit niemand mehr auf die Straße geht«, sagt Ahmed mit gedämpfter Stimme. Er kenne etwa 200 Menschen persönlich, die aus politischen Gründen im Gefängnis sitzen, schätzt er.
Jene, die noch frei sind, sind oft gezwungen, sich ins Private zurückzuziehen. Das neue Protestgesetz verunmöglicht regierungskritischen Protest nahezu. Eine kleine Minderheit waren die jungen säkularen Aktivisten schon immer, nun trifft sie auch noch ein Schlag nach dem anderen. Der Umsturz von 2011 wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung aus den Armenvierteln wie Imbaba.
Doch heute mehr denn je geht es hier ums Existentielle. Sich für Demokratie in einem armen Land zu engagieren, ist ein Luxus, den man sich leisten können muss. In den Slums verliert man kaum ein schlechtes Wort über Sisi. Das Brot sei besser geworden, seit er an der Macht ist, sagt man. Auch an die Stabilität der Mubarak-Ära denkt man gerne zurück und man hält den General für den Richtigen, der sie wiederherstellen kann.
»Das Protestgesetz ist nur ein Beispiel von vielen für ihre Macht«, sagt Zizo Abdo, der ein wichtiger Akteur der mittlerweile verbotene Jugendbewegung »6. April« war. Mittlerweile ist der junge Mann in Jeans und Sweatshirt einer der Mitbegründer und Sprecher der Bewegung Road to the Revolutionary Front, zu der sich zahlreiche linke und säkulare Aktivisten zusammengeschlossen haben. An bis zu 45 Prozent der Wirtschaft sollen die Militärs beteiligt sein. Ob Zement, Wohnungen, Autos oder Windeln – es gibt kaum einen Wirtschaftsbereich, in dem die Armee nicht tätig ist.
445 000 Menschen dienen ihr – damit ist sie die elftgrößte Streitmacht der Welt. »Selbst die Lebensmittel kommen von ihnen – sie ist ein Staat, größer als der Staat selbst. Die Menschen haben eine Liebesaffäre zur Armeeuniform und angesichts dessen, was in der Region vorgeht, glauben sie, dass das Militär noch stärker werden müsse«, sagt Zizo.
Die Legitimität der Militärdiktatur speist sich vor allem aus zwei Versprechen: Man werde das Land modernisieren und Stabilität und Sicherheit wiederherstellen. Dafür erfährt Sisi Anerkennung von Staatsmännern rund um die Welt. Sigmar Gabriel lud ihn nun auch nach Berlin, Barack Obama gab die Militärhilfen wieder frei. Menschenrechte und Demokratie ständen, so die Logik der ägyptischen Regierung, in erster Linie dem Aufbruch des Landes in die Zukunft im Weg. De facto ist man abhängig von den Geldgebern am Golf, ohne die der ägyptische Staat längst bankrott wäre.
Zizo läuft durch die noch leeren Reihen abgewetzter, teils nur durch Klebeband zusammengehaltenen Stühle in den Räumen einer kleinen Menschenrechtsorganisation. Sie wollen gleich eine Zeremonie abhalten, um einige Mütter zu ehren, deren Kinder eingesperrt oder getötet wurden. Die Mütter sind vor allem konservative, vollverschleierte Frauen. An der heruntergekommenen Tapete hängen Schwarzweiß-Bilder einiger Inhaftierter. Ob die Menschen, denen sie hier mit Geld und Anwälten zu helfen versuchen, Islamisten sind, interessiert sie nicht. Auch wenn er diese politisch ablehne, sagt Zizo, kümmere man sich um die Ungerechtigkeit.
Eine der Frauen verbirgt ihr Gesicht hinter einem hellblauen Niqab. Einer ihrer Söhne müsse drei Jahre im Gefängnis sitzen, weil er Mitglied der Muslimbrüder sein soll, erzählt sie. Ein weiterer, Ibrahim, der als Sanitäter arbeitete, habe nichts weiter getan, als verletzten Demonstranten bei einem Protest der Islamisten zu helfen, der sich zu einer Straßenschlacht entwickelte. Dafür sitze er seit August 2013 hinter Gittern. Ohne Anklage. Oft dürfe sie ihre beiden Söhne einen Monat nicht sehen, die Familie werde von den Sicherheitskräften schikaniert. Oft wache sie nachts auf: »Wir leben in einem wahnsinnigen Land, das ich nicht verstehen kann. Wenn ich dann aufwache, denke ich an die zum Tode Verurteilten. Und dann sehe ich all die anderen Menschen, auch Mädchen. Ich kann das nicht verstehen. Ich warte auf ein Wunder.« Laila Soueif ist eine der berühmtesten ägyptischen Aktivistinnen. Die Mathematik-Professorin mit dem wallenden grauen Haar ist Ende fünfzig, der Tod ihres Mannes Ahmed Seif al-Islam Ende vergangenen Jahres löste weltweit Mitgefühl und Trauer aus. Ob Islamisten, Kommunisten oder Homosexuelle, der Menschenrechtsanwalt hat jeden vertreten. Laila ist zu lange dabei, um dem Militär noch irgendetwas abzukaufen. »Der Terrorismus nimmt zu und dabei geht es nicht um Sisi, sondern um den korrupten ineffizienten Staatsapparat. Ich kenne mindestens zwei Fälle, in denen es Bombenanschläge gab, nach denen sie jemanden festnahmen, der es nicht gewesen sein konnte, weil er nicht mal in der Stadt war«, erzählt Laila mit der knarzenden Stimme einer exzessiven Raucherin. »Das ist es, was ein korrupter, ineffizienter Staatsapparat tut. Er will die Fälle schließen, nicht lösen.« Für Laila ist klar: »Wenn du nicht bereit bist, diesen Staatsapparat radikal zu reformieren, schlägst du dich auf die Seite seiner Profiteure. Egal was du sonst tust.«
Drei Kinder habe sie großgezogen. Mona, Sanaa Seif und Alaa Abd el-Fattah. Alle sind heute international bekannte Aktivisten. Sanaa und Alaa haben ihr Engagement, wie Tausende andere, mit ihrer Freiheit bezahlt und wurden zu drei und fünf Jahre Haft verurteilt. Laila war für sie in den Hungerstreik getreten. Besonders besorgt ist sie aber nicht: »Sanaa geht es gut, sie ist jung und muss sich nicht um Kinder oder einen Job sorgen«, erzählt sie. Für Alaa sei das anders. Er sei es zwar gewöhnt, immer wieder im Gefängnis zu landen, aber 2011 wurde sein Sohn Khaled geboren.
Ihre Kinder hat die Repression jedoch nicht so hart getroffen wie viele andere. Anfang Februar verurteilte einer Kairoer Gericht 230 Aktivisten zu lebenslanger Haft. Unter ihnen war auch Ahmed Douma. Die Anklagepunkte lauteten: Ausschreitungen, Anstiftung zu Gewalt und Angriff auf Sicherheitskräfte. Zusätzlich muss er eine Geldstrafe von umgerechnet zwei Millionen Euro zahlen. Wegen eines Verstoßes gegen das Protestgesetz wurde der 25jährige bereits im Dezember 2013 zu drei Jahren Haft verurteilt. Eine Strafe, die bereits in allen Instanzen bestätigt wurde. Als Douma den Richter kritisierte, setzte es noch drei weitere Jahre. Im Gefängnis erlebte er Folter. Für Laila ist all das Routine an Ägyptens Gerichten: »Das alles ist ein Machtspiel. Entweder sie sitzen ihre Strafe ab oder das Regime entscheidet willkürlich, jemanden zu begnadigen. Die Richter ignorieren Gerechtigkeit und Gesetz, weil sie gegen die Revolution sind. Sie entscheiden vollkommen willkürlich.«
In einem Café in einer kleinen Nebenstraße von Downtown-Kairo erscheint Nourhan, die Journalistin ist Ahmed Doumas Ehefrau. »Die Situation ist sehr schwierig, es gibt kaum Möglichkeiten, Kritik zu üben, ohne Gefängnis oder Tod zu riskieren. Derzeit ist es kaum möglich, Kampagnen zu inszenieren, auch jene gegen das Protestgesetz droht zu ersticken. Es gibt kaum noch Aktivität diesbezüglich«, klagt die junge Frau mit den kurz geschnittenen, lockigen, schwarzen Haaren. Tags darauf wollen sie die Revision einreichen, die über Ahmeds Zukunft entscheiden wird: »Es ist die letzte Instanz.« Dass sie eine Chance haben, daran glaubt Nourhan nicht: »Meine einzige Hoffnung ist ein Wandel der politischen Umstände. Ich hoffe auf einen weiteren Umsturz.«
Nach der ersten Verurteilung war ihr Mann in einen Hungerstreik getreten, wog nach 35 Tagen keine 40 Kilo mehr. Virale Infektionen, Blinddarm und Magen waren betroffen. Er schwebte in Lebensgefahr. Seine Psyche war angeschlagen. Als Nourhan ihn besuchte, erkannte er sie nicht wieder. Er erlitt einen Zusammenbruch. Ein Transfer ins Gefängniskrankenhaus wurde verweigert, die Ärzte behaupteten, es gehe im gut. Erst nachdem Nourhan gemeinsam mit Freunden eine Kampagne organisiert hatte, wurde der Verlegung zugestimmt. Nun ist er seit gut sechs Monaten auf der Krankenstation. Pünktlich zu seiner lebenslangen Verurteilung konnte er wieder laufen.
»Ich bestehe auf der Feststellung, dass das Justizsystem komplett kaputt ist und nicht nur politisch missbraucht wird«, betont Laila. »Leute bekommen hohe Haftstrafen für lächerliche Vergehen. Das ist ein Symptom dafür, dass wir in einem failed state leben. Es sieht nur nicht wie einer aus, weil Ägypten von seiner Geschichte zehrt.« Man sehe das überall, insbesondere im miserablen öffentlichen Bildungs- oder Gesundheitssystem. »Das muss endlich akzeptiert werden, anstatt die repressivsten Teile des Systems aufzurüsten und zu behaupten, man schütze so den Staat«, sagt Laila. »Die Leute hatten nichts gegen Mursi, weil er ein Islamfaschist war, sondern weil er ein Fehlschlag war. Auch die gegenwärtige Politik kümmert sich in erster Linie um die 15 Millionen Ägypter, denen es ganz gut geht. Aber Ägypten hat 90 Millionen Einwohner. Man kann keinen Staat an denen vorbei machen.« Laila glaubt nicht daran, dass es mit der Infrastruktur, der Bildung und der Inflationsbekämpfung besser werden wird: »Niemand an der Macht engagiert sich dafür, dass sich die Situation grundlegend ändern könnte. Wenn wir so weitermachen, erwarte ich eine gewalttätige soziale Explosion. Ob es danach besser wird, oder noch chaotischer und schlimmer, das weiß ich nicht.«
In Imbaba sagt Ahmed: »Ich bin kein Revolutionär. Ich bin nur jemand, der nach Gerechtigkeit sucht.« Er wiegt eine kleine Plakette zwischen den Fingern. Die Fotografien zweier junger Männer sind auf Vorder- und Rückseite geklebt. Er trägt sie an einem Lederband um den Hals. Eines der verblichenen Bilder zeigt Rami, der am 20. Dezember 2011 starb. Das andere zeigt Bassem, der am 20. Dezember 2013 starb. Beide hatten gegen das ägyptische Militär protestiert und beide wurden von Soldaten erschossen. Zwei Jahre, so lange hat es in Ägypten gedauert, bis aus einem fahlen Hoffnungsschimmer totale Finsternis wurde. »Aber der 25. Januar ist in jede Straße Ägyptens eingeschrieben«, glaubt Ahmed. | Jan Niklas Kniewel | Jan Niklas Kniewel: Repression gegen Muslimbrüder und Oppositionelle in Ägypten | [] | Reportage | 21.05.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/21/kairo-im-winter?page=0%2C%2C1 |
Abkommen zur Abschiebung | Perfider Deal. Die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta bei der Unterzeichnung des Abkommens in Kigali, 14. April Debatten über Migrationspolitik dienen oft der Ablenkung von anderen politischen Problemen. Wie das funktioniert, kann man gerade in Großbritannien beobachten. Statt über die sogenannte Partygate-Affäre von Premierminister Boris Johnson – illegale Feiern im Amtssitz während des Lockdowns – wird vehement über Migration über den Ärmelkanal diskutiert. Von Frankreich aus versuchen Asylsuchende, ins Vereinigte Königreich einzureisen. Früher versteckten sich die meisten von ihnen in LKW, die durch den Eurotunnel fuhren. Die Grenzkontrollen seit dem EU-Austritt erschweren dies jedoch erheblich, so dass immer mehr Asylsuchende auf kleine Boote ausweichen, mit denen sie die lebensgefährliche Überfahrt wagen. 2021 sind nach offiziellen Angaben mindestens 28 526 Personen auf diesem Weg eingereist. 2020 waren es lediglich 8 404. Dieses Jahr wurden bereits mehr als 4 500 Personen gezählt, Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Gesamtzahl im Vergleich zu 2021 mehr als verdoppeln werde. Voriges Jahr starben mindestens 44 Menschen beim Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren. Ruanda hat eine zweifelhafte Menschenrechtsbilanz, der seit 2000 amtierende Präsident Paul Kagame gilt als autoritär. Diese Toten nimmt die britische Innenministerin Priti Patel nun als Vorwand, um einen perfiden »Deal« zu rechtfertigen: Am 13.April finalisierte sie ein Abkommen zur Übernahme von Asylsuchenden mit Ruanda. Westliche Staaten versuchen immer wieder, Asylverfahren auszulagern. Der Plan von Patel geht jedoch weit darüber hinaus: Nicht nur das Verfahren soll ausgelagert werden, sondern die gesamte Verantwortung für die betroffenen Asylsuchenden. Demnach können alleinstehende Männer – Paare und Familien sind von der Regelung ausgeschlossen –, die illegal nach Großbritannien eingereist sind, nach Ruanda überstellt werden; allerdings sind etwa 90 Prozent der illegal Einreisenden eben alleinstehende Männer. Sie sollen dort ihr Asylverfahren durchlaufen; ist dieses erfolgreich, erhalten sie nicht etwa in Großbritannien Asyl, sondern in Ruanda. In einer Parlamentsdebatte am 20. April sagte Patel, das Vorhaben sei ein »massiver Schlag gegen Menschenschmuggel« und diene dem Schutz von Menschenleben. »Die Dinge müssen sich ändern, weil Menschen bei dem Versuch sterben, nach Großbritannien zu kommen«, so Patel. Die Vereinbarung soll zunächst für fünf Jahre gelten. Damit wird das Recht auf Asyl in Großbritannien faktisch ausgehebelt. Wie in den meisten europäischen Staaten können Asylsuchende (von wenigen Kontingentregelungen abgesehen) dort nur dann Asyl beantragen, wenn sie sich im Land aufhalten. Die wenigsten erhalten jedoch auf legalem Weg ein Visum, weshalb ihnen nur die illegale Einreise bleibt. Diese gilt zukünftig aber als Grund, um nach Ruanda umgesiedelt zu werden. Nach welchen Kriterien entschieden werden soll, welche illegal eingereisten männlichen Asylsuchenden nach Ruanda geschickt werden, ist bisher unklar. Der Fokus soll aber auf alleinreisenden jungen Männern liegen, die seit dem 1. Januar 2022 über den Ärmelkanal eingereist sind. Ruanda akzeptiert nur Erwachsene ohne Vorstrafen. Diese sollen im Land untergebracht werden, bis ihre Asylverfahren abgeschlossen sind. Wenn erfolgreich, erhalten sie einen dauerhaften Aufenthaltstitel für Ruanda und dürfen nicht mehr nach Großbritannien zurückkehren. Ruanda erhält zunächst eine Zahlung von 120 Million Pfund für einen economic transformation and integration fund, aus dessen Mitteln Unterkünfte errichtet und Existenzgründungshilfen gegeben werden sollen, und zusätzlich eine Kostenerstattung pro übernommenem Asylverfahren. Dazu gibt es keine genauen Zahlen, die Tageszeitung The Times geht von 20 000 bis 30 000 Pfund pro Person aus. Legalität und Umsetzbarkeit des Plans sind umstritten. Abgesehen von den problematischen menschenrechtlichen Aspekten der Vereinbarung ist wegen der hohen Kosten unklar, ob das Auslagern der Asylverfahren für Großbritannien finanziell sinnvoll ist. Matthew Rycroft, als höchster Beamter des Innenministeriums verantwortlich für die Genehmigung von Ausgabenplänen, blockierte deshalb die Vereinbarung. Patel ging daraufhin den ungewöhnlichen Weg der ministerial direction, um den Plan dennoch durchzusetzen. Sie übernimmt damit persönlich die Verantwortung für die Vereinbarung, die dann trotz Rycrofts Einspruch in Kraft treten kann. Es ist erst die zweite ministerial direction, die in den vergangenen 30 Jahren im Innenministerium erlassen wurde. Ruanda hat eine zweifelhafte Menschenrechtsbilanz. Der seit 2000 amtierende Präsident Paul Kagame gilt als autoritär, Menschenrechtsorganisationen kritisieren immer wieder den brutalen Umgang mit Oppositionellen. Das hielt den britischen Premierminister Boris Johnson nicht davon ab, Ruanda als »eines der sichersten Länder weltweit« zu bezeichnen – obwohl sich die britische Regierung selbst noch Anfang 2021 in einer Stellungnahme bei den UN besorgt über »andauernde Einschränkungen der bürgerlichen und politischen Rechte und der Medienfreiheit« in Ruanda geäußert hatte. Die Opposition übte heftige Kritik an dem Plan. Keir Starmer, der Vorsitzende der Labour-Partei, bezeichnete ihn als »nicht umsetzbar«, Ian Blackford, der Fraktionsführer der Scottish National Party im britischen Unterhaus, nannte ihn »absolut erschreckend«. Auch unter den regierenden Konservativen ist der Plan ist umstritten. Die ehemalige Premier- und Innenministerin Theresa May äußerte am 20. April in einer Rede vor dem Unterhaus Bedenken hinsichtlich der »Legalität, Praktikabilität und Wirksamkeit«. Mehrere Bischöfe, darunter der Erzbischof von Canterbury, kritisierten das Vorhaben in ihren Osterpredigten. 160 gemeinnützige Organisationen forderten in einem offenen Brief die Rücknahme der Vereinbarung. Sie bezeichneten Patels Plan als »grausam«, er widerspreche zudem der »der weit verbreiteten öffentlichen Unterstützung für Flüchtlinge im Vereinigten Königreich«. Laut einer Ipsos-Studie vom Februar – vor dem Beginn des Kriegs in der Ukraine – befürworten 75 Prozent der Bevölkerung, dass Menschen »in anderen Ländern, einschließlich Großbritannien«, Zuflucht vor Krieg und Verfolgung finden können. 60 Prozent der Befragten sind unzufrieden mit der Migrationspolitik der Regierung, mehr als die Hälfte davon nannte als Hauptgrund, die Regierung unternehme nicht genug gegen Einreisen über den Ärmelkanal. Der Plan ist auch im Kontext des EU-Austritts zu sehen – eines der zentralen Versprechen war, die Kontrolle über die Grenzen »wiederzugewinnen«. Die Zahl der Einreisen über den Ärmelkanal steigt jedoch. Patels Plan ist eine weitere abstruse Maßnahme der Migrationsverhinderung auf einer langen Liste populistischer Ideen. So gab es Ende 2020 etwa den Vorschlag, Wellenmaschinen gegen Boote einzusetzen. Dieser wurde nie verwirklicht. Es bleibt zu hoffen, dass das Abkommen mit Ruanda das gleiche Schicksal erleidet. | Larissa Schober | Larissa Schober: Ruanda hat mit Großbritannien die Übernahme von Asylsuchenden vereinbart | [
"Ruanda",
"Großbritannien"
] | Ausland | 28.04.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/17/abkommen-zur-abschiebung?page=0%2C%2C3 |
Jungle World #34/2017 - Waren in Bewegung | Im dschungel läuft:
Traumhafte Namen. Vina Yun schildert im Comic »Homestories« eine nahezu unbekannte Migrationsgeschichte. | Logistik, Arbeit und Widerstand 24.08.2017 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2017/34 |
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