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»Der Senat missbraucht Künstler und Kreative«
Da stehen sie. Die modernen Hochhäuser aus Stahl, Beton und Glas; viel Glas. Es gibt gut ausgeleuchtete Indoor-Gärten, in denen immergrüne Bäume ein Ambiente erzeugen, das die gestressten Top­verdiener kurz verschnaufen lässt. So sieht es aus, in Hamburgs Innenstadt zwischen Binnenalster und Axel-Springer-Platz. Doch irgendetwas passt nicht in die Glaspalast-Skyline. Nur einen kurzen, schmalen, gepflasterten Weg entfernt liegt das Gängeviertel. Heruntergekommene, ver­schimmelte Häuser aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stehen hier, bepinselt, bunt beschmiert und besprüht – Street Art vom Feinsten. Zehn der zwölf Bauten gehörten der stadteigenen Woh­nungsgenossenschaft Saga. Die Genossenschaft ließ die historischen, denkmalgeschützten Gebäude einfach vergammeln. Eine Plane am Dach schützte die Fassade notdürftig vor Feuchtigkeit. Seit August haben insgesamt 200 Leute das Areal zu Atelier- und Wohnräumen umfunktioniert. Das Motto der Besetzung lautet: Komm in die Gänge. Das Kollektiv wehrt sich damit gegen die Pläne des niederländischen Investors Hanzevast, der die Wohnungen von der Stadt vor zwei Jahren gekauft hat und seinem Nutzungskonzept zufolge 80 Prozent davon abreißen will. Doch die Sympathien liegen nicht beim Sanierer. Ob Welt, Hamburger Abendblatt oder Bild – man steht auf der Seite der Besetzer. Da werden Überschriften getextet wie »Hier ist alles so schön verrucht«. Punkbands kommen plötzlich zu Wort und dürfen im Abendblatt über das Ausster­ben der Off-Szene in St.Pauli, Altona und im Schanzenviertel klagen. Bild echauffiert sich über den Investor aus den Niederlanden. Verkehrte Welt. »Irgendwie stört mich schon, dass die Initiative keine Feinde hat«, sagt einer der Besetzer ein wenig entrüstet. Er hat sich gerade eine lebhafte Sitzung der Hamburger Bürgerschaft angeschaut, in der es um die Zukunft des Gängeviertels und der Subkultur ging. Einige Stunden vorher im Sitzungssaal des Rat­hauses herrscht trotz heftiger Diskussionen Einigkeit: Das Gängeviertel muss gerettet werden. Auch wenn CDU, SPD, Grün-alternative Liste Hamburg (GAL) und »Linke« sich gegenseitig mit Vorwürfen über die in den vergangenen Jahren erschreckend stümperhafte Stadtplanung überschüttet haben, wird bei dieser Sitzung klar, dass Hanzevast sein Konzept nicht mehr durchsetzen kann. Eigentlich sollte, so die Sprecherin der Initiative, Christine Ebeling, vor dem Rathaus demonstriert werden. Aber gegen was soll man de­m­onstrieren, wenn allerorten nur Einigkeit herrscht? In Hamburg ist es gerade so wie bei der Beerdigung eines ungeliebten Onkels. Erst wenn er im Sarg liegt, wird er betrauert. In der Hansestadt stirbt das Raumangebot in den alternativen Stadtteilen, das in den vergangenen zwei Jah­ren zugunsten von Eigentumswohnungen immer mehr dezimiert wurde. Denn der gegenwär­tige Finanzsenator Michael Freytag (CDU) ist schon seit der Zeit, in der die Schreckgestalt Ronald Schill noch im Senat saß, ein begnadeter Verscherbler, was städtische Liegenschaften betrifft. »Das Kind ist nun schon im Brunnen, das stimmt«, sagt Ebeling über die ehemals typischen Szeneviertel wie Schanze oder St. Pauli, in denen die Aufwertung schon so gut wie abgeschlossen ist. Die Sprecherin sitzt in einer Wohnung im Gängeviertel mit halb ausgerissenem Linoleumboden und vernagelten Fenstern. Drau­ßen in den schmalen Gängen, die dem Viertel den Namen geben, hängen Plakate an den Wänden mit Erich-Fromm-Zitaten, einem altem Stadtplan und roten, runden Schildern mit dem Motto »Komm in die Gänge«. Im Innenhof kokelt eine Feuertonne, ein paar Schritte weiter sit­zen Bauarbeiter und essen ihre Stullen. Überall Baulärm. Drinnen riecht es nach verschüttetem Bier und kaltem Zigarettenrauch. Hier ist das Büro, das organisatorische Zentrum der Initiative. Von hier aus werden ständig E-Mails an Unterstützer und Künstler geschrieben. Mobiltelefone klingeln. Theatergruppen wollen Räume für Aufführungen, Künstler fragen nach Ausstellungsräumen, und unbekannte Bands brauchen eine Bühne für ihre Gigs. Billige Locations werden also dringend gebraucht. Ebeling ist sich durchaus bewusst, dass ausgerechnet die Off-Szene, die sich immer wieder beschwert, mit schuld daran ist, dass es in Ham­burg kaum bezahlbaren Wohnraum mehr gibt. »Ja, natürlich haben wir die Stadtteile aufgewertet«, sagt Ebeling. »Wie der Esel der Karotte sollen bildende Künstler den Fördertöpfen und Zwischennutzungs-Gelegenheiten nachlaufen – dahin, wo es Entwicklungsgebiete zu beleben, Investoren oder neue, zahlungskräftigere Bewoh­ner anzulocken gilt.« So heißt es in einem wütenden Manifest mit dem Titel »Not in our Na­me, Marke Hamburg«. Die Goldenen Zi­tronen, der Schauspieler Peter Lohmeyer und die Fernsehköchin Sarah Wiener sind nur einige der prominenten Unterzeichner des Textes mit dem Grundtenor, dass der Senat Künstler und Kreative als Reklame für die Stadt missbrauche. Die Unterstützung der Prominenten bringt vor allem eins: Publicity. Davon profitieren frische, unbekannte Künstler. Lorenz Goldstein von Car­tel 21, einem vierköpfigen Künstlerkollektiv, freut sich sehr über das Interesse am Gängevier­tel. »So viele Leute haben wir sonst selten bei einer Ausstellung«, sagt der 25jährige. Er und sei­ne Mitstreiter konnten seit Ausstellungsbeginn am 21. Oktober zwei Werke verkaufen. Ohne die Ausstellungsmöglichkeiten im Viertel sähe es für ihn düster aus. »Es ist einfach geil, wie unbürokratisch man hier an Räume kommt, das gibt es in Hamburg doch sonst kaum mehr«, sagt der Kunststudent. Seiner Meinung nach gibt es in Hamburg nur noch Schamonis Golden Pudel Club und das Gängeviertel als Orte für Krea­tive. Doch nicht nur Künstlergruppen wie Cartel 21 freuen sich über die Aufmerksamkeit und Unterstützung für das Gängeviertel. Vor allem Han­zevast hat nun die Möglichkeit abzusahnen, und wegen der Finanzkrise hat es der Investor auch dringend nötig, an Geld zu kommen. Denn nach Monaten der Zahlungsunfähigkeit konnte dieser nun doch in letzter Minute die fällige Rate in Höhe von 1,2 Millionen Euro bezahlen. Geliehen haben sich die Niederländer das Geld von einer bayrischen Brauereigruppe, zu der auch Paulaner gehört. Es sieht alles danach aus, dass die Käufer so viel Geld aus der Stadt herauspressen wollen wie nur möglich. Die Stadt soll doch bitte das so lieb gewonnene Viertel zu einem horrenden Preis zurückkaufen, wenn sie plötzlich schon nicht mehr räumen lassen will. Für die klamme Hansestadt ein Dilemma. Auf jeden Fall wird es Zeit, dass der Senat in die Gänge kommt.
Thomas Ewald
Thomas Ewald: Über die Proteste in Hamburg gegen die Sanierung des Gängeviertels
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dschungel
12.11.2009
https://jungle.world//artikel/2009/46/der-senat-missbraucht-kuenstler-und-kreative?page=0%2C%2C3
Beleidigte Prophetendiener
Heilige Trümmer. Ein Mob fackelte diese Kirche in Jaranwala ab, weil ein Christ eine Seite aus einem Koran gerissen haben soll, 16. August Zur Verteidigung der Ehre des Propheten Mohammed erklimmen Horden beleidigter frommer Muslime im christlichen Viertel der pakistanischen Kleinstadt Jaranwala mehrere Kirchen, zerschlagen Kreuze, zertrümmern Ziegelsteine und fackeln alles ab, was brennt. Nachdem in Moscheen am Mittwoch vergangener Woche beim Morgengebet über Lautsprecher das Gerücht verbreitet wurde, ein Christ habe Seiten aus einem Koran herausgerissen, trifft die Zerstörungswut des Mobs alsbald Wohnhäuser von Christen. Videos in sozialen Medien zeigen Polizisten, die das Geschehen interessiert beobachten. Die Menge aus über 1.000 Muslimen peitscht sich mit Parolen der islamistischen Partei Tehreek-e-Labbaik Pakistan (TLP) hoch; diese hängt der Barelvi-Bewegung an, welche einen orthodox-sunnitischen Fundamentalismus mit sufistischen Praktiken verbindet (Jungle World 41/2020). »Ich bin hier! Oh Gesandter Gottes, ich bin hier, dir zu deinen Diensten!« ertönt es immer wieder. Barelvis glauben, dass der Prophet persönlich anwesend sei, wenn sich eine Gruppe Gläubiger in seinem Namen versammelt. Die beiden Rädelsführer der Ausschreitungen sind bekannte Barelvi-Aktivisten, einer aus der TLP und ein Kleriker ihres Moscheeverbands. Die aufgebrachte Menge fordert die Herausgabe des Christen Raja, der Koranseiten entwürdigt haben soll, und seines Bruders; die TLP fordert die öffentliche Hinrichtung des mutmaßlichen Blasphemikers durch den Strang. Am späten Abend treffen paramilitärische Einheiten ein, die die eifernden Muslime zurückdrängen. Der Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre werden verhängt. Die Bilanz wird am Sonntag klar: 19 Kirchen und 86 Wohnhäuser wurden geplündert und teilweise niedergebrannt, der christliche Friedhof geschändet. Die Polizei teilte mit, sie habe bis Montag 160 Randalierer festgenommen. Ein Zeltlager zur Unterbringung der Vertriebenen wird aufgebaut. Videos zeigen Gruppen christlicher Mädchen, die sich die ganze Nacht auf Feldern versteckten. Die meisten Christen sind aus ihren Häusern geflohen und trauen sich erst am Sonntag in ihre Wohnviertel zurück. Aber auch der beschuldigte Christ Raja und sein Bruder wurden gefasst und inhaftiert, die Polizei hat ein Verfahren gegen sie wegen Verstoßes gegen jenes Blasphemie-Gesetz eingeleitet, das die Beleidigung des Koran zum Gegenstand hat. Da die Vorfahren der Christen im Punjab meist kastenlose Konvertiten waren, halten Muslime, die sich an Praktiken des hinduistischen Kastensystems orientieren, sie noch heute für unberührbar. Blasphemie ist im mehrheitlich muslimischen Pakistan ein heikles Thema und kann im Falle, dass der Prophet beleidigt worden sein sollte, mit der Todesstrafe geahndet werden. Der bloße Vorwurf der Gotteslästerung kann zu Angriffen extremistischer muslimischer Selbstjustizgruppen auch auf Nachbarn, Freunde und Verwandte der Beschuldigten führen. Am vergangenen Sonntag sprühten Unbekannte Lobpreisungen für den Propheten Mohammed an die Außenwand der Central Brooks Memorial Church in Karachi – falls Christen die Aufschriften entfernen sollten, gälte das als Blasphemie. Über 80 Prozent der etwa 2,5 Millionen pakistanischen Christen leben in der Provinz Punjab. Die offiziellen Zahlen zu religiösen Minderheiten in ­Pakistan sind umstritten, da viele Angehörige von Minderheiten aufgrund von Verfolgung und Diskriminierung ihren Glauben verbergen. Das pakistanische Christentum hat sich insbesondere im ländlichen Raum in seiner Praxis stark an den Islam angepasst: Gläubige bleiben nach Geschlechtern getrennt, in kleineren Kirchen ziehen Christen ihre Schuhe aus und sitzen auf dem Boden. Eine Mehrheit glaubt, ihnen sei während der christlichen Fastenzeit wie den Muslimen im Ramadan das vollständige Fasten über den gesamten Tag vorgeschrieben. Da die Vorfahren der Christen im Punjab einst überwiegend kastenlose Konvertiten waren, sehen Muslime sie noch heute als unberührbar an. In der Provinz haben sich einige der sozialen Praktiken des hinduistischen Kastensystems erhalten. Die Christen in Jaranwala sind fast ausnahmslos Sanitärarbeiter, Müllmänner, Kanalreiniger oder Straßenkehrer. ­Lokale Restaurants verweigern ihnen den Zutritt oder führen eigenes Geschirr und Besteck für Nichtmuslime. Auf dem bei den jüngsten Ausschreitungen verwüsteten Friedhof gab es nicht einmal Grabsteine. Der Vorwurf der Gotteslästerung kann auch Muslime treffen, doch Pakistans Christen leiden überproportional unter dem Blasphemiegesetz. John ­Joseph, der 1981 der erste pakistanischstämmige Bischof des Landes wurde, setzte sich für mehrere christliche Angeklagte vor Gericht ein. Am 6. Mai 1998, wenige Tage nach einem weiteren Todesurteil gegen einen unschuldigen christlichen Analphabeten, schoss sich der Bischof aus Protest gegen das Blasphemiegesetz am Eingang des Gerichts in Sahiwal mit einem Revolver in den Kopf – was den Vatikan in Verlegenheit brachte, da Suizid eigentlich eine Todsünde darstellt. Das pakistanische Blasphemiegesetz geht auf die britische Kolonialgesetzgebung des 19. Jahrhunderts zurück, doch in den achtziger Jahren wurden härtere Strafen eingeführt, darunter die Todesstrafe für die Beleidigung des Islam, insbesondere des Propheten. Die religiös motivierte Gewalt hat seitdem zu­genommen. Eine Woche vor den Übergriffen in Jaranwala wurde der 22jährige Englischlehrer Abdul Rauf im belutschischen Turbat von Unbekannten erschossen, als er auf dem Weg zu einer Jirga war, einer Versammlung zur Beilegung von Streitigkeiten, bei der er Blasphemievorwürfe gegen ihn ausräumen wollte. Die englischsprachige pakistanische Tageszeitung Dawn berichtete im vergangenen Jahr, dass seit der Unabhängigkeit Pakistans mindestens 89 Bürger wegen Blasphemievorwürfen getötet worden seien, mehr als 1.400 Anschuldigungen erhoben wurden. Der Oberste Gerichtshof von Islamabad hat demnach bereits der Legislative eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, um diejenigen zu bestrafen, die falsche Blasphemievorwürfe erheben. Am Montag teilte die Regierung mit, dass jeder vom Mob zerstörte Haushalt in Jaranwala 2 Millionen Rupien (6.200 Euro) zur Entschädigung erhalten soll. Politik und Gesellschaft versagen in Pakistan häufig beim Vorgehen gegen islamistisch motivierte Gewaltexzesse. Pakistanische Kommentatoren verwiesen jüngst auch auf die wiederholten Koranverbrennungen durch einen Iraker seit Juni in Stockholm. Am 19. August, nachdem im niederländischen Den Haag der Leiter der dortigen Pegida-Bewegung, Edwin Wagensveld, vor der türkischen Botschaft auf einen Koran trat, folgte eine Mitteilung des pakistanischen Außenministeriums: Die Niederlande mögen solche »hasserfüllten und islamfeindlichen Handlungen« künftig besser unterbinden, um das friedliche Zusammenleben zwischen den Religionen nicht zu gefährden. Seit 2014 gewährt die EU Pakistan besondere Zollpräferenzen im Gegenzug für die Einhaltung von Menschenrechten, zu denen die Religionsfreiheit gehört. Die bevorzugte Zollbehandlung endet turnusgemäß im Dezember dieses Jahres. Erst im Juli 2023 empfahl die EU eine Verlängerung der Vergünstigungen für Pakistan um weitere vier Jahre. Auch die wehrtechnische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Pakistan bleibt robust. Pakistan verdankt insbesondere der Bundesrepublik, dass es zur Atommacht werden konnte.
Thomas K. Gugler
Thomas K. Gugler: Blasphemievorwürfe und Übergriffe gegen die christliche Minderheit in Pakistan
[ "Pakistan", "Islamismus", "Blasphemie" ]
Ausland
24.08.2023
https://jungle.world//artikel/2023/34/islamisten-pakistan-beleidigte-prophetendiener?page=0%2C%2C1
»Der Mangel an Erfolgen ist fatal«
Nach Bekanntgabe des Ergebnisses des griechischen Referendums haben Sie getwittert, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen ein Gebot der Stunde sei. Das fordert auch die griechische Regierung. Müsste jetzt nicht ein Schuldenschnitt auf der Tagesordnung stehen? Nach dem Sieg des »Nein« droht eine Eskalationsspirale, die Griechenland schnell aus dem Euro drängen kann. Ein Grexit ist und bleibt unvernünftig. Denn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands ist bereits weitgehend wiederhergestellt, unter enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Mit einem Grexit müssten die Menschen noch ein zweites Mal bezahlen: Durch den Verlust einer stabilen Währung und mit einer schweren Währungsumstellungskrise. Ökonomisch ist das auch für die Gläubiger unsinnig, denn je ärmer Griechenland wird, desto weniger kann es seine Schulden zurückbezahlen. Allerdings scheint es, dass etliche Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern der EU nicht die Vernunft, sondern eine wirtschaftspolitische Ideologie durchsetzen wollen. Trotzdem sind die politischen Kosten einer drohenden Kosovoisierung Griechenlands für Europa und für dessen Ansehen in der Welt so hoch, dass ich immer noch Hoffnung habe, dass Angela Merkel, François Hollande und Matteo Renzi doch noch ihrer Verantwortung gerecht werden und nach einer fairen Einigung mit Alexis Tsipras suchen. Dazu müsste sich Griechenland zu jenen Reformen verpflichten, auf die es wirklich ankommt: eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, ein gerechtes und effizientes Steuerwesen. Was der griechischen Wirtschaft dagegen schadet, sind neue prozyklische – also krisenverschärfende – Sparprogramme oder Steuererhöhungen. Das schreckt Investoren ab. Vertrauen für Investitionen kann nur geschaffen werden, wenn das Problem der Überschuldung gelöst wird. Das muss kein Schuldenschnitt sein. Auch eine Umschuldung mit einer Begrenzung der Zinszahlungen und Tilgungen gemäß der wirtschaftlichen Entwicklung können helfen. Sie haben in einen Kommentar den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) dafür kritisiert, dass er vor dem Referendum die Ablösung von Ministerpräsident Alexis Tsipras gefordert hatte. Schließlich hatte die griechische Regierung betont, dass ein »Nein« keine Absage an die EU und den Euro sei, sondern die Position derer stärke, die eine Alternative zur Austeritätspolitik wollen. Wäre das nicht ein guter Grund für Sie gewesen, ein »Nein« beim Referendum zu unterstützten? Die Europäischen Grünen haben sich aus Respekt vor der Entscheidung der griechischen Bürger mit Empfehlungen zurückgehalten. Ich halte nichts davon, wenn man aus Deutschland den Bürgern in Griechenland schlaue Ratschläge gibt, wie sie bei einer so schwierigen Entscheidung abstimmen sollen. Zurückhaltung hätte auch der Rolle eines zur Neutralität verpflichteten Präsidenten des Europaparlaments gut gestanden. Es ist leider nicht das erste Mal, dass Martin Schulz eine demokratische Haltung vermissen lässt. Aber zum vermeintlich glorreichen »Nein«: Ich bin mir sehr unsicher, ob das die Verhandlungspo­sition der Griechen wirklich stärkt, weil es die Entscheidungsträger in Europa nur noch stärker zusammenschweißt. Zudem ist die Stimmung in der europäischen Bevölkerung bereits sehr kritisch gegenüber Tsipras. Die Absage an die weitere Sparpolitik kann in der europäischen Realpolitik als Absage an eine weitere Mitgliedschaft im Euro gewertet werden. Diese Interpretation ist aber von der Mehrheit in Griechenland nicht gewollt und könnte im Ergebnis zu einer Katastrophe führen. Wir müssen uns bewusst machen: Das »Oxi« ist kein Nein zum Euro oder Europa. Ist es nicht überhaupt ein Versäumnis der Grünen in Europa, Kräfte wie Syriza nicht viel stärker zu unterstützen? Schließlich handelt es sich um Bewegungen, die mit den autoritären Konzepten der traditionalistischen Linken gebrochen haben, starke Elemente von Basisdemokratie praktizieren und damit auch Themen aufgreifen, die am Anfang vieler grüner und ökologischer Bewegungen gestanden ­haben. Syriza selbst ist ein breites Bündnis. Da gibt es Sozialdemokraten und moderne Marxisten. In Sy­riza gibt es auch Teile, die sich in Deutschland oder Frankreich bei den Grünen politisch zu Hause fühlen würden. Die griechischen Grünen sind ein Teil, wenn auch ein sehr kleiner, der Syriza-Regierung. Allerdings finde ich Basisdemokratie nicht die richtige Beschreibung für eine Regierung, die ausschließlich aus Männern besteht, deren wichtige Entscheidungen wiederum in einem sehr kleinen Kreis von Männern getroffen werden und die ihre Koalitionsmehrheit mit Rechtspopulisten und Rassisten findet. Es gibt zudem in Syriza einen starken altlinken Flügel, der derzeit in Braunkohle und Goldabbau mit Menschenrechtsverletzungen und Naturzer­störung eine wirtschaftliche Zukunft sieht. Der macht derzeit unserem grünen Umweltminister das Leben zur Hölle. Hinzu kommt eine rele­vante Gruppe von Trotzkisten, mit denen – Ausnahmen bestätigen die Regel – nur schwer aus­zukommen ist. In dieser Situation kann es keine pauschale Unterstützung für Tsipras geben. Es kann daher nur um kritische Solidarität gehen. Wir Grüne waren Syriza gerade am Anfang äußerst wohlgesinnt, weil wir ihren Einsatz gegen die Austeritätspolitik richtig finden und unterstützen. Wir waren auch mehrfach vor Ort zu Gesprächen. Aber wir müssen auch sehen, dass Tsipras’ Leute gerade aus linker Sicht vieles nicht erreicht haben. Wie die deutsche Linkspartei den Claqueur der Tsipras-Regierung in Deutschland macht, finde ich deshalb peinlich. Wäre es nicht jetzt an der Zeit, auch in Spanien und anderen Ländern Referenden zu fordern? Schließlich gab es auch dort einen starken Widerstand gegen die Austeritätspolitik, die von den Regierungen rücksichtslos durchgesetzt wurde. Grundsätzlich bin ich immer für die Stärkung der direkten Demokratie, solange dabei die Grundrechte nicht zur Disposition gestellt werden. ­Allerdings sind Volksabstimmungen nur dann emanzipatorisch, wenn klar ist, worüber abgestimmt wird, und eine faire und breite öffentliche Debatte stattgefunden hat. In Griechenland war das jedoch nicht der Fall. Es wurde gleichzeitig über mehrere verschiedene Fragen abgestimmt: Über die Austeritätspolitik und die Demütigung der griechischen Regierung in der letzten Verhandlungswoche sowie über das Verhältnis zwischen Griechenland und Europa be­ziehungsweise dem Euro. In Spanien wie auch in Portugal und Irland waren zwar die Troika-Programme genauso ungerecht wie in Griechenland, aber sie wurden in Wahlen mehrfach bestätigt. Die dortigen Wahlen waren im Grunde mehrfach Volksabstimmungen über den Kurs in der Finanzkrise. Der Kurs gefällt mir zwar nicht, aber es wäre arrogant, diese Wahlen nicht zu respektieren. Der Ökonom Thomas Piketty erklärte kürzlich in der Zeit, dass Deutschland, historisch gesehen, seine Schulden sowohl nach dem Ersten wie auch dem Zweiten Weltkrieg nicht bezahlt hat. Warum machen die Grünen solche historischen Fakten nicht bekannter? Das haben wir im Bundestag gemacht. Allerdings bezweifle ich, dass man damit politisch weit kommt. Entscheidend bleibt vielmehr: Deutschland ist dabei, sich in Europa als selbstsüchtiger Hegemon aufzustellen. Durch die Folgen der Finanzkrise in Frankreich und die Selbstschwächung Großbritanniens ist Deutschland jetzt eindeutig das wirtschaftlich und politisch mächtigste Land in Europa. Bislang ist daraus aber nicht das Verständnis gewachsen, diese Macht im Interesse aller in Europa zu nutzen. Vielmehr setzt Deutschland eine Wirtschaftspolitik durch, die die Anpassungslast in der Krise einseitig auf die anderen Länder abwälzt. Symbolisch dafür ist das Festhalten an den hohen Exportüberschüssen, die letztlich Instabilität in der Eurozone und darüber hinaus schaffen, und die Verweigerung einer solidarisch finanzierten Investitionspolitik in Europa. Deutsche Hegemoniepolitik in Europa ist nicht nur egoistisch, sie funktioniert auch nicht. Die europäische Einigung bleibt die größte Chance, die wir haben, Demokratie, Menschenrechte und Ökologie auch unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu stärken. Trotz aller Widersprüche des realen Handelns der EU – durch eine Schwächung der europäischen ­Einigung wird nichts besser. Die Chancen, dem Kapitalismus und insbesondere dem Finanzmarktkapitalismus mit demokratisch erstrittenen Regeln menschliche Grenzen zu setzen, werden durch die Schwächung Europas ungleich schlechter. Somit ist die europäische Einigung im Interesse der Mehrheit und praktisch aller progressiven Bewegungen in Europa. Vertiefte europäische Demokratie ist schwer zu erreichen, und die Fehler Europas sind schwer zu korrigieren. Aber das europäische Projekt von links aufzugeben, wäre ein unverzeihlicher Fehler, denn eine bessere Wettoption haben wir nicht. Der Nationalstaat wird sicher nicht die Ebene sein, auf der wir der ökonomischen Globalisierung demokratisch begegnen können. Sie haben die Politik der griechischen Regierung häufiger kritisiert. Wo sehen Sie deren Hauptfehler? Bis heute sehe ich in der Syriza-Regierung eine Chance, Griechenland grundlegend zu verändern. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie es nicht alleine schafft. In den ersten fünf Monaten ist bei den zentralen Problemen – Leistungsfähigkeit der Verwaltung, Klientelismus und Steuerverwaltung – nichts Relevantes vorangegangen. Anders als versprochen, wurde die Lagarde-Liste mit 1063 reichen griechischen Kontoinhabern in der Schweiz nicht abgearbeitet. Stattdessen wurden Steuerzahlern mit Millionenausständen gegenüber dem Fiskus Rabatte gewährt, wenn sie ihre Steuern doch begleichen. Der Vorschlag, die Namen von Steuersäumigen mit mehr als 500 000 Euro Rückstand ins Internet zu stellen, wurde nicht umgesetzt. Bei der Kürzung der ­Militärausgaben ist es unter Syriza nicht weiter vorangegangen. Es ist eine wenig überzeugende Ausrede, dass die Erfolge nur wegen der Troika ausgeblieben sind. Im Gegenteil, es gibt viele ­negative Zeugnisse, auch die Syriza-Regierung pflegt ihren mächtigen Klientelismus. Dieser Mangel an Erfolgen ist leider fatal. Er war ein Hauptgrund, warum es so leicht war, die griechische Regierung in der Euro-Gruppe zu isolieren. Bei sichtbaren Erfolgen hätten Tsipras und Varoufakis mit einer ganz anderen Glaubwürdigkeit auftreten können. Es ist einfach bitter, dass sie es Schäuble und anderen Scharfmachern gegenüber Griechenland so leicht gemacht haben.
Peter Nowak
Peter Nowak: Sven Giegold im Gespräch über das griechische Referendum
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Thema
09.07.2015
https://jungle.world//artikel/2015/28/der-mangel-erfolgen-ist-fatal?page=0%2C%2C3
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https://jungle.world//user/login?destination=/artikel/2005/02/ende-des-geldsegens%3Fpage%3D0%252C%252C0
Die Reaktion
Über den Artikel »Kein Upgrade für Palästina« (39/2011) entspann sich eine Debatte auf unserer Facebook-Seite. Anastasia-Margarita I. schrieb: »Wenn Pally-Wood ein eigenständiger Staat wird, dann gibt es schon wieder eine Diktatur im Nahen Osten, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Dabei wollten die Aktivisten des arabischen Frühlings die arabischen Länder demokratisieren.« »Genosse Artjom« postete: »Die völkisch-nationalistischen Strömungen mit ihrem Traum von ›ganz Israel‹ unterwandern mit ihren Expansionsbestrebungen den Schutzauftrag des zionistischen Staates. Eine klare Grenze, die die Basis eines wie auch immer ›eigenständigen‹ Staates ist, ist eine Bedingung für die Sicherheit der Holocaustüberlebenden. Nur so am Rande.« Pascal T. antwortete: »a) Die völkisch-nationalistischen Strömungen (die, denke ich, einen großen Teil der Siedler tief im Westjordanland ausmachen) sind in Israel ein Randphänomen, dem ein Staat, der für alle Juden da ist, jedoch Rechnung tragen muss. b) Die völkisch-nationalistische Idee eines judenreinen Großpalästinas sind palästinensischer und arabischer Mainstream. Deshalb muss die von dir geforderte klare Grenze zu verteidigen sein und kann eben nicht unilateral erklärt werden. Immerhin sind auch die Grenzen von ’67 ein Ergebnis des Versuchs, Israel zu vernichten. Das ist der Unterschied.« Dick L. meinte: »Wieso wird eigentlich so oft in einen reflexartigen Zynismus verfallen, wenn es um die Lebensbedingungen ›der Palästinenser‹ geht?« Zum Artikel »Eine Burg namens Deutschland« über die Euro-Krise schrieb Christoph K.: »Diejenigen, die einer Machtübertragung an ein demokratisch nicht legitimiertes Gremium widersprechen, als Euro-Gegner oder gar als Rechtspopu­listen zu diffamieren, ist perfide und gefährlich. Schade, dass die Jungle World hier unkritisch die Regierungsmeinung wiederkäut. Das ist ein Bärendienst für Europa.« Und per E-Mail gibt’s von Boris Lob für den letzten linken Studenten: »Absolut toll der Beitrag von Jörg Sundermeier: Lest Hölderlin! Er gefällt mir sehr gut. Auch seinen eigenwilligen Schreibstil: finde ich super …«
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Homestory
06.10.2011
https://jungle.world//artikel/2011/40/die-reaktion?page=0%2C%2C3
Vier Dollar Kopfgeld
"Zu Jamil Mahuad gibt es keine Alternative", verkündeten in der vergangenen Woche in Ecuador ausgerechnet zwei Kandidaten, die im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl noch gegen den Christdemokraten angetreten waren: Rodrigo Borja, Kandidat der sozialdemokratischen Izquierda Democr‡tica und zwischen 1988 und 1992 Präsident des Landes, und der bekannte Fernsehjournalist Freddy Ehlers. Beide waren mit 14 bzw. zwölf Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang am 31. Mai gescheitert, statt dessen wird in der Stichwahl der Populist Alvaro Noboa Pont-n gegen Mahuad antreten. Dabei war sich die Öffentlichkeit so sicher, daß die 7,1 Millionen stimmberechtigten Ecuadorianer nicht erneut auf einen Populisten setzen würden. Hatten sie doch erst am 6. Februar letzten Jahres den damaligen Amtsinhaber Abdala Bucaram, genannt "el locco" - der Verrückte -, per Referendum wegen "geistiger Unfähigkeit" seines Postens enthoben. Mit knapp 30 Prozent nimmt der reichste Mann des Landes dennoch an den für den 12. Juli vorgesehenen Stichwahlen teil. Im Wahlkampf hatte sich Noboa Pont-n linkspopulistisch gegeben und 200 000 Sozialwohnungen und eine Million neue Arbeitsplätze versprochen. Rund 50 Millionen US-Dollar soll ihn die Wahlkampagne gekostet haben. Um einen Sieg des 47jährigen Bananenexporteurs zu verhindern, setzen Borja und der als linker Hoffnungsträger geltende Ehlers nun auf Mahuad, den ehemaligen Bürgermeister der Hauptstadt Quito. Der in Harvard ausgebildete Jurist und Universitätsdozent, der in der Millionenmetropole die Stadtverwaltung und das Verkehrssystem reformierte und fliegende Händler wie Obdachlose aus der City vertreiben ließ, entschied zwar den ersten Wahlgang mit 36,7 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich, verfügt aber nicht über so große Finanzmittel wie Noboa, der insgesamt 105 Unternehmen besitzt. Formell als unabhängiger Kandidat antretend, aber die Infrastruktur der Partido Roldosista Ecuatoriano nutzend - die nach dem von 1979 bis 1981 regierenden christdemokratischen Präsidenten Jaime Rold-s benannt ist -, stellte sich Noboa als selbstloser Wohltäter dar. Er besuchte die von heftigen Regenfällen und Überschwemmungen betroffene Küstenregion und verteilte dort Geld (vier US-Dollar pro Kopf) und Lebensmittel als Wahlgeschenke. Auch seine Frau, eine Ärztin, richtete einen medizinischen Hilfsdienst und zahlreiche improvisierte Hospitäler in der Region ein und verhalf ihrem Mann zu Präsenz in Funk und Fernsehen. In dem weniger programmatisch geprägten Wahlkampf dominierten vor allem gegenseitige Vorwürfe das Geschehen: Mahuad, so war seitens des reichen Polit-Neulings zu hören, würde sich seinen Wahlkampf von den Drogencliquen des Landes finanzieren lassen und sich aus dieser Quelle auch persönlich bereichern. Mahuad, Enkel libanesischer Einwanderer, konterte mit dem Argument, diese "Diffamierungen" kämen eigentlich aus dem nördlich gelegenen Panama. Dort nämlich sitzt der Ex-Präsident Bucaram. Noboa gilt als enger Freund Bucarams und kündigte bereits an, dem Ex-Präsidenten im Falle eines Wahlsiegs die Rückkehr zu ermöglichen und ihn zu rehabilitieren. In der Tat hat sich Bucaram aus dem Exil zu Wort gemeldet. In zwei ecuadorianischen Fernsehsendern und mit einer Anzeigenkampagne in Tageszeitungen bezog er eindeutig Stellung für "seinen Kandidaten" Noboa. Insgesamt zeichnete sich in Meinungsumfragen allerdings in weiten Teilen der Bevölkerung eine "Demokratiemüdigkeit" ab. Als Alternative aber werden in der öffentlichen Diskussion fast ausschließlich autoritäre Staatsmodelle erwogen. Für die größte außerparlamentarische Gruppierung, die Indigena-Organisation Confederaci-n Indigena del Ecuador (Conaie), verkörpert bereits Noboa als "Rückkehr zum bucaramato" puren Autoritarismus. Obwohl die Conaie im ersten Wahlgang ein Zweckbündnis mit dem linken Hoffnungsträger Ehlers einging, um ihre Forderungen nach Agrarreform und politischer Partizipation der Indigenas umzusetzen, will sie im zweiten Wahlgang keine Wahlempfehlung abgeben. Statt dessen, so heißt es in einer Erklärung, "werden wir unsere Basisorganisationen aufrufen, jeden Versuch, zum bucaramato zurückzukehren, zu verhindern."
Knut Henkel
Knut Henkel:
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Ausland
09.06.1998
https://jungle.world//artikel/1998/24/vier-dollar-kopfgeld?page=0%2C%2C0
Häschen in der Heiligen Stadt
Im Vergleich zur fast dreißigjährigen Geschichte der israelischen Schwulenbewegung, die ihren Ursprung im säkularen Tel Aviv hat, ist die noch junge Geschichte der Schwulenbewegung in Jerusalem eher stürmisch und extrem politisch. Am 3. Juni fand die Gay Pride Parade zum dritten Mal in der israelischen Hauptstadt statt. Ungefähr 1 500 Menschen zogen vom Zionsplatz im Stadtzentrum Westjerusalems bis in den Paamon-Park, wo beim anschließenden Happening 3 000 Menschen gezählt wurden. Das Motto der Parade lautete wie in jedem Jahr »Liebe ohne Grenzen«. Tatsächlich symbolisiert die Parade in Jerusalem die gesellschaftliche Öffnung gegenüber Homosexualität, ein reifer gewordenes Israel, das mit der Aufhebung von homophoben Gesetzen aus der britischen Mandatszeit nun die Konfrontation mit den konservativen, rechtsgerichteten und rassistischen Kräften nicht scheut. Und doch würde ein Pessimist sagen, dass die jüngsten Spannungen und die Polemiken der extremen Rechten gegen die Parade mit einem gesellschaftlichen Rechtsruck und steigender Intoleranz gegenüber jedweden Minderheiten einhergehen. In Krisenzeiten, in denen man kaum von Stabilität sprechen kann, ruft das Fremdartige, Unbekannte bei vielen Menschen intensive und existenzielle feindliche Assoziationen hervor. So gehört die Parole »Ohne Perverse keine Terroranschläge« bei den rechtsextremen Gegendemonstranten der Kach-Bewegung, die sich jedes Jahr einfinden, zum Standardrepertoire. Und jedes Jahr werden ihre Übergriffe intensiver und sind von größerem Ausmaß. Auch in diesem Jahr kam es vor der Parade zu einer Reihe von homophoben Übergriffen, die zum Ziel hatten, die Demonstration zu sabotieren. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren erhielten die Gegner der Parade diesmal Unterstützung von der im letzten Jahr neu gewählten Stadtverwaltung unter der Führung des ersten ultraorthodoxen Bürgermeisters, Uri Lupolianski von der Agudat-Yisrael-Partei. Dieser macht keinen Hehl aus seiner feindlichen Gesinnung gegenüber Homosexuellen. Nach heftiger Kritik der Organisatoren der Parade vom Jerusalem Open House, dem Zentrum für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle in der Stadt, bezeichnete er Homosexuelle in der Tageszeitung Ha’aretz als »hässliches Phänomen, das nicht sein darf«. Ferner gab er zum Besten: »Wenn ich die gesetzlichen Mittel dazu gehabt hätte, eine Parade zu verhindern, welche der Stadt und ihren Bürgern einen derartigen Schaden zufügt, hätte ich sie verhindert. Ich habe es versucht, aber mir wurde klar gemacht, dass ich keine Befugnis dazu habe.« Gleichzeitig kommt es vermehrt zu Übergriffen von Rechtsextremen. In der Woche vor der Parade hingen in ganz Jerusalem Wandzeitungen mit folgendem Wortlaut aus: »Mutter, ich habe gehört, dass die bösen Leute, welche den kleinen Kindern in öffentlichen Parkanlagen auflauern, um ihnen Böses, Sodomistisches anzutun, beschlossen haben, eine Parade in den finsteren Parks abzuhalten. Vater! Mutter! Lasst sie nicht auf die Straße gehen! Hilfe, ich fürchte mich!« In weiteren Wandzeitungen wurde der offen schwule Stadtratsabgeordnete Sa’ar Nethanel von der linksliberalen Yahad (früher Meretz)-Fraktion diffamiert und seine Telefonnummern wurden veröffentlicht. Als Reaktion auf diese Diffamierungskampagne erwiderte Nethanel, sie sei ein Beweis dafür, wie sehr Jerusalem einen toleranten Stadtratsabgeordneten benötige, der der schwul-lesbischen Gemeinschaft angehöre, und wie wichtig die Parade für die Stadt geworden sei: »Jerusalem benötigt das, was unsere Regenbogenfahne symbolisiert. Nach all dem Blutvergießen, dem Sterben, dem Rassismus verlangt die Stadt nach ein wenig Erbarmen. Aber die Stadtverwaltung will das nicht, sie bevorzugt Schwarz und nicht unsere Farben.« Als ein von Nethanel organisierter Empfang im Rathaus aufgrund »logistischer« Probleme abgesagt wurde, die Stadtverwaltung ihre vorjährige Abmachung, Regenbogenfahnen entlang der Marschroute aufzuhängen, nicht einhielt und dem Jerusalem Open House auf höchster gerichtlicher Ebene eingeklagte Gelder weiterhin vorenthielt, rief der Abgeordnete all jene auf, zu der Parade zu kommen, denen etwas an den Menschenrechten liegt. »Dieser Konflikt ist längst nicht mehr nur ein Konflikt in Jerusalem, sondern betrifft jeden, der die Toleranz den finsteren und fanatischen Kräften vorzieht. Am Ende haben wir Recht, und wir werden siegen«, schloss er seinen Aufruf. In der Tat erhielt die Jerusalemer Pride Parade schon längst politischen und gesellschaftlichen Symbolcharakter, denn bei keinem anderen Ereignis in Israel marschieren orthodoxe Männer gemeinsam mit Soldaten, Mitgliedern vieler verschiedener ethnischer Gruppen und sozioökonomischer Schichten und – nicht zu vergessen – palästinensischen Bürgern Ostjerusalems. Am Rande der diesjährigen Gayparade war ein Transparent zu sehen mit der Aufschrift: »Jerusalem is the Holiest City in the World – Jerusalem is not San Francisco, Paris, Berlin.« Auch wenn das Plakat auf der Gegendemonstration getragen wurde, so widerspricht seine Botschaft keineswegs den Werten, für die die Parade steht: Jerusalem hat tatsächlich eine einmalige Bedeutung, und das gleich für drei monotheistische Weltreligionen. Die Parade stellt einen Versuch dar, die Stadt allen Menschen verfügbar zu machen, eine Atmosphäre und ein Ereignis zu schaffen, das Menschen in der vom Terror gequälten Stadt wieder auf die Straßen lockt. So sagte eine Repräsentantin der Gruppe palästinensischer Lesben, sie hätten sich entschieden mitzumarschieren, »um uns sichtbar zu machen und auf die Diskriminierung von Frauen aufmerksam zu machen.« Auf die Denunziationen und homophoben Ausfälle gegen die Gay Pride Parade reagieren die Betroffenen inzwischen immer souveräner. Zum Beispiel, als der Rabbiner David Kazri im Nachrichtenportal ynet.co.il seine Ansichten zur Homosexualität zum Besten gab. Sie sei, meinte Kazri, keine Krankheit oder Perversion, sondern das pure Grauen: »Sogar Tiere verhalten sich nicht so. Zur Strafe werden die Homosexuellen in ihrem nächsten Leben als Hasen und Kaninchen zurückkehren.« Die Mitglieder der Studentenvereinigung »The Other 10 Percent« an der Hebräischen Universität nahmen es von der humoristischen Seite und trugen Häschenohren mit der Aufschrift »Häschen bereits in diesem Leben«. Hagai El-Ad, Geschäftsführer des Jerusalem Open House, richtete folgende Botschaft an das im Paamon-Park versammelte Publikum: »Guten Abend auch an die Stadtverwaltung, die unsere Fahnen nicht toleriert. Das ist unsere fröhliche Antwort an sie.« Und nicht die letzte. Im nächsten Jahr soll in der Heiligen Stadt die »World Pride 2005« stattfinden. Der Autor ist Mitarbeiter des deutsch-israelischen Online-Magazins hagalil. Weitere Infos zu Homosexualität in Israel: http://www.glbt-news.israel-live.de
itai gall
itai gall:
[]
Inland
23.06.2004
https://jungle.world//artikel/2004/26/haeschen-der-heiligen-stadt?page=0%2C%2C1
Die Chiffre Sarrazin
Was braucht es, um in Deutschland zum »Märtyrer der Meinungsfreiheit« (FAZ) zu werden? Es braucht ein von einem »Klartext-Politiker« (Bild) verfasstes Sachbuch mit dem Titel »Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzten«, das publikumswirksam im Haus der Bundespressekonferenz präsentiert wird. Dazu kommen als »Tabubruch« inszenierte Vorabdrucke in Leitmedien wie Bild und Spiegel sowie Auftritte in Talkshows. Es braucht überdies mit der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) einen renommierten Verlag, der keine Bedenken hat, Propaganda für eine moderne Variante der Sozialeugenik in die Verkaufslisten zu befördern. Die als deutsche »Identitätsdebatte« geführte Kontroverse um das Pamphlet des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin trägt vielfach irrationale Züge. In den Medien präsente Themen wie Ausländerkriminalität, Ehrenmorde oder Zwangsehen aufzugreifen, wird als »Tabu« gehandelt, das das Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank mutig gebrochen habe. Auch Henryk M. Broder oder Necla Kelek, die Sarrazin in der Debatte lautstark unterstützen, gerieren sich, als hätten sie mit ihren Positionen im vermeintlich politisch korrekten Deutschland Auftrittsverbot und müssten ihre Bestseller als Kassiber im Untergrund unter die Leute bringen. Kritik an Sarrazin gilt diesen Liberalen wohl als Tugendterror. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel zaghafte Einwände gegen ein Buch äußerte, das sie angesichts des Wiederholungszwangs seines Verfassers kaum lesen musste, um den Inhalt zu kennen, entblödeten sich selbst kritische Geister nicht, die Liste der Nazi-Vergleiche mit dem Verweis auf die Tradition der »Reichsschrifttumskammer« zu bereichern. Wie wäre ein vergleichbarer Streit in den USA verlaufen? Angenommen, ein Repräsentant der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hätte über afroamerikanische welfare queens gesagt, diese würden »ständig neue kleine kraushaarige Kinder produzieren«. Zudem hätte dieser Vorstand der Fed die überdurchschnittliche Intelligenz aschkenasischer Juden gepriesen, die Integrationswilligkeit der muslimischen Communitys bestritten und als Erbforscher über ein »jüdisches Gen«, die »natürliche Zuchtwahl« und »negative Selektion« dilettiert. Wie lange wäre er wohl – egal ob unter George W. Bush oder Barack Obama – im Amt geblieben? Der Antrag, Thilo Sarrazin aus dem Vorstand der Bundesbank zu entlassen, folgt auch dem Interesse der Exportnation Deutschland, deren Regierung Rücksicht auf internationale Kritik nimmt. Für das Image der Bundesbank wäre der meinungsfreudige Ökonom ein virulentes Problem. Doch trotz der drohenden Amtsenthebung durch Bundespräsident Christian Wulff (CDU) und eines möglichen Ausschlusses aus seiner Partei, der SPD, ist Sarrazin in einem Punkt schon jetzt der Debattensieger. Seine Gegner können die Zustimmung in der Bevölkerung nicht ignorieren. Bleibt Sarrazin in der SPD, gelten dessen rassistische und sozialeugenische Ansichten als legitimer Programmteil einer »Volkspartei«. Im Falle von Amtsenthebung und Parteiausschluss gilt er wiederum als Opfer der Sprach- und Gedankenpolizei. Richten sich Union und SPD aber nach seinen Vorgaben, verprellen sie die moderate »Mitte«. Der »Fall Sarrazin« verdeutlicht die Krise der Repräsentation. Bei der Modernisierung der Einwanderungspolitik folgen viele Wähler den Gewählten nicht. Anhänger Sarrazins sehen nicht ein, warum er zum Paria jener politischen Klasse degradiert werden soll, unter deren Beifall er zuletzt in der Hauptstadt »durchregiert« hat. In Leserbriefen und Internetforen findet sich viel Unterstützung für eine Reizfigur, deren Name alleine schon den Medien Marktanteile sichert. Die Chiffre »Sarrazin« dient außerdem als Munition gegen Christian Wulffs »bunte Republik«. Die Öffentlichkeit ist gespalten. Während die Leitartikel und Feuilletons zwischen pathetischer Verteidigung und Kritik changieren, tut sich Sarrazin effektvoll als Sprecher der »schweigenden Mehrheit« hervor. Der jüngste »Skandal« zeigt auch die Potentiale und Probleme einer deutschen Rechtspartei, deren mögliche Anhängerschaft eine von Bild am Sonntag in Auftrag gegebene Emnid-Umfrage auf rund 18 Prozent der Bevölkerung beziffert. Diese Tendenz ist nicht neu. Schon 2006 kam die Leipziger Studie »Vom Rand zur Mitte« zu dem Ergebnis, dass 8,6 Prozent der deutschen Bevölkerung ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Diese starke Minorität hat auf Bundesebene keinen Repräsentanten. Nicht nur die FAZ geht davon aus, dass ein »Hauch von Rebellion« wider die Altparteien in der Luft liegt. Dabei bedient Sarrazin nicht nur den rechten Rand. Geradezu obsessiven Zuspruch finden seine Thesen bei scheinaufgeklärten Liberalen, denen es vorgeblich um die Freiheit des Individuums und gegen die Macht der Sippe geht, die gleichzeitig aber voller Verachtung auf die staatlich alimentierte Unterschicht blicken. Hier hat der Finanzpolitiker durchaus einen Nerv getroffen. Bislang scheiterten Parteien rechts von der Union an ihrer internen Zerstrittenheit, einer fehlenden charismatischen Führungsfigur und an der offiziellen Stigmatisierung eklatanter Rechtsabweichungen. Wer aber auch immer Vorsitzender einen neuen deutschen Rechtspartei sein könnte – Thilo Sarrazin ist für den Posten eines massenwirksamen Volkstribuns denkbar ungeeignet. Sein Auftreten wirkt linkisch. Auch habituell ähnelt er zu sehr den Vertretern einer mit allen Gratifikationen ausgestatteten Staatsklasse, deren Berufsrisiko jenseits von Maulkorberlassen meist darin bestand, den Folgetermin zu verpassen. Sein Weltbild folgt der altsozialdemokratischen Fetischisierung von Vollbeschäftigung, Stechuhr und Lohnarbeit. Sarrazin formuliert einen klassischen neokonservativen Topos, der auch bei den sogenannten Kanalarbeitern in der SPD Beifall findet. Demnach schafft gerade der Sozialstaat die Anreize für die erhöhte Reproduktion der Unterschichten. Auch sozialeugenische Traditionen waren der Sozialdemokratie nicht fremd. Wie schon im »Kopftuchmädchen«-Interview seziert Sarrazin in seinem Buch die Bevölkerung mit dem kalt kalkulierenden Blick eines Betriebsprüfers. Scharf richtet er über die Fertilitätsraten der autochthonen Teile der Unterklassen und kritisiert deren mangelnde »Kaloriendisziplin«. Gerade dieser Tonfall käme »unten« dauerhaft nicht an. Für eine erfolgreiche Rechtspartei, die vom Professor bis zum Prekariat schichtenspezifisch agitieren müsste, wäre der ressentimentgeladene Bildungsbürger zu elitär. Derzeit ist Sarrazin der Wunschkandidat für eine Gegenelite, die aus einer diffusen Stimmung herbeigesehnt wird. Entscheidender als die Person ist jedoch, warum er zum Initiator der aktuellen Debatte über die Einwanderungsgesellschaft werden konnte. Wohlfeile linksliberale Kritik übersieht hier eine unangenehme Wahrheit: Sarrazin stellt die nicht nur bei den Grünen immer noch anzutreffende »Die Ausländer bereichern uns doch«-Rhetorik vom Kopf auf die Füße. Auch in dieser »multikulturellen« Logik werden Migranten vom Müllmann bis zur Putzfrau nach funktionalen Kriterien sortiert. Erhöht sich der Anteil derjenigen, die Transferleistungen beziehen, funktioniert diese ohnehin schwache Argumentation überhaupt nicht mehr. »Ausländer« galten immer als ökonomische Verfügungsmasse. Doch selbst nach liberal-kapitalistischen Maßstäben ist Deutschland kein modernes Einwanderungsland, ist Berlin nicht Birmingham. Programmatisch wurde die deutsche Ausländerpolitik jahrzehntelang vom Primat der Blutbande, von Rückkehrprämien und Realitätsleugnung bestimmt. Wäre Deutschland wirklich »politisch korrekt« – hätte es dann die Opfer der rassistischen Asyldebatte der neunziger Jahre, als in den Zeitungen gegen Asylbewerber gehetzt wurde und Brandsätze in die Flüchtlingsheime geworfen wurden, geben können? Die programmatische Rückständigkeit und das Wissen um die Stimmungslage in Teilen der Öffentlichkeit erklärt den aufgeschreckten Aktionismus als Reaktion auf Sarrazins Bestseller. Dass dieser trotz des darin enthaltenen Sozialdarwinismus als Impuls für eine neue Migrationsdebatte wirken kann, zeigt, dass zumindest für einen Backlash in der Debatte eine neue Rechtspartei gar nicht nötig ist.
richard gebhardt
richard gebhardt: Der Fall Sarrazin und die SPD
[ "Thilo Sarrazin", "SPD" ]
Inland
09.09.2010
https://jungle.world//artikel/2010/36/die-chiffre-sarrazin?page=0%2C%2C0
»Hier im Projekt ist es sicher«
Immer optimistisch bleiben. Müllcontainer vor dem Camp Moria Wenig hat sich in den sogenannten Hotspots auf den griechischen Inseln seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 getan. Die Lage in den Flüchtlingslagern, etwa dem Moria-Camp, in Lesbos seien »die Hölle«, »eine Schande für Europa« und eine »einzige Katastrophe«, wie in den vergangenen Monaten in unzähligen Reportagen und Berichten aus Griechenland zu ­lesen war. Fast 8 000 Menschen müssen Tag für Tag in diesen Lagern leben und überleben. Das sind auch 8 000 Schicksale von Menschen, die mehr sind als nur Objekte einer völlig verfehlten Flüchtlingspolitik. Vier von ihnen kommen an dieser Stelle zu Wort. Ihre Geschichten wurden von den Autoren aus dem Englischen übersetzt. Zehn Minuten zu Fuß entfernt von dem Camp hat die lokale griechische Hilfsorganisation »Stand by me Lesvos« an einem Hang mit Olivenbäumen vor fünf Monaten eine improvisierte Schule eröffnet. Mittlerweile besuchen gut 500 Frauen, vor allem aus Afghanistan, dort Kurse in Englisch und Griechisch. Unterrichtet wird in Zelten und einem aus Paletten ­gezimmerten Häuschen, in einem Container lagern Nahrungsmittel und Güter für den alltäglichen Bedarf, die im Gegenzug für die Teilnahme an den Kursen an die Flüchtlingsfrauen verteilt werden.   Masumeh Sarah Ich habe zwei Namen: Masumeh, aber auch Sarah. Das ist bei uns in Afghanistan so üblich. Ein Name ist für die Öffentlichkeit und einer für Familie und Freunde. Ich bin im Iran geboren worden, in einem Flüchtlingslager, und dort auch aufgewachsen. In Mashhad, wo sehr viele Afghanen leben. Seit ungefähr 50 Tagen bin ich auf Lesbos. Ich arbeite hier im Projekt als Englischlehrerin. Ich arbeite hier als Freiwillige. Ich hatte gehört, dass es diese Schule für Frauen gibt und dass man hier jede Woche eine Ration Extranahrung bekommt. Ich habe mir das dann erst einmal angeschaut, mich als Schülerin gemeldet, um zu sehen, wie es hier ist. Und es hat mir gefallen. Als ich hörte, dass sie dringend Lehrerinnen brauchen, habe ich mich gemeldet. Jetzt helfe ich außerdem bei der Organisation, der Registrierung der Frauen zum Beispiel. Masumeh Sarah   Ich habe Englisch von Afrikanern in türkischen Flüchtlingslagern gelernt. Ich glaube, das war sogar ein Gefangenenlager, weil die türkische Polizei mich einmal beim Versuch, nach Griechenland zu gelangen, festgenommen hat. Da waren viele Somalier und Nigerianer und so habe ich Englisch gelernt. Ich war da einige Zeit, bis ich freigelassen wurde. Danach habe ich es nochmal versucht, nach Griechenland zu kommen und es hat funktioniert. Die griechische Polizei hat uns dann hierher ins Moria-Lager gebracht. Ich weiß nicht, was weiter passieren wird. Niemand weiß das. Wir warten. Nichts ist klar. Ich hatte einen Termin für meine Anhörung, aber den haben sie verschoben. So ist unser Leben hier, wir wissen nichts. Vielleicht stelle ich mich nachher zur Essensausgabe im Lager an und jemand fängt einen Streit mit mir an und ersticht mich. Da kommt es jeden Tag zu Konflikten, Leute schreien sich an, drängeln und werden gewalttätig. Ich lebe im Camp, weil ich Schmerzen am Fuß habe, nicht im Dschungel. Dschungel! So nennen wir das Zeltlager neben dem Camp. Aber für mich wäre es besser, da zu leben, denn dort sind die meisten Afghanen untergebracht. In Moria sind es viele Araber und auch wenn meine Nachbarn wirklich nett sind, kommt es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den Arabern und den ­Afghanen. Und das betrifft uns dann alle. Für Afghanen ist deshalb der Dschungel sicherer. Ich fürchte, der Winter wird schlimm. Vor allem, wenn es schneien sollte. Vor einiger Zeit hat es hier heftig geregnet und da konnten die Leute ihre Zelte nicht verlassen, alles war verschlammt und einige der Zelte sind sogar eingestürzt. Schon damals sind viele Kinder, aber auch Frauen und Männer krank geworden. Und die ärztliche Versorgung hier ist ganz schlecht. Es gibt zu wenige Ärzte und sie kümmern sich nicht wirklich um einen. Sie geben kaum Medizin. Vielleicht haben sie einfach zu wenig. Das weiß ich nicht. Sie sagen den meisten Leuten: »Trinkt viel Wasser.« Mehr nicht. Offiziell sollen sie bis fünf Uhr nachmittags arbeiten. Aber ganz oft gehen sie schon um zwei oder drei. Dann bleiben nur die Krankenschwestern. Als ich kam, hatte ich nichts. Auch kein Geld. Zum Glück haben mir damals die arabischen Nachbarn geholfen und uns etwas Geld geliehen. Jetzt habe ich auch einen kleinen Kocher und kann vor dem Zelt kochen. Und ich bin recht froh, dass wir nur zu zweit sind, andere müssen sich zu sechst ein Zelt teilen. Ich lebe jetzt mit meinen Bruder. Das ist sehr schön, denn wir haben uns hier in Lesbos getroffen. Wir sind getrennt in die Türkei gefahren damals. Mein Bruder kam aus Afghanistan, ich aus dem Iran. Jetzt erhalten wir hier 90 Euro im Monat. Die Frauen hier im Projekt wollen vor allem Englisch lernen. Sie wissen, dass sie das brauchen werden. Und sie brauchen die zusätzlichen Nahrungsmittelrationen, die man hier am Ende jeder ­Woche bekommt. Manche kommen auch nur wegen der Nahrung, aber sie müssen eben vorher die Kurse besuchen. Aber ich freue mich, dass die meisten wirklich lernen wollen. Ich unterrichte jeden Tag eine Klasse und springe manchmal ein, wenn andere Lehrerinnen nicht kommen. Aber mehr als eine Klasse am Tag zu unterrichten, ist schwierig, ich verliere dann schnell die Nerven, fange an laut zu werden. Die ganze Flucht und alles, was ich erlebt habe, belastet mich, ich habe, wie fast alle hier, auch mit eigenen psychischen Problemen zu kämpfen. Ich möchte nicht erzählen, warum ich geflohen bin, zu meiner Sicherheit, denn wenn einige der Leute im Camp das erfahren würden, dann bekäme ich Probleme. Dieser Ort hier ist sicher und hier kann man sich entspannen. Nur der Weg hierher ist nicht sicher. Männer versuchen einem ­aufzulauern, weil wir ja durch einen kleinen Olivenhain laufen müssen. Man muss immer aufpassen. Es gibt unglaublich viele solcher Probleme in Moria. Frauen haben hier immer Angst. Deshalb kommen sie auch immer in kleinen Gruppen, nie alleine. In Moria ist es genau so. Ich verlasse nachts mein Zelt nicht mehr. Ich habe in den letzten Wochen viel gesehen und erlebt. Ratten und andere Tiere, und dann gibt es nicht genug Toiletten. Die nächste ist 300 Meter entfernt. Da kann man nachts nicht einfach hingehen. Und es ist dunkel da. Dann ist da das Dusch- und Wachproblem: Frauen nutzen die Duschen nicht, die sind offen und das ist sehr gefährlich. Es gibt nicht einmal heißes Wasser. Für Frauen gibt es deshalb ein Projekt, Duschen außerhalb, wo sie hingehen können. Das ist ein Projekt von einer Hilfsorganisation. Ich möchte gerne weiter als Lehrerin arbeiten und auch helfen, diese Projekte hier zu verbessern. Ich arbeite sehr gerne mit anderen Menschen. Auch im Iran habe ich als Freiwillige anderen afghanischen Flüchtlingen geholfen. In ganz verschiedenen Bereichen. Deshalb mag ich es es hier, finde es sehr gut und wichtig. Es ist wichtig, etwas zu tun zu haben, nicht nur den ganzen Tag herumzusitzen und über die eigenen Probleme nachzudenken. Und wenn man mich lässt, dann habe ich viele Ideen, was man hier noch besser machen könnte. Wir brauchen zum Beispiel einen Platz für die Kinder, die sitzen jetzt noch mit ihren Eltern in den Klassen und stören. Und wir brauchen mehr Material. Vor allem aber müssten die Lehrer besser ausgebildet werden, auch wie sie mit all den Problemen der Frauen umgehen können. Die meisten hier haben so viele Probleme und brauchen dringend Hilfe.   Mohammad Ich heiße Mohammad und komme aus Lahore in Pakistan und ich bin jetzt seit fast drei Jahren in Lesbos. Ich warte noch immer auf eine Entscheidung über meinen Asylantrag. Ich bin 2016 hierhergekommen und ich bin fast den ganzen Weg gelaufen. Erst in den Iran, dann in den Irak, in die Türkei bis nach Istanbul und von dort nach Griechenland. In Pakistan hatte ich große Probleme. Ich habe dort einen Unfall mit meinem Motorrad gehabt und einen alten Mann schwer verletzt. Da bekam ich großen Ärger mit dessen Familie, vor allem einem seiner Söhne, der drohte, mich zu töten. Das war sehr gefährlich für mich, denn ich stamme aus dem indisch-pakistanischen Grenzgebiet und hatte keinen pakistanischen Ausweis oder andere Dokumente. Mein Dorf liegt eigentlich auf indischer Seite. Ich bin nie in eine richtige Schule gegangen, hatte keine langfristige Arbeit und deshalb kein Geld, um der Familie des Unfallopfers eine Entschädigung zu zahlen. Mein Leben war bedroht und keine Behörde hätte mir geholfen. Mohammad Ich habe viel freie Zeit und die Lage in Moria ist furchtbar. Da komme ich gerne her in das Projekt und helfe als Freiwilliger. Ich helfe dabei, Nahrung zu verteilen und wenn etwas repariert werden muss. Solche Sachen. Ich mag es, hier zu sein, im Lager gibt es nämlich so viele Probleme. Da kommt es jeden Tag zu Auseinandersetzungen, Schlägereien unter den Leuten. Es ist dreckig, überall sind viel zu viele Menschen. Und für alles steht man stundenlang an, für Essen, beim Arzt, überall nur lange Schlangen. Wenn mein Asylantrag anerkannt wird, will ich versuchen, nach Athen zu gehen und mir dort einen Job zu suchen. Und wenn das nicht klappt, vielleicht nach Italien oder Spanien. Griechenland ist kein guter Ort für uns, die Menschen sind auch arm und es gibt keine Arbeit. Ich bin ganz alleine in Europa. Seit fast drei Jahren. Zu meiner Familie in Pakistan habe ich keinen Kontakt. Leider nicht. Im Moment bin ich ganz alleine.
Thomas von der Osten-Sacken,Bernd Beier
Thomas von der Osten-Sacken,Bernd Beier: Geflüchtete auf Lesbos. Vier Porträts
[ "Griechenland", "Flüchtlinge" ]
Reportage
29.11.2018
https://jungle.world//artikel/2018/48/hier-im-projekt-ist-es-sicher?page=0%2C%2C2
Das Desinteresse an der Aufklärung
»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« Aly Raisman im Januar bei einer Anhörung vor Gericht Gut drei Monate sind seit dem Prozess gegen Larry Nassar vergangen. Der Teamarzt der US-amerikanischen Turnerinnen hatte unter dem Vorwand wichtiger Untersuchungen seit 1992 mehr als 250 Mädchen und Frauen missbraucht. Der heute 54jährige wurde in drei Prozessen zu  Haftstrafen von bis zu 175 Jahren ­verurteilt und muss mindestens 100 Jahre im Gefängnis bleiben. Der öffentliche Druck auf Verbände und Funktionäre, die vermutlich schon seit Jahren von den Vorwürfen wussten und die Vorgänge vertuschten, hält jedoch weiterhin an. Die dreifache Turnolympiasiegerin Aly Raisman reichte vor einigen Wochen Klage gegen das Nationale Olympische Komitee der Vereinigten Staaten (USOC) und den US-amerikanischen Turnverband USA Gymnastics (USAG) ein. »Meine oberste Priorität ist, Änderungen anzustoßen, damit zukünftige Generationen sicherer leben können«, sagte Raisman. »Aber es wurde mir schmerzlich klar, dass diese Organisationen kein Interesse daran haben, mit diesem Problem angemessen umzugehen.« Die Turnerin wirft USOC und USAG vor, mutmaßlich nicht nur vom sexuellen Missbrauch an Athletinnen gewusst zu haben – die Organisationen hätten obendrein kein wirkliches Interesse an einer unabhängigen Klärung. »Ich hoffe, dass sie durch Klagen zur Verantwortung gezogen werden«, so Raisman. Die sich aus dem Skandal ergebende zentrale Frage lautet: Wie reagieren die Verbände und was ändert sich langfristig? Schon im Sommer 2015 hatte Raismans Trainerin Maggie Nichols den Verband USAG über die seltsamen »Untersuchungsmethoden« des US-Teamarztes Larry Nassar informiert. Nassar wendete bei seinen Patientinnen regelmäßig vaginale Penetration an, angeblich, um deren Beckenmuskulatur zu entspannen; die Behandlungen bei dem Mediziner waren für die Turnerinnen verpflichtend. Dabei hätten die Funktionäre gewarnt sein können: Bereits 1992 war ein USAG-Coach wegen Vergewaltigung einer zwölfjährigen Turnerin verurteilt worden. Der Nationaltrainer des Olympiateams von 1994 wurde 2011 nach Missbrauchsvorwürfen zweier ehemaliger Athletinnen lebenslang gesperrt. Ein weiterer ehemaliger Coach wurde 2002 angezeigt und verbüßt derzeit eine 36jährige Haftstrafe wegen sexueller Belästigung einer Zehnjährigen.   Die US-Amerikanerinnen profitieren höchstwahrscheinlich auch vom anhaltenden Erfolg der »Me Too«-Bewegung. Raisman, die sich zu einer Sprecherin der Sportlerinnen gemacht hat, sagte kürzlich der Miami New Times: »Ich habe das Gefühl, dass ich das hier noch eine lange Zeit tun muss. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber wir stehen immerhin besser da als vor einem Jahr.«   Bereits früher war Nassar vom Verband angewiesen worden, die Turnerinnen nicht ständig zu fotografieren. Laut Anklage waren sogar Trainer von USA Gymnastics bei einigen der »Behandlungen« anwesend. Doch es dauerte nach der Beschwerde noch einen Monat, bis sich der Verband überhaupt an das FBI wandte. Nassar wurde schließlich entlassen. Und die Michigan State University, an der Nassar weiter junge Turnerinnen behandelte, wurde nicht darüber informiert, warum der Arzt seinen Job verlor. Das Nationale Olympische Komitee der USA behauptete, bis zu einem Zeitungsartikel im September 2016 von nichts gewusst zu haben. Journalisten des Lokalblatts The Indianapolis Star hatten ein Jahr lang zu Nassar recherchiert, Turnerinnen und Eltern interviewt und umfassende Beweise präsentiert. Kurz darauf stellte sich heraus, dass USAG die Anschuldigungen schon ein Jahr früher an den Sicherheitsbeauftragten des USOC per Mail weitergegeben hatte. Der soll, so die neue Variante, diese Nachricht jedoch angeblich nicht weitergeleitet haben. Wie es möglich sein konnte, dass Larry Nassar über mindestens 25 Jahre mehrere hundert Athletinnen systematisch missbrauchte, ohne dass irgendjemand in den Organisationen etwas mitbekommen oder geahnt haben will, bleibt ein Rätsel. Nassar ist der prominente Kopf, der rollte. Als sie ihn nicht mehr schützen konnten oder wollten, waren die Verbände schnell dabei, den Mut der Turnerinnen zu loben: Über 250 hatten in einem emotionalen Prozess gegen den Teamarzt ausgesagt, darunter Stars wie Aly Raisman und Simone Biles. Lange beschränkte sich die mediale Aufmerksamkeit entsprechend auf Nassar. Die Klage Raismans geht nun an das Grundproblem: die Trägheit und das Desin­teresse der Verbände. Beim Nassar-Prozess war vom Nationalen Olympischen Komitee niemand anwesend. »Warum wohl haben ich und andere hier nichts vom USOC gehört?« fragte Raisman während ihrer Aussage. »Warum ist das USOC still geblieben? Warum ist das USOC jetzt gerade nicht hier?« Das Komitee entschuldigte sich später dafür. Personelle Konsequenzen hatte es in den US-Verbänden immerhin gegeben: Der Vorstand von USAG trat wegen des öffentlichen Drucks zurück. Auch USOC-Geschäftsführer Scott Blackmun ist mittlerweile nicht mehr im Amt – offiziell aus gesundheitlichen Gründen, aber wohl auch wegen der immer heftiger werdenden öffentlichen Kritik. Jüngst gelobte das USOC, Athletinnen und Athleten besser schützen zu wollen und eine unabhängige Untersuchung einzuleiten. Dass diese Untersuchung, bei der USOC die Untersuchenden beauftragt, wirklich unabhängig sein wird, bezweifeln viele Nassar-Opfer, darunter Raisman: »Nach all der Zeit wollen sie immer noch keine vollständige Untersuchung durchführen. Und ohne zu verstehen, wie das alles passieren konnte, ist es illusorisch, zu glauben, dass wir etwas verändern können.« Von innen, ist sie sicher, werden sich die Institutionen kaum reformieren. Es half, dass Nassars Opfer nicht irgendwelche Breitensportlerinnen, sondern international bekannte und teils sogar noch aktive Athletinnen sind. Wenn sie erst einmal sprechen, sind sie weniger leicht zum Schweigen zu bringen. Bisher war eine derartig lange Diskussion in der Öffentlichkeit kaum möglich – normalerweise verlaufen solche Debatten eher wie die über den Missbrauchsskandal im englischen Fußball, der Ende 2016 publik wurde. Damals meldeten sich immer mehr betroffene Ex-Fußballer, die als Kinder von ihren Trainern sexuell missbraucht worden waren. Die Aufregung aber verebbte schnell; der prominente Sündenbock, Ex-Trainer Barry Bennell, hat sich im Januar 2018 schuldig bekannt. Konsequenzen aus dem Fall wurden von Verband und Vereinen so gut wie keine gezogen. Die US-Amerikanerinnen profitieren höchstwahrscheinlich auch vom anhaltenden Erfolg der »Me Too«-Bewegung. Raisman, die sich zu einer Sprecherin der Sportlerinnen gemacht hat, sagte kürzlich der Miami New Times: »Ich habe das Gefühl, dass ich das hier noch eine lange Zeit tun muss. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber wir stehen immerhin besser da als vor einem Jahr.« Dabei ist schon lange bekannt, dass gerade der Sport mit seinen engen, oft wenig überwachten Beziehungen zwischen Trainern und Kindern ein ideales Umfeld für sexuellen Missbrauch bietet. Und dass die Vereinsstrukturen es den Tätern leicht machen: Sie können oft auf das Schweigen und Wegschauen der Verantwortlichen zählen, die Skandale scheuen und lieber stillhalten, als auf sportliche Erfolge zu verzichten. Dazu kommt die Unsicherheit der Eltern, die, wenn sie überhaupt etwas ahnen, oft nicht wahrhaben wollen, dass der doch so nette, um ihr Kind besorgte Coach »so etwas« tut. Und sich sowieso nicht sicher sind, was Kinder alles falsch interpretieren. Raisman möchte auch dies ändern. Die Turnerin wirbt derzeit intensiv bei Facebook und Twitter für eine Kampagne namens »Flip the Switch« (»Den Schalter umlegen«). Sie soll Erwachsene darin unter­richten, wie sie sexuellen Missbrauch schneller erkennen, indem sie auch auf nonverbale Zeichen wie Essstörungen oder Depressionen achten. Und Kindern früh klarmachen, welche Berührungen durch zum Beispiel einen Trainer nicht okay sind. Nicht zuletzt möchte die Kampagne etwas in der Sportkultur bewegen: Beim Umgang eines Trainers mit Minderjährigen soll immer ein anderer Erwachsener in Sichtweite sein. Der dann im Idealfall auch einschreitet – anders als die Trainer von USA Gymnastics.
Alina Schwermer
Alina Schwermer: Sexueller Missbrauch an Athletinnen: US-Turnerin Aly Raisman verklagt Funktionäre
[ "metoo" ]
Sport
29.03.2018
https://jungle.world//artikel/2018/13/das-desinteresse-der-aufklaerung
Haltbarkeitsdatum ungewiss
Wortspiel auf dem Dach des Rog. »Nèomejèn rok trajanja« würde »unbegrenztes Haltbarkeitsdatum« heißen In der Trubarjeva Ulica reiht sich eine Bar an die nächste, Cafés und kleine Restaurants säumen die Straße: asiatisch, libanesisch, slowenisch oder ein typischer Balkangrill. Die Ausgehmeile im Zentrum Ljubljanas ist sowohl bei Touristen als auch bei den einheimischen Ljubljancan überaus beliebt. Biegt man fast am Ende der Straße rechts in einen großen Hof ein, landet man in der »Tovarna Rog« (Fabrik Rog). Die leerstehende ehemalige Fahrradfabrik wurde 2006 von politischen Aktivisten und Künstlern besetzt und bietet neben einer Kneipe, einem Café und einer Art Kantine, wo es jeden Tag Mittagessen gibt, Räume für diverse Sportarten, von Skaten bis Kung-Fu, sowie Galerien, Künstlerateliers und ­einen Konzertsaal. Des Weiteren gibt es einen Partyraum mit Bar, einen Zirkus, ein soziales Zentrum, einen Zen-Garten, einen Friseur, einen Massagesalon und vieles mehr. Im Hof stehen Skulpturen; folgt eine Reihe von Kerzen, gelangt man in den Veranstaltungsraum »Modri Kot« (Blaues Eck), wo man sich an einem der ­besten Heizöfen des Rog aufwärmen kann – ein wichtiges Kriterium für ­Publikumserfolg in Winterzeiten. Hier trotzen die Anwesenden aber nicht nur der Kälte. Diskutiert wird über die derzeitige Lage des Rog und die Reak­tion der Stadt auf die jüngste Aktion gegen dessen drohende Räumung. Am 14. Dezember demonstrierten rund 200 Menschen in Ljubljana gegen die ­Absicht der Stadtverwaltung, die derzeitigen Nutzerinnen und Nutzer des Rog aus dem Komplex zu vertreiben und das Gebäude in ein hochmodernes, profitorientiertes Prestigeprojekt um­zuwandeln. Ebenfalls verhindern wollten sie den Verkauf des Hostels »Celica« (Zelle). Dieses steht ganz in der Nähe auf dem Gelände Metelkova, einer in den achtziger Jahren besetzten ehe­maligen Militärkaserne (Jungle World 38/2011), die seither ein autonomes Zentrum für Musik, Kunst und Kultur beherbergt und schon längst zur Tou­ristenattraktion geworden ist. Die Stadt Ljubljana hat das bekannte Hostel, das Besetzer und Künstler im ehemaligen Militärgefängnis instandsetzten und das bislang von einer Studierendenorganisation verwaltet wurde, vergangene Woche demselben Management unterstellt wie die Burg.   Pink gewinnt Am Tag der Demonstration sollte Oberbürgermeister Zoran Janković vor ­Gericht zu den Vorfällen im Rog 2016 angehört werden. Er erschien allerdings nicht. Das Rog ist bereits seit längerem von der Räumung bedroht (Jungle World 21/2016). Am 25. Mai 2016 demonstrierten 500 Menschen dagegen – im beschaulichen Ljubljana eine große Menge. Miha Poredoš, der bereits seit 2014 im Rog aktiv ist, erinnert sich an einen »fröhlichen, farben­frohen Protest von Rog-Mitgliedern, Unterstützern, Anarchisten, anderen ­Initiativen und Flüchtlingen«. Zehn Tage später, in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni, konnte der erste Räumungsversuch mit vereinten Kräften verhindert werden. »Wir dachten, sie könnten schon in dieser Nacht kommen, und so luden wir Leute ein, in der Fabrik zu übernachten, wir waren ungefähr 20 bis 30«, erzählt Poredoš. Gegen drei Uhr morgens wurden sie von rund 30 privaten Sicherheitsleuten, samt Bagger und einem Feuerwehrfahrzeug, überrascht. Jernej Kastelic (25) war damals auch dabei. »Wir sind ziemlich schnell wach geworden. Ich war in der Fabrik und ein paar Feministinnen rannten schnell zu der Baustelle«, erzählt er. »Ich dachte, wenn die Maschinen da sind, ist es schon zu spät. Aber dann parkten Urška und Danijela ihre Autos vor dem Tor und begannen zu hupen und weckten die gesamte Nachbarschaft.« »Ich wollte gerade in Sergios Bar gehen, als der Bagger kam«, sagt Poredoš. »Ich bekam Panik und lief hinaus. Da kamen die Sicherheitskräfte und schlossen das Tor. Weitere Leute von uns kamen durch die Hinterseite des Gebäudes zur Unterstützung. Am Ende waren wir 40 bis 60 und begannen, Barrikaden zu bauen, mit denen wir die Sicherheitsleute einschlossen. Die Presse war seit sechs, sieben Uhr ­morgens draußen vor dem Tor versammelt. Um neun Uhr gab es eine Pressekonferenz und danach schafften es einige, das Tor zu öffnen und alle Leute strömten von draußen rein.« Die Aktion dauerte viele Stunden, die Sicherheitsleute wurden gewalttätig. Eine Person wurde so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht ­werden musste. Die Polizei beobachte alles draußen vor dem Tor und half erst gegen Ende, die Gewalttäter zu stoppen. Allerdings nahm sie auch sechs junge Besetzer fest. Danach gab es überwältigenden Applaus und Hunderte Menschen drangen in den Hof, um den Sieg gemeinschaftlich zu feiern. Zuvor war der Schlüssel des Baggers in die Hände der Besetzer gefallen. Sie besprühten den Bagger pink, er wurde zum Symbol des Widerstands und in den folgenden Wochen auch zu einer Touristenattraktion.   Kunst im Rog. Performance »Leuchtkäfer-Geburt eines Leuchtkäfers« in der Galerie Zelenica Prozesse und Festivals Einige der Besetzer verklagten die Stadt kurz darauf wegen Hausfriedensbruchs, worauf die Stadt mit acht Einzelklagen gegen die Vertreter des Rog ­reagierte, die die erste Klage unterzeichnet hatten. Die Besetzer haben sich für die Prozesskosten hoch verschuldet, sie rechnen mit 40 000 bis 50 000 Euro, und müssen sich seit 2016 langen Anhörungen im Gerichtssaal stellen. Zana Fabjan, die seit 2015 im Rog aktiv ist und zu den Angeklagten zählt, sagt, nach Prozessbeginn hätten sie zunächst ein temporäres Bleiberecht erhalten, bis das Verfahren entschieden ist. »Kurz darauf klagte die Stadtverwaltung gegen uns, da wir uns nicht auf unserem eigenen Grund und Boden bewegen. Jetzt gibt es also einen Streit ­zwischen dem Eigentümer und den Nutzern, nur dass der Eigentümer in der Rechtshierarchie wesentlich höher steht, so dass wir den Prozess wahrscheinlich verlieren werden«, so Fabjan. Derzeit werden beide Fälle vor Gericht verhandelt. »Sechs Leute haben den Prozess bereits verloren und zwei davon haben Widerspruch eingelegt. Das ­Problem ist nur, dass die Gerichtskosten sehr hoch sein werden. Wahrscheinlich wurden sie so hoch angesetzt, um uns Angst einzujagen. Sie denken, dass wir unter dem finanziellen Druck zusammenbrechen werden. Wir hatten schon ein paar Veranstaltungen, um Geld zu sammeln. Aber es ist schwierig, da Rog kein protfitorientierter Ort ist und die Veranstaltungen meist nur auf Spendenbasis laufen«, schildert sie das derzeitige Problem. Nach dem Überfall ließ man sich aber erst recht nicht einschüchtern und ­organisierte das zehntägige Kunst- und Kulturfestival »Rogoviljenje«. Einer der Höhepunkte war eine Kunstausstellung in der Galerie Zelenica, in der namhafte Künstler aus ganz Slowenien ihre Werke ausstellten, um ihre Soli­darität mit dem Rog zu bekunden. Den Abschluss des Festivals bildeten das ­bekannte Theaterfestival »Ana Desetnica« und die Performance »Iluminirana Tovarna« (Beleuchtete ­Fabrik). Dabei wurde während einer Liveübertragung des 17minütigen Musikstücks »La fabbrica illuminata« von Luigi Nono (1964) in Radio Študent das 7 000 Quadratmeter große Fabrikgebäude mit Kerzen beleuchtetet, um zu zeigen, was selbst ohne Strom alles möglich ist. Živa Sila* ist schon seit zehn Jahren im Rog aktiv und immer noch begeistert von der Solidarität zu jener Zeit: »Es gab mehr Unterstützung als je zuvor.« Die Facebook-Seite »Ohranimo Tovarna Rog« (Wir erhalten die Fabrik Rog), die Forderungen an die Stadtverwaltung formulierte, erhielt fast 8 000 Likes. »Zum Festival Rogoviljenje kamen etwa 5 000 Menschen. Es gab Konzerte, Filmvorführungen, Ausstellungen und wir hatten jeden Tag Training, Kung-Fu, Tai-Chi und mehr. Das Rog war einen ganzen Monat lang voller Leute«, schwärmt Sila. Aljoša Dujmič, der das Rog schon von Beginn an kennt, sagt über die Zeit nach dem ersten Räumungsversuch: »Ich habe ausschließlich für das Rog gelebt, gelesen und ­gearbeitet. Ich war ununterbrochen vor Ort.«
Henrike von Dewitz
Henrike von Dewitz: Dem besetzten Kulturzentrum »Rog« im slowenischen Ljubljana droht die Räumung
[ "Slowenien", "Ljubljana" ]
Reportage
18.01.2018
https://jungle.world//artikel/2018/03/haltbarkeitsdatum-ungewiss?page=0%2C%2C2
»33 oder wie das war«
Das Stadion des 1. FC Schweinfurt 05 ist nach Willy Sachs benannt. Er war Mitglied in der NSDAP, SS-Obersturmbannführer und gehörte dem »Freundeskreis Reichsführer SS« an. Ein Fan des 1. FC Schweinfurt 05 fürchtete, dass das Stadion umbenannt werden könnte, und rief beim Verein an. Grüß Gott, Werner ist mein Name. Ich hab’ da mal eine Frage. Ist da was dran, dass das Willy-Sachs-Stadion umbenannt werden soll? Was? Nein! Das ist hin und wieder mal aufgeblitzt durch irgendwelche Redakteure, aber das ist schon wieder ein Jahr her. Da gibt’s überhaupt nichts. Die Kollegen haben erzählt, dass da mal was war in der Süddeutschen Zeitung. Das ist ewig her. Dass da Linke was gegen den Namen haben oder so. Überhaupt nichts. Das ist mal kurz aufgeblitzt, dann ist da einen Tag drüber geschrieben worden, und das war’s dann aber auch schon. Wäre ja auch ein Schmarrn, nur wegen dieser Geschichte. Man hört nichts, man liest nichts. Also gar nichts. Das ist zwar mal kurz aufgeblitzt, aber eigentlich von den Me­dien nur belächelt worden. Das ist nie mehr was gekommen. Ich denk’s mir ja auch. Das ist doch schon so lange her. Muss man jetzt da heute noch davon reden? Gar nichts. Überhaupt nichts. Das hätte ich nämlich auch falsch gefunden, wenn man immer diesen Leuten nachgibt. Die schreiben einen Artikel, und dann muss das ganze Stadion umbenannt werden. Da ist überhaupt gar nichts passiert. Das ist überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Ich hab einen recht guten Kontakt zur Stadt und zum OB. Da ist überhaupt nichts dran. Kann das die Stadt entscheiden? Das gehört ja der Stadt. Wir sind nur die Mieter. Das ist doch deshalb, weil die sagen, der war ein Nazi. Ja, Krupp und alles, weil damals irgendwelche Aufführungen waren, 33 oder wie das war. Keine Ahnung. Da war überhaupt kein Diskussionsanlass, kein Punkt, gar nichts. Dann bin ich ja beruhigt. Immer diese Sachen da, dieses Aufwühlen. Dann müsste man ja immer wieder von vorne anfangen und alles umbenennen. Da passiert nichts. Nullkommanichts. interview: stefan wirner
Stefan Wirner
Stefan Wirner:
[]
webredaktion
25.10.2006
https://jungle.world//artikel/2006/43/33-oder-wie-das-war
Fluchtgrund Kurzhaarschnitt
Wafaa und Maha al-Subaie Am Dienstagabend vor der Osterwoche meldeten sich zwei junge saudische Schwestern, Maha und Wafaa al-Subaie, aus der georgischen Hauptstadt Tiflis mit einem Hilferuf per Twitter: Sie seien aus Saudi Arabien geflohen, ihre Pässe seien für ungültig erklärt worden, und ihnen drohe zuhause die Tötung. Auch in Georgien seien sie nicht sicher. Nach einem Tag und einer ganzen Reihe weltweiter Pressemeldungen verstummte der Twitteracount plötzlich. Mittlerweile sind die beiden Schwestern wieder online, ihr ursprünglicher Account ist wohl gesperrt worden, die georgischen Behörden haben ihre Hilfe zugesagt. Als Grund für ihre Flucht nannten sie Gewalt in der Familie und die Unfreiheit in ihrem Land, tatsächlich hatten sie mit ihrem Aufenthalt in Georgien bereits gegen das saudische Vormundschaftsgesetz verstoßen, das Frauen die Ausreise erst nach Zustimmung ihres Vormundes erlaubt – in der Regel der Ehemann oder der Vater. Ohne dessen Zustimmung kann keine Frau reisen, heiraten oder eine Arbeit aufnehmen. Und hierbei geht es wohlgemerkt um erwachsene Frauen, die beiden Schwestern sind 25 und 28 Jahre alt. Bild: Maha und Wafaa al-Subaie (Quelle: Twitter) Es ist bereits der zweite solche Fall dieses Jahr, der international für Aufmerksamkeit sorgt. Anfang des Jahres gelang der mittlerweile 20-jährigen Rahaf Mohammed al-Qanun (die seitdem ihren Stammes- bzw. Familiennamen abgelegt hat) nach einer tagelangen nervenaufreibenden Auseinandersetzung in Bangkok die Flucht nach Kanada, das ihr Asyl gewährte. Ihr war auf dem thailändischen Flughafen durch saudische Intervention der Pass weggenommen worden. Auch Rahaf Mohammed hatte sich über Twitter an die Weltöffentlichkeit gewandt und die zunehmende Aufmerksamkeit sorgte nicht zuletzt für ein plötzlich erwachendes rechtsstaatliches Bewußtsein der thailändischen Behörden im Umgang mit dem lästigen Fall. Der saudische Geschäftsträger vor Ort meinte dazu nur lakonisch in einer Pressekonferenz, man hätte ihr wohl besser das Telefon statt den Pass wegnehmen sollen. Das Internet mit seinem Potential der schnellen Verbreitung von Nachrichten und der umgehenden Möglichkeit sich mit einem Tweet zu solidarisieren, spielt bei diesen bekannt gewordenen Fluchten die zentrale Rolle; eines ist Entscheidend: eine globale Öffentlichkeit herzustellen, bevor saudische Diplomaten sowie unter Druck gesetzte und sowieso desinteressierte ausländische Regierungen die Frauen gegen ihren Willen wieder zurückbringen lassen. Um dann im Zweifel nie wieder etwas von ihnen zu hören. Die Öffentlichkeit des Internets ist dabei die zugleich schärfste Waffe gegen islamische Familien- und Ehrbegriffe; aus traditioneller Sicht ist das quasi das Schlimmste, was überhaupt passieren kann. So erging es etwa einer weiteren jungen saudischen Frau mit demselben Familiennamen wie die beiden Schwestern, die ebenfalls in Tiflis auf ihr Weiterkommen wartete, das ihr schließlich zugesagte französische Visum jedoch nie abholte, sondern einfach verschwand. Gut dokumentiert ist dagegen der Fall Dina Ali Laslooms, die 2017 im Transitbereich des Flughafens von Manila dem Druck, der auf sie ausgeübt wurde, schließlich nicht mehr standhielt. Passagiere filmten die verzweifelte Frau, bedrängt von saudischen Offiziellen, auch ihr Abtransport  in einer saudischen Maschine, an Händen und Beinen gefesselt und mit abgeklebten Mund ist dokumentiert. Ihre Nachfolgerinnen haben allerdings daraus gelernt, es geht vor allem darum, so schnell wie möglich Medienöffentlichkeit herzustellen, sich dabei dem direkten Zugriff zu entziehen, durchzuhalten und Zeit zu gewinnen.   Die Öffentlichkeit des Internets ist dabei die zugleich schärfste Waffe gegen islamische Familien- und Ehrbegriffe; aus traditioneller Sicht ist das quasi das Schlimmste, was überhaupt passieren kann. Die heile Fassade der Familie ist der Dreh- und Angelpunkt der familiären Obsessionen in islamisch geprägten Ländern. Egal, was dahinter passiert – solange nur die Fassade steht, ist alles in bester Ordnung, notfalls hilft auch Gewalt. Die wenigen jungen Frauen, die bei ihrer Flucht schließlich bewusst den Weg der Öffentlichkeit gewählt haben, oder sich vielmehr im Angesicht ihrer Verfolgung zu diesem fast äußersten Widerstand entschieden haben, brechen damit ein Tabu. Und für sie gibt es keinen Weg zurück. Kurzhaarfrisur statt Schleier Maha und Wafaa al-Subaie, von denen eine ihren kleinen Sohn zurücklassen musste, haben Tonaufnahmen und Bilder familiärer Gewalt im Internet veröffentlicht, sie haben sich zudem ebenso wie Raha Mohammed auf Fotos umgehend ohne islamischen Kopfbedeckung gezeigt; eine der beiden Schwestern trägt nun eine Kurzhaarfrisur, die sich auch Raha Mohammed noch in Saudi Arabien aus Protest zugelegt hatte, was ihr weitere Drangsalierungen durch die Familie einbrachte. Eine Frau, die selbst über sich entscheidet, sich nicht verschleiert, sich sogar die Haare kurz schneidet und öffentlich über Gewalterfahrungen in der Familie spricht: das ist nichts anderes als der fleischgewordene Albtraum der versammelten Väter, Brüder und Cousins des Patriarchats. Wie viele Frauen tatsächlich aus Saudi-Arabien fliehen, weiß wohl niemand genau, die wenigen, sich nun aber doch summierenden Fälle, die internationale Aufmerksamkeit erregen, sind allerdings nur die Spitze eines Eisberges. Alle drei Frauen haben den Namen ihrer Familie offen gelegt, und die beiden Schwestern dokumentieren sogar schriftliche Morddrohungen ihrer männlichen Verwandtschaft. Alle drei entstammen übrigens einflussreichen Familienverbänden, was die Sache für den saudischen Staat noch einmal komplizierter macht. Die jungen saudischen Frauen, die vor ihren Familie fliehen, und denen das berüchtigte „Guardian Law“ (Vormundschaftsgesetz) ihre Freiheit nimmt,  bringen so die verstörende Tatsache ins Bewusstsein, dass sich hinter den so auf rigide Moralvorschriften fixierten islamischen Gesellschaften ein Abgrund von häuslicher Gewalt und Missbrauch für die längste Zeit unbemerkt verborgen hat; mittlerweile wird das Ungeheure, das dort kauert, allerdings hier und da auch in Zahlen greifbar. Spektakuläre PR-Pannen Es liegt auch in der Logik der offiziösen saudischen Versuche, diese Fluchten zu unterbinden, und dem potentiellen Verfolgungsdruck der Familien, die überhaupt erst zu spektakulären PR-Pannen und der Medienöffentlichkeit führen. Die beiden Schwestern in Georgien waren bereits seit Anfang April im Land und hatten sich ohne Erfolg um eine Weiterreise bemüht; zwei weitere saudische Schwestern, deren Schicksal nach einer fast halbjährigen Hängepartie in Hong Kong gerade positiv entschieden wurde, waren nach ihrer Flucht nur unter Pseudonym aufgetreten. Ein ebenfalls ungenanntes Land hat ihnen nun Asyl gewährt. Endgültig wie das Plot eines Filmthrillers lesen sich sowieso die Geschehnisse rund um Sheikha Latifa, eine Tochter des Herrschers von Dubai, die 2018 auf einer Yacht über den indischen Ozean in Richtung Indien geflohen war. Wie viele Frauen tatsächlich aus Saudi-Arabien fliehen, weiß wohl niemand genau, die wenigen, sich nun aber doch summierenden Fälle, die internationale Aufmerksamkeit erregen, sind allerdings nur die Spitze eines Eisberges. Es gibt auch ein Netzwerk von Aktivisten, die saudischen Frauen zumindest nach der Flucht helfen und gegen das Vormundschaftsgesetz kämpfen. Das Netzwerk erinnert an die legendäre „Underground Railroad“, mit der in den USA vor dem Bürgerkrieg entflohene Sklaven aus dem Süden in den Norden gebracht wurde. Das sind Aktivistinnen wie Shahad Al Mohaimeed, die selbst aus Saudia Arabien geflohen ist, oder die saudische Künstlerin MsSaffa, die bereits 2012 eine ikonographische Arbeit mit „I am my own guardian“  („Ich bin mein eigener Vormund“) betitelte, und die seit langem im selbst gewählten Exil in Australien lebt. Sie koordiniert auch die Presseanfragen für die beiden „Georgischen Schwestern.     Wie eine Dystopie Wenn man nicht wüsste, dass es bei diesen Geschichten einmal mehr um den Nahen Osten geht, könnte man meinen, es handele sich bei den Fluchtversuche der jungen Frauen aus einem Land und einer Kultur, die ihnen Selbstständigkeit und den Status eines erwachsenen autonomen Menschen dauerhaft absprechen, um eine literarische oder filmische Dystopie. Da werden über Jahre Fluchtvorbereitungen im Schoß der Familie getroffen, Familienferien zum Absetzen genutzt, immer geht es darum, möglichst schnell an Bord eines Flugzeuges zu gelangen, um den langen Armen des saudischen Staates zu entkommen, dessen diplomatisches Personal im Zweifelsfall schon am Ort der ersten Zwischenlandung wartet. Man muss sich mitunter in Hotelzimmern verbarrikadieren, und seine Reiseerlaubnis zum Passieren der Grenze mithilfe des entwendeten Telefons des Vaters durch eine App freischalten, die den Vormündern die Kontrolle über ihre weiblichen Mündel erleichtern soll. Die beiden saudischen Schwestern, die im September 2018 in Hongkong gestrandet waren, nachdem die saudische Regierungsvertreter vor Ort es geschafft hatten, ihren Weiterflug nach Australien zu stornieren, erlebten Einschüchterungen, unter Druck gesetzte Angestellte, kafkaeske Einflussnahmen hinter den Kulissen, sie mussten um die Pässe in ihren Händen förmlich kämpfen, bis es ihnen endlich gelang, aus dem Flughafengebäude selbst zu flüchten und in der Stadt unterzutauchen. Sie hatten zuvor den Familienurlaub auf Sri Lanka genutzt, um sich heimlich zum Flughafen in Colombo abzusetzen. Endgültig wie das Plot eines Filmthrillers lesen sich sowieso die Geschehnisse rund um Sheikha Latifa, eine Tochter des Herrschers von Dubai, die 2018 auf einer Yacht über den indischen Ozean in Richtung Indien geflohen war, bevor sie von den Schergen ihres Vaters zurückgebracht wurde. Die Prinzessin hatte für den Fall, dass ihre Flucht scheitert, in einer Videoaufnahme schon das Schlimmste für sich selbst vorausgesagt. Verheerend für die saudische Reputation Die zunehmend für Aufmerksamkeit sorgenden Fluchtversuche junger Frauen aus Saudi-Arabien oder vom Golf sind natürlich verheerend für die internationale Reputation, aber weswegen hat man schließlich all das Ölgeld. Um die internationale Reputation ist es in Saudi Arabien zumal seit der grauenhaften Ermordung und Zerstückelung des Regimekritikers Jamal Khashoggi – offensichtlichen unter Anleitung des engsten Machtzirkels um den Kronprinzen Mohamed Bin Salman – sowieso nicht zum Besten bestellt. Aber auch intern haben diese Fluchtbewegungen für die saudische Regierung unangenehme Auswirkungen. Entgegen der beliebten Methode mit der Invariante „Islam“ im Nahen Osten praktisch alles erklären zu wollen (und dabei doch nur selbst dem Narrativ der Islamisten zu folgen), datiert das strikte Vormundschaftsgesetz in Saudi-Arabien nicht etwa seit altersher, sondern tatsächlich von Anfang der achtziger Jahre. Es war eine der Reaktionen auf die Moscheebesetzung in Mekka 1979 durch die ersten Protojihadisten und den Aufstieg des politischen Islam. Und so setzen die jungen Frauen, die von diesem Leben in Unfreiheit genug haben, das saudische Establishment unter Druck. Insofern kann man den Äußerungen des Kronprinzen durchaus Glauben schenken, der in Interviews darauf hingewiesen hat, dass man das Vormundschaftsgesetz durchaus ändern könne, aber nur vorsichtig und ohne die konservativen Teile der Gesellschaft zu verstimmen. Zu dem vom Kronprinzen intendierten Reformwerk einer in ihrem Aussehen etwas offeneren Gesellschaft – selbstverständlich ohne jede Konzession an eine politische Liberalisierung –, würde das durchaus passen; es entspricht sicherlich auch der Stimmung in weiten Teilen der jüngeren Bevölkerung. Allerdings gibt es eben auch die konservativen und nicht zuletzt islamistischen Kreise, auf die die Herrscher Rücksicht nehmen müssen, denn sie unterliegen eben auch ihren Zwängen.   Reformen als Widerspruch Letztlich geht es geht es bei all diesen nahöstlichen „Reformen“ immer um den einen unauflösbaren Widerspruch, mit einem Nachlassen des Drucks keinesfalls die Grundlagen autoritärer Herrschaft zu erschüttern. Und die Macht, die Saudi Arabien den Familien zugesteht, mit der vor allem die jungen Frauen unmündig gehalten werden, entspricht der autoritären Herrschaft im Staat, die die Bevölkerung wie ein Kind gängelt. Der Kronprinz hat das Autofahren für Frauen erlauben lassen, aber selbst das ging nicht, ohne die Aktivisten und Aktivistinnen die sich seit Jahren dafür eingesetzt hatten – und die ebenso für die Abschaffung des Vormundschaftsgesetzes kämpfen –  vor Gericht zu zerren. Seit 2018 sitzt über ein Dutzend zum Teil sehr prominenter Aktivistinnen im Gefängnis und ist dort auch demonstrativ gefoltert worden. Es darf genausowenig eine eigenständige gesellschaftliche Bewegung geben, wie es autonom entscheidende Frauen geben darf. Und so setzen die jungen Frauen, die von diesem Leben in Unfreiheit genug haben, das saudische Establishment unter Druck, das einerseits den internationalen Skandal verhindern will, aber auch die konservativen Familienverbänden bei Laune halten muss, denn auf deren Kooperation basiert die autoritäre Herrschaft, gleichzeitig muss man die Aktivisten entmutigen und verfolgen und will doch darauf  hoffen, dass ein bisschen ins-Kino-Gehen und Autofahren die junge saudische Gesellschaft für eine Zukunft ohne sprudelndes Ölgeld fit machen könnte.  Das sieht nicht wirklich erfolgversprechend aus. Versprechender für bedrängte junge Frauen mag sich da Rahaf Mohammeds anhören, die in einem Interview nach ihrer Flucht im Januar dazu aufrief aus dem Land zu flüchten, solange das Vormundschaftsgesetz nicht abgeschafft ist. Aber wer könnte diesen Deckel gefahrlos öffnen? Also warten wir auf die nächste Flughafenflucht. Das könnte endemisch werden. Offen bleibt die Frage, wer den saudischen Geschwistern diesmal Asyl gewähren wird. Eine heikle Angelegenheit, man möchte es sich mit den Herrschern am Golf ja auch nicht verscherzen. Wenden Sie sich mit dieser Frage doch mal an einen zuständigen Politiker. Und bleiben Sie derweil bei den „Georgian Sisters“ auf dem Laufenden. Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch
Oliver M. Piecha
Oliver M. Piecha: Häusliche Gewalt in Saudi-Arabien
[ "Häusliche Gewalt", "Saudi-Arabien" ]
Ausland
26.04.2019
https://jungle.world//artikel/2019/17/fluchtgrund-kurzhaarschnitt?page=0%2C%2C2
Einer wie Ossi
Solche biographischen Daten könnten auch heutzutage in einem Kicker-Sonderheft stehen, und auch im Jahr 2020 würde man merken, dass es sich um ein Riesentalent handeln dürfte: Jugendspieler bei Phoenix Mannheim, dann zum VfR Mannheim, mit 18 Jahren zu Bayern München gewechselt, später zu den Grasshoppers Zürich und Racing Strasbourg. Die Rede ist von Oskar Rohr, geboren 1912, vier Länderspiele, fünf Tore – und was auffällt, ist dies: Zum Grasshopper Club Zürich wechselte er 1933. Von diesem Oskar, genannt »Ossi«, Rohr handelt eine Graphic Novel von Autor Julian Voloj und Zeichner Marcin Podolec, die auf einzigartige Weise das Leben und die Bedeutung des beinahe vergessenen Weltklassestürmers erzählt. Ossi Rohr war kein Jude, kein Kommunist, gehörte keiner anderen von den Nazis verfolgten Gruppe an – er war Fußballer, nichts als Fußballer, man könnte sagen: Nurfußballer. Aus Deutschland ging er 1933 weg, weil er guten und professionellen Fußball spielen wollte. Er erkannte schon früh, was andere, etwa der bis heute hierzulande hochverehrte Sepp Herberger, nicht sehen wollten oder konnten, nämlich, dass faschistische Herrschaft alles bedrohte und zerstörte, was ein weltoffenes, modernes Leben ausmacht: zum Beispiel Fußball. Julian Voloj und Marcin Podolec zeigen in ihrer Graphic Novel die Fußballkarriere als Bildungsroman. Der kleine Ossi stammte aus Mannheim, genauer und wie üblich bei diesem Arbeiterklassensport stammte er aus dem Milieu, für das man den unangenehmen Begriff »einfache Verhältnisse« bereithält. Dass er ein Talent war, zeigte sich früh. Mit sympathisch einfachem, mitunter naiv anmutendem Strich zeichnet Marcin Podolec die Kindheit nach. Ossi wollte immer nur Tore schießen, und genau das tat er. Er war kein guter Techniker, er war kein Sprinter, »aber am Ball war Oskar unaufhaltbar«, wie es an einer Stelle heißt. Er durfte schon bei den Großen, also in einer Jugendmannschaft, mitmachen, da konnte er sich noch nicht mal selber die Schuhe binden. Bald ging er von Phoenix zum besseren Ortsrivalen VfR, wo ab 1928 Richard Dombi als Trainer wirkte. Der gebürtige Wiener Dombi hieß ursprünglich Richard Kohn, und bekam, als er beim damaligen Weltklasseverein MTK Budapest spielte, den Spitznamen »Little Dombi«, was so viel wie kleine Exzellenz bedeuten soll. Irgendwann erschien das Angebot attraktiv, den jüdischen Namen Kohn offiziell in Dombi zu ändern. Bald wurde der FC Bayern München auf den engagierten und ambitionierten Dombi aufmerksam. Er ging nach München, und er machte Rohrs Eltern Angebote, wie es mit dem Jungen in der großen Stadt München weitergehen könnte. Die willigten ein, nach vielen Sorgen und familiären Debatten, ob das denn nicht zu riskant sei, sein ganzes Leben dem Fußball unterzuordnen. Für Ossi Rohr eröffnete sich eine neue Welt. Voloj und Podolec zeigen in ihrer Graphic Novel, die Fußballkarriere als Bildungsroman: durch den Sport wird Ossi zum polyglotten Weltbürger, der mehrere Sprachen beherrscht, viele Kulturen kennengelernt und für sich die Welt entdeckt hat. Rohr landete in einer der besten und größten Jugendabteilungen des damaligen deutschen Fußballs, er machte die Bekanntschaft des FCB-Präsidenten Kurt Landauer und des Chefredakteurs des Kicker, Walther Bensemann. Ossi erspielte sich trotz seiner Jugend bald einen Platz in der ersten Mannschaft. Und der Plan, den Landauer hatte, als er Dombi nach München holte, ging auf: Unter Dombi und mit Rohr spielten die Bayern am 1. Mai 1932 in Stuttgart das Finale um die Südostdeutsche Meisterschaft. Gegen Eintracht Frankfurt ging es, und auch die Berichte von diesem Endspiel klingen bemerkenswert aktuell: In der 80. Minute war strittig, ob ein Frankfurter im Strafraum ein Handspiel begangen hätte. »Auf dem Spielfeld kam es zu Rangeleien«, heißt es, der Schiedsrichter brach ab, Frankfurt wurde zum Sieger erklärte, aber beide Mannschaften waren für die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft qualifiziert. Das Finale wurde tatsächlich wieder zwischen Bayern und Frankfurt ausgetragen, diesmal in Nürnberg. Als Bayern einen – diesmal nicht umstrittenen – Elfmeter zugesprochen bekam, sollte Ossi Rohr schießen. Der 20jährige hatte die Nerven, traf, Bayern führte 1:0. Später erzielte noch Josef Bergmaier das 2:0. Es war die erste Deutsche Meisterschaft des FC Bayern München, bekanntlich sollten ein paar Jahrzehnte später viele weitere folgen. Dieser erste Titel war Ergebnis der professionellen Führung des Clubs, für die Namen wie Kurt Landauer, Richard Dombi und auch der Jugendtrainer Otto Albert Beer standen. Alle drei waren Juden. Rohr war zum Star geworden, und die Ambitionen, die der FCB hatte, waren auf seine fußballerischen Fähigkeiten gegründet.. Ossi Rohr traf noch oft, und wurde auch in die Nationalmannschaft berufen. Aber nach dem 30. Januar 1933, dem Machtantritt der Nazis, änderte sich das Leben in Deutschland, und das heißt eben auch: das Fußballleben. Landauer trat von seinem Präsidentenamt zurück, Beer verließ die Jugendabteilung. Für Rohr bot der FC Bayern keine Perspektive mehr. Er ging zu den Grasshoppers nach Zürich. Zwar war Dombi dort schon nicht mehr Trainer – er betreute mittlerweile den FC Barcelona –, aber mit Izidor Kürschner, Spitzname »Dori«, wirkte dort ein anderer renommierter Trainer aus der ungarischen Fußballlschule. Später sollte Kürschner nach Brasilien gehen, und viele sagen ihm nach, dass er es war, der die Fußballweltmacht Brasilien mitbegründet hat. Rohr war jetzt Fußballprofi, er bekam ein Angebot von Racing Strasbourg aus Frankreich und ging dorthin. Das bot ihm auch die Möglichkeit, öfter seine Eltern in Mannheim zu besuchen, und er bemerkte hautnah, was sich in Deutschland geändert hatte. »Verräter« riefen ihm Leute auf der Straße hinterher. Es war immer weniger sein Land. Nach den Pogromnächten im November 1938 bekam Rohr mit, dass sein alter Münchner Jugendtrainer Otto Albert Beer ins KZ Dachau verschleppt wurde, auch Kurt Landauer kam nach Dachau. 1939 überfiel die Wehrmacht Polen, kurz darauf erklärte das NS-Regime auch Frankreich den Krieg und in Strasbourg endete das zivile Leben. Im Juni 1940 marschierte die Wehrmacht ein. Rohr flüchtete in den Süden des Landes, nach Sète, wo er natürlich auch Fußball spielte. Als sein neuer Verein, der FC Sète, 1942 das französische Pokalfinale erreichte, konnte der Stürmerstar nicht mit, denn Paris war da schon von den Deutschen besetzt. Rohr ging, wie viele deutschen Emigranten, nach Marseille. Voloj und Podolec nutzen ihre Graphic Novel, um – beinah nebenbei – auf eindringliche Weise die Situation der Flüchtlinge und die Hilfsangebote, die es etwa von dem US-Amerikaner Varian Fry gab, zu schildern. Rohr, der ja kein Emigrant, kein Flüchtling war, nutzte das nichts. Aber auch er wurde vom Vichy-Regime verfolgt und wegen »Verbreitung kommunistischer Propaganda« sogar verhaftet, inhaftiert und nach Deutschland abgeschoben. Im KZ Kislau bei Karlsruhe war er kurze Zeit interniert, dann schickte ihn die Wehrmacht an die Ostfront. Seine Familie befürchtete, dass dies seinen sicheren Tod bedeuten könnte. Aber Rohr, der Held der deutschen Fußballmeisterschaft von 1932, hatte Glück. Ein Offizier gab sich als Bayern-Fan zu erkennen und verschaffte ihm einen Platz in einem Verletztenrücktransport. So überlebte Oskar »Ossi« Rohr den Zweiten Weltkrieg und so endet die Graphic Novel, die an seine Geschichte erinnert. Nach 1945 entschied sich Rohr, in Deutschland zu bleiben, kickte noch bei ein paar Vereinen und wurde später Angestellter bei der Stadt Mannheim. 1988 starb Rohr. Vergessen war er nicht unbedingt, vielen Bayern-Fans ist er noch wegen der Meisterschaft 1932 bekannt, aber seine Geschichte, seine Haft, seine KZ-Internierung, seine Zeit an der Ostfront sind kaum bekannt. Podolec, ein polnischer Zeichner, und Voloj, der aus Münster stammt und in den USA lebt, haben sich mit viel historischem und fußballerischem Verstand und sehr behutsamen Zeichnungen dieses Menschenlebens angenommen und so eines der würdigsten Andenken geschaffen, die man sich vorstellen kann. Julian Voloj, Marcin Podolec: Ein Leben für den Fußball. Die Geschichte von Oskar Rohr. Carlsen, Hamburg 2020, 152 Seiten, 22 Euro
Martin Krauss
Martin Krauss: Über das Leben des Fußballers Ossi Rohr erschien eine wunderbare Graphic Novel
[ "Fußball", "Comics" ]
Sport
26.03.2020
https://jungle.world//artikel/2020/13/einer-wie-ossi?page=0%2C%2C2
»Das ist ohne Zweifel historisch«
Lelya Troncoso Pérez Am 16. Mai gab es in der Hauptstadt Santiago de Chile eine feministische Demonstration mit über 170 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Vergangene Woche demonstrierten dort über 15 000 Menschen. Auch in anderen Städten Chiles gab es große Proteste. Was ging diesen voraus? Der Mai 2018 wurde in Chile »feministischer Mai« genannt, wegen der Stärke, die die feministische Bewegung im Land gewonnen hat. Die Demons­tration am 16. Mai war nicht die erste  und nicht die einzige feministische Demonstration, aber sie stach wegen ihrer einzigartigen Größe heraus und hat die feministische Bewegung mit Macht in die Medien und ins öffentliche Bewusstsein ­gebracht. Die Proteste werden vor allem von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe sowie von Studierenden organisiert, um sexuelle Belästigung und Missbrauch in den Bildungseinrichtungen anzuprangern. Die Universidad Austral im Süden Chiles war die erste, die Mitte April im Rahmen eines feministischen Protests besetzt wurde. ­Später kamen Universitäten in Santiago hinzu und die Besetzungen und Streiks verbreiteten sich schnell an anderen Universitäten. Im Fall der Universidad de Chile war es zuerst die Jurafakultät, wegen des Unmuts darüber, wie dort die Ermittlungen und die Lösung eines Falls ­abliefen, bei dem eine Studentin von einem prestigeträchtigen Professor ­sexuell belästigt worden war. Solche Fälle sorgen seit Jahren für Proteste. Aber erst dieses Jahr hat sich daraus eine Bewegung entwickelt, die ola ­feminista (feministische Welle), die landesweit eine größere Wirkung ­entfaltet. Interessant ist, dass diese Proteste stattfinden, nachdem die Debatte über die Liberalisierung des Abtreibungsrechts vergangenes Jahr sehr an Fahrt aufgenommen hat. Andere wichtige Entwicklungen waren Fälle von Femizid, die große öffentliche Aufmerksamkeit erhielten, die Diskussion über Belästigung auf der Straße und große Demonstrationen im vergangenen Jahr unter dem Motto #niunamenos (Nicht eine weniger). Auch die #metoo-Kampagne beeinflusste Chile, ebenso wie die Fälle von sexuellem Missbrauch in der ­katholischen Kirche, die medial sehr präsent waren, so dass am Papst­besuch viel weniger Menschen teilnahmen als erwartet. Weiterhin sind Dutzende Universitäten in Chile besetzt. Warum hat man sich für diese Form des Protests entschieden? Die Besetzungen sollen Druck ausüben und die feministischen Forderungen deutlich sichtbar machen. In diesem Kontext bekommen die Besetzungen einen anderen Sinn als bei sonstigen studentischen Mobilisierungen, wo es darum geht, intern Druck aufzubauen auf die Fakultät oder die Abteilung, die besetzt wurde. Bei den jetzigen Mobilisierungen gibt es Forderungen, die sich an die Universitäten und Fakultäten richten, aber auch landesweite Forderungen – die wiederum mit globalen verknüpft sind –, da sich die Probleme nicht allein auf lokaler Ebene lösen ­lassen. Was sind die zentralen Forderungen der Besetzerinnen? Die Hauptforderung ist die nach einer »nicht sexistischen Bildung«, danach, alle Formen, von eher expliziten bis zu subtilen, zu beseitigen, in denen sich Sexismus, Machismo, Homo- und Transphobie in der Bildung reproduzieren. Die Parole für eine »nicht sexistische Bildung« kam in Chile zum ersten Mal im Jahr 2011 im Kontext der Schülerproteste für eine kostenlose und hochwertige Bildung auf. Sie speist sich aus einer tiefgreifenden Kritik an der warenförmigen, kapitalistischen und neo­liberalen Gesellschaft. Nach Meinung eines großen Teils feministischer Strömungen stützt das Patriarchat sich auf miteinander verbundene Formen der Unterdrückung, daher wenden sie sich gegen jede Form sozialer Ungleichheit sowie gegen die verschiedenen Institutionen, ­Diskurse und Praktiken, die diese aufrechterhalten: die traditionelle Familie, die Kirche, den Staat und die Bildung als privilegierten Raum der Produktion und Reproduktion von Herrschaftslogik. Ein zentraler Fokus war der schlechte Umgang der Universitäten mit Fällen sexueller Belästigung durch Professoren und Studierende. Aber mit der Forderung nach einer nicht sexistischen oder feministischen Bildung wurde dieser Fokus komplexer und breiter. Kritisiert werden der Mangel an Genderperspektiven und feministischen Studien an den Universitäten und der androzentrische Bias in den Fächern im Allgemeinen, so dass oft sexistische ­Inhalte verbreitet werden. Eine nicht sexistische Bildung versucht auch zu hinterfragen, wie Genderstereotype an den Universitäten entstehen, etwa dass Frauen in als »weiblich« konnotierten Fächern, wie Krankenpflege, ­sozialer Arbeit, Erziehung, weiterhin die Mehrheit bilden und Männer in ­Ingenieurswissenschaften, Jura etc.; und dass »männliche« Fächer mehr wert­geschätzt und besser entlohnt werden. Dozentinnen und weibliche Angestellte der Universitäten beteiligen sich auch mit ihren Forderungen. Sie prangern schlechte Behandlung durch die Universitäten an, machistische Machtverhältnisse, Lohnungleichheit, Karriereeinbußen durch Mutterschaft, den Mangel an gleichwertiger Verantwortung bei der Kindererziehung und vieles mehr. Wie hat die konservative Regierung unter Sebastián Piñera auf die Proteste reagiert? Die amtierende rechte Regierung hat mit einer sehr konservativen Frauen­agenda geantwortet, in der Frauen nur als Mütter oder Festangestellte anerkannt werden. (In der Frauenagenda schlägt Piñera unter anderem einen Rentenbonus für Frauen vor. Davon würden vor allem Frauen mit einem festen Arbeitsvertrag profitieren, während die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts weitergeht und arme und prekär arbeitende Frauen weniger Rente ­bekommen, Anm. d. Red.) Die Agenda legt zwar einen Fokus auf die Beseitigung von Gewalt, aber ohne auf weitergehende Forderungen, wie die nach einer nicht sexistischen Bildung, einzugehen. Die Rechte will die feministische Agenda nicht der Linken überlassen. Und obwohl die Rechte weiterhin feministische Forderungen zurückweist und nicht versteht, was ­Feminismus bedeutet, hat sich eine (im rechten Sinne) »politisch korrekte« Idee von Geschlechtergleichheit dadurch etabliert, dass sich viele rechte Frauen nun selbst als Feministinnen bezeichnen. Das stieß auf große Ablehnung bei jenen Feministinnen, für die Feminismus nicht rechts sein kann, da er notwendigerweise antikapitalistisch und antineoliberal ist. Die Feministin Daniela López von der Autonomen Linken schrieb, die ­Tatsache, dass die Forderung nach einer nicht sexistischen Bildung von Piñera nicht aufgegriffen wurde, sei kein Zufall. 2011 machten ihm die Bildungsproteste in seiner ersten Amtszeit schwer zu schaffen und sorgten schließlich mit für seine Abwahl. Sich um eine nicht ­sexistische Bildung zu kümmern, würde bedeuten, die Bildungs­reform anzugehen, was erneut zu einer Niederlage der Regierung führen könnte, so López.
Nicole Tomasek
Nicole Tomasek: Lelya Troncoso Pérez, Sozialpsychologin, über die feministischen Proteste in Chile
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Interview
14.06.2018
https://jungle.world//artikel/2018/24/das-ist-ohne-zweifel-historisch?page=0%2C%2C0
Gute Zusammenarbeit
Fälscher. Wenn man den Milli-Vanilli-Skandal mit der Causa Guttenberg zusammenlegen und dann noch die gefälschten Hitler-Tagebücher draufpacken würde, hätte man ungefähr die Dimensionen, die der Täuschungsfall Mamoru Samuragochi in Japan besitzt. Der angeblich gehörlose Samuragochi war nicht nur als Komponist für den Soundtrack des populären Game »Resident Evil« bekannt, sondern auch für seine Hiroshima-Symphonie. Erst hatte der als »japanischer Beethoven« gefeierte 50jährige Musiker zugegeben, dass seine Werke zu einem großen Teil gar nicht von ihm selbst stammen, sondern mit Hilfe eines Ghost-Komponisten entstanden sind, dann wurde bekannt, dass der Künstler, der angegeben hatte, dass er mit 35 Jahren sein Gehör verloren habe, gar nicht taub ist. Zumindest sagt der Musiklehrer Takashi Niigaki, der für Samuragochi als Ghost-Komponist gearbeitet haben will, dass er sich mit ihm ganz normal unterhalten habe. Vielleicht sollten sie ihre gute Zusammenarbeit als Duo fortsetzen.   HER Schneller anziehen Barbie. Mit Magerwahn und Modelmaßen hat das alles gar nichts zu tun. Die Barbie propagiert mit ihren unnatürlichen Proportionen kein Schönheitsideal, vielmehr gibt es praktische Gründe dafür, dass die Spielzeugfigur so ist, wie sie ist. Das enthüllte Kim Culmone, Vize-Chefdesignerin für die Barbie bei Mattel, in einem Interview mit der US-amerikanischen Internetseite Fast Company Design. »Der Körper der Barbie sollte niemals realistisch sein«, erklärte Culmone. »Sie wurde so konzipiert, damit Mädchen sie leicht an- und ausziehen können«, so die Designerin. »Nicht alles wird jeder Puppe passen, aber es ist mir wichtig, dass die meisten Sachen passen, denn das war schon so, als ich noch ein kleines Mädchen war. Es gibt eine Verpflichtung zur Beständigkeit. Es sei denn, dass es in Zukunft einen wichtigen Grund gibt, den Körper zu verändern – entweder wegen eines neuen Design- oder Funktionsimperativs.« Vielleicht näht man der Puppe einfach mal weitere Klamotten.   HER Das Altern des Pop Dieter Bohlen. Er wurde ja nicht mal gehasst, sondern einfach immer ignoriert von der Kulturkritik: Dieter Bohlen, der Typ, der die gesammelten Modepeinlichkeiten der Achtziger auf sich vereinte, also Jeansjacke, Vokuhila und schrittbetonte Wrangler, und Lieder sang, die nur aus einfältigem Refrain bestanden und für den Popdiskurs verloren waren. Lediglich Rainald Goetz fand, dass Modern Talking Diskurspotential besaß. Aber erstens galt sein Interesse vor allem Thomas Anders und zweitens stand Goetz damals selbst noch unter dem Verdacht, ein Niveauabsenker zu sein; also kam die Bohlen-Debatte nicht in Schwung. Inzwischen singt Bohlen nicht mehr selbst, sondern überzieht die Charts mit zweifelhaften One-Hit-Wonders aus seiner Castingshow-Maschine und verdient sein Geld mit Reklame für Grillwürstchen, cholesterinsenkende Margarine und Versicherungen. Vielleicht wird der Mann, der in der vergangenen Woche 60 wurde, in ferner Zukunft mal Gegenstand einer kritischen Kulturarchäologie.   HER Dieser Pulli! Klaus Wowereit. Von wegen »Gut so!«. Ganz schlecht schneidet Berlins Regierender Bürgermeister gerade ab. Nicht nur, dass Wowereit das Pannenprojekt von Schönefeld maßgeblich verantwortet und seinen Kulturstaatssekretär wegen Steuerhinterziehung seines Amts entheben musste, jetzt lässt sich Wowereit auch noch richtig gehen. Mit einem schlabbrigen Pulli in Popelfarbe wie vom Kik-Wühltisch und langen fettigen Haaren zeigte er sich bei einer SPD-Klausurtagung. Dabei ist Wowereit angeblich Kunde beim Promi-Friseuer Udo Waltz und war 2008 gemeinsam mit Ole von Beust »bestangezogener Politiker«. Inzwischen sieht er ein bisschen so aus wie der Durchschnittsberliner, verarmt und unsexy.   HER
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dschungel
13.02.2014
https://jungle.world//artikel/2014/07/gute-zusammenarbeit?page=0%2C%2C1
Wildgewordenes Rudel
Wer es wie Marlene Stark schafft, auf wenigen Zeilen sowohl Flash Gordon als auch David Lynch und die Ladenkette TK Maxx zu erwähnen, der kennt sich aus auf den Tanzflächen dieser Welt. Nicht auf den Dancefloors mit Unterbodenbeleuchtung und »White Night«-Mottonächten, sondern auf denen, die punkig und siffig sind. Man fühlt sich zu Hause in solchen Läden, die seltsam riechendes Bier in ungespülten ­Gläsern servieren. Über die ausschweifenden Nächte des Berliner Undergrounds konnte man 2019 im Roman »M« mehr erfahren. Geschrieben hat ihn neben Anna Gien die Autorin, Musikerin und DJ Marlene Stark. Im Umfeld des Kellerclubs Sameheads (in dem bis vor kurzem wohl eine der lebensbedrohlichsten Treppen der Hauptstadt zu finden war) machte sich Stark in den vergangenen Jahren nicht nur einen Namen als Veranstalterin, sondern schärfte auch ihre musikalischen Sinne, was nun zu ihrem ersten Album führte. Nicht mehr und nicht weniger als die Matrone des Tierreichs, die Hyäne, suchte sich Stark als Symbol für ihr musikalisches Debüt aus. Die eigentliche Gefahr geht auf »Hyäne« dennoch nicht von einem Exemplar der sich matriarchalisch organisierenden Tierart aus, sondern von den sieben Tracks, die hier versammelt sind. Wie von einem wildgewordenen Rudel wird man von Post-Rave, Industrial und Reminiszenzen an die Neunziger umzingelt. Da ist der Opener »Beruhig dich mehr«, der klingt wie eine Prügelei zwischen Tricky und Goldie; von hinten schleicht sich die Weird-Wave-Nummer »Was ist feucht?« mit dezent versautem Text an; und in der Mitte schlägt das behäbig schreitende Stück »Meine Hand« selbige mitten ins Gesicht. Warum es sich lohnt, dieser Hyäne besondere Beachtung zu schenken, beweist Stark mit dem titelgebendem Stück zum Ende der Platte dann doch noch einmal selbst: Acid-Sound, der von wüsten Drums in den Schatten gestellt wird, ebnet den Weg für tribalistische Chants wie aus Crazyhausen. Und das klingt wirklich richtungsweisend. Marlene Stark: Hyäne (Lustpoderosa)
Lars Fleischmann
Lars Fleischmann: »Hyäne« von Marlene Stark
[ "Musik" ]
dschungel
17.12.2020
https://jungle.world//artikel/2020/51/wildgewordenes-rudel?page=0%2C%2C2
Petrodollars für die Kurden
"Oil For Food" ist die gängige Bezeichnung des UN-Programmes, das dem Irak seit anderthalb Jahren einen begrenzten Ölverkauf zugunsten humanitärer Programme erlaubt. Die dahinterstehende Resolution UNSCR 986, die angesichts der anhaltenden Auseinandersetzungen um die UN-Abrüstungskontrollkomission Unscom kaum beachtet wird, ermöglicht das größte zusammenhängende Hilfsprogramm, das die UN seit ihrem Bestehen in einem Land durchführen. Erlaubt wird dem Irak unter Beibehaltung des Wirtschaftsembargos der Verkauf von Öl im Wert von fünf Milliarden US-Dollar pro Halbjahr. Damit reagierten die UN auf die enorme Verarmung der irakischen Bevölkerung - die mit dem 1990 in Kraft getretenen Vollembargo einsetzte -, ohne zugleich die Sanktionen gegen das irakische Regime aufzuheben. Verhindern wollen die UN so, daß Saddam Hussein ein neues militärisches Aufrüstungsprogramm startet. Während im Zentral- und Südirak die irakische Regierung selbst unter Aufsicht der UN die Not der Bevölkerung lindern, aber auch langfristige infrastrukturelle Aufbaumaßnahmen durchführen soll, sind die UN im kurdisch kontrollierten Nordirak direkt für die Implementierung des Programms zuständig. Von der Gesamtsumme sind jeweils ca. 500 Millionen US-Dollar für den Norden bestimmt, bisher errreichten allerdings nur 300 Millionen die selbstverwalteten kurdischen Gebiete. Seit nunmehr anderthalb Jahren, in denen das Programm läuft, ist der Irak also gezwungen, den Wiederaufbau der vormals völlig zerstörten kurdischen Gebiete mitzufinanzieren. Dörfer, die vor zehn Jahren während der sogenannten Anfal-Kampagne dem Erdboden gleichgemacht wurden, werden nun mit Petrodollars wiederaufgebaut. "Erstmals", so meint der Leiter einer kurdischen Hilfsorganisation, "profitieren wir wenigstens etwas von dem Ölreichtum des Landes." Die der irakischen Regierung aufgezwungene Finanzierung des Wiederaufbaus der kurdischen Regionen kann implizit als "Wiedergutmachung" verstanden werden: Mit der Abkopplung vom humanitären Programm im restlichen Irak und einer getrennten Budgetierung haben die UN den faktischen Autonomiestatus der Region untermauert. Vor allem die Verteilung von Grundnahrungsmitteln, die unter der Aufsicht der Welternährungsorganisation (WFP) durchgeführt wird, gilt als effektiv. Seit Beginn des 986-Programmes in den kurdischen Gebieten gilt die Subsistenz der Bevölkerung als gesichert. Herrschte vorher besonders unter den "internal displaced persons", der ärmeren Stadtbevölkerung und jenen Gruppen, die nicht in ihre Dörfer zurückgesiedelt werden konnten, akute Nahrungsmittelknappheit, gilt dieses Problem vorläufig als gelöst. Für die nach wie vor zahlreichen vor Ort arbeitenden Nichtregierungsorganisationen (NGO) könnte dies die Chance bieten, ihre Kapazitäten auf einen langfristigen und substantiellen Wiederaufbau der Region zu lenken, anstatt in Nothilfeprojekten zu verharren. Andere Maßnahmen allerdings werden von seiten nationaler und internationaler Hilfsorganisationen heftig kritisiert: Die UN arbeiteten zu langsam und bürokratisch. So würden etwa Programme im agrikulturellen Bereich, beim Wiederaufbau zerstörter Dörfer oder die landesweite Renovierung von Schulen zu langsam vorangehen und selten mehr als 30 Prozent der vorgesehenen Maßnahmen im anvisierten Zeitrahmen durchgeführt. Besonders für lokale und internationale Hilfsorganisationen wirkt sich 986 oft negativ aus, sind doch die vormaligen Geldgeber für das humanitäre Programm, das seit 1991 duchgeführt wird, weggefallen: die US-Regierung und die EU. Diese, so wird kritisiert, seien bei der Geldvergabe wesentlich unbürokratischer gewesen und hätten effektivere Arbeit geleistet. Vergessen wird dabei gerne, daß die UN alle bestehenden Programme mehr oder weniger gegen den Willen der irakischen Regierung hat durchsetzen müssen. Diese hat wenig Interesse an einem erfolgreichen Verlauf der Maßnahmen, da sie auf die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen hinarbeitet. Würde sich im Gesamtirak das 986-Programm als effektives Mittel zur Hilfe für die Zivilbevölkerung erweisen, fiele das Hauptargument der Regierung, die Not der Bevölkerung, weg. An einem nachhaltigen Aufbau der kurdischen Gebiete hat die irakische Regierung noch weniger Interesse, wird doch damit systematisch seit nunmehr sieben Jahren versucht, die Resultate der irakischen Politik der verbrannten Erde rückgängig zu machen. So verwundert es nicht, daß Bagdad alles daran setzt, das Programm zu verschleppen. Für die sogenannte Phase 5 des Programmes, die im November starten soll, fehlt bis heute die Zustimmung des Irak. Sollte Saddam die weiterhin verweigern, wäre das ganze Programm in Frage gestellt - die Folgen wären katastrophal. Denn so wirkungsvoll die Implementierung der Resolution 986 für die kurdischen Gebiete derzeit ist, sie droht dennoch zugleich jene Abhängigkeit der Kurden von ihren Geldgebern zu vertiefen, die in den vergangenen Jahren zu einer vollständigen politischen und sozialen Paralysierung der Region geführt hat. Sollte das Programm gestoppt werden, so wären die verbliebenen NGOs nicht in der Lage, auch nur einen kleinen Teil der Versorgung wirkungsvoll zu übernehmen. Hier zeigt sich die Hauptschwäche des Programmes: Seine Durchführung hängt direkt von der Bereitschaft Husseins ab, das Oil For Food-Programm weiter mitzutragen. So viele Fehler und Schwächen 986 auch aufweist, es besteht zur Zeit keine einzige tragfähige Alternative für die kurdischen Gebiete. Laute Kritik an der Arbeit der UN im Nordirak wird von vielen Seiten geäußert. Eine Kritik, die in Bagdad auf offene Ohren stieß und das Außenministerium umgehend veranlaßte, einen Brief an den UN-Generalsekretär Kofi Annan zu schreiben. Da selbst die UN einsehe, so der Inhalt, daß sie im Nordirak ohne Regierungskontrolle nicht effektiv arbeiten könne (die beiden kurdischen Parteien KDP und PUK, die das Gebiet kontrollieren, das seit internen Parteienkämpfen zwischen ihnen aufgeteilt ist, werden von Bagdad als anarchische Banden und Spione der USA diffamiert), sei es von daher nur billig, ihr, der irakischen Regierung, diese Aufgabe zu übertragen. Daß derlei Offerten des irakischen Regimes in jüngster Zeit verbunden sind mit der Weigerung, den Kontrollaufträgen im Rahmen des Abrüstungsprogrammes nachzukommen, verweist auf ein grundlegendes Dilemma der UN-Politik im Irak. Alle Programme und Resolutionen seit 1991 stellen lediglich Modifikationen des UNSCR 688 dar. Deren zentrale Forderung - vollständige Abrüstung irakischer B- und C-Waffen sowie die Zerstörung von Langstreckenwaffen und deren Komponenten - ist durch keine neuere Resolution außer Kraft gesetzt worden. Vorstöße in dieser Richtung wurden bislang erfolgreich von der US-amerikanischen und der britischen Regierung verhindert. Die ursprüngliche Resolution 688 rechtfertigte nicht nur den militärischen Eingriff 1991, sondern die dauerhafte Kontrolle des Irak, die zum Zeitpunkt der Beschlußfassung die Interessen der an der Anti-Irak-Koalition beteiligten Staaten widerspiegelte. Diese haben sich zwischenzeitlich verschoben. Im Zuge des schwindenden US-Engagements im Nahen Osten und einhergehend mit der Wiederbelebung außenpolitischer Beziehungen Frankreichs zum Irak ist die einstige Zweckkoalition längst zerbrochen. Frankreich profitiert nicht unbeträchtlich davon, daß die US-Hegemonie nicht zuletzt durch den gescheiterten Friedensprozeß an Boden (und Rechtfertigung) verliert. Während das einstige stabilisierende Element der Region, Israel, unter Benjamin Netanjahu zu einem Risikofaktor geworden ist, konnte sich das einst wegen der Unterstützung anti-israelischer Terrorgruppen international diskreditierte syrische Regime politisch und ökonomisch konsolidieren. Erst Mitte August unterzeichneten die ehemals verfeindeten Baath-Regierungen Syriens und des Irak ein Abkommen über eine Ölpipeline, dessen Umfang vorsichtig auf etwa 200 bis 300 Millionen US-Dollar geschätzt wird. Nahezu zeitgleich wurde Syriens Diktator Assad als Staatsgast in Paris empfangen. Das US-amerikanische Festhalten an der Fortsetzung der Unscom-Mission ist weniger der Einsicht in die Gefährlichkeit irakischer Waffen geschuldet als vielmehr der Tatsache, daß ein jahrzehntelang als US-amerikanisch angesehenes Terrain nach und nach von der Konkurrenz erobert wird.
thomas von der osten-sacken, thomas uwer und »wadi e.v.«
thomas von der osten-sacken, thomas uwer und »wadi e.v.«:
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Ausland
30.09.1998
https://jungle.world//artikel/1998/40/petrodollars-fuer-die-kurden?page=0%2C%2C3
Wo alles begann
HipHop Boulevard. Bürgermeister Bill de Blasio ist sich sicher, es kann nur in seinem New York gewesen sein, in der Bronx – der Sedgwick Avenue, um genau zu sein –, wo HipHop geboren wurde. Die Legende will es so: In der besagte Straße drapierte der aus Jamaika stammende Clive Campbell eines Abends mehrere Plattenspieler nebeneinander. Es war der 11. August 1973, Campbell beschallte die Geburtstagsparty seiner Schwester – und setzte aus mehreren Stücken einen neuen Beat zusammen. Campbell ging als Kool DJ Herc in die Geschichte ein und beschert nun der Stadt, über vier Jahrzehnte später, eine Straße namens HipHop Boulevard. Irgendwie rührend. oko Auf der anderen Seite Umfrage. Die meisten Leute nerven, mit zunehmendem Alter wird es schlimmer. Insofern sind die Emnid-Umfrageergebnisse des evangelischen Monatsmagazins Chrismon nicht verwunderlich: Während sich ein Drittel der 14- bis 29jährigen vorstellt, dass mit dem Tod der Vorhang endgültig fällt, sind es bei den über 60jährigen 49 Prozent. Besonders Menschen mit höherem Einkommen glauben, dass ihre Seele nach dem Tod als Teil von etwas Größerem weiterleben wird, an eine Aufteilung von Himmel und Hölle glauben der Studie zufolge vor allem Geringverdiener. Vielleicht weil sie sich nach dem Tod nicht abgeben wollen mit den Philistern im Himmel und lieber als kettenrauchende Skelette auf Motorrädern um Feuersbrünste herumknattern wollen. Sehr nachvollziehbar. oko Anstrengung muss sich lohnen Die 88. Academy-Awards. Erst der riesige Grizzlybär, der ihn mit seinen Klauen aufknüpft, dann die frostigen Nächte allein im Staub, der Absturz mit dem Pferd, rohe Bisonleber im Mund – nein, ein Mensch allein hätte eigentlich nicht überleben können, was dieser Pelztierjäger namens Hugh Glass wegsteckte, einer hätte sich nicht schmuddeliger machen können, um Rache zu nehmen. Und um endlich diesen verdammten Oscar verliehen zu bekommen. Nun wurde Leonardo DiCaprio ausgezeichnet. Endlich. Und verdientermaßen, wie viele meinen. Und der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu gleich mit. Denn größere Bilder hätte ein Regisseur allein nicht liefern können. Zwei Anstrengungs-Oscars für »The Revenant«, die meisten, wenn auch in weniger wichtigen Kategorien, sammelte »Mad Max« ein und zum besten Film wurde »Spotlight« gewählt, der auch den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhielt. Chris Rock moderierte die Oscar-Verleihung und thematisierte die Debatte, dass in den wichtigsten Kategorien keine Afroamerkianer nominiert waren: »Warum protestieren wir? Warum bei diesen Oscars?«, fragte er, da das Problem nicht neu sei. Für seine Antwort verwies er auf die Geschichte: »Wir waren damit beschäftigt, vergewaltigt und gelyncht zu werden. Wenn deine Großmutter an einem Baum hängt«, dann sei einem egal, welche die beste Dokumentation sei. Bei der Verleihung der Goldenen Himbeere räumte der Favorit »Fifty Shades of Grey« ab: schlechtester Film, schlechtestes Drehbuch, schlechteste Schauspieler, schlechteste Schauspielerin, schlechtestes Schauspieler-Duo. oko Guter Gag Ed Force One. Bruce Dickinson ist Frontmann der legendären Heavy-Metal-Band Iron Maiden. Und er ist auch Pilot des bandeigenen Tourjets Ed Force One, einer großen Boeing 747, die vorige Woche in Dortmund landen sollte, damit Iron Maiden beim Festival »Rock im Revier« spielen konnten. Was muss das für ein Fest im Flieger gewesen sein, als vom Tower gemeldet wurde, die Maschine sei einfach zu heavy für den Flughafen? Die Ed Force One bringt ein Leergewicht von 185 Tonnen auf die Waage, in Dortmund sind aber nur 100 Tonnen zugelassen. oko
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dschungel
03.03.2016
https://jungle.world//artikel/2016/09/wo-alles-begann
Home Story
Wenn man die Jungle World liest, denkt man: Super! Kritk am neoliberalen Arbeitsethos, am Selbstoptimierungswahn und dem ganzen Diszplinierungsterror wie Clean Desk Policy und Teambuilding-Seminaren zur Bekämpfung des schlimmen Sucker-Effekts! Dafür jede Woche Lobeshymnen auf Hedonismus, Anarchie, Kreativchaos, Spontanität, Querschlägertum und Antiautoritäre. Wahrscheinlich sind es die genialen Anarchisten, die in diesem zwanglosen Redaktionsdschungel die Movers und Shakers sind und dafür die Königskrone aufgesetzt bekommen. Also hätte er doch ein würdiger Aspirant für die Krone sein müssen: der Bachelor im dunkelblauen Vintage-Pulli mit dem subkulturellen Kapital in der abgewetzten Umhängetasche. Beim Rumstehen im Berghain ist er genauso lässig wie beim Match auf dem Tennisplatz. Legendär entspannt sein Aufschlag auf der ansonsten eher stressigen Redaktionskonferenz. Erstmal Kaffee und Kuchen, dann Diskussionen. Oder sind wir hier vielleicht beim Focus? Fanpost. Waschkörbeweise. Unveröffentlicht, ein Auszug: »Jede Woche, immer wieder neu, die Kopfzeile im Dschungel-Feuilleton, die vier Kästchen, die auch meistens was miteinander zu tun haben. Da habe ich schon manch guten Link gefunden. Dafür danke.« Vergelt’s Gott, merci, chérie. Dass man in diesem Laden nicht nur Sahra Wagenknecht, sondern auch Kate Moss und Julie Burchill kennt, geht auf’s selbe Konto. Punk, Baby, genau. So was im Dschungel durchzusetzen, kann aber härter sein, als Känguruhoden und faule Enteneier zu essen. Gerade die schwere Aufgabe erledigt unser Kanditat mit verbaler Leichtigkeit. Nachrufe auf Popdiven und Legenden des Jazz werden verfasst, Trends antizipiert, Kritiken über Kino, US-Serien und trauriges deutsches Fernsehen aus der Hüfte geschossen. Etwas vom Glanz von The Wire und vom Trash des Vice fällt auf die Jungle World ab in Texten mit Titeln wie »Inkorrektes Hosen-Zelt aus Stoff und Sorgen« (über den Seinfeld-Spin off »Curb your Enthusiasm«), »Der letzte Engtanz« (zum Tod von Patrick Swayze) und »Ja, spinnt ihr denn jetzt alle?« (über die Konkurrenz zwischen Machos und Metrosexuellen). Ein bisschen enttäuschend ist es nun schon, dass der letzte Redaktionsanarchist hinter den Kulissen der Selbstoptimierungskritik kein Krönchen bekommen hat. Nicht mal ein Thrönchen. Dabei heißt es doch immer, Anarchie sei prima für Betrieb und Klima.
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Homestory
07.03.2013
https://jungle.world//artikel/2013/10/home-story?page=0%2C%2C3
Schönes neues Einzelgängertum
Es ist noch gar nicht lange her, da wandelte ein barfüßiger, obdachloser, drogenverstrahlter Richard Ashcroft durch ein englisches Kaff namens Wigan. Er hatte kein Geld, er war verzweifelt und wenn er auf eine Scherbe trat, merkte er es nicht mal mehr: Das Leben war ohnehin schmerzhaft genug. Das ist lange her. Heute - knapp fünf Jahre später - hat er eine Frau, die ihn liebt, einen Sohn, ein gregorianisches Landhaus in der Nähe von Bristol, die eine oder andere Million auf dem Konto, und ganz nebenbei ist er noch einer der coolsten Popstars, die übers Erdenrund slackern. Danke. Danke an wen auch immer, dass es Richard Ashcrofts Schicksal nicht hatte sein sollen, uns den Rest seines Lebens stinkende Räucherstäbchen, mieses Hasch oder schlechte Trips zu verkaufen, was wahrscheinlich die durchschnittliche Resozialisierungs-Erwartung für obdachlose englische Hypersensibelchen mit Hang zum Übersinnlichen ist. Danke. Lieber kaufen wir ihm aufs Neue ein knappes Dutzend Songs ab, die uns alle trauriger und dadurch glücklicher machen. Seit einigen Jahren wird man nun schon von der Britpop-Bagage verfolgt, die Protagonisten sind immer noch dieselben Jungs, die in Wirklichkeit längst Männer sein sollten: Noel und Liam Gallagher von Oasis, Jarvis Crocker von Pulp, Damon Alburn von Blur. Abwechselnd hauen sie sich auf die Fresse und schaukeln sich die Eier, während es Kokain schneit. Die besten Egozentriker kommen in die Jahre, machen mal mehr, mal weniger gute Alben und verwandeln sich dabei in ihre eigenen Karikaturen. Und Richard Ashcroft, Sänger der mittlerweile aufgelösten Band The Verve, ist mit von der Partie. Richard Ashcroft, der derzeit überall verkündet, sich mit 28 Jahren schon dreimal so alt zu fühlen. Zwischen den anderen Haudegen repräsentiert er den vom Schmerz aus der Bahn geworfenen Künstler, gezeugt im 19. Jahrhundert, wiedergeboren im Hier und Jetzt und davon gründlichst verwirrt. »Mad Richard«, wie ihn seine Fans ehrfürchtig und anerkennend titulieren. Und es scheint, als schmeichelte ihm das auch noch. Beschwert hat er sich darüber bis jetzt noch nicht. Schönes neues Einzelgängertum. »Alone With Everybody« heißt Ashcrofts erste Solo-CD nach knapp zehn Jahren mit The Verve. Leider kann auch an dieser Stelle nicht eindeutig berichtet werden, warum Ashcrofts Band sich vor gut einem Jahr auflöste. Die ehemaligen Bandmitglieder schweigen sich darüber aus, und auch die Reporterin von The Face stocherte zwar in tagelangen Interview-Sessions in der Band-Vergangenheit herum, förderte aber keine grundlegend neuen Fakten zu Tage, sondern nur das, was man sich ohnehin schon selbst denken konnte: Ein Haufen Egozentriker nimmt viel zu viele Drogen und hat viel zu viel Erfolg in viel zu kurzer Zeit. Als Erklärung ist das überzeugend und ausreichend, aber Ashcroft wird nicht müde, in jedem Interview zu betonen, dass die eigentlichen Gründe, die zur Trennung von The Verve führten, so wahnsinnig »fuckin' unbelievable« seien, dass die Zeit einfach noch nicht reif dafür sei, sie an die Öffentlichkeit weiterzureichen. Erst wenn er tot sei, sei es an der Zeit, die Geschichte wieder aufzurollen. Womit er dann meist bei seinem Lieblingsthema angekommen ist: Denn der Tod spielt in Ashcrofts Leben eine entscheidende Rolle. Sein Vater starb, als er elf Jahre alt war, ein Erlebnis, von dem er sagt, dass es ihn wahrscheinlich erst dahin gebracht habe, wo er heute ist. Seitdem zieht sich der Tod als Thema durch seine Musik und ist in seinen Interviews beliebtes Thema eingehender Erörterungen: »Wenn meine Frau sterben würde, könnte ich auch nicht mehr leben.« »Erst wenn ich tot bin, kann die Verve-Biographie geschrieben werden.« Das kann schnell peinlich werden. Rock'n'Roll handelt von Grenzerfahrungen, Risiko und Tod. Als Symbolik und Ritualisierung, wie zum Beispiel im Gothic oder Death Metal oder als ganz reale Selbstzerstörung, die nicht verheimlicht wird oder nicht mehr verheimlicht werden kann und in der Folge nicht selten zum Tod führt. Die eine Variante ist nur bedingt interessant, weil sie immer gleichen Schemata folgt, die andere Variante ist schlicht traurig. Ashcroft kann man keiner der beiden Gruppen eindeutig zuschlagen, ein wenig hängt er der zweiten Kategorie nach, freilich ohne groß angelegte Tragik. Trotzdem handelt sein wirklich allerschönstes Stück vom Tod. Es wurde vor zwei Jahren mit James Lavelle für dessen Unkle-Projekt aufgenommen. In »Lonely Souls« singt Ashcroft: »I want to die in a place, where no one knows my name.« Und die Geigen schwingen sich dazu himmelwärts. Beim Rest der singenden Zunft würden sich einem ob dieser Worte die Zehennägel hochrollen, bei Ashcroft funktioniert es. Oder, um es mit den Worten von James Lavelle zu sagen: »Als Richard diesen Text sang, war ich so gerührt wie nie zuvor in meinem Leben.« Das neue Album »Alone With Everybody« reißt einen nicht in derartig extreme Gefühlszustände. Es entlockt einem den ein oder anderen tiefen Seufzer. Es ist Musik für Leute, die von Weltreisen träumen, aber ihr Zuhause nie verlassen. »Ich will die Leute mit diesem Album anrühren wie Elvis«, sagt Ashcroft. Doch mit Elvis liegt er verkehrt. Unbescheiden ist er deswegen trotzdem nicht. Es ist Lee Hazelwood, ohne das Augenzwinkern, gepaart mit Arrangements, die zum Teil an Phil Spector erinnern. Und es ist das erste Album, das schon zu Sommerbeginn den Herbst einläutet. Danke, Richard. Danke, Richard, dass du uns zeigst, was Mitgefühl heute noch bedeuten kann. Wir fühlen mit dir. Der Hall deiner wunden Seele klingt in unseren Ohren nach und lässt uns immer wieder aufs Neue aufseufzen. Jeder Song ein Werk, dein Album eine bittersüße Symphonie. Richard Ashcroft: »Alone With Everybody«. Virgin
heike blümner
heike blümner: Britpop-Solo von Richard Ashcroft
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dschungel
05.07.2000
https://jungle.world//artikel/2000/27/schoenes-neues-einzelgaengertum?page=0%2C%2C1
Vernichtet Böses!
Der letzte linke Student ist verzweifelt. Denn er las in einer Zeitung, dass Hitler gelesen hat. Und nicht nur das: Hitler hat viel gelesen! Ja: Hitler hat sogar sehr viel gelesen. Dazu kommt, alles verschlimmernd: Hitler hat nicht nur Karl May gelesen. Nein, Hitler hat sogar Marx gelesen! Und andere Werke, die überhaupt nicht dumm sind. Nun muss sich der letzte linke Student fragen: kann das sein? Und dann muss sich der letzte linke Student sagen: das kann nicht sein! Denn: wer liest, wird schlau. Wer schlau ist, erkennt die Welt. Wer die Welt erkennt, erkennt die Missstände in der Welt. Und wer die Missstände in der Welt erkennt, was will der? Klar, der, der die Missstände in der Welt erkennt, der will die Revolution. Damit: die Missstände aufhören. Aber: dass Hitler gelesen hat, ist unbezweifelbar. Es gibt Fotos, auf denen Hitler liest. Nun kann man sagen: diese Fotos sind gefälscht. Allerdings: ist das unwahrscheinlich. Das wiederum heißt: Hitler hat gelesen. Und zwar: böse Bücher. Querverweis: die Existenz böser Bücher ist erwiesen. Hitler selbst nämlich: hat eins geschrieben. Das heißt: »Man muss wissen, was Hitler gelesen hat. Die Bücher muss man einsammeln und vernichten. Alle. Überall. Dann sind zumindest viele böse Bücher eliminiert, wenn nicht gar alle!« Dieser Gedanke findet sich selbstredend im besonderen Notizbuch. Bleibt zu fragen: was ist mit Marx? Sind Marxens Bücher auch böse? Doch auch hier fällt die Antwort leicht. Sie lautet: Hitler kann Marx nicht gelesen haben. Sonst: wäre er ja gut geworden. Und man weiß auch: es gibt keine Fotos, auf denen Hitler Marx liest. Dies wiederum ist ex negativo: auch ein Beweis für die obige These. Daher beruhigt sich der letzte linke Student wieder. Und auch wir sollten uns wieder beruhigen, durchs Denken wird alles gut.
Jörg Sundermeier
Jörg Sundermeier:
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dschungel
15.01.2009
https://jungle.world//artikel/2009/03/vernichtet-boeses?page=0%2C%2C0
Sobald es anstrengend wird, hat man verloren
Es gibt keine Sportart, die ich mit besonderer Konsequenz verfolge – bis auf das Spazierengehen. Nein, nicht mit Nordic-Walking-Stöcken in den Pfoten oder in lächerlichen bunten Strampelanzügen. Auch nicht mit Musikknöpfen im Ohr oder der Zeitung unterm Arm. Mit Arbeit hat Spazierengehen nichts zu tun, ja die Abschaffung von Arbeit ist sogar das ganze Ziel der Übung. Spazierengehen ist in erster Linie ein Denksport – handelt es sich doch um die gedankliche Organisation von Zwecklosigkeit. Natürlich hat man ein Ziel – eine bestimmte Gegend ansehen, ein gutes Wetter oder eine momentan aufgehellte Stimmung ausnutzen. Aber das alles hat gleichsam zufällig zu erfolgen. Karten und Navi sind tabu, ebenso Wege, die querfeldein führen. Dagegen muß viel gerastet, geguckt und gebrotzeitet werden. Sobald es anstrengend wird, hat man verloren. Ganz allgemein ist man verpflichtet, sich so zu bewegen, als wäre man von einer fremden Macht auf einem neuen, viel angenehmeren Planeten ausgesetzt worden, den man in aller gebotenen Zurückhaltung erkundet. Ich möchte ein gutes Beispiel für eine klassische Spazier-Partie schildern. Vor einer Weile hörte ich von einem mir bis dato unbekanntem Frankfurter Park, dem Huthpark. Aus zweierlei Gründen war ich von diesem Ziel wie verzaubert. Erstens allein durch den Umstand, daß mir nach mittlerweile sieben Jahren Wohnhaft in Frankfurt die Existenz einer kompletten Parkanlage verborgen geblieben war. In meiner Phantasie gewann die Anlage den Reiz eines Bermuda-Dreiecks, eines versunkenen Aztekentempels. Das zweite war der Name: Der Volks­park auf dem Huth, wie er ursprünglich hieß, weckte wiederum gedankliche Bilder von betuchten Damen mit übergroßen Hüthen, die promenierten oder gar lustwandelten – aber auch ein Park, in dem man auf der Huth sein muß, vor Räubern, Gelichter oder streunenden Homosexuellen, wirkte sehr anziehend auf mich. Also fuhr ich los, nahm versehentlich den falschen Bus, landete in der Nähe des ebenfalls sehr reizvollen Campus Westend, schlenderte dort eine halbe Stunde herum, kaufte mir ein Schleckeis und ging hochzufrieden nach Hause. Massive Projektionsleistung bei minimalem körperlichen Einsatz – kein Wunder, daß mir dieser Spaziergang später den zweiten Preis bei den hessischen Regionalmeisterschaften einbrachte. Die Einsparung körperlicher Arbeit ist für das Spazieren so essentiell, daß ich es mit dem Joggen für unvereinbar erklären möchte – wobei ich zum Joggen allerdings eine besondere Beziehung unterhalte. Eine Zeitlang joggte ich tatsächlich, und wirklich gern, nämlich im Team mit einem Kumpel aus der Nachbarschaft. Jedenfalls war es dies, was wir seiner Frau erzählten. In Wirklichkeit war »Joggen« ein Codewort für »im Park einen Zwitschern gehen«. Unsere Selbstbeherrschung war wirklich erstaunlich. Zwei-, dreimal in der Woche gingen wir joggen, bei schönem Wetter sogar viermal. Oft kamen wir dabei bis an unsere Leistungsgrenzen, entsprechend zerschlagen fühlten wir uns am nächsten Tag. Wir joggten und joggten, bei Regen und bei Sonnenschein, es war schier nicht mehr auszuhalten. Schließlich merkten wir, dass wir uns überschätzt, uns zu hohe Ziele gesetzt, unsere Körper überfordert hatten. Auch der Umstand, dass wir statt rank und schön immer klopsiger wurden, machte uns zu schaffen. Schließlich ließen wir es mit dem Joggen bleiben und trafen uns künftig wieder ganz normal zum Biertrinken. Denn in Wirklichkeit ist Joggen ja eine ziemlich traurige Sache. In den allermeisten Fällen sind Jogger bloß verhinderte Spaziergänger – arme Seelen, die nicht zugeben können, dass sie nur die Schönheit der Welt und der Menschen genießen wollen, sondern in grenzenlosem, zähnefletschenden Nutzen- und Leistungsdenken den Aufenthalt im Freien zusammen mit ihrem verwelkten Leib rigoroser Disziplin unterwerfen. Und wenn es nur dabei bliebe, wenn sie ihr Körperregime nur auf den eigenen Leib beschränkten! In den schlimmeren Fällen diszipliniert der Jogger nämlich nicht nur sich selber, sondern alle um sich herum. Sein ganzer Habitus signalisiert: Hier geschieht etwas außerordentlich Wichtiges. Ich bin produktiv, ich liege der Gesellschaft nicht auf der Tasche, ich reduziere meine Pflegebedürftigkeit, meine Krankenkassenprämie. Macht Platz dem fleischgewordenen Bruttosozialprodukt! Schnaufend werden Spaziergänger aufgescheucht, keuchend Kinder auseinandergetrieben wie Taubenschwärme. Der interesselos Schlendernde wird dem Jogger zum lästigen Hindernis, missbraucht dieser doch die Stätten, die zur Stärkung der Volksgesundheit geschaffen wurden. Spaziergänger sind für ihn die Hartz-IV-Empfänger unter den Parkbesuchern: Er missgönnt ihnen schon ihre blanke Existenz, ihre Lust am Atmen und bloßen Dasein. Der Pilger ist der schlimmste von ihnen. Denn der Pilger ist ein religiöser Jogger. Der Jogger glaubt wenigstens noch, seinem Körper etwas Gutes zu tun, seine Kraft, seine Lebenserwartung, im weitesten Sinne also seine Genussfähigkeit zu steigern. Der Pilger hingegen ist entweder religiös verblendet, verausgabt sich also in sinnloser Erwartung jenseitigen Heils, oder er macht den Kerkeling, sieht die ganze Chose »spirituell« und erwartet Erleuchtung. Meist kommen die Leute aber nicht klüger oder stiller von ihren Pilgertrips, sondern erweisen sich als besonders renitente und schamlos schwatzsüchtige Touristen, die eben nicht mit ihren Urlaubsfotos, sondern auch mit ihrem inneren Erleben renommieren und einem Eindrücke aus ihren verrotteten Seelen­leben unter die Nase reiben, neben dem jedes Bild des Eiffelturms originell aussieht. Der Spaziergänger verweigert sich in hohen Graden der Erlebnis- und Informationsgesellschaft. Er strebt nicht an, ein Abenteuer zu erleben. Auf keinen Fall soll beim Spazieren etwas Berichtenswertes entstehen – wenigstens darf dies nicht die primäre Absicht sein. Wer mit dem Ziel in den Wald aufbricht, einen lange verschollenen Hinkelstein aufzuspüren, nur um seine Kollegen damit voll schwätzen zu können, ist vieles, aber sicher kein Spazierer. Tatsächlich spaziert man am besten, wenn man so wenig wie möglich weiß und dabei gleichzeitig überhaupt nichts Neues erfährt. Mit zwei Freunden brach ich einmal von der Roten Mühle in Bad Soden auf. Erst gingen wir Richtung Wald, dann fiel uns am Horizont eine Burgruine auf, die wir dann in einigen Stunden erklommen – um schließlich durch ein Fachwerkdörfchen den Weg zurück anzutreten. Tatsächlich waren wir wie durch Zufall einer beliebten und bestens dokumentierten Wanderstrecke gefolgt – da wir aber nichts davon wussten, erschien uns alles neu und charmant, da andererseits die Strecke der Welt bestens bekannt war, gab es auch keine großartigen Berichte zum Besten zu geben, hatte kein Kollege auf der Welt großspurige Erlebniserzählungen zu befürchten. Auch ein sportliches Interesse konnten wir erfolgreich ausschließen, da wir die verbrannten Kalorien im Gasthaus sofort durch diverse Biere ausglichen. In der Bilanz war dieser Spaziergang völlig sinn- und zwecklos – und damit perfektes Kunstwerk. Wie es immer weniger öffentliche Plätze gibt, also solche, die keinem besonderen Zweck unterworfen sind, wie etwa dem Konsum, dem Sport oder der privaten Nutzung, so wird es schwieriger, überhaupt spazieren zu gehen. Das Handicap steigt unaufhörlich. Sogar ein gewisser politischer Widerstandswille lässt sich dem Spazieren inzwischen unterschieben. Nicht umsonst melden Demonstranten jeder Couleur überall nur mehr »Spaziergänge« an – unter schwerster Polizeibewachung. Ich kann solche Bemühungen nur belächeln. Mehr als Politjogging ist das nämlich nicht.
Leo Fischer
Leo Fischer: »Ausprobiert«: Spazierengehen
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Sport
09.04.2015
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Familientreffen in Kiew
Die Teilnehmerliste liest sich wie das Who is Who der internationalen Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung: Von Greenpeace über die »Internationalen Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges« bis hin zum renommierten Nuclear Information and Ressource Service (NIRS) aus den USA werden in der kommenden Woche in Kiew alle anwesend sein, die sich einen Namen im Kampf gegen die Atomenergie gemacht haben. Über drei Tage erstreckt sich das Programm der Konferenz »Chornobyl+20«, außerdem ist eine Exkursion in die verbotene Zone rund um den stillgelegten Atommeiler in Tschernobyl geplant, so dass also auch für ein bisschen Abenteuer gesorgt ist. Auf der Tagung soll es aber nicht nur um die Folgen der Reaktorkatastrophe gehen, sondern auch um die gegenwärtigen Entwicklungen in der Atompolitik sowie um die Proliferation . Rund 1 000 Teilnehmer werden erwartet, unter ihnen zahlreiche Mitglieder von »Vorort-Initiativen«, die sich etwa gegen Atomtransporte nach Gorleben oder für eine bessere Versorgung der ukrainischen Strahlenopfer engagieren. Natürlich kommen auch jene, die die Anti-Atom-Bewegung in den achtziger Jahren in die Parlamente getragen hat. Grüne Parteien warten mit Prominenz auf, aus Deutschland hat sich unter anderem Renate Künast angekündigt, die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion. Ein Familientreffen, 20 Jahre nach dem großen Schock, dem die Anti-AKW-Bewegung ihren größten Zulauf verdankte. Doch 1986 ist lange her, und die Gegner der Atomkraft, die noch vor wenigen Jahren die Ausstiegsbeschlüsse in Deutschland und Belgien als Erfolge feiern konnten, müssen mit einer Wiederkehr der gefährlichen Technologie rechnen. »In Namen des Klimaschutzes kommt die Atomkraft auf breiter Front als vermeintlich saubere Option zurück«, beklagt Michael Mariotte, der Direktor des NIRS in Washington. Die Atomindustrie habe sich damit geschickt in die Offensive gebracht und habe mit dem Beginn des Baus eines neuen Reaktors in Finnland einen ersten konkreten Erfolg vorzuweisen. In den USA drängt die Atomwirtschaft auf den Bau von 13 neuen AKW. Im Land, in dem die Reaktorkatastrophe stattgefunden hat, in der Ukraine, gebe es Pläne für elf neue Reaktoren, berichtet Tetyana Murza von der ukrainischen Organisation Ecoclub. Tschernobyl, meinen die Organisatoren der Kiewer Anti-Atom-Konferenz, werde zu einem »tragischen Ausnahmefall« heruntergespielt, und verweisen auf den bizarren Streit zwischen Atom-Lobby und Kritikern, der sich an der Frage entzündete, wie vielen Menschen die Reaktorkatastrophe den Tod durch Krebs und andere Krankheiten noch bringen wird. So wenig die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) den Atomkraftgegnern die Deutungshoheit über die Zahlen überlassen will, so sehr ist sie auch bemüht, am symbolträchtigen Datum anwesend zu sein. Während der Konferenz der Anti-Atom-Initiativen lädt sie ebenfalls nach Kiew, um den Ausbau des weltweiten Nuklearparks zu propagieren. »Wir verstehen unsere Veranstaltung als klaren Kontrapunkt«, sagt Tetyana Murza. Dabei geht es den Atomkraftgegnern, die als Folge der Wiederkehr der Atomkraft einen neuen Zulauf verspüren, nicht nur um Tschernobyl und die Risiken der Atomkraft. »Es ist Augenwischerei zu glauben, dass die Atomkraft eine ernsthafte Antwort auf die Probleme des Klimawandels sein kann. In den nächsten 40 bis 50 Jahren müsste alle zwei Wochen ein neuer Reaktor ans Netz, um spürbare CO2-Reduktionen zu erreichen«, rechnet Michael Mariotte vor. Dies erfordere Investitionen in Billiardenhöhe, die niemand leisten könne und wolle. Strategien für den Ausbau erneuerbarer Energien werden daher am letzten Tag der Konferenz in Kiew eine zentrale Rolle spielen.
korbinian frenzel
korbinian frenzel:
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Thema
19.04.2006
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Der Groove vom Amselfeld
Wie sah die politische Situation in der Bundesrepublik Jugoslawien aus, als Slobodan Milosevic die Bühne betrat? Wofür stand er politisch? Noch sieben Jahre nach dem Tod von Tito, im Mai 1987, lebten wir unter dem Slogan "Nach Tito, Tito". Dieser Slogan bedeutete, daß Jugoslawien ein sozialistisches, kommunistisches Land bleibt und seine blockfreie Politik fortsetzt. Außerdem bedeutete "Nach Tito, Tito", daß auf ihn nicht mehr nur eine Person folgen wird. Sieben Jahre lang gab es ein Präsidium mit acht Repräsentanten der Teilrepubliken und Provinzen. Jedes Jahr war einer von ihnen Präsident, und ich erinnere mich, daß ich manchmal nicht wußte, wer gerade Präsident ist. Vor einigen Tagen haben Sie auf einer Veranstaltung in Berlin zum Thema "Jugoslawischer Krieg und Medien" gesagt, Milosevic habe schon in den achtziger Jahren begonnen, den kommunistischen Sprachgebrauch mit einer nationalen Rhetorik zu überlagern. Sehen wir uns das Jahr 1987 an, zwei Ereignisse haben es zu einem wichtigen Jahr für die kulturelle und politische Praxis in der SFR Jugoslawien werden lassen. Das eine war das Auftauchen Milosevics auf der politischen Bühne Serbiens. Das andere spielte sich anläßlich von Titos Geburstag ab: Seit dem Zweiten Weltkrieg war Titos Geburtstag am 25. Mai der "Tag der Jugend". Wir wissen geschichtlich, was so ein Jugendtag bedeutet: ein großes Stadium, Militärparade, Aufzug von Jugendlichen und Pionieren, Tänze. Jedes Jahr gab es hier einen Plakatwettbewerb, und 1987 gewann die Künstlergruppe "Novi Kolektivizem" die Ausschreibung. Noch im März entwickelte sich daraus ein Skandal. Jemand hatte herausgefunden, daß sie die Kopie eines Nazi-Plakats von Richard Klein eingereicht hatten. Nach ein paar Retuschen, Stern statt Hakenkreuz usw., hatten sie unten auf das Plakat "dan mladosti", "Tag der Jugend", geschrieben. Es war das erste Zeichen dafür, daß die politische Ikonographie zerstört wurde, die in Jugoslawien vom sozialistischen Realismus bestimmt war. Die Kunst war modernistisch, aber die politische Bildordnung sozialistisch-realistisch. Es ist selten, daß eine subversive künstlerische Aktivität so weit geht und so viel erreicht. Dieser heroische Mann, der auf dem Plakat für Titos Geburtstag eine Fahne trägt, ist eine Ikone des Dreißiger-Jahre-Deutschland - und sie wurde nach dem Austausch der Symbole einfach akzeptiert. 1987 wurden subkulturelle und oppositionelle Praktiken genauso sichtbar wie das stärkere Aufkommen einer nationalen und reaktionären Stimmung. Ja, und am selben "Tag der Jugend" 1987, Titos Geburtstag, organisierte die Slowenische Jugendorganisation das Schwulen-Festival "Magnus". Das waren die ersten kleinen Zeichen für größere Veränderungen. Und noch ein anderer Vorfall aus jenem Jahr, das mir im Rückblick entscheidend vorkommt: Die Belgrader Uni-Zeitung Student hatte zu Titos Geburtstag auf ihrem Titelbild ein junges grünes Blatt abgedruckt, das an einer Ecke ausgefressen war. Für dieses symbolische Detail wurde Student stark angegriffen. Derjenige, der damals am heftigsten gegen die Zeitung vorging, war Slobodan Milosevic. Ich glaube, das war das erste Mal, daß ich seinen Namen hörte. Er war irgendein Apparatschik aus dem städtischen Parteikomitee. Worauf konnte Milosevic zu Beginn seiner politischen Karriere bauen, welche Gruppierungen waren ihm nützlich, um seinen Aufstieg zu befördern? Bei der Wiedererfindung des serbischen Nationalismus spielten serbische Akademiker eine wichtige Rolle. 1987 veröffentlichte die "Serbische Akademie der Künste und Wissenschaften" einen berüchtigten Text unter dem Titel "Memorandum", den zwar fast niemand las, der aber voll mit nationaler Mythologie war und eine bestimmte Entwicklung andeutete. National orientierte Autoren hatten diesen Text über den Ursprung Serbiens, über die Bedeutung des Kosovo usw. verfaßt. Ähnliche nationale Bemühungen gab es in Slowenien. Im Rückblick erscheint mir 1987 als das Jahr, in dem das titoistische Jugoslawien und der titoistische Weg der politischen Repräsentation kollabierte. Nur der von Tito praktizierte Personenkult überdauerte. Ich erinnere mich, daß ein Satiriker aus Belgrad damals sagte: "Slobodan Milosevic ist der erste, der im sozialistischen Jugoslawien verstanden hat, daß Tito tot ist." Und das hieß auch, daß sich der Personenkult, der unter Tito entwickelt wurde, zu verschieben begann und allmählich von Milosevic übernommen wurde. Auf welche Schriften konnte Milosevics Politik sich sonst noch berufen? Es gab nicht nur das "Memorandum", sondern auch die Texte von Drobica Cosic, ein Schriftsteller, der als Dissident galt. Er durfte öffentlich nicht auftreten, war aber trotzdem Mitglied der "Serbischen Akademie der Wissenschaften" und schrieb eine Reihe von Romanen. Der erste, ein dreibändiges Ding, hieß "Wurzeln". Milosevic übernahm das sofort als eine Art Basis für ein politisches Programm Serbiens bzw. Groß-Serbiens. Es paßte ihm gut, daß diese Anregungen von einem Literaten kamen. Cosic war dann für längere Zeit Präsident des serbischen Parlaments. Welche Rolle hat Milosevic bei der Zuspitzung des Kosovo-Konflikts gespielt? Im März 1989 gab es große Demonstrationen im Kosovo. Und es gab auch einige Bestrebungen, Kosovo als unabhängige Republik zu etablieren. 1974 hatte eine Verfassungsänderung Serbien in drei Teile aufgeteilt, die Vojvodina im Norden und das Kosovo im Süden erhielten den Status autonomer Provinzen. 1989 wurde die Verfassung wieder geändert, und Milosevic entzog der Vojvodina und dem Kosovo den Autonomiestatus. Im März 1989 hielt er dann jene berühmt-berüchtigte Rede in Pristina zu den Serben, die sich irgendwie "unterdrückt fühlten": "Ich werde nicht zulassen, daß euch irgend jemand schlägt." Darüber gibt es eine interessante BBC-Produktion, "Bruderkrieg", in der deutlich wird, daß - nachdem er diesen Satz gesagt, diesen Ton angeschlagen hatte - der politische Kreis um Milosevic immer mehr davon überzeugt war, daß Milosevic aus der postkommunistischen Transformation erfolgreich hervorgehen werde. Welche politische Funktion hatte Milosevic zu dieser Zeit inne? 1989 war er Sekretär der Serbischen Kommunistischen Liga im Kommunistischen Jugoslawischen Bund. Jede Republik hatte einen anderen Sekretär. Zu dieser Zeit war Milosevic ständig im Fernsehen. Man muß sagen, daß - auch wenn mich das nicht berührte - Milosevic auf eine sehr direkte Art und Weise reden konnte. Tito war dagegen ein schlechter Redner, er las ab. Manchmal war er witzig in Interviews, aber ansonsten hielt er die schweren kommunistischen Ansprachen der alten Schule. Milosevic macht kurze Sätze, versucht sich in Leidenschaftlichkeit und wendet sich an die sogenannten kleinen Leute. Zur 600-Jahr-Feier der Schlacht in Kosovo, am 28. Juni 1989, war Milosevic erneut sehr präsent. Er landete mit dem Hubschrauber auf dem Amselfeld und sprach ausschließlich zur serbischen Bevölkerung. Mit keinem Wort wandte er sich an die hauptsächlich albanische Bevölkerung von Kosovo. Das war der Moment, an dem es begann, gefährlich zu werden. Im Moment wird in jeder westlichen Zeitung die Schlacht vom Amselfeld nacherzählt. Daneben wird meist ein Kitschbild von einem verwundeten Feldherrn mit Kosovo-Mädchen abgedruckt. Dieser Verweis soll die Bedeutung von Kosovo für die serbische Republik erhellen. Die Schlacht auf dem Amselfeld soll 1389 zwischen serbischem und türkischem Heer stattgefunden haben. Damals verursachte das Osmanische Reich den allmählichen Niedergang des Byzantinischen Reichs. Im 13.Jahrhundert war Serbien relativ stark gewesen. Der serbische König galt als Kaiser. In der nationalen Lyrik wurde er als Zar besungen. Die Schlacht wird sowohl als Kampf zwischen der christlich-orthodoxen und der islamischen Welt nacherzählt als auch als Ringen zwischen dem kleinen Königreich und dem großen Imperium. Wie ist das Phantasma der verlorenen Schlacht, das an eine heile Nation gemahnt, über die Jahrhunderte konstruiert und konserviert worden? Die serbischen Geschichtsschreiber streiten sich immer noch über die genauen Fakten, wer wann wo wie getötet wurde. Sicher ist, daß der serbische Zar Lazar und der osmanische Sultan Murat tot waren, und Serbien die Schlacht verloren hatte. Danach entstand der "Kosovo-Zyklus", volkstümliche serbische Lyrik, die im 17. Jahrhundert von zwei serbischen Literaturhistorikern gesammelt wurde, Dositej Obradovic und Vuk Karadzic. Die volkstümliche Lyrik war der kulturelle Weg, im Kosovo-Mythos einen Ort verlorener Identität zu bewahren. Während der 500 Jahre osmanischer Herrschaft bis zu den Balkan-Kriegen in diesem Jahrhundert wurden die Klöster im Kosovo zu einem kulturellen Aufbewahrungsort. Das sind national aufgeladene Orte, das klösterliche Zentrum des serbisch-orthodoxen Patriarchats in Decani, 10 Kilometer von Pec, die Kirche des serbischen Königs Milutin von Anfang des 14. Jahrhunderts und aus der gleichen Zeit das Kloster Gracanica auf dem Amselfeld. Es gibt nicht viele Bilder, die die Kosovo-Schlacht zeigen. Die meisten sind schlecht. Einige sind aus dem 17. Jahrhundert, Barock des nördlichen Serbiens, meist aus Kirchen. Ein paar stammen aus der Romantik, aus dem 19. Jahrhundert, als in Europa die Idee des Nationalstaats geboren und die nationalen Mythologien wiedererfunden wurden. Die Tragödie der verlorenen Schlacht ist ein grundlegendes Element in der Konstruktion nationaler Identität. In der Sozialistisch-Föderativen Republik Jugoslawien hat eine antifaschistische politische Mythologie eine große Rolle gespielt, Partisanenkult usw. Wie konnte diese Mythologie von nationalem und ethnischem Kitsch überlagert werden? "Brüderlichkeit und Einheit" war der Slogan des titoistischen Jugoslawiens. Hier und da gab es Anfang der Siebziger in Kroatien und schon Anfang der Sechziger in Serbien Versuche, über nationale Identität zu sprechen. Aber grundsätzlich war das konterrevolutionär. Offene Nationalisten verloren ihre Jobs. Ansonsten kam die gesellschaftliche Kritik von links, z.B. von der Gruppe "Praxis", einem Belgrader Intellektuellenkreis, der keinesfalls national war, sondern links von der Partei stand. Es waren ungefähr zehn ProfessorInnen von der Belgrader Uni, sechs verloren damals ihren Lehrstuhl. Es ist übrigens typisch für Milosevic, daß er diese Professoren Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger wiedereinstellte. Milosevic mag demokratische Gesten. Und Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, bevor sich der serbische Nationalismus als Faschismus etablierte - ja, ich glaube, daß es sich hier wirklich um Faschismus handelt -, war die politische Situation eher von einem Geben und Nehmen bestimmt. Das Ticket aber, das Slobodan Milosevic von Anfang an in der Hand hielt, war Nationalismus. Sein Trick ist, daß er die antifaschistische, die nationale und die postsozialistische Kultur geschickt miteinander kombiniert. Als er die Sozialistische Partei Serbiens gründete, kursierte sofort ein Witz in Belgrad: "Ein Mitglied der serbischen KP sagt zu einem anderen: Letzte Nacht ging ich als Kommunist zu Bett und wachte als Sozialist auf." Milosevic hatte die KP-Mitglieder aufgefordert, sich mit ihrer Unterschrift zum Übertritt in die Sozialistische Partei bereit zu erklären. Die Kommunistische Partei existiert aber weiter. Eine ihrer führenden Figuren ist Mirjana Markovic, Milosevics Frau. Es ist eine sehr obszöne Vorstellung, daß Antifaschismus in Serbien weiter gefeiert wird. Alle Festtage, die wir im Kommunismus hatten, feiert Milosevic weiter, plus ein paar neue. Neben Milosevics Sozialistischer Partei gibt es u.a. die JUL, Jugoslawiens Vereinigte Linke. Sie setzt sich aus alten kommunistischen Leuten, der Kommunistischen Partei und einigen ganz neuen Kräften wie Ljubisa Ristic zusammen. Ristic ist ein sehr bekannter 68er, Direktor eines Theaters, sehr pro-jugoslawisch augerichtet. Sein Wander-Theater umfaßte SchauspielerInnen aus allen Teilen Ex-Jugoslawiens. Es ist wie im Westen: Die 68er, die gegen das Regime opponiert haben, werden die größten Dogmatiker und Totalitaristen. Die JUL ist jedenfalls eine sehr wichtige patriotische Partei, die immer noch von Marx, Engels und den Menschenrechten als Rechten der Arbeiterklasse spricht. In der JUL, da sind die Generäle, die immer in der ersten Reihe sitzen, und bei ihren Aufzügen Partisanenlieder singen. Welche Interessen verband Milosevic mit der Gründung der Sozialistischen Partei? Die KP war Milosevic zu stark mit "Brüderlichkeit und Einheit", mit Tito und der Unterdrückung von Nationalismus verbunden. Die Parteiengründung ermöglichte ihm, postkommunistisch zwischen Kommunismus und Nationalismus hin- und herzuschalten. Viele kritische AutorInnen sagen, daß Milosevic kein serbischer Nationalist ist, sondern Nationalismus nur benutze, um an der Macht zu bleiben. Er brauche die Nationalen und rechts-radikalen Parteien, ihre primitive, vulgäre, aggressive Sprache. Milosevic brauche Leute wie Vojislav Seselj, diesen Idioten, und seine Serbische Radikale Partei, weil sie den militaristischsten Flügel repräsentierten und paramilitärische Gruppen hätten. Und gleichzeitig könne er sich im Vergleich mit ihnen als weniger national und gemäßigt ausgeben. Auf den großen Demonstrationen 1996/1997 wurde das Gebäude des staatlichen Fernsehens als Symbol der Macht attackiert. Welche Rolle spielt das TV in der "lumpenproletarischen Natiokratie", wie Sie Rest-Jugoslawien einmal bezeichnet haben? Das Fernsehen war und ist für Milosevic sehr wichtig. Es unterstützt seinen nationalen Kurs. Sechs Monate, bevor der Krieg mit Slowenien und dann mit Kroatien begann, wurden die ersten Schüsse im Fernsehen abgegeben. Es war so pro-serbisch und so ausschließend, daß man von einer medialen Produktion des Hasses sprechen kann. Es gibt zwar einige unabhängige Sender, aber nur die staatlichen Sender decken das ganze Sendegebiet ab. Letzten Sommer war ich in Belgrad und vor den Hauptnachrichten um halb acht lief jeden Tag ein Werbespot, mit einem sehr patriotischen Lied unterlegt. Es ist im MTV-Stil mit sehr sauberen, schnellen Schnitten gemacht. Man sieht Bilder der Heimat, Soldaten, marschierende junge Leute in Uniform, Berge, Marinesoldaten auf Schiffen. Montenegro hat einen sehr kurzen Küstenstreifen an der Adria. Wenn du den Clip siehst, denkst du, Serbien besitzt das ganze Mittelmeer. Das ist Patriotismus. Das bringt die Leute auf die Idee, sie müßten ihr Land verteidigen. Jetzt, während des Bombardements, ist dieser Spot wieder jeden Tag im Fernsehen. Ein Hauptkennzeichen von Nationalismus ist Populismus. Diesen Populismus liefert das Fernsehen und ist damit ein Werkzeug der politischen Parteien. Von den Parteien, die die großen Demos 1996/97 mitgetragen haben, tritt nur die Bürgerunion von Vesna Pesic offen gegen eine nationale und kriegerische Politik ein. Wenn es um aggressiven populären Nationalismus geht, sollten wir auch von Zjelko "Arkan" Raznatovics Partei der Serbischen Einheit sprechen. Sie arbeitet z.B. mit nationalen patriotischen Songs gegen die Nato. Sie verkauft den Mythos des Soldaten, der für das Land kämpft. Alles ist geprägt von Haß gegen jede Form des Anderen: Moslems, AlbanerInnen, Nato und eigentlich alles Westliche. Der anti-westliche Trend ist sehr deutlich. Dieser Populismus verletzt mich, auch als Intellektuelle. Eine Freundin von mir hat eine feministische Analyse über die "Turbo-Volkssängerinnen" im Fernsehen gemacht. Drehst du den Ton ab, schauen sie - jeder Anti-West-Haltung zum Trotz - wie MTV-Girls aus, schlanke Körper, Styling. Drehst du den Ton an, singen sie serbische nationale Lieder. Es gab auch einen Video-Spot von "Ceca", der Frau von "Arkan" Raznatovic. Sie ist Popsängerin. Die paramilitärischen Einheiten von Raznatovic heißen "Tiger". Und als "Ceca" einen neuen Song promotete, kam darin ein kleiner Tiger aus dem Belgrader Zoo vor. Mit solcher Vernetzung von nationaler Politik und Populärkultur beschäftigen sich die AnthropologInnen, deshalb erzähle ich an dieser Stelle einen anthropologischer Witz: "Es gab einen Stamm von Kannibalen, die beschlossen, mit dem Kannibalismus aufzuhören. Nur einer wollte nicht. Die anderen waren unschlüssig, was sie mit ihm machen sollten. Und dann entschieden sie, ihn aufzuessen." Es wäre fantastisch, wenn das in Serbien mit Milosevic auch passierte. Je eher, desto besser. Der Chefredakteur des oppositionellen Radiosenders B-92, Veran Matic, ist vor kurzem gegen eine regierungstreue Figur ausgetauscht worden. Wie geht es weiter mit B-92? Ein Freund, mit dem ich telefonierte, sagte mir, daß die insgesamt 45 MitarbeiterInnen von B-92 alle solidarisch mit dem entlassenen Chefredakteur sind. Seitdem Veran Matic ausgetauscht wurde, ist niemand zur Arbeit erschienen. Sie werden jetzt wahrscheinlich alle entlassen. B-92 ist deshalb so wichtig gewesen, weil es eine Stimme der Differenz war. Das heißt nicht, daß B-92 die Wahrheit verbreitete, sondern verschiedene Aspekte der Wahrheit gleichzeitig. Es war tatsächlich oppositionell und demokratisch strukturiert und verlieh anderen Leuten eine Stimme. B-92 begann als Radio. Dann bekamen sie dieses Kino "Rex" in der Belgrader Altstadt im jüdischen Viertel. Es war ein sehr schönes Kino, groß, in sozialistisch-realistischer Bauweise. Es war ein Ort für Diskussionen, Video-Screenings, Performances, Kunstausstellungen. Mit der Zeit begann B-92 dann mit der Produktion von Dokumentarfilmen und Features. Natürlich wurde B-92 auch vom serbischen Regime dazu benutzt, sich als demokratisch und liberal ausgeben zu können: Wir lassen alle sagen, was sie wollen. Aber nun, im neuen Krieg, ist auch das vorbei. Gibt es im Moment irgendwelche Aktionen gegen den Krieg, den Nationalismus? Was einige Leute aus dem Westen nicht verstehen, ist die tatsächliche Bedeutung der Rock-Konzerte. Sie bedeuten, daß die Leute einfach zusammen sind. Die Angriffe produzieren eine Solidarität, die vor einem Monat nicht existiert hat. Ok, das wird mißbraucht, natürlich. Das erste Rockkonzert war spontan organisiert. Seitdem organisiert die Stadt Belgrad die Konzerte. Kritische Leute, Intellektuelle, wie der "Belgrader Zirkel", der die Zeitung Republika herausgibt, sind durch die Nato-Angriffe zum Schweigen gebracht worden. Ich glaube, jede Kritik an Milosevic und dem serbischen Nationalismus ist im Moment verstummt. Leute, die Kontakte zum Westen haben, werden als Verräter verdächtigt. Und ich glaube auch, daß Leute, die Systemkritik leisten, im Moment wirklich Angst vor Konsequenzen haben müssen. Bojana Pejic ist Kunsthistorikerin und lebt in Berlin. Von 1971 bis 1991 war sie Kuratorin des Studentischen Kulturzentrums der Universität Belgrad, von 1984 zwischen 1991 Redakteurin der Zeitschrift Moment.
Katja Diefenbach
Katja Diefenbach:
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webredaktion
21.04.1999
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Out of Time
»Das Nichts nichtet. Unser Wohnen ist der Aufenthalt in einem Vorenthalt des Hohen«, sagt Fips Kirchweih, Doktorand der Philosophy Studies an der Universität Mainz. Sein Professor nickt zufrieden, korrigiert dann aber sanft: »Sehr schön auswendig gelernt, aber ein wenig zu seinsvergessen. Schreiben sie bis zur nächsten Sitzung den Satz ›Ich ende behende mein irdisches Leben‹ hundert Mal in ihr Poesiealbum.« Eine typische Szene im Hauptseminar »Zeit bei Heidegger«, wie sie so oder ähnlich dutzendfach an ­anderen Hochschulen vorkommen könnte. Eine Philosophie der Zeit, die wie die Heideggers zu Endlichkeit und Tod hingeneigt ist, scheint perfekt in die Zeit (haha!) zu passen – ebenso wie die völlig unkritische Beschäftigung mit dem glühenden Antisemiten und nationalsozialistischen Pumphosenspießer perfekt den Zustand der deutschen Universitätsphilosophie widerspiegelt. »Die Zeit – über kaum eine Naturkonstante hat Heidegger so viel nachgedacht wie über diese«, so Kirchweih nach dem Seminar. »Fast ohne nachzudenken, verbrauchen wir sie täglich. Sie umgibt uns, umschwirrt uns, ist regelmäßig Bestandteil von Alltagssituationen – und wird dabei doch von den wenigsten verstanden.« Sind die Zeitvorräte der Erde begrenzt? Lässt sich Zeit sparen, kann man sie akkumulieren, konzentrieren und dann mit einem gebündelten Tachyon-Impuls zurück ins Weltall jagen? Und wie kann man Zeit vergessen? Vor allem diese letzte Frage, insbesondere mit Blick auf die Nazizeit, hat Heidegger in seinen letzten Jahren sehr beschäftigt. Moderne Zeitforscher gehen weiter. Ist unsere Einteilung der Zeit in Minuten und Stunden völlig willkürlich? Könnten wir zum Beispiel die meiste Zeit nicht auch einfach in Jahrhunderten abhandeln? Ist Zeit gegendert, ist das heile Bild von »Vater Zeit« und »Mutter Natur«, wie es etwa die Schlümpfe zeigten, hoffnungslos patriarchalisch? Fragen, die nur dann als sinnlos erscheinen, wenn man sich noch nie mit Überstundenabrechnung beschäftigt hat. »Heidegger hätte auch viel über BWL zu sagen«, so Kirchweih. »Wir müssen nur lernen, ihm zuzuhören. Bedingungslos.«
Leo Fischer
Leo Fischer: Im Heideggerseminar
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dschungel
19.12.2019
https://jungle.world//artikel/2019/51/out-time
Pragmatischer Antiziganismus
Die Vorwürfe der Apartheid hält Bürgermeister Claudio Gambino für übertrieben. Mit seinem Vorschlag, eine eigene Buslinie für Roma in der kleinen norditalienischen Stadt Borgaro Torinese einzuführen, sorgte er für Aufsehen. Es geht um die Linie 69, die an einer Roma-Siedlung am Rande der Stadt vorbeifährt. Zu viele Diebstähle und Angriffe, insbesondere gegen Schülerinnen und Schüler, habe es in den vergangenen Jahren gegeben, sagte Gambino. Die Bürgerinnen und Bürger seien verunsichert und wütend, denn die Roma »haben uns seit mehr als 20 Jahren geplagt«. »Wir brauchen zwei Busse«, lautete sein Vorschlag, den er »Verdoppelung der Linie« nannte. Ein Bus, der für die Italiener, soll demnach am Roma-Camp vorbeifahren, ohne dort Halt zu machen; der andere, der für die Roma, soll hingegen nur von der Siedlung bis zur Endstation fahren. Segregation? Rassismus? Nein, eher Pragmatismus, so etwas wie ein Shuttle-Service für die Roma in die Stadt und zurück, rechtfertigte sich Gambino. »Als Bürgermeister muss ich dafür sorgen, dass die Stimmung nicht umkippt.« Das klingt fast so, als hätte er mehr Angst, dass aus den geplagten Bürgerinnen und Bürgern ein wütender Mob mit pogromartigen Absichten wird, als vor den Roma selbst. Eine vermutlich begründete Angst. Was sich wie die nicht besonders originelle Idee eines Rechtspopulisten der Lega Nord anhört, kommt von einem linken Bürgermeister der Demokratischen Partei (PD), dessen Verkehrsbeauftragter, Luigi Spinelli, sogar der links vom PD stehenden Partei Linke, Ökologie und Freiheit (SEL) angehört. Genauer gesagt: angehörte. Denn seine Unterstützung für den Vorschlag des Bürgermeisters kostete ihm die Parteimitgliedschaft, nachdem der Vorsitzende des SEL sich zum Vorfall geäußert hatte: »In unserer Partei gibt es keinen Platz für Ambivalenzen in Bezug auf dieses Thema. Wenn die Stadtverwaltung den Vorschlag nicht zurücknimmt, wird SEL ihr die Unterstützung entziehen.« Der Bürgermeister ruderte vor einigen Tagen zurück: Er habe nur eine Debatte über ein reales Problem anstoßen wollen. Aber ein Rassist sei er auf keinen Fall. Auf der Linie 69 werde es vorerst nur ständige Kontrolleure geben, die Menschen ohne Fahrkarte den Zutritt zum Bus verweigern.
Federica Matteoni
Federica Matteoni:
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Ausland
06.11.2014
https://jungle.world//artikel/2014/45/pragmatischer-antiziganismus?page=0%2C%2C0
Dubstep I
James Blake. Seit dem wahnsinnigen Hype um den 22jährigen Produzenten James Blake und dessen Debütalbum reden alle von Post-Dubstep. Zu diesem Genre nämlich zählt man James Blake. Bevor wir uns näher mit den einzelnen Genre-Begrifflichkeiten auseinandersetzen, sollte erst einmal geklärt werden, ob der Hype um James Blake gerechtfertigt ist: Eindeutig ja. Das Interessante an seinem Album ist ja gerade, dass sich gar nicht richtig sagen lässt, was hier musikalisch passiert. Diese Musik fühlt sich fürwahr neu an, und das gibt es in unserer Retrogesellschaft nicht mehr häufig. Blake singt mit seiner zerbrechlichen, verfremdeten Alienstimme. Er singt richtige Popsongs. Sein Gesang schwebt und verhallt des öfteren einfach im Nichts. Ganz viel wird hier mit Pausen gearbeitet, mit den Leerstellen zwischen den Tönen. Weich und zart klingt diese Musik und hat wirklich nur noch wenig mit den dunklen Klangkratern zu tun, die Dubstep einmal ausmachten.   AHA
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dschungel
03.03.2011
https://jungle.world//artikel/2011/09/dubstep-i?page=0%2C%2C3
Und Deutschland?
Eine Moskauer Stiftung für Versöhnung und Verständigung fordert von der deutschen Regierung einen finanziellen Ausgleich in Höhe von 3,3 Millarden Mark. Die vor über vier Jahren gegründete Stiftung vertritt etwa 360 000 Menschen, die während des Nationalsozialismus Zwangsarbeit leisten mußten, in Konzentrationslagern oder in Gefängnissen einsaßen. Die Bundesrepublik hatte 1994 zwar 400 Millionen Mark gezahlt, nach Ansicht der Stiftung ist das jedoch viel zu wenig. Unterdessen zahlte der Schweizer Spezialfonds "zugunsten bedürftiger Opfer von Holocaust/Shoah" am Dienstag vergangener Woche erstmals Geld aus. Umgerechnet knapp 700 Mark gingen an eine in Lettland wohnende jüdische Überlebende der Nazi-Herrschaft. Weitere Zahlungen sollen in Kürze folgen. Während der seit 1. März dieses Jahres bestehende Fonds sich aus Spenden der Schweizer Banken, Unternehmen und der Nationalbank des Landes speist, fragt die Neue Zürcher Zeitung in der vergangenen Woche: "Und Deutschland?" Das Auswärtige Amt in Bonn wies am Wochenende die Darstellung des Vorsitzenden des Jüdischen Weltkongresses, Kalman Sultanik, zurück, Deutschland werde sich an der Nazi-Gold-Konferenz am 2. Dezember in London nicht beteiligen. Selbstverständlich sei Deutschland dabei. Auf der Konferenz soll die Entschädigung der Nazi-Opfer und ihrer Angehörigen für den geraubten Besitz behandelt werden.
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Ausland
27.11.1997
https://jungle.world//artikel/1997/48/und-deutschland?page=0%2C%2C1
Das Kreischen der Rezeptoren
Was lesen Suchtkranke? Man weiß es nicht. Mit Literaturtipps sollte man sich also zurückhalten. Beim Schreiben sieht es anders aus. Zum Beispiel ist der Berliner Arzt Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel als Kolumnist tätig. Aber der ist doch nicht süchtig, sondern Suchttherapeut? Stimmt. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Salloch-Vogel, heute pensioniert, war viele Jahre lang Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitskranke am Jüdischen Krankenhaus Berlin. In dieser Zeit begann er unter dem Pseudonym »Rolf Zweifel« Texte in der Berliner Zeitschrift Trokkenpresse zu veröffentlichen. Im Umfeld dieser Zeitschrift wurde ein Verlag gegründet, der Salloch-Vogels Kolumnen nun als Buch publiziert. Tagsüber Suchtkranke therapieren, abends selber trinken – der Autor wusste, was er tat. Er habe gedacht, seine Sucht bemerke niemand, schreibt er. Aber dann: »Schwuppdiwupp war der Alkohol zur Stelle und damit erst mal Schluss mit Mutters Gerede und Gottes Gesetzen.« Das feuchte Thema kann zur trockenen Materie werden, das kann manchen anöden. So lehrt der Chefarzt, dass die Differenzierung in weiche und harte Drogen ein Märchen sei. Der Chefarzt schreibt nicht nur unter Pseudo­nym, sondern treibt die Distanzierung noch weiter und schreibt über sich in der dritten Person. Das liest sich dann so: »Rolf Zweifel hört im Radio, es gebe 2,5 Millionen Abhängige von Drogen in der Europäischen Union. Davon seien wiederum soundsoviel Prozent von weichen Drogen abhängig. ›Maria sei Dank, nur weiche Drogen!‹ denkt die Oma beim Bügeln.« Nein, das ist nicht Popdiskurs, das ist ein sehr unhippes Thema. Drogengebrauch wirft verrückte Stories ab, Abstinenz nur harte Worte: »Durch die chronische Drogeneinnahme bin ich unfrei. Meine Bedürfnisse, Aktivitäten, Beziehungen, mein ganzes Leben werden auf meine Sucht ausgerichtet. Die Egozentrik nimmt zu.« Eine harte Droge ist der Alkohol. Weich hingegen Cannabis. »Was macht einen Joint für die Benutzer eigentlich so interessant? Zweifel hat verstanden, dass es Jungen und Mädchen gibt, für die der erste Joint zunächst eine Art befreiende Medizin ist, weil sie solche Gewalterfahrungen hinter sich haben, dass einem beim Zuhören glatt übel wird.« Das dürfte ihm dann wohl öfters passiert sein. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der minderjährigen Patienten in der Psychiatrie um 800 Prozent gestiegen. Mögliche Ursache: »weiche« Drogen. Der Praktiker Salloch-Vogel hat sich darüber seine Gedanken gemacht. Was hätten die Betroffenen in der Birne, wenn sie keine Drogen konsumierten? Es würde wenig besser aussehen. Nur anders. »Das Gefährliche an jedem Irrtum ist das Körnchen Wahrheit, das in ihm steckt«, schreibt Salloch-Vogel. Welche Themen muss ein suchtkranker Suchttherapeut in seinem Buch behandeln? »Lebenslüge«, »Scheintiefsinn«, »Besoffene Vorbilder« heißen die Überschriften der knapp gehaltenen, an Aphorismen erinnernden Texte. »Der Mensch als Laborratte«, »Überleben«, »Alttestamentarische Gefühle« – die Titelgebung lässt die religiöse Dimension des Themas erahnen: Sucht, das kommt von Suchen. Suchen nach »Liebe«, der »Gruppe« und der »Aufgabe«. Aber welche Aufgabe sollte einer haben, wenn es ums reine Überleben geht? Salloch-Vogel antwortet mit einem Beispiel aus seiner Lebenspraxis. »Zweifel ist morgen in der 5. Klasse einer Grundschule eingeladen. Sein Enkel hat das Ganze angeleiert und der Lehrerin gesagt: ›Mein Opa ist Alkoholiker, und der erzählt bestimmt gerne was darüber.‹« In der Hoffnung, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge, hat der Autor den Enkel befragt, ob dem das denn nicht peinlich sei, wenn der Großvater vor der Klasse zu dem Thema spricht. Das Kind antwortet: »Weiß doch sowieso jeder, dass du Alkoholiker bist, habe ich doch schon jedem erzählt.« Auch die Lehrerin insistierte. Ob er denn bis 10.45 Uhr sprechen wolle oder nur bis 9.50 Uhr. »Und ihm kommt der Gedanke, dass er da vielleicht doch willkommen sei.« Und dass der Enkel froh ist, einen Großvater zu haben, der derzeit übers Saufen nur Auskunft gibt, während die halbe Klasse über Eltern verfügt, deren Besoffenheitsgrad sowohl um zehn vor zehn als auch um viertel vor elf eine runde Promilleangabe her­gibt. Zweifels Kolumnen spiegeln auch einen gewöhnlichen Alltagshorror, indem sie vom Horror­alltag berichten: »Am Ende seiner Trinkerzeit empfand er nur noch ein einziges Gefühl: Angst. Da konnte er auch nicht mehr unterscheiden, ob die Angst wegen der Trinkerei oder wegen der Abschiedsgefühle tobte.« Mit Abschied meint er den Abschied von sich selbst, die Möglichkeit, »sich völlig unbeobachtet abzufüllen«. An anderer Stelle nimmt er die Therapiepolitik als solche aufs Korn. In »Landjugend« beschreibt er, wie er nach Sotterhausen in Sachsen-Anhalt unterwegs ist. Dort liegt der »Therapiehof«, die »einzige Einrichtung für jugendliche Drogen­abhängige und junge Erwachsene im ganzen Bun­desland – mit 35 Plätzen«. 30 Prozent der Patienten sind unter 20 Jahre alt. Man erfährt, dass ein Mädchen mit sieben Jahren zu rauchen anfing, mit neun Jahren kiffte, mit elf Crystal Speed und mit 14 Heroin und Koks nahm. »Auf meinen Körper habe ich immer aufgepasst«, sagt die junge Dealerin. Wenige Tage später wird sie entlassen, allerdings könne man ja immer noch Feuerzeuggas und Eisspray einatmen oder Tee aus den Blüten des Trompetenbaumes kochen. In diesem Leben ist das Recht auf Rausch zur Pflicht zum Rausch geworden. »Zweifel ist platt und wird immer stiller. Nur 40 Prozent der Patienten stehen die ganze Therapiezeit durch – aber dann spricht man schon von einer guten Haltequote. Sechs von zehn ›Kindern‹ hauen also ab. Abitur hat eines von hundert.« Die Hälfte habe wiederum süchtige Eltern, einem 18jährigen seien 15 Kilogramm Cannabis und fünf Kilo Heroin oder Crack »über das Gehirn gegangen«. Bleibt die Frage nach der Verantwortung: Hat die überhaupt einer? Hat nicht jeder selbst für sich zu sorgen? Wenn in dieser Art Literatur, die einen extremen Bereich des Lebens beschreibt, ein Vorwurf mitschwingt, an wen richtet er sich: an Funktionsträger, Verantwortliche in der gesellschaftlichen Hierarchie oder gar gleich an die ganze »Gesellschaft« – wo doch der Autor selbst ein solcher »Entscheidungsträger« ist, der als Arzt an zentraler Stelle gesessen hat, nur um selbst drogenkrank zu werden? Anders gefragt: Kann man jemandem eine solche elementare Schwäche vorwerfen? Man möchte wissen, ob es überhaupt möglich ist, aus der Sucht Erkenntnis zu gewinnen, ob Krankheit Weisheit hervorruft. Einen freien Willen mag man dem Menschen jedenfalls nach der Lektüre nicht mehr so einfach attestieren. Statt dessen ist vom »Kreischen der Rezeptoren« die Rede: »Nichts am Menschen ist hierarchisch gegliedert, besonders seine Sucht nicht.« Salloch-Vogels Buch ist so gesetzt, dass sich Sinnsprüche und Zeichnungen auf der linken, die Kolumnentexte auf der rechten Seite befinden. »Jemand, der einen Süchtigen liebt, wird seelisch deckungsgleich krank«, schreibt der Autor. Jeder mag sich ausmalen, was das für die Selbstliebe bedeutet. Drogen bezeichnen nach Salloch-Vogel einen Mangel. In den Worten seines Alter Ego Rolf Zweifel: »Dann muss ich mich irgendwo abgeben, um überleben zu können.« Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: Im Zweifel ohne. Mit Illustrationen von Dagmar Heidt-Müller. Trokkenpresse-Verlag, Berlin 2008. 120 S., 6,20 Euro
Jürgen Kiontke
Jürgen Kiontke: Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: »Im Zweifel ohne«
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dschungel
12.03.2009
https://jungle.world//artikel/2009/11/das-kreischen-der-rezeptoren?page=0%2C%2C2
The Queen of Sprint
Stella Walsh Alieu Darbo. Zwischen 2012 und 2016 ging der Name des schwedischen Fußballers mit gambischen Eltern in Europas Fußballszene um wie das Gespenst aus dem Kommunistischen Manifest durch das Europa der Mitte des 19. Jahrhunderts. 2013 ergatterte das angebliche Supertalent einen Dreijahresvertrag bei Dinamo Zagreb. Leider war er »verletzt«, so dass er kein Probespiel absolvieren konnte. Aber seine Referenzen waren erstklassig, ausgestellt vom renommierten Talentscout Björn Andersson. Dumm nur: Das Empfehlungsschreiben war gefälscht und wenige Monate später setzte sich Darbo aus Zagreb ab, nur um beim damaligen süditalienischen Zweitligisten FC Crotone wieder aufzutauchen, wo man ihn mit Kusshand nahm, da er ja »bei Zagreb gespielt« habe. Auf seinem Bankkonto hatte er 40 000 Euro, die man ihm in Kroatien dafür bezahlt hatte, die peinliche Affäre nicht auffliegen zu lassen. Für den FC Crotone absolvierte Darbo exakt ein Spiel, bevor er sich wieder davonmachte. Der Betrüger als Globetrotter. Alieu Darbo bei der Vertragsunterzeichnung in Ägypten. Sein nächstes Ziel war das griechische Saloniki. Dort tauchte er mit ­einem gefälschten Empfehlungsschreiben des Managers von Borussia Dortmund, Michael Zorc, auf, in dem dieser darum bat, Darbo unter Vertrag zu nehmen und ein paar Jahre Spielerfahrung sammeln zu lassen, bevor er nach Dortmund wechseln sollte. Dafür, so der falsche Brief, sei man bereit, den Funktionären von PAOK Saloniki vier Millionen Euro als Aufwandsentschädigung zu zahlen. Nur Stunden, bevor der Betrug aufflog, hatte sich Darbo bereits wieder ins Ausland abgesetzt. Er zog den Trick in Norwegen, Malta, Ägypten und Algerien erneut ab. Jedes Mal tauchte er mit phantastischen Empfehlungsschreiben auf, lieferte eine unterirdische Leistung und verschwand spätestens nach wenigen Monaten wieder in der Versenkung. Erst 2017 endete diese Hochstaplerkarriere. Das Portal »Transfermarkt.de«, auf dem Darbo noch bis 2016 einen Marktwert von 50 000 Euro hatte, listet seinen Preis seither mit null Euro. Um welche Beträge Darbo die diversen Fußballclubs insgesamt geprellt hat, ist bis heute unklar, da bislang niemand, vermutlich aus Scham, Strafanzeige erstattet hat. Darbo freilich bestritt alle Vorwürfe.
Bernhard Torsch
Bernhard Torsch: Betrüger im Sport
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Sport
01.08.2019
https://jungle.world//artikel/2019/31/queen-sprint?page=0%2C%2C1
Zeugen der Anfrage
Helena Ranta war natürlich nicht geladen worden. Und auch auf die Kollegen der finnischen Pathologin, die Anfang letzten Jahres in der niederländischen Fachzeitschrift Forensic Science International einen Bericht über die Autopsie von 40 im Januar 1999 in der kosovo-albanischen Ortschaft Racak gefundenen Leichen veröffentlicht hatten, wartete man vergeblich. Daran, dass der französische Journalist Christoph Châtelot den Zeugenstand des Gerichtssaals in Den Haag betreten würde, war ohnehin nicht zu denken. Der Reporter befand sich am Tag des vermeintlichen Massakers von Racak in der kleinen Ortschaft und hatte danach als erster die Fragen gestellt, die im Prozess gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic in der vorigen Woche peinlich vermieden wurden. »Warum so wenig Patronen rund um die Leichen, so wenig Blut in jener Senke, wo doch angeblich 23 Menschen aus nächster Nähe mit mehreren Kopfschüssen getötet worden sein sollen?«, schrieb er damals in Le Monde. »Waren nicht vielleicht die Körper der in den Kämpfen mit der Polizei getöteten Albaner in dem Graben zusammengetragen worden, um ein Horroszenario zu schaffen, das mit Sicherheit einen entsetzlichen Effekt auf die öffentliche Meinung haben würde?« Tatsächlich wirkte das angebliche Massaker in Racak wie kein zweites Ereignis vor dem Nato-Bombardement. Der US-amerikanische Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker, konstatierte noch am Tag des Leichenfundes einen serbischen Massenmord. »Natürlich war die Episode in Racak entscheidend für die Bombardierungen«, erklärte er später. Und schon am 17. Januar 1999, am Tag nach Walkers Besuch in Racak, verkündete US-Präsident Bill Clinton: »Das Massaker ist eine klare Verletzung der Verpflichtungen, die serbische Stellen gegenüber der Nato eingegangen sind.« Zwei Monate nach dem Kriegsbeginn am 24. März schließlich befand der deutsche Außenminister Joseph Fischer in der Zeit: »Racak war für mich der Wendepunkt.« Wohl nicht zuletzt wegen seiner enormen propagandistischen Wirkung fand der bis heute ungeklärte Hergang der Ereignisse in dem kosovo-albanischen Dorf bereits im Mai 1999 Eingang in die Klage des Uno-Kriegsverbrechertribunals gegen Slobodan Milosevic - obwohl die Ermittler der Vereinten Nationen die Ortschaft bis dahin nie gesehen hatten. Erst nach dem Ende des Kosovo-Krieges im Juni 1999 erhielten sie Zugang zu der jugoslawischen Provinz. In der vergangenen Woche schließlich lud die Chefanklägerin Carla del Ponte hochrangige Zeugen der OSZE, Menschenrechtler und Augenzeugen der Auseinandersetzungen nach Den Haag, die den Tathergang rekonstruieren sollten. Doch die finnische Gerichtsmedizinerin Helena Ranta, die im Auftrag der EU-Kommission und der OSZE wenige Tage vor dem Beginn des Nato-Bombardements einen ersten Autopsiebericht vorgelegt hatte, der keine Hinweise auf ein Massaker an Zivilisten enthielt, fehlte ebenso wie die serbischen und weißrussischen Pathologen, die nach der Untersuchung der Leichen erhebliche Zweifel an der offiziellen Version geäußert hatten. Stattdessen pickte sich das Gericht kritischer Nachfragen unverdächtige Opfer des Geschehens heraus oder Mitglieder der OSZE-Beobachtermission, die keine Widersprüche zur Darstellung ihres Chefs William Walker anzumelden hatten. So beharrte der kanadische General Michel Maisonneuve darauf, dass es sich um ein Massaker serbischer Einheiten an kosovo-albanischen Zivilisten gehandelt habe, obwohl auch er nicht erklären konnte, weshalb die Angaben über die Zahl der in einer Senke am Ortsrand von Racak gefundenen Leichen bis heute zwischen 40 und 45 schwanken. Walker hatte bei seinem Eintreffen an der heute nach ihm benannten Fundstätte von 45 Exekutierten gesprochen, die OSZE-Mitarbeiter kamen jedoch auf 40 Leichen. Bereits die Anklageschrift bleibt in diesem Punkt äußerst vage. »Am oder um den 15. Januar 1999, in den frühen Morgenstunden, wurde das Dorf Racak (Gemeinde Stimlje/Shtime) von Sicherheitskräften der Bundesrepublik Jugoslawien und Serbiens überfallen«, heißt es da. »Dorfbewohner, die vor der serbischen Polizei zu fliehen versuchten, wurden überall im Dorf erschossen. Eine Gruppe von etwa 25 Männern versuchte, sich in einem Gebäude zu verstecken, wurde aber von der serbischen Polizei entdeckt. Sie wurden zusammengeschlagen und dann zu einem nahe gelegenen Hügel gebracht, wo sie von den Polizisten erschossen wurden. Insgesamt töteten die Sicherheitskräfte der Bundesrepublik Jugoslawien und Serbiens ungefähr 45 Kosovo-Albaner in und um Racak.« Doch nicht nur der Versuch der Anklage, die widersprüchlichen Zeugenaussagen und Untersuchungsberichte, die zum Fall Racak in den vergangenen drei Jahren zusammengekommen sind, in dem Völkermordprozess gegen Milosevic auszublenden, fiel unangenehm auf. Auf ausgewogenere Aussagen als die des kanadischen Generals Michel Maisonneuve oder seines britischen Kollegen Karol Drewienkiewicz, der ebenfalls an der Massaker-These festhielt, wartete man in der vorigen Woche vergeblich. Dabei hatte der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, Paddy Ashdown, noch im April in Den Haag die Kosovo-Befreiungsarmee UCK als »destabilisierenden Faktor« bezeichnet. Bei der Beantwortung der Frage aber, ob die Toten von Racak wehrlose tötet wurden, oder aber Kämpfer der UCK, die bei Feuergefechten starben, spielte das keine Rolle. Juristische Probleme könnte der Chefanklägerin del Ponte allerdings noch die Tatsache bereiten, dass die Indizien für die von ihr behauptete bis nach Belgrad reichende Befehlskette mehr als vage sind. So sollen dem britischen General Drewienkiewicz zufolge die Offiziere vor Ort ihre Anweisungen vom damaligen stellvertretenden Premierminister Serbiens, Nikola Sainovic, erhalten haben. Auch der in Serbien wegen geheimer Zusammenarbeit mit dem Tribunal vorübergehend festgenommene Ratomir Tanic, der von 1995 bis 1998 die Verhandlungen zwischen der Regierung in Belgrad und Vertretern der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) Ibrahim Rugovas leitete, behauptete das, jedoch ohne die entsprechende Beweise liefern zu können. Die Strategie der Anklage, nur jenen Zeugen zu glauben, die sie selbst bestellt hat, bereitete dem Vorsitzenden Richter Richard May jedenfalls einige Probleme. Immer wieder musste er Milosevic unterbrechen, der die Zeugen durch geschickte Nachfragen auf Widersprüche in ihren eigenen Aussagen hinwies. Bis May der Geduldsfaden riss: »Wir gestatten Ihnen, dieses Kreuzverhör fortzuführen, aber nur unter einer Bedingung: dass Sie kurze Fragen stellen.«
roman filipovic
roman filipovic: Der Fall Racak vor dem Kriegsverbrechertribunal
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Ausland
12.06.2002
https://jungle.world//artikel/2002/24/zeugen-der-anfrage?page=0%2C%2C1
Friede den Frauen
Ob die beiden derzeit in schwedischer Untersuchungshaft sitzenden Eishockeyprofis des EHC Eisbären Berlin tatsächlich eine junge Frau vergewaltigt haben, wird sich wohl frühestens in einigen Wochen herausstellen. Immerhin hat der Fall dazu geführt, dass man sich nun auch in Deutschland mit den Besonderheiten des schwedischen Strafrechts beschäftigt. Vor allem die Gesetzgebung zum Thema Vergewaltigung ist in weiten Teilen sehr fortschrittlich. Und sie hat Tradition. Vergewaltigung in der Ehe wurde in Schweden bereits im Jahr 1965 als Straftatbestand definiert. 1971 nahm dann eine staatliche Kommission für die Untersuchung von Sexualstraftaten ihre Arbeit auf. Sie sollte die veraltete Gesetzgebung zum Thema Sittlichkeit überprüfen. Schweden galt damals als liberaler Hort der freien Liebe. Die Kommission kam, passend zum damaligen Zeitgeist, zu dem Schluss, dass sich der Staat so wenig wie möglich in das Sexleben seiner Bürger einmischen dürfe. Dass dies auch für das Thema Vergewaltigung gelten sollte, empörte viele Frauen, denn es wurde in der Empfehlung vorgeschlagen, in »minder schweren Fällen« den Täter lediglich zu einer Geldstrafe zu verurteilen. 1977 wurde die hauptsächlich aus Männern bestehende Kommission nach zahlreichen Demonstrationen aufgelöst. Ein diesmal mehrheitlich mit Frauen besetztes Gremium nahm ein Jahr später die Arbeit auf. Seine Anregungen sollten später in ein Gesetz- und Maßnahmenpaket einfließen, das unter dem Namen »Friede den Frauen« am 1. September 1999 in Kraft trat. Es führte unter anderem zu einem erweiterten Schutz von Verbrechensopfern. Während der Vernehmungen durch die Polizei und auch beim späteren Prozess steht ihnen seither ein kostenloser Rechtbeistand zu, der vom Staat bezahlt wird. Weitere Neuerungen waren, dass Vergewaltigung grundsätzlich als schweres Verbrechen eingestuft wird und Genitalverstümmelung ausdrücklich verboten ist. Einer der wichtigsten Punkte war zudem die Einführung eines neuen Straftatbestandes, der »schwerer Frauenfriedensbruch« genannt wurde. Ehemänner und Lebensgefährten, die ihre Frauen regelmäßig misshandeln, können demnach einfacher zu Gefängnisstrafen verurteilt werden; zwischen sechs Monaten und sechs Jahren Knast sieht das Gesetz als Strafe vor. Zudem wurden mehr Beratungszentren für die Opfer häuslicher Gewalt geschaffen. Eine Gesetzesänderung sorgt jedoch bis heute für heftige Diskussionen: Der Kauf sexueller Dienstleistungen wurde unter Strafe gestellt. Erwischte Freier müssen seither mit empfindlichen Geldbußen oder einem Gefängnisaufenthalt von sechs Monaten Dauer rechnen. Prostituierte bleiben dagegen straffrei. Dies sei das Ende der Prostitution, jubelten die Befürworterinnen der neuen Vorschrift und hatten damit definitiv nicht Recht. Denn tatsächlich ist es wohl ziemlich schwierig, Beweise für einen Vorgang zu finden, für den es naturgemäß keine unabhängigen Zeugen gibt. So wurden zwar beispielsweise im Jahr 1999 insgesamt 59 Freier angezeigt, aber nur in drei Fällen kam es auch tatsächlich zu einer Verurteilung. Bis heute werden nur Männer erwischt, die sich ganz besonders trottelig anstellten, wie ein Polizeichef, der von Kollegen im eigenen Auto mit einer Hure ertappt wurde. Gleichzeitig stieg die Zahl der Vergewaltigungen in Schweden drastisch an – ob als Folge des Gesetzes, ist strittig. In diesem Sommer machten jedenfalls gleich mehrere brutale Fälle Schlagzeilen, und entsprechend empfindlich reagierte die Öffentlichkeit nun auf den Fall der Berliner Eishockeyprofis. Vergewaltigung wird nämlich nicht nur vom schwedischen Gesetzgeber definitiv als schweres Verbrechen betrachtet. elke wittich
Elke Wittich
Elke Wittich:
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Ausland
03.09.2003
https://jungle.world//artikel/2003/36/friede-den-frauen?page=0%2C%2C0
Unheiliger Hass im Reihenhaus
Black Metal befand sich schon immer in einem seltsamen Widerspruch: Niemand kann Leute ernst nehmen, die sich »Demonaz« nennen und Lieder mit Titeln wie »Grim and Frostbitten Kingdoms« schreiben. Die gesamte Inszenierung wird trotzdem bierernst betrieben – und von vielen auch ernst genommen. Das gilt insbesondere für die Anfänge des Genres in den Neunzigern, die immer noch von einer Aura der Gefahr umweht sind: abgebrannte Kirchen, zwei Morde und ein großer Flirt mit dem Neofaschismus. Von gemäßigten Black-Metal-Aficionados wird das politisch Ekelhafte immer gern als ästhetisches Konzept, als inhaltlich nicht ernstzunehmendes Accessoire abgetan. Dass nicht nur Kristian »Varg« Vikernes, der Mensch hinter der legendären Ein-Mann-Band Burzum sowie strammer Neonazi und verurteilter Mörder, den ganzen autochthon-misanthropischen Heidenkitsch durchaus ernst meint, wird gerne ignoriert. Politisch ist da nichts zu retten. Für ­einen guten Film hält die Szene allerdings ausreichend Material bereit. Das stumpfe, ungebrochene Zurschaustellen der Gewalt folgt einer filmischen Faszination für das oberflächlich Krasse, die »Lords of Chaos« auch sonst auszeichnet. Jonas Åkerlund, der selbst einmal Schlagzeuger der Band Bathory war (die in vielerlei Hinsicht musikalische Blaupausen für das geliefert hat, was später Black Metal wurde) und sonst vor allem Musikvideos dreht, hat sich nun mit »Lords of Chaos« in Form eines True-Crime-Thrillers an dem Stoff versucht. Åkerlund lässt die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte von Øystein »Euronymous« Aarseth (Rory Culkin) erzählen, dem Gitar­risten und Gründer der Band Mayhem, die aus dem Reihenhaus heraus den »True Norwegian Black Metal« erfindet. Euronymous will Großes erreichen, es fehlt ihm aber ein charismatischer Frontmann. Den findet er in dem depressiven Schweden Per Yngve »Dead« Ohlin (Jack Kilmer), der fortan den Gesang der Band übernimmt. Dead wird dafür bekannt, sich bei Liveshows die Arme zu zerschneiden und immer eine tote Krähe in einem Plastikbeutel dabei zu haben, damit er vor Auftritten den Geruch der Verwesung einatmen kann. Im April 1991 schneidet er sich erst mit einem Messer die Pulsadern auf und schießt sich anschließend mit einer Schrotflinte in den Kopf. Das Foto seines toten Körpers wird später als Cover eines Bootleg-Albums verwendet. Deads Suizid markiert einen Wendepunkt im Film. Danach geht es um Szenekonflikte, genauer den zwischen Euronymous und dem bereits genannten Varg Vikernes (Emory ­Cohen), der zu Beginn noch als verschüchterter Junge wegen eines Scorpions-Patches auf der Kutte grob abgewiesen wird. Er steigt aber schnell in der Gunst der Clique auf, nachdem er die Stabkirche Fantoft in Bergen angezündet hat. Danach konkurrieren Euronymous und Vikernes um den Rang des finstersten Mackers in Norwegen, bis der Konflikt eskaliert und Vikernes seinen ehemaligen Mitstreiter in dessen Wohnung mit einem Messer attackiert und ermordet. Regisseur Åkerlund hält während solcher Szenen gerne mit der Kamera drauf, im Bemühen um größtmögliche Drastik. Auch Deads Selbstmord wird detailliert gezeigt. Dieses stumpfe, ungebrochene Zurschaustellen der Gewalt folgt einer filmischen Faszination für das oberflächlich Krasse, die »Lords of Chaos« auch sonst auszeichnet: Andauernd wird irgendwo hingepisst, werden irgendwelche Passanten mit ebenso unheiligen wie unfreiwillig komischen Flüchen angebrüllt und Tierkadaver durch die Gegend geworfen. Dazwischen gibt es einige nicht minder peinliche Sexszenen, die überhaupt gar nichts über die Figuren erzählen, aber zu diesem Zeitpunkt ist ohnehin schon klar, dass »Lords of Chaos« ein Jungsfilm ist – und nicht mehr als das sein will. Denn für seine Figuren interessiert sich Åkerlund nicht. Sie sind einfach irgendwie da und haben ein Problem mit Norwegen und dem Zeitgeist. Norwegen und seine Gesellschaft sind in dem Film allerdings überhaupt nicht anwesend. Am Anfang wird in einer Montage kurz ein etwas biederes, christliches Heile-Welt-Land mit hoher Selbstmordrate vorgestellt. Mehr ist nicht drin. Einer Figur wie Dead hätte man sich mit filmischen Mitteln zumindest nähern können. In »Lords of Chaos« bleibt er eine Skurrilität, ein Objekt, das als Beweis für eine Behauptung herhalten muss. Man hätte sich den widersprüchlichen und wirren Ansichten der anderen Protagonisten annehmen und sich der Frage widmen können, warum ein Haufen junger Leute Anfang der Neunziger ausgerechnet gegen die Christianisierung Norwegens ins Feld ziehen wollten. Man hätte die Verbindung zwischen den aggressiven Männlichkeitsritualen und dem Mord an dem homosexuellen Magne Andreassen ziehen können. Der Film begnügt sich mit der Aussage des Mörders Bård »Faust« Eithun (Valter Skarsgård): Er habe einfach herausfinden wollen, wie es ist, einen Menschen zu töten. So blass die Figuren daherkommen, so naiv erscheint die gesamte Nach­erzählung in Hinblick auf die Politik der Szene. Eine Einstellung zeigt die Reichskriegsflaggen im Zimmer von Varg Vikernes. Dass nicht nur Vikernes ein Nazi ist, sondern auch die meisten Mitglieder der norwegischen Black-Metal-Szene sich früher oder später offen rassistisch geäußert haben, interessiert hier keinen. Es scheint fast ein filmisches Gesetz zu sein, dass jeder Regisseur, der sich mit Black Metal auseinandersetzen will, früher oder später seiner Faszination für die Inszenierung seiner Protagonisten verfällt. Vor Åkerlund erging es Aaron Aites und Audrey Ewell mit ihrer Dokumentation »Until the Light Takes Us« von 2008 ähnlich, in der sie Vikernes minutenlang über den dornigen Weg zur Wahrheit raunen ließen, während im Hintergrund seine arische Keyboard-Musik vor sich hin plätscherte. Ein Spielfilm muss kein politischer Kommentar darüber sein, dass Nazis schlecht sind, aber er sollte sich zumindest so ernsthaft für seinen Gegenstand interessieren, dass er seine ideologischen Auswüchse zur Kenntnis nimmt. Wirklich interessant ist der Film nur in den Momenten, in denen er seine Figuren in ihren Wohnungen zeigt. Hier findet tatsächlich so etwas wie ein Bruch statt, in dem die muffige Lebenswelt der Mittelschicht hervortritt, aus der der »schwarze Zirkel« kommt und mit der er eben nur scheinbar bricht. Alle Protagonisten leben in aufgeräumten Wohnungen in Reihenhäusern, in denen die satanistischen Devotionalien ordentlich an den Wänden hängen. Die schönste Szene des gesamten Films ist die, in der Vikernes Journalisten zu sich nach Hause einlädt, um in einem Interview mit den Kirchenbränden zu prahlen. Akribisch richtet er einen schwarzen Thron für sich her, auf dem er die Gäste empfängt. Die müssen aber an der Tür die Schuhe ausziehen und bekommen Tee serviert. Leider sind diese inszenierten Brüche aber selten, »Lords of Chaos« setzt ansonsten viel zu stark auf das Plakative. Das ist umso bedauerlicher, weil gerade in diesem Widerspruch etwas steckt, über das man einen guten Film hätte drehen können. Es geht um Leute, die Anfang der Neunziger, nach dem »Ende der Geschichte«, die elitäre Revolte ausriefen und in einer Musikform ihren Ausdruck fanden, die sich durch in die Endlosigkeit gestreckte, aggressive Monotonie auszeichnet. Denn im Unterschied zu anderen Spielarten des Metal hat Black Metal viel mehr Ähnlichkeiten mit gegenwärtigen Drone- und Dark-Ambient-Musikprojekten. Diese Musik ist in ihren extremen Formen – gerade bei einer Band wie Burzum – vollkommen ohne Rhythmus. Sie ließe sich auf die Formel »größtmögliche Aggression bei größtmög­lichem Stillstand« bringen. Vielleicht ist sie deshalb in Zeiten politischen Niedergangs so beliebt: Anfang der Neunziger – und heutzutage. Aber auch für die Musik interessiert sich »Lords of Chaos« so gut wie gar nicht. Konzerte im Film sind Shows – visuelle Erlebnisse, keine akustischen. Krass sind die Musiker, nicht das Hör­erlebnis. Genügsam wird so eine Legende fortgeschrieben, die wirklich niemand mehr braucht.   Lords of Chaos (USA/SWE 2019). Regie: ­Jonas Åkerlund. Darsteller: Rory Culkin, Emory Cohen, Jack Kilmer, Sky Ferreira
Philipp Böhm
Philipp Böhm: Filmkritik zu »Lords of Chaos«
[ "Black Metal", "Musik", "Film" ]
dschungel
21.02.2019
https://jungle.world//artikel/2019/08/unheiliger-hass-im-reihenhaus?page=0%2C%2C2
Schwule Rapper
Bass Sultan Hengzt. Die Anhängerschaft ist umso dämlicher, je einfacher die Provokation gelingt: Der Rapper Bass Sultan Hengzt veröffentlicht das Cover einer sogenannten Premium-Version seines kommenden Albums und die Fans kriegen eine Krise. Zwei Männer sind zu sehen, die kurz davor sind, sich zu küssen. Das allein hat ausgereicht, um einen massiven homophoben Shitstorm auszulösen. Der Rapper, dessen kommendes Album den jetzt schon sprichwörtlichen Titel »Musik wegen Weibaz« trägt, wollte mit dem Cover »gezielt Leute ärgern«, wie er Spiegel Online gesagt hat. Räumt Bass Sultan Hengzt nun tatsächlich auf und setzt ein deutliches Zeichen gegen Homophobie im HipHop? Oder kloppt er die schlichten Spielregeln der Szene durch seine kalkulierte Provokation letztlich nur noch fester? Dass er potentielle Käufer verloren hat, scheint ihn jedenfalls nicht zu stören. Und irgendwie mag er sie auch ein bisschen – das zumindest legt der für sich sprechende Titel seiner neuen Single nahe: »I love haters«.   oko Diskriminierende Vögel Vogelnamen. Der Kampf gegen die hässliche Fratze des Rassismus in der Sprache geht weiter. Zuerst wollten die Norweger nichts mehr mit »Kaffernseglern« zu tun haben, nun ziehen die Schweden nach. Die Schwedische Ornithologische Gesellschaft tauft Vogelarten um, deren Namen bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminieren. Der »Kaffernsegler« wird so zum Weißbeckensegler, der »Negerfink« zum Negrita und der »Zigeunervogel« wird künftig auf den Namen »Hocazi« hören, was Aztekisch für »lachender Falke« ist. In Dänemark wird schon an neuen Namen gearbeitet, auch in Deutschland wird diskutiert. Ommo Hüppop, Generalsekretär der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft, erklärte der Süddeutschen Zeitung, deutsche Vogelkundler tauschten sich derzeit über »die Frage nach möglicherweise rassistischen, sexistischen oder anderweitig negativ empfundenen Namen« aus. Das Problem sei selbstverständlich komplexer, als es zunächst aussehe. Ob der Kaffernsegler auch in Deutschland umgetauft wird, ist noch unklar.   oko Politische Künstler Banksy. »Das Bild ist stark beschädigt«, sagte eine Sprecherin der Hamburger Polizei. Was absurd ist, weil es sich um ein Graffito handelt. Allerdings um eines mit Marktwert, denn »Bomb Hugger«, das von Unbekannten besudelt wurde, stammt vom britischen Künstler Banksy, der weiterhin anonym bleibt. Und der kürzlich, acht Jahre nachdem er die Sperrmauer um Bethlehem mit seinem Projekt »Santa’s Ghetto« verzierte, erneut in die Region gereist ist. Mit seiner jüngsten Aktion will er auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung im Gaza-Streifen hinweisen. Ein kurzes Video zeigt sarkastisch kommentierte Zerstörungen sowie neue Arbeiten des Künstlers. Unter anderem das Bild einer Katze, die aussieht, als spiele sie mit Kriegsschutt. In seinem Blog schreibt er: »Ein Einheimischer hat gefragt, was das bedeuten soll, und ich habe ihm erklärt, dass ich mit Bildern auf meiner Website auf die Zerstörung in Gaza hinweisen möchte – aber im Internet achten die Menschen nur auf Bilder von Katzenbabys.«   oko Große Schauspieler Leonard Nimoy. »Faszinierend … « – dazu die hochgezogene Augenbraue. Mr. Spock fand grundsätzlich sehr vieles faszinierend. Dabei war er selbst das größte Faszinosum: Er ließ sich, seit »Star Trek« in den sechziger Jahren anlief, niemals aus der Ruhe bringen, betrachtete die Welt grundsätzlich analytisch und zog ausschließlich logische Schlüsse. Und er hatte diesen Gruß drauf: »Lebe lang und in Frieden!« Mr. Spock, der mit bürgerlichem Namen Leonard Nimoy hieß, ist nun im Alter von 83 Jahren in Los Angeles gestorben. Die Erde verliert einen großen Mensch-Vulkanier.   oko
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dschungel
05.03.2015
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Medien
Kirchenasyl vor Gericht. Die Äbtissin des Benediktinerklosters Maria Frieden in Kirchschletten Mechthild Thürmer ist wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt vor dem Amtsgericht Bamberg angeklagt, 28. Februar 2023
Die »Jungle World« ist eine überregionale linke Wochenzeitung aus Berlin. Am Kiosk, im Briefkasten oder online.
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Nazis, wohin man sieht
Die Metallplatte, die auf dem Gedenkstein angebracht ist, trägt die von den Gubener Stadtverordneten beschlossene Inschrift: »Farid Guendoul. 28 Jahre, verblutet am 13. Februar 1999. Mahnmal gegen Rassismus, gegen Gewalt, gegen Fremdenfeindlichkeit. Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Die Tafel soll an den Tod des algerischen Asylbewerbers in der brandenburgischen Kleinstadt erinnern. Farid Guendoul hatte damals gemeinsam mit seinen Freunden Kahled B. und Issaka K. eine Diskothek besucht. Auf dem Heimweg wurden die drei von einer Gruppe junger Männer angegriffen, rassistisch beschimpft und durch die Plattenbausiedlung Obersprucke gejagt. Die Täter, einige waren aus der Gubener rechtsextremen Szene bekannt, schlugen Kahled B. auf einem Parkplatz bewusstlos. Verfolgt von den elf Angreifern, versuchten Issaka K. und Farid Guendoul, in den verschlossenen Hauseingang der Hugo-Jentsch-Straße 14 zu flüchten. Beim Eintreten der Glastür zerschnitt die Scheibe Guendouls Knieschlagader. Er verblutete wenig später im Treppenhaus. Heute die kleine Gedenkstätte zu finden, bereitet einige Mühe. Auf der Rasenfläche an der Bundesstraße am Ortseingang von Guben ist sie fast unsichtbar. Ursprünglich versuchte eine Gubener Antifa-Gruppe, mit dem Stein in der Nähe des Hauseinganges zumindest einen räumlichen Bezug zum Ort der Tat herzustellen. Inzwischen aber ist dieser Ort verschwunden. Der Wohnblock in der Hugo-Jentsch-Straße wurden im vergangenen Jahr abgerissen. Seit 1990 hat die Abwanderung der Einwohner aus der fast deindustrialisierten Stadt zu einem enormen Wohnungsleerstand geführt. Nun werden in Obersprucke die Plattenbauten abgerissen und zurückgebaut. Die Hugo-Jentsch-Straße 14 wurde wegen ihrer städtebaulichen Lage von einem Abrissbagger abgetragen, nicht wegen der Ereignisse von 1999. Tatort verschwunden, Tat vergessen. Die wenigsten wollen sich an die Hetzjagd, den toten Algerier und die Gubener Neonazis erinnern. Marcel B., der in Guben zusammen mit Freunden das selbstverwaltete Jugendzentrum »Sanikasten« betreibt, berichtet davon, dass rechtsextreme Jugendliche weiterhin sehr präsent im öffentlichen Raum seien. Man kann sie in Guben immer noch leicht erkennen: an der Glatze, der Bomberjacke oder dem Pullover mit eindeutigem Aufdruck. Man trifft sie auf der Straße und erlebt, wie sie Migranten und alternative Jugendliche taxieren oder ihnen eine Beleidigung zurufen. Dass im Moment weniger Angriffe registriert werden, ist für Marcel B. kein Grund zur Entwarnung: »Im Winter ist einfach weniger los.« Er sagt, Szenekenner hätten beobachtet, dass an den Wochenenden vermehrt Rechte aus umliegenden Städten, unter anderem aus dem nahe gelegenen Cottbus, nach Guben kämen und versuchten, vor allem die Diskothek des Jugendklubs »Fabrik e.V.« zu dominieren. »Hier entsteht ein neues Problem. Und im Sommer sind die Nazis sowieso wieder überall.« Dann treffen sich die rechten Cliquen an der Aral- und der Shell-Tankstelle oder an einem der Badeseen in der nahen Umgebung. Vor allem dort kam es immer wieder zu Pöbeleien oder Angriffen. So wurden in den Abendstunden des 29. Mai 2003 am Deulowitzer See zwei linke Jugendliche von einer Gruppe Neonazis beleidigt, geschlagen und getreten. Einer der Jugendlichen wurde dabei so schwer verletzt, dass er sich für eine Woche in stationäre Behandlung begeben musste. Im August 2002 griff Alexander Bode, einer der Haupttäter bei der Hetzjagd auf Guendoul, einen 30jährigen Gubener an. Er setzte ihm eine Schreckschusspistole an den Kopf und drückte ab. Das Landgericht Cottbus hatte Bode als »entscheidende Figur« der Hetzjagd im November 2000 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Bis er Ende 2002 die Jugendstrafe antrat, festigte er seinen Ruf als brutaler Schläger. Zusammen mit anderen Neonazis schändete er auch den Gedenkstein für Guendoul. Zeitweise protegiert von dem rechtsextremen Funktionär Frank Schwerdt, hatte Bode sich zu einer wichtigen Person in der Gubener Neonazi-Szene entwickelt.Nach Angaben des Antifaschistischen Rechercheteams Ostsachsen war er Mitglied der »Schriftleitung« der Mitteldeutschen Jugendzeitung. An diesem Projekt brandenburgischer und ostsächsischer Kameradschaften arbeiteten unter anderem auch Gruppen aus Cottbus, Niesky und Weißwasser. Die Bedeutung der Zeitung mit einer Auflage von nur 500 Stück lag weniger in ihrem Verbreitungsgrad, als in der Möglichkeit einer regionalen Vernetzung der beteiligten Gruppen. In Guben baute Bode die Kameradschaft »Lausitzer Front« mit auf. Bei kaum einem Neonazi-Treffen in der Region fehlt ihr Transparent. Auch beim Rudolf-Hess-Gedenkmarsch in Wunsiedel im Jahr 2003 war sie anzutreffen. In Guben selbst tritt die Kameradschaft allerdings nicht unter ihrem Namen in Erscheinung. Dort sind ihre Mitglieder in erster Linie Teil einer rechten Straßenszene, die das Klima in der Stadt prägt. Wer kann, sucht dieser Szene aus dem Weg zu gehen. Nicht rechten Jugendlichen ist es fast unmöglich, spontan öffentliche Plätze oder Kneipen aufzusuchen. Eine Möglichkeit, sich dennoch zu treffen, ist für sie das Jugendzentrum »Sanikasten«. Allerdings könnte noch in diesem Sommer auch damit Schluss sein. Denn die Stadt plant, das Gebäude abzureißen. Der Internationale Jugendverein Guben/Gubin als Träger des Zentrums versucht in den derzeit laufenden Verhandlungen noch, neue Räume zu erhalten. Die Jugendlichen des »Sanikastens« wollen anlässlich des fünften Todestages mit einer Kundgebung unter dem Motto »Kein Vergeben, kein Vergessen« an Farid Guendoul erinnern. Demonstration am 14. Februar, um 15.30 Uhr, Hugo-Jentsch-Straße, Guben. Informationen unter 0173 - 982 90 82.
charlotte elliot
charlotte elliot:
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Antifa
11.02.2004
https://jungle.world//artikel/2004/07/nazis-wohin-man-sieht?page=0%2C%2C3
Trinkt aus Eimern!
Menschen, die auf Mallorca aus Eimern trinken, gelten gemeinhin als unzivilisiert. Dies ist aber zweifellos eine völlig verkürzte Darstellung, werden die Eimer doch in der Regel wiederverwendet. Die so genannten Zivilisierten, die ihr Wasser aus Plastikflaschen trinken, produzieren dagegen ungeheuerliche Mengen von Müll. Nach den Angaben des Inselrats sind es derzeit 650 000 Tonnen jährlich an Haushaltsmüll, die anfallen, und ein nicht unerheblicher Teil ist den Trinkgewohnheiten geschuldet. Noch vor gut zehn Jahren gammelte und schmurgelte der Müll auf Dutzenden von Müllkippen vor sich hin und erzeugte einen sehr unangenehmen Geruch, vorwiegend in der Nähe der Ballungs­räume, wo sich auch die Touristen tummeln. Erwiesenermaßen erstanden dabei Dioxin und viele andere fiese Gifte. In der Innen­stadt von Palma stank es besonders, weil dort ständig riesige Mengen von Unrat auf der Straße standen. Das Problem wurde äußerst elegant behoben. Es hat sich sozusagen in Luft aufgelöst. Und zwar so: Überall in der Stadt wurden kuriose Metallbehälter aufgestellt, in denen R2D2 seine Freunde erkennen würde, und die von den Touristen als Attraktion bestaunt werden. Während anderswo auf der Insel ein Mülltrennungssystem eingeführt wurde, welches die Einheimischen und sogar deutsche Urlauber mit Abitur gnadenlos überfordert, entsorgen die Bewohner Palmas ihren Abfall in den Metallcontainern, die nur zwei Kategorien kennen, organisch und nicht organisch. Weg ist er, der Müll. Er kommt auch zunächst gar nicht wieder zum Vorschein, da es sich um pneumatische Müllschlucker handelt, welche den Unrat in ein unterirdisches System einsaugen. Erst an einer Sammelstelle taucht er wieder auf und wird auf LKW verladen, die ihn zu einer zentralen Verbrennungsanlage in Son Reus, außerhalb der Stadt, bringen. Die Verbrennungsanlage trägt den bemerkenswert idyllischen Namen »Parque de Technologías Ambientales« (Umwelttechno­logiepark), weil dort auch ein bisschen Recycling betrieben wird. Doch der meiste Müll kommt in den Hochhofen, und seine Überreste werden in die Luft geblasen und gerecht über die Insel verteilt. Strom wird bei der Gelegenheit auch noch produziert. Alles super und gesund, sagt die Mülldezernentin der Insel. Sogar zu einer regelrechten Attraktion hat sich die Müllentsorgung gemausert. Die Schwebebahn mit Glasfenstern, in der man über das Gelände des Müllerlebnisparks fahren kann, ist ständig aus­gebucht. Nur die ewigen Nörgler von Umweltorganisationen wie Greenpeace und dem balearischen GOB behaupten, es gehe nach wie vor mit giftigen Dingen zu, die sich in Qualm und Restschlacke befänden. Die Kontrollen taugten nichts. Auch erziele die Betreiberfirma Tirme doppelten Gewinn, weil sie von den Gemeinden sowohl für den verbrannten Müll als auch für den Strom kassiere. Die Gemeinden leiten ihre Kosten an die Verbraucher weiter, wie das so üblich ist. In Kürze sollen die Gebühren erneut erhöht werden. Einig sind sich immerhin alle Beteiligten, dass die Kapazität des schönen Parks bei weitem nicht ausreicht. Deshalb wird weiter gestritten. Die einen wollen mehr Müll verbrennen und arbeiten bereits an der Erweiterung der Anlage. Müll vermeiden wollen die anderen. Da das ja nur vernünftig sein kann, liegt die schlichte Problemlösung nahe: Trinkt mehr aus Eimern!
Regina Stötzel
Regina Stötzel:
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Thema
16.10.2008
https://jungle.world//artikel/2008/42/trinkt-aus-eimern?page=0%2C%2C0
»Alle ein wenig heimatlos«
Das Duo Acchiappash­pirt beim Festival »Poesia Carnosa« in Rom, 28. Dezember 2016 Nach dem Sturz des Regimes 1990 setzte in Albanien eine Massen­emigration ein. Bis zum Jahr 2010 war Schätzungen zufolge beinahe die Hälfte der Bevölkerung Albaniens ausgewandert. Warum verließen Sie das Land? Wenn man ein paar Möglichkeiten im Leben haben wollte, kam man damals kaum umhin, das Land zu verlassen. Dabei hatte sich die Lage bis 2001, als ich Albanien verließ, bereits verbessert. Ich wuchs in Orizaj auf, einem kleinen Dorf in der Nähe von Berat. Bevor wir Ende der Neunziger ein paar Kühe, Hühner, Obstbäume und ein wenig Land bekamen, ging es meiner Familie schlechter. Während der Diktatur hatten wir nichts. Obwohl meine Eltern gute Arbeitsplätze hatten – mein Vater war Mathematiklehrer, meine Mutter leitende Tierärztin in einer Rinderzuchtkooperative –, war ihr Einkommen miserabel. Alles wurde überwacht, die Lebensmittel wurden rationiert. Ein Pfund Reis, Makkaroni, Salz, Zucker, Öl, damit sollte eine vierköpfige Familie im Monat auskommen. An die Warteschlangen kann ich mich noch gut erinnern. Welche Phase des Transformationsprozesses haben Sie als besonders unangenehm erlebt? Ich bin gezeichnet von diesen Jahren, habe drei Umbrüche erlebt, den Tod des Diktators Enver Hoxha 1985, das Ende des von Ramiz Alia geführten Staates 1990 und den Ausbruch des Bürgerkriegs 1997. Die Freude über den Wandel, über die Befreiung mag Anfang der neunziger Jahre groß gewesen sein. Aber viele Albaner haben mit dem Leben bezahlt. Das Land wurde seinem Schicksal überlassen, es herrschten Armut, allgemeine Orientierungslosigkeit und Chaos. Albanien stand in Flammen, in den Städten nichts als Staub, verlassene Straßen und Krater. Für meine Generation war wohl 1997 das härteste Jahr. Militärische Lager wurden geplündert, Verbrecher schlossen sich zu Banden zusammen und der Staat verlor die Kontrolle. Waffen waren allgegenwärtig, nicht nur in den Händen der Kriminellen. Zur Selbstverteidigung hatten sich viele eine Kalaschnikow besorgt oder eine Handgranate zu Hause rumliegen. Berat war einer der gefährlichsten Orte damals. »Mir kommt es so vor, als sei das Bedürfnis, mit Europa Schritt halten zu wollen, sehr stark. Man will zeigen, dass Tirana auch international von Bedeutung ist, dass dort ein großes Entwicklungspotential besteht. Etwas weiter im Süden oder Norden ist die Situation allerdings anders. Meinen Großvater interessieren die neuen Entwicklungen nicht. Er wird demnächst 100, hat immer noch seine Kuh, seinen Esel, etwas Land und lebt so wie eh und je.« Der albanische Schriftsteller Ismail Kadare sprach in diesem Zusammenhang von einer »Verwilderung der ganzen Gesellschaft«. Viele in meinem Umfeld haben geweint, als ich direkt nach der Schule ging. Ihnen wurde auf diese Weise das eigene Schicksal vor Augen geführt, nämlich an Albanien gekettet zu sein. Einige waren erst 15, als sie verheiratet wurden. Denen wurde klar, dass sie gezwungen waren, sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Waren es religiöse Gründe, die für diese Ehen ausschlaggebend waren, oder berief man sich auf familiäre Traditionen? Weder noch, zumindest in meinem Freundeskreis. Die Eltern waren ängstlich. Unter ihnen war die Ansicht verbreitet, eine Ehe würde Halt stiften, für ein wenig Sicherheit sorgen und dabei helfen, dass man diese Zeiten besser übersteht. Meine Eltern haben aber nie an diese Möglichkeit gedacht. Können Sie heutzutage unbeschwert nach Albanien reisen? Ich habe ein schwieriges Verhältnis zu Albanien. Manchmal fühle ich mich dort ganz wohl, dann wieder kommen all die negativen Erinnerungen hoch. Im Mai war ich zuletzt dort, dieses Mal allerdings aus beruflichen Gründen. Ich wurde von der »Mediterranea 18 Young Artists Biennale« eingeladen, die dieses Jahr in Tirana stattfand, und stand zwölf Tage im Austausch mit dem Kern der albanischen Kunstszene. Mir kommt es so vor, als sei das Bedürfnis, mit Europa Schritt zu halten, sehr stark. Man will zeigen, dass Tirana auch international von Bedeutung ist, dass dort ein großes Entwicklungspotential besteht. Etwas weiter im Süden oder Norden ist die Situation allerdings anders. Meinen Großvater interessieren die neuen Entwicklungen nicht. Er wird demnächst 100, hat immer noch seine Kuh, seinen Esel, etwas Land und lebt so wie eh und je. Letzteres entspricht in etwa der Vorstellung von Albanien im Ausland: karg, unberührt … Ja, und viele Europäer denken immer noch, Albanien läge auf einem anderen Kontinent. Ist das allgemeine Bild Albaniens im Ausland nicht immer noch sehr vage? Wenn von dem Land berichtet wird, dann über Verschmutzung, Kriminalität oder den schwierigen Umgang mit der Vergangenheit. Der Tourismus jedenfalls hat sich stark entwickelt. Die Hälfte der Touristen, die durch Albanien reisen, sind Deutsche. Tirana wird auch »das kleine Berlin« genannt. Dass Armut und Verschmutzung Probleme darstellen, lässt sich nicht leugnen. Trotzdem gibt es in Albanien Naturlandschaften, von denen man im restlichen Europa nur träumt. Wirtschaftlich geht es dem Land besser, was unter anderem mit der einstmaligen Massenemigration zusammenhängt. Viele Albaner kommen zurück, bringen Erfahrungen mit, sind Unternehmer und investieren Geld in neue Bereiche. Goodbye, Hoxha! Jonida Prifti mit Mikro, Manuskript und cooler Sonnenbrille. Dieser Trend dürfte sich verstärkt haben, seit die ökonomische Situation in Griechenland und Italien, zwei bei Albanern sehr beliebten Auswanderungszielen, angespannt ist. Lernen die jungen Leute in Albanien mit großer Begeisterung Fremdsprachen? Man will die verlorene Zeit wettmachen, dieses halbe Jahrhundert, in dem Albanien abgeschottet war. Ich würde behaupten, Albaner sind Fremdsprachen gegenüber sehr aufgeschlossen. Wer Albanisch kann, diese alte Sprache mit ihrem Alphabet aus 36 Buchstaben, lernt alles andere schnell. Ich hatte in der Schule Französisch. Dann habe ich einen viermonatigen Sprachkurs in Berat gemacht und mich auf den Weg nach Italien gemacht. Slang und Dialekte habe ich mir im alltäglichen Leben draufgeschafft und italienische Literatur an der Universität La Sapienza in Rom studiert, um alle Lücken möglichst schnell zu schließen. Wie hat sich die Abschottung des Landes auf die Musik ausgewirkt? Oberflächlich betrachtet scheint es neben der berühmten albanischen Volksmusik, die unter dem Schutz der Unesco steht, und der Beteiligung am »Eurovision Song Contest« seit 2004 nicht viel zu geben. Bis 1990 gab es in Albanien eigentlich nur zwei Genres: Easy Listening und folkloristische Musik. Die Texte wurden staatlich geprüft, am besten, man besang die wunderbaren Taten Enver Hoxhas und der Arbeiterpartei – eine andere Partei gab es ohnehin nicht – oder die Schönheit des Landes. Wer komplexere Gefühle als Heldenverehrung äußerte, machte sich verdächtig. Das konnte sehr schnell gehen, auch mein Vater entging nur knapp einer Verhaftung. Aber es gab auch Ausnahmen, man musste genauer hinhören. Im Song »Nuk e harroj« (Vergiss es nicht) von Irma und Eranda Libohova passierte etwas zwischen den Zeilen. Das Arrangement war relativ ausgefeilt, die Schwestern sangen unisono und bildeten eine Art psychedelischen Klangteppich. Erst mit dem Zusammenbruch der Diktatur wurde künstlerisch mehr möglich. In den neunziger Jahren wurde zunächst Tallava populär. Die albanische Variante von Turbo-Folk, der besonders in Südosteuropa beliebt ist. Ja. Man war bereits in den achtziger Jahren darauf aufmerksam geworden, als Tallava im Kosovo beliebt war. Die Befreiung vom Regime hatte auch zur Folge, dass Urheberrechtsfragen unklar oder wegen der allgemeinen Unsicherheit von geringem Interesse waren. Man konnte ziemlich frei mit Musik umgehen, alte Aufnahmen neu interpretieren, was auch geschah, mit klassischen Instrumenten genauso wie mit Synthesizern. Eine produktive Auseinandersetzung, die vielem Altem neues Leben einhauchte. »Bis 1990 gab es in Albanien eigentlich nur zwei Genres: Easy Listening und folkloristische Musik. Die Texte wurden staatlich geprüft, am besten, man besang die wunderbaren Taten Enver Hoxhas und der Arbeiterpartei oder die Schönheit des Landes.« Aber dann schwappte eine Welle italienischer Musik nach Albanien und jeder Zweite wollte so sein wie Eros Ramazzotti. Naja, Ende der Neunziger begann Radio Tirana, italienische Musik zu spielen. Wir hörten Pupo, Toto Cutugno und ja, auch Eros Ramazzotti. Tatsächlich wurde italienische Musik bewundert. Mehr aber nicht! Die Pet Shop Boys, um nur ein Beispiel zu nennen, hatten einen mindestens ebenso großen Einfluss auf die Popmusik Albaniens. Bis zur Jahrtausendwende etwa geschah viel im Metal- und Techno-Bereich, dann kam HipHop mit Acts wie 2die4 und Akrepi. Zurzeit wird House beziehungsweise Clubmusik gespielt, wie überall anders auch. Es gibt Experimentalmusiker wie Mardit Lleshi oder Rasim Seifollari (aka Rasimski), der auch als Techno-DJ und Produzent unterwegs ist, und den Tirana Ekspres, einen alternativen Art Space. Die meisten Musiker haben es jedoch nicht leicht, weil die vorhandenen Strukturen nicht besonders stabil sind und man sich um alles selbst kümmern muss. Sie haben sich der Musik über die Dichtung genähert. »Tola«, die jüngste Veröffentlichung Ihres Projekts Acchiappashpirt, ist vor allem ein lautpoetisches Werk. Acchiappashpirt habe ich 2008 mit Stefano Di Trapani gegründet, einem Musiker aus der Noise-Szene Roms. Anfangs waren wir fasziniert von vermeintlich übernatürlichen Sprachphänomenen. Von Xenoglossie, also der Fähigkeit, in einer Fremdsprache zu sprechen, ohne sie gelernt zu haben; und von Metaphonie, dem Phänomen, wenn ein Geist über elektronische Geräte wie Fernseher, Radios und ähnlichem mit einem spricht. Mittlerweile haben wir unsere Arbeitsweise angepasst. In Acchiappashpirt geht es auch darum, sich nicht von den Kommunikationsmitteln benutzen zu lassen, sondern den Spieß umzudrehen. Stefano kümmert sich um die Elektronik, ich übernehme den performativen Part der Stimme. Dabei soll der Eindruck entstehen, als würden elektronische und menschliche Sprache miteinander ringen. Mit »Tola« halten Sie Rückschau auf das Radio unter den Bedingungen der Diktatur. Radio Tirana, der einstige Staatssender Albaniens, war zugleich die Stimme der Partei und verbreitete seine Erfolgsmeldungen teilweise in 22 Sprachen. Welche Geschichte verbirgt sich hinter »Tola«? Eine Erinnerung hat mich lange beschäftigt: Als Kind habe ich mal versucht, Radio Tirana besser reinzubekommen. Dabei drehte ich den Regler zu weit und empfing plötzlich einen Sender, den ich nicht kannte und nicht verstand. Aber wie konnte das möglich sein? Ich war damals fünf Jahre alt und man hatte mir gesagt, dass es nichts anderes außer Albanien gebe. Das dachten wir wohl alle damals, unsere Eltern erzählten uns nichts anderes, damit wir nicht in Schwierigkeiten mit dem Regime gerieten. Dass es nun doch andere Sprachen und Länder geben sollte, löste bei mir einen Schock aus. Aber ich behielt das Geheimnis für mich. War es nicht verbreitet, nach ausländischen Sendern zu suchen? Das kann schon sein. Allerdings war man gut beraten, nicht aufzufallen. Der Nachbar konnte einen denunzieren, die Wände hatten Augen und Ohren. Ich erinnere mich, dass mein Vater zu Ostern rote Eier versteckte und mir sagte, die Schale solle ich nach dem Essen sehr tief vergraben. Nachdem Hoxha Religionen verboten hatte, war so etwas gefährlich. Die Frau auf dem Cover von »Tola« ist übrigens meine Mutter. Propaganda statt Pop: Enver Hoxha umarmt die Jugend des Landes Dem Hörer von »Tola« passiert etwas Ähnliches wie Ihnen damals: Man hört einer Stimme zu, deren Sprache man nicht versteht. Wollen Sie die Situation von damals nachempfinden? Der Inhalt ist weniger entscheidend für diesen Effekt als die Vortragsweise. Ja, es geht darum, sich von gängigen Mustern zu emanzipieren, sozusagen seine Fixpunkte aufzugeben und sich auf etwas anderes einzulassen. Eine konstante Inspirationsquelle für mich ist Patrizia Vicinelli. Sie war eine große Dichterin und Schauspielerin und schrieb unter anderem für Nanni Balestrinis Magazin Alfabeta. Über sie habe ich auch meine Masterarbeit geschrieben. Ihre Stimmexperimente haben meinen Ausdrucksschatz immens bereichert. Man könnte der Auffassung sein, »Tola« fehle etwas: die B-Seite. Warum ist sie leer? Auch Stefano erinnert sich an seine Kindheit, an die langen heißen Sonntagnachmittage im ländlichen Italien, als die Verwandten sich nach dem Essen für eine Weile zurückzogen. Stefano spielte dann mit der Stereoanlage und zeichnete Radiosendungen auf Kassette auf. Die B-Seite von »Tola« soll den Hörer einladen, die Aufnahmetaste zu drücken und selbst Teil des Tapes zu werden. Vielleicht kommentiert man seinen Alltag oder nimmt ein paar Geräusche auf – auf jeden Fall findet man so etwas über sich selbst heraus und kommt aus der passiven Hörerhaltung raus. Die B-Seite von »Tola« ist ein Platzhalter, der mit persönlicher Geschichte gefüllt werden kann. Das Radio hat seine Rolle als Leitmedium längst eingebüßt. Müssten Sie sich als Künstlerin nicht eher mit so etwas wie sozialen Medien beschäftigen? Es geht um eine historisch klar umrissene Zeit. Damals war das Radio von fundamentaler Bedeutung und konnte schon mal bewirken, dass der Horizont eines kleinen Mädchens sich mit einem Ruck weitete. Außerdem gibt es durchaus Parallelen. Wenn man auf sozialen Medien nicht aufpasst, wird man eingesogen, schwimmt auf einer Welle mit und wird womöglich beliefert mit Nachrichten, die einem passen. Das Radio wird von Individuen gemacht; was auf sozialen Medien geschieht, entscheidet die Masse. Für manchen wäre es an der Zeit, sozusagen am Knopf zu drehen und mal den Sender zu wechseln. All die Desinformation und die Aggressionen, die auf sozialen Medien stattfinden – haben Sie so etwas schon mal im Radio erlebt? Da spielen sicherlich noch andere Dinge eine Rolle … Ich möchte nur auch auf die Bedeutung gesprochener Sprache hinweisen. Die Konzentration auf das Sprechen und Hören ist ein Vorteil des Radios. Es ist kein Zufall, dass viele fortschrittliche Musiker mit den Mitteln des Radios arbeiten. Rinse FM ist nur ein Beispiel von vielen. Auch während der Biennale in Tirana habe ich mich mit dem Radio beschäftigt. In einer Performance skippten wir durch die albanische Radiolandschaft und erzeugten ein Abbild der Meinungsvielfalt, die dort herrscht. Gemeinsam mit Valentina Di Odoardo, Stefano Di Trapani und Nicola Rotiroti habe ich den Sender »Radio Anarti« – ein Anagramm von Tirana – ins Leben gerufen und mit einfachen Mitteln produziert. Mit Mobiltelefonen wurden Straßeninterviews geführt, die Sprachdateien via Messenger-App an mich verschickt und über das Internet verbreitet. Es ging darum, die Beziehung zwischen der Radiostation und der Stadt zu thematisieren. Welchen Sender hören Sie, wenn Sie in Albanien zu Besuch sind? Ich höre Top Albania Radio, was auch mit meiner Geschichte zusammenhängt. Man konnte damals schon am Nachmittag Jazz hören und es gab Sendungen, die das Publikum miteinbezogen. Ich habe mal an einem Schreibwettbewerb teilgenommen und den zweiten Platz gewonnen. Der Preis? Man durfte das Gedicht live vortragen und sich zwei Packungen albanischen Kaffee abholen. Was ich nicht tat, weil Krieg herrschte und es zu gefährlich war, durch das Land zu reisen. Sie sind umtriebig und organisieren unter anderem ein kleines Sound-Poetry-Festival in Rom. Arbeiten Sie häufig mit Künstlerinnen und Künstlern der albanischen Szene zusammen? In regem Kontakt stehe ich beispielsweise mit dem elektronischen Musiker Ilir Lluka, der 2016 den in Albanien renommierten Onufri-Preis gewonnen hat. Mit ihm habe ich »Res« produziert, ein Sound-Poetry-Album auf dem italienischen Label Ozky E-Sound, das wir 2014 im Rahmen unseres Festivals »Poesia Carnosa« aufgeführt haben. Dann wären da noch Musiker wie Julian Trushi und Bledar Boraki. In Tirana arbeiten viele immer noch sehr für sich. Auf der Biennale habe ich die bildenden Künstler Arba Bekteshi und Vangjush Vellahu kennengelernt, letzterer lebt in Berlin. Die Albanerinnen und Albaner sind wirklich über die ganze Welt verstreut. Die Malerin Anila Shapalaku lebt in Urbino. Haben Sie von der US-amerikanischen Popsängerin Bebe Rexha gehört? Tja, auch sie hat einen albanischen Hintergrund. Vielleicht sind wir alle ein wenig heimatlos.
Oliver Koch
Oliver Koch: Jonida Prifti, Übersetzerin und Lautpoetin, über ihr schwieriges Verhältnis zu Albanien und die Folgen der langen kulturellen Abschottung des Landes
[ "Albanien" ]
dschungel
14.09.2017
https://jungle.world//artikel/2017/37/alle-ein-wenig-heimatlos?page=0%2C%2C1
Stau auf hoher See
Bis jetzt erfüllt das Produktionsniveau unsere Hoffnungen und Erwartungen nicht«, sagte John Pachtner vom Unternehmerverband Pacific Maritime Association (PMA) und zeigte sich enttäuscht. Auch eine Woche nachdem der US-Präsident George W. Bush am 9. Oktober nach zehn Tagen Arbeitskampf die Öffnung von 29 Häfen an der Westküste gerichtlich erzwungen hatte, lag die Arbeitsleistung 20 Prozent unter dem normalen Niveau. Das sei eine Folge der angestauten Menge an Containern, sagt die International Longshore and Warehouse Union (Ilwu), die mit dem Arbeitskampf an den Docks gewerkschaftliche Mitspracherechte bei der künftigen Einführung moderner Technologien zu etablieren versucht, wegen der zahlreiche Jobs wegfallen könnten. Die PMA dagegen wittert eine inoffizielle Fortsetzung des Bummelstreiks der Beschäftigten, den sie mit einer Aussperrung beantwortet hatte. Bush hatte den Streik unter dem Hinweis auf den Taft-Hartley Act, der es dem Präsidenten erlaubt, bei »Gefahr für die nationale Wirtschaft oder Sicherheit« in Streiks einzugreifen, für ungesetzlich erklärt. An der Westküste werden zwei Drittel der US-Importe abgewickelt, der Arbeitskampf behinderte vor allem die Einfuhren aus Asien. Zeitweilig warteten 200 Schiffe allein aus Südkorea vor der Küste auf ihre Entladung, berichten asiatische Medien. Hyundai könne deswegen 1 100 Modelle nicht abliefern. Das japanische Elektronikunternehmen Matsushita Electric Industrial Co. habe 120 Schiffe auf hoher See, deren Fracht nicht gelöscht werden könne. Bananen aus Peru vergammelten an Bord der Frachter, und die großen US-Handelsketten fürchteten, dass große Mengen Spielzeug nicht rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft in den Läden sein werden. Asiatische Wirtschaftsexperten prophezeiten in Südkorea und Japan Produktionsstopps in fast allen Industriezweigen, auch bei den Autoherstellern, falls der Streik nicht innerhalb der nächsten zehn Tage beendet werde. Dann seien die Lager voll. In den USA führte der Ausstand zu chaotischen Zuständen in den Lagerhallen geführt. Dort stapeln sich zum Export bestimmte Güter, Fleisch, Obst und Weintrauben aus Kalifornien. Zwei Milliarden Dollar koste der Streik die US-Wirtschaft pro Tag. Steven Cohen, ein Professor für Regionale Planung an der Universität von Berkely, befürchtete in einem Interview in der Detroit News jedoch noch weiter reichende Auswirkungen. Die asiatischen Märkte und Währungen hätten nach zwei weiteren Streikwochen in eine »ausgewachsene Krise« stürzen können. »Es ist, als lege man einen Sumpf trocken. Plötzlich sieht man jede Menge ekelhafter Sachen.« Es war jedoch wohl weniger die Sorge um die Konjunktur in Asien, die Bush nun zum Handeln zwang. Im November stehen die Kongresswahlen bevor, eine schlechte Versorgung hätte sich da negativ auswirken können. Aber auch nach dem politisch umstrittenen Eingriff des US-Präsidenten auf der Grundlage des zuletzt im Jahr 1979 von Jimmy Carter erfolglos gegen streikende Bergarbeiter angewandten Taft-Hartley Act ist der Streik noch nicht wirklich beendet. 80 Tage nach der Öffnung der Häfen haben die Arbeiter das Recht, in einer geheimen Abstimmung über das letzte Angebot der Unternehmer zu entscheiden. Lehnen sie ab, darf der Arbeitskampf fortgesetzt werden. Der Taft-Hartley Act wurde 1947 zunächst gegen den heftigen Widerstand und später gegen das Veto des damaligen Präsidenten Harry S. Truman vom Kongress verabschiedet. Ein »Sklavenarbeitsgesetz« nannte Truman die Vorlage, die unter anderem den Gewerkschaftszwang aufhebt und den Unternehmern erlaubt, gegen Arbeitnehmervertreter vor Gericht zu klagen, wenn sie Tarifverträge brechen. Außerdem müssen Gewerkschaften ihre Finanzen offenbaren. Einer der beiden Initiatoren, nach denen das Gesetz benannt wurde, war der konservative Fred Allan Hartley jr. Er wurde als »Mr. Republican« bekannt, für ihn waren Gewerkschaften ein rotes Tuch. Ein Passus, in dem es den Spitzenfunktionären verboten war, sich in Wahlkämpfen zu engagieren, wurde 1950 vom Obersten Gericht ebenso gestrichen wie die Vorschrift, dass sie erklären mussten, nicht Mitglied einer kommunistischen Organisation zu sein. In ihrer Untersuchung aller seit 1947 mit dem Verweis auf den nationalen Notstand gesetzlich beendeten 32 Streiks kommen die Professoren Michael H. LeRoy und John H. Johnson IV zu einem klaren Schluss. Das Gesetz sei maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Gewerkschaften an Einfluss verloren hätten. Die öffentliche Unterstützung der Ausstände sank rapide, die Arbeitnehmervertretungen wurden als ökonomisch egoistische Akteure gesehen, die dem Land nur schaden wollten. Ähnlich wurde auch der jetzt beendete Ausstand in den Häfen beurteilt. Berichte, wonach einzelne Streikende bis 105 000 Euro im Jahr verdienten, führten schnell zu der Annahme, hier habe man es mit Leuten zu tun, die den Hals einfach nicht voll bekämen und denen die wirtschaftlichen Folgen ihrer Aktionen egal seien. Dass solche Gehälter die Ausnahme sind, konnten die Gewerkschaften nicht deutlich machen. LeRoy und Johnson IV weisen schließlich nach, dass die Globalisierung und der technologisch bedingte Verlust von Arbeitsplätzen die Macht der Gewerkschaften deutlich schwächen. Im Vergleich zu den siebziger Jahren sei die Zahl der Streiks zwischen 1990 und 1999 um 90 Prozent gesunken, »dabei hätten es, gemessen an der Arbeitslosenquote, weit mehr sein müssen, denn üblicherweise steigen in solchen Zeiten die Unterstützung für die Arbeiternehmervertretungen und der Streikwille«. Insgesamt gebe es nun keinen Grund mehr, den Taft-Hartley Act nicht umgehend abzuschaffen. Entscheidet sich eine Gewerkschaft für den Arbeitskampf, bedeutet der Taft-Hartley Act nur eine Verzögerung; 30 Prozent aller gerichtlich ausgesetzten Streiks wurden nach 80 Tagen wieder aufgenommen. Darauf verweisen derzeit auch die Hafenarbeiter, die Anfang Januar wieder streiken dürfen. Und Experten meinen, dass beide Seiten »den Ausstand ohne finanzielle Probleme mindestens fünf Monate lang« führen könnten.
Elke Wittich
Elke Wittich: Bush untersagt Streiks
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Ausland
23.10.2002
https://jungle.world//artikel/2002/43/stau-auf-hoher-see?page=0%2C%2C2
Der Titel, der Titel, der Preis, der Preis und der Absturz eines Adligen
Vieles hängt vom Titel ab. Kann bei Zeitungs­artikeln, Filmen, Büchern, Schallplatten Fertiggerichten das, was groß daraufsteht, spontan überzeugen, kommen sie in den Warenkorb. Werden gelesen, bezahlt, aufgetaut und wegkonsumiert. Mitunter sogar ohne Blick aufs Kleingedruckte. Das gilt erst recht für Titel, die es bis in den Personalausweis geschafft haben. Die sorgen für natürliche Autorität. Einen Grafen darf man nicht bestrafen. Selbst wenn dessen Vorfahren das Schloss, den Wald und die alten Weine versoffen haben, beim durchschnittlichen deutschen Untertan hat er erst einmal Kredit – an der Theke und bei der Polizeikontrolle sowieso. Doktoren genießen noch größere Hochachtung. Haben sie doch mühevollste Kleinarbeit geleistet. Bis in die Nachtstunden hinein. Sind Experten bei Themen, die außerhalb des Büros ihres wissenschaftlichen Betreuers vulgo Doktorvaters nahezu unbekannt sind. Und wer will sich auch ernsthaft damit befassen? Zum Beispiel mit Fragen über »Das Parteienrecht und die politischen Jugendorganisationen«? Nein, einen Bestseller hat Dr. Guido Westerwelle damit gewiß nicht geschrieben. Sein bis vor kurzem größter Konkurrent an Dr. Merkels Kabinettstisch dagegen konnte sogar die erste Auflage seines Montagemachwerks ver­ticken. Und das trotz des spröden Titels: »Verfassung und Verfassungsvertrag: Konstituti­onelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU«. Als ich promoviert habe, träumte ich von Stapelwarenstatus in Bahnhofsbuchhandlungen. Meine Beschäftigung mit Hugo Ball und der literarischen Bühne hatte Potential – finde ich. Trotzdem warte ich noch immer auf die Antworten einschlägiger Publikumsverlage. Dissertationen haben es nicht leicht auf dem Buchmarkt. Selbst das vielversprechend wirkende Werk »Der Hausfriedensbruch im Licht aktu­eller Probleme« von Dr. Edmund Stoiber ist längst vergriffen. Obzwar oftmals gleich als Paperback publiziert, haben diese Arbeiten ihren Preis. Wer 80 Euro oder mehr dafür berappt, will auch was geboten bekommen. Dr. a.D. zu Guttenberg versuchte es mit einer beeindruckenden Vielstimmigkeit. Sein Amtsnachfolger Dr. Thomas de Maizière wartet im Untertitel seiner Doktorarbeit mit einer »rechtlichen Würdigung eines verborgenen Vorgehens« auf. Sein Werk wird jetzt gewiss neue Leserinnen und Leser gewinnen. Und das nicht, weil es sich um die »Praxis der informellen Verfahren beim Bundeskartellamt« dreht. Hier interessiert allein der Titel vor dem Namen des Verfassers. Eine Promotion ist nicht nur für die Käufer teuer. Summa-cum-laude-Absolventen kriegen einen Druckkostenzuschuss. Alle anderen müssen Summen aufbringen, die dem Preis eines Kleinwagens nahekommen. Dafür wird man dann Milde im Straßenverkehr erwarten können. Ein mir bekannter Geschichtsprofessor durfte trotz Trunkenheit am Steuer nicht bloß seinen Titel, sondern auch den Führerschein behalten. Die kontrollierenden Beamten redeten einen Notfall herbei. »Fahren Sie mal, Herr Doktor, Ihr Patient wartet sicher schon!« Die Promotion von Saif al-Islam Al Gaddafi soll sogar 350 000 Euro gekostet haben – vor ihrer Drucklegung. Sie heißt: »The Role of Civil Society in the Democratisation of Global Governance Institutions«. Erstaunlich, dass ihm sein Vater Muammar nicht geholfen hat, einen spritzigeren Titel zu finden. Der nicht in allen Lebenslagen stilsichere Despot nannte eins seiner Bücher schlicht und ergreifend: »Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten«. Der Mann ist ja zwar vieles, etwa »Revolutionsführer«, »Oberst« und »König der Könige«. Promoviert aber ist er nicht.
dr. thilo bock
dr. thilo bock: Titel schaffen Autorität
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Thema
10.03.2011
https://jungle.world//artikel/2011/10/der-titel-der-titel-der-preis-der-preis-und-der-absturz-eines-adligen?page=0%2C%2C2
Sie nennen es Flower Power
Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden?« und »Wer hat den Mut, für euch sich zu schämen?« Die Fragen, die Freddy Quinn in seinem ultimativen Spießer-Song »Wir« stellt, sind immer rhetorisch, und die Antwort ist stets dieselbe: »Wir«. »Wir« gegen »ihr«, erstaunlicherweise war es bereits 1966 in Deutschland angesagt, dass abgehalfterte Schlagersänger nicht mehr nur ungestört eine heile Welt beschwören konnten, in der die Verbrechen der Nazi-Zeit keine Rolle mehr spielten, sondern dass sie Stellung bezogen gegen diejenigen, die einen beim seligen Ver­gessen stören wollten. Freddy Quinn zog im Namen der neuen bürger­lichen Deutschen und mit dem Wohlwollen vieler wieder in Würde und Amt stehender Altnazis erneut in den Krieg, dieses Mal gegen die langhaarigen Beatfans, die »Halbstarken«, die »Yeah-Yeah«-Hörer, die Rumlungerer, die ganz bestimmt so mancher wieder gerne ins Lager gesteckt hätte. Aus Freddy Quinn sprach ein Wirt­schafts­wundergeist, der es nicht fassen konn­te, dass es der deutschen Jugend plötzlich einfallen konnte, nicht mehr bloß mit Bürstenhaar­schnitt für den Neuaufbau der deutschen Na­tion stramm zu stehen. Dabei sollte das richtige Grauen für Freddy Quinn und seine Artgenossen ja erst noch kommen: der Minirock als Ma­ssenartikel, die Drogen, »Enteignet Springer«, überfüllte Adorno-Vorlesungen in der Uni, die Hippies, Ungekämmte und psychedelische Musik, damit ging es ja erst so richtig in den fol­genden Jahren auch in Deutschland los. Wie die deutsche Schlagerszene auf diese, sagen wir: 68er-Ära der Jahre 1967 bis 1971 reagierte, dem geht nun die hübsche Compilation »Hippies, Hasch und Flower Power – 68er-Pop aus Deutsch­land« nach. Obskuritäten ohne Ende sind hier versammelt, wahnwitzige Schmunzler voll musikalischen Grauens, die allesamt Aus­druck dafür sind, wie die bundesrepublikanische Schlagerbranche zwischen Naivität, Hilflosigkeit und Aggression auf die nun auch in Deutschland einfallende British invasion genauso reagierte wie auf die Flower-Power-Welle, die bald von San Francisco aus bis nach Delmen­horst und in die Oberpfalz schwappte. Allein schon diese Songtitel: »Gammelshake«, »Verlieb dich nie in ein Hippie Mädchen«, »Wir sind verlauste Affen«. Bei manchen dieser Titel hat man das Gefühl, dass die Stürmer-Rhetorik direkt ihren Weg in die Sprache deutscher Schlagerbarden der Sechziger gefunden hatte. Von den unterschiedlichsten Positionen aus wurden damals Antworten auf die jugendkulturelle Protestwelle gesucht, die sich stetig ausweitete und die man auch schon deswegen als Gefahr begriff, weil ihre Helden, wie etwa die Beat­les, dem deutschen Schlager zunehmend die vorderen Plätze in den Charts streitig machten. Manche versuchten sich mit milder Sozialpädagogik an einem Abwehrzauber, wie etwa Thomas Fritsch, der, obwohl er da selbst erst 23 Jahre alt war, gleichzeitig den Kritischen wie Verständnisvollen machte, der »Es ist gar nicht so leicht, erwachsen zu sein« säuselte, aber auch leicht verächtlich vom »Protest im warmen Nest« sang. Erstaunlich sind dann aber auch so manch ver­steckte subversive Momente, die in derartigen Schlagern zu finden sind. Der Protestsong­ge­dan­ke, der weltweite Erfolg von Folksängern wie Bob Dylan und Joan Baez, unterwanderte teilweise sogar diese heile Welt, die noch ein Thomas Fritsch erhalten wollte. Etwa bei Heidi Franke, die die subversive Taktik amerikanischer Studenten, die Polizisten Blumen in die Gewehr­läufe zu stecken versuchten, auf deutsche Verhältnisse übertrug und den hiesigen Beamten scheinbar naiv in »Die Blumen sind für Sie, Herr Polizist« ein eher scheinheiliges Geschenk anbot und in ihrem Schlager durchaus kritisch über den Freund und Helfer urteilte, der sich zum Erfüllungsgehilfen des Staates gegen die Protestler auf der Straße machen ließ. »Wer steht stramm vor Prominenten / wer spritzt Wasser auf Studenten / wer macht den heißen Sommer in Berlin? / ja, sicher kennst du ihn«, so etwas sang Heidi Franke 1968 in einem Schlager. Kreuz und quer geht es auf diesem Sampler, der als chronologisch sortiertes Zeitdokument bestens funktioniert und im Booklet wunderbar bebildert und betextet wurde. Ein strenger Protestsong von Franz Josef Degenhardt darf in so einer Sammlung natürlich genauso wenig fehlen wie ein Blick über die Mauer, um zu sehen, wie in der DDR mit dem Hippiehaschgamm­lertum im dekadenten Westen umgegangen wurde. Interessant ist da der »Viet­nam-Song« von Manfred Krug zusammen mit dem Klaus-Lenz-Sextett, in dem 1968 letztlich nichts anderes als von westdeutschen oder amerikanischen Studenten gefordert wurde, nämlich: Amis raus aus Vietnam. Doch eine echte Verbrüderung mit westlichen Widerständlern strebte Krug dann lieber doch nicht an, um gegen den Klassenfeind zu sein, brauchte es seiner Meinung nach schließlich keine langen Haare. »Eure Hippies werfen Blumen auf die Straßen, eure Bomber in Vietnam werfen Tod«, singt er. »Eure Hippies«, darin liegt eine Abgrenzung, die Gammler sollten mal schön ein Westphänomen bleiben. Außerdem wird sich über die eher machtlosen Blumenwerfer, die den Bombern in Vietnam dann doch nichts Entscheidendes entgegenzusetzen wissen, eher lustig gemacht. In der BRD schienen derweil, nach einer Phase der kritischen Auseinandersetzung mit der Hippiekultur, so legt der Sampler es nahe, Dieter Thomas Hecks Schützlinge mit teilweise schon delirierendem Willen zur Affirmation auf die neue bunte angloamerikanische »Peace and Love«-Bewegung reagiert zu haben. Auch bei den Schlagerfuzzis wich der adrette Heintje-Haarschnitt irgendwann den etwas verwegeneren Frisuren, und die ganz Mutigen ließen so­gar ihre Koteletten wuchern. Sie stürzten sich nun mitten rein in das aufregend Neue, sollte ja niemand behaupten, der Deutsche hätte Angst vor etwas Exotik. Pille, sexuelle Revolution und ein wenig Hippie-Esoterik machten bald auch vor den Barrikaden der so spießigen Schla­gerwelt nicht mehr halt. Gudrun »Su« Kramer sang »Hare Krishna«, sie sah dabei zwar trotz Angela-Davis-Frisur immer noch aus wie die Kinderpflegerin, die sie ja auch war, aber, hey, selbst der Groove stimmte plötzlich. Geradezu kirre wurde auch Wencke Myhre, die den neuesten Schrei, den Minirock, nicht bloß als »Flower-Power-Kleid« besang, son­dern, als hätte jetzt auch sie einen Trip zu viel geschmissen, sage und schreibe mit den Worten »Ding-Dong-Bama-Lama-Sing-Song-Teeny-Weeny-Flower-Power-Kleid«. Dass es in der DDR dagegen zu der Zeit mit den Drogen nicht so weit hergewesen sein kann, beweist die vergleichsweise nüchterne und sachgerechte Benen­nung desselben Kleidungsstücks als »Der Minirock« im gleichnamigen Schlager von Horst und Benno zusammen mit dem Orchester Klaus Lenz. Im Westen machte es beim Minirock Ding-Dong, im Osten wurde, so legen die Liner-Notes ganz schlicht nahe, der Minirock einfach nur deswegen begrüßt, weil man sich erhoffte, dank dieser Mode dem maroden System »jede Menge Textilstoff einsparen« zu können. Wie in den USA, wo 1969 die Charles-Manson-Morde die Hippie-Kultur in eine Katerstimmung versetzten, von der sie sich nicht mehr erholen sollte, bis zwei Jahre später auch noch Janis Joplin, Jim Morrison und Jimi Hendrix, die drei berühmten »J« der goldenen Ära, an ihrer eigenen Kotze verreckten oder nicht mehr aus der Badewanne rauskamen, war auch in Deutschland Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger der ganze Spuk schon wieder vorbei. Vivi Bach und Dietmar Schönherr erahnten 1971 in ihrer »Molotow-Cocktail-Party« bereits den deutschen Terror der RAF, der da stattdessen kommen sollte. Und Juliane Werding sang in »Am Tag, als Conny Kramer starb« darüber, dass Drogen wohl nicht bloß zu den bewusst­seinserweiternden Zuständen geführt hatten, die einem noch von Timothy Leary mit bunten Worten versprochen wurden, sondern auch zum Drogentod. Flower Power war vorüber, und in Deutschland begann, von der großen Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt, das goldene Zeitalter des Krautrock und damit erstmals einer eigenständigen deutschen Rockkultur. Bis man sich dann Ende der Siebziger in einer völlig anderen Jugendkultur, im Punk, doch noch einmal an die Warnung erinnerte, die schon der unglaublich furchtbare Bill Ramsey 1968 von sich gab: »Verlieb dich nie in ein Hippie-Mädchen.« »Hippies, Hasch und Flower Power – 68er-Pop aus Deutschland« (Bear Family)
Andreas Hartmann
Andreas Hartmann: Hippies und Schlagermusik in den sechziger Jahren
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dschungel
07.08.2008
https://jungle.world//artikel/2008/32/sie-nennen-es-flower-power?page=0%2C%2C2
Die Tsunami-Bombe
Immer wenn etwas besonders Großes, schwer Erklärbares passiert, melden sich umgehend Menschen mit besonders kleinem Geist, um uns die Sache zu erklären. Das Internet ermöglicht es jedem einzelnen Spinner, seine Ansichten einer wie auch immer zu bewertenden Öffentlichkeit zugänglich zu machen. »Gottes Strafe«, kläffen die einen dann, oder dass sich die Natur nun am Menschen räche. Es könnte aber auch Allah sein, der zornig das obszöne Strandleben an den Küsten des moslemischen Indonesien ahndete. Im Zweifelsfall steckt wie immer der Mossad dahinter. Und natürlich die USA. In den Internetforen wird jedenfalls heftig spekuliert. Die New York Times zitiert einen Blogger, der den Irak-Krieg verantwortlich macht. Schließlich hätten die Amerikaner »viele Millionen Tonnen Munition auf diesem armen Planeten« explodieren lassen. Ein außer Kontrolle geratener Atombombenversuch Indiens wird ebenfalls in Betracht gezogen. Aber auch von einer »Tsunami-Bombe« wird berichtet, die derzeit von Briten und Amerikanern entwickelt werde und die, unter Wasser gezündet, eine Flutwelle auslösen könne. Auch den Russen wird die Entwicklung einer solchen Waffe nachgesagt. Und immer, wenn es komplett irre wird, ist auch der Verschwörungstheoretiker vom Dienst am Start: Mathias Bröckers. Im Weblog seines Verlags Zweitausendeins berichtet er von einer doch wohl kaum zufälligen Begebenheit: Ende November seien 169 Wale und Delphine auf der Insel Tasmania südlich der australischen Küste gestrandet. Einen Monat später habe es dort in der Region ein erstes Seebeben gegeben, bevor dann zwei Tage später das für den Tsunami verantwortliche schwere Beben im indischen Ozean stattgefunden habe. Und auch nach diesem zweiten Beben seien wieder 20 Wale in Tasmania gestrandet. »Ich bin da überhaupt kein Fachmann, aber die Information scheint mir dennoch nicht uninteressant«, erklärt Bröckers seine bekannte journalistische Arbeitsweise. Ahnungslos wie er ist, streut er noch ein paar weitere Gerüchte dazu, um sein Süppchen anzurichten. Mit Schallwellen werde nach Öl- und Gasvorkommen unterhalb des Meeresbodens gesucht, und diese Schallwellen seien dafür verantwortlich, dass das »sehr sensible Sonarsystem« der Wale gestört werde. So weit, so gut, aber dann folgt wie aus dem Nichts die investigative, kritische Bröckersfrage: »Auch für ein Erdbeben?« Fragen wird ja wohl erlaubt sein. Nur die Frage »Cui bono?«, die Bröckers normalerweise zum Ausgangspunkt seiner Verschwörungstheorien macht, fehlt in diesem Zusammenhang. Dabei würde sie vielleicht helfen, die wirklichen Ursachen der Katastrophe aufzudecken. Was ist zum Beispiel mit den Hilfsorganisationen, denen die Flut zu einer Spendenflut verhalf, oder den deutschen Fernsehanstalten, die mit ihren Sondersendungen und Spendengalas ihr dünnes Programm füllten? Oder mit den Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die plötzlich betende Menschenscharen um sich versammeln? Wir wissen es nicht. Vermutlich hat Mathias Bröckers bei einem Tauchgang vor Phuket einfach einen enormen Furz gelassen und versucht nun krampfhaft, den Verdacht auf andere zu lenken. Wir sind da überhaupt keine Fachleute, aber vorstellen können wir uns das.
Ivo Bozic
Ivo Bozic:
[ "Verschwörungsmythen" ]
Lifestyle
12.01.2005
https://jungle.world//artikel/2005/02/die-tsunami-bombe?page=0%2C%2C3
Iron Ladies, Crying Men
Es ist nun gut 50 Jahre her, dass im Zuge der antikolonialen Emanzipationsbewegungen die ersten afrikanischen Filmemacher die Bühne des Weltkinos betraten. Doch bis heute kommt es nicht allzu häufig vor, dass für sie auf einem international bedeutenden Filmfestival der rote Teppich ausgerollt wird. Und auch in einer Stadt wie Berlin, die eigentlich für ihr umfangreiches Kinoprogramm bekannt ist, müssen afrikanische Filme in einer ganz normalen Kinowoche mit der Lupe gesucht werden. Um dieser mangelnden Präsenz des afrikanischen Filmschaffens in Berlin entgegenzutreten, fand Ende November im Filmkunsthaus Arsenal das Festival »Afrikamera 2010« statt. Gezeigt wurde eine kleine, aber feine Auswahl von aktuellen Filmen aus Äthiopien, Algerien, Liberia, dem Kongo, Madagaskar, dem Tschad und Südafrika. Auf dem Programm standen dabei nicht nur abendfüllende Spiel- und Dokumentarfilme, sondern auch Kurz- und Animationsfilme. Da in nur sehr wenigen afrikanischen Ländern (wie beispielsweise in Nigeria) eine eigene Filmindustrie und nur vereinzelt (wie etwa in Südafrika) eine staatliche Filmförderung existiert, sind afrikanische Filmemacher in erster Linie auf nicht-afrikanische, zumeist europäische Filmförderungsinstitutionen angewiesen. Somit stecken sie in einer moralischen Zwickmühle, da sie von den gleichen westlichen Regierungen und ihren Behörden abhängen, welche Afrika mithilfe von Krediten der Weltbank und des Währungsfonds in einem Zustand der strukturellen Abhängigkeit gefangen halten. Oder wie es der südafrikanische Regisseur Zola Maseko ausdrückt: »Für uns Filmemacher ist das etwa so, als würde ein misshandeltes Kind seine Eltern um Geld zum Besuch einer Konferenz über Kindesmisshandlung bitten.« Da die Auseinandersetzungen zwischen Afrika und dem Westen auch im Film sehr kompliziert sind und es jede Menge fehlgeleitete Hoffnungen, Erwartungen und Projektionen gibt, kann es unter Umständen so weit kommen, dass sich ein afrikanischer Filmemacher von potentiellen Geldgebern sagen lassen muss, dass seine Filme »nicht afrikanisch genug« seien. Doch gerade weil die Bilder von Afrika, welche wir tagtäglich vorgesetzt bekommen, zuweilen sehr wenig mit der Realität in den einzelnen Ländern zu tun haben, sind hier die Beiträge der afrikanischen Filmemacher so wichtig. Sie setzen dem ethnographischen Blick des Westens ein von Empathie geleitetes Beobachten und Zuhören entgegen, das die Wahrnehmung von komplexen politischen Realitäten ermöglicht. So zeigt der algerische Regisseur Malek Bensmaïl in seinem poetischen Dokumentarfilm »La Chine est encore loin« (»China is Still Far Away«, Algerien/Frankreich 2008) das alltägliche Leben im Dorf Ghassira, das als Wiege des algerischen Unabhängigkeitskampfes gilt. Dabei geht es ihm jedoch nicht um die vermeintliche Rekonstruktion von Erinnerungen an vergangene politische Kämpfe. Er verlegt sein genaues Zuhören und Hinsehen in die Gegenwart, in welcher jede noch so kleine Bemerkung und jede noch so kleine Geste etwas Relevantes erzählt. Dabei schafft er einen kinematographischen Raum, in dem die Menschen im Kino nicht zu Voyeuren werden, sondern sich mit den Protagonisten und deren ganz realen Problemen und Hoffnungen verbunden fühlen. Auch Mahamet Saleh-Haroun zeigt mit seinem Film »Un Homme Qui Crie« (»A Screaming Man«, Tschad/Frankreich/Belgien 2010), wie sich die komplexen und vielschichtigen Probleme in einem Land wie dem Tschad, das durch jahrelange gewalttätige Auseinandersetzungen und ökonomische Unsicherheit gekennzeichnet ist, auf das Leben seiner Bewohner auswirken. Wie bereits in seinem Film »Darrat« begreift Saleh-Haroun die politische Krise des Tschad als ein Problem von Männlichkeit. Der Film kann als Anklage eines Männlichkeitsbilds verstanden werden, das in der Grausamkeit des Krieges seine idealtypische Erfüllung sieht. Erst durch die Aufgabe eines Bildes von Männlichkeit, wie dies am Ende des Films »Un Homme Qui Crie« symbolisch vorgeführt wird, kann es eine lebenswerte Zukunft geben. Auch im Dokumentarfilm »Iron Ladies of ­Liberia« (Daniel Junge, Siatta Scott-Johnson, Liberia/USA 2008) ist die Kritik an einer bestimmten Form von Männlichkeit deutlich zu vernehmen, obwohl das Politische in diesem Film auf einer ganz anderen Ebene verhandelt wird. Dieser Film begleitet die erste frei gewählte Staatschefin Afrikas, Ellen Johnson Sirleaf, während ihrer ersten Monate als Präsidentin Liberias. Die Präsidentin wird dabei als eine Frau porträtiert, die zusammen mit ihren politischen Weggefährtinnen alles besser machen will als ihre männlichen Vorgänger. Der Film hat dabei nicht den Anspruch, objektiv über die Politik von Johnson Sirleaf zu berichten, es ist auch kein Informationsfilm zur Lage prekärer Staaten oder darüber, wie deren Probleme bestmöglich gelöst werden könnten. Die Präsidentin Liberias fungiert mehr als ein Beispiel für so viele aus der gegenwärtigen Generation afrikanischer Politiker, die ihre Gesellschaften nach Jahrzehnten gewaltsamer Auseinandersetzungen wieder zu einem lebenswerten Stück Erde machen wollen. »Iron Ladies of Liberia« ist insofern ein Lehrfilm für all diejenigen, welche immer noch glauben, die Probleme eines Staats wie Liberia seien vor allem durch die Etablierung von »guter Regierungsführung« und ein weiteres Öffnen der Märkte zu lösen. Dabei könnte der Film zu der Einsicht verhelfen, dass Afrikaner keine Bevormundung durch vermeintliche Regierungsberater oder internationale Hilfsorganisationen brauchen, sondern zuallererst einmal die Möglichkeit, ihre Geschicke selbst in die Hände nehmen zu können. Dass wir von einem solchen Zustand leider noch sehr weit entfernt sind, zeigt sich nicht zuletzt an der Finanzierungssituation für afrikanische Filme, was auch auf einer Diskussion angesprochen wurde, die unter dem Motto »Afrikanisches Kino – Motor für Entwicklung und Plattform für freie Meinungsäußerung« am zweiten Festivaltag stattfand. Da Afrika aus europäischer Sicht wohl noch immer durch das Raster des Problemfalls wahrgenommen wird, verwundert es kaum, dass diese Diskussion unter anderem von der GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit) organisiert wurde. Es scheint so, als sei aus europäischer Sicht alles, was mit Afrika zu tun hat, eine Angelegenheit der Entwicklungshilfe. In seiner Begrüßungsnote an das Berliner Publikum hatte der Regisseur des Eröffnungsfilms des Festivals, Mahamat Saleh-Haroun aus dem Tschad, geschrieben, dass es eine außerordentlich wichtige politische Initiative sei, in einer Stadt wie Berlin aktuelle Filme aus Afrika zu zeigen. Dem ist vor allem deshalb zuzustimmen, weil viele Filme des Festivals noch einmal sehr deutlich gemacht haben, dass sie als Filme ernst genommen werden sollten und nicht als Beitrag zu einer vermeintlichen Entwicklungshilfe. Denn erst wenn diese Logik durchbrochen wird, kann es zu einer wirklichen Unabhängigkeit Afrikas kommen.
Benjamin Cölle
Benjamin Cölle: Afrikanisches Kino in Berlin
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dschungel
02.12.2010
https://jungle.world//artikel/2010/48/iron-ladies-crying-men?page=0%2C%2C0
The Europameisterschaft will be televised
Das Grauen von Göteborg EM-Finale 1992, Deutschland gegen Dänemark in Göteborg. Die Zeichen stehen auf Sieg, das machen ARD-Hauptmann Heribert Faßbender und sein Adlatus Kalle Rummenigge an den Mi­krophonen von der ersten Minute an klar. Grenzenloser Hochmut, keinerlei Zweifel – unsympathischer geht es nicht. Beziehungsweise: geht es doch. Als das kleine Dänemark, das für Ju­gos­lawien ins Turnier gerutscht war, in Führung geht, packt Faßbender das Grauen: »Wenn die Dänen hier Europameister werden – nicht auszudenken!« Nach dem 2:0 in der 78. Minute nutzen Heribert und Kalle die verbleibende Zeit, um Legenden zu stricken und sich ihren Ruf als schlechteste Verlierer der Fußballreportergeschichte zu erarbeiten. »Es wird gelacht werden über die Deutschen!« prophezeit Faßbender. »Ein Mal Foul, ein Mal Hand. Beide Tore nicht korrekt, beide Tore nicht korrekt«, empören sich beide immer wieder und kriegen sich ob dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit gar nicht mehr ein. Lobende Worte für den Gewinner? Ehrlich gemeinte Glückwünsche? Fehlanzeige. 20 Jahre ist das nun her, und noch heute schüttelt es mich, wenn ich daran zurückdenke. Sven Sakowitz   Kurz vor der Europameisterschaft stellt sich dem anspruchsvollen Fußballfan mal wieder die Frage: Was mache ich nur mit den nervigen Fußballkommentatoren im Fernsehen? Schon die ganze Saison über sind sie einem auf den Senkel gegangen. Auf Sat1 zum Beispiel Wolff-Christoph Fuss mit seiner zweifelhaften Methode, altbekannte Phrasen aus der Welt jenseits des Fußballs effekthascherisch für die Kommentierung des Spiels zu verwenden. Kostprobe: »Das ist Bunga-Bunga in Schalkes Hintermannschaft.« Was und warum da gerade etwas in der Abwehr einer Mannschaft nicht funktioniert, erfährt man hingegen eher selten. Immerhin bleibt Fuss einem bei der EM erspart, weil Sat 1 nicht überträgt. Aber auch bei den Öffentlich-Rechtlichen lauern Gestalten wie Béla Réthy oder Steffen Simon. Leider hat sich die englische Variante mit zwei sich ergänzenden Kommentatoren in Deutschland nie durchgesetzt. Wer das nicht kennt, sollte es mal ausprobieren – im Internet soll man auch in Deutschland englische Sender per Stream bekommen können. Mein Geheimtipp aber für alle, die größere Ansprüche an die Kommentierung eines Fußballspiels haben als blöde Sprüche, redundantes Beschreiben des Offensichtlichen oder das Herbeiquatschen eines Bürgerkriegs, lautet: Ton aus, Twitter an. Unter www.twitter.com/spielvrlagerung (kein Druckfehler, wirklich ohne »e«) bekommt man dort von den Taktikbloggern um Tobias Escher kompetente Kurzanalysen geliefert – live, aber ohne Sprücheklopfen. André Anchuelo   Zum Zeitpunkt der letzten EM vor vier Jahren lebte ich gerade in Santiago de Chile, und dort interessierte sich wirklich niemand für das Turnier. Dankenswerterweise wurde es dennoch im Fernsehen übertragen, und so saß ich fast jeden Morgen in meinem Zimmer und starrte auf den viel zu kleinen Fernseher, den ich mir eigens geliehen hatte. Obwohl das Turnier den Menschen in Chile total egal war, gerieten die Kommentatoren bei wirklich jedem Tor völlig aus dem Häuschen und schrien »gooooooo­ooool!«, als hätte Arturo Vidal Chile gerade zum Weltmeistertitel geschossen. Ein Tor ist in Südamerika eben immer ein Grund zum Feiern. Das bürokratische »Tor«, das deutschen Kommentatoren selbst bei Treffern der DFB-Elf entfährt, erinnert dagegen eher an einen Verwaltungsakt. Deutsche Kommentatoren machen sogar Spitzenspiele zur Einschlafhilfe. Im südamerikanischen Fernsehen hingegen wäre wohl selbst eine Partie zwischen Sandhausen und Wehen-Wiesbaden ein Erlebnis. Jan Tölva   »Das wird nun wieder Diskussionen geben.« Rudi Michel, den ich deswegen leiden mag, weil er mir mal bei einer historischen Recherche zu Kaiserslautern sehr geholfen hat, kommentierte so das Wembley-Tor 1966. Wo Michel Recht hatte, hatte er Recht. Wobei das Wort »Diskussion« zu bilateral war. Es gab ja bloß eine Welle der Empörung. Und zwar hierzulande. Und zwar bis heute. Michel aber hatte die Empörung nicht angefacht, auch das spricht für ihn. Andere, nach ihm, hätten das getan: die Rubenbauers und Faßbenders und vielleicht auch die Hanschs. Aber es gab gegenteilige Strömungen: In den Achtzigern machten auf einmal »Junge Wilde« genannte junge wilde Sportreporter beim ZDF ambitionierten Sportjournalismus. Zitiert man deren Namen, glaubt es vermutlich keiner, dass die mal gut gewesen sein sollen: Rolf Töpper­wien, Günter-Peter Ploog, Jörg Dahlmann, Marcel Reif. Für die Begründung fehlt hier der Platz. Hier muss der Hinweis genügen, dass danach die Faßbender-Generation wieder alles dominiert hat. Bis, ja bis auf einmal Leute wie Marcel Reif beim Pay-TV versuchten, Fußballverstand einzubringen. Ein großer Fortschritt schon deswegen, weil er anders als die Schreihälse nicht die Fernsehbilder kommentiert hat und – noch schlimmer – so getan hat, als würden die Fernsehbilder das Spiel zeigen (das tun sie nicht, sie zeigen die Inszenierung des Spiels durch die Bildregie; das ist ein riesiger Unterschied). Die Idee, dass das ein Fortschritt sei, hinter den kein Rückpass möglich wäre, trog. Mittlerweile sind sie wieder da, die Stammtisch-Schwadroneure, die bloß nach originellen Formulierungen suchen, die Benders und Fuss’ und Simons. Tonabdrehen? Geht auch nicht, denn dann ist man den Bildern ausgeliefert, die ja auch lügen. Geht überhaupt was, wenn man nicht im Stadion sein kann? Ich lese den Ticker auf kicker.de. Da erfahre ich mehr vom Spiel. Martin Krauß   Das Schlimmste an den deutschen Fußballkommentatoren sind gar nicht mal die haarsträubenden Ausfälle, an die man sich noch Jahrzehnte später erinnert (die übrigens ganz sicher auch bei dieser EM wieder vorkommen werden). Das Schlimmste ist der ganz normale Reporterbrei zwischen eben diesen Ausfällen. Genauer: das hysterisierte Geschwätz, bei dem jeder Pass, jede Standardsituation, kurz alles, was auf dem Spielfeld passiert, aus der deutschen Perspek­tive gesehen wird. Genannt wird das, was mit Journalismus kaum etwas, dafür um so mehr mit Fan-Sein zu tun hat, dann »emotionaler Kommentar« – wobei die Emotionen eben nur vordergründig mit dem Spielgeschehen zu tun haben, denn wie das bewertet wird, entscheidet der Kommentator nach der Nationalität der auf dem Rasen Agierenden und nicht etwa mit einem Blick ins Regelbuch. Der Alleinunterhalter am Mikrophon agiert dazu meist völlig ungebremst, Fußballkommentator sein war schließlich in den vergangenen Jahren nur ein Zwischenschritt zu Höherem: Comedian oder gar Talkshowmoderator. Dass es auch anders geht, zeigt sich in einer ganz anderen Sportart, im American Football. Dort gibt es Kommentatorenteams – pro Spiel sind zwei bis drei Reporter in der Kabine, die sich als Journalisten verstehen und für erfolgreiche Aktionen beider Seiten begeistern. Da dadurch jeder dieser Reporter Zeit hat, Gedanken zu entwickeln, bevor er sie ausspricht, entfällt das assoziativ-parteiische Geblubber, mit dem deutsche Moderatoren so gern die Stille füllen. Boris Mayer   Rund um die diesjährige Fußballeuropameisterschaft der Männer droht wieder einmal ein ­Inferno deutscher Fernsehunterhaltung. Mit einem Paket aus sportlicher, organisatorischer, politischer und moralischer Überlegenheit reist die deutsche Journalistendelegation schon vorher als Gewinner der Herzen in zwei Schurkenstaaten an der Peripherie eines Kontinents, dessen Führung Deutschland längst übernommen hat. Jörg Schönenborn, der diesjährige Kopf des ARD-Teams, machte schon im Vorfeld klar, dass dies die politischste EM werde, die es je gegeben habe. Man darf also eine Mischung aus Jubelberichterstattung vom Hof des Teamchefs, folkloristischem Kitsch und sinnentleertem Gerede von Demokratie und Timoschenko erwarten. Todesmutige Reporter werden gewagte Berichte aus zwei Ländern liefern, in denen zwar nicht alles schlecht ist, auf jeden Fall aber die Autobahn. Das eigentliche Ereignis, ein Fußballturnier, in dem alles andere als der schon fest eingeplante Titel der deutschen Elf eine nationale Katastrophe darstellen würde, wird kommentiert von sachunverständigen, dafür aber um so fester in den Stühlen sitzenden Deutschland-Fanatikern, die ihre journalistische Inkompetenz durch Herabwürdigung des Gegners wettzumachen suchen. Statt sachlicher Sportberichterstattung wird es einmal mehr die geballte mediale Verblödung von Deutschen für Deutsche geben. Und so wird das Land gestärkt aus der Euro 2012 hervorgehen, wie auch schon aus zahlreichen Turnieren, Krisen und Kriegen zuvor. Gregor Mothes
Sven Sakowitz,André Anchuelo,Jan Tölva,Martin Krauss,Boris Mayer,Gregor Mothes
Sven Sakowitz,André Anchuelo,Jan Tölva,Martin Krauss,Boris Mayer,Gregor Mothes: Die Fußball-EM beginnt: Schalten Sie den Ton aus!
[ "Fußball-EM", "Fußball" ]
Sport
07.06.2012
https://jungle.world//artikel/2012/23/europameisterschaft-will-be-televised
Homestory #04
»Mein kleiner grüner Kaktus steht draußen am Balkon, hollari, hollari, hollaro!« So erklang es am Montagmorgen zumindest virtuell in den Redaktionsräumen der Jungle World. Auf allen Schreib­tischen hatten sich kleine Pflanzen in Töpfen eingefunden. Was war das? Wo kamen die her? Ein beiliegender Zettel informierte, dass ein Kollege damit zu einer WG-Party einlud. Gut, aber woher die Pflanzen kamen, war damit noch nicht beantwortet. Auf Nachfrage berichtete der Kollege von einer Pflanzenurmutter, die er vor Jahrzehnten von seiner längst verstorbenen BDM-Oma geschenkt bekommen habe. Und diese Urpflanze sei bis heute so reproduktiv unterwegs, dass mal eben die gesamte Redaktion Ihrer kleinen, aber feinen Lieblingswochenzeitung mit Ablegern versorgt werden konnte. Was schon deshalb ganz schön ist, weil die heiligen Hallen der Jungle World sonst nicht gerade wie das Pflanzenparadies im nächsten Baumarkt anmuten. Aber handelt es sich überhaupt um Kakteen? »Ganz klar Aloe vera«, sagt ein anderer Kollege im Brustton der Überzeugung. Also, diese Pflanze, aus der Gels und Cremes gemacht werden? Aber gehört die nicht auch zu den Kaktuspflanzen? Tante Wiki hilft weiter. »Kakteen sind eine Familie in der Ordnung Nelkenartige« und kommen aus Amerika, wo sie von Kanada bis hinunter nach Patagonien verbreitet sind. Aloe vera hingegen gehört zur Familie der Spargelartigen und stammt vermutlich von der arabischen Halbinsel. Beide wiederum gehören zu den Sukkulenten. Das sind Pflanzen, die in ihren Pflanzenteilen Wasser speichern. Kakteen und Aloe vera sind also gewissermaßen Neuwelt- und Altweltsukkulenten. Die Frage, welche von denen wir hier nun vor uns haben, ist mit diesen Erkenntnissen freilich noch immer nicht beantwortet. Ver­suchen wir es doch mal journalistisch – und fragen den, der es wissen müsste. Nein, der Kollege, der die Ableger so großzügig in der Redaktion verteilt hat – er weiß es auch nicht. Vielleicht ist die Biologie nicht die ganz große Stärke der Redaktionsmitglieder. Hier tummeln sich eher Politikwissenschaftler, Historikerinnen, Soziologen und Germanistinnen. Einer, der es hätte wissen können, hat uns vergangene Woche mal wieder besucht. Der letzte linke Kleingärtner, unser Autor Roland Röder, hat vor der »Wir haben es satt«-Demonstration auch noch bei der Jungle World reingeschaut. Und am Tag nach der Kundgebung eine Lesung aus seiner Kolumne abgehalten – leider alles zu früh, um unsere Sukkulenten zu begutachten. Ob er in seinem Kleingarten die stacheligen Pflanzen hat? Mit Fug und Recht könnte er dann singen: »Was brauch’ ich rote Rosen, was brauch’ ich roten Mohn, hollari, hollari, hollaro!«
: Homestory
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Homestory
24.01.2019
https://jungle.world//artikel/2019/04/homestory-04?page=0%2C%2C2
Terror wie früher
Wenn die ausländerfeindliche Hetzkampagne »Operation Dudula« in Südafrika Jagd auf Ausländer macht, kann es schon mal Tote geben – und manchmal schaut die Polizei einfach zu. In Pietermaritzburg, der Hauptstadt der an der Ostküste des Landes gelegenen Provinz KwaZulu-Natal, ­begleitete die Polizei vor zwei Wochen einen xenophoben Mob geradezu partnerschaftlich. Während etwa 30 Dudula-Aktivisten auf der Haupteinkaufstraße die Aufenthaltspapiere mutmaßlich ausländischer Straßenhändler zu sehen verlangten, blieb die Polizei in ihren Fahrzeugen sitzen und gab dem Vorgehen so den Anschein von Legitimität. Die Operation Dudula – das Wort heißt übersetzt in etwa »zurück­drängen« oder »wegstoßen« – hatte schon einige Wochen zuvor lokale ­Unternehmen aufgefordert, ausländische Arbeitskräfte zu entlassen. »Wir haben eine Anzahl von Leuten verhaftet, die keine Dokumente haben«, sagte ein Leiter der Papierkontrolle, Bheki Dzanibe, der Tageszeitung The Witness. Er ließ dabei jedoch offen, was eine »Verhaftung« durch einen Mob genau bedeutete. Oft versuchen Dudula-Aktivisten, die mutmaßlich papierlosen afrikanischen Immigranten an die Polizei zu übergeben. Allerdings kam es bei anderen Aktionen der Organisation auch zu schwerer Gewalt bis hin zum Lynchmord. Vor zwei Monaten erschoss ein mutmaßliches Mitglied der Aktion Dudula in Pietermaritzburg einen ausländischen Straßenhändler. Die Regierungspartei ANC tut sich erschreckend schwer im Umgang mit Dudula. Dass die Polizei bei der Papierkontrolle vor zwei Wochen nur zuschaute, kann da als eindeutiges Signal verstanden werden. Trotzdem zeigt sich Dzanibe unzufrieden. »Die Polizei muss anfangen, ihre Arbeit zu machen und all diese Leute verhaften, die illegal im Land sind«, zitierte ihn The Witness. Nur drei Tage zuvor war eine Dudula-Aktion ganz anders verlaufen. In Alexandra, einem Armenviertel in Johannesburg, verhinderten unge­nannte Anwohner eigenen Angaben zufolge die nächtliche Vertreibung ­einer älteren Anwohnerin aus ihrer Hütte. »Dudula kam, um jemanden zu vertreiben, und die Community hat Widerstand geleistet«, sagte der Bezirksabgeordnete Tefo Raphadu der Times-Mediengruppe. »Es gab einen Streit, und Dudula schoss auf die Community, und die Community begann zu kämpfen und zurückzuschlagen.« Raphadu zufolge wurden neun Menschen verletzt. Die Polizei gab am folgenden Tag bekannt, 14 Personen im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung verhaftet zu haben. Die Dudula-Bewegung operiert seit vergangenem Jahr in verschiedenen Städten des Landes, hauptsächlich in den Provinzen KwaZulu-Natal und Gauteng. Sie bekundet freimütig, dass sie auch bewaffnet für Ordnung sorgen will. Angeführt und mutmaßlich auch finanziert wird sie von dem Piloten und Geschäftsmann Nhlanhla »Lux« Dlamini, der eine Charter-Fluggesellschaft namens Native Airways besitzt. Dlamini wurde erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als er mit Gleichgesinnten im vergangenen Jahr ein Einkaufszentrum in Soweto vor Plünderung und Zerstörung schützte. Die Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma wegen Korruptionsvorwürfen hatte die damaligen Un­ruhen ausgelöst. Dlamini präsentierte sich daraufhin als Beschützer der »Community« und behauptete trotz mangelnder Beweise, die verhinderten Plünderer seien afrikanische Einwanderer gewesen. Einige Wochen ­danach begann er die medienwirksamen »Razzien« auf Märkten und in Wohngebieten. Darin, dass sich sowohl die Gegner als auch die Anhänger der Operation Dudula so stark auf die »Community« beziehen, äußert sich die gemeinsame politische Herkunft der nun gespaltenen politischen ­Lager. Die kommunitaristische Rhetorik von einer nicht näher bestimmten »Community« kam in ­Südafrika in den frühen achtziger Jahren auf. Der Begriff konnte gerade durch seine Unbestimmtheit in den Auseinandersetzungen mit dem staatlichen Rassismus, bei Arbeitskämpfen, Schulboykotts und Mietstreiks mobilisieren. Er vereinte die urbane Bevölkerung gegen die Versuche des Regimes, die nicht-weiße Bevölkerungsmehrheit des Landes in unterschied­liche »Stämme« und Ethnien zu teilen. Zudem ermöglichte er die Zusammen­arbeit zwischen den verschiedenen Strömungen der Bewegung gegen die Apartheid, zu der neben dem eher sozialdemokratischen African National Congress (ANC) auch Panafrikanisten, Christen, Kommunisten und Liberale gehörten. Nicht zuletzt legitimierte er die Anti-Apartheid-Kämpfer, die den Staat immer weiter zurückdrängten und in den Townships die Kontrolle übernahmen. Der nunmehr dominante African National Congress (ANC) konnte diese breite Koalition, nachdem er 1994 die Regierung übernommen hatte, 15 Jahre lang zusammenhalten. Seitdem haben sich jedoch immer wieder Gruppen abgespalten. Der immer noch regierende ANC und der Staat zerfallen zunehmend in Patronagenetzwerke. Die Wirtschaft stagniert seit Jahren, die Arbeitslosigkeit soll Schätzungen zufolge bei fast 50 Prozent liegen. Schon in den vergangenen Jahren kam es wiederholt zu gewalttätigen Pogromen gegen Einwanderer. Die Operation Dudula stellt den Versuch ihres Anführers Dlamini dar, mit Fremdenfeindlichkeit und rassistischen Grenzüberschreitungen zu punkten. Dlamini profitierte in seiner Jugend von verschiedenen Stipendien für die prestigeträchtigsten Schulen des Landes und wurde vor seinem Dudula-Engagement immer wieder als vorbildlicher afrikanischer Geschäftsmann aus dem Township Soweto präsentiert. Er arbei­tete in den USA und Großbritannien für die internationale Beratungsfirma McKinsey und die Investmentbank Morgan Stanley. Seine politischen Ambi­tionen konnte er innerhalb des ANC allerdings nicht erfüllen. Bemerkenswert ist seine explizite Gegnerschaft zum Anführer der linkspopulistischen Partei Economic Freedom Fighters (EFF), Julius Malema. Der ehemalige Präsident des ANC-Jugendverbands gründete die EFF 2013, nachdem ihm innerhalb des ANC weitere Aufstiegschancen verwehrt worden waren. Der heute 41jährige Malema gehörte wie der 35 Jahre alte Dlamini zum Mittelbau der ANC-Staatsklasse, die einerseits von Staatsaufträgen profitiert, andererseits jedoch mit der alten Garde der Anti-Apartheid-Kämpfer um Präsident Cyril Ramaphosa um Aufstiegschancen ringt. Sowohl Dlamini als auch Malema präsentieren sich trotz ihres Vermögens als Vertreter der armen schwarzen Bevölkerung. Während Malema und die EFF Versatzstücke des Antiimperialismus nutzen und vor allem gegen mehrheitlich relativ wohlhabende weiße und indischstämmige Minderheiten hetzen, bedient Dlamini mit seiner Operation Dudula seit langem vorhandene Ressentiments gegen arme afrikanische Einwanderer. In gewisser Hinsicht imitieren die Dudula-Mobs, ob bewusst oder unbewusst, die Polizei der Apartheid-Ära, die damals versuchte, den »illegalen« Zuzug schwarzer Südafrikaner in die vermeintlich »europäischen« Städte zu verhindern. Auch damals dienten Ausweispapiere als Mittel der Unterdrückung, und auch damals drangsalierten die Ordnungskräfte bevorzugt informelle Straßenhändler. Die Regierungspartei ANC tut sich derweil erschreckend schwer im Umgang mit Dudula. Während ein Parteisprecher die Bewegung als »progressiv« lobte, verurteilte Präsident Ramaphosa die Aktionen, die »unsere Völker auf dem afrikanischen Kontinent spalten«. Damit reagiert der ANC auf Dudula so, wie er auch auf die EFF reagiert hat: Einerseits versucht er, sich von den Abspaltungen rechts und links abzugrenzen. Andererseits möchte die ehemalige Befreiungsbewegung die Bevölkerungsgruppen, die mit den ­populistischen Newcomern sympathisieren, selbst gerne ansprechen.
Alex Veit
Alex Veit: In Südafrika machen Gemeinden mit der »Operation Dudula« Jagd auf Ausländer
[ "Südafrika" ]
Antifa
16.06.2022
https://jungle.world//artikel/2022/24/terror-wie-frueher
Umerziehungslager Bett
Filme nach dem Muster »Mann und Frau treffen irgendwo zufällig aufeinander, sind total unterschiedlich und finden nach einigen turbulenten Ereignissen doch zueinander« sind in den meisten Fällen einigermaßen unerträglich bzw. nur dann einen Kinobesuch wert, wenn man ein Date hat und es ohnehin egal ist, was auf der Leinwand läuft. Die französische Komödie »Der Name der Leute« bedient sich – jedenfalls vordergründig betrachtet – ebenfalls der x-fach erzählten »Gegensätze ziehen sich an«-Story. Hier ist die junge Bahia Benmahmoud (Sara Forestier), eine energiegeladene und chaotische Weltverbessererin, die mit politisch rechts stehenden Männern schläft, um sie zu bekehren. Und da ist der etwas ältere Arthur Martin (Jacques Gamblin), ein farb- und humorloser Angestellter des Französischen Amtes für Tierseuchen. Als er in einem Radio-Interview vor der Vogelgrippe warnt, stürmt Bahia wütend in das Studio, wirft ihm live auf Sendung Panikmache vor und behauptet, seine Paranoia führe direkt in den Faschismus – erst die Enten, dann die Migranten! Klarer Fall: Der Mann muss in ihrem Bett umerzogen werden. Aber Arthur lehnt ihr Angebot ab und entpuppt sich auch noch als Anhänger des Sozialisten Lionel Jospin (was im Film ein Beleg dafür sein soll, dass er ein Linker ist). Ein paar Schwindel erregende Wendungen später sind die beiden ein Paar, und der Zuschauer erfährt durch einen Blick auf ihre Familien- und Lebensgeschichten, welche Traumata sie mit sich herumschleppen. Arthurs jüdische Groß­eltern wurden in Auschwitz umgebracht, seine Mutter überlebte im Versteck unter falschem Namen. Erleichtert nimmt sie bei ihrer Hochzeit den Allerwelts-Nachnamen ihres Mannes an, die Themen Shoah und Judentum sind im Hause Martin tabuisiert. Jeder Versuch Arthurs, seiner Mutter etwas über ihre Familie zu entlocken, scheitert grandios. Weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt, schweigt auch er – und wird sich erst dank Bahia mit der Geschichte seiner Familie und seiner eigenen auseinandersetzen. Bahia ist die Tochter einer französischen Achtundsechzigerin und eines algerischen Einwanderers, der als Siebenjähriger in seinem Heimatdorf mitansehen musste, wie mehrere Mitglieder seiner Familie von der französischen Armee erschossen wurden. Trotzdem hegt er keinen Groll auf die Franzosen – ganz im Gegensatz zu Bahias Mutter. Sie hasst alles, was sie für typisch französisch hält – und trägt ihren algerischen Nachnamen als Beweis ihrer Fundamentalopposition. Bahia ist stolz auf ihre Herkunft, leidet aber darunter, dass sie überhaupt nicht algerisch aussieht und ihr Vorname meist für brasilianisch gehalten wird. Ein bisschen Unterdrückungserfahrung dann und wann käme ihr wohl ganz gelegen. Ähnlich wie bei Arthur gibt es auch in ihrer diskussionsfreudigen Familie ein Tabuthema: Bahia wurde als Mädchen von ihrem Klavierlehrer sexuell missbraucht. Sie ist der Meinung, dass ihre sexuelle Freizügigkeit eine Folge davon ist. Das alles ist nicht gerade typischer Komödienstoff, und tatsächlich verfügt »Der Name der Leute« über eine bittere Note und ist in manchen Szenen bewegend und traurig. Dass es dem Film trotzdem gelingt, vor seinem ernsten Hintergrund eine überwiegend lässig-luftige Geschichte mit vielen wirklich komischen Szenen zu erzählen, ist Regisseur und Autor Michel Leclerc sowie der Mitautorin Baya Kasmi hoch anzurechnen. Sie missbrauchen Themen wie Rassismus, Kolonialismus und die Shoah dankenswerterweise nicht, um eine möglichst hohe Fallhöhe für die Komik zu schaffen und dann ein paar billige, geschmacklose Gags zu landen. Stattdessen gehen sie mit den Themen ihres Films respektvoll und einfühlsam um, aber zum Glück auch nicht übervorsichtig und pädagogisch. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Szene, in der Arthur seinen Eltern Bahia bei einem Abendessen vorstellt. Bahia wird vorab von Arthur instruiert, alle Themen zu umgehen, die irgendwie an die Shoah erinnern können – dazu gehören auch Harmlosigkeiten wie die Staus in Paris. Wie Bahia dann in jedes Fettnäpfchen tritt, ist so lange überwältigend komisch, bis sie bei der Verabschiedung bewusst das große Tabu bricht und ihre Schwiegermutter in spe auf deren ermordete Eltern anspricht. Zu lachen gibt es da nichts mehr. Ein paar Tage später ist Arthurs Mutter tot. Die Suche nach einer eigenen Identität ist ein wichtiges Thema des Films. »In einem Land, in dem sich Menschen verschiedener Herkunft vermischen, ist es an jedem selbst, seine Identität zu definieren«, sagt Michel Leclerc über den Ausgangspunkt des Films, und Baya Kasmi ergänzt: »Trotzdem wollen wir den Widerspruch akzeptieren, dass wir es einerseits ablehnen, mit einer bestimmten Verhaltensweise, entsprechend unserer Herkunft, identifiziert zu werden, und uns andererseits wünschen, unsere Wurzeln und die Geschichte unserer Familie nicht zu vergessen. Nur, weil man sich untereinander mischt, heißt das noch lange nicht, dass man verschwindet – im Gegenteil. Für uns ist die zentrale Idee, die wir in dem Film vermitteln möchten, dass die ›Bastarde‹ die Zukunft der Menschheit sind.« Für diese Idee wird in jedem Moment des Films geworben. Es ließe sich einwenden, dass nicht nur die Familie ein Ort der Identitätsbildung ist, andererseits sollte man Filme aber auch nicht überfrachten. Als künstlerisches Vorbild nennt Regisseur Leclerc Woody Allen, und das merkt man dem Film auch an – etwa wenn zur Visualisierung innerer Dialoge der jugendliche Arthur auftaucht und den erwachsenen Arthur in Diskussionen über dessen verpfuschtes Liebesleben verstrickt. Nur eine von vielen schönen Ideen und charmanten Verbeugungen vor Allen. Nicht unterschlagen werden soll an dieser Stelle, dass die überzeichnete Figur der Bahia von der begabten und für diese Rolle mit einem César dekorierten Sara Forestier zwar die meiste Zeit über hinreißend gespielt wird, aber manchmal ganz schön nervt und in einigen schaurigen Momenten an die unverständlicherweise überall so hoch gelobte Figur der Poppy aus Mike Leighs Komödie »Happy-Go-Lucky« erinnert. Immer engagiert, immer gut drauf, immer korrekt, immer am Plappern – das hält ja kein Mensch aus! Und als linke Ikone eignet sie sich leider auch nicht so richtig, dafür ist ihr Weltbild ein bisschen zu simpel. Wirklich alles, was ihr nicht gefällt, ist irgendwie fascho. Sogar diese bekloppten Motorräder mit vier Rädern hält sie für faschistisch. »Sie vereinfacht Dinge aus der Not heraus«, erklärt Kasmi. »Die Welt ist so komplex, dass man eine klare Herangehensweise braucht, wenn man sich engagieren will. Sie folgt dieser einfachen Denkweise, um die Energie für ihr Handeln nicht zu verlieren.« Diese Autoren-Entscheidung führt zu einigen quälenden Momenten, sollte aber niemanden vom Kinobesuch abhalten – denn trotz ein paar Schwächen ist »Der Name der Leute« nämlich überhaupt nicht fascho. »Der Name der Leute« (F 2010). Regie: Michel Leclerc, Buch: Baya Kasmi. Start: 14. April
Sven Sakowitz
Sven Sakowitz: Über die Komödie »Der Name der Leute«
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dschungel
14.04.2011
https://jungle.world//artikel/2011/15/umerziehungslager-bett?page=0%2C%2C2
Die Türhüter des Internets
Kalifornische Mittagspause. Mit dem Lime-Roller sind es zwei Minuten von Googles Stammsitz zum Strand in Venice Nach 16monatigen Ermittlungen legte der Unterausschuss für Kartellrecht innerhalb des Justizausschusses des US-Repräsentantenhauses Anfang des Monats einen 449 Seiten starken Bericht mit einer Empfehlung über kartellrechtliche Bedenken gegen die vier großen Internetkonzerne Amazon, Apple, Facebook und Google vor. Zusätzlich enthält der Bericht auch Empfehlungen, die von Vorschlägen für Gesetzesänderungen im Kartellrecht bis hin zur Zerschlagung der Konzerne reichen. Bei Apple basiert die Kritik vornehmlich auf dem App Store, der digitalen Vertriebsplattform für Anwendungssoftware, in der Apple die eigenen Produkte bevorzugt anzeigt und zudem 30 Prozent aller Umsätze der darin verfügbaren Applikationen von Drittanbietern kassiert. Der Unterausschuss sieht darin ein Problem, weil der App Store der einzige erlaubte Weg ist, Apps auf Apple-Geräte zu installieren. Apple verteidigte sich interessanterweise unter anderem damit, dass 30 Prozent in diesem Segment der gängige Satz seien. Google und Facebook werden hauptsächlich dafür kritisiert, verschiedene Produkte miteinander zu verknüpfen und die so gewonnen Datensätze für ihre Werbegeschäfte zu verwenden. Und bei Amazon gilt die kartellrechtliche Kritik der konzerninneren Verknüpfung von Handelsplattform, Produktion und Direktverkauf, unter der Verwendung des firmeneigenen Paketdiensts Amazon Logistics – in den USA wird erwartet, dass die Logistiksparte von Amazon im Jahr 2022 das kombinierte Auftragsvolumen der Branchenspezialisten UPS und Fed Ex überholt. Bei Facebook gibt man sich optimistisch, weil eine Zerschlagung des Konzerns wegen »der hohen Komplexität« gar nicht möglich sei. Die vier Konzerne arbeiten zwar, wie es in dem Bericht des Unterausschusses heißt, in völlig getrennten Bereichen, haben jedoch eines gemeinsam: Ihnen falle die Rolle eines gatekeeper zu – eines Türhüter, der den Zugang zu Märkten beherrscht, mit Kontrolle über Preise und die Verteilung von Gütern und Diensten. In ihren Verteidigungen argumentieren die Konzerne bisher recht uneinheitlich. Apple widerspricht in seiner Stellungnahme »vehement den Schlussfolgerungen in diesem Bericht«. Ferner heißt es: »Der App Store hat neue Märkte, neue Dienstleistungen und neue Produkte ermöglicht, die vor einem Dutzend Jahren unvorstellbar waren, und (unabhängige, Anm. der Red.) Entwickler waren die Hauptnutznießer dieses Ökosystems.« Die Argumente gehen allerdings glatt am Thema vorbei, denn wäre das nicht der Fall, würden unabhängige Entwickler den App Store nicht nutzen – und Apple hätte dann gar keine Möglichkeit, die von den Kartellrechtlern beanstandeten Dinge zu tun. Noch schlimmer ist es bei Facebook. Der Konzern gibt sich optimistisch, weil eine Zerschlagung wegen »der hohen Komplexität«, wie es in dessen Stellungnahme heißt, gar nicht möglich sei – mit anderen Worten, man denkt, die Dienste Facebook, Instagram und Whatsapp seien auf der rein technischen Ebene zu sehr miteinander verzahnt, als dass sie sich noch in separate Unternehmen aufteilen ließen. Amazon und Google drehten den Spieß gleich ganz um. »Das fehlerhafte Denken würde in erster Linie dazu führen, dass Millionen unabhängiger Einzelhändler aus Online-Shops vertrieben werden, wodurch diese kleinen Unternehmen einer der schnellsten und profitabelsten Möglichkeiten beraubt werden, Kunden zu erreichen«, ließ Amazon in einem Blogbeitrag verlauten. Google verwies einfach darauf, dass die Produkte kostenlos seien und so »Millionen von Amerikanern« helfen. Auf Seiten der Konzerne gibt man sich also äußerst gelassen. Mit gutem Grund, denn das Verfahren hat in seinem Verlauf schon einiges an Bedrohlichkeit eingebüßt. Begonnen hatte es als eines der wenigen parteiübergreifenden Projekte des Repräsentantenhauses, aber als die beiden Demokraten Jerrold Nadler (New York) und David Cicilline (Rhode Island) als Vorsitzende des Justizausschusses beziehungsweise des Unterausschusses für Kartellrecht ihren Bericht vorlegten, war das Ganze wieder klar nach Parteilinien getrennt. Die Demokraten unterstützen den Report, die Republikaner unter Führung ihres höchsten Vertreters im Justizausschuss, Jim Jordan, konnten damit nicht leben. Ihnen fehlte zum einen ein Hinweis auf die von ihnen, seit US-Präsident Donald Trump in Umfragen gegen seinen Herausforderer Joe Biden klar zurückliegt, ausgiebig beklagte »Zensur von konservativen Meinungen« und den damit einhergehenden »Verstoß gegen die Redefreiheit« der Internetkonzerne. Zum anderen halten sie die empfohlene Zerschlagung für eine überzogene »nukleare Option«, wie es Ken Buck, ein republikanischer Abgeordneter aus dem Bundesstaat Colorado, nannte. Dass das Ergebnis der Ermittlungen nur von einer der beiden Kongressparteien unterstützt wird, ist für die Konzerne ein gutes Ergebnis. Gene Kimmelman, früher leitender Kartellbeamter im Justizministerium, sieht den Bericht gleichwohl als »die Grundlage für Gesetze und Vorschriften, die Kartellfälle gegen Google, Facebook und andere ermöglicht«, und zieht Vergleiche zum Kartellfall AT&T in den achtziger Jahren, der mit der Aufspaltung des Konzerns endete. Die Republikaner wollen lieber angebliche Verstöße der Internetkonzerne gegen die Redefreiheit ahnden. Wobei sie notorisch free speech (Meinungsfreiheit) mit free reach (unbegrenzte Reichweite) verwechselten, wie die Computerzeitschrift Wired schon vor zwei Jahren feststellte. Das bedeutet: Man darf zwar frei sagen, was man denkt, man hat aber nicht unbedingt das Recht, das Megaphon eines anderen zu verwenden. Gerade Facebook und Twitter haben sich im Übrigen in der Vergangenheit nicht unbedingt durch übermäßige »Zensur von konservativen Meinungen« hervorgetan – Facebook sorgte im vorigen US-Präsidentschaftswahlkampf beispielsweise mit dafür, dass die für die Wahlkampagne von Donald Trump arbeitende Datenanalysefir­ma Cambridge Analytica Werbung auf bestimmte Wählergruppen ausrichten konnte und dadurch erreichte, dass manche davon sogar beschlossen, nicht zur Wahl zu gehen. Und Twitter ließ die Qanon-Verschwörungstheorie jahrelang ungehindert gewähren, bis diese sich in praktisch allen Gegenden der Welt verbreitet hatte – mit manchmal tödlichen Folgen. Das alles ist aber nicht Thema der Untersuchung gewesen. Der Bericht des Repräsentantenhauses ist nicht der einzige Versuch, kartellrechtlich gegen die vier Konzerne vorzugehen. Trump hatte Ende August auf Twitter Google vorgeworfen, der Suchbegriff »Trump news« ergebe lediglich Artikel der Kategorie fake news, in denen er schlecht dastehe. Den Konservativen wohlgesinnte Beiträge würden dagegen ausgelassen, behauptete er. Trump versprach auch gleich noch, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Im September leitete das Justizministerium kartellrechtliche Ermittlungen gegen Google ein – William Barr, der als Justizminister der USA auch die Funktion eines Generalbundesanwalts einnimmt, sorgte persönlich für deren Beginn. In diesem Fall wurde in zwei Richtungen ermittelt. Ein Team ermittelte hinsichtlich Googles Marktbeherrschung bei der Internetsuche, ein anderes über die monopolistische Stellung im Online-Werbemarkt. Die beteiligten Staatsanwälte ließen allerdings wissen, man habe sich noch nicht entschieden, ob man die Suche, die Werbung oder beides anklagen wolle – woraufhin Barr die Geduld verlor und eine Frist setzte: Ende September sollten die Untersuchungen abgeschlossen sein, die Anklage müsse noch vor den Wahlen im November erhoben werden. Die Staatsanwälte hielten dem entgegen, ein mögliches Verfahren stünde auf einer äußerst schwachen Grundlage, denn um die Anklage mehr oder weniger wasserdicht zu machen, hätte man noch ein weiteres Jahr benötigt. Das dürfte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass es der Regierung Trump bei dem Verfahren nur um kurzfristige politische Ziele geht und nicht wirklich darum, ein Kartell aufzubrechen.
Elke Wittich,Boris Mayer
Elke Wittich,Boris Mayer: Die Demokraten im US-Kongress wollen Apple, Amazon, Facebook und Google zerschlagen
[ "Facebook", "Google", "Apple", "USA", "Amazon", "Donald Trump" ]
Thema
22.10.2020
https://jungle.world//artikel/2020/43/die-tuerhueter-des-internets
Elfen brauchen kein Aluminium
Wir stoppen für eine Stunde, dort hinten ist der Wasserfall. Sie können ihn nicht verpassen«, ruft der Busfahrer nach hinten zu den Passagieren, nachdem er den Bus geparkt hat. »Noch ein Wasserfall«, stöhnt jemand gelangweilt aus einer hinteren Reihe. Wie die meisten Fahrgäste bleibt er lieber sitzen. Ich krame meinen Poncho aus der Tasche, ziehe die warme Jacke fest zu und steige aus. Auf dem Parkplatz peitscht mir kalter Regen ins Gesicht. Die Sicht ist ganz gut, ca. 100 Meter weit, der Wind weht kräftig, die Wolken sind nah, beinahe mit den Händen zu greifen, grau und schwer, ich schätze die Temperatur auf acht Grad. Ich blicke mich um, es stehen zwei Landrover auf dem Parkplatz, etwa 30 Meter entfernt führt ein Fluss braunes Wasser zum Tal. Am Rande des Parkplatzes steht eine kleine Hütte, für den Fall, dass man hier stecken bleibt in richtig schlechtem Wetter. Aber sonst gibt es keine Häuser weit und breit, nur Felswände, rostig rot, dunkelgrüne Wiesenstücke mit vielen klei­nen bunten Blüten, höher liegen Schneefelder in karstigen Bergen, in denen die Wolken hängen bleiben. Von richtig schlechtem Wetter kann heute nicht die Rede sein, hier in der Mitte von Island, näher an Grönland als an Europa, Ende Juli und in etwa 500 Metern Höhe, 20 Minuten Fußmarsch vom berühmten Wasserfall der Eldgja-Schlucht entfernt. Ich ziehe mir den Poncho über und mache mich auf den Weg am Flussufer hinauf, entlang eines Pfades, der von Touristenschritten deutlich markiert ist, um mir ein weiteres Beispiel der Kraft des Wassers anzuschauen, die der Grund für all die Aufregung ist, die Island derzeit umtreibt. Der Pfad schlängelt sich um eine Biegung, so­dass bald der Parkplatz und der Bus verschwun­den sind. Kurz darauf kommen mir die Insassen der Landrover entgegen. »Und«, frage ich im Vorübergehen, »wie ist er?« »Ist schon toll, aber schlechtes Licht zum Fotografieren«, antwortet mir einer der Touristen. Ich nicke und gehe weiter, den Pfad entlang, der sich jetzt näher an den Flusslauf legt, weil das Tal sich hier verengt, zur Schlucht wird. Das Rauschen des Wassers wird lauter. Der Weg führt nun über einzelne große Felsbrocken am Ufer des Flusses, ein zweites, tiefe­res Rauschen legt sich über das unmittelbare des vorbeifließenden Wassers. Ich gehe weiter, schneller jetzt, und blicke nach vorne, wo sich hinter einem Felsvorsprung auf der anderen Uferseite die Quelle des tosenden Rauschens vermuten lässt. Einige Meter weiter kann ich ihn dann sehen, den Wasserfall, 200 Meter tief bricht das Wasser herunter, knallt auf die Felsen, schäumt auf in Gischt, die der Wind durch das Tal bläst. Ich eile weiter, bis ich das Schauspiel voll im Blick habe, und halte inne. Bei allem sorgsam antrainierten Zynismus, problematisierten Erwartungen an »Landschaft und Leute«, im vollen Bewusstsein der üblen Zerr­bilder des touristischen Blickes, angesichts der isländischen Landschaft will er einfach nicht stumpf werden, der Entdeckersinn. Ein wildes, ungezähm­tes Naturschauspiel von Wasser, Wind, Gischt und Krach eröffnet sich mir. Nach einigen Minuten muss ich zurück, denn mein Linienbus durch die isländische Wildnis wartet ja nur eine Stunde und fährt dann weiter. Island erscheint wie gemacht für ro­mantische Gefühle. Die Landschaf­ten sind oft unberührt oder zumindest un­verändert von Eingriffen des Menschen. Die Isländer haben in der mehr als 1 000jährigen Geschichte der Besiedlung der Insel einen Vorrat an My­then entwickelt, die dem Erhabenen in der Landschaft kulturell Ausdruck verleihen. Es scheint, als lägen große Teile der Insel in einer Periode vor der Entzauberung der Welt. Hinzu kommt, dass die Sagen von Geistern und Elfen weiterhin von vielen Isländern ernst genommen werden. Die Urteile von menschlichen »Medien«, »Elfenexperten«, die vor Bauprojekten in Island oft zu Rate gezogen werden, können schon mal den Verlauf einer neuen Straße beeinflussen. Auf dem Rückweg vom Wasserfall denke ich an die ersten Eindrücke von der Insel, an den Weg vom Flughafen nach Reykjavik und den Blick auf die Landschaft, die dort ganz flach ist, wie eine schwarze Fels­wüste links und rechts der Straße. Da­zu gab es hellen Sonnenschein bei 16 Grad, eine durchaus angenehme Abwechslung nach 35 Grad in Berlin. Das Zentrum von Reykjavik, der Hauptstadt, in der die Hälfte der 300 000 Bewohner Islands lebt, war voller Menschen, die die rare Sommersonne genossen. 30 Tage im Jahr gebe es hier solches Wetter, hatte mir der Taxifahrer gesagt. »Sie ha­ben viel Glück.« Vor den Cafés der Flaniermeile Laugavegur standen die Tische auf der Straße, und es wimmelte von Touristen. Am zentralen Platz, dem Austurvöllur im Zentrum der Stadt, saßen Menschen auf der Wie­se, jung und hip, fast wie aus einem Reklamespot entsprungen sahen die aus, die da Bier tranken und sich unterhielten. Nicht wie in einer Kleinstadt, sondern wie in einer Metropole, bloß eben einer sehr kleinen. Ich traf Helena, eine Künst­lerin und Angehörige der Umweltgruppe »Freunde Islands«. Sie führte mich in die Politik des Landes ein, den großen Konflikt um die Energie und das Alumi­nium, der sich derzeit auf der Insel abspielt. »Das Problem ist der isländische Min­derwertigkeitskomplex«, sagte Helena. »Seit einigen Jahren redet alle Welt von Globalisierung, da denkt sich die isländische Regierung: Das ist das neue große Ding, da wollen wir auch mitmachen.« Der Plan ist verlockend und einfach. Die Geographie macht Island zu einem riesigen Wasserkraftwerk. In den 2 000 Meter hohen Bergen im Landeszentrum fällt viel Niederschlag, der Gletscher bildet und reißende Flüsse. Man muss nur eines tun, um diese Energie zu gewinnen: Staudämme bauen. »Und jemanden finden, der viel billigen Strom braucht: die Aluminiumindustrie«, ergänzte Helena. Zurück im Bus geht die Reise weiter. Der Regen ist stärker geworden und die Piste führt durch einige tiefe Flussfurten. »Versuche, dein Gepäck auf das Gepäck von anderen zu legen«, hatte mir jemand empfohlen, der Gepäckraum wird schon mal geflutet. Es geht hinaus aus den Bergen zur Küste und von dort nach Osten. Der Bus bringt mich bis zu einem Ausläufer des Vatnajökull-Gletschers. Nach einer Nacht in der Nähe der größten zusammenhängenden Eismasse außerhalb der Polarregionen trampe ich weiter in Richtung Osten. Auf dem Weg zu einer der größten Baustellen Europas, dem Karahnjukar-Staudamm. Island hat weit mehr Energie, als es selber braucht. In Reykjavik kann man an den Strand gehen und im Meer schwimmen. Das Nordmeer wäre bei rund fünf Grad natürlich etwas kalt für Badespaß, aber die Isländer haben vorgesorgt. In einer kleinen Bucht mischen sie das Meerwasser mit heißem Wasser aus der Tiefe. Auch Heizenergie und Strom gewinnt man in Island aus dem heißen Wasser unter der Erde, und wo das nicht reicht, wie zum Beispiel im Osten des Landes, gibt es Wasserkraftwerke. In Island werden Strom und Wärme völlig ohne fossile Energieträger hergestellt, Energie kostet die glücklichen Isländer prak­tisch nichts. »Sind die Isländer glücklich?« fragte eine englischsprachige Wochenzeitung in Reykjavik. Ausgangspunkt war eine Statistik, derzufolge die Isländer die glücklichsten Menschen der Welt sind. Ohne Frage sind sie wohlhabend, sie haben die dritthöchste Wirtschaftsleistung pro Kopf, auf dem Human Development Index der Uno belegen sie den zweiten Platz. Die monatliche Sozialhilfe beträgt 900 Euro, es herrscht Arbeitskräftemangel. Bis vor einiger Zeit allerdings konzentrierte sich die ökonomische Aktivität der Insel auf Reykjavik und Akureyri im Norden. Im Osten des Landes, 800 Kilometer von Reykjavik entfernt, wo bloß die Fischindus­trie dahinsiechte, gab es nichts zu tun. Landflucht setzte ein, Dör­fer schrumpften und drohten auszusterben. Die Gemeinden im Osten überzeugten die Regierung, dass etwas geschehen muss. Ein Staudamm und eine Aluminiumfabrik, die die Elektrizität des Staudammes nutzt, so etwas hatte man zuvor in kleinerem Umfang im Westen des Landes realisiert. Mit dem größten Aluminiumproduzenten, der US-Firma ­Alcoa, fand man ­einen an billiger Energie interessierten Partner. Das Unternehmen wollte Aluminiumschmelzen in Norwegen und den USA stilllegen, wo der Strom zu teuer geworden war. Die Suche nach einem Ort für den Damm begann bereits Ende der neunziger Jahre. Im Jahr 2001 wurde der erste Vorschlag endgültig abgelehnt. Zu viele Isländer nutzen die betroffene Region für Ausflüge und wollten sie nicht verlieren. Der zweite Vorschlag, Karahnjukar, löste zunächst weniger Kritik aus. »Die Leute kennen die Gegend nicht, die hier überflutet werden soll, niemand interessierte sich dafür, und lokal schien es nur Befürworter zu geben«, erklärte mir Helena. Dabei hatten die Umweltverträglichkeitsprüfer der is­län­dischen Umweltbehörde auch den zweiten Stand­ort verworfen. Der Umweltminister über­ging jedoch seine eigene Behörde und genehmig­te das Projekt, die Elfenexperten wurden nicht gefragt. Seit dem Jahr 2003 sind der Damm und die Fabrik beschlossene Sache und es wird gebaut. »Viele Leute waren zunächst desillusioniert, und die Sache ging ihren Gang. Aber seit zwei Jahren wächst der Widerstand wieder. Alcoa und die Regierung planen mehr Aluminium­fabriken und Dämme. Außerdem ist jetzt einfach deutlich geworden, welchen Effekt die Baustelle auf den Osten Islands hat. Geh, schau es dir an«, hatte Helena gesagt. Der Vorteil am Trampen ist, dass man mit Einheimischen in Kontakt kommt. Es gibt natürlich auch Nachteile. Ich stehe mal wieder an so einer verlassenen Stelle im Niemandsland an einem der Ost­fjorde. Es ist sieben Uhr am Abend, es nieselt, ich bin etwas müde. Wenigs­tens wird es hier nicht früh dunkel. Nach einer sehr langen Viertelstunde kommt das erste Auto, es hält an. »Was machst du denn hier?« fragt mich lachend ein junges Pärchen im Jeep. Es ist auf dem Weg nach Faskrudsfjördur. Hilmar stammt von dort, er lebt schon lange in Reyk­javik und hat seine Freundin mitgebracht für das Sommerfest, die große Zusammenkunft von Freunden und Familien im Dorf. Ich entschließe mich mitzukommen. Am großen Feuer werden isländische Volkslieder gesungen, die sich anhören wie deutsche Volkslieder mit isländischen Texten, alle Generationen nehmen teil daran. Später gibt es noch ein Feuerwerk. Der Ort ist eines dieser Fischerdörfer, das die Regierung mit dem Dammprojekt retten wollte. Im Nachbarfjord wird die Schmelze gebaut. »Ohne den Damm und die Fabrik gäbe es dieses Fest nicht«, jubelt Hilmars Bruder. Er ist Klempner und vor zwei Jahren zurückgekehrt nach Faskrudsfjördur, denn es gibt hier Arbeit für ihn, in der Aluminiumfabrik, in der Betonfabrik, die gebaut wurde, um die Aluminiumfabrik zu bauen, in den Häusern, die gebaut werden, um die Arbeiter unterzubringen. »20 Jahre lang wurde hier kein Haus gebaut, jetzt bauen sie überall«, freut er sich. Am nächsten Morgen befinde ich mich auf dem Weg zum Dammprojekt. In Egilsstadir, der kleinen Provinzhauptstadt des Ostens, herrscht offensichtlich auch ein Bauboom. Ich stoppe beim Schwimmbad und treffe auch hier auf einen Einwohner. Während wir im 42 Grad warmen Pool schwitzen, outet er sich als Dammgegner. »Ich war immer dagegen, meine Frau und meine Freunde auch«, sagt er. »Aber am Anfang haben wir nichts gesagt. Es war klar, dass etwas passie­ren musste hier, ökonomisch, und wir wollten nicht die Miesepeter sein.« Derzeit bringt er alle seine Bekannten aus Island und dem Ausland in die Gebiete, die überflutet werden sollen. Und er erzählt von zwei Frauen, die professionelle Touren anbieten: Besuchen Sie Karahnjukar, solange es noch geht. »Der Boom ist eine Seifenblase: Mil­liarden von Euro werden in der Region verbaut, natürlich gibt es da einen Boom. Die Frage ist, ob das von Dauer ist.« Arbeiter und Inge­nieure aus Polen, China, Portugal und Italien besorgen den Aufbau von Damm und Fabrik. Sie leben buchstäblich in trans­nationalen Zonen, außerhalb des islän­dischen Sozialsystems und mit an die Vermittlungs­firmen geknüpfter Aufenthaltserlaub­nis. »Natürlich verschwinden diese Jobs, wenn die Sache fertig ist. Was bleibt, sind dann bloß die Beschäftigten in der Schmelze, Abgase und eine überflutete Landschaft. Und dass einige unserer Politiker sehr viel reicher sind als zuvor.« Eineinhalb Stunden von Egilsstadir entfernt, oben in den Bergen, liegt das Protestcamp der »Freunde Islands«. Hier treffe ich Helena wieder, wir gehen zum Aussichtspunkt der Dammbaustelle. Von hier wollen die rund 100 internationalen Umweltaktivisten des Protestcamps einen Picknickausflug unternehmen. Ich sehe den Damm das erste Mal, riesengroß ist er und fast fertig. »Wir hören eine Menge dieser Kritik, dass die Protestierenden alle Ausländer seien. Aber das ist wirklich ironisch. Alles ist global an dieser Baustelle, das Kapital, die Arbeit, aber der Protest soll plötzlich nicht authentisch sein, weil er auch von Ausländern getragen wird.« Das Protestcamp hält die isländische Polizei auch heute wieder in Atem. Mit ihren 673 Männern im ganzen Land regelt sie normalerweise nur den Verkehr. Europäische Ökoaktivisten, die sich auch gerne mal an den Bull­dozer ketten, sind eine neue Herausfor­de­rung für das kleine Sonderkommando, die Viking Squad, die eigentlich bei Bankeinbrüchen und Entführungen ein­gesetzt wird. Mühelos springen die Protestierenden an den schüchternen Beamten vorbei. Erst als wir schon beinahe an der Staumauer angekommen sind, hat die Polizei genug Leute beisammen, um den Protest zu stoppen. Es gibt ein paar Ran­geleien, ein bisschen Geschubse, und die isländischen Medien berichten am nächsten Tag wie üblich. Allerdings gibt es auch sonst nicht viel zu berichten in Island. »Der Protest hat immer mehr Rückhalt in der isländischen Gesellschaft gefunden«, sagt Helena. »Wir hatten im Mai eine Demonstration mit 3 500 Leuten, eine der größten des Landes. Inzwischen lehnt die Hälfte aller Isländer den Damm und die Schmelze ab.« Ich bin vom Picknick müde. Im Protestcamp spielt am Abend die isländische Band Sigur Rós. Die haben gerade eine Welttournee hinter sich, sind erfolgreich und auch gegen den Staudamm. Ihre Musik klinge, wie isländische Landschaf­ten aussehen, sagen die Fans. Die Ökoaktivisten werden zu Festivalbesuchern, die Location ist außergewöhnlich schön und sehr vergänglich. Wenn die Elfen nicht doch noch eingreifen, wird das riesige Staubecken ab Ende September geflutet.
Fabian Frenzel
Fabian Frenzel:
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Reportage
16.08.2006
https://jungle.world//artikel/2006/33/elfen-brauchen-kein-aluminium?page=0%2C%2C1
Klima retten ohne Atomkraft
Wer die Berichterstattung vieler einflussreicher Medien zum Klimawandel verfolgt, könnte den Eindruck gewinnen, dass die Nutzung von Atomenergie neu diskutiert werden müsse. Ein ums andere Mal wiederholen mehr oder weniger wichtige Autorinnen und Autoren mehr oder weniger gleiche Fragen: Kann man angesichts der fortschreitenden Erderwärmung auf eine Energieform verzichten, die so wenige Treib­hausgasemissionen verursacht? Können die erneuerbaren Energien eine Grundversorgung unabhängig von fluktuierenden Wetterbedingungen garantieren? Wurde der deutsche Atomausstieg nicht zu schnell und unüberlegt beschlossen? Haben wir inzwischen nicht eine neue Situation? Wissenschaftler haben die Warnung ausgesprochen, die Erwärmung der Flüsse werde den Atomkraftwerken Probleme bei der Kühlung ihrer Anlagen bereiten. Nicht immer, aber immer öfter sind die Fragen rhetorisch gemeint. Die Atom­lobby hat den Klimawandel als überaus nützliches Argument entdeckt. Sie möchte die Regierungen und Parlamente bewegen, die Laufzeiten betagter Meiler zu verlängern und teure neue Projekte zu finanzieren. Ihr Interesse ist freilich so vordergründig, dass man den Lobbyisten wenig Glauben schenkt. Deutlich mehr Aufmerksamkeit erzielen ehemalige Umweltschützer oder Grüne, wenn sie sich von ihren vermeintlichen Jugendsünden lossagen und für eine »unvoreingenommene«, »ideologiefreie« Auseinandersetzung mit der Kernkraft plädieren. Die größten Schlagzeilen machte jedoch ein anderer: Bill Gates, Microsoft-Gründer, Unternehmer und Stifter, begab sich im Frühjahr auf Tour, um für neue, »revolutionäre« Reaktoren zu werben – und für seine eigene Nuklearfirma. Wäre es nicht möglich – fragt Gates –, Atomkraftwerke zu bauen, die absolut sicher seien, billig in der Herstellung, leicht zu bedienen und keinen strahlenden Müll hinterlassen? Wäre das nicht ein entscheidender Beitrag für eine klimaschonende Zukunft – ohne auf den Komfort verzichten zu müssen, den eine Industriegesellschaft bietet? Gates glaubt an eine Wende in der Nukleartechnik, vergleichbar mit der maßgeblich von ihm beeinflussten Wende, die in der Computertechnik tatsächlich stattgefunden hat: Kleine und dezentral zu betreibende Reaktoren sollen die Lösung sein. Sein Vorstoß führte zu einer Konjunktur nuklearer Start-up-Firmen, die sich nun mit Entwürfen von kleinen Modulreaktoren, Flüssigsalzreaktoren, Laufwellenreaktoren – unterirdisch, überirdisch oder auf See – gegenseitig überbieten. Wäre es nicht toll, wenn so etwas funktionieren würde? Die konjunktivische Nuklearenergie befindet sich im Aufschwung. Man wird doch träumen dürfen! Aber beim Träumen bleibt es nicht. Gates’ Ansage, die USA müssten bei der Atomenergie wieder die Führung übernehmen, übt auf dortige Politikerinnen und Politiker eine unwiderstehliche Anziehung aus. Der US-Senat hat am 10. August einem Infrastrukturprogramm in Höhe von fast einer Billion US-Dollar zugestimmt. Kritikerinnen und Kritikern wie der NGO Nuclear Information and Resource Service (NIRS) zufolge enthält es zwölf Milliarden US-Dollar, mit denen bestehende Atomkraftwerke für längere Laufzeiten gerüstet und auf der Kippe stehende Neubauten gerettet werden sollen. Beträchtliche Summen werden außerdem für die Forschung und Entwicklung zukünftiger Reaktorgenerationen bereitgestellt, zu denen sich Energieministerin Jennifer M. Granholm ausdrücklich bekennt: »Die Nuklearenergie ist für Amerikas saubere Energiezukunft von entscheidender Bedeutung und wir setzen uns dafür ein, sie für Gemeinden im ganzen Land leichter zugänglich (…) zu machen.« Ähnliches plant die Regierung von Premierminister Boris Johnson für Großbritannien (siehe Neuer Streit über die britische Atompolitik), während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nicht müde wird, der Nuklearindustrie des Landes seine Unterstützung zuzusichern, an der ohnehin nie jemand gezweifelt hat. Derweil schauen Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Union, und sein Schattenminister Friedrich Merz mit einer Mischung ­aus Neid und Bewunderung auf die Partnerländer. So möchten sie auch gern regieren können. Die Feststellung, dass die in Frage stehenden Milliarden an US-Dollar, Pfund oder Euro beim Ausbau der erneuerbaren Energien fehlen werden, wo sie einen enormen Sprung nach vorne bewirken könnten, erübrigt sich beinah. Ob dieser Aussichten blättert man gespannt im jüngst veröffentlichten neuesten Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen), oft auch Weltklimarat genannt, um herauszufinden, welche Rolle die internationale Wissenschaftsgemeinde der Atomkraft zubilligt. Doch dazu gibt der fast 4 000 Seiten starke Bericht nur zwei knappe, allerdings nicht unbedeutende Hinweise. Zum einen wird die Warnung ausgesprochen, die Erwärmung der Flüsse werde den Atomkraftwerken Probleme bei der Kühlung ihrer Anlagen bereiten. An anderer Stelle wird die Frage erörtert, welche unvorhersehbaren Ereignisse die Prognosen beeinträchtigen könnten, die der IPCC erarbeitet hat: Ei­ne weltweite Pandemie oder eine Serie von Naturkatastrophen könnten das Tempo der Erderwärmung unvermutet drosseln. Auch ein Atomkrieg würde zu einer substantiellen Abkühlung des Planeten führen. Dieses Szenario ist als »nuklearer Winter« bekannt und erforscht. Einem solchen ist die Erderwärmung bislang vorzuziehen.
Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel: Atomenergie hilft nicht gegen die Erderwärmung
[ "USA", "Atomkraft", "Klimawandel" ]
Ausland
19.08.2021
https://jungle.world//artikel/2021/33/klima-retten-ohne-atomkraft?page=0%2C%2C0
Schmetterlinge des Sozialismus
Stefan Pribnow hat große Pläne. Kei-ne vier Jahre ist es her, da konnte der Herausgeber, Redakteur und Layouter der Kalaschnikow nur knapp 300 seiner "kommunistischen Zeitungen" unter den Studierenden der Freien Universität Berlin (FU) absetzen. Seit zwei Wochen nun ist das Blatt mit einer Auflage von 10 000 Exemplaren bundesweit am Kiosk erhältlich. Ge-blieben ist der Untertitel: "Schmetterlinge des Sozialismus". Und freilich die Kalaschnikow. Die Knarre sei schließlich überall bekannt. Der einstige Werbespruch - "radikaler als die Radikal" - mußte aber einer neuen Marketing-Strategie weichen: "Man kann links neben dem Spiegel noch ein Blatt positionieren", phantasierte er jüngst in der Berliner Zeitung. Dumm nur, daß sich Pribnow ausgerechnet mit dem Alt-68er Bernd Rabehl eingelassen hat, der seit Mo-naten mit seinen rechtsextremistischen Äußerungen für Aufregung sorgt. Daß der FU-Professor befürchtet, in Deutschland sei niemand auf "den inneren und äußeren Krieg" vorbereitet, der durch "massive Einwanderung" auf "die asylgewährenden Länder übertragen" werde, fand der Kalaschnikow-Macher so wichtig, daß er für Rabehls Weisheiten gleich mal Platz auf seinen Web-Seiten freischaufelte. Sämtliche Artikel Ra-behls seit seinem rassistischen Coming-out vor der Münchner Burschenschaft Danubia im Dezember 1998 waren fortan auf Partisan.net im Internet zu finden. Und damit kein Zweifel aufkommt, hat sich Pribnow gleich als Rabehl-Verleger aufgespielt und die Texte mit einem Copyright belegt. Das alles gefiel dem Provider natürlich überhaupt nicht. Partisan.net forderte den "Politmagazin"-Chef auf, die "völkischen und rassistischen" Artikel zu löschen. Nach der Androhung der fristlosen Kündigung entfernte Pribnow schließlich am 9. Juni die drei Rabehl-Texte (Jungle World, Nr. 25/99). Freilich nicht, ohne nachzutreten: "Es gibt in diesem Land mehr als genug Faschisten. Wir brauchen uns keine zusätzlichen zu backen. Deshalb werden wir die Auseinandersetzung führen. Auch mit B. Rabehl." Aber daran hatte Pribnow sowieso keinen Zweifel gelassen: Anfang Juni traf er sich mit dem Professor ganz öffentlich zum Plausch über dessen Thesen im Haus der Demokratie. Vorab ließ er wissen: "Gesinnungspolizisten mögen draußen bleiben." Mit denen aber muß sich Rabehl nun um so mehr in seinen eigenen Gefilden auseinandersetzen. Letzte Woche erlaubte das Berliner Landgericht Rabehls Kollegen am Otto-Suhr-Institut, Gero Neugebauer, die rassistischen Sätze des gewendeten Altlinken beim Danubia-Treffen als "Aufruf zur Kriegsvorbereitung" zu bezeichnen. Dies sei durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt, auch wenn die Richter Rabehls Rede nicht so interpretieren wollten.
frieder karlow
frieder karlow: Antifa heißt Kauderwelschen
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Antifa
23.06.1999
https://jungle.world//artikel/1999/25/schmetterlinge-des-sozialismus?page=0%2C%2C2
Der analoge Mann
»Tja, äh, eine Sache muss ich dir noch erzählen«, sage ich zu Julia. Wir sitzen am Samstagvormittag in der Küche und malen. Zwischendurch mache ich Kaffee, und weil ich ­dabei vor dem Regal mit den Gewürzen stehe, räume ich die ein wenig auf. »Am Donnerstag, als ich zur Villa Neukölln gefahren bin und es so glatt war … « »Bist du gestürzt!« unterbricht mich Julia. »War klar ge­wesen«, sagt sie ärgerlich. »Also, was ist passiert?« »Ja, warte. Eines nach dem anderen«, antworte ich. »Also, du kommst rein … « sagt Julia. Eine Art Code-Wort zwischen uns, das klarstellen soll, dass man dem anderen die ganze Geschichte von Anfang an und chronologisch erzählen soll. »Auf der Hinfahrt war ich sehr vorsichtig«, sage ich. »Zuerst habe ich das Rad mit der Platten­kiste noch den Berg hochgeschoben, dann bin ich aber langsam weiter und auch gut durchgekommen. Zweimal wurde ich von Fußgängerinnen darauf hingewiesen, dass es spiegelglatt ist. Von einer sogar mit einer gewissen Empörung. Außer mir war niemand mit dem Fahrrad unterwegs. Die Villa war natürlich noch leer. Es war viel zu gefährlich draußen. Die Leute kamen alle erst später, als es taute. Natürlich war nicht alles in Ordnung und alles gut. Hilfe hätte ich gut gebrauchen können. Dann wurde der Abend aber echt super. Ich habe ganz gut aufgelegt, die Leute waren zufrieden und ich blieb viel zu lang. Um zwei war ich endlich umgezogen und hatte meine Platten­kiste auf dem Gepäckträger festgeschnallt. Draußen war es aber mittlerweile wieder spiegelglatt. Sehr langsam schob ich mein Fahrrad mit der schweren Plattenkiste vorwärts, als ich vor mir eine junge Frau sah, die in kleinen Schritten auf dem Fahrradweg ging. Ich versuchte noch, ihr auszuweichen und rutschte sofort mit dem Fahrrad aus. Krachend zerbrach meine Plastikkiste und ich fiel auf mein Bein.« »Hast du dir weh getan?« fragte Julia entsetzt. Ich schiebe meine Hose ein wenig herunter und zeige ihr meine Schürfwunde am Oberschenkel: »Nicht so schlimm. Ich hatte riesiges Glück. Die Frau hat sich überrascht umgedreht und mich wortlos angeguckt. Als ich ›Ist schon in Ordnung. Nichts passiert. Alles gut‹ gesagt habe, ist sie sofort weitergegangen. Natürlich war nicht alles in Ordnung und alles gut. Hilfe hätte ich gut gebrauchen können. Das Fahrrad mit der zerbrochenen Plattenkiste aufzurichten, hat bestimmt zehn Minuten gedauert, weil es so glatt war. Ich bin später grimmig an ihr vorbeigefahren, während sie schuldbewusst gelächelt hat. Aber dann bin ich gut nach Hause gekommen und die Platten sind auch alle heil ge­blieben. Ich hatte verdammt viel Glück.« Als ich meinen letzten Satz beende, fällt ein kleines Gewürzglas (Kurkuma), das ich nicht richtig abgestellt hatte, vom Regal und schlägt auf der Ceranplatte des Herdes auf. Das Gewürzglas bleibt ganz, aber die Glaskeramik ist kaputt. »So ein verfluchter Mist!« Unser schöner, gemütlicher Maltag in der Küche ist beendet. Julia googelt und landet schnell bei Megakurzschluss und Starkstromschlag. Deshalb fahre ich sofort zum »Mediamarkt«, um für 30 Euro eine elektrische Kochplatte zu kaufen. Ich nehme natürlich mein Fahrrad. Es ist kalt und es ­regnet, aber wenigstens sind die Straßen nicht mehr glatt.
Andreas Michalke
Andreas Michalke: Glatteis und Glaskeramik
[ "Der analoge Mann" ]
dschungel
18.01.2024
https://jungle.world//artikel/2024/03/der-analoge-mann?page=0%2C%2C1
Action
Donnerstag, 21.August Jena. »Nazifeste verhindern – aber wie!« Für den 13. September planen Neonazis in Jena das internationale Rechtsrockfestival »Fest der Völker«. Vertreter der Jenaer Antifa informieren über die Hintergründe und den Protest. Im »Kassablanca Gleis 1«, Felsenkellerstrasse 13a, um 19.30 Uhr. jena.antifa.net Berlin. »Dem Vaterland Europa in den Rücken fallen – Gegen das Fest der Völker«. Veranstaltung zum geplanten neofaschistischen »Fest der Völker« und den Antifa-Protesten dagegen. Im »Vetomat«, Scharnweberstr. 35, um 19 Uhr. Berlin. »Kopfschüsse – Wer Pisa nicht versteht, muss mit Rütli rechnen.« Brigitte Pick, die ehemalige Rektorin der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, liest aus ihrem Buch »Kopfschüsse« und zeigt, wie aus Schulverlierern Schulversager gemacht werden, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen haben. Im »Tristeza«, Pannierstr. 5, um 20 Uhr. Trier. »Der Großmufti von Jerusalem«. Eine Veranstaltung mit dem Politikwissenschaft­ler Klaus Gensicke zu antisemitischen »Befreiungsbewegungen« und ihrem Verhältnis zu den Na­tionalsozialisten am Beispiel des Großmuftis von Jerusalem. Im Vortragsaal der VHS Trier, Dom­freihof 1, um 20 Uhr. www.a3wsaar.de Freitag, 22.August Hannover. »Kein Frieden mit der 1. Panzerdivi­sion! Kein Frieden mit der Bundeswehr!« Protestkundgebung gegen das Sommerbiwak der ersten Panzerdivision des deutschen Heeres. Treffpunkt: vor dem Stadtpark, um 17 Uhr. Berlin. »Für offene Grenzen«. Die Gruppe »Alliance of Struggle« veranstaltet wöchentlich eine Mahnwache vor dem »Abschiebegewahrsam Berlin-Grünau«, Grünauerstr. 140, um 17 Uhr. Berlin. »Junk Word«. Feierliche Eröffnung der Ausstellung der Comicstrips der Jungle World. Mit den Stars Andreas Michalke (Bigbeatland), Minou Zaribaf (Rockrätseln), Fil (Mädchenworld), Naatz (Lilli und Poldi) und anderen. Im Neuro­titan, Haus Schwarzenberg, Rosenthalerstr. 39, ab 20 Uhr. Samstag, 23.August Düsseldorf. »Alter Hunger, neuer Hunger – warum eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Marktwirtschaft plötzlich in die Schlagzeilen gerät«. Diskussionsveranstaltung der Gruppe »Gegenargumente« zum Zusammenhang von Massenverelendung und Wirtschaftsboom. Im »Kulturcafé Solaris«, Kopernikusstr. 53, um 17 Uhr. Montag, 25.August Trier. »Das Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus in der DDR und den Volksdemo­kratien«. Thomas Haury, Soziologe und Historiker, spricht im Rahmen der Ausstellung »Antisemitismus in der DDR«. Im Vortragsaal der VHS Trier, Domfreihof 1, um 20 Uhr. www.a3wsaar.de Tipp der Woche Samstag, 23.August, Berlin. »Ganeshas Krieger gegen deutsche Neonazis«. Da rastet auch der freundlichste Yogi aus! Weil der bundesweite, faschistische »Rudolf-Heß-Marsch« verboten bleibt, planen Neonazis eine Veranstaltung in Berlin-Neukölln. Dort wollen sie gegen den Bau des Tempels des knuddeligen, hinduistischen Elefantengotts Ganesha protestieren. Das gibt nicht nur Ärger mit der Antifa, sondern auch ganz, ganz mieses Karma! Treffpunkt: U-Bhf. Blaschkoallee, 12 Uhr. www.antifa-neukoelln.de.vu
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Antifa
21.08.2008
https://jungle.world//artikel/2008/34/action
Wer die Folgen trägt
Frauen und Kinder trifft die Pandemie besonders hart. Ende April 2020 konnten nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) weltweit etwa 1,5 Milliarden Kinder und Jugendliche nicht in die Schule gehen, Anfang Dezember waren es Unicef zufolge immer noch rund 320 Millionen Kinder. Viele Kinder haben so nicht nur den Kontakt zu ihren Freunden verloren oder müssen auf die einzige richtige Mahlzeit am Tag verzichten. Oft sind sie auch komplett vom Lernen ausgeschlossen, weil digitaler Unterricht nicht ermöglicht wird – es fehlen gute Internetverbindungen, Geräte und Betreuung. Weltweit haben Frauen auch vor der Pandemie bereits zwei Drittel der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit geleistet. Die Mehrbelastungen, die durch Schul- und Kitaschließungen entstanden, werden vor allem von ihnen getragen. Dies war auch in Deutschland nicht anders: Über zehn Stunden verbrachten Frauen im ersten lockdown durchschnittlich täglich mit Reproduktionsarbeit. Zwei Drittel der Mütter von Kindern unter 13 Jahren gingen in dieser Zeit zudem noch einer Lohnarbeit nach. Entweder haben sie wohl aufs Schlafen verzichtet oder ihre Arbeitszeit deutlich reduziert. Dem Wirtschaftsstandort Deutschland ging dadurch aus Sicht von Staat und Kapital zu viel Arbeitskraft verloren, weswegen Politikerinnen und Politiker nach den Sommerferien ihr Herz für die Emanzipation der Frau und für benachteiligte Kinder entdeckten. Deren Problemen sollte mit der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts begegnet werden. So saßen wieder oftmals über 30 Schüler und Schülerinnen in einem Klassenraum beieinander, die Infektionsgefahr sollte durch Lüften gebannt werden. Wenn es Covid-19-Fälle an Schulen gab, hätten sich die Kinder jedenfalls nicht dort angesteckt, war aus den Kultusministerien zu hören – Schulen und Kitas seien keine »Infektionsherde«. Die Bildungsverwaltungen verunmöglichten jeden Versuch der Lehrenden oder Lernenden, alternative Beschulungsformen wie Hybridunterricht oder geteilte Klassen zu etablieren. Begründet wurde dies jedes Mal damit, dass Entlastung für berufstätige Eltern nötig sei und Nachteile für ohnehin benachteiligte Kinder vermieden werden müssten. Letzteres darf vor dem Hintergrund des segregierten Bildungssystems in Deutschland wohl in vielen Fällen als vorgeschobenes Argument betrachtet werden. Es ist vielmehr die in Deutschland verbreitete Vorliebe für direkte Kontrolle, verbunden mit der Neigung des Staates, Lasten auf die Bürger abzuwälzen, um derentwillen die Präsenz erzwungen werden soll. Nun aber sitzen Eltern und Kinder wieder alle zusammen zu Hause. Gerade die Frauen wissen oft nicht, wo ihnen der Kopf steht und wie sie die kommenden Wochen bewältigen sollen. Hätten die Verantwortlichen jedoch eine langfristige Strategie entwickelt, wäre es durchaus möglich gewesen, für alle Kinder eine den Pandemiebedingungen angemessene Betreuung zu etablieren: Die Präsenzpflicht aufzuheben und für Schüler ab der 7. Klasse digitalen oder hybriden Unterricht anzubieten, hätte eine Perspektive geboten. In Los Angeles funktioniert durchgängiger Online-Unterricht sogar für alle Jahrgangsstufen: Das County hat jedem Kind ein Tablet und den notwendigen Internetzugang finanziert; selbst das Schulessen wird für die, die es benötigen, mit einem Fahrdienst nach Hause geliefert. In Dänemark wurden die Klassen bereits im Frühjahr geteilt und mehr Personal eingestellt, so konnten auch bei steigenden Infektionszahlen Kitas und Grundschulen für Kinder, die ihrer bedürfen, geöffnet bleiben; die anderen bekamen parallel Online-Unterricht. In Kroatien findet der Unterricht teilweise über das Fernsehen, teilweise über die Internetseite des Bildungsministeriums statt. In Deutschland hat der Präsenzzwang dagegen Chaos mitverursacht, auf Kosten der Frauen und der benachteiligten Kinder und wahrscheinlich auch – oh Graus! – zum Schaden der Wirtschaft.
Andrea Trumann
Andrea Trumann: Das Schulchaos belastet Frauen und Kinder am stärksten
[ "Pandemie", "Covid-19", "Schule" ]
Thema
07.01.2021
https://jungle.world//artikel/2021/01/wer-die-folgen-traegt
Nachrichten
Unmenschliche Behandlung Österreich. Einen Menschen mit gefesselten Armen und Beinen bäuchlings auf dem Boden zu fixieren, auf ihm herumzutrampeln und ihn zu beschimpfen, ist unmenschlich und verstößt auch in Österreich gegen das Gesetz. Das bestätigte vergangene Woche der Unabhängige Verwaltungssenat in Wien. In dem Verfahren ging es darum, ob bei der Festnahme des mauretanischen Migranten Cheibati W. im Juli des vergangenen Jahres gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstoßen wurde. Richter Wolfgang Helms wertete das Vorgehen der Polizeibeamten als eindeutigen Bruch der Konvention. Die grobe und unnötige Fixierung habe das Leben von W. »akut und konkret« gefährdet. W. war bei dieser Festnahme gestorben. Der Vorsitzende der Wiener FPÖ, Hilmar Kabas, wetterte nach dem Richterspruch, dies sei ein »ideologisch motiviertes Urteil durch ein Polittribunal. Drogenkriminelle, vor allem schwarzafrikanische, werden in Zukunft noch weitaus unverschämter und aggressiver agieren, als es schon bislang der Fall ist.« Die sechs Beamten, die an der Tat beteiligt waren, verweigerten vor dem Senat die Aussage. Gegen sie, einen Notarzt und mehrere Sanitäter ermittelt die Staatsanwaltschaft. Es ist weiterhin unklar, ob Anklage erhoben wird. Für die Rechte. Bedingungslos Europaweit. Die Idee entstand während des Europäischen Sozialforums in Paris. Am vergangenen Samstag fand in elf europäischen Ländern ein Aktionstag gegen Abschiebelager, für Bewegungsfreiheit und für die Legalisierung aller Papierlosen innerhalb der europäischen Grenzen statt. Die »bedingungslose Neuregelung der Situation aller Menschen ohne Papiere im gesamten Europa« ist eine der zentralen Forderungen der Initiatoren, die die Schließung aller Internierungslager, die Abschaffung des Schengener Abkommens, die Anerkennung der Staatsangehörigkeit nach Aufenthaltsort und das Recht auf Asyl in allen EU-Ländern fordern. In London protestierten die Demonstranten gegen die Tageszeitung Daily Mirror, die fremdenfeindliche Positionen vertritt. Vor einem Abschiebeknast in Doncaster fand eine »Noise-Demo« mit Musik statt. In Paris besetzten 100 Sans Papiers das Gebäude des Wirtschafts- und Sozialrates; in Rom demonstrierten 5 000 Migranten für das Recht auf Arbeit und Wohnung. In Athen gingen etwa 3 000 Leute auf die Straße. Weitere Demos fanden in Brüssel, Genf, Barcelona und Lissabon statt. Noch nicht immun Frankreich. Zu schade für Alain Juppé, dass es in Frankreich nicht zwei Staatspräsidenten gibt. Dann hätte er, der bis vergangene Woche als potenzieller Nachfolger von Jacques Chirac im Gespräch war, keinen Ärger am Hals. Am Freitag verurteilte ihn ein Strafgericht in Nantes zu 18 Monaten Haft auf Bewährung. Es wird ihm vorgeworfen, er habe als Finanzdirektor im Pariser Rathaus von 1988 bis 1995 davon gewusst, dass gaullistische Parteifunktionäre zu Unrecht als kommunale Angestellte bezahlt wurden. Chirac war zu der Zeit Pariser Bürgermeister, aber jetzt ist er Staatspräsident und genießt in dem Korruptionsverfahren Immunität. Das Gericht hat Juppé für die nächsten zehn Jahre von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Der ehemalige Premierminister, der während des Verfahrens unaufhörlich seine Unschuld beteuerte, legte gegen das Urteil Berufung ein. Gegen das Erinnern Italien. Dass die Italiener Fußball lieben, ist bekannt. Dass Fußball für eine gute Sache steht, passiert selten. Wie am vergangenen 27. Januar, am »Tag des Erinnerns« an die Opfer des Holocaust. Um die Einrichtung eines Shoah-Museums in Rom zu unterstützen wurde das Gedenken an den Holocaust erstmals auch in ein Fußballstadion getragen. Im Olympiastadion der italienischen Hauptstadt spielten Journalisten gegen TV-Stars am vergangenen Dienstag ein »Fußballspiel des Erinnerns«. Auf ihren Trikots konnte man lesen: »Tag des Erinnerns, um nicht zu vergessen.« Alle Institutionen und politischen Akteure der Hauptstadt begrüßen die Schaffung eines Shoah-Museums. Um den Sitz der zukünftigen Gedenkstätte ist jedoch ein heftiger Streit entbrannt, denn das Gebäude, in dem sie untergebracht werden soll, ist derzeit besetzt. Es handelt sich jedoch nicht um ein »typisches« italienisches »centro sociale«, sondern um ein rechtes »soziales Zentrum«. Die Besetzer bekennen sich zu obskuren Formeln wie: »Tradition und Modernität durch kommunitaristische Erfahrung verbinden.« Was auch immer das bedeuten mag, die Neofaschisten werden vom rechten Flügel der Regierungspartei Alleanza Nazionale unterstützt. Er kritisiert die Versuche seines Vorsitzenden Gianfranco Fini, die Partei von ihrer faschistischen Vergangenheit zu rehabilitieren. Von einer Räumung der Besetzer wurde bislang weniger geredet als von einem alternativen Sitz für das Shoah-Museum. Sechsmal am Tag Großbritannien/Schweiz. 24 000 Joints in elf Jahren. Das macht circa sechs am Tag. Das hat nach Meinung eines britischen Gerichtsmediziners im vergangenen Sommer zum Tod des 36jährigen Lee Maisey geführt. Diagnose: THC-Vergiftung. Die Nachricht von dem ersten Cannabis-Toten hatte nicht wenige beunruhigt. Aber inzwischen kann man sich entspannen: Kiffen tötet nicht. Das ist zumindest das Urteil von Rudolf Brenneisen vom Department für klinische Forschung der Universität Bern, der in seiner Beurteilung des britischen toxikologischen Gutachtens im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit zum Ergebnis kam, die Feststellung einer »Cannabis-Intoxikation« als Todesursache sei eine Fehldiagnose gewesen. Maisey starb im August, und da die Autopsie keine Hinweise auf eine mögliche Todesursache ergab, wurde eine toxikologische Untersuchung geführt, bei der THC-Spuren festgestellt wurden, was nur so viel bedeutet: Der Mann hat vor seinem Tod gekifft. In seinem Bericht stellte Brenneisen fest, die medizinischen Beweise für eine tödliche Cannabis-Vergiftung seien dürftig und nicht beweiskräftig.
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Ausland
04.02.2004
https://jungle.world//artikel/2004/06/nachrichten-1?page=0%2C%2C0
Schade um den Weihnachtsmarkt?
Da kommt Freude auf. In vielen deutschen Städten wurden die Weihnachtsmärkte auch in diesem Jahr abgesagt Weihnachtsmärkte halten viele Zumutungen bereit, doch ihr Nutzen für Individuum und Gesellschaft sollte schwerer wiegen als das ästhetische und kulinarische Verdikt. Weihnachtsmärkte sind toll: all die roten Sterne, die plötzlich in deutschen Innenstädten hängen, ohne dass man dafür extra einen Weltkrieg hätte verlieren müssen! All die alten, weißen Männer, die endlich wieder die Chance bekommen, sich mit rotem Wams und falschem Bart von ihrer nichttoxischen Seite zu zeigen! Und die vielen bunten Lichter erst, die uns die dunkle Jahreszeit erhellen! Ach … Sicher, in erster Linie dienen Weihnachtsmärkte kommerziellen Interessen. Aber das muss ja nicht schlecht sein. Wer beispielsweise seine private ­Altersversorgung auf Aktien von Insulinproduzenten aufgebaut hat, sollte doch größtes Interesse daran haben, dass die Menschen zum Jahresende hin noch mal ordentlich mit übersüßten und fetttriefenden Nahrungsmitteln geboostert werden. Oder nehmen wir diesen ganzen selbstgebastelten Krimskrams, den zwar kein Mensch braucht, dessen Herstellung aber ­Tausende von schwäbischen oder sächsischen Kunsthandwerkern so in ­Anspruch nimmt, dass ihnen kaum noch Zeit bleibt, ihrer Impfparanoia auf Telegram oder Facebook Luft zu machen. Die Natur hat uns als soziale Wesen designt. Wozu besoffen rum­­grölen, wenn es keine Zuhörer gibt? Auch helfen Weihnachtsmärkte den Winzern zuverlässig dabei, ihren misslungenen Wein aus dem Vorjahr ökologisch unbedenklich zu entsorgen. Ja, sogar komplett ungenießbare Spirituosen hart an der Grenze zum Haushaltsreiniger können dabei als »Schuss« nicht nur unter, sondern auch in die Leute gebracht werden. Und das seltene rotnasige Rentier wäre mit Sicherheit längst ausgestorben, würde es nicht extra für unsere Weihnachtsmärkte regelmäßig nachgezüchtet. Gut, aus Konsumentenperspektive mag es auf den ersten Blick sinnlos ­erscheinen, sich bei meist miesem Wetter und Temperaturen um den Nullpunkt unter freiem Himmel zu versammeln, um nutzloses Zeug zu kaufen, ungesundes Essen zu sich zu nehmen und sich die Birne mit Fusel wegzu­ballern. Dank Amazon und Lieferando könnte man das ja auch auf der heimischen Couch haben. Doch die Natur in ihrer unendlichen Weis … äh … Bosheit hat uns eben als soziale Wesen designt. Nicht in dem Sinne zwar, dass wir verantwortungs- und respektvoll miteinander umgehen, aber immerhin in dem Sinne, dass wir unsere Verantwortungs- und Respektlosigkeit erst dann richtig genießen können, wenn wir sie in Gemeinschaft ausleben. Wozu be­soffen rumgrölen, wenn es keine Zuhörer gibt? Wozu in hohem Bogen fünf ­Liter süße Plörre an lauwarmem Grünkohl, matschigen Bratkartoffeln und verbrannten Maronen erbrechen, wenn niemand die Spritzer abbekommt? Und mit ausgefahrenen Ellbogen durch eine Menschenmenge rammeln, sieht ohne Menschenmenge doch einfach nur dämlich aus. Schlimm ist natürlich die Beschallung: Knabenchöre, die mit ihren präpubertären Fiepsstimmen jede noch so stille Nacht zerkreischen, dazu Block- und Quer- und sonstigen Flöten, die den Rest des Jahres völlig zu Recht im Schrank verstauben, und unmotiviertes Gedudel schwer depressiver Jazzstudenten, die sich mit »Last Christmas« in Endlosschleife die Miete für den Winter zusammenmucken. Aber genau diese kakophone Melange brauchen wir eben, um mit der nötigen Grundaggression durch die versammelten Menschenmassen zu pflügen und uns damit frühzeitig für die eigentliche Challenge der Weihnachtszeit abzuhärten: all die gegenseitigen Erniedrigungen und verlogenen Freundlichkeiten im familiären Feindkontakt unterm Lichterbaum. Schon deswegen ist es fatal, wenn nun die Weihnachtsmärkte pandemiebedingt abgesagt werden. Noch blöder ist allerdings der Versuch, sie mit 3G, 2G oder 2G plus doch stattfinden zu lassen und das libertär-faschistoide Eso-Deppenheer der Ungeimpften auszusperren. Umgekehrt würde ein Nikolausstiefel draus: Mit 0G könnte man die doch dazu bringen, sich – ganz zwanglos – an zentralen Orten selbst zusammenzutreiben, um den nach lustigen Eierpunsch- oder Lumumba-Trinkspielen halb Bewusstlosen den uns alle schützenden Schuss zu versetzen. Ja, Weihnachtmärkte sind toll. Im Kleinen wie im Großen können sie den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« ­stärken, von dem neuerdings alle reden. Man muss ihre Potentiale nur ausschöpfen. Darauf einen »Glüh«! Von Markus Liske   Weihnachtsmärkte sind das Gegenstück zum seelenlosen Kommerz, nämlich eine unerträgliche Mischung aus stickiger Gemütlichkeit und Authentizitätsgedusel. Mein Name ist Elke und ich kann Weihnachtsmärkte nicht ausstehen. Das liegt weniger daran, dass sie von Weihnachten handeln, jedenfalls im Idealfall. Nein, sie fallen für mich einfach in die gleiche Kategorie wie Mittelalter- und Gauklermärkte und was es sonst nicht alles für Märkte gibt, von denen sie sich allenfalls durch das schlechtere Wetter und die sogenannte Besinnlichkeit unterscheiden. Was Besinnlichkeit eigentlich ist, weiß man nicht so genau. Vielleicht ist es der Geruchsmix aus zu lang erhitztem Billigwein, sehr viel, wirklich sehr, sehr viel Anis enthaltenden Bonbons, nach vor sich hin kokelnden Räucherstäbchen, verbrannten Mandeln und kleineren Kotzepfützchen. Oder der Geräusch­mix aus »Last Christmas«, »Jingle Bells« und irgendwas von Helene Fischer plus Gesprächsfetzen. »Liquiditätsplanung ohne Flexibilität ist ein No-Go«, »I gave you my heart«, »Hast du gesehen, wie die heute wieder angezogen war«, »Jingle all the way«, »Mama, Sören sagt, ihm ist schlecht«, »Alles schläft; einsam wacht«. Was Besinnlichkeit eigentlich ist, weiß man nicht so genau. Vielleicht ist es aber auch das Gedrängel und Geschiebe und Gedrücke, um einen tollen Platz ganz vorn bei den Auslagen von Verkaufsbude A oder Getränkestand B zu ergattern. Und der Umstand, dass Menschen bedauerlicherweise nicht nur im Sommer ungünstig riechen können und es entsprechend weder schön noch besinnlich ist, ständig mit ihren durchgeschwitzten ­Jacken in Berührung zu kommen. Vielleicht sind es aber auch die dargebotenen Waren. Sie unterscheiden sich kaum von dem Zeugs, das es auch in Drogerie-Supermärkten gibt: Kerzen, Engelchen, Bonbons, Weihnachtsmännern, Lutscher, Tees mit Geschmack nach diesem & jenem, Dekokugeln, Bio­wurst, Heilmittel aller Art, Seife, Holzschalen, Deckchen und Gedöns, alles aber handgemacht oder mundgeblasen, von echten Künstlern, die das ganze Jahr über werkeln und schaffen, um kurz vor Weihnachten dem die entsprechenden Märkte besuchenden Teil der Menschheit eine große Freude zu machen – wenn dieser es denn schafft, sich zur Verkaufsbude durchzudrängeln, wo all die besinnliche Dekoration herumhängt plus Plakate und Kärtchen mit kunstvoll handgeschriebenen Sinnsprüchen, die sich auch auf Demos von Coronaleugnern gut machen würden. So viel Besinnlichkeit hat natürlich ihren Preis, klar, aber wo bekommt man sonst schon derart hochwertige Waren wie handgeschöpfte Ringel­blumencreme im Jutesäckchen oder den eigenen Namen auf ein selbstverständlich hochwertiges Stück Holz gebrannt für 19,90 Euro zusammen mit dem natürlich anregenden und enorm tiefgehenden Gespräch mit dem Künstler oder Heilkundigen persönlich, das zum Nach- und Weiterdenken anregt. Und erst der Schmuck! Authentische Holzperlen aus frei und unbeschwert aufgewachsenen skandinavischen Moorfichten, an denen noch echte Rentiere geknabbert haben und die nicht etwa brutal gefällt wurden, sondern im Rahmen eines schamanischen Rituals fast freiwillig zu Boden sanken, um das ­Leben von Menschen auf der ganzen Welt zu bereichern. Ganz traditionell wurden diese einmaligen Naturstücke außerdem noch per Hand aufgefädelt. Und natürlich bringt so eine Kette eine ganz andere Energie mit, wunderbar – gut, dass da nur ganz klein »Made in China« draufsteht, sieht halt auf den ersten Blick bisschen blöd aus, aber das ist natürlich nur ein ironischer Kommentar, wie die Künstlerin persönlich versichert, gerichtet gegen die kalte, seelenlose Welt des Kommerzes und oh, was müffelt denn da auf einmal, ach so, da hinten macht gerade jemand ein Kotzepfützchen, aber was soll’s, das ist Leben – Leben! Einmalig in allen seinen Facetten, laut und bunt und herrlich und wie nett, zur Kette gibt’s kostenlos noch eine kalligraphierte Karte mit einem wunderbaren Spruch, irgendwas mit Frieden und Freiheit und noch was. Aber nun erst mal zu dem Stand mit den herrlichen Ohrenkerzen, aus richtigem Bienenwachs, selbstverständlich um Mitternacht geerntet, weil sich dann die Heilwirkung erst so richtig entfalten kann. Obwohl, vielleicht doch vorher noch schnell zum Bratwurststand? Ah, das ist ja der vom Mittelaltermarkt mit dem Holzkohlengrill, wie schön, und hör mal, sie spielen »O Tannenbaum«, hach, ist das besinnlich. Von Elke Wittich
Markus Liske,Elke Wittich
Markus Liske,Elke Wittich: Eine Diskussion über Weihnachtsmärkte
[ "Weihnachten", "Weihnachtsmarkt", "Covid-19" ]
Disko
02.12.2021
https://jungle.world/artikel/2021/48/schade-um-den-weihnachtsmarkt
Die Poproboter
Studioaufnahmen für die Bundesbahn-Broschüre »Bahn 2000« 1987, die Band trägt Bühnenmasken der Show zum gleichnamigen Album »Es ist eine fremde und seltsame Welt«. Pop ist seit langem die ständige, nur ein klein wenig variierte Wiederkehr des Immergleichen. Die Popindustrie verkauft ihre Produkte dennoch immer als »Neuheiten«. Nirgendwo wird diese einfache, aber weitreichende Erkenntnis über das Immergleiche deutlicher als in den diversen Castingformaten wie »American Idol« oder dessen hiesigem Pendant »Deutschland sucht den Superstar«: Alljährlich werden mehrere neue »Talente« gekürt, die ihre Befähigung durch den Vortrag von Popklassikern unter Beweis gestellt haben. Zur Belohnung dürfen sie meist zumindest ein Album mit Songs aus der Konserve aufnehmen, bevor sie wahlweise wieder in ihrem Alltag verschwinden oder in andere Formaten des Reality-TV weitergereicht werden. Und weil sich immer genug Menschenmaterial findet, das allergrößte Hoffnungen auf die eigene Verwertbarkeit setzt, können immer neue Superstars aus der Retorte geschaffen werden. Der einzelne Musiker, der im Beispiel natürlich höchstens Interpret ist, wird so nicht nur austauschbar, sondern in der Konsequenz auch überflüssig. Bereits auf dem sehr experimentellen Debütalbum »Geri Reig« von 1980 waren die musikalischen Einflüsse von Kraftwerk und The Residents auf Der Plan unverkennbar. Selbst nannten sie ihre Musik »elektronische Schlager«. In der Musikindustrie ist diese Form der Verwertung keineswegs neu. Als Kommentar dazu und zur fortschreitenden Technologisierung wollten sich die Musiker der Düsseldorfer Band Der Plan 1989 selbst überflüssig machen. Sie produzierten Lieder mit vermeintlichen Roboterstimmen, die bei Konzerten von Robotern, die sie »Fanuks« nannten, aufgeführt werden sollten. Da die Realisierung dieses Live-Konzepts für sie aber damals weder finanziell noch technisch möglich war, verschwanden die Aufnahmen zunächst im Archiv ihres Labels Ata Tak. Dort wurden sie erst im vergangenen Jahr bei einer großen Aufräumaktion wiedergefunden und nun unter dem Albumtitel »Save Your Software« veröffentlicht.   Zusätzlich zu den sechs alten Songs produzierten die drei Bandmitglieder Kurt Dahlke, Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt ­jeweils ein neues Stück. Komplettiert wird die Platte von einer Art Radiofeature, das die »Geschichte der Fanuks« mit fiktiven Elementen erzählt. Als Motivation für das Projekt wird dort angeführt, dass »Mitte der achtziger Jahre deutlich wurde, dass das Leben endlich ist und die technische Verwirklichung der Unsterblichkeit der Gruppenmitglieder von Der Plan unter Umständen nicht rechtzeitig umgesetzt werden könnte«. Im Stil schönster sozialistischer Science-Fiction geht es weiter: »Auf der entscheidenden Sitzung des Zentralkomitees Des Plans im Jahre 1985 ergab sich eine knappe Mehrheit von zwei zu eins Stimmen für die Produktion menschenähnlicher Roboter, die eines Tages die biologischen Körper der sterblichen Musiker ersetzen sollten.« Der Name der Musikroboter leitet sich von der japanischen Maschinenbaufirma »Fanuc« (eine Abkürzung für »Fuji Automatic Numerical Control«) ab, die auf Automatisierungs- und Robotertechnik spezialisiert war und früher in Düsseldorf eine Dependance hatte. Der Plan war nicht die erste Band, die mit der Idee von Robotermusik experimentierte. 1978 ver­öffentlichten Kraftwerk ihr Album »Die Mensch-Maschine« und die New-Wave-Band Devo (kurz für: De-Evolution), die in ihren Texten die Abrichtung der Menschen zu Maschinen im Kapitalismus anprangerte, trat ebenfalls bereits in den siebziger Jahren als eine Mischung aus Robotern und Raumfahrern kostümiert auf. Selbst der Deutschrocker Udo Lindenberg verfremdete seine Stimme im Song »Gene Galaxo« 1976 zur Roboterstimme, um davor zu warnen, dass irgendwann im Auftrag der Herrschenden Musik­roboter programmiert würden, die dann nur noch angepasste Musik und Texte spielen würden. Der inhaltliche Ansatz von Der Plan weicht davon ab: Sie beziehen sich auf die Theorie der Obskurität, wie sie die Band The Residents und ihr Inspirator, ein apokrypher Philosoph namens N. Senada, vertraten. Senada lebte angeblich in den sech­ziger und siebziger Jahren in Bayern, analysierte Vogelgesang und war wohl mit ziemlicher Sicherheit eine Erfindung der Residents. Der Theorie zufolge könne ein Künstler nur bedeutende Kunst schaffen, wenn er sich selbst komplett verbirgt. The Residents blieben daher seit ihrer Gründung in den zweiten Hälfte der sechziger Jahre anonym und treten bis heute nur maskiert auf. Der Plan wollte diesem Vorbild mit den »Fanuks« folgen. Bereits auf ihrem sehr experimentellen Debütalbum »Geri Reig« von 1980 waren die musikalischen Einflüsse von Kraftwerk und The Residents unverkennbar. Sie selbst nannten ihre Musik »elektronische Schlager«. Der Plan sowie ihr Label Ata Tak gelten als Wegbereiter der Neuen Deutschen Welle, wobei das aus heutiger Sicht erklärungsbedürftig ist: Sie und die weiteren Ata-Tak-Künstler (unter anderen Andreas Dorau und Deutsch Amerikanische Freundschaft) machten keine tumben NDW-Schlager, sondern New Wave. »Eine akustische Durchsicht des Materials ergab, dass die Musik, für die Zukunft geschaffen, in der Gegenwart angekommen war, und die Idee einer möglichen Veröffentlichung geriet in den Bereich des Denkbaren«, heißt es im Feature zur »Geschichte der Fanuks«, und tatsächlich merkt man den alten Liedern nicht an, dass sie bereits 1989 produziert und seitdem auf Tapes aufbewahrt wurden. Sie klingen nach dem Elektropunk der nuller Jahre, waren somit ihrer Zeit voraus, hängen jetzt aber irgendwie hinterher, denn neu oder gar revolutionär ist die Musik nicht (mehr). Doch das Gesamtpaket mit den drei neuen Songs und insbesondere dem »Fanuk«-Feature auf der B-Seite überzeugt. In den Texten wird durchweg die Position von Robotern eingenommen, die allerdings ein Bewusstsein haben. Wie Marvin the Paranoid Android in den Büchern von Douglas Adams sind auch die »Fanuks« nicht sonderlich glücklich damit: »I hate the computer  I hate work  I want to be human. Freedom for robots  emocracy for robots«, heißt es im Song »I Want to Sing Like Ella«, der zu den drei neuen Stücken gehört und von Frank Fenstermacher produziert wurde. Und auch der Roboter in »I Can Love«, dem ebenfalls neuen, von Kurt Dahlke alias Pyrolator produzierten Stück, klingt eher depressiv, wenn er »I love accidents« singt. Der Plan begründet dies damit, dass sich die »Fanuks« mit fortschreitender Entwicklung an die Menschen anpassen würden. Gleichzeitig können sich die Roboter in den ­Liedern selbst reparieren und reproduzieren, also neue Roboter zusammenschrauben, und könnten dadurch kurz vor der Weltherrschaft stehen – zumindest solange es ­keinen Übertragungsfehler bei einem Update gibt. Gerade die Darstellung der Roboter und ihrer Probleme sowie die Ernsthaftigkeit, mit der sie präsentiert werden, macht das Album humorvoll und nachdenklich zugleich. Offen lässt Der Plan, ob den »Fanuks« die Asimov’schen Robotergesetze einprogrammiert werden sollten, um die Kontrolle über sie zu behalten. Daher muss bezweifelt werden, dass die sich selbst bewussten, kritischen »Fanuks« überhaupt ­daran interessiert wären, anstelle der Mitglieder von Der Plan »Musik für alle Ewigkeit« zu produzieren und auf »eine nie endende Welttournee« zu gehen. Lehnten die »Fanuks« dies ab, würde nur noch Zwang, möglicherweise durch ein Update, helfen, und man wäre endgültig in einem typischen Dilemma der Roboterethik angekommen. Der Plan: Save Your Software (Bureau B)
Johannes Creutzer
Johannes Creutzer: Die Geschichte der von der Band Der Plan erdachten Musikroboter
[ "experimentelle Musik", "Pop" ]
dschungel
29.04.2021
https://jungle.world//artikel/2021/17/die-poproboter?page=0%2C%2C0
Schützenkompanie Sinning
17 Wohnungen und Einrichtungen in Oberbayern hat die Polizei in der vergangenen Woche bei einer großangelegten Razzia gegen Neonazis durchsucht. Dabei fiel den Beamten ein umfangreiches Waffenarsenal in die Hände: Sturmgewehre, Maschinengewehrläufe, Handgranaten, Munition, Tretminen und eine Maschinenpistole. Außerdem wurde kistenweise Propagandamaterial sichergestellt. Im Zentrum der Aktion stand das Anwesen des ehemaligen Bereichsleiters der Wehrsportgruppe Hoffmann, Anton Pfahler, in Sinning im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen. Pfahler hatte erst vor einem halben Jahr die Redaktion des NPD-Organs Deutsche Stimme von Stuttgart nach Sinning geholt (Jungle World, Nr. 6/98). Auf seinem Anwesen plant der 52jährige die Errichtung eines rechtsextremen Siedlungsprojekts mit Kindergarten und Grundschule. Pfahler sowie zwei weitere Neonazis wurden bei der Polizeiaktion verhaftet.
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Inland
01.07.1998
https://jungle.world//artikel/1998/27/schuetzenkompanie-sinning?page=0%2C%2C0
Wenn die Partei ruft
Liebe Freundinnen und Freunde, es steht nicht gut um die SPD, das wissen wir. Mein Ziehkind, der Sigmar, ist mir mittlerweile ein ganzes Stück über den Kopf gewachsen, und zwar in allen Dimensionen. Das SPD-Personal, das seit gefühlt tausend Jahren dasselbe ist, altert in unvorstellbarem Maß; eine Kindfrau wie die Nahles hat mittlerweile schon eine eigene Familie. Trotzdem traut sich niemand an den Vorsitzenden ran. Was Wunder, hat der Sigmar doch viele begabte Nachwuchsfunktio­näre erfolgreich weggebissen – zum Teil spurlos. Wenn Sigmar jetzt anbietet, einen Mitgliederentscheid über den Vorsitzenden zu gestatten, und dabei sogar einen völlig überrumpelten Olaf Scholz ins Gespräch bringt, dann ist das nicht nur der Versuch, in einer de facto mitgliederfreien SPD noch ein letztes Mal innerparteiliche Demokratie vorzutäuschen. Es handelt sich hierbei um ­einen ganz schäbigen Trick, wie ihn die Sozialdemokratie seit meinem Weggang nicht mehr nötig hat. Nein, man sollte Scholz jetzt vor allem in Ruhe lassen – und ihn nicht mit zweifelhaften Gerüchten über seine mögliche Kampfkandidatur verunsichern. Der Mann hat Haare wie Espenlaub, jede noch so kleine Erschütterung zwingt ihn zurück in seinen schützenden Nagetierbau. Scholz will eben einfach nicht. Ebensowenig übrigens wie die Kraft, wie Steinmeier, wie Albig – und ehrlich, glaubt man wirklich, selbst Scholz wäre dumm genug, sich die Partei im jetzigen Zustand ans Bein zu binden? Mit einer Zwangskandidatur würde man den Mann doch nur weiter demütigen! Wir müssen schon dankbar sein, dass Steinbrück seinerzeit ein wertvolles Vierteljahr seines Ruhestands für uns geopfert hat. Viel eher sollten wir mit den Grünen in einen offenen Wettbewerb treten, wer die Rolle des CDU-Sidekicks besser ausfüllen kann. Ich habe selbst mit Großen Koalitionen beste Erfahrung, habe jahrelang das Merkel-Bündnis toleriert, ohne einschreiten zu müssen; Merkel ist mir aus ihrer Zeit als Opposition noch ­gesichtsbekannt. Deswegen stehe ich nicht an zu sagen: Wenn die Partei mich ruft, dann komme ich zurück! Und ansonsten kann der Saftladen von mir aus gern hops gehen. Herzlich Ihr Gerhard Schröder
Leo Fischer
Leo Fischer:
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dschungel
19.05.2016
https://jungle.world//artikel/2016/20/wenn-die-partei-ruft?page=0%2C%2C1
Wartestadt Hamburg
»Einen Augenblick«, sagt Asuquo Okono Udo und ist gleich wieder weg, um eine junge Frau mit Kinderwagen herzlich zu begrüßen. Sie steht direkt gegenüber vom gläsernen Busbahnhof und hält ein Schwätzchen im Schatten an diesem heißen Juli-Tag. Seit April 2013 vergeht kaum ein Tag, an dem Udo nicht an dem kleinen Platz am U-Bahn-Ausgang Steindamm vorbeischaut. Dort steht das geräumige weiße Zelt der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«. Ein Transparent hängt auf der Zeltbahn: »Lampedusa in Hamburg. Victims of Nato War 2011 in Lybia«, ist darauf zu lesen – darunter steht der Satz, der die Gruppe in der Stadt sowie in ganz Deutschland bekannt gemacht hat: »We are here to stay.« Udo ist einer der drei Sprecher der 300köpfigen Gruppe, die im März und April 2013 aus Italien in Hamburg ankam. »Mit Fahrkarten, etwas Reisegeld und der Hoffnung auf einen Neuanfang«, sagt der 49jährige Journalist aus Nigeria. Asuquo Okono Udo, ein Mann mit sorgsam rasierter Glatze und optimistisch blickenden Augen, kämpft immer noch für den Neuanfang. »Wir wollen uns einbringen, wollen arbeiten und unseren Teil beitragen«, sagt er. Gerne würde er wieder als Journalist arbeiten. Ein paar Artikel, vier um genau zu sein, hat er als Referenz dabei. Einer beschäftigt sich mit Menschenhandel in Nigeria, ein anderer mit Kindern, für die erst gar keine Papiere ausgestellt wurden. Brisante Themen, mit denen sich der Lokaljournalist beschäftigt hatte, bevor er nach Libyen ging, um dort als Handwerker zu arbeiten. Acht Jahre lang, dann kamen die Bomben und in Tripolis begannen die Massaker. Udo floh, wie viele andere Gastarbeiter in Muammar al-Gaddafis Diensten, nach Norden – über das Mittelmeer nach Italien. 55 000 afrikanische Migranten sollen diesen Weg genommen haben – Flüchtlinge eines Kriegs, in dem die Nato Luftangriffe auf Tripolis flog. Asuquo Okono Udo hat den Krieg in der Hauptstadt erlebt und erzählt diese Geschichte, aber auch die der Odyssee durch mehrere italienische Flüchtlingsunterkünfte, immer wieder. Erzählen, Erinnern, Planen und Organisieren sind seine Aufgaben. Damit die Menschen in Hamburg auch beim nächsten Mal wieder auf die Straße gehen und sich für die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« engagieren. Bei der letzten Demonstration am 5. Juli, gingen rund 1 000 Menschen auf die Straße, um der Forderung der Gruppe nach einer Arbeitserlaubnis Nachdruck zu verleihen. Christina Babafemi will arbeiten, sich wieder selbst versorgen und eine Zukunft haben. Sie gehört zu den wenigen Frauen der Gruppe, stammt aus Nigeria und hat in Lagos im Hotel Excelsior als Köchin gearbeitet. »Dort habe ich meine dreijährige Ausbildung gemacht und hier in Hamburg gibt es Arbeit für mich«, sagt die 38jährige. In einer Tapas-Bar habe sie zur Probe in der Küche gestanden, »aber ohne Arbeitserlaubnis läuft nichts«. Eine harte Erkenntnis für die Mutter zweier Kinder, denen sie so gerne etwas Geld schicken würde. »Das geht vielen aus der Gruppe so. Wir haben Familie in Nigeria, in Mali oder wo auch immer, und müssen sie unterstützen. Das geht aber nicht, weil man uns nicht erlaubt, Perspektiven aufzubauen«, klagt sie. Christina Babafemi hat während des Kriegs in Libyen ihren Mann verloren und ist allein über das Mittelmeer nach Italien geflohen. Nun ist sie seit 16 Monaten in Hamburg zum Warten verdammt. Warten, dass andere für sie entscheiden. Dass die Politiker ein Einsehen haben. Besonders dramatisch ist die Situation für die Jüngeren wie Omar, einen sportlichen 24jährigen, der in der Elfenbeinküste geboren wurde und in Mali aufwuchs. Nur zu gerne würde er eine Ausbildung machen. Sein Deutsch ist nach den all den Monaten in Hamburg schon ganz passabel. Viele der »Lampedusen«, wie die Mitglieder der Gruppe in den Kreisen der Unterstützer genannt werden, lernen die Sprache des Landes, in dem sie nach ihren seit März 2011 währenden Odysseen neue Möglichkeiten erhoffen. Auch Sprecher Asuquo Okono Udo büffelt Vokabeln, aber noch greift er im Interview auf Englisch zurück. Lernen und sich weiterbilden wollen etliche aus der Gruppe. Viele sind bereits qualifiziert, wie Jeano Mbodiam Elong aus Kamerun, der für das US-Unternehmen Schlumberger als Schweißer gearbeitet hat – erst in Yaoundé und dann in Libyen. Dort war Schlumberger als Dienstleister im Erdölsektor tätig. Elong ist nicht der einzige Schweißer aus der Gruppe, der außerdem Schneider, KFZ-Mechaniker oder medizinische Laborassistenten angehören. Sie sind Facharbeiter, die in Hamburg durchaus Arbeit finden könnten, denn der Handelskammer zufolge ist der Bedarf größer als das Angebot. Doch eine Arbeitserlaubnis machte Innensenator Michael Neumann (SPD) bereits im November 2013 auf seinem Blog deutlich, könne es nur nach einer Einzelfallprüfung geben. Dies schreibe das Ausländer- und Asylrecht zwingend vor, so der Senator. Doch ganz so einfach scheint der Fall der Gruppe dann doch nicht zu sein, wie ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juni bestätigte. »Ein Ausländer, der in einem anderen Staat bereits als Flüchtling anerkannt worden ist, kann in Deutschland nicht erneut Flüchtlingsschutz oder den Status eines subsidiär Schutzberechtigten beanspruchen. Ein erneuter Asylantrag ist unzulässig«, steht in einer Pressemitteilung des Gerichts zum Urteil. Diese Einschätzung teilt Asuquo Okono Udo. »Ich habe nie verstanden, weshalb man uns hier in ein neues Verfahren pressen will. Wir haben Papiere, die Dokumente aus Italien wurden bei meinen Reisen innerhalb Europas nie in Frage gestellt. Was wir wollen, ist das Recht zu arbeiten und ein humanitäres Bleiberecht, um endlich unser Leben neu aufbauen zu können«, sagt bestimmt. Auch Anne Harms von »Fluchtpunkt«, der Hilfsstelle der evangelischen Kirche für Flüchtlinge sieht das so. Für sie sind die Mitglieder der Gruppe zweimal vertrieben worden – erst aus Libyen durch den Krieg, dann aus Italien. Dort wurden viele wie Udo fast zwei Jahre lang von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager geschickt. Daran änderte sich erst Ende 2012 etwas. Da erhielten die ersten Papiere und ein Reisegeld, um in ein anderes Land Europas zu gehen. Warum? Weil sie in Italien keine Chance auf Arbeit hätten, so die italienischen Beamten. Sie stellten befristete italienische Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen aus. Mit denen haben die Mitglieder der Gruppe, von denen die meisten ein Asylverfahren in Italien durchlaufen haben, den Status von Schutzbedürftigen in der EU und genießen innerhalb der EU Freizügigkeit. Diese Einschätzung vertritt auch Peter Bremme von Verdi. Viele der rund 300 Mitglieder der Gruppe wurden im vergangenen Jahr in die Gewerkschaft aufgenommen. Und die Gewerkschaft machte erneut Druck. Mitte Juli appellierte der neue Landesvorsitzende von Verdi, Berthold Bose, an den Senat, etwas zu tun: »Wir brauchen dringend eine wertschätzende Lösung für Menschen, die hier stranden, wir dürfen nicht bis zum Winter warten.« Einen weiteren Winter ohne Perspektive in Hamburg will sich Udo nicht vorstellen, doch er ist sich sicher, dass die Gruppe ihn überstehen würde. »Die Unterstützer sind unsere Energiequelle«, sagt er und appelliert an den Senat, direkt mit der Gruppe zu sprechen. Doch der reagiert seit Monaten nicht. Auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtsstellt für die zuständige Behörde für Inneres und Sport keinen Anlass dar, ihr Vorgehen zu ändern. »Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ich Ihnen sagen, dass das angeführte Urteil – nach allem, was wir über die aus Libyen und Italien gekommenen Männer wissen beziehungsweise zu wissen glauben – nicht zu einer Veränderung der Rechtslage führt«, schreibt Swantje Glismann vom Büro des Senators Neumann auf Anfrage. Wegducken, Aussitzen, auf die eigene Position pochen – das scheint die Leitlinie in der Behörde. Diese Position hat Senator Neumann mehrfach in Interviews klar umrissen und auch gleich deutlich gemacht, »dass es keine Perspektive für diese Menschen hier gibt«. Selbst wenn sie, wie Neumann im Interview mit der Welt sagte, einen Antrag »auf Asyl oder aber auf humanitäre Aufnahme« stellen. Dagegen wehrt sich die Gruppe. »Warum sollen wir unseren von Italien anerkannten Flüchtlingsstatus gegen eine Duldung eintauschen«, fragt Udo. Er hat von Beginn an ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes gefordert. Dieser Paragraph ermöglicht es dem Senat, Kriterien für eine Gruppe von Menschen zu erstellen, denen aus humanitären Gründen ein Bleiberecht gewährt wird. Das lehnt der Senat ab. »Eine pauschale Gewährung eines Bleiberechts gibt das Bundesrecht auch weiterhin nicht her, auch nicht über § 23 Aufenthaltsgesetz«, heißt es dazu aus dem Büro von Senator Neumann. Was theoretisch durchaus möglich wäre, wie 111 Fachanwälte im November 2011 öffentlichkeitswirksam bestätigen, ist praktisch nicht erwünscht. De facto stellt die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« das fixierte Procedere und obendrein Europas Grenzpolitik in Frage. »Wir sind keine Bittsteller, wir haben Papiere, wir wollen arbeiten und wir sind eine Gruppe, die auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam macht – den Umgang mit Flüchtlingen in Europa«, erklärt Udo. Diese klare Haltung hat der Gruppe in den vergangenen Monaten viel Unterstützung eingebracht. Auch aus gesellschaftlichen Milieus, von denen man es nicht vermutet hätte, wie die Unterschriften unter dem »Manifest für Lampedusa in Hamburg« zeigen. Schorsch Kamerun, der Sänger der Band »Die Goldenen Zitronen«, hat es ebenso unterzeichnet wie die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und der Pianist und Gründer des Schleswig-Holstein-Musikfestivals, Justus Frantz. »Sich für die Flüchtlinge einzusetzen, ist ein Akt der Menschlichkeit«, sagte Bela B., der Schlagzeuger der Band »Die Ärzte«, Mitte Juni bei der Vorstellung des Manifests vor dem weißen Lampedusa-Zelt gegenüber vom gläsernen Busbahnhof. Das von mittlerweile knapp 4 000 Menschen unterzeichnete Manifest tritt für eine Zukunft der Gruppe in Hamburg ein. Der Ort dafür ist längst gefunden: eine alte Schule im Karolinenviertel. Das Gründerzeitgebäude in der Laeiszstraße ist groß genug, um Anlaufstelle, Informationszentrum, aber auch Arbeitsort und Schlafplatz für die rund 300 Flüchtlinge zu sein. Diese leben derzeit entweder auf der Straße oder sind wie Udo und Christina Babafemi bei Unterstützern untergebracht – bei Initiativen, in Wohnprojekten und Wohngemeinschaften. Ein wesentlicher Grund, weshalb sich Udo längst integriert fühlt in der Gesellschaft der Hansestadt, die sich in den vergangenen 16 Monaten immer wieder für die Gruppe engagiert hat. Unzählige Demonstrationen mit bis zu 14 000 Teilnehmern hat es gegeben, am 1. Mai endete eine mit der Besetzung der Schule in der Laeiszstraße. Die ist kurzerhand zum »Lampedusa in Hamburg«-Haus umgewidmet worden, wo im Mai und Juni jeden Freitagabend Treffen zum Singen, Diskutieren, Tanzen oder Studieren stattfanden – immer unter den wachsamen Blicken der Polizei. Die ist angewiesen, das Gebäude zu schützen, denn ein Zentrum, um zu arbeiten, zu lernen und zu leben, will die Politik der Gruppe nicht zubilligen. So bleibt Asuquo Okono Udo nichts anderes übrig, als vor dem weißen Zelt gegenüber vom Busbahnhof seine Geschichte zu erzählen und neue Aktionen für die eigene Zukunft in Hamburg zu organisieren. An der Parole »We are here to stay« hat sich nichts geändert. Lampedusa in Hamburg. Eine Chronologie Februar 2011. Im Zuge des »arabischen Frühlings«, der mit Protesten gegen autokratische Regime in Tunesien und Ägypten begann, bricht ein Bürgerkrieg in Libyen aus. Vor der Gewalt fliehen rund 1,5 Millionen afrikanische Migranten aus Libyen – rund 55 000 davon nach Italien. Februar 2013. Eine Gruppe von über 300 Flüchtlingen, viele davon aus Mali, Nigeria, der Elfenbeinküste und Ghana, erhält von den italienischen Behörden Papiere, teilweise Fahrkarten und etwas Reisegeld, um nach Nordeuropa zu reisen. März 2013. Die Gruppe erreicht Hamburg und kommt ins Winternotprogramm der Stadt, bis dieses Mitte April 2013 ausläuft und die Menschen auf der Straße sitzen. Mai 2013. Die Gruppe wendet sich die Öffentlichkeit und fordert Gespräche mit Olaf Scholz, dem Ersten Bürgermeister. Der verweist sie an eine Flüchtlingsberatungsstelle. Juni 2013. Die Kirchengemeinde St. Pauli nimmt einen Teil der Gruppe auf, die mit Spenden aus der Bevölkerung über Monate versorgt wird. September 2013. Der Hamburger Senat lehnt es ab, die Flüchtlinge aus dem Kirchenasyl erneut im Winternotprogramm der Stadt unterzubringen. Senator Neumann von der Innenbehörde sagt, wer Schutz suche, müsse den Behörden seinen Namen nennen und seine Fluchtgeschichte erzählen. Dann sorge man für eine Unterkunft. 29. Oktober 2013. Die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« gibt bekannt, dass sie es ablehnt, die Identitäten ihrer Mitglieder in Einzelfallprüfungen den Behörden preiszugeben. Stattdessen schlägt sie vor, eine Kommission aus der Gruppe, Senatsvertretern, Politik und Zivilgesellschaft zu bilden, denen die Identitäten der Gruppenmitglieder übermittelt werden könnten. 2. November 2013. Großdemonstration mit rund 15 000 Teilnehmern für ein Bleiberecht der Gruppe. 22. November 2013. Die Ausländerbehörde verkündet, dass sie Daten von 73 Flüchtlingen gesammelt habe. Am gleichen Tag beginnen Hamburger Künstler, darunter Fatih Akin und Jan Delay, die Plakataktion »Wir sind Lampedusa«. 12. Dezember 2013. 3 500 Hamburger Schülerinnen und Schüler führen einen Schulstreik durch. 18. Januar 2014. Protestdemonstration von mehreren tausend Menschen gegen die Politik des Hamburger Senats bezüglich der Gefahrengebiete und für ein Bleiberecht der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«. Behördensprecher Frank Reschreiter sagt, dass alle Personen der Lampedusa-Gruppe versorgt seien. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn zahlreiche Mitglieder der Gruppe sind im »solidarischen Winternotprogramm« von rund 40 privaten Gruppen und Wohnprojekten untergebracht. 27. Februar 2014. Ein Sprecher der Gruppe fordert direkte Verhandlungen mit dem Hamburger Senat. 1. März 2014. Mehr als 4 000 Menschen demonstrieren für ein Aufenthaltsrecht der Gruppe. 9. April 2014. Der Antrag der Partei »Die Linke« auf eine Gruppenlösung aus humanitären Gründen nach dem Paragraphen 23 des Aufenthaltsgesetzes wird von der Bürgerschaft abgelehnt. 1. Mai 2014. Unter dem Motto »Recht auf Stadt kennt keine Grenzen« wird im Karolinenviertel die leerstehende ehemalige Grundschule in der Laeiszstraße besetzt und als »Refugee Welcome Center« wiedereröffnet. 16. Juni 2014. Das »Manifest für Lampedusa in Hamburg« wird vorgestellt, worin auch ein »Lampedusa in Hamburg«-Haus gefordert wird – die ehemalige Grundschule in der Laeiszstraße. 30. Juni 2014. 92 Flüchtlinge der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« haben der Ausländerbehörde zufolge einen Antrag auf Bleiberecht aus humanitären Gründen gestellt. 5. Juli 2014. Demonstration für die Arbeitserlaubnis für die Mitglieder der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« und ein kollektives Bleiberecht
Knut Henkel
Knut Henkel: Der Kampf der Flüchtlinge der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«
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Reportage
31.07.2014
https://jungle.world//artikel/2014/31/wartestadt-hamburg?page=0%2C%2C0
Die Erben der Scherben
In einer Glasvitrine liegt eine römische Landkarte, die Europa vom Limes durchzogen zeigt. Nördlich des Grenzwalls liegt Germanien und darüber schweben wolkige Sprechblasen mit Zitaten von Publius Cornelius Tacitus: »Obwohl das Land ziemlich verschieden aussieht, ist es doch im Allgemeinen schrecklich wegen der Wälder oder grässlich wegen der Sümpfe«. Und weiter: »Trotz der großen Menschenzahl ist die Körperbeschaffenheit bei allen die gleiche: blaue Augen mit wildem Ausdruck, rötliches Haar, hochgewachsene, starke Leiber, die nur für den Angriff taugen.« Der römische Historiker hatte im Jahre 98 nach der christlichen Zeitrechnung eine länderkundliche Schrift über Germanien verfasst – obwohl er nie dort war und die Gegend nur vom Hörensagen kannte. Als Germanen wurden damals all diejenigen jenseits des Rheines bezeichnet, die man nicht hatte unterwerfen können. Der Name sollte gefährliche Gegner bezeichnen und einen Sieg über sie besonders ruhmreich erscheinen lassen. Germanien war im Altertum eine Projektion der Römer. Natürlich wäre es falsch, die Römer verantwortlich zu machen für den Germanenmythos, der später mit dazu beitragen sollte, die Unterdrückung und Vernichtung der europäischen Juden, Sinti und Roma sowie Gebietsansprüchen gegenüber den Nachbarländern Deutschlands ideologisch zu begründen. Bis zum Beginn der Frühen Neuzeit sind die Germanen als angebliche Vorfahren der Deutschen im deutschen Sprachraum nicht bekannt gewesen, so Uta Halle. Die Bremer Landesarchäologin leitet gemeinsam mit dem Historiker Dirk Mahsarski das Projekt »Vorgeschichtsforschung in Bremen unter dem Hakenkreuz« und gab den Anstoß für die Ausstellung »Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz« im Bremer Focke-Museum. Der Germanenmythos entstand erst zwischen dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit um 1500, als sich das Weltbild, die Wissenschaft, die Technik und der Alltag stark zu wandeln begannen. Im Kloster Hersfeld wurde damals eine aus dem 9. Jahrhundert stammende Abschrift von Tacitus’ »Germania« entdeckt, die zwischen 1473 und 1519, so Halles Schätzung, 6 000 Mal gedruckt wurde, allerdings noch auf Lateinisch und damit nur Gelehrten zugänglich. Dennoch verbreitete sich das Interesse an den Germanen, die in der folgenden Literatur auch bald zu den »Teutschen« wurden. Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Entstehung eines deutschen Nationalstaats wurden germanische Sagen populär. Die kriegerische Frau Germania mit geflochtenem Eichenlaubkranz über dem wallenden Haar prangte auf Briefmarken, Geldscheinen und Pfeifenköpfen. Apotheker, Lehrer, Pfarrer und andere Heimatforscher suchten mit viel Mühe und Geld nach dem Schlachtfeld, auf dem Arminius alias Hermann die Römer geschlagen hat. Dem Cherusker verpasste man 1875 ein gigantisches Denkmal, auf antisemitischen Postkarten wies der blonde Riese den deutschen Juden den Weg nach Palästina. In der Bremer Ausstellung wird eine Ausgabe der Tacitus-Schrift von 1602 aus der Bremer Staats- und Universitätsbibliothek präsentiert. Später sollten weitere Drucke auf Deutsch folgen, insbesondere während des Nationalsozialismus. In dieser Zeit boomte die Vor- und Frühgeschichte nicht nur unter Laienarchäologen, sondern auch an den deutschen Universitäten. Während die Zahl der Lehrstühle an deutschen Hochschulen insgesamt schrumpfte, stieg sie im Bereich der Archäologie der Vor- und Frühgeschichte enorm an. Finanziert wurden die neuen Professuren zum Teil dadurch, dass jüdische und politisch unliebsame Wissenschaftler zuvor entlassen worden waren. Seminare und Vorlesungen rund um das Thema Germanien erfreuten sich großer Beliebtheit. »Die Germanen in der Tschechoslowakei« war im Sommersemester 1937 in Prag zu hören; in Rostock ging es im ersten Trimester 1941 um das Thema »Deutscher Boden als germanischer Volks­boden«. Ein Großteil der Archäologen trug das Parteibuch der NSDAP und das Mitgliedsheft der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe. Diese war 1935 vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, gegründet worden. Sie sollte den Abstammungsmythos und die Kons­truktion einer »arisch-germanischen Rasse« wissenschaftlich untermauern. Die Monatszeitschrift Germania erhielten alle SS-Mitglieder kostenfrei. Gelder für die Aktivitäten des »SS-Ahnen­erbes« flossen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, SS-Stiftungen und einzelnen Fördermitgliedern wie Ludwig Roselius, dem Gründer der Firma Kaffee Hag. Schüler, Studenten, Soldaten, Heimat- und Geschichtsvereine beteiligten sich an archäologischen Projekten. Nicht nur im Deutschen Reich wurde – auch wegen des Baus von Autobahnen, Militäranlagen, Flugplätzen und Konzentrationslagern – viel gegraben. In Frankreich, Polen, Norwegen, in der Ukraine und in allen anderen überfallenen Gebieten griffen die deutschen Archäologen ebenfalls zu Spaten und Pinsel. Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge mussten helfen. Während des Kriegs plünderte das »SS-Ahnenerbe« frühgeschichtliche Kunst- und Kulturgüter in den besetzten Ländern und drängte die einheimischen Wissenschaftler aus dem Amt. Einige erbeutete Fundschätze, etwa die aus dem Museum Kertsch auf der Krim, sind bis heute verschollen. Bereits laufende Ausgrabungen in den besetzten Ländern wurden unter eigene Kontrolle gebracht, zum Beispiel im tschechischen Dolní Věstonice oder an der Prager Burg. Rund 100 Museen in der Sowjetunion, etwa das in Charkow, wurden neu geordnet, mit nationalsozialistischen Interpretationen versehen und für die deutschen Besatzungstruppen ­geöffnet. Eine große Station der Ausstellung ist diesen Aspekten gewidmet, sie zeigt rings um eine beleuchte Europa-Karte die entsprechenden Anweisungen der Behörden sowie Landkarten und Briefe. Mitunter, so Halle, seien die Archäologen schon direkt an der Front gewesen und hätten in den Gefechtspausen gegraben. Ein Archäologenkommando mit dem SS-Mitglied Herbert Jankuhn rückte 1942 gemeinsam mit den Einsatztruppen in die Städte des Kaukasus ein. Juden wurden ermordet, Museen ausgeraubt. Wie Jankuhn konnten auch viele andere deutsche Archäologen ihre Karrieren nach 1945 fortsetzen. Er spielte sein Wissen über die Judenverfolgung herunter, wurde von Kollegen entlastet und am Ende von einem deutschen Gericht 1949 in Schutz genommen. Noch im selben Jahr bekam er einen Forschungsauftrag für Haithabu, eine der bekanntesten Ausgrabungsstätten der NS-Zeit. Er arbeitete bis 1973 an der Universität Göttingen und erhielt das Große Niedersächsische Verdienstkreuz. Die Schau im Bremer Focke-Museum beleuchtet erstmals die düstere Wissenschaftsgeschichte und die Kontinuitäten in der archäologischen Germanenforschung. In fünf Stationen zeigt sie rund 700 Exponate, darunter zahlreiche Fotos und Dokumente, aber auch Gipsfiguren handwerklich begabter Germanenfrauen, Julschmuck mit Runenzeichen, die Repliken des Eberswalder Goldschatzes – und eine Schale mit Mäandermuster aus der SS-Porzellanmanufaktur Allach im KZ-Dachau. »Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz« entzaubert den Germanenmythos, der bis heute in Populärmedien, Was-ist-Was-Büchern, in der Alltagskultur und nicht zuletzt in der rechten Szene herumgeistert. Selbst der beliebte, aber völlig unhistorische, im 19. Jahrhundert erfundene Hörnerhelm thront in der Werbung gerne noch auf den Köpfen blonder Recken. Und so landete auch eine Knorr-Packung »Wikingersuppe mit Hackbällchen« in der Ausstellungsvitrine. Nach Hallers Urteil schließen diese gut vermarktbaren Germanen-Klischees an politisch problematische Bilder und Überlegenheitsgefühle an. Die kurzweilige und facettenreiche Ausstellung zeichnet den langen und fortwährenden Herstellungsprozess des Germanen als Urahn der Deutschen nach. Die Germanen wurden nicht nur, aber vor allem im Nationalsozialismus als reine, einheitliche, seit Jahrtausenden bestehende Gruppe halluziniert, die mit einer überlegenen Kultur in einem großgermanischen Reich lebte. Dass es sich bei Nation, Rasse und Weißsein um Konstruktionen handelt, ist zwar ein Allgemeinplatz. Dennoch vollzieht die Ausstellung einen sehr wichtigen und schon lange ausstehenden Schritt, indem sie das Vorgehen und die Interpretationen der deutschen Archäologie aufarbeitet und kritisiert. Sie macht deutlich, wie Scherben und Schädel mit religiösen, ethnischen, nationalen und, spätestens Ende des 19. Jahrhundert, mit rassischen Zuschreibungen versehen wurden und wie sich dabei über viele Jahrhunderte hinweg Wissenschaft, Politik und Alltagsvorstellungen verzahnten. Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, , bis zum 8. September
Anke Schwarzer
Anke Schwarzer: Die Ausstellung »Graben für Germanien« in Bremen
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dschungel
18.04.2013
https://jungle.world//artikel/2013/16/die-erben-der-scherben
Sekte, Ma und Sterne
Die frühere Filmschauspielerin und heutige Kochbuchautorin Barbara Rütting, 75, zieht für die Grünen in den Bayerischen Landtag ein. So weit die Meldung am Tag nach dem Wahlfiasko in Bayern, das der CSU eine satte Zweidrittelmehrheit der Sitze beschert hatte. Barbara Rütting, eigentlich Waltraud Irmgard Goltz, wurde am 21. November 1927 in Berlin geboren, als »Skorpion mit Aszendent Zwilling«, wie sie in ihrer Vita stolz vermeldet. Manchen ist sie noch in Erinnerung als Leinwandstar der fünfziger Jahre. Sie spielte in über vierzig Filmen mit, durchaus seriöse darunter wie »Operation Crossbow« mit Sophia Loren oder »Stadt ohne Mitleid« mit Kirk Douglas. Die meisten ihrer Filme verstauben indes in den unteren B- und C-Schubladen und werden zu Recht nicht einmal mehr auf RTL gezeigt. Eingegraben ins kollektive Filmgedächtnis dagegen haben sich ihre Rollen als ewig ums Erbe betrogene Dummnuss in Edgar Wallaces »Der Zinker« oder »Neues vom Hexer«. Auch auf der Bühne feierte sie Erfolge, sie spielte bevorzugt und nicht ohne Talent psychisch gestörte Frauenfiguren, von Lady Macbeth über Hedda Gabler bis zu Strindbergs Fräulein Julie. Höhe- und zugleich Schlusspunkt ihres mimischen Schaffens war ein Fernsehauftritt in der Serie »Derrick« im Jahre 1981, nach dem nichts mehr kommen konnte. Seit dem Niedergang ihrer Filmkarriere fühlt Rütting sich offenbar zunehmend zu autoritär strukturierten Organisationen und Psychosekten hingezogen: Neben ihrem Engagement für die vollwertköstlerische »Gesellschaft für Gesundheitsberatung« (GGB) des früheren SA-Mannes und späteren Bioladen-Vordenkers Max Otto Bruker (1909-2001), der laut Urteil des Oberlandesgerichtes Frankfurt als »Scharnierstelle zwischen Ökologie- und Naturkostbewegung auf der einen und Neonazi-Szene auf der anderen Seite« bezeichnet werden durfte – Rütting sitzt bis heute im Vorstand der Gesellschaft –, begeisterte sie sich auch für die ultrareaktionäre Heilsbotschaft des Maharishi Mahesh Yogi, und dessen »Naturgesetzpartei«. Der Maharishi ist nach wie vor blendend im Geschäft, mit ayurvedischen Pülverchen zur Behandlung von Krebs und Aids vor allem. Seine Jünger behaupten seit je, kraft transzendentaler Meditation und ohne technische Hilfsmittel »fliegen« zu können, was wesentlich zur Erlangung des Weltfriedens beitrage. Obgleich ihre öffentlich vorgeführten Flugeinlagen stets das gleiche Ergebnis zeigen, nämlich eine Art Froschgehopse mit überkreuzten Beinen, sammelten sie, dank fähnchenschwingender Barbara Rütting, bei der Europawahl 1994 mehr als 90 000 Stimmen. Was Maharishis Fliegerpartei kann, so dachten sich die bayerischen Grünen, können wir schon lange. Im Vertrauen darauf, dass die ein oder andere Stimme gewiss zu holen sei in den esoterischen Heilpraxen, Meditationszentren und Buchläden, deren Kundschaft, politisch oft demonstrativ desinteressiert, sich vielleicht zum Urnengang aufraffe, wenn eine der ihren zur Wahl stehe, holten sie Barbara Rütting auf ihre Liste, die seit Jahren zum fixen Inventar der Szene zählt. Dies nicht im ersten Gliede, nein, Vorreiterin einer Bewegung war Barbara Rütting nie, auch wenn sie das von sich meint, eher Mitläuferin, Komparsin. Das freilich allenthalben und quer durch sämtliche Niederungen: Kaum ein Kongress für neues, besseres oder höherwertiges Dasein, den sie nicht werbewirksam angereichert hätte – ihr Bekanntheitsgrad sicherte ihr allemal einen Platz auf dem Podium, auch wenn sie gar nichts zu sagen hatte. Aber sie war auch selbst auf der Suche nach spiritueller Erfüllung. So begeisterte sie sich etwa für das Brandenburger »Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung« (Zegg), eine autoritär strukturierte Sex- und Psychosekte mit Sitz in Belzig bei Berlin. Zegg-Begründer Dieter Duhm: »Eine Frau ist, wenn sie ihre weibliche und universelle Identität gefunden hat, eine natürliche Anlaufstelle für alle Männer«, sie werde »ganz von selbst die Liebesdienerin vieler junger Männer sein«, weil das »ihre natürliche Funktion ist«. Von der rechtslastigen Esoterikkommune Findhorn in Schottland, wo ein New-Age-Guru namens David Spangler als neuer Christus verehrt wird, war sie derart angetan, dass sie öffentlich erwog, dorthin zu ziehen. Schon Ende der Achtziger hatte sie versucht, nach diesem Vorbild in Österreich eine eigene »Lebens- und Arbeitsgemeinschaft« zu begründen, mit der esoterischen Elite, den »Besten aus aller Welt«, was allerdings gründlich misslang. Seit Herbst 1995 ist sie Anhängerin des Osho-Rajneesh-Kults und trägt als solche den Sektennamen »Ma Anand Taruna«, was so viel heißt wie »Mutter der Glückseligkeit durch ewige Jugend«. Rütting ist begeistert: »Für immer jung, ist das nicht herrlich?« Mehrfach trat sie anschließend in der Talkshow von Jürgen Fliege auf, um der Welt ihre neu gewonnenen spirituellen Erkenntnisse mitzuteilen: »Nicht das Recht zur Faulheit ist in unserer Gesellschaft angesagt, sondern die Pflicht zum Fleiß.« Anfang 2000 heuerte sie als Meditationslehrerin in der umstrittenen Krebs-Klinik der Hackethal-Erben im bayerischen Riedering an. Bevorzugt brachte sie den Patienten die so genannte »Lach-Meditation« nach Osho Rajneesh bei, was allerdings das Ende der Klinik ein paar Monate später nicht aufhielt. Kritik an ihren Umtrieben in der rechten Psychoszene weist sie als »üble Verleumdung« zurück: Sie gehöre »keiner Sekte und keiner Religion« an. Der grüne Wahlcoup mit Barbara Rütting war ein voller Erfolg. Die Partei stellt nun, wenn die Grünen sonst schon nichts zu melden haben im Bayerischen Landtag, in dem die CSU dank neu gewonnener Zweidrittelmehrheit tun und lassen kann, was ihr beliebt, die Alterspräsidentin. Rütting, bald 76, darf also am 6.Oktober die erste Sitzung einläuten. Im Übrigen ist die Rütting-Strategie der Grünen nicht neu, seit je setzt man auf das esoterisch angehauchte Wählerpotenzial, auch die endlose Verzögerung des seit Jahren geplanten »Lebensbewältigungshilfegesetzes«, das zumindest den allergrößten Unsinn innerhalb der gewerblichen Psycho- und Wunderheilerszene verhindern könnte, geht auf sein Konto. Nicht wenige der führenden Grünen, Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer vorneweg, hatten und haben auch keinerlei Scheu, ihre persönliche Affinität zu esoterischen Hirngespinsten in aller Öffentlichkeit zu bekennen, vergleichbar dem demonstrativen Bekenntnis zu einer der christlichen Großreligionen bei Unionspolitikern. Die bayerische Spitzenkandidatin der Grünen, Margarete Bause, verstieg sich gar dazu, als Stargast in Winfried Noes Fernsehshow »Sternenhimmel« aufzutreten, um dort nach ihrer und der Zukunft ihrer Partei zu fragen. Astrologie als Wahlhilfe: Immerhin schaffte sie prognosegemäß den Sprung in den Bayerischen Landtag. Von Rütting war in Noes Vorhersagen allerdings noch nicht die Rede: Sie war zum Zeitpunkt seiner Horoskopeschau noch gar nicht Parteimitglied.
colin goldner
colin goldner:
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dschungel
01.10.2003
https://jungle.world//artikel/2003/40/sekte-ma-und-sterne
Homestory #42/24
Ist er nur mit dem richtigen Fluch zu bekämpfen? Voldemort Putin, Grafito in Poznań (Polen) »Mögest du in interessanten Zeiten leben« ist wahrscheinlich kein traditioneller chinesischer Fluch, die auf 1936 datierte Quellenangabe des britischen Diplomaten Hughe Knatchbull-Hugessen, auf den die Überlieferung zurückgeht, ist recht vage (»ein Freund hat mir erzählt«) und die Suche nach einem chinesischen Vorbild blieb erfolglos. Aber Knatchbull-Hugessen lebte in »interessanten Zeiten«, 1937 wurde er beim Angriff eines japanischen Kampfflugzeugs schwer verletzt. Auch später war es meist so, dass ein Mangel an Langeweile in der Politik mit einem Übermaß an Krieg und Gewalt einherging, so dass das angebliche Sprichwort zum globalen Aphorismus wurde. Wenn der gesellschaftliche Fortschritt schon ausbleibt, könnte der Weltgeist bei der Gestaltung interessanter Zeiten wenigstens etwas mehr Phantasie und Humor zeigen. Schlagzeilen wie »Rätselhafter Haarausfall: Ayatollahs plötzlich bartlos« oder »Botox-Starre: Putin muss Rede absagen« wären ja auch interessant. Heutzutage hat man manchmal den Eindruck, in den interessantesten aller Zeiten zu leben. Das mag zum Teil am medialen 24/7-Dauerbombardement liegen, jedenfalls hat man lange nicht mehr vom Sommerloch oder der Sauregurkenzeit gehört – so bezeichnete man früher die Zeit im dritten Quartal, in der es wenig zu berichten gab, vor allem weil die Parlamentarier:innen in den Urlaub gingen und die Regierungstätigkeit weitgehend ruhte. Nun aber lässt es garantiert jemand auch im Sommer richtig krachen. Für Journalist:innen, so könnte man meinen, müssten solche Zeiten reizvoll sein, jedenfalls wenn sie außerhalb der Reichweite von Kampfflugzeugen im Büro oder Homeoffice sitzen. Aber ganz so zynisch sind wir dann doch nicht. Wenn der gesellschaftliche Fortschritt schon ausbleibt, könnte der Weltgeist bei der Gestaltung interessanter Zeiten wenigstens etwas mehr Phantasie und Humor zeigen. Schlagzeilen wie »Rätselhafter Haarausfall: Ayatollahs plötzlich bartlos« oder »Botox-Starre: Putin muss Rede absagen« wären ja auch interessant. Hilft womöglich ein Fluch? Selbstverständlich glaubt in unserer aufgeklärten Redaktion niemand an derlei Hokuspokus. »Als wissenschaftlich denkender Mensch ist mir klar: Wer selbst verflucht ist, kann andere nicht effektiv verfluchen; und da ich auf dieser Welt lebe, bin ich ja wohl eindeutig verflucht«, lautet eine Analyse. Eine Redakteurin bekundet: »Ich möchte, dass jemand in der Hölle schmort, das Problem ist, ich glaube nicht an die Hölle.« Aber auch auf Risiken im magischen Kampf wird hingewiesen: »Meine Flüche bleiben leider immer wirkungslos, manchmal wird mein Zauberstab auch plötzlich eine Wäscheklammer.« Zum Glück geht es nur im Traum um den Kampf gegen die bösen Machenschaften eines Voldemort. Aber wer weiß schon genau, was Putin – er steht recht weit oben auf der Liste potentiell zu verfluchender Personen – so drauf hat? Der ukrainische Oligarch Hennadij Korban hat es schon im August 2022 mit einem kabbalistischen Fluch versucht, offenbar erfolglos. So schnell wird es also wohl nichts mit einem Zeitalter der geruhsamen Langeweile.
Jungle World
Jungle World: Ein Mangel an Langeweile in der Politik geht leider oft mit einem Übermaß an Krieg und Gewalt einher
[ "Homestory" ]
Homestory
17.10.2024
https://jungle.world//artikel/2024/42/homestory-42/24?page=0%2C%2C1
Exchange iX-tra large
Eigentlich sollte der Casino-Kapitalismus in Frankfurt das bisher Gewesene noch toppen: Die Deutsche Börse AG wollte selbst an die Börse gehen. Ein solider Wert, waren sich die Experten einig. Denn solange die Spekulation an den Aktienmärkten weltweit das Hauptgeschäftsfeld der Unternehmenswelt bleibt, gibt es hier nicht viel zu verlieren. Die Telebörse empfahl das Papier ihrer risikofreudigen Leserschaft bereits zur Zeichnung: »Gewinnchance bis 100 Prozent« - und das binnen zwölf Monaten. Am Montag dieser Woche sollte die Zeichnungsfrist beginnen, doch weder die Deutsche Börse AG noch die konsortialführende Deutsche Bank hielten es für nötig, im Vorfeld bei den Anlegern für den Börsengang der Börse zu werben. Kein Wunder, sie hatten andere Sorgen: Werner Seifert, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Börse, verhandelte eifrig mit Gavin Casey, seinem Pendant der Londoner Stock Exchange, über eine Fusion. Bereits 1998 hatten sich die Börsenchefs schon mal zusammengesetzt. Vergangenen Mittwoch aber hatten sie einen Erfolg zu vermelden: Die beiden Häuser wollen fusionieren. Das neue Unternehmen heißt künftig iX und hat seinen Sitz in London. Der Coup wird deutsche Kleinanleger vermutlich verärgern. Aber die sind erstens wenige, haben zweitens wenig Ahnung und jammern drittens grundsätzlich immer. Viel wichtiger sind hingegen die so genannten institutionellen Anleger: Banken und Investmenthäuser, Fonds- und Versicherungsgesellschaften, die hohe Summen an den Aktienmärkten hin- und herschaufeln und deren Orders häufig an mehreren europäischen Börsen gleichzeitig platziert werden müssen, damit das gewünschte Aktienpaket erstanden werden kann. Auch die Experten wissen den Schachzug der Deutschen Börse zu schätzen. Handstreichartig landen die bisher im Wertpapier-Handel eher unbedeutenden Deutschen mit dem Zusammenschluss auf den britischen Inseln und übernehmen de facto den gemessen am Handelsvolumen bisher drittgrößten Aktienmarkt der Welt. Entsprechend groß ist auch der Triumph in Frankfurt: iX, das Kürzel der neuen Börse, eigentlich die Abkürzung für International Exchange, steht dort bereits für iX-tra large. Etwa 53 Prozent der europäischen Wertpapiere werden künftig an der iX gehandelt. Und es sollen noch mehr werden. Von seinem künftigen Amtssitz an der Themse aus will Börsenchef Seifert nämlich die »europäische Börsenlandschaft neu ordnen« (Wirtschaftswoche). An den Aktien-Märkten in Mailand und Madrid hat man bereits angedeutet, sich dem deutschen Großprojekt anschließen zu wollen. Damit hat die Fusion bereits mit ihrer Verkündung ihr Hauptziel erreicht: Es ist klar geworden, dass in Europa niemand mehr an den Deutschen und ihrer Vorstellung von Neuordnung vorbeikommt. Ein Signal, das sich vor allem an zwei Adressaten richtet: Die US-Technologiebörse Nasdaq und die Konkurrenten der Bourse de Paris. Bei der Nasdaq, einer der größten Börsen der Welt, hatte man in den letzten Wochen offen über eine Ausweitung nach Europa nachgedacht und bereits nach Partnern gesucht. Nun ist die Angelegenheit so gut wie klar: Alles andere als eine Kooperation mit der iX macht für die New Yorker keinen Sinn. Völlig unbedeutend wird durch den Zusammenschluss die Pariser Börse. Zusammen mit Amsterdam und Brüssel hatten sich die Franzosen erst vor kurzem zum Handelsplatz Euronext zusammengetan. Was die Deutschen als Alleingang des Nachbarlandes und als Affront werteten, war vor allem als Vorbereitung für eine gemeinsame europäische Börse gedacht. Zusammen mit Brüssel und Amsterdam wird in Paris knapp genauso viel gehandelt wie in Frankfurt und an den deutschen Regionalbörsen. Damit hätte die Euronext-Gruppe sich deutscher Dominanzversuche erwehren und eigene Forderungen für die Schaffung eines gemeinsamen Aktien-Handelsplatzes formulieren können. Die Londoner Stock Exchange konnte das nicht. Der Grund: Die Deutsche Bank besitzt Anteile an der britischen Börse und machte sich für die Fusion stark. Sie ist nämlich auch an der Deutschen Börse AG beteiligt. Rolf Breuer, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, sitzt zugleich auch im Aufsichtsrat der Börse. Die größte deutsche Bank gilt damit als eigentlicher Motor der Fusion - und als ihr eigentlicher Gewinner. Zusammen mit anderen Anteilseignern an der Deutschen Börse wird das Institut die iX dominieren. Und das bedeutet vor allem: eindeutschen. Die Deutsche Bank hat darin eingehende Erfahrung. Trotz der Fusion mit dem US-Bankhaus Bankers Trust befindet sich heute gerade einmal ein einziger Amerikaner im Aufsichtsrat der Bank: Louis Hughes von General Motors. Der Vorstand hingegen ist rein deutsch. Und auch bei dem Zusammenschluss von Daimler-Benz mit dem US-Unternehmen Chrysler war die anfänglich gemischte Besetzung der Führungsgremien nicht von langer Dauer. Im letzten November wurden bei Daimler-Chrysler, an dem die Deutsche Bank beteiligt ist, sämtliche US-Amerikaner hinausgesäubert. Was das für die iX bedeuten wird, ist klar: Vorstandschef wird der bisherige Amtsinhaber bei der Deutschen Börse AG, Seifert. Den Vorsitz des Aufsichtsrates überlässt man hingegen - vorerst zumindest - dem Briten Don Cruickshank. Schließlich braucht man zunächst den Anschein von Kontinuität. Auch, was den hauptsächlichen Handelsplatz der neuen Börse betrifft: Denn London hat weit größere Bedeutung erlangt und ist Sitz zahlreicher Fondsgesellschaften und Investmenthäuser. Die Wahl von London als künftigen Sitz der iX birgt außerdem noch ein pikantes Detail: Bisher werden die Papiere an der dortigen Stock Exchange in britischem Pfund notiert. Es ist zwar grundsätzlich vollkommen egal, ob die großen europäischen Werte in Pfund oder Euro gehandelt werden, aber mit der Börsen-Fusion dürften nicht nur deutsche Expansionsgelüste bedient werden, sondern zugleich auch der Euro auf die angelsächsischen Inseln schwappen: Für konservative Briten kommt diese schleichende Einführung des Euro auf der Insel einer Kapitulation vor den Krauts gleich, für die unter den hohen Pfund-Kurs leidende britische Exportwirtschaft ist sie eher ein willkommener Schachzug zur Erhöhung ihrer Verkaufszahlen und für die Deutschen bedeutet sie die schon lange erhoffte Ausweitung des Einflusses der aus Frankfurt gelenkten Europäischen Zentralbank. Nur eines könnte den Deutschen ihren Coup noch versauen. Die Deutsche Bank gilt nämlich nach der kläglich gescheiterten Fusion mit der Dresdner Bank wie auch alle anderen deutschen Kreditinstitute als Kandidatin für eine feindliche Übernahme durch ausländische Konkurrenten. Im Vergleich zu anderen global players haben die Deutschen nämlich einen nur geringen Börsenwert - und sind damit günstig zu haben. Deshalb zum Abschluss noch ein Tipp für die politisch zwar nicht-korrekte, dafür aber umso effektivere Geldanlage: Einige der insgesamt 614 Millionen Deutsche-Bank-Aktien kaufen und dann dem erstbesten Übernahmeangebot eines ausländischen Konkurrenten zustimmen.
Dirk Hempel
Dirk Hempel: Europäische Börsenfusion
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Ausland
10.05.2000
https://jungle.world//artikel/2000/19/exchange-ix-tra-large?page=0%2C%2C3
Keine Heirat ohne Kontrolle
"Wer hat das Brautkleid gekauft?" Oder: "Welche Zahnpaste benutzt denn Ihr Partner?" Schon heute sind deutsche Beamte wenig zurückhaltend, wenn es gilt, sogenannten Scheinehen auf die Spur zu kommen. Vor allem bei den Ausländerbehörden zeigte man sich sehr aktiv im Aufspüren dieser Gemeinschaften. Daß gerade die Ausländerpolizei mal eben Nachbarn, Familienangehörige oder Arbeitgeber über die Privatsphäre anderer Menschen befragt, hat einen einfachen Grund: Der Begriff der Scheinehe existiert praktisch nur im Zusammenhang binationaler oder ausländischer Paare. Wer einen nigerianischen Mann oder eine kurdische Frau heiratet, so die scheinbar naheliegende Folgerung, will dem Partner beziehungsweise der Partnerin lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung besorgen. Diesen ehelichen Verbindungen, die tatsächlich zahlreichen Flüchtlingen angesichts zunehmend verschärfter Asylgesetzgebung den einzig möglichen Schutz vor Abschiebung bieten, soll der Garaus gemacht werden. Dabei bekommen nicht nur die Schein-Partnerschaften die Auswirkungen des Kampfes gegen unerwünschte Einwanderung zu spüren, sondern alle rund 50 000 binationalen Paare, die sich jährlich zur Heirat entscheiden: Ehen müssen auf kompliziertem Weg im Herkunftsland des Gatten geschlossen, Familienzusammenführung beantragt und durchgesetzt, schwer zugängliche Papiere aus dem Heimatland besorgt oder intimste Fragen über die Lebenspartnerin gegenüber Beamten der Ausländerbehörden und Botschaften beantwortet werden. Nicht genug, meinen die Gesetzgeber und setzen die Hürden für binationale Ehen jetzt noch höher. Bereits Anfang Februar dieses Jahres stimmte der Bundesrat dem "Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Eheschließungsrechtes" zu, von kommender Woche an wird die Regelung in Kraft treten. Ab dem 1. Juli sollen demnach die Kompetenzen von Standesbeamten erheblich erweitert werden. Diese müssen dann, so heißt es im entsprechenden Paragraph 1 310 zur Eheschließung, die "Mitwirkung verweigern, wenn offenkundig ist, daß die Ehe nach Paragraph 1 314 Absatz 2 aufhebbar wäre". Soll heißen: Wenn die Partner keine "eheliche Lebensgemeinschaft" eingehen oder keine Verantwortung füreinander tragen wollen, dürfen die Beamten ihre Kundschaft erst gar nicht trauen. Ob dem so ist, darüber haben die Standesbeamten nach eigenem Ermessen zu befinden. Genaue Kriterien zur Entscheidungsfindung haben sie zwar nicht, eine grobe Handlungsanweisung aber legte der Rat der Europäischen Union bereits im vergangenen November vor: In einer damals verabschiedeten Resolution über "Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen" heißt es, diese sei gegeben, wenn mit der ehelichen Verbindung "allein der Zweck verfolgt wird, die Rechtsvorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Angehörigen dritter Staaten zu umgehen und dem Drittstaatenangehörigen eine Aufenthaltsgenehmigung oder -erlaubnis in einem Mitgliedsstaat zu verschaffen". Die in der Empfehlung nahegelegten Konsequenzen: Man verlasse sich auf Erkenntnisse, die über Erklärungen der Betroffenen sowie Dritter, über Schriftstücke und aus Ermittlungen gewonnen werden können. Grünes Licht also für Schnüffeleien aller Art. Standesbeamte sollen nun beispielsweise versuchen, Differenzen in den Schilderungen der getrennt verhörten Ehepartner zu entdecken. Sollte sich herausstellen, daß etwa der Mann meint, seine Liebste in der ersten Samstagnacht im April in einer Kneipe kennengelernt, sie aber davon überzeugt ist, ihn erst am Mittwoch bei Freunden darauf getroffen zu haben, ist die Scheinehe entlarvt. Und schon muß sich der Beamte weigern, den ehelichen Segen zu geben. Doch auch noch nach der Heirat kann es den Eheleuten an den Kragen gehen. Denn künftig dürfen nicht mehr nur die Gatten selbst, sondern auch die zuständigen Verwaltungsbehörden eine eheliche Gemeinschaft aufheben. Durch diese grobe Einmischung in die durch Artikel 6 Grundgesetz geschützten Bereiche von Ehe und Familie würde, so Cornelia Spohn, Bundesgeschäftsführerin des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften (iaf), "das kollektive Mißtrauen gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe festgeschrieben". Zudem trage sie "zur wachsenden Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft bei". Coletta Manemann vom nordrhein-westfälischen iaf-Landesverband ergänzt gegenüber Jungle World: "Während deutsch-deutsche Paare sich heutzutage freuen können, daß nicht-eheliches Zusammenleben akzeptiert und allgemein anerkannt ist, wird es für binationale Paare immer schwerer". Ohnehin müßten sich Partner und Partnerin in diesen Beziehungen häufig unfreiwillig zur Heirat entscheiden, um überhaupt zusammenbleiben zu können. Denn ohne Trauschein gibt es keine Aufenthaltserlaubnis. Vor allem "die Einwanderung von Männern soll eingeschränkt werden", meint Coletta Manemann. Geschlechtsspezifisch diskriminiert seien insbesondere deutsche Frauen, die mit Schwarzen zusammen seien, ob mit oder ohne Heiratsabsichten. Skrupel hatten deutsche Bürokraten bisher wenig, wenn es galt, binationale Ehen einzuschränken und zu kriminalisieren. So ließ der Dresdner Oberstaatsanwalt Helmut Renz 1995 gegen mindestens zwanzig solcher Partnerschaften ermitteln. Einige Personen wurden wegen Vergehen gegen das Ausländergesetz und mittelbare Falschbeurkundung zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt. Auch Maßregelungen von Standesbeamten sind nicht neu: Im Dezember 1993 forderte das Landratsamt Leipzig per Rundschreiben die Standesämter auf, bei einem Aufgebot mit Ausländern "generell die Ausländerbehörde zu informieren". Bei "Verdacht auf Scheinehe" solle die Aufgebotsniederschrift eingeholt und das Paar "etwa eine Woche später wiederbestellt" werden. Bei diesem Termin sollten die Ehepartner in spe "zunächst mündlich die Ablehnung des Aufgebots" erhalten. Und weiter: "Nur wenn das Paar darauf besteht, muß die Ablehnung schriftlich mit Rechtsbehelfserklärung erfolgen." Ähnlich war man in diesem Jahr auch in Bayern in Vorwegnahme der neuen gesetzlichen Bestimmungen vorgegangen. Der baden-württembergische Landtagsabgeordnete Roland Schmid wagte sich im Februar gleich noch einen Schritt weiter vor: Nach dem Willen des Unionspolitikers sollte Flüchtlingen künftig verboten werden, während der Dauer ihres Asylverfahrens überhaupt zu heiraten. Dem aber wollte man - bislang - selbst in den eigenen Reihen nicht folgen.
wolf-dieter vogel und wahied wahdathagh
wolf-dieter vogel und wahied wahdathagh:
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Inland
24.06.1998
https://jungle.world//artikel/1998/26/keine-heirat-ohne-kontrolle?page=0%2C%2C0
Kein Platz für die Nato
Eine Fußball-Mannschaft zu coachen, die zwar gut spielen möchte, es aber doch nicht kann, ist wenige Wochen vor dem Saisonende von der Ersten bis hinunter zur Kreis-Liga übliches Trainerschicksal. Den Abstieg vor Augen, neigen die Spieler dazu zu verkrampfen, selbst die einfachsten Spielzüge - im Training hundertmal geübt, gelingen nicht mehr. Das Tor aus einem Abstand von nur ein paar Metern zu treffen, scheint nahezu unmöglich. Metodija "Mendo" Joseski, Coach des Berliner Tabellenvorletzten der Kreisliga A, SK Makedonija, hätte zu Saisonbeginn eigentlich nicht damit gerechnet, daß dem Aufstieg seines Teams gleich wieder der Abstieg folgen könnte. "Wir kämpfen noch", sagt er, fügt jedoch gleich hinzu: "Aber eigentlich sind wir alle psychisch kaputt." Denn seit dem Beginn des Krieges der Nato gegen Jugoslawien beherrschen die Sorgen um Verwandte und Freunde den Kicker-Alltag der Makedonija-Spieler, die unter anderem aus Serbien, Mazedonien und Kroatien kommen. Das ist selbst bei wichtigen Punktspielen so: "Es passiert immer wieder, daß ein auf dem Platz stehender Spieler plötzlich irgendwie gar nicht mehr da ist, weil seine Gedanken ganz woanders sind. Und dann kann man schreien, wie man will, er kommt einfach nicht wieder zurück." Trotzdem spielt der SK Makedonija weiter Fußball, auch wenn ein wichtiger Mann fehlt. Dragan Arnold war vor einiger Zeit nach Jugoslawien gefahren, um Urlaub zu machen und wurde dort vom Krieg überrascht. Er und seine albanische Frau haben derzeit keine Möglichkeit, nach Berlin zurückzukehren. Seine Mannschaftskollegen in Berlin sitzen unterdessen bis spät in die Nacht vor dem Fernseher, immer in Erwartung neuester Nachrichten, oder hängen am Telefon, um ständigen Kontakt mit Verwandten und Freunden zu halten. Miograd Stupa, der Manndecker bei Makedonija, hat Verwandte in Novi Sad. Für ihn ist die Kickerei jetzt "wichtig, um zu versuchen, etwas abzuschalten und sich ein bißchen zu entspannen". Und natürlich, sagt Stupa, ist er hier "mit Freunden zusammen, die ähnliche Sorgen haben". Auch für die Zuschauer beim Heimspiel des SK gegen die Berliner Amateure geht es nicht nur um Punkte. Zunächst werden die Spieler zwar noch angefeuert, aber ereignislose Fußballspiele sind nur schwer erträglich. Irgendwann laufen dann die Kinder auf die Aschenbahn und spielen Fangen, während die dazugehörigen Väter und Opas mit dem Witzprogramm beginnen. Aber der Krieg ist immer da: "Ach, du bist heute die Nato, ja?" wird der Mann mit der Ordnerbinde am rechten Arm angefrozzelt, und alle lachen. Denn, da ist man sich einig, der Nato-Krieg gegen das kleine Land mit elf Millionen Einwohnern ist eigentlich eine lächerliche Angelegenheit. In weit drastischeren Situationen sei das Verteidigungsbündnis nicht eingeschritten, der Krieg sei überdies nur durch die vorhersehbar unannehmbaren Paragraphen im Vertrag von Rambouillet provoziert worden. In der Frage der Bombardierung stimmt man überein: "Den Kosovo ja, Milosevic auch, den Rest des Landes nicht." Denn dort wird immer wieder auch Zivilbevölkerung getroffen, die für die Spieler und Zuschauer beim SK Makedonija aus Freunden und Angehörigen besteht. "Man muß sich das so vorstellen, daß Kroaten und Bosnier natürlich auch serbische Verwandtschaft haben und Serben z.B. albanische, deswegen sind eigentlich alle betroffen. Zumal man sich natürlich auch darüber Sorgen macht, daß auch andere Länder, wie eben Mazedonien, in diesen Krieg hineingezogen werden könnten", sagt Trainer Joseski. Das besondere Mitgefühl gilt an diesem Spieltag Dusan Petrovski, einem älteren Mann, dessen Heimatstadt nun schon seit Wochen in den in den Schlagzeilen ist. Es heißt Pancevo, "Das kennen Sie bestimmt, das ist der Ort, der jeden Tag bombardiert wird", sagt er. Und muß den anderen Zuschauern immer wieder erzählen, daß er noch am Morgen mit seiner Mutter und seinem Sohn telefoniert hat und es ihnen gut geht, "soweit es einem gut gehen kann, wenn man seit Wochen im Keller lebt und nachts an Schlaf nicht zu denken ist". Die Anhänger des SK Makedonija kennen einander gut, man trifft sich seit fast 30 Jahren am Wochenende auf dem Fußballplatz. Im Juni 1970 war der Club in der Kreuzberger Möckernstraße gegründet worden. "Wir waren noch ganz jung, gerade 20, praktisch die ersten Gastarbeiter hier. Für uns gab es nur Arbeit, Arbeit und Fußball", sagt Mile Gosev. Denn obwohl die Gründungsmitglieder in Jugoslawien recht erfolgreiche Kicker gewesen waren, verschwendeten sie keinen Gedanken daran, sich einem der deutschen Profivereine anzubieten. Weil sie trotzdem weiter Fußball spielen wollten, gründeten sie den SK Makedonija, mit dem sie zunächst in einer speziellen, 20 Mannschaften umfassenden "Jugoliga" Freizeitfußball spielten. Kole Talevski und Mile Gosev waren vom FC Novaci gekommen, der Club spielt heute in der 2. Mazedonischen Liga. Dem Verein sind beide noch sehr verbunden: Talevski ist seit Beginn der neunziger Jahre der Hauptsponsor von FC Novaci. "Seit dem Krieg kann ich nicht mehr runterfahren und bei den Spielen zugucken", bedauert der Gastwirt, der in Berlin ein bayrisches Restaurant betreibt. Die Ziele, die die Nato mit diesem Krieg verfolgt, sind ihm schleierhaft: "Europa soll doch eines Tages ohne Grenzen sein, statt dessen werden es durch die Nato nun noch mehr." Milorad Krstev, seit 1977 in Deutschland, hat noch in Titos Armee gedient. Damals, so erzählt er, "waren wir dort alle versammelt, Kroaten, Bosnier, Serben, Albaner, wir waren einfach Kameraden". Den Wehrdienst in Jugoslawien abzuleisten, obgleich man längst in Deutschland lebte, sei für alle völlig selbstverständlich gewesen. Einer der älteren Herren zeigt stolz seinen Unterarm, auf dem ein Datum eintätowiert ist: "8. III. 67", das war der Tag, an dem er zur Armee kam. In der Tradition von Titos Partisanen-Armee, die die deutsche Wehrmacht erfolgreich bekämpft hat, so sagen die Makedonija-Fans, stehe das Bundesheer noch heute. Einem Bodenkrieg, von dem sie denken, daß er möglicherweise schon längst beschlossene Sache ist, sehen die Männer daher aus militärischer Sicht eher gelassen entgegen: "So einfach wie im Irak wird es nicht werden." Ein Militärexperte, der diese Einschätzung gegenüber CNN vertreten hat, wird ausführlich zitiert. Der mögliche Einsatz von Bodentruppen erinnert die Männer auch an den Terror der deutschen Wehrmacht gegen die Serben: Krstevs Familie stammt aus dem mazedonischen Dorf Krupiste. Im Zweiten Weltkrieg wurden dort von der Wehrmacht fast alle männlichen Einwohner erschossen. Als der Enkel Milorad später ausgerechnet nach Deutschland ging, war der Großvater über diese Entscheidung nicht besonders glücklich: "Wir haben sie gejagt, und du gehst dahin?" erinnert sich Krstev an dessen vorwurfsvolle Frage, fügt aber hinzu: "Damals war der Haß auf die Deutschen in Jugoslawien eigentlich schon nicht mehr so besonders groß." Aber daß ausgerechnet Deutschland sich an diesem Krieg beteiligt, habe alle tief enttäuscht. Zumal man in Deutschland nur sehr einseitig über die Bombardements informiert werde. "Was die Nato da macht, ist kein Krieg nur gegen Serben. Auch die in Serbien lebenden Minderheiten sind betroffen, z.B. die Ungarn. Der ungarische Bürgermeister der kleinen Stadt Subotica hat Briefe an die Nato geschrieben, um das dort klarzumachen - seine Initiative blieb ohne Antwort. Und wissen die Deutschen eigentlich, daß in Jugoslawien auch eine deutsche Minderheit lebt?" Aus dem Kriegsgebiet herauszukommen, ist im Moment jedoch für alle gleichermaßen fast unmöglich. "Außer, man besorgt sich einen albanischen Paß", wirft einer ein, aber niemand möchte über diese Option reden. Krstev sagt: "Ich bin der einzige aus meiner Familie, der im Ausland lebt", aber die Familie nachzuholen, ist für ihn kein Thema: "Meine Schwester hat einen guten Job, ihr Mann ist Professor. Sie leben in einem schönen Haus - was sollen sie hier in einem Lager? Was ist das für eine Zukunft?" Die Zukunft findet aber auch für die Männer vom SK Makedonija erstmal nicht statt. Wo auch? "Wir leben hier allein", erklärt einer, "bei uns ist es nicht so wie z.B. bei den Türken, die oft ihre gesamte Familie nachholten. Unsere Angehörigen sind in Jugoslawien geblieben, während wir hier Familien gründeten. Außerhalb des Fußballs verfügen wir kaum über ein gemeinschaftliches Leben. Wir wohnen in Berlin verstreut, im Wedding, in Kreuzberg, überall." So langsam stellt sich für die Älteren der Männer daher auch die Frage, wo sie nach der Pensionierung leben wollen. "Das ist wird sich erst noch entscheiden" ist der allgemeine Tenor. Ob es für sie dann in Deutschland eine Perspektive gibt, wissen sie noch nicht. Krstev sagt: "Hier wird es ja seit Ende der Achtziger wirtschaftlich auch immer schlechter. Wer mit 50 seinen Job verliert, hat in Deutschland keine Chance mehr." Und überhaupt, warum sollte man alt werden in einem Land, dessen Bürger man noch nicht einmal ist? "Ich habe große Hoffnungen auf die geplante Doppel-Paß-Gesetzgebung gesetzt", sagt Krstev, "aber nun?" Tricksen mag er nicht, und selbst wenn er wirklich wollte, wäre das derzeit sowieso fast unmöglich. "Bei den Botschaften hat man im Moment wirklich andere Sorgen", sagt er. Umso verbitterter ist Krstev darüber, "daß den Kosovo-Albanern de facto von den Nato-Staaten eine Art Zweistaatlichkeit eingeräumt wird - ausgerechnet also von der deutschen Regierung, die uns, den hier lebenden Minderheiten, keine solchen Rechte geben wollte." Eine Alternative zum Bleiben sieht derzeit jedoch niemand. "Die jugoslawische Zukunft gibt es nicht, und Mazedonien geht auch langsam kaputt." Und wer weiß, ob die Häuser, die man sich in der Region als mögliche Altersruhesitze gebaut hat, nicht auch bald zerbombt sein werden? Auf die Marshallpläne, die angeblich für die Region schon existieren, mag man sich nicht verlassen: "Was ist denn seither in Bosnien passiert? 1994 war dort der Krieg zu Ende, nun sind fünf Jahre vergangen, und nichts ist geschehen." Mazedonien, so sind sich alle einig, werde durch den Krieg bald wirtschaftlich ruiniert sein. "Die Arbeitslosigkeit war schon immer eine Katastrophe, sie lag bei ungefähr 30 Prozent." Die Bombardierungen haben die Situation nun noch verschlimmert: "Mein Bruder", erzählt Krstev, "ist Lkw-Fahrer, er hat Möbel aus einer Fabrik in unserem Heimatort an ein Berliner Möbelhaus geliefert. Die Fabrik steht zwar noch, aber mein Bruder ist praktisch arbeitslos, denn die Hauptverkehrsstrecke führte durch das Kosovo und Serbien. Nun müßte man über Bulgarien oder Rumänien fahren, aber das würde einfach das Doppelte kosten." Darüber höre man in den deutschen Medien kaum etwas, empören sich die Männer. Und auch nichts darüber, daß die Luftangriffe nicht nur serbische, sondern auch ausländische Produktionsstätten treffen: "In meiner Stadt gibt es nur zwei Fabriken. Die Varta-Batteriefabrik hat man kaputtgebombt, die andere steht zwar noch, kann aber nicht mehr liefern." Aber immerhin, auf einige Länder könne man sich noch verlassen, auf Rußland beispielsweise, auf Griechenland und Bulgarien. Das allerdings gerade seinen Luftraum der Nato zur Verfügung gestellt hat, wahrscheinlich, so vermuten die Makedonijer, weil die bulgarische Zustimmung von den reichen Nato-Ländern ganz einfach gekauft wurde. Wenn man sich derart alleine gelassen fühlt, dann wird schnell alles Teil einer gigantischen Verschwörung. Für einen der älteren Herren bestimmt die Nato mittlerweile selbst das europäische Fußballgeschehen mit. Denn wie sonst sei zu erklären, daß der mazedonische und der serbische Fußballmeister sich erst für die Champions League qualifizieren müssen, während italienische, englische und deutsche Vereine automatisch dabei sein dürfen? "Nur die Nato-Staaten genießen diesen Vorteil!" Auf den Einwand, auch das am Krieg beteiligte Norwegen müsse sich erst umständlich qualifizieren, gibt es eine klare Antwort: "Kein Wunder, denn 300 von deren Soldaten sind einfach zurück nach Hause gefahren, die wollten nicht mehr Krieg führen." Die Vorgänge um die Champions League werden jedoch nicht ernsthaft weiterverfolgt, denn an diesem Sonntagnachmittag hat man es noch mit einem ganz anderen akuten Problem zu tun. Es trägt schwarz, hat eine Trillerpfeife im Mund und macht einfach alles falsch. Aber auch wirklich alles. Fällt auf jede Schwalbe des Gegners herein, vermasselt gute Gelegenheiten mit der dummsten Abseits-Entscheidungen aller Zeiten und ist ganz klar ein großes Ärgernis. "Schiri, Mann, du siehst aber auch gar nichts richtig!" ruft ihm ein entnervter Makedonija-Fan schließlich zu, ein Satz, der im selben Moment wahrscheinlich auf ungefähr tausend deutschen Fußballplätzen geschrien wird. Der Schiedsrichter hat ihn daher wohl auch schon oft gehört, er schaut nur kurz zu den Zuschauern hin, dann fährt er mit seiner skandalösen Tätigkeit fort. Und pfeift kurz darauf schon wieder Abseits, aber damit auch ein Tor der Berliner Amateure ab, die den Ausgleich schon wild bejubelt hatten. Bei Makedonija freut man sich nun auch, und ist sich einig, daß der Mann in Schwarz wirklich fähig ist. Zumal kurz darauf völlig unbeanstandet der Siegtreffer für den SK fällt. Aber schon kurz nach dem Abpfiff befindet man sich wieder in der wirklichen Welt. Man muß diejenigen, die zu spät gekommen sind und daher die neueste Nachrichtenlage kennen, ausfragen. Dusan Petrovski muß erzählen, wie es seiner Familie in Pancevo geht. "Jetzt muß endlich Schluß sein", sagt einer, und alle nicken. Aber das Ende des Krieges würde für die Männer vom SK Makedonija wohl noch lange nicht das Ende aller Probleme bedeuten: "Wie soll das gehen, wenn es für uns irgendwann wieder möglich ist, in den Ferien nach Jugoslawien auf Verwandtenbesuch zu fahren? Die Menschen dort, die durch die Nato-Bomben zu einer Allianz mit Milosevic gezwungen werden, sind wie wir von Deutschland tief enttäuscht. Und wir fahren dann im Sommer fröhlich mit deutschen Auto-Kennzeichen in diesem zerstörten Land herum, ganz so, als ob seit dem letzten Urlaub nichts geschehen sei?"
Elke Wittich
Elke Wittich:
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webredaktion
05.05.1999
https://jungle.world//artikel/1999/18/kein-platz-fuer-die-nato
Ergänzung
Nach einer alten ästhetischen Weisheit reizt am Kunstwerk gerade seine Unvollständigkeit: jene Lücken, die der Autor der Phantasie überlassen hat, auf dass sie im Bewusstsein des Rezipienten nach Gusto vervollständigt werden können. Deswegen hat ein jeder seinen höchsteigenen Käpt’n Ahab, seine eigene Frau Holle, seinen eigenen Jesus vor Augen, und deswegen kommen Verfilmungen von Büchern oder Ballettfassungen bekannter Skulpturen immer etwas defizient daher – es sind halt nur Interpretationen, und meist schlechte, da auf Allgemeinheit zielende. In der Form der Fanfiction, wie sie im Netz massenhaft verfertigt wird, kann der Rezipient hingegen sein individuelles Interpretationsrecht voll ausschöpfen, darf Lücken schließen, wie es ihm gerade gefällt. Diese Selbstermächtigung des Lesers scheint die Kulturindustrie arg zu wurmen – macht sie sich doch daran, die Lücken in den Werken auf eigene Faust zu schließen, verbindliche Interpretationen für jedermann einzurichten. Begonnen hat der Trend wahrscheinlich mit den »Star Wars«-Prequels, nirgendwo aber wird er deutlicher als im Serialisierungswahn von Netflix. Gefühlt jede zweite Serie befasst sich mit der »spannenden Vorgeschichte« von Batman, Norman Bates, Hannibal Lecter und wie sie alle heißen. So gelungen die Serien im einzelnen auch sein mögen, das Bedürfnis dahinter scheint befremdlich. Es soll letztgültig geklärt werden, was doch gerade in seiner Unbestimmtheit gereizt hat, es soll für alle Zeiten feststehen, warum der Joker ein Psychopath und Jesus Sandalettenfan wurde. Fast immer läuft es auf eine vulgarisierte Psychoanalyse und eine verkorkste Familiengeschichte hinaus. Warum gerade die immer und immer wieder bewiesen werden muss? Das erklärt die spannende Vorgeschichte dieses Talmi – im Herbst bei Netflix!
Leo Fischer
Leo Fischer:
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dschungel
28.01.2016
https://jungle.world//artikel/2016/04/ergaenzung?page=0%2C%2C1
Nur ein Drittel der Skins ist rechtsradikal
Eine Umfrage, die Sie für Ihr aktuelles Buch "Die Skins - Mythos und Realität" gemacht haben, hat Überraschendes zu Tage gefördert... Das Wahlverhalten der Skinheads ist in der Tat überraschend: Die bei den Skins beliebteste Partei ist mit 23,9 Prozent die PDS. Knapp dahinter liegen die SPD mit 20 Prozent und die Bündnisgrünen mit 17 Prozent. Die CDU schafft die 5-Prozent-Hürde mit Mühe und Not. Zwar verändert sich die Reihenfolge etwas, wenn man die Wahlergebnisse der verschiedenen rechtsradikalen Parteien addiert: DVU, NPD, Rep und Nationalsozialisten bringen es zusammen auf 27 Prozent und verweisen damit die PDS auf Platz zwei. Dennoch widerspricht es dem stereotypen Bild von "den" Skins. Meine These ist: Die Beweggründe, Skin zu werden, gehen eher auf eine radikale Protesthaltung zuurück als auf eine klare politische Ausrichtung. Die Szene ist äußerst vielfältig, und das Spektrum reicht vom Nazi-Skin und Oi-Skin bis zu den Redskins und SHARP-Skins, die Rassismus eindeutig ablehnen. Das scheint mir doch eine grobe Verharmlosung zu sein. Könnte man das Umfrageergebnis nicht auch umgekehrt deuten: Die Tatsache, daß so viele Skins die PDS wählen wollen, spricht nicht für die Skins - sondern gegen die PDS? Die Stimmen für die PDS kommen aus zwei Richtungen: Da sind einerseits die linken Skins, vor allem aus dem Westen, und da sind Protestwähler aus dem Osten, die sagen: Das ist die einzige ostdeutsche Partei. In der letzten Gruppe gibt es natürlich auch rechte oder rechtsradikale Motive. Dieses Problem hat aber nicht nur die PDS. Die von Ihnen aufgeführten "linken" Skins sind nach den Erkenntnissen von Bernd Wagner eine verschwindende Minderheit, jedenfalls im Osten. Der Kriminalist Wagner beobachtet die Szene seit 15 Jahren, zuerst für das DDR-Innenministerium, dann für das Gemeinsame LKA der Ost-Bundesländer. Er sagt: 50 Prozent der Ost-Skins sind Nazis, 50 Prozent Oi-Skins. Die ersten sind für Deutschland, Blut und Boden, die letzteren für Deutschland, Blut und Bier. Wagner schätze ich sehr, aber er ist nicht auf dem aktuellen Stand. Seit er Ende 1991 aus dem Polizeidienst ausgeschieden ist, fehlen ihm die Berichte aus erster Hand. So erwähnt er in seinen letzten Arbeiten Fanzines, die es seit 1993 nicht mehr gibt, verwechselt rechte und anti-rassistische Bands. Die ostdeutsche Skinhead-Szene ist in ihrer Gesamtheit inzwischen genauso ausdifferenziert wie die im Westen. In Ihrem Buch dokumentieren Sie Originaltexte von Bands und Underground-Zeitungen - gerade ein einziger ist dabei, den man mit gutem Willen als Aufruf zur Toleranz lesen kann. Das sagt viel über Ihr Leseverhalten, wenig über die tatsächlich dokumentierten Texte. Aber wenn es in dem Buch um Rechtsrock geht, da wäre es unlauter gewesen, Beispiele von linken Skin-Bands zu bringen. Ihr Co-Autor Heinz Hachel hält Ihnen in einem Aufsatz entgegen: "Allen vergangenheitsklitternden Beschönigungen zum Trotz: Den nicht-rassistischen Ur-Skin hat es als vorherrschenden Typus niemals gegeben. Dieses Verfahren verstellt den Blick auf den inneren Zusammenhang zwischen proletarisch-romantischem und nationalistischem Protest." Das bezieht sich auf die Anfänge der Skins in England, die ich im übrigen ganz ähnlich sehe. Das war Ende der sechziger Jahre, und die Skins waren weder antirassistisch noch rassistisch, es war eine Männerkultur mit allen häßlichen Begleiterscheinungen, die Männerkultur in der Regel hat. Nicht rassistisch? Ihrem Buch konnte man entnehmen, daß ein Viertel der pakistanischen Studenten in London 1969 von Skinheads verprügelt worden sind. Stimmt. Aber das Dominante in dieser Szene war damals die Gewalt, die sich undifferenziert entlud. Pakistanis waren nur eine Zielgruppe unter mehreren. Viele Skins haben das Pakistani-Bashing nicht mitgemacht, und umgekehrt: Viele Nicht-Skins haben sich daran beteiligt, wurden aber gerne als "Skins" registriert. Anderes Beispiel, das ich ebenfalls aus Ihrem Buch - by the way: Das Buch ist viel besser als Ihre Thesen - entnehme: Als die Skin-Band Sham 69 sich Ende der siebziger Jahre plötzlich zur Linken bekannte, wurde das von ihren Fans mit einem Aufstand beantwortet - die Auftritte endeten mit Attacken auf die Musiker, die Band mußte abtreten. Das war zehn Jahre nach den Anfängen, die Szenerie hatte sich geändert. 1969 hatten die Skins noch keine weißen Stars - sie mußten nolens volens die schwarzen Idole des Reggae und des Ska verehren, deren Musik die Skin-Bewegung hervorgebracht hatte. Dieses Gespaltensein verhinderte Rassismus als dominante Erscheinung in den Skin-Anfängen. Zehn Jahre später gab es weiße Stars. Über England und die Anfänge könnte man lange debattieren. Aber als die Bewegung in die BRD überschwappt - spätestens dann ist sie doch rechtsradikal überformt, oder? In gewissem Sinne stimmt das: Nazi-Bands, die auf der Insel nur mäßigen Erfolg hatten, kamen in der BRD groß raus, zum Beispiel die Screwdriver. Und wenn in englischen Texten der Begriff "working class" auftauchte, so wurde er bei der Übersetzung durch deutsche Skins immer unübersetzt gelassen - mit Arbeiterklasse hatte man nichts am Hut, das klang zu links. Aber diese Entwicklung kam auch daher, daß die deutsche Linke von Anfang an auf Abgrenzung aus war. Ein Linker, der zu den Skinheads gehen wollte, wurde von seinem politischen Umfeld stigmatisiert. Deshalb waren es nur wenige. Umgekehrt wirkte genau das auf viele Rechte anziehend. Der Bezug auf die Arbeiterschaft muß nicht unbedingt links sein. Wenn das Ziel die Gleichberechtigung des Arbeiters als Volksgenosse ist - nun, das hatte auch die SA. Richtig, daß die Arbeiterklasse etwas Linkes sei, gehört seit Jahrzehnten zur linken Mystik. Ich behaupte ja nicht, daß die Glatzen wegen ihres "working class"-Stolzes Linke seien. Ich behaupte nur, sie sind nicht unbedingt faschistisch. Das reale Kräfteverhältnis sieht so aus: Ein Drittel rechtsradikal, ein Drittel explizit antirassistisch, ein Drittel "Unpolitischer" dazwischen. "Ich bin unpolitisch" - das war doch auch die Standardausrede der Pogromisten von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen? Richtig. Aber gleichzeitig ist es ein durchgängiges Lebensgefühl der Jugend. Dieses Bekenntnis hört man in Schulklassen, in Techno-Discos - das hat nichts mit Rechts zu tun, sondern ist Ausdruck einer tiefen Enttäuschung über die Blockade positiver Veränderungen durch die Politiker jeder Couleur. Die Skins geben dieser Politikfeindlichkeit einen bestimmten Ausdruck, aber sie haben sie nicht geschaffen. Deswegen lehnen sie übrigens auch dann Politiker ab, wenn sie aus der Nazi-Ecke kommen. Wäre Kühnen Skinhead gewesen, hätte er tollen Erfolg haben können - so, wie er war, hatte er keine Chance. Mit Theoriebildung und Anzugträgern wollen die meisten Skins nichts zu tun haben. Ein antibürgerlicher und antiintellektueller Affekt - typisch für die bündische Jugendbewegung, die den Nazis den Weg ebnete... ...und für die kommunistische Jugend der Weimarer Zeit. Dort findet man dieselbe Körpersprache, dieselbe Gewaltbereitschaft, auch das Prinzip von Befehl und Gehorsam. ...was gegen diese kommunistischen Jugendverbände spricht, aber nicht für die Skin-Vorläufer vom Wandervogel. Jedenfalls wird die Skin-Szene immer differenzierter. Die Glatzen sind ein Spiegel der Gesellschaft: 1992/93 rückten sie im Zuge der Asyldebatte nach rechts. Und jetzt? Die Pioniere werden älter, und die Nachwachsenden unterliegen neuen gesellschaftlichen und musikalischen Einflüssen. Mehr Studenten und Oberschüler gehören zur Szene als früher. Die Glatzen waren nicht das Spiegelbild, sondern die Sturmtruppen der Rechtsverschiebung in den neunziger Jahren. Aber die Theoretiker der Rechtsverschiebung und die Nazi-Strategen waren keine Skinheads. Außerdem lassen sich viele die Haare scheren, ohne Skin sein zu wollen. Geht man heute in eine Techno-Disco, sieht man Glatzen, Bomberjacken, Springerstiefel. Das Feindbild Skin ist so bequem. Jedenfalls: Die Verzahnung zwischen Subkultur und Nazis hat sich in den letzten Jahren gelöst. Bernd Wagner behauptet das Gegenteil: Daß das Konzept der Rechten "Nazi-Party statt Nazi-Partei" voll eingeschlagen hat. In vielen Klein- und Mittelstädten der neuen Bundesländern beherrschen die Rechtsradikalen die Schulen und Jugendclubs. Die These von der rechtsradikalen Dominanz in der Ost-Jugend ist Unsinn. Die Punk-Szene im Osten ist nicht nur stärker als im Westen, sondern auch stärker als die Skins. In jeder Stadt gibt es eine große HipHop-Gemeinde. Die Verschmelzung zwischen den Nazis und ihrem Umfeld, die Wagner vielleicht meint, findet statt - aber sie betrifft nur ein relativ kleines Segment der Jugend. Ein Beispiel: Wenn ich bei Vorträgen vor Schulklassen vor einigen Jahren ein Video von Screwdriver gezeigt habe, gab es viel Zustimmung, rassistische Sprüche und so. Heute finden das Video die meisten Schüler peinlich. Das Image der Rechten bei den Schülern ist wesentlich schlechter geworden. Das Beispiel Schwedt spricht dagegen. Das Beispiel Schwedt sprach dagegen. Anfang 1997 war ich dort in einem rechten Jugendclub eingeladen. Zu meiner Überraschung tauchten auch drei, vier Linke auf und diskutierten mit - das wäre vor zwei drei Jahren nicht möglich gewesen. Alle sagen, die Gewalt in Schwedt hat abgenommen... ...weil den Nazis die Gegner ausgegangen sind. Ganze Abiturjahrgänge sind doch aus Schwedt weggezogen, weil sie keinen Bock mehr auf Browntown hatten. Maßgeblich für das Nachlassen der Gewalt ist eher, daß die Rechten älter geworden sind, zum Teil im Knast sitzen oder bei der Bundeswehr sind. Ich will nicht bestreiten, daß Schwedt kraß ist - vor allem durch die katastrophale Politik, die der Bürgermeister dort macht und die im wesentlichen darin besteht, Rechte zu verharmlosen und das Aufkommen alternativer, bunter Jugendkultur zu verhindern. Aber Schwedt ist nicht überall.
jürgen elsässer
jürgen elsässer: Klaus Farin
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Interview
18.12.1997
https://jungle.world//artikel/1997/51/nur-ein-drittel-der-skins-ist-rechtsradikal?page=0%2C%2C0
Esso-Häuser in Seenot
Er hieß Micro, und der Kiez war sein Zuhause. Nur der Imbissverkäufer in der Bude zwischen Esso-Tankstelle und Spielbudenplatz auf St. Pauli wollte nicht verstehen, dass Micro ausgerechnet vor seiner Bude abhängen musste. Der Punk, den es irgendwann von Italien nach St. Pauli verschlagen hatte, sollte verschwinden. Schnorrer seien schlecht für das Geschäft. Es kam zur Rangelei. Micro griff zum Barhocker und schlug zu. Er bekam Bewährung. So erzählt man sich die alte Geschichte noch heute auf dem Kiez. Auch Manta kennt die Geschichte. Manta ist selbst ein Urgestein der Punkszene in Hamburg. Sein Stammplatz war lange Zeit der Gehweg vor dem Kiosk an der Feldstraße. Er erinnert sich noch an die Zeit, als sich keine Polizeistreife in das direkt hinter dem Heiligengeistfeld, dem Wohnzimmer des FC St. Pauli, gelegene Karo-Viertel traute. Hier lag auch der berühmte Bauwagenplatz Bambule, jedenfalls bis Ronald Barnabas Schill seinem Spitznamen »Richter Gnadenlos« alle Ehre machte und das Areal 2002 räumen ließ. Heute findet man hier Designerläden und Cafés. Mantas Einstellung gegenüber der Staatsgewalt ist die alte geblieben. So ist es auch schon mal vorgekommen, dass er sein Dosenbier geopfert hat, um es auf einen vorbeifahrenden Streifenwagen zu werfen, ohne jede Vorwarnung. Das ist jetzt zwei Jahre her. Was hat sich geändert? Das Gebiet zwischen Bahnhof Sternschanze und der Hafenstraße in St. Pauli wird immer gesichtsloser. Die Viertel verlieren ihren Charme, und Manta kämpft gegen den Krebs, er magert ab und verliert seine Zähne. Man bekommt ihn kaum noch zu Gesicht. Micro würde vielleicht ausrasten, wenn er wüsste, dass mittlerweile sogar sein alter Stammplatz vor dem Imbiss gentrifizierungsgefährdet ist. Und zwar nicht durch einen spießigen Aushilfswurstdreher, sondern durch den Abriss des ganzen Areals. Die Esso-Tankstelle, die drei Mietswohnhäuser und die gut 100 Meter lange Ladenzeile davor sollen verschwinden. Aber Micro lebt nicht mehr, er starb vor zwei Jahren in Bielefeld. »Ich sehe, dass die Seele des Kiezes kaputt geht«, sagt Aron Schneider. Er hat knapp zwei Jahre für das Stadtteilbüro GWA St. Pauli als Sozialarbeiter gearbeitet und sich dort um die Mieter gekümmert. Für ihn bedeutet der geplante Abriss auch das Ende des Viertels, wie man es bisher kannte. Andi Schmidt ist einer der Betreiber der »Meanie Bar« und des »Molotow«, die in der Ladenzeile untergebracht sind. Für ihn ist das, was hier passiert, die »Ballermannisierung« der Nachbarschaft. Ähnlich wie Kreuzberg ist auch St. Pauli zum Lieblingsspielplatz deutscher Touristen aus den Randgebieten geworden. Am Wochenende ist das Publikum auf der Reeperbahn nicht mehr von dem einer Großraumdisko im Sauerland zu unterscheiden. Der Spielbudenplatz, dessen zwei große LED-Leinwände der Energiekonzern Vattenfall sponsert, lädt im Winter zum verruchtesten Weihnachtsmarkt der Welt ein und wirbt mit einem onanierenden Cartoon-Weihnachtsmann. Vor allem im Sommer herrscht auf dem Platz Ballermann-Stimmung. Es gibt einen Sandstrand, die Sangria fließt in Strömen. Schlechte Coverbands spielen Fetenhits. Die Esso-Häuser sind umzingelt. Seit 1949 stehen die Hochhäuser samt der Esso-Tankstelle am Spielbudenplatz, den Corny Littmann mal den Dorfplatz von St. Pauli genannt hat. 2009 übernahm ein Investor das Areal. Eine Augenweide sind die gammeligen Esso-Häuser nicht gerade. Schwarze Flecken ziehen sich über die bröckelnden Außenwände. »Man kann nicht davon sprechen, dass hier eine Gentrifizierung stattfindet«, sagt der für Bauvorhaben des Bezirks Hamburg-Mitte zuständige Bezirkamtsleiter, Markus Schreiber. Der Sozialdemokrat ist davon überzeugt, dass die Mieter, die in den vergangenen Monaten in den lokalen Zeitungen gegen einen Abriss argumentierten, nur »eine eklatante Minderheit« darstellten. Da seine Partei im Wahlkampf Sozialwohnungen versprochen hat, ist er froh, »dass man mit dem neuen Eigentümer, der Bayerischen Hausbau, einen Drittel-Mix vereinbart hat«. Die Wohnsituation im Kiez werde sich bessern, keineswegs verschlechtern. Mit Drittel-Mix meint Schreiber, dass es Sozialwohnungen, Mietwohnungen und Eigentumswohnungen geben wird. Eine bezahlbare Mietwohnung im Stadtgebiet wird auch von Familie Sommer gesucht. »Das ist doch wieder nur Eigentum«, stöhnt Jörg immer wieder, wenn er im Internet nach einer Mietwohnung sucht. Die dreiköpfige Familie wird demächst um zwei Mitglieder reicher. Jörgs Frau erwartet Zwillinge. Die Eheleute fühlen sich »verarscht«, wie so viele, die auf Wohnungssuche sind. Dabei reißen sich die Städte um junge Familien mit akademischem Background. Die Sommers sind studierte Ingenieure und gehören dem Einkommen nach zur Mittelschicht. Doch immer wieder bezweifeln sie, ob sie sich Hamburg noch leisten können. »Wir wollten erst in Richtung Süddeutschland ziehen«, sagt Jörg und wirkt dabei ziemlich geknickt. Süddeutschland oder Randgebiete namens Bramfeld, Rahl­stedt oder Pinneberg, das sei keine zufriedenstellende Aussicht. Auch die Mieter in den Esso-Häusern wissen um die Probleme auf dem Wohnungsmarkt. »Viele würden lieber nicht mehr umziehen«, sagt Aron Schneider. Seiner Einschätzung nach möchten 90 Prozent der Anwohner auf St. Pauli bleiben. »Es geht um Leute, die in den Häusern seit 30, 20, zehn Jahren wohnen. Die bezahlen fünf bis zehn Euro pro Quadratmeter.« Wenn die Menschen dort raus müssten, würden nur die wenigsten zurückkehren können.
Thomas Ewald
Thomas Ewald: Wohnen in St. Pauli wird teuer
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dschungel
30.06.2011
https://jungle.world//artikel/2011/26/esso-haeuser-seenot?page=0%2C%2C2
Frühling für das kleine Volk
Abwechselnd steigt einem, je nach Windrichtung, der Duft der Pinienwälder in die Nase oder der Faule-Eier-Geruch der nahe gelegenen Öl-Raffinerien, deren Abfackelungen man schon von weitem sieht. Die große Halle von Martigues liegt eingekeilt zwischen dem »provenzalischen Venedig« - wie die malerische Altstadt des südfranzösischen 45 000-Einwohner-Ortes genannt wird - und der enormen Autobahnbrücke, die den Canal Quarante überspannt, der das nahe Mittelmeer mit dem Binnenmeer Etang de Berre verbindet. Martigues ist KPF-Stammland: Seit Kriegsende wird die Stadt von der Kommunistischen Partei regiert. Hier und im drei Kilometer entfernten Port-de-Bouc, wo »die Partei« bei der letzten Kommunalwahl 1995 mit 64 Prozent der Stimmen ins Rathaus wiedergewählt wurde, ist der Partei-Kommunismus noch immer eine soziale Realität mit Masseneinfluss. »Klein-Russland« nannte man Port-de-Bouc in den sechziger Jahren, bevor die Regierung Charles de Gaulle die Werften der Stadt als »Brutstätte des Kommunismus« dichtmachen und die Arbeitsplätze auf die Nachbarstädte verteilen ließ. Noch immer gibt es im Hafen das Einstellungsbüro, das von der lange Zeit KP-nahen Gewerkschaft CGT kontrolliert wird. Vor Jahrzehnten haben sich die Werft- und Hafenarbeiter der Region das Recht erkämpft, die Vergabe von Arbeitsplätzen von ihrer Gewerkschaft kontrollieren zu lassen. Die Mittvierzigerin Jeannette D., Beschäftigte in einem Supermarkt der Stadt, gehört zu den ortsansässigen KP-Mitgliedern. »Bei einer sozialen Revolution wäre ich sofort dabei, und wenn ich das Bajonett dabei in die Hand nehmen müsste, würde ich es auch tun«, drückt sie ihre Überzeugung aus. Sie ist in der CGT und in der gewerkschaftlichen Rechtsberatung aktiv, bildet sich an der Marseiller Universität in Sozialwissenschaft fort, engagiert sich für illegalisierte Immigranten, für Entlassene und Opfer anti-gewerkschaftlicher Repression. Doch ihren Partei-Beitrag für das Jahr 2000 hat sie noch nicht bezahlt. Ihr Ehemann hat seinerseits lange gezögert, und ihr Schwager hat vor drei Jahren die KP-Mitgliedschaft aufgegeben - »was ihm schwer fiel, nachdem er jahrelang Bezirksvorsitzender gewesen war«. Drei Viertel der Mitglieder vor Ort seien am Zweifeln, sagt Jeannette : »Die Partei wird immer reformistischer. Wir sind in einer Regierung, die eine wirtschaftsliberale Politik betreibt. Unsere Abgeordneten haben Gesetzen zugestimmt, unter denen wir im Arbeitsleben konkret zu leiden haben, wie dem Gesetz zur 35-Stunden-Woche - ein Betrug, der nur dazu dient, die Flexibilität durchzusetzen.« In der Ära des alten Parteichefs Georges Marchais (1970 bis 1994) sei es besser gewesen, meint sie. Sicher, es habe strengere Disziplin geherrscht als heute, und die innerparteiliche Demokratie sei nicht immer sonderlich entwickelt gewesen. »Aber wir akzeptierten das, weil wir glaubten, wir müssten der Zentralisierung des Kapitals mit seiner Fabrikdisziplin eine ebenso zentralisierte und durchorganisierte Kraft entgegensetzen.« Ihr Sohn Pascal, Mitte Zwanzig - er war lange Mitglied der KP-Jugend, arbeitet nun in der Gewerkschaft mit - widerspricht am Abendbrottisch : »Die Zeiten haben sich geändert. Man kann nicht so weitermachen wie früher, man muss den Einzelpersonen mehr Raum lassen.« Wohin die Entwicklung der Partei gehe, sei offen, im Prinzip sei eine Neuorientierung positiv. Drei Kilometer entfernt wurde am letzten Donnerstag der Parteitag des Parti Communiste Fran ç ais (PCF) eröffnet, der dreißigste, seitdem die KP auf dem Kongress von Tours 1920 aus einer Spaltung der französischen Sozialdemokratie hervorging. Nicht weit von hier, in Marseille, hatte daraufhin die Mehrheitsfraktion der gespaltenen Sozialisten 1921 die Kommunistische Partei begründet. Eine Gegend also, mit der französische Kommunisten die Tradition verbinden. Trotzdem sind vor der großen Halle von Martigues keine roten Fahnen aufgezogen. Schon auf dem letzten Kongress im Dezember 1996 waren Hammer und Sichel aus dem Arsenal der Partei entfernt worden. Für jene, die der von Parteisekretär Robert Hue ausgerufenen mutation, die Veränderung, der KP mit Skepsis, Kritik oder offener Ablehnung gegenüberstehen, ein neues Anzeichen für die »reformistische Selbstaufgabe« und »schleichende Sozialdemokratisierung« der Partei. Doch unter den Kongress-Delegierten bleiben sie in der Minderheit. Am Sonntagvormittag werden sich zum Abschluss 50 von ihnen zur Protestdemo vor dem Kongress ihrer eigenen Partei versammeln - für die französische KP ein ungewohnter Akt, der noch vor wenigen Jahren unerhört gewesen wäre. Die explizite Kritik bleibt auf dem Kongress im Wesentlichen auf jene »orthodoxen«, »konservativen« Kreise beschränkt, die den alten Strukturen der KP aus der Zeit verhaftet bleiben, da sie noch dem »sowjetischen Modell« folgte. Eine Ausnahme bildet etwa Charles Hoareau, der populäre Führer der CGT-Arbeitslosenkomitees aus Marseille. Er rief am Donnerstag dem Kongress zu : »Ich bin weder ein mutard noch ein Konservativer. Sicherlich muss sich eine Partei ändern, die bei den Wahlen der letzten Jahre ordentlich auf die Mütze bekommen hat. Die Frage ist nur: wohin?« 900 Delegierte und 500 Gäste nahmen in der zweiten Hälfte der vergangenen Woche am 30. Kongress des PCF teil. Zum ersten Mal ist die Gesamtheit der übrigen Linkskräfte vertreten, vom sozialdemokratischen Fran ç ois Hollande bis zu den einst als »Verräter am kommunistischen Lager« verfemten Trotzkisten. Nach wie vor sind die ausländischen KP vertreten, die schon längst nicht mehr als »Bruderparteien« bezeichnet werden: von der italienischen oppositionellen Rinfondazione Comunista und der mitregierenden »Partei der italienischen Kommunisten« PdCI über die deutsche PDS und die Kubaner bis hin zur vietnamesischen Staatspartei. Nicht eingeladen, ja ausdrücklich unerwünscht sind zum ersten Mal die Russen. Bereits 1996 hatte die französische KP antisemitische Töne des russischen KP-Vorsitzenden Gennadi Sjuganow kritisiert. Die nationalistische Position der russischen KP zum jüngsten Tschetschenien-Krieg hatte schließlich Anfang des Jahres zu ihrer Ausladung geführt. Die im Januar 1994 gewählte Führung unter dem Nationalen Sekretär Robert Hue, die letzte Woche ihren zweiten Parteikongress bestritt, hatte nach dem 28. Parteitag eine Reform der KP an Haupt und Gliedern in Aussicht gestellt. Damit sollte der damals erklärte »Bruch mit dem sowjetischen Modell« im Inneren der Partei umgesetzt werden. Zugleich sollten die gesellschaftliche Rolle und das Selbstverständnis der Kommunistischen Partei radikal neu definiert werden, nachdem einige ihrer alten Gewissheiten, etwa über die Rolle der Arbeiterklasse und der KP, den etappenmäßigen Verlauf der Geschichte und die Natur der Länder des »realen Sozialismus«, zerbrochen waren. Die Parteiführung versucht, die KP als eigenständige politische Kraft durch eine betonte Öffnung in mehrere Richtungen zugleich zu profilieren. So wird die Beteiligung an einer sozialdemokratisch geführten Regierung, deren Wirtschaftspolitik häufig genug sozial-liberale Züge trägt, ebenso als Ausdruck einer Öffnungspolitik dargestellt wie die neue Offenheit gegenüber sozialen Bewegungen. Die KP, deren realer Einfluss auf den Kurs der Jospin-Regierung ausgesprochen begrenzt ist, versucht sich sogar als verlängerter Arm der sozialen Bewegungen und der Zivilgesellschaft innerhalb der Regierung zu profilieren, etwa wenn Hue auf dem Parteitag angesichts massiver Streiks und Proteste der Beschäftigten im Bildungswesen und in der Finanzverwaltung seine an Regierungschef Jospin gerichtete Forderung nach einem »Frühling für das kleine Volk auf der Straße« wiederholt. Die bekannte Feministin und Trotzkistin Maya Surduts bleibt skeptisch. Am Ausgang des Parteitags-Forums, das am Freitagvormittag über »Die strategischen Orientierungen der KP« diskutiert, kommentiert sie: »Die 'soziale Bewegung' wird ständig beschworen. Einige der Delegierten, die dies hier geäußert haben, tun dies ehrlich und auf differenzierte Weise. Bei anderen geschieht es mitunter gebetsmühlenartig, und 'die soziale Bewegung' hat als Generalformel 'die Arbeiterklasse' abgelöst, als deren Vertretung man sich so lange ausgab.«
Bernhard Schmid
Bernhard Schmid: 30. Parteitag der französischen KP
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Ausland
29.03.2000
https://jungle.world//artikel/2000/13/fruehling-fuer-das-kleine-volk?page=0%2C%2C3
Es bleibt in der Familie
Die »Übergabe der Fackel« an seine Tochter funktionierte reibungslos. Am Samstag hielt Jean-Marie Le Pen im zentralfranzösischen Tours seine Abschiedsrede als Vorsitzender des rechtsextremen Front National (FN). Am Sonntag legte er sein Amt nieder, um es an seine 42jährige Tochter Marine Le Pen zu übergeben. Er wird sich nicht völlig aus der Parteipolitik zurückziehen, sondern als zukünftiger »Ehrenvorsitzender« der von ihm gegründeten Partei in allen Führungsin­stanzen vertreten bleiben. Aber Jean-Marie Le Pen wird nun nicht mehr ganz vorne auf der Bühne stehen. Vier Wochen lang hatten die eingeschriebenen Parteimitglieder des FN Zeit, um in einer Urabstimmung über die Nachfolge des Parteivorsitzenden zu entscheiden. Zur Auswahl standen Marine Le Pen und der frühere Juraprofessor Bruno Gollnisch. Die »Tochter des Chefs« trug mit 67,65 Prozent der Stimmen einen guten Zwei-Drittel-Sieg davon. Aus Anlass der Neuwahl wurde auch publik, über wie viele Parteimitglieder der FN derzeit verfügt. Die Auszählung musste beglaubigt und in Anwesenheit eines Gerichtsbeamten vorgenommen werden, für dieses Procedere mussten auch die Register offengelegt werden. Gut 17 000 Mitglieder nahmen an der Abstimmung teil. Die Mitgliedszahlen des FN liegen damit nach wie vor deutlich unterhalb derer des Jahres 1999, bevor es zu einer ersten Spaltung der Partei kam, die zu einem Gerichtsstreit zwischen zwei Flügeln um den Anspruch auf den Parteinamen führte. Gerichtlich beglaubigt hatte die Partei damals 42 000 Mitglieder. Allerdings hat der FN im Vergleich zu den Jahren zwischen 2007 und 2009, als er in einer ­tiefen Krise steckte, wieder starken Zuwachs zu verleihen. Auffallend ist auch, dass unter den Delegierten, die sich in Tours versammelt haben, alle Altersgruppen vertreten sind, wobei viele Vertreter der jüngeren Generation im bürgerlichen Sinn durchaus »vorzeigbar« sind. In den vergangenen Jahren dominierten beim Nachwuchs des FN noch Bomberjackenträger mit extremen Kurzhaarschnitten. Offensichtlich ist es dem FN gelungen, erneut Nachwuchs zu rekrutieren. Ansonsten sind die Delegierten zu 80 Prozent männlich. Die wenigen Frauen, die man im Saal antrifft, sind überwiegend auffallend adrett ­gestylt. Rund 2 000 Anhänger sind zum Parteitag angereist, die Redebeiträge sind an diesem Wochenende jedoch ausschließlich der Parteiprominenz vorbehalten. Am Sonntag früh spricht zunächst der unterlegene Kandidat. Gollnisch verkündet seine Loyalität zur gewählten neuen Vorsitzenden und sagt, dass er sich dem Ergebnis und dem Willen der Mehrheit beugen werde. Es wird also nach diesem Parteitag wohl nicht zu ­einer Abspaltung der – oft als »radikaler« dargestellten – Minderheit kommen, die er repräsentiert. Inhaltlich betont Gollnisch, dass »die Verteidigung der traditionellen Werte« für seine Partei »keineswegs spießig, sondern sehr modern« sei. Er bezieht sich auf die Ehe, Familie und das Verbot von Abtreibungen. Hinsichtlich dieser »Werte« bestehen Differenzen zu der zweifach geschiedenen und in »Moralfragen« als relativ aufgeschlossenen geltenden neuen Vorsitzenden. Und Gollnisch gedenkt »unserer Toten: der Toten vom Februar 1934, des Indochina- und Algerien-Kriegs«. Am 6. Februar 1934 hat in Paris vor dem Parlament ein Putschversuch von rechts­extremen Kampfverbänden stattgefunden. Da der FN zu dieser Zeit noch nicht existierte, kann man Gollnischs Ausführung als eine deutliche Anknüpfung an die Geschichte der faschistischen Rechten verstehen. Marine Le Pen hält solche historischen Bezüge eher für unklug. Die neue Vorsitzende spricht in ihrer Rede am Sonntagnachmittag auffallend oft von der Republik. Ein Begriff, der bis zum Herbst 2006 – als die »Republik« durch den Einfluss von Marine Le Pen Einzug in das Vokabular des FN hielt– bei der extremen Rechten tabuisiert war. Denn in Frankreich erinnert er an eine historisch-politische Traditionslinie, die 1789 begründet wurde, gegen die aber Teile der extremen Rechten wie ihr monarchistischer und ihr katholisch-fundamentalistischer Flügel stets opponiert hatten. In ihrer Rede auf dem Parteitag widmet sich Marine Le Pen vor allem wirtschaftlichen und sozialen Themen. Die strategischen Unterschiede zwischen den beiden bisherigen Kandidaten sind beträchtlich. Dennoch sagt Marine Le Pen, mit der Entscheidung über den Parteivorsitz gebe es »keine Marinisten oder Gollnischianer mehr, sondern nur noch Aktivisten des FN«. Sie bietet ihrem unterlegenen Kandidaten sogar die »erste Vizepräsidentschaft« der Partei an, was dieser jedoch ausschlägt. Gollnisch bleibt aber Mitglied im »Poli­tischen Büro«, dem zweithöchstem Führungsgremium des FN. Einen kleinen Eklat hat der Parteitag auch noch zu bieten. Sonntagmittags sind aus dem Pressezentrum plötzlich Schreie zu hören und man vernimmt das klirrende Geräusch zerbrechender Gläser. Kurz darauf betritt Farid Smahi den Saal. Der algerischstämmige Franzose war bislang Mitglied im »Politischen Büro« des FN. Die Partei hatte immer schon einzelne arabischstämmige Mitglieder, die meistens aus der Gruppe der Harkis stammen, jener Nordafrikaner, die zwischen 1954 und 1962 in der Kolonialarmee für den Erhalt der französischen Herrschaft kämpften. Im innerparteilichen Wahlkampf um den Vorsitz hielt Smahi zu Gollnisch. In der neuen Besetzung des »Politischen Büros« taucht sein Name nicht mehr auf. Deswegen schreit Smahi nun: »Zwölf Jahre lang war ich der Kanake vom Dienst. Und jetzt werde ich aus rassistischen Gründen herausgesäubert!« Andere Führungsmitglieder versuchen ihn zu beruhigen. Smahi zieht jedoch, begleitet von Journalisten und Kameras, quer durch die Kongresshalle bis vor die Tür. Er will eine politische Affäre aus seinem Abgang machen: »Marine Le Pen gehört zu jenen Teilen der nationalen Rechten, die von einer Lobby bezahlt werden, um Front gegen die Muslime zu machen und einen Angriff auf den Iran vorzubereiten.« Kurz, sie ist – ihm zufolge – durch »die zionistische Lobby« eingekauft worden. Umstehende Kongressteilnehmer reden auf ihn ein, manche beruhigend, andere drohend: »Du beschimpfst den FN als rassistisch? Du wirst schon sehen!« Daraufhin verabschiedet sich Smahi mit den Worten: »Ich gehe wie ein Kanake, mit meinen Koffern!«
Bernhard Schmid
Bernhard Schmid: MarineMarine Le Pen ist die neue Vorsitzende des französischen Front National 
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Antifa
20.01.2011
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War dun dun
Ein Jahrzehnt lang wurde Sierra Leone, das arme, aber diamantenreiche westafrikanische Land, von einem brutalen Bürgerkrieg verwüstet. Mittlerweile jedoch scheint die Bevölkerung das Schlimmste überstanden zu haben. Der Waffenruhe und dem Friedensabkommen vom vergangenen Jahr folgte das offizielle Ende des Krieges im Januar, nachdem über 45 000 Rebellen entwaffnet worden waren. In der vorletzten Woche fanden in Sierra Leone Wahlen statt, die nach Aussagen internationaler Beobachter fair verliefen. »Es gab eine Anzahl logistischer Mängel, aber diese sind, soweit ich es beobachten konnte, auf ein Defizit an Ressourcen zurückzuführen und nicht auf politische Manipulation«, erklärte Johan Van Hecke, der Chef der EU-Wahlbeobachter, der BBC. Der amtierende Präsident Ahmad Tejan Kabbah gewann mehr als 70 Prozent der Stimmen und vermied mit diesem bequemen Vorsprung einen zweiten Wahlgang. Sein stärkster Rivale Ernest Koroma kam über 22 Prozent, während für den Rebellenführer der RUFP, Paolo Bangura, lediglich 1,7 Prozent stimmten. Ein Schlamassel - das ist die passende Beschreibung der Politik in Sierra Leone. Nachdem im Jahr 1961 die Unabhängigkeit erreicht wurde, putschte insgesamt sechsmal das Militär, dreimal gab es Versuche, zu einer zivilen Regierung zurückzukehren. 1996 fanden zum ersten Mal Wahlen statt, zu denen mehrere Parteien antraten. Kabbah wurde Präsident, um ein Jahr später von Johnny Paul Koroma verdrängt zu werden. Dank einer militärischen Intervention Nigerias in den Bürgerkrieg kehrte Kabbah 1998 ins Amt zurück. Indessen war die Revolutionäre Vereinigte Front (Ruf), die seit Anfang der neunziger Jahre die Regierung bekämpfte, 1997 und 1999 kurz davor, die Hauptstadt zu erobern. Der Ruf wird eine extreme Grausamkeit nachgesagt, ihre Mitglieder hackten ihren Feinden und auch zahlreichen Zivilisten Hände und Füße ab oder verstümmelten sie im Gesicht. Stark war die Ruf nur, solange sie sich aus dem Diamantenhandel finanzieren konnte; doch schließlich waren die von ihren Mitgliedern begangenen Gräueltaten ein wichtiger Grund dafür, dass die Diamantenhändler ein Abkommen schlossen, den Handel mit allen Parteien des Konflikts zu stoppen. Die Ruf ist zu einer politischen Bewegung geworden, seitdem sie den Buchstaben P, der für »Partei« steht, in ihren Namen einfügte. Ihr Führer Foday Sankoh sitzt im Gefängnis und erwartet wegen Kriegsverbrechen einen Prozess vor einem speziellen UN-Gericht. Anhänger der Ruf hoffen noch immer auf seine Freilassung, obwohl sie mehr als unwahrscheinlich ist, und ernannten Sankohs früheren Generalsekretär Bangura vorläufig zum Präsidentschaftskandidaten der RUFP. Bei den Wahlen am 14. Mai kämpften neun Parteien um Sitze im Parlament. Doch schnell stellte sich heraus, dass es nur zwei Kandidaten mit Aussichten auf das Präsidentenamt gab, den amtierenden Präsidenten Kabbah von der Sierra Leone Volkspartei (SLPP) und Ernest Koroma, den Kandidaten des All Peoples Congress (APC), der Sierra Leone zwischen 1970 und 1980 als Einparteienstaat regiert hatte. Der frühere Militärdiktator Johnny Paul Koroma (nicht verwandt mit Ernest) und seine Friedens- und Freiheitspartei (PLP) scheinen gut mit den Polizei- und Streitkräften auszukommen, er landete auf dem dritten Platz. Fast ohne Störung ging der Wahltag vorüber. 2,3 Millionen registrierte Wähler gaben ihre Stimme in mehr als 5 000 Wahllokalen ab. Schon Stunden vorher bildeten sich Schlangen vor den Wahllokalen, obwohl diese erst um sieben Uhr öffneten. Ohne Vorfälle warteten die Wähler in der prallen Sonne. In Schlüsselbereichen des Staates Beschäftigte durften bereits vier Tage zuvor ihre Stimme abgeben, um ihren Dienst beim Militär, bei der National Electoral Commission, der Feuerwehr oder der Polizei am Wahltag leisten zu können. Am 11. Mai kam es in Freetown zu heftigen Auseinandersetzungen, als die Anhänger der regierenden SLPP nach einer Kundgebung versuchten, zum Hauptsitz der RUFP zu marschieren. Die Büros der RUFP wurden zerstört und geplündert, elf Menschen wurden verletzt. Die Kämpfe konnten erst beendet werden, als Truppen der United Nations Mission in Sierra Leone (Unamsil) Warnschüsse abfeuerten. Wer für die Eskalation des Konflikts verantwortlich war, konnte bislang nicht geklärt werden. Beobachter bestätigen dennoch, dass diese Wahlen die ersten seit 1961 waren, die weitgehend friedlich verliefen. Der 70jährige Kabbah hatte einen deutlichen Vorteil in diesem Wahlkampf. Er präsentierte sich als Friedensstifter, und in gewisser Weise ist er es auch, denn er brachte die britischen Truppen ins Land, die ihrerseits die Unamsil beim peace keeping unterstützen. Diesem Vorteil hatten die anderen Kandidaten nur wenig entgegenzusetzen. »War dun dun« - »Der Krieg ist vorbei« - war Kabbahs Wahlslogan, doch ohne die ausländische Intervention wäre er zur Beendigung des Krieges nicht in der Lage gewesen. Sein Rivale Ernest Koroma versuchte, daraus einen Vorteil zu schlagen, indem er vor der Abhängigkeit von ausländischem Militär und fremder ökonomischer Hilfe warnte. Dennoch scheinen viele Menschen in Sierra Leone für die neuen Beziehungen zu ihrer früheren Kolonialmacht Großbritannien dankbar zu sein. Derzeit gibt es 17 500 Unamsil-Mitglieder in Sierra Leone, die das Land nicht so schnell verlassen dürften. Obwohl die Kosten mehr als 700 Million Dollar pro Jahr betragen, gibt die UN vor, aus ihren Erfahrungen in der Zentralafrikanischen Republik und Angola gelernt zu haben. In diesen Ländern zog sich die UN nach den Wahlen schnell zurück, und der Bürgerkrieg entflammte alsbald von neuem. Selbst die Gegner der RUFP hegten die Hoffnung, dass die früheren Rebellen wenigstens einige Sitze im Parlament erhalten würden. Denn Parteien, die ins System integriert sind, haben seltener die Neigung, zu den Waffen zu greifen. Doch die Wahlergebnisse zeigen, dass die RUFP keinen ihrer Repräsentanten ins Parlament schicken kann.
martin stolk
martin stolk: Sierra Leone nach dem Wahlsieg von Kabbah
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Ausland
29.05.2002
https://jungle.world//artikel/2002/22/war-dun-dun?page=0%2C%2C2
Keine Wahl im Knast
Als das Oberlandesgericht München am 17. März den Angeklagten Markus R. wegen Landesverrats verurteilte, erhielt er zusätzlich zu einer achtjährigen Haftstrafe eine Sanktion, die in Deutschland nur wenigen Straftätern zuteil wird: Ihm wurde für fünf Jahre das Wahlrecht entzogen. R., einem früheren Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, wurde vorgeworfen, dem US-Geheimdienst NSA über mehrere Jahre vertrauliche Dokumente zugespielt und dafür Geld bekommen zu haben. Zudem soll er Kontakt zur russischen Botschaft in Berlin aufgenommen haben, um dieser ebenfalls Dienstgeheimnisse zu übermitteln. Der Doppelspion Markus R. war geständig und gab unter anderem an, die Sehnsucht nach »Nervenkitzel« habe ihn zu seiner Tat getrieben. Das passive Wahlrecht, also das Recht, für ein politisches Mandat zu kandidieren, ist Straftätern automatisch verwehrt, die eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr abbüßen. Zudem können jene, die im Rahmen des Maßregelvollzugs in einer forensischen Psychiatrie untergebracht sind, nicht gewählt werden. Hingegen dürfen Gerichte das aktive Wahlrecht, also das Recht zur Stimmabgabe, nur in Ausnahmefällen für zwei bis fünf Jahre entziehen. Dies sieht das Strafgesetzbuch vor allem bei politischen Straftaten vor, etwa Landesverrat, Wahlfälschung oder Abgeordnetenbestechung. Auch bei Vergehen wie der Verunglimpfung des Bundespräsidenten und der Staatssymbole kann diese Sanktion angeordnet werden. Menschen, die Joachim Gauck einen Ziegenficker nennen und Deutschlandfahnen verbrennen, haben jedoch kaum zu befürchten, dass ein Gericht sie von der Teilnahme an der nächsten Landtagswahl ausschließt. Es gibt statistisch nur zwei bis drei Fälle im Jahr, in denen Verurteilten das Stimmrecht aberkannt wird. In größerer Zahl wurde diese Strafe in Deutschland Anfang der neunziger Jahre gegen ehemalige DDR-Funktionäre verhängt. Der Berliner Rechtsanwalt Jan Oelbermann wies in seiner Dissertation »Wahlrecht und Strafe« auf die Fragwürdigkeit der Sanktion hin. »Was der Entzug des Wahlrechts bezwecken soll, ist unklar«, sagt Oelbermann im Gespräch mit der Jungle World. »Er ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, weil das Grundrecht der Allgemeinheit der Wahl unterlaufen wird. Der Sinn des Strafrechts, die Resozialisierung, wird auch untergraben, wenn Richter Straftätern ein Menschenrecht aberkennen.« Es handelt sich Oelbermann zufolge um ein historisches Überbleibsel aus der Ära des Deutschen Kaiserreichs. Damals konnten Kriminelle mit dem Entzug ihrer Ehrenrechte gemaßregelt werden. Die Vorstellung vom Delinquenten als einem, der sich vom Konsens der demokratischen Gesellschaft verabschiedet habe und von ihr ausgeschlossen werden könne, wirke als Atavismus im Sanktionsrecht bis heute nach. »Man hat dieses Konzept übernommen, ohne sich Gedanken zu machen. Das Strafgesetzbuch wurde nicht richtig ausgemistet«, sagt Oelbermann. Politischen Druck aufzubauen, um diesen rechtlichen Missstand aufzuheben, dürfte sich jedoch als schwierig erweisen. Wegen der geringen Fallzahlen und ihrer Vernachlässigbarkeit für den Wahlausgang taucht das Thema in rechtspolitischen Debatten kaum auf. Auch sollten sich Verurteilte keine großen Illusionen machen, dass eine Klage etwa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ernsthafte Konsequenzen hätte. Die Regelung des Vereinigten Königreichs, das allen Gefängnisinsassen die Teilnahme an Wahlen verwehrt, wurde von dem Gericht 2005 zwar für illegal befunden. Aufgehoben wurde der Wahlrechtsentzug aber bis heute nicht. Im Februar 2015 lehnten die Richter in Straßburg zudem die Forderungen britischer Gefangener und ehemaliger Insassen ab, die für ihren Wahlausschluss auf finanzielle Entschädigung geklagt hatten.
Marcus Latton
Marcus Latton: Wahlrechtsentzug für Straftäter
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Inland
12.05.2016
https://jungle.world//artikel/2016/19/keine-wahl-im-knast?page=0%2C%2C3
Hasta la vista, California!
Wenn Kalifornien ein Privatunternehmen wäre, müsste nun ein Insolvenzrichter die Geschäftsführung übernehmen. Der »Golden State« ist zah­lungsunfähig, und Gouverneur Arnold Schwar­zen­egger kann nicht hoffen, dass überraschende Goldfunde ihm aus der Klemme helfen. Im Haushalt des Bundesstaates fehlen 26 Milliarden Dollar, viele Analytiker fürchten nun, dass der Bank­rott des Bundesstaats den Rest der USA wirtschaftlich mit in den Abgrund reißen könnte. Trotz des drohenden Kollapses liefen die Ver­hand­lungen über das Budget für kalifornische Verhältnisse in den gewohnten Bahnen. Die Demokraten haben die Mehrheit im Parlament, sie propagierten in den vergangenen Wochen eine Mischung aus einschneidenden Kürzungen und Steuererhöhungen, um das Defizit zu verringern. Doch die oppositionellen Republikaner und ihr Gouverneur Schwarzenegger lehnen Steuererhöhungen ab, sie blockierten wiederholt die Haushaltsvorlagen. Die kalifornische Verfassung fordert eine Zweidrittelmehrheit für das Verabschieden des Staatshaushalts, überdies kann der Gouverneur sein Veto einlegen. Dieses Verhandlungsszenario ist Routine, in der Vergangenheit löste es kleinere Krisen aus, doch wurde in letzter Minute fast immer eine Lö­sung für die Haushaltsfragen gefunden. Wegen der Wirtschaftskrise und der stark rückläufigen Staatseinnahmen ist die Situation jetzt jedoch besonders brisant, und im Ursprungsland der »Rea­gan Revolution« wollen die Republikaner nicht von ihrem ideologischen Prinzip der permanenten Steuerentlastung für die Privilegierten abrücken. Koste es, was es wolle. Etwa 60 000 Angestellten droht in den kommenden Tagen die Entlassung, alle anderen werden zu unbezahltem Urlaub gezwungen. Die Zuschüsse für Schulen und Universitäten sowie Studiendarlehen und Stipendien werden zusammengestrichen. An den Universitäten werden im Herbst bis 50 000 Studierende weniger erwartet, auch Tausenden von Wissenschaftlern droht die Entlassung. Gut drei Viertel aller Parks und staatlichen Erholungsorte sind be­reits seit Wochen geschlossen. Rund 500 000 Menschen wird die Sozialhilfe gekürzt, mindestens 200 000, vielleicht aber auch eine Million Kinder könnten den Anspruch auf Gesundheitsversorgung verlieren. Viele Staatsausgaben werden seit Donnerstag voriger Woche nur noch per Schuldschein beglichen. Kalifornien erlebt, anders als bei Marx vorgesehen, das Absterben des Staats, organisiert von den Republikanern. Gut zwei Dutzend Bundesstaaten haben ebenfalls hohe Defizite, darunter Arizona, Illinois, Indiana und Pennsylvania. Doch haben sich die Regierungen dieser Bundesstaaten zur Reduzierung von Ausgaben und zu Steuererhöhungen durchgerungen. In Kalifornien hingegen verhindern die Republikaner mit ihrer Sperrminorität eine solche Lösung. Überall in Kalifornien entstehen Zeltdörfer obdachloser Familien, die Arbeitslosenrate ist auf knapp zehn Prozent gestiegen. Doch Kalifornien verfügt noch über Geld, nach wie vor ist der Bundesstaat einer der größten Geber für die Zentralregierung. Allerdings wird befürchtet, dass die kalifornische Haushaltskrise die wirtschaftliche Depression verschärft. Da der Bundesstaat immerhin 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der USA erwirtschaftet, könnte die Krise auch die Lage in anderen Bundesstaaten verschlechtern, das hätte auch Auswirkungen auf den Gesamthaushalt der USA. Dennoch will Präsident Barack Obama Kalifornien keine Staatshilfen gewähren. Denn mit der Weigerung, die Steuereinnahmen anzuheben, habe der Bundesstaat seine Notsituation selbst verschuldet. Schwarzeneggers Amtszeit dauert noch bis Ende 2010, doch die meisten Kalifornier würden ihren Gouverneur wohl gerne schon vorher verabschieden. Den neuesten Umfragen zufolge genießt Schwarzenegger nur noch die Zustimmung eines Drittels der Bevölkerung. Im Mai hatte er versucht, per Referendum einen Haushaltskompromiss für die nächsten drei Jahre durchzusetzen, doch stimmte die Mehrheit gegen seinen Vorschlag. Seitdem beharrt er stur darauf, den Haus­halt allein durch Kürzungen zu sanieren. Gegenüber der New York Times beteuerte er am Wochenende, dass er mit dieser Politik nur dem Willen der Wähler folge. Ihn störe die Notsituation nicht, sein abendliches Bad im Whirlpool mit seiner Zigarre genieße er noch. Tatsächlich hat Schwarzenegger nicht ganz un­recht, wenn er versucht, den Wählern Kaliforniens die Schuld an der Misere zu geben. Denn die Blockade der Republikaner im Parlament ist nicht der einzige Grund für die Krise. Seit gut 30 Jahren wird die Erhebung von höheren Steuern regelmäßig per Referendum erfolgreich bekämpft. Das Vorbild war die berüchtigte Proposition 13 im Jahr 1978, sie schränkte die Erhebung von Grund­stückssteuern, die für die Bundesstaaten eine der wichtigsten Einnahmequellen sind, stark ein. Die kalifornische Verfassung gestattet es, bindende Referenden zu zentralen politischen Fragen abzuhalten. Als Beispiel für die Erfolge einer »direkten Demokratie« kann diese Regelung nicht gelten, vielmehr gelang es den Konservativen immer wieder, Ressentiments gegen Arme und Minderheiten zu nutzen. In der Regel gehen die Referenden zu Lasten sozial marginalisierter Gruppen und sind in der Vergangenheit genutzt worden, um die Rechte legaler und illegaler Einwanderer zu beschneiden, sozialstaatliche Leistungen zu streichen oder auch, wie im November 2008, die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare zu verbieten. Wie es weitergeht, ist ungewiss. Aber eins ist für die Courage Campaign, eine progressive kalifornische Basisorganisation, klar: Das System der Schuldscheine, der »Arnoldbucks«, müsse so­fort weg. »Wie soll man Lebensmittel mit Arnold­bucks kaufen?« fragt die Kampagne plakativ. Die ersten 28 000 Schuldscheine empfingen überwie­gend Bürger, die eigentlich eine Steuerrückerstattung erwartet hatten. Bereits in diesem Monat werden wohl auch Sozialhilfeempfänger Schuldscheine statt Geld erhalten. Die Courage Campaign wirbt für einen neuen Verfassungskonvent, um die »Systemfehler« ein für alle Mal zu beseitigen. Doch auch über Verfas­sungsänderungen muss in einem Referendum abgestimmt werden. Ein Erfolg ist fraglich, denn meist werden die Kalifornier dem Ruf ihres Bundesstaats, ein Refugium der linken Toleranz zu sein, nicht gerecht. Eine Ausnahme war ein 1996 abgehaltenes Referendum, das den Anbau, Verkauf und Konsum von Marihuana für medizinische Zwecke legalisierte. Da viele Ärzte die »medizinischen Zwecke« großzügig auslegen, hat sich der legale Marihuanakonsum zu einem wirtschaftlichen und daher auch haushaltsrelevanten Faktor entwickelt. Marihuana ist das umsatzstärkste Agrarprodukt Kaliforniens, und Legalisierungsbefürworter rechnen nun vor, dass ein Green New Deal Steuer­mehreinnahmen von 1,2 Milliarden Dollar pro Jahr einbringen könnte. Auch Zulieferbetriebe, Gas­tronomie und Tourismusbranche würden profitieren, überdies könnte der Bundesstaat einer Stu­die der Lobbyorganisation Norml zufolge bei der Kriminalitätsbekämpfung 170 Millionen Dollar einsparen. Zumindest in diesem Punkt scheint der ehema­lige Kiffer Schwarzenegger nicht der republikanischen Linie folgen zu wollen. Er befürwortet ei­ne »Debatte« über die Legalisierung. Immerhin warten in einem ansonsten sehr steuerkritischen Staat Millionen Menschen darauf, endlich ihren Beitrag zur Haushaltssanierung leisten zu dürfen.
William Hiscott
William Hiscott: Kalifornien ist pleite
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Ausland
09.07.2009
https://jungle.world//artikel/2009/28/hasta-la-vista-california?page=0%2C%2C1
Die wichtigen Fragen des Lebens
Blond oder dunkel, verliebt oder verlobt, den schönen Mann oder den mit dem Haus: In Woody Allens Film »Vicky Cristina Barcelona« pral­len die elementaren Gegensätze aufeinander, mit denen das Kino seit über 100 Jahren die Menschheit traktiert. Die Welt an sich ist genug. Meistens aber ist sie nie genug okay, so könnte man dieses Prinzip von Woody Allens neuem Film »Vicky Cristina Barcelona« formulieren. Zumindest stimmt das für die mehr oder weniger auf Vernunft getrimmte Vicky (Rebecca Hall). Schnell nochmal mit der besten Freundin Urlaub machen, dann wird geheiratet, Kind, Reihenhaus mit Garten, abgesicherte Zukunft. »Ich habe mir das genau überlegt«, sagt sie. Ich werde mir die Welt aneignen, denkt sie, aber nicht so viel davon, dass es nicht mehr meine Kragenweite ist. Damit der Zuschauer versteht, warum diese Denkweise ebenso viele Probleme generiert, wie zum Beispiel im Winter nackt auf der Autobahn zu tanzen, stellt Allen seiner beherrschten Protagonistin in seiner dritten in Europa spielenden Komödie – diesmal: in Spanien – das Prinzip Anarchie in Form seiner Lieblingsschauspielerin Scarlett Johansson an die Seite. Die sagt als Cristina Sätze wie: »Ich bin ja mehr so der lockere Typ, ich will viel ausprobieren« oder »Mir kommt es darauf an, viele Erfahrungen zu sammeln«. Allen überzeichnet seine Figuren oft genug mit solchen Selbstaussagen. Funktioniert der Titel des Films nicht auch so? Hier bin ich, jetzt macht was mit mir – mit solchen Ankündigungen stellen sie sich ins Zimmer. Das ist so präzise aneinander vorbeigespielt, dass die Geschichte auch ganz ohne Dialoge funk­tionieren würde. Blick und Ausdruck der Darsteller generieren den Plot. Es handelt sich gewissermaßen um einen Stummfilm mit Tonspur. Und der sieht so aus: Damit die beiden jungen New Yorker Frauen nun ihre Lebenseinstellungen überprüfen können, tritt ganz klischeehaft der überaus erfolgreiche spanische Maler Juan Antonio (Jarvier Bardem) in beider Leben und stülpt das Unterste zuoberst und vice versa. Ganz Woody-Allen-like ist Juan mit einer schweren Vergangenheit belastet. Seine Ehe mit der mehr als explosiven Maria (Penelope Cruz) ist getrost als mehrfach gescheitert zu betrachten. Egal was passiert, die Frau hat schneller die Knarre in der Hand, als die Probleme auftreten können. Und es ist für die psychotisch explodierende Maria ein ganz großes Problem, dass sich Juan nun mit zwei amerikanischen Touristinnen gleichzeitig einlässt. »Wir haben es nicht herausgefunden«, sagt Juan einmal auf die Frage, wieso die Ehe mit Maria nicht funktionierte. Nun, kein Wunder. Da hätte nur eine Balance of Power geholfen: gleiche Anzahl strategischer Atomwaffen bei massiver Abgrenzung durch Stacheldraht und Berliner Mauer. Wenigstens waren die beiden so klug, sich nach der gescheiterten Ehe für eine Liebesbeziehung zu entscheiden. Anhand dieses Beziehungsgeflechts nimmt sich Allen die Grundlagen menschlichen Handelns vor, er tut es, indem er seine Charaktere nach und nach entwickelt: Cristina kann tatsächlich mehr als knutschen. Maria hat viele künstlerische Talente und den Maler Juan Antonio sowieso erst erfunden – die vollständige Umkehrung des Prinzips Muse: Juan hat seine Frau einfach nur kopiert. Und in ihr selbst ist die dunkle Seite der Macht stärker, als die spießige Vicky zugeben kann. Es ist genau umgekehrt wie in Allens Film »Harry außer sich«. Dort lässt er den Schauspieler Robin Williams per Trick unscharf durch den Film laufen. Hier ist es, als würden die Figuren sukzessive scharf gestellt. Nun, um welche Grundlagen geht es? Kaum geht man essen, spazieren oder mit anderen Leuten ins Bett, schon stehen sie vor, über und neben einem: die Gefühle. Sie steuern alles. Damit dieser Umstand auch dramatisch genug erscheint, hat Allen seine beiden Hauptfiguren in einem besonders kritischen Alterszustand abgepasst: Vicky und Cristina sind Mitte zwanzig; eine der vielen kritischen Zeiten im Leben, da muss man sich entscheiden, wo der Rest hingeht. Ihre Gefühlslage sieht so aus: Für Vicky ist die Europa-Reise noch mal der letzte Ausflug vor der Ehe. Romantik, Liebe usw. steht für sie praktischerweise im Kunstmuseum he­rum. Cristina hingegen hat das Chaos gepachtet. Die Beziehung ist gerade beendet, mit der Kurzfilm-Regie-Karriere ist es noch nichts geworden. Und jetzt? Wofür wird sie sich entscheiden? Für’s Treibenlassen? Ja, warum nicht. So hat das Drehbuch entschieden. Wenn man von Scarlett Johansson gespielt wird, kann man das Leben auch mal getrost auf sich zukommen lassen. Und es kommt denn auch. Als Vicky und Cristina beim Abendessen von Juan Antonio mit der Ansage überfallen werden, sie im Privatjet ins heimische Oviedo zu fliegen, um das Wochen­ende mit Sightseeing, Alkohol und Schmusen zu dritt zu verbringen, ist Cristina Feuer und Flamme. Vicky dann doch nicht so. Der Trip findet dennoch statt, und alles läuft so, wonach es aussieht. Bis der Magenvirus Cristina schachmatt setzt. Vicky springt ein, lässt sich von Juan die Stadt zeigen, den Vater, der Gedichte schreibt, die er nie veröffentlicht, weil der Welt damit nicht geholfen wäre. Juan erzählt von seiner selbst­schädigenden Ehe mit Maria, die in einem Mordanschlag endete. Auf die Tour entstehen voreheliche Kinder. Man kann es Vicky nicht verdenken: Sie verknallt sich unsterblich und stürzt in Zweifel. Vielleicht ist die Aussicht auf die Ehe doch nicht so schön. Cristina, wieder genesen, holt derweil auf und beginnt eine neue Beziehung: mit Juan und Maria. Die beiden freuen sich. Auf einmal verstehen sie sich, es hat eben jemand drittes gefehlt. So wie sich andere Leute ein Haustier anschaffen, weil es gut fürs Gemüt ist, leben Künstler und Künstlerin nun zufrieden – jenseits von Selbstmordversuchen und Krawallattacken. Wenn der Frieden auch nicht auf Dauer ist. Zumal Vicky in der Tür steht. Wie entscheidet man sich in wichtigen Fragen des Lebens? Der Regisseur zum Beispiel hat sich von der Frau getrennt, um mit der Stieftochter zusammenzuleben. Seiner Filmkunst scheint dies nicht geschadet zu haben, sie erlebt einen Relaunch nach dem anderen. Von der Klasse her könnte man dies vielleicht mit dem Spätwerk von Johnny Cash vergleichen. Jedenfalls setzt Allen auch mit seinem dritten Film mit der äußerst komödientauglichen Hauptdarstellerin Scarlett Johansson wiederum Eckpunkte für das Kino straight edge. So könnte man einen Film bezeichnen, der allein aus seiner Drehbuchvorlage lebt. Das Ziel: das befreite Lachen, das Flüchtige; es ist eine politische Kategorie, weil es nicht zu verwalten ist. Und dennoch scheint es nicht allein darum zu gehen, nur auf dem Sektor Komödie gut zu sein: Allens späte Filme funktionieren mehr als schillernde Seifenblasen. Sie nehmen ein, zwei Anläufe, um sich schwerelos davonzuschwingen. Allen versteht es in »Vicky Cristina Barcelona«, beinahe gänzlich unironisch, das Leben in Beziehungsdramen zu fokussieren und von dort aus zu erklären. Die besondere Weisheit seiner Filme liegt genau hier, wo sie ihren Humor herhaben: Menschen leben in Beziehungen und erfahren von dort aus die Welt. Und den Humor als Droge dermaßen komplex, feinsinnig und rein auf der Leinwand zu erleben – diesen Luxus sollte man sich selbst in der Rezession erlauben. »Vicky Cristina Barcelona« (USA 2008). Regie: Woody ­Allen, D: Javier Bardem, Penelope Cruz, Rebecca Hall, Scarlett Johansson. Start: 4. Dezember
Jürgen Kiontke
Jürgen Kiontke: Der neue Film von Woody Allen
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dschungel
04.12.2008
https://jungle.world//artikel/2008/49/die-wichtigen-fragen-des-lebens?page=0%2C%2C2
»Mich nervt die Harmlosistan-Kultur«
Tocotronic ist eine der am meisten beachteten deutschsprachigen Bands. Dieser Tage erscheint ihr neues Album. Ein Gespräch mit dem Sänger Dirk von Lowtzow über Kapitulation, Pop, Politik, Natur und die Jungle World. Die beiden Auftaktkonzerte zu eurer neuen Platte sind in den Feuilletons bejubelt worden, bis in die Welt und die FAZ hinein. Seid ihr inzwischen Mainstream? Ich glaube, diese Unterscheidung in Mainstream und Nicht-Mainstream funktioniert heutzutage nicht mehr so, wie sie noch zu der Zeit funktioniert hat, als ich angefangen habe, Musik zu hören. Es gibt heute viel Musik, die unter Mainstream läuft oder klassisch mainstreammäßig vermarktet wird, die tausendmal interessanter ist als Musik, die nicht mainstreammäßig vermarktet wird. Man kann sich darüber streiten, inwiefern es eine Auswirkung des Main­stream ist, wenn jetzt im Feuilleton über einen berichtet wird, oder ob so etwas wie das Feuilleton vielleicht sogar eine letzte Nische von Absonderlichkeiten ist. Popkultur und Popmusik haben seit gut zehn Jahren ihren festen Platz im Feuilleton. Davor hat man, wenn man das FAZ-Feuilleton aufgeschlagen hat, hauptsächlich Artikel über Aufführungen von Bach-Kantaten gefunden. Man kann sich darüber streiten, ob man das gut oder schlecht findet. Irgendwann hat man diese ganze Pop-Berichterstattung auch über. Viele eurer früheren Texte handeln davon, alleine und unverstanden der Masse, die prima klar kommt, gegenüberzustehen … Ja, die neuen aber auch, das ist etwas, das sich nie groß verändert hat. Wenn man aber seinen Standpunkt nie reflektieren würde und bis in alle Ewigkeit, auch wenn man tatsächlich nach acht Platten relativ etabliert ist, immer noch darauf beharren würde, klein und unverstanden zu sein, das wäre ja kokett und wahnsinnig naiv. Wie erklärst du dir, dass so viele Leute sich damals damit identifiziert haben, als letzter alleine auf der Bank zu sitzen? Diese Texte wurden irgendwann paradox oder absurd, weil sich eben so viele Leute damit identifiziert haben. Wobei es so viele Leute dann doch nicht waren, sonst würden wir ein bisschen mehr Platten verkaufen. Es gibt viele Bands, die verkaufen locker mal das Zehnfache von uns, insofern würde ich sagen, wir haben da so ein ganz gutes Nischendasein. Immerhin seid ihr »Deutschlands wichtigste Band«, liest man. Das sind solche Zuschreibungen, die als journalistische Rechtfertigung dafür dienen, uns auf das Cover zu nehmen. Die Texte wurden damals tatsächlich auch zu stark für bare Münze genommen und zu sehr authentisch rezipiert. Es gibt eigentlich kaum etwas, das ich schrecklicher finde als dieses ewige Insistieren auf Authentizität. Dabei wird oft übersehen, dass es eben überhaupt kein Gegengift zur herrschenden Gesellschaft ist, dieses besonders Ehrliche, sondern dass es von der Macht nur gewünscht sein kann, dass alle immer ganz besonders ehrlich, ganz besonders authentisch sind. Deshalb finde ich das als Gefühl nicht besonders interessant. Uns ging es schon von Anfang an als Band darum, Kunst zu machen, und nicht darum, authentische Gefühle auszudrücken. Zumindest habt ihr damit offenbar einen Nerv getroffen. Ja, aber das liegt nicht daran, dass die Sachen so authentisch sind, sondern vielleicht daran, mit Verlaub gesagt, dass sie ganz gut waren. Sie hatten halt eine bestimmte Qualität dahingehend, dass viele Leute sehr viel hineinprojizieren konnten. Das war aber eher etwas, das uns eher unheimlich war, weshalb wir dann auch nach drei, vier Jahren gesagt haben, wir müssen das verändern, man wird hier vereinnahmt von Leuten, die man vielleicht nicht so toll findet und wo auch der Witz schief wird. Und man darf auch nicht vergessen: Man ist damals eben in ein relatives Vakuum gestoßen. Es gab wahnsinnig wenig gute deutschsprachige Musik. Als wir angefangen haben, gab es ein paar Bands, die uns beeinflusst haben und mit denen wir uns ausgetauscht haben, Blumfeld, die Sterne und ein paar andere, und davor gab es eben nichts. Eure Musik firmierte damals unter dem Titel »Diskursrock«. Welche Aufgabe seht ihr heute für euch innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses? Mir wäre es ganz recht, wenn wir überhaupt keine Aufgabe hätten. Aufgabe klingt mir ein bisschen zu autoritär, so als würde man in die Pflicht genommen werden, als hätte man innerhalb der Gesellschaft eine Aufgabe zu erfüllen. Wir machen das, weil es uns Spaß macht, und nicht, weil wir hier eine Mission zu erfüllen haben. Insgesamt klingt mir das auch zu konstruktiv. Rockmusik hat destruktiv zu sein oder negativ. Wäre dann die Aufgabe vielleicht, Zweifel zu verbreiten? Wenn man Kunst macht, dann hat man zumindest die Verantwortung, okaye Kunst zu machen. Und ich bin davon überzeugt, dass Kunst immer nur dann gut ist, wenn sie den Zweifel einschließt. Selbstbewusste Kunst, Kunst, die nicht zweifelt, ist das Schlimmste überhaupt. Wie gehst du mit schlechten Kritiken um, zum Beispiel dem Verriss der Platte »Pure Vernunft« in der Jungle World? Fühlst du dich missverstanden? Das kommt darauf an. Die Kritik in der Jungle World damals hat mich geärgert. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn jemand sagt, mir gefällt das nicht, oder ich habe da eine andere Haltung dazu. Aber das war doch eine recht unoriginelle Herangehensweise. Mir war das zu Indie-Scheiß-mäßig, so nach dem Motto: »Ich hab’ die früher schon gekannt, da waren die aber besser.« Wenn so etwas in einer Zeitung steht, die ich verabscheue, dann ist mir das egal, dann sage ich mir, die können das ja auch gar nicht verstehen. Aber bei einer Zeitung wie der Jungle World, mit der man sich irgendwie verbunden fühlt, da hätte ich mir eine etwas fundiertere Auseinandersetzung gewünscht. Das war eines der wenigen Beispiele, die einen wirklich mal geärgert haben. Wenn alle zum G8-Gipfel fahren, kann man in der Jungle World lesen, warum man nicht hinfahren sollte. Die globalisierungskritische Bewegung wollte möglichst viele Menschen mittels der G8-Proteste politisieren – Tocotronic macht eine Platte, die »Kapitulation« heißt. Seid ihr bewusst antizyklisch, oder ist das Zufall? Das ist etwas, weshalb ich mich mit der Jungle World ganz gut identifizieren kann. Ich kann es eben nicht leiden, wenn alles gleichgeschaltet ist. Ich finde es super, dass sich da kritische Berichte zum linken – und im Fall von dieser Globalisierungsgegnerschaft auch oft pseudo-linken – Kontext finden. Man darf ja auch nicht vergessen, was es bedeutet, wenn jetzt auch Heiner Geißler Attac beitritt. Es ist natürlich auch interessant, dass man bei diesen G8-Demons­trationen dieselben Slogans mit nur hauchfeinen Unterschieden auch von Neonazis hören konnte. Ich finde, die wichtigste Aufgabe für links sozialisierte und links denkende Menschen, als die wir uns auch bezeichnen würden, ist es, kritisch diese Sachen zu hinterfragen. Bei diesem Heiligendamm-Protest fehlte mir auch ein wenig der Inhalt. Da wurde so viel mit Symbolen gearbeitet, auch mit so dankbaren Symbolen wie diesem Zaun, etwas Besseres hätte ja dieser Anti-G8-Bewegung überhaupt nicht passieren können. Es bleibt aber trotzdem nur ein Zaun. Ich finde eine Haltung gut, die gegen solche Konsense arbeitet. Ich will diesen Anti-G8-Protest gar nicht diskreditieren, ich finde das schon grundsätzlich okay, es ist nur eben keine dezidiert linke Haltung, die da zum Ausdruck kommt. So eine breite Form von Protest macht es schwer, sich damit zu identifizieren. Und klar, eine Platte »Kapitulation« zu nennen, ist natürlich auch in der Hinsicht völlig unzeitgemäß. »Kapitulation«, heißt es im Manifest zu eurer neuen Platte, sei »das schönste Wort in deutscher Sprache«. Da denken viele, die euch als bewusst anti-nationale Band kennen, an die Debatte »Besiegt oder befreit« von 2005, in der ihr Stellung bezogen habt. Gleichzeitig scheint diese Platte zunächst eine eher unpolitische Platte zu sein. Ich finde es schwierig zu bestimmen, wann Kunst politisch ist. In den meisten Fällen, in denen sich Kunst politisch gibt, gibt sie sich eben nur politisch, das verfolgt so ein Modell von Repräsenta­tion oder Instrumentalisierung, und das Politische gerinnt zu einem Image. Ich finde, Kunst und Politik sind zwei ganz verschiedene Felder, und die zusammen zum Schwingen zu bekommen, ist ein Prozess, der nur ganz allmählich passieren kann. In vielen Stücken wird diese Niederlage, die Kapitulation, die Schwachheit gefeiert. Das richtet sich gegen ein explizit bürgerliches Streben nach Kontrolle und Größe. Es ist auch durchaus provokant gemeint, wenn man eine Platte in Deutschland »Kapitulation« nennt, gegenüber all diesen Leuten, die permanent ausrufen, wir sollen doch jetzt unverkrampft patriotisch sein. Außerdem setzt sie diesem Wahn der Authentizität und der Selbstliebe, diesem Mythos vom nicht-entfremdbaren Selbst, das Lob der Vielheit entgegen. Es ist eine sehr widerständige Platte gegen einen allgemeinen Zeitgeist, gegen dieses Kontrollstreben, gegen diesen Optimierungszwang, gegen diesen optimistischen und optimierenden Imperativ, diesen Selbstverwirklichungszwang, der einhergeht mit diesem »Mach was aus dir!«, das permanent postuliert wird. Deswegen wundert es mich, ehrlich gesagt, dass du diese Platte als unpolitisch empfindest. »Aus meiner Festung« heißt ein Lied. Darin heißt es: »Morgens früh / lief ich hinaus / das Gras war feucht / vom frischen Tau« – das klingt doch sehr nach Rückzug ins Private, in die Natur. Mit dem Wort »Festung« assoziiere ich sofort so etwas wie »Festung Europa«. Wenn man das Stück auf dieser Ebene liest, und dann heißt es: »kommt alle her«, dann ist das doch etwas, das genau diesen Rückzug ins Private sprengen will, sowohl auf einer persönlichen als auch auf einer politischen Ebene. »Imitationen« und »Wehrlos« sind Liebeslieder? »Wehrlos« ist ein Lied über Sucht, über die Sucht nach Anerkennung und Geborgenheit. Es ist kein ungebrochenes Liebeslied, weil es eigentlich völlig hysterisch ist. Es nimmt eine total anti-männliche und anti-machtbesessene Position ein, und es korrespondiert ja auch mit Stücken wie »Kapitula­tion«. Beides sind Worte, die aus dem Feld der Strategie kommen, und ich finde es in dem Zusammenhang interessant zu sagen, man ist wehrlos. Das ist nicht eskapistisch? Eskapistisch ist doch gerade, sein Heil in der Alltäglichkeit, in der total langweiligen Banalität zu suchen. Aber die Sehnsucht nach etwas zu formulieren, von mir aus auch nach Natur, das ist nicht eskapistisch, das zeugt von der Unzufriedenheit mit dem, was da um einen herum ist. Der wirkliche Eskapismus, den formulieren doch andere Leute, andere Künstler, die permanent Zeug verbreiten von wegen »es ist ein neuer Tag« und »alles ist super« und »ich fühl’ mich auch noch gut in Deutschland«. Es gibt auf der Platte zwar viele Stellen, die von der grünen Wiese handeln, aber das ist doch immer gebrochen und unheimlich, da ziehen schon die Schatten auf, das ist doch eher gefährlich, und außerdem darf man eben auch nicht vergessen, es funktioniert ja auch mit der Musik zusammen, und es ist ja keine harmlose Musik. Kapitulation ist für dich also Stärke? Kapitulation ist eine große, theatralische Geste, eine schöne Geste. Es ist ja auch ein großes Thema für Rockmusik. Vor bestimmten Sachen zu kapitulieren, etwas zuzulassen, das hat etwas Produktives. Wenn man sagt »Ich kann nicht mehr«, dann hat das Kraft. Diese gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen man lebt, die ganzen neoliberalen Strukturen, produzieren ja permanent nichts anderes als Überforderung am eigenen Selbst, so eine Art erschöpftes Selbst. Man muss ja permanent an sich arbeiten, und auch noch der ärmste Schlucker muss sich selbst verwirklichen und kreativ sein. Innerhalb dieses Zeitgeistes und dieser Gesellschaft zu behaupten, dass es befreiend sein kann, zu sagen »Ich kann nicht mehr«, ist das absolut Verbotenste, was heutzutage jemand sagen darf. Und dann hat es auch als Lied so gut funktioniert, weil es ein bisschen wie so ein perverses Kirchenlied ist. Mein Wunsch wäre, dass das wirklich wie ein Schlag ins Gesicht all derer ist, die ständig von Optimismus faseln und ihre Harmlosigkeit dazu so offen zur Schau stellen. Seid ihr eigentlich noch wütend? Auf jeden Fall! Ich finde, diese Platte ist wahnsinnig wütend. Sie ist ganz schnell geschrieben, auch die Texte, und sie ist ein einziges Aufbegehren gegen diese Harmlosistan-Kultur, die mich so nervt. Das geht los bei diesem unverkrampften Patriotismus und geht weiter über das, was man bei so vielen Künstlern feststellt, dieses überemotionalisierte Sich-selber-Einbringen in alles, dann gegen diesen Backlash in den Geschlechterbeziehungen. Deshalb auch so ein Stück wie »Wehrlos«, wo man sagt, man muss seine eigene Zerbrechlichkeit ausstellen, seine Fragilität. Das ist als Gegenmittel zu verstehen gegen diese Jürgen-Vogel-Welt, dieses »Ich hau mal der Frau hier auf den Arsch«, diese ganze Männer-Kumpel-Welt. Ich finde, es ist mit Sicherheit auch die, so doof das klingt, weiblichste Platte, die wir je gemacht haben. So ein Stück wie »Wehrlos« ist ja wahnsinnig feminin. Etwa, weil es schwach ist?! Nicht weil es schwach ist, weil es eben nicht männlich ist. Weil es das Konzept von Männlichkeit dekonstruiert? Ja, genau, darum geht es mir. Insofern nimmt die Platte auch eine Antihaltung ein gegenüber einem Männerbild, das es in der Rockmusik gibt, in dieser ganzen Indie-Kultur. Da herrscht ein Männer- und Frauenbild, das fast so ist wie vor 50 Jahren. Und damit meine ich jetzt nicht Eva Hermann. Allein, was es bei deutschsprachigen Indie-Bands gibt: Diese komische Jungs/Mädchen-Kultur, die da herrscht, diese Verdummung, diese Sprachlichkeit, das finde ich so grässlich. »Verschwör’ dich gegen dich« hat Anlagen zum perfekten Lied. War das gewollt? Es gibt ja immer diese Idee des »perfekten Popsongs«. Manchmal gelingt einem so was, und wenn man es dann merkt, muss man es auch ausreizen. Es passt auch ganz gut zum Text, weil das so ein Dandy-Topos ist. Die Idee des Dandys, der immer gegen sich selbst arbeitet. Und natürlich ist es auch eine sehr trotzige Haltung. Heutzutage wird ständig Leistung eingefordert, man muss ja immer zeigen, was man kann. Die Idee ist zu sagen, man muss das überhaupt nicht. Geht es um dieses Ich, das übrig bleibt, wenn man die Zivilisation abzieht, verleugnet? Nein, das ist vielleicht auch ein bisschen das Missverständnis mit dieser Natur. Das ist etwas, das mich überhaupt nicht interessiert, das wäre Rousseau. Die Natur, um die es mir da geht, ist eher aus Plastik oder aus Diamanten, mich interessiert eine übertriebene Künstlichkeit, eine übertriebene Verfeinerung. Handelt nicht die ganze weiße Platte davon? Das ist ein Thema, das wir seitdem eigentlich immer haben. Das ist etwas, das uns grundsätzlich interessiert: Künstlichkeit gegen Authentizität. Mir geht es nie um dieses Zurück zur Natur, um dort das wahre Ich zu finden. Wenn, dann ist das eher eine Theaterkulisse. Zehn Jahre Jungle World. Schenkst du uns eine Ansprache? Wir, die Gruppe Tocotronic, sind keine großen Redner, wir singen lieber (Zwischenrufe: Hört, hört!). Und ein Loblied zum Jubiläum wollen wir auch singen auf die Jungle World, mit der wir nicht immer einer Meinung, aber doch zumeist ein gutes Stück Weg gemeinsam gegangen sind. (Gemurmel) In diesem Sinne singen wir ein kleines Kampflied zusammen und freuen und freuen uns auf die nächsten zehn Jahre (Applaus). interview: josefine haubold
Josefine Haubold
Josefine Haubold:
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Interview
27.06.2007
https://jungle.world//artikel/2007/26/mich-nervt-die-harmlosistan-kultur
Es fehlt der Hund
Drei neu erschienene Schallplatten kaufte ich im Dezember. Die jüngste LP der Flaming Lips, auf der sie das komplette »Sergeant Pepper«-Album der Beatles covern beziehungsweise durch den Wolf drehen. Diese angenehm anstrengende LP schenkte ich dann meiner Schwägerin zu Weihnachten. Sie hat sich sehr gefreut. Die LP ist hervorragend gestaltet, knallbunt, noch dazu mit orangefarbenem Vinyl. Ich kann zu der Musik ansonsten nicht viel sagen, denn erstens kenne ich mich mit den Flaming Lips nicht so aus und zweitens habe ich die Platte nicht vollständig gehört. Was ich hörte, kann ich jedoch empfehlen. Auf »Sergeant Pepper« sind ja nur Hits drauf und die sind hier unter einer fetten Geräuschschicht auch immer noch zu hören. Noch anstrengender ist die neue 10-inch von David Bowie mit dem Titel »Sue (Or in a season of crime)«/»tis a pity she was a whore«, die ich mir gekauft habe, weil das Design an das der Schellackplatten der vierziger Jahre erinnert. Die Platte sieht wirklich gut aus, aber die Musik nervt irgendwie. Soll wahrscheinlich auch nerven, dieser abgehangene Elektro-Free-Jazz, von dem die Milch sauer wird. Oben drauf liegt David Bowies düstere, greisenhafte Stimme. Es klingt bemüht. Irgendwie traurig, dass er mit 70 noch immer hip sein muss. Außerdem erworben, nein, sogar extra bestellt, habe ich mir die neue LP der französischen Swing/Jazz-Combo Zaz. Platten, die im Fernsehen beworben werden, sind ja fast immer doof. Diese nicht. Hier stim-mt alles. Tolle mitreißende Songs, die klingen, als würde Django Reinhard Edith Piaf begleiten, dazu noch produziert von Quincy Jones. Und das mit Quincy Jones stimmt sogar. Als ich im Plattenladen am Tresen stand, um meine bestellte Zaz-Platte zu bezahlen, stand gerade jemand vor mir, der eine gekaufte Platte zurückbringen wollte. Er beschwerte sich: »Ausgerechnet der eine Song! Das ist mein Lieblingslied!« Der Verkäufer nahm die Platte, legte sie auf und hörte über Kopfhörer rein: »Ja, tatsächlich. Ist nicht drauf.« Wieder der Kunde: »Auf dem Cover steht der Titel aber! Wie kann das sein?« Der Verkäufer: »Weiß ich auch nicht. Und jetzt? Willst du das Geld zurück?« »Nee, aber vielleicht habt ihr ja noch eine andere Pressung im Lager, wo der Song drauf ist?« Weil ich nun mal daneben stand, wollte ich auch meine bescheidene Hilfe anbieten: »Naja, wenns eine Fehlpressung ist, dann würde ich die behalten. Dann steigt die noch im Wert.« Diese Logik passte ihm gar nicht: »Aber ich will ja den Song hören! Mein Lieblingslied!« In dem Moment kam der Chef zur Tür rein und der Verkäufer fragte nun gleich ihn um Rat. Der Chef: »Watt? Nö! Und was soll ich jetze mach’n? Ich kann den da och nich’ drauf press’n!« Der Kunde murrte, aber der Chef blieb eisern. Die Platte wurde nicht umgetauscht. Ich fand es irgendwie rührend, dass der Käufer sich einfach nicht damit zufriedengeben wollte, seinen Song im Internet runter zu laden. »I wanna be your dog« von Iggy Pop, das dauert zwei Sekunden. Nein, das Lied sollte auf der Platte sein, wie die Butter auf dem Brot. Weil’s sonst nicht schmeckt.
Andreas Michalke
Andreas Michalke: Berlin Beatet Bestes. Folge 272.
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dschungel
08.01.2015
https://jungle.world//artikel/2015/02/es-fehlt-der-hund?page=0%2C%2C0
Deutschlandreise
1946, zur Zeit der Aufnahme dieses Bildes, war W. E. B. Du Bois ein Anhänger Stalins Als sich der US-amerikanische Soziologe, Historiker und Schriftsteller W. E. B. Du Bois im Jahr 1936 auf eine Reise nach Europa begab, fand er ­einen ihm zwar bekannten, aber politisch und sozial veränderten Kontinent vor. Vor allem Deutschland stand im Zentrum seines Interesses. Offiziell war er mit einem Forschungsauftrag unterwegs: Er sollte die industrielle Berufsausbildung im Deutschen Reich untersuchen, über die Du Bois kaum Schlechtes zu ­sagen wusste. So schilderte er seine Eindrücke vom Siemens-Konzern in aller Ausführlichkeit, von der Aufnahmeprüfung bis zum kostenlosen Mittagessen. Über das segensreiche Innenleben eines deutschen Großkonzerns konnte die Leserschaft des Pittsburgh Courier erfahren, Du Bois veröffentlicht nämlich seine Reiseberichte als Kolumnen in dieser Zeitung. The Pittsburgh Courier erschien damals wöchentlich – und war eine der führenden afroamerikanischen Publikationen des Landes. Du Bois, der als Schwarzer unter Weißen reiste, schrieb für ein vornehmlich schwarzes Publikum. »Along the color line« ist der Titel, unter dem nun ein Teil der Kolumnen auf Deutsch veröffentlicht wurde, versehen mit einem erläuternden Nachwort des Herausgebers Oliver Lubrich. Der 1868 geborene Du Bois hatte um die Jahrhundertwende verkündet, das Problem des 20. Jahr­hunderts werde die »color line« sein. Diesen Ausdruck wörtlich mit »Farblinie«zu übersetzen, würde den Sinn verfehlen. Mit »color« ist natürlich die Hautfarbe gemeint und die »line« ist eine Grenze; mit »Rassentrennung« kommt man der Sache schon näher. »Die Judenverfolgung »übertrifft an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich jemals erlebt habe, und ich habe vieles erlebt«, schrieb Du Bois. Nun ist Du Bois durchaus nicht der einzige, der meinte, dass »Rasse« für das 20. Jahrhundert das entscheidende Problem sein werde – diese Ansicht wurde unter ganz verschiedenen Vorzeichen vertreten. 1899 ver­öffentlichte Houston Stewart Chamberlain sein rassistisches und anti­semitisches Pamphlet »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts«, sein Idol Richard Wagner hatte knapp ein halbes Jahrhundert zuvor mit »Das Judentum in der Musik« die Grundlagen geschaffen. In Europa formierte sich der Antisemitismus, ideologisch mit dem Rassismus verbunden, ihn teils aber auch überlagernd, als politische Kraft. Du Bois war mittendrin, er studierte von 1892 bis 1894 in Deutschland, in Heidelberg und in Berlin. Ein Ereignis des Jahres 1894, das von ­allen Intellektuellen diskutiert wurde und dem Antisemitismus neue Bedeutung verschaffte, war die Dreyfus-Affäre. Berühmte Soziologen wie Georg Simmel und Émile Durkheim mischten sich ein. Fast zehn Jahre später, 1903, veröffentlichte Du Bois sein epochales Werk »Die Seelen der Schwarzen«; es ist schwer vorstellbar, dass seine Beobachtungen des Assimilationsdilemmas der europäischen Juden – am Beispiel des französischen Offiziers Alfred Dreyfus, der als jüdischer Vaterlandsverräter angegriffen wurde – nicht seinen Begriff des »doppelten Bewusstseins« prägten. Doppelbewusstsein ist bei Du Bois das Dilemma der Unterdrückten, sich mit den Augen einer Gesellschaft sehen zu müssen, die sie verachtet. Es ist eine verallgemeinerbare Beobachtung, auch wenn Du Bois sie am Beispiel der US-amerikanischen Schwarzen verdeutlicht. In den USA ist die Sklaverei erst kurz vor der Geburt von Du Bois verboten worden, es begann eine Phase der politischen, juristischen und ökonomischen Unterdrückung der Schwarzen, die in der institutionalisierten Rassentrennung ihren deutlichsten Ausdruck fand. Es sollte ein Jahrhundert dauern, bis diese abgeschafft wurde, womit die Unterdrückung freilich nicht zu einem Ende kam. Du Bois argumentiert in seiner Schrift »Schwarzer Wiederaufbau in Amerika«, erschienen 1935 kurz vor seiner Reise, dass mit und nach dem Bürgerkrieg eine Arbeiterdemokratie hätte erkämpft werden können und dass es entsprechende Bündnisse über die »color line« hinweg gab. Mit deren politischem Scheitern kam es zur Trennung von schwarzer und weißer Arbeiterklasse, verfestigt durch die Jim-Crow-Gesetze. Die Grundlage der »color line« in den USA war geschaffen. Und selbst der erste schwarze Harvard-Absolvent Du Bois musste das noch täglich erleben. Die Leser der Kolumnen im Pittsburgh Courier dürften mit großem ­Erstaunen gelesen haben, wie Du Bois demgegenüber Europa, zumal Deutschland, schilderte. Nur Höflichkeit, Freundlichkeit, Neugier werden erwähnt, keine Beleidigung, kein Ausschluss, keine Diskriminierung. Und auch der heutige Leser staunt: Seitenlang schwärmt Du Bois vom Deutschen Museum für Wissenschaft und Technik in München, mit der vorsichtigen Einschränkung, dass gelegentlich das Menschheitsgeschichtliche zugunsten des Nationalen vernachlässigt werde, oder von den freundlichen Wirtshäuser in der »Hauptstadt der Bewegung«. Dass sich vor den Toren der Stadt ein Konzentrationslager befindet, erfährt man nicht. (Der Kommunist Hans Beimler, dem die Flucht aus Dachau gelang, hatte bereits 1933 für die Mitwelt aufgeschrieben, was die Nazis dort machten – auch mit den Juden.) Und die Nürnberger Rassengesetze, im Jahr zuvor erlassen? Du Bois berichtet stattdessen aus Bayreuth von seiner Begeisterung für Wagner-Opern. Er stand am Grab des Komponisten, nebenan liegt Chamberlain, der in den Wagner-Clan eingehei­ratet hatte. Auch hier kein kritischer Kommentar. Erst als er Deutschland verlassen hatte, äußerte Du Bois sich dann doch noch negativ – und zwar deutlich. Die Judenverfolgung »übertrifft an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich jemals erlebt habe, und ich habe vieles erlebt«, schrieb er. Die Nazis betrieben »planmäßige Propaganda« in einem »Weltkrieg gegen die Juden«. Der Antisemitismus sei mit der Abneigung der Weißen gegen die Schwarzen in den USA überhaupt nicht zu vergleichen. In einer kurzen Skizze zeigt Du Bois, wie die europäischen Juden zunächst in Handel und Geldwirtschaft gedrängt wurden, um später für den Kapitalismus als Sündenbock herhalten zu müssen. »Jedes Unglück in der Welt wird im Ganzen oder zum Teil den Juden angelastet«, so eine andere Formulierung. Sowohl die persönliche Erfahrung als auch die Einschätzung der politischen Situation zeigen, dass die »color line« für Nazi-Deutschland nicht der alleinige Schlüssel zum Verständnis sein kann. Als Du Bois 1949 ein weiteres Mal nach Europa reiste, war der Kontinent von den Nazis verwüstet. Drei Jahre später hielt er seinen Vortrag »The Negro and the Warsaw Ghetto«, in dem er seine Thesen zur »color line« abermals abschwächte. Der Text erschien in der Text in der Zeit­schrift Jewish Life, er stellt eher eine am Beispiel des Widerstands gewonnene zeitpolitische Intervention dar als eine präzise theoretische Reflexion, wie Jan Gerber in dieser Zeitung ausgeführt hat. Du Bois unterscheidet zwischen Sklaverei, Diaspora, Segregation, Ghettoisierung, Lynchmorden, Pogromen und einem beispiellosen staatlichen und industriellen Völkermord, verübt an den europäischen Juden. Er hielt es zwar für wünschenswert, dass sich alle Opfer von Unterdrückung zusammentun, um eine Welt ohne Unterdrückung zu schaffen, doch das steht auf einem anderen Blatt – nicht dem der historischen und begrifflichen Analyse, sondern dem der politischen Praxis. Die Gründung Israels begrüßte Du Bois enthusiastisch, er hoffte auf einen »schwarzen Zionismus«. Doch zur Konferenz von Bandung 1955, der ersten asiatisch-afrikanische Konferenz, wurde Israel nicht eingeladen, in der Suez-Krise im folgenden Jahr zeigte Du Bois bereits weniger Sympathien für den jüdischen Staat. Du Bois, der noch im Deutschen Kaiserreich studierte, die Weimarer Republik und den Hitler-Faschismus erlebte, bekam 1958 in der DDR von der inzwischen nach den Brüdern Humboldt benannten Universität die Ehrendoktorwürde verliehen. Sein Einsatz für die globalen Interessen der Arbeiterklasse jenseits der »color line« brachte ihm den Sozialismus nahe. Im McCarthyismus wurde er als linker Intellektueller verfolgt, 1963 gab er seine US-Staatsbürgerschaft auf und wanderte nach Ghana aus, er starb im selben Jahr – einen Tag vor der berühmten »I Have a Dream«-Rede von Martin Luther King Jr. in Washington, D.C. Seine Reisekolumnen von 1936 zeugen zwar von literarischem Stil, sie bleiben trotzdem eher von zeithistorischem Interesse – wie beispielsweise auch Samuel Becketts Notizen aus Deutschland 1936. Dass Du Bois im ideologiekritischen Sinne das Verhältnis von Rassismus- und Antisemitismusanalyse neu bestimmen würde, wäre wohl auch zu viel erwartet gewesen. Dem neuen Band kommt das unverlierbare Verdienst zu, die Zeitungstexte von Du Bois erstmals auf Deutsch zugänglich zu machen. Im Vorwort wird erläutert, man verzichte auf eine Übersetzung des Wortes »Negro«. Das kann man fraglos so machen, doch bei der Begründung hapert es. Die lautet nämlich, dass es im deutschen Sprachraum keine Intellektuellen afrikanischer Herkunft gegeben habe, die sich die Bezeichnung selbstbewusst angeeignet hätten. Doch das trifft so nicht zu. Hier sei kurz auf den aus Kamerun stammenden Joseph Bilé und seine in Berlin ansässige »Liga zur Vertei­digung der Negerrasse« verwiesen, eine von der Komintern geförderte Vereinigung schwarzer Kommunisten, die sogar mit W. E. B. Du Bois im Austausch stand, aber bereits vor seinem Besuch, im Jahr 1935, aufgelöst wurde.   W. E. B. Du Bois: »Along the color line«. Eine Reise durch Deutschland 1936. Aus dem amerikanischen Englisch von Johanna von Koppenfels. C. H. Beck, München 2022, 168 Seiten, 20 Euro
Jakob Hayner
Jakob Hayner: Die Reportagen von W. E. B. Du Bois aus Nazi-Deutschland
[ "Nationalsozialismus", "Soziologie", "Bürgerrechtsbewegung", "Deutschland", "Antisemitismus" ]
dschungel
15.12.2022
https://jungle.world//artikel/2022/50/deutschlandreise
Die eine singt
Vermutlich war es Zufall, es könnte aber auch als programmatischer Kommentar dienen: Die diesjährige Feminale endete mit einem signifikanten Kontrast. Am letzten Abend des Frauenfilmfestivals, das vom 12. bis zum 18. Oktober in Köln stattfand, wurde zunächst der im vergangenen Jahr gedrehte Langfilm »La Vie ne me fait pas peur« (»Das Leben macht mir keine Angst«) von Noémie Lvovsky gezeigt. Im Anschluss daran konnte man Agnès Vardas »L'une chante, l'autre pas« (»Die eine singt, die andere nicht«) aus dem Jahre 1976 wieder sehen. Zwei französische Produktionen mit ähnlich gelagerten Sujets, es geht um junge Frauen, um Freundschaft, das Erwachsenwerden, um die Beziehungen zu Männern und um Sexualität. Und doch könnten die Unterschiede kaum größer sein. »Die eine singt, die andere nicht« rückt von der ersten Minute an das Frausein und die dazugehörige politische Agenda in den Mittelpunkt. Sollten die Bilder nicht für sich sprechen, macht ein Kommentar aus dem Off die Botschaft überdeutlich. Offensichtlich ist Varda an etwas gelegen, das als weiblicher Stil wahrgenommen werden möchte: Geschichte und Bilder haben etwas Flirrendes; Chronologie oder eine geradlinig ausgearbeitete Story sind Varda fremd. Die Darstellerinnen singen von der »conditio feminina«, wallende Kleider, das Naturschöne und zeitpolitische Diskussionen um Abtreibung oder alternative Lebensmodelle durchwehen den Film. Bei Lvovsky dagegen ist die Geschlechtsidentität nicht das Zentrum, auf das Plot und Stil zustreben. Anders als bei Varda findet hier Weiblichkeit nicht als Katastrophe statt, genauso wenig wie sie - im spiegelverkehrten Akt - als spezifisches Glück in Szene gesetzt würde. Lvovskys Figuren sind jung. Das tut manchmal weh, manchmal fühlt es sich gut an, und das ist auch schon alles. Die Zeiten, in denen man etwas beweisen musste, sind vorbei. Die Feminale ist ein Frauenfilmfestival, das mit der Tradition, Frausein als beherrschendes Sujet darzustellen, nichts mehr anzufangen weiß. Pam Cook, für die feministische Filmtheorie und -kritik eine wichtige Figur und seit den Siebzigern bei der Sache, formulierte es in Köln so: Sie wolle nicht immer das Geschlecht des Regisseurs bzw. der Regisseurin in den Vordergrund gerückt wissen, wie dies vor dreißig Jahren noch der Fall gewesen sei. Der Feminismus sei zwar noch von Bedeutung, für ihr eigenes Schreiben und Denken aber nicht länger beherrschend. Die Frauenbewegung habe zudem größeren Einfluss auf den Mainstream ausgeübt, als allenthalben angenommen werde. Selbst die Pornoproduktion habe feministische Impulse aufgegriffen, da etwa Vergewaltigungsszenen ab einem bestimmten Augenblick nicht mehr als akzeptabel erachtet wurden. Die Geschichte dieser Einflussnahme warte noch darauf, geschrieben zu werden. Cook wies mit ihren Thesen auch einen Weg, wie man mit den Errungenschaften und Abirrungen feministischer Filmtheorie und -praxis aus den siebziger Jahren umgehen kann. Es gilt, ein nicht-nostalgisches Verhältnis zu entwickeln, das Wissen und Material zu bewahren, es aber nicht versteinern zu lassen. Das gelang in Köln allerdings nicht immer; Cornelia Rückert, von Haus aus Kulturwissenschaftlerin, mittlerweile in leitender Funktion für Beate Uhse tätig, meinte, die Widrigkeiten der Pornografie-Debatte zu bewältigen, indem sie Realität und Phantasie mit scharfem Schnitt trennte. Pornografie stelle nicht Sexualität dar, sondern sexuelle Phantasien. Das ist sicher richtig, nur löst es nicht das Problem. Denn wie man sich beispielsweise gegenüber einer plumpen, stereotypen oder gar rassistischen Phantasie verhält, ist damit nicht geklärt, genauso wenig wie die Frage, wie Vorstellungen rückwirken auf Realität und ob Phantasie nicht ohnehin zum Wesen von Sexualität gehört, was bedeutet, dass der Schnitt zwischen der Darstellung von Sexualität und der Darstellung sexueller Phantasien gar nicht sauber ausfallen kann. Wie bieder Rückerts Ausführungen waren, wurde spätestens deutlich, als Virginie Despentes und Coralie Trinh This umstrittener Film »Baise-moi« gezeigt wurde: Wenn die Phantasie maßlos ist, gewalttätig und zu jedem Exzess bereit, hilft der Hinweis, es handele sich nur um eine Vorstellung, nicht weiter. Die Vortragsreihe »Rewind & Fast Forward«, zu der neben Cook auch die US-amerikanische Germanistikprofessorin Alice A. Kuzniar und die britische Wissenschaftlerin Lynn Turner eingeladen waren, widmete sich dem Spannungsverhältnis von Traditionsbewusstsein und einem nicht-nostalgischem Blick - immerhin hat die Feminale selbst in diesem Jahr ein Jubiläum und damit auch eine Geschichte zu feiern: Es war das zehnte Festival. Dass die Gefahr von Stillstand nicht nur droht, wenn vom Feminismus der Siebziger die Rede ist, zeigte sich im Vortrag von Kuzniar. Sie idealisierte das Konzept cineastischer Queerness, sodass das Konzept von Transgression seine Beweglichkeit verlor. Auch mit neuen Theorien lassen sich alte Fehler begehen. Es reicht eben nicht, den schon etablierten Formen cineastischen Empowerments neue hinzuzufügen, also immer neuen Gruppen von Fehlrepräsentierten Raum zur Darstellung zu verschaffen. Stattdessen ist es nötig, die Dichotomien von Macht und Ohnmacht, Mainstream und Minderheit neu zu denken. Neben den mal glücklichen, mal oberflächlichen theoretischen Auseinandersetzung gab es natürlich noch die Filme. Und die waren eindrucksvoll, vor allem in ästhetisch-visueller Hinsicht. Sei es der erste Spielfilm von Asia Argento, »Scarlet Diva«, der sich autobiografisch gibt und das Filmbusiness selbst zum Sujet hat. Argento ist in Italien eine gefeierte Schauspielerin, als Tochter des Horrorfilmregisseurs Dario Argento kennt sie zudem den Betrieb. Sei es der mit dem Debütfilmpreis ausgezeichnete »Ratcatcher« von Lynne Ramsay, der im Jahr 1970 in einem Arbeiterviertel Glasgows angesiedelt ist. Sei es »Beau Travail« von Claire Denis oder »Auslandstournee« von Ayse Polat - immer gelingt es den Regisseurinnen, eine eigenständige Bildsprache zu begründen und sich auch bei problematischen Stoffen vom Sujet nichts diktieren zu lassen. Wenn die 1970 geborene Deutschtürkin Polat unterschiedliche Variationen von Fremdheit durchspielt, ohne dass es je zum oberflächlich inszenierten Kulturkonflikt kommt, ist dies bemerkenswert. Genauso wie Ramsays »Ratcatcher«, dessen Figuren zwar am Rande der Gesellschaft leben, die aber in keinem Augenblick die Funktionen übernehmen müssen, Thesenpapiere zu verbreiten. »Ratcatcher« ist engagiertes Kino ohne Sozialromantik und zeigt überdies, dass es auf der Leinwand weniger um Aussagen, sondern zuerst einmal um Farben, Einstellungen, Licht und Bildkomposition geht.
cristina nord
cristina nord: Feminale in Köln
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dschungel
25.10.2000
https://jungle.world//artikel/2000/43/die-eine-singt?page=0%2C%2C3
Spuren zu Assad
Spuren der Verwüstung. Weder die Aufräumarbeiten im Hafen von Beirut noch die juristische Aufarbeitung kommen voran Die juristische Aufarbeitung der Kata­strophe, die sich am 4. August vorigen Jahres im Hafen von Beirut ereignete, ist noch nicht weit gekommen. Vermutlich durch Feuerwerkskörper entzündet, waren dort in einem Hangar etwa 2 750 Tonnen Ammoniumnitrat ex­plodiert. Eine verheerende Druckwelle raste durch die hafennahen Stadtviertel, tötete mehr als 200 Menschen, verletzte etwa 6 500 und zerstörte die Wohnungen von 300 000 Einwohnern. Die Bilder einer schwer getroffenen Stadt und ihrer verzweifelten Bevölkerung gingen um die Welt. Es war und ist unbegreiflich, dass eine solche Menge einer gefährlichen Chemikalie jahrelang ungesichert inmitten einer Großstadt lagern konnte. Wenige Tage später trat Ministerprä­sident Hassan Diab mit seinem gesamten Kabinett zurück. Die Regierung blieb jedoch geschäftsführend im Amt, bis am Donnerstag voriger Woche eine neue zustande kam – erneut unter Diab. Ein Untersuchungsrichter, Fadi Sawan, wurde mit den Ermittlungen beauftragt. Er konzentrierte sich auf die rasch bekannt gewordene Tatsache, dass es mehrere explizite Warnungen vor dem Ammoniumnitrat im Hafen gegeben hatte; bei der Hafenaufsicht und beim Zoll war man über die drohende Gefahr informiert; auch hatten mehrere Richter und Ausschüsse Warnungen erhalten. Etwa zwei Wochen vor der Explosion hatte ein leitender Sicherheitsbeamter sogar Präsident Michel Aoun und Diab dringend um Abhilfe gebeten. Für den letzten Abschnitt des Transfers von Ammoniumnitrat kommt eigentlich nur die ­proiranische libanesische Miliz Hizbollah in Frage, die in Syrien an der Seite Assads kämpft. Davon ausgehend erhob Sawan Anklage gegen 37 Personen, von denen er 25 in Untersuchungshaft nehmen ließ. Anfang Dezember klagte er auch Diab und drei von dessen ehemaligen Ministern wegen Fahrlässigkeit an. Sogleich bekam er die tatsächlichen Machtverhältnisse im Libanon zu spüren. Der Hizbollah nahestehende ­Politiker warfen ihm Verfassungsbruch vor und beantragten seine Absetzung, weil die angeklagten Regierungsmitglieder Immunität genießen müssten. ­Sawan wurde vom Obersten Gericht in seinem Auftrag bestätigt, allerdings ­erklärte er, seine Ermittlungen erst nach Beendigung der derzeit verhängten scharfen Pandemiemaßnahmen fortsetzen zu können. Also wird die libanesische Öffentlichkeit immer wieder mit dem Versprechen vertröstet, Sawans Bericht über den ­Ermittlungsstand werde »in wenigen Tagen« erscheinen. Wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat der Unter­suchungsrichter bisher den Fragen, wie das Ammoniumnitrat nach Beirut kam, wem es zuzuordnen ist und zu welchem Zweck es im Hafen mehr oder weniger unbeaufsichtigt gelagert wurde. Alles, was da­rü­ber bekannt geworden ist, deutet auf Schmuggel hin, dessen Auftraggeber und ­Lieferanten im Dunkel bleiben. Hergestellt hat das Sprengmittel die Chemiefabrik Rustavi Azot in Georgien, worauf die Aufschrift »Nitroprill« auf den Säcken hinwies. Diese wechselte 2017 den Besitzer; die neuen Eigentümer fanden angeblich keine Unterlagen über alte Geschäfte. In einem Kaufvertrag vom 10. Juli 2013, den der Nachrichtensender al-Jazeera einsehen konnte, ist als Bestimmungsort der Ware Mosambik eingetragen. Dort bestätigte die Fábrica de Explosivos de Moçambique (FEM), die Ladung bestellt und zu diesem Zweck als Zwischenhändler Savaro Ltd. in London eingeschaltet zu haben, die auch im Kaufvertrag genannt ist. Savaro war allerdings vor allem ein Briefkasten an dem Haus in London, dessen Adresse im Firmenregister eingetragen ist. Das Unternehmen beschäftigte keine Angestellten, wies keine Aktivitäten aus und wurde umgehend aufgelöst, als es sich mit unangenehmen Fragen konfrontiert sah. Den Transport des Ammoniumnitrats übernahm der auf Zypern ansässige russische Geschäftsmann Igor Gretschuschkin. Dafür charterte er den unter moldawischer Flagge fahrenden schrottreifen Frachter »MV Rhosus«. Das Schiff nahm das Gefahrgut im georgischen Hafen Batumi auf und legte am 27. September 2013 mit dem angeblichen Zielhafen Beira in Mosambik ab. Nach Aussage ihres russischen Kapitäns Boris Prokoschew erhielt die »MV Rhosus« dann vom Reeder die Anweisung, Beirut anzulaufen, um zusätzliche Fracht aufzunehmen. Dort wurde das Schiff von der Hafenaufsicht in­spiziert und für nicht seetüchtig erklärt. Da Gretschuschkin die Anlegegebühren nicht zahlen wollte, wie übrigens auch die Heuer für seine Mannschaft, wurde das Schiff beschlagnahmt und das Ammoniumnitrat entladen. Im ­Februar 2018 sank die »MV Rhosus« im Hafen von Beirut. Um den verschlungenen Handel aufzuklären, beantragte Richter Sawan bei Interpol sogenannte red notices, Aufforderungen zur Festnahme, für Gretschuschkin, Prokoschew und Jorge Moreira, einen portugiesischen Handelsagenten, der in Georgien beim Hersteller Rustavi Azot als Käufer aufgetreten war. Zur öffentlichen Fahndung wurden die drei Verdächtigen von Interpol nicht ausgeschrieben. Sawan hatte aber damit seine Pflicht getan und dazu eine Begründung dafür, warum die Ermittlungen stagnieren. Mit diesem Stand der Dinge wollte sich der libanesische Journalist Firas Hatoum nicht zufrieden geben. Man wisse noch nicht einmal, wem das Ammoniumnitrat gehörte, kritisierte Hatoum und stellte eigene Nachforschungen an. Im britischen Firmenregister fand er heraus, dass die Londoner Adresse von Savaro Ltd. von 70 weiteren Unternehmen genutzt wird, von denen jedoch nur zwei aktiv sind. Sie gehören syrisch-russischen Geschäfts­leuten, George Haswani sowie den Brüdern Imad und Mudalal Khoury. Alle drei finden sich auf Sanktionslisten der USA, die ihnen Geschäfte im Auftrag des syrischen Diktators Bashar al-Assad vorwerfen. Das US-Finanzministerium beschuldigte Mudalal Khoury im Jahr 2015, er habe Ende 2013 versucht, Ammoniumnitrat für das syrische Regime zu beschaffen. Das ist der Zeitraum, in dem die »MV Rhosus« ihre letzte Fahrt unternahm. Es ist nicht unüblich, dass Dutzende von Firmen den gleichen Briefkasten benutzen. Doch Hatoum hat festgestellt, dass Savaro und die Firma von Haswani ihre Registrierung unter der gleichen Adresse exakt zum selben Zeitpunkt vorgenommen haben. Beide gaben auch das gleiche Partnerunternehmen an, das mit der Abwicklung ihrer Geschäfte beauftragt sei, nämlich die Khoury-Firma. Hatoums Recherche begründet den schwerwiegenden Verdacht, dass das Ammoniumnitrat nicht für Mosambik bestimmt war, sondern im syrischen Bürgerkrieg eingesetzt werden sollte, etwa für den Bau von Fassbomben. Für den letzten Abschnitt eines solchen Transfers kommt eigentlich nur die proiranische Hizbollah in Frage, die in Syrien an der Seite Assads kämpft und selbst mit dem billigen, aber verheerenden Sprengstoff hantiert. Die Hizbollah ist der wichtigste Faktor im politischen Proporzsystem des ­Libanon, das die Macht unter den Führungsschichten der Schiiten, Sunniten, Maroniten und Drusen verteilt. Daher galt das Dementi ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah, er wisse nichts über die Vorgänge im Hafen von Beirut, von vornherein als unglaubwürdig. Um von sich abzulenken, hat Nasrallah die libanesische Armee beschuldigt, für die Lagerung des gefährlichen Materials im Hafen verantwortlich gewesen zu sein. Doch dieser Konflikt wurde rasch beigelegt und man einigte sich auf die Einsetzung der neuen Regierung – keine günstigen Bedingungen für die rich­terliche Untersuchung.
Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel: Das in Beirut explodierte Ammoniumnitrat war möglicherweise für das syrische Regime bestimmt
[ "Libanon", "Beirut", "Hizbollah" ]
Ausland
28.01.2021
https://jungle.world//artikel/2021/04/spuren-zu-assad?page=0%2C%2C2
Der Ruhm kommt erst noch
Alex Chilton. Wahrscheinlich wird mit Alex Chilton dasselbe passieren wie mit Nick Drake. Letzterer wurde erst nach seinem Ableben zu der Songwriterikone, als die er heute gilt. Alex Chilton war schon zu Lebzeiten eine ungemein legendäre Type, aber die Massen erreichte er nie. Außer mit seiner ersten Band, den Box Tops, mit denen hatte er schon Ende der Sechziger einen Hit, aber wer weiß das heute schon noch? In den Siebzigern nahm Chilton, der zeitweise ein Alkoholproblem hatte, als Sänger der unverständlicherweise verkannten Big Stars ein paar Platten auf, die man zu den schönsten Popwerken überhaupt zählen muss. Erst vor kurzem sind diese endlich in einer würdigen CD-Box neu erschienen. Chilton produzierte äußerdem die Cramps und nahm immer wieder Soloplatten von unterschiedlicher Qualität auf, eine Band wie die Replacements nannte sogar einen ihren Songs »Alex Chilton«. Nun ist das große unbekannte Genie der Popmusik im Alter von 59 Jahren verstorben.   aha
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dschungel
25.03.2010
https://jungle.world//artikel/2010/12/der-ruhm-kommt-erst-noch?page=0%2C%2C1
»Das enge und exklusive Wertekorsett scheint attraktiv«
Unterscheidet sich das Radikalisierungspotential von jungen Flüchtlingen und jungen Menschen ohne Fluchthintergrund, wie jüngst vielfach in den Medien nahegelegt wurde? Es kann durchaus qualitative Unterschiede geben, etwa wenn im Radikalisierungsprozess eine mit Erfahrungen während der Flucht oder im Krieg zusammenhängende Traumatisierung eine Rolle spielt. Doch islamistische Radikalisierung kann nicht allein durch eine Fluchterfahrung erklärt werden. Es kommt auf ein Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren an, wie zum Beispiel der jeweilige Charakter, die sich in Deutschland eröffnenden sozialen und beruflichen Perspektiven oder die Form der Betreuung und Begleitung durch Ehrenamtliche oder Amtsvormünder. Vor allem ist es wichtig, dass die hier Angekommenen eine demokratische »Willkommenskultur« erfahren, sie sich hier wohlfühlen, dass sie akzeptiert werden und Teilhabeerfahrungen in einer pluralen Gesellschaft machen. So kann die Attraktivität von islamistischen Gruppen und Denkmustern stark verringert werden – bei den Jugendlichen entstehen dadurch viel eher demokratische, präventive Kräfte. Den Jugendlichen pauschal ein Gefahrenpotential zuzuschreiben, wäre eine nicht belegte und unzutreffende Generalisierung und Stigmatisierung. Zudem würde damit einem sicherheitspolitischen Diskurs in die Hände gespielt werden, dessen Forderungen eindeutig zu kurz greifen. Es ist bemerkenswert, dass in der Öffentlichkeit derzeit öfter von »tickenden Zeitbomben« zu hören ist und weniger der Ruf nach umfangreicherer psychologischer Unterstützung von jungen Flüchtlingen. Beobachten Sie dennoch Versuche von Islamisten und Islamistinnen, gezielt um junge Flüchtlinge zu werben? Ja, auch wir registrieren Ansprachen durch islamistische Gruppen oder Einzelpersonen. Doch es ist schwierig, hier eindeutige Tendenzen oder Anwerbestrategien zu nennen, da auch wir nur Bruchstücke mitbekommen und das Internet, neben persönlichen Kontakten, bei einer Hinwendung zum Islamismus eine nicht geringe Rolle spielt. Vor etwa eineinhalb Jahren nahmen Beratungsfälle im Kontext unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und Familien mit Fluchterfahrungen zu. In der letzten Zeit jedoch sinkt die Zahl dieser Beratungsfälle wieder. Das liegt vermutlich daran, dass die professionell in diesem Bereich Tätigen sich gezielt fortbilden und sicherer werden im Umgang mit Jugendlichen, für die islamische Religion und Kultur zu einem wichtigen Moment der Selbstverortung gehören. Zunehmende Religiosität muss nicht automatisch zu islamistischer Radikalisierung führen. Das Team von Kitab arbeitet mit einer akzeptierenden Grundhaltung, das heißt Religiösität an sich ist kein Problem und auch nicht der Jugendliche selbst. Wir thematisieren aber problematische Haltungen wie etwa Antisemitismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit oder generell die Abwertung »Ungläubiger«. Hier stellt sich uns die Frage, wie und warum bei Jugendlichen das Bedürfnis entsteht, andere Personen oder Gruppen abzuwerten. Diese Attraktivitätsmomente zu erkennen, die Haltungen in einem vertrauensvollen Kontext kritisieren zu können, das Bemühen der Jugendlichen zu verstehen, mit dieser Ablehnungshaltung einen konkreten Lösungsversuch für eigene emotionale Schieflagen zu unternehmen, und sie gleichzeitig in ihrer religiösen oder anderweitigen Selbstverortung nicht pauschal zurückzuweisen, sondern in den Diskurs zu gehen, erfordert Fingerspitzengefühl und Zeit. Wie läuft es ab, wenn Sie etwa wegen eines sich möglicherweise radikalisierenden jungen Flüchtlings kontaktiert werden? Diese Prozesse verlaufen nicht linear und haben keinen gewissen Ausgang – das heißt, es gibt unterschiedliche Zeitpunkte, zu denen interveniert werden kann. Wenn Menschen befürchten, dass junge Flüchtlinge mit religiös extremistischen Grundhaltungen sympathisieren, erhalten wir zum Beispiel eine Beratungsanfrage des jeweiligen Vormunds oder eines Betreuers in der Jugendhilfeeinrichtung, die meist sehr aufmerksam sind und Veränderungen wachsam sorgend beobachten. Aus Angst davor, unter Umständen als islamophob zu gelten, scheuen sich leider manche der Involvierten immer noch, uns zu kontaktieren oder ihre Sorgen auszusprechen. In solchen Fällen hilft es sicherlich, dass wir in unseren Beratungen Anonymität gewährleisten und aus einer anfänglichen Beratung nicht automatisch weitere Schritte folgen müssen, wenn wir keine sicherheitsrelevanten Zusammenhänge feststellen. Wie in jeder Beratung gilt es auch in diesem Kontext, gezielt zu schauen, welche Mechanismen islamistisches Gedankengut attraktiv erscheinen lassen. Welches Angebot machen bestimmte salafistische Gruppen dem Betroffenen? Aus welchen Familienverhältnissen stammt der Jugendliche? Welche Erfahrungen sind bei der Flucht gemacht worden? Wie ist er in Deutschland sozial angebunden, wer sind die wichtigen Bezugspersonen, wie dauerhaft ist der Kontakt? Gibt es Beziehungsabbrüche und wenn ja, welcher Natur sind diese? Welche Auffälligkeiten wurden etwa in der Schule oder im Sportverein bisher registriert? Vor dem Hintergrund eines solchen Lageüberblicks versuchen wir schließlich, Perspektiven zu schaffen, indem wir an unterstützende Akteure und vorhandene Ressourcen des Jugendlichen anknüpfen und an attraktiven Gegenangeboten arbeiten. Woran bemerken Sie Anzeichen einer Radikalisierung? Erste Anhaltspunkte für eine Radikalisierung sind meist Veränderungen auf rhetorischer Ebene und in den Kommunikationsstrukturen. Wenn sich etwa ein Jugendlicher mehr und mehr weigert, mit Frauen zu sprechen, Demokratie im Allgemeinen, aber auch Parteien und Parlamente als vom Menschen erschaffene Regelwerke ablehnt, die das ewig gültige und geltende Wort und Gesetz Gottes nicht mit einbeziehen, und er noch dazu den Kontakt zu bestimmten Szenen oder einschlägig bekannten Einzelpersonen pflegt – dann ist das Risiko einer tatsächlichen ideologischen Verfestigung sicherlich hoch. Zudem ist wichtig, ob die Veränderung mit eigener Gewaltbereitschaft einhergeht, ob diese bei anderen ausgeblendet, toleriert oder gar unterstützt wird, oder ob die Person einer Strömung anhängt, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele ablehnt. Was macht eine islamistische Radikalisierung attraktiv? Der Salafismus gilt als eine sehr schnell wachsende, dynamische, jugendkulturelle Bewegung. Manche Jugendliche haben den Eindruck, dass selbst berechtigte Kritik an gesellschaftlichen Missständen nicht ernst genommen wird. Die Angebote salafistischer Szenen hingegen erleben sie zum Teil als »authentischer«. Unabhängig von Vergangenheit, Nationalität, Herkunft, Status, Bildungsstand oder Geschlecht können sie Teil einer elitären Bewegung sein, die die Welt zu einem »besseren« Ort machen möchte. Im Rahmen der Agitation fällt eine wichtige Funktion islamistischen Predigern zu. Sie schaffen es, in einem 45-Minuten-Vortrag oder einem dreiminütigen Youtube-Video klar und leicht verständlich zu zeigen, was sie von der »verkommenen« Gesellschaft halten, was der einzig richtige Weg ins Paradies sei, wie wichtig Werte, Glaube, Orientierung, Gemeinschaft und der Protest gegen Ungerechtigkeit seien. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Typen von Predigern mit jeweils unterschiedlichen Botschaften – passend zu den jeweiligen emotionalen Bedürfnissen der Jugendlichen. Der Erfolg islamistischer Denkmuster und Gruppen liegt sicherlich auch darin begründet, dass hier im Vergleich zum klassischen Rechtsextremismus das völkische Element fehlt und sich ihnen Kroaten, Deutsche, Albaner oder Türken gleichermaßen anschließen können – eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, verbunden einzig durch den »rechten« Glauben. Ein weiteres zentrales Moment ist das enge und exklusive Wertekorsett, das sich dessen Anhänger anlegen. Die Orientierung am vermeintlich unverfälschten Islam, an Mohammed und seinen engsten Gefolgsleuten, die wortwörtliche Befolgung von Regeln, das Aufgeben der Interpretation und Kontextanalyse bieten Überblick in einer als verkommen, überfordernd und zu vielfältig wahrgenommenen Welt. Dazu kommen die dualistische Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen sowie Feindbilder wie Juden, die USA oder Homosexuelle. Hängt die Attraktivität von Islamismus auch zusammen mit Formen von islamischer Angstpädagogik? Die Vorstellung von Höllenqualen für Ungläubige, die Figur eines strafenden Gottes und die damit verbundene Angst können ein Motiv sein. Allerdings begleiten wir auch viele gefährdete Jugendliche, die sich stark am Bild eines barmherzigen Gottes orientieren und dennoch religiös begründete Haltungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vertreten. Es reicht nicht aus, die Attraktivitätsmomente allein in der Praxis islamischer Religion auszumachen. Vielmehr muss auch nach soziologischen und psychischen Faktoren gesucht werden, die eine Hinwendung von Jugendlichen zu islamistischen Denkmustern und Gruppen begünstigen – oder dies verhindern, was ja auch möglich ist. Es ergibt deshalb Sinn, sich die Einzelfälle anzusehen und jeweils situationsadäquat anzusetzen. Existieren in Deutschland ausreichend Maßnahmen und Projekte zur Islamismusprävention? Viele bewährte Projekte kommen nie aus dem Projektstatus heraus und müssen sich stets neu erfinden und verkaufen, damit Förderungen nicht auslaufen. Regelförderungen würden stabilere Strukturen schaffen. Für den Bereich der Interventionsangebote gilt ähnliches. Für das Team von Kitab, das seit 2012 viele Fälle bearbeitet hat, wird die Anschubfinanzierung über den Bund zum Ende des Jahres auslaufen. Die Länder sind seit längerer Zeit aufgefordert, die Finanzierung zu übernehmen. Im Zuständigkeitsbereich meines Teams, der sich über Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen erstreckt, haben alle Länder reagiert. Bremen steht nun in der Pflicht, sich zu positionieren angesichts der weiterhin hohen Bedarfslage. An welche gesellschaftlichen Akteure muss sich Islamismusprävention richten? Wir von Kitab sind ein Instrument der Intervention. Wichtig ist es, früher anzusetzen, um präventive Kräfte zu stärken. Im Grunde geht es dabei um grundlegende Demokratiepädagogik und um die Erfahrung von sozialer und politischer Teilhabe. Darüber hinaus geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der Idee von exklusiven Gemeinschaften, die keine fließenden Übergänge und Schattierungen dulden. Eine solche Form der Islamismusprävention richtet sich nicht nur an potentiell gefährdete Zielgruppen, sondern de facto an die gesamte Gesellschaft. Die Schule ist dabei der zentrale Ort für Prävention. In meiner Arbeit beobachte ich häufig, dass sich Lehrkräfte weigern oder nicht trauen, mit ihren Schülerinnen und Schülern über Religion zu sprechen, obwohl diese ein klares Bedürfnis signalisieren. Sie können sich teilweise einfach nicht vorstellen, dass Religion eine Rolle spielen kann oder was es bedeutet, als Generation nach 9/11 einen Teil der kulturellen Identität unentwegt in Frage gestellt zu sehen. Wenn kein Forum zum Austausch und zur Vermittlung transkultureller Grundgedanken geschaffen wird, dann ist die Chance sehr groß, dass sich die Jugendlichen anderen Personen zuwenden, um über dieses Thema zu diskutieren – mitunter dann weniger kritisch und mit einer alles andere als demokratischen Haltung. Im Kleinen werden leider zu viele Chancen verpasst, sich mit einer gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen, die in Deutschland auch von Musliminnen und Muslimen geprägt wird.
Till Schmidt
Till Schmidt: Berna Kurnaz über die islamistische Radikalisierung junger Menschen
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Interview
29.09.2016
https://jungle.world//artikel/2016/39/das-enge-und-exklusive-wertekorsett-scheint-attraktiv?page=0%2C%2C1
»Überall wird die Bewegungsfreiheit eingeschränkt sein«
Bereits beim OSZE-Gipfel im Dezember haben Sie sich an einer Protestkundgebung der Stadtteilgruppe der Linkspartei im Karolinenviertel in der Nähe der Messehallen beteiligt, um gegen die Einschränkung der Bürgerrechte zu demonstrieren. Was waren Ihre Kritikpunkte? Bei unserer kleinen Protestkundgebung ging es – anders als jetzt beim G20-Gipfel – weniger um die Kritik der OSZE. Ich habe den Eindruck, der OSZE-Gipfel wurde vor allem nach Hamburg geholt, damit der Sicherheitsapparat die Gelegenheit zu einer Generalprobe für den G20-Gipfel bekommt. Die Polizei war in der ganzen Innenstadt massiv präsent. Das hat das Leben in der Stadt, die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger natürlich stark beeinträchtigt, vor allem im Karolinenviertel. Dieses lebendige Viertel mit seinen urbanen Milieus war in den Tagen des Gipfels wie ausgestorben. Viele Geschäfte hatten geschlossen, andere immense Umsatzeinbußen. Dieses Viertel war eines der Widerstandsnester gegen das große Gefahrengebiet im Januar 2014. Wie waren die Reaktionen auf Ihren Protest? Wir hatten nicht damit gerechnet, dass das Karolinenviertel so ausgestorben sein würde. Entsprechend war die Resonanz nur gering. Ich hatte schon den Eindruck, dass die massive Polizeipräsenz der Einschüchterung möglicher Proteste diente, womöglich im Hinblick auf den G20-Gipfel. Allein im Rahmen der »Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Hammonia« waren über 10 000 Polizeibeamte aus Hamburg und anderen Bundesländern im Einsatz, dazu kommen 2 700 Bundespolizistinnen und -polizisten und eine mir nicht bekannte Zahl an BKA-Beamten in den jeweils eigenen BAOs »Hanseat« und »Elbe«. Auch das Aufgebot an Einsatzmitteln war gigantisch, angefangen von 37 Pferden und 62 Diensthunden über 22 Wasserwerfer bis zu den zehn Hubschraubern. Die stellten mit ihrem Lärm eine schwere Belästigung dar, weil sie Tag und Nacht über Hamburg kreisten, über der Innenstadt, aber auch, gerade in den Abendstunden, über entfernten Wohngebieten. »CDU und Deutsche Polizeigewerkschaft versuchen mit ›Warnungen‹ vor in Hamburg einfallenden ›linksextremistischen Gewalttätern‹ die Situation zu eskalieren und mehr oder weniger generelle Demonstrationsverbote zu erreichen.« Auch die Bundeswehr war präsent, nicht nur mit zusätzlich 90 Soldaten zur Bewachung von militärischen Liegenschaften, sondern auch zur Unterstützung der Luftraumüberwachung und mit zwei Verbindungsbeamten im Führungsstab der Polizei. Die waren tatsächlich die ganze Zeit in der Einsatzzentrale der Polizei und verfolgten dort mit Hilfe einer neu eingeführten Software quasi live den Einsatz der Polizeieinheiten vor Ort. Und wofür dieser ganze Aufwand? Es fanden neben drei kleinen Protestaktionen, darunter unsere, zwei Demons­tra­tionen statt, die absolut friedlich verliefen. Der massive Polizeieinsatz war absolut unverhältnismäßig. Gegen den G20-Gipfel sind seit November größere Proteste angekündigt. Bewertet der Hamburger Senat diese auch nur als Sicherheitsrisiko oder als Ausdruck einer lebendigen Demokratie? Die politische Auseinandersetzung über den G20-Gipfel und über die vorbereiteten Proteste ist vor allem durch die Gewaltfrage geprägt – durch die politische Rechte, durch Senat und Sicherheitsbehörden und nicht zuletzt durch die Medien. CDU und Deutsche Polizeigewerkschaft versuchen mit Warnungen vor in Hamburg einfallenden »linksextremistischen Gewalttätern«, die angeblich Teile Hamburgs in Schutt und Asche legen wollen, die Situation zu eskalieren und mehr oder weniger generelle Demonstrationsverbote zu erreichen. SPD und Grüne greifen die Aktionen, die sie politisch nicht beherrschen, vor allem die große Demonstration eines sehr breiten Bündnisses am 8. Juli, massiv an und diffamieren sie als gewaltträchtig. So wird versucht, Kritik an der Politik und Rolle der G20 in den Hintergrund zu drängen und nicht genehme Protestaktionen zu delegitimieren. Der grüne Fraktionsvorsitzende verstieg sich sogar dazu, unsere Forderung nach Versammlungsfreiheit auch in der Innenstadt als »Eskalation« zu diffamieren. Das sagt leider viel über den Niedergang der Grünen als bürgerrechtsorientierte Partei aus. Es gibt auch auf Seiten von Senat und Regierungsfraktionen Stimmen der Vernunft, aber sie werden vom Säbelrasseln übertönt. Bereiten sich Innenbehörde und Polizei tatsächlich seit einem halben Jahr auf eine Art Bürgerkriegsszenario vor? Die Polizei hat im Kooperationsgespräch mit den Anmeldern der für den 8. Juli geplanten Demonstration ein Demonstrationsverbot für die Innenstadt in Aussicht gestellt. Das war sicher nicht ihr letztes Wort – der grüne Justizsenator hat dem dann auch öffentlich widersprochen, aber es macht deutlich, worauf sich die Polizei vorbereitet: darauf, Massendemonstrationen gegebenenfalls zu unterbinden oder zu zerschlagen. Auf meine Anfrage antwortete der Senat, dass eine Allgemeinverfügung zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit – also ein Demonstrationsverbot – geprüft werde. Obwohl Einzelheiten des Sicherheitskonzepts bisher nicht bekannt sind, zeichnet sich ab, dass die Dimension des Einsatzes im Juli die Dimension der Generalprobe um ein Vielfaches übertreffen wird – an Einsatzstärke und an Einsatzmitteln. Schon jetzt sind einige Hundert Polizistinnen und Polizisten aus anderen Bundesländern im Hamburg im Einsatz, nehmen verdachtsunabhängige Kontrollen zu. Die von staatlicher Seite beförderte Beschwörung von Gewalt soll die nur mit Gewalt durchzusetzende massive Einschränkung von Grundrechten vorbereiten und legitimieren. Das ist meine Befürchtung. Rechnen Sie mit dem Einsatz verdeckter Ermittlerinnen und Ermittler zur Ausforschung des Protestes? Da unser Antrag, verdeckte Ermittlerinnen und Ermittler nicht in politischen Zusammenhängen einzusetzen, abgeschmettert wurde, rechne ich fest damit, auch wenn der Einsatz inzwischen durch Einführung des richterlichen Vorbehalts erschwert wurde. Konkrete Hinweise habe ich nicht, das liegt in der Natur der Sache. Auch bei der Feuerwehr ist die Aufregung groß und seit Monaten laufen die Vorbereitungen für den G20-Gipfel, die dort intern wohl als temporärer Ausnahmezustand verstanden werden. Was bekommen Sie von diesen Bedenken mit? Olaf Scholz hat den G20-Gipfel im Alleingang nach Hamburg geholt und, so befürchte ich, nicht einen einzigen Gedanken auf die Folgen verwendet. Der Berufsverband Feuerwehr kritisiert, dass die Feuerwehrleute ohne ausreichende Vorbereitung und ohne ausreichenden Schutz im G20-Einsatz verschlissen werden. Aber nicht nur bei der Feuerwehr, auch bei der Polizei ist der Frust über den Gipfelwahnsinn sehr deutlich zu spüren. Die Begeisterung für das Gipfeltreffen scheint mir nach allem, was ich aus den verschiedensten Behörden höre, auf Scholz und die Zweite Bürgermeisterin, Katharina Fegebank von den Grünen, begrenzt. Aber warum lässt der rot-grüne Senat der Polizeiführung weitgehend freie Hand und verzichtet auf Kontrolle? Die Behördenleitung kann nicht in einzelne Maßnahmen der Polizei eingreifen. Aber sie kann den Kurs bestimmen. Sie hätte die Verpflichtung, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu verteidigen. Wie ist es möglich, dass die Polizei ein totales Demonstrationsverbot in der Innenstadt in Aussicht stellt? Hier versagt die Behördenleitung. Leider ist es so, dass sich Innensenatoren in Hamburg immer eher als Polizeisprecher verstehen denn als Behördenleitung, die eben nicht nur Sicherheitsrisikos bedenken muss, sondern auch dem Schutz von Grundrechten verpflichtet ist. Den als Einsatzleiter mehrfach wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht verurteilten Hartmut Dudde zum Leiter des Vorbereitungstabs G20-Gipfel der Polizei und zum Gesamteinsatzleiter zu ernennen, spricht eher nicht für den Schutz von Grundrechten? Herr Dudde steht für die harte »Hamburger Linie«; seine Geringschätzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit ist gerichtsnotorisch. Er war schon versetzt und befördert worden und wurde für den Gipfel als Gesamteinsatzleiter reaktiviert. Das spricht Bände. Dann ist zu erwarten, dass es zur Absicherung des Gipfelprogramms zu Einschränkungen von Bürgerrechten kommen wird? Ja, aber das Ausmaß ist bisher nicht absehbar. Es ist für die Öffentlichkeit völlig unklar, wo es, abgesehen vom Tagungsort Messehallen und der Elbphilharmonie, Sicherheitszonen geben wird. Man muss sich nur vorstellen: Die zahlreichen Delegationen sind in Dutzenden Hotels untergebracht. Diese Hotels werden gesichert sein, Teile der Außenalster, wo das US-Generalkonsulat liegt, werden gesichert sein, ebenso die zahlreichen An- und Abfahrtswege. Überall wird die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger eingeschränkt sein, wird es nach aller Erfahrung verdachtsunabhängige Personenkontrollen und weitere Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geben. »Die Linke« hat einen Antrag in die Hamburgische Bürgerschaft eingebracht, den G20-Gipfel auszuladen. Wie waren die Reaktionen? Das war eine der schlimmsten Debatten in der Bürgerschaft, die ich in gut acht Jahren miterlebt habe. Es gab regelrecht hysterische Angriffe auf uns, ähnlich wie bei der Olympia-Auseinandersetzung. Ich glaube, auch bei Rot-Grün will außer Scholz und Fegebank eigentlich keiner den Gipfel in Hamburg, und deshalb kommt es ihnen darauf an, den Schwarzen Peter für alles, was vielleicht passiert, von Anfang an den Kritikerinnen und Kritikern des Gipfels zuzuschieben. »Die Linke« als Partei bereitet aber Protestaktionen mit vor? »Die Linke« beteiligt sich aktiv am Bündnis für die Demonstration am 8. Juli. Dieses Bündnis ist mit den Organisatoren anderer Protestaktionen über eine gemeinsame Plattform verbunden. Es gibt also eine Vernetzung, und »Die Linke« ist Teil davon. Wie planen Sie, die Gipfelprotestwoche zu verbringen? Ich hoffe, dass ich ab und zu nach Hause komme. Ich zähle die parlamentarische Beobachtung von Protestaktionen und Polizeieinsätzen zu meinen Aufgaben als innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. Da jeden Tag was los ist, werde ich mehr oder weniger ständig unterwegs sein.
Gaston Kirsche
Gaston Kirsche: Ein Gespräch mit Christiane Schneider, Linkspartei, über Bürgerrechte und den G20-Gipfel in Hamburg
[ "Hamburg", "G20", "Polizei" ]
Interview
27.04.2017
https://jungle.world//artikel/2017/17/ueberall-wird-die-bewegungsfreiheit-eingeschraenkt-sein
Am Ende der Nahrungskette
Wenn der Faktor Arbeit aufmuckt. Bauarbeiter protestieren am 27. Juli auf dem Holsten-Areal in Hamburg »Hungerstreik« stand gesprüht auf zwei Bettlaken. Eine Gruppe von Bauarbeitern hielt diese, als sie sich vor zwei Wochen in Hamburg auf dem Dach einer früheren Lagerhalle der Brauerei Holsten versammelt hatte. Eine Anwohnerin machte Fotos und benachrichtigte die Polizei. »Auf dem Umweg über die Initiative Prellbock Altona hat uns das Foto mittags erreicht«, sagte Theo Bruns von der Gruppe »Knallt am dollsten«, die sich aus einer kritischen Perspektive mit dem Bauprojekt der Immobilienfirma Adler Group auf dem Holsten-Areal beschäftigt, der Jungle World. »Wir sind dann gleich auf das Gelände gegangen, wurden dort aber von der Security verscheucht. Von der Dachbesetzung und Hungerstreikaktion war nichts mehr zu sehen.« Aber seine Stadtteilinitiative habe nicht locker gelassen, so Theo Bruns: »Am nächsten Morgen haben wir ­telefonisch vom Bauleiter der Abrissfirma Freimuth bestätigt bekommen, dass die Protestaktion wegen nicht gezahlter Löhne stattgefunden hat.« Das Holsten-Areal ist 8,6 Hektar groß. Bis 2019 war hier der Produktionsbetrieb der Holsten-Brauerei. Nun sollen dort 186 900 Quadratmeter Geschossfläche neu entstehen und weitere 6 300 Quadratmeter Geschoss­fläche in alten Industriegebäuden saniert werden – für mehr als 1 200 Wohnungen, für Kitas, Geschäfte, Büros und einen Handwerkshof. Im Laufe des vierfachen Verkaufs an wechselnde Investoren ist der Grundstückspreis von 150 Millionen auf 360 Millionen Euro gestiegen – so bewertet zumindest der derzeitige Eigentümer, die Adler Group, das Areal. Ausgehend davon seien bei den zwei Dritteln der Wohnungen, die nicht sozial gefördert werden, exorbitante Mieten von 20 Euro netto kalt pro Quadratmeter und mehr zu erwarten, kalkulierte die Initiative »Knallt am dollsten«. Beim Bauinvestor Adler Group klingt das etwas ­blumiger. »Im Herzen von Altona entwickelt die Adler Group ein neues Quartier, das Wohnen, Arbeiten und Leben unter dem Fokus der Nachhaltigkeit miteinander vereint«, heißt es auf deren Website. Geplant sei ein »ökologisches Energiekonzept« mit »regenerativen Energiequellen«; der kaufkräftigen urbanen Mittelschicht werden »fortschrittliche Mobilitätskonzepte wie E-Mobilität, Carsharing, Lastenfahrräder und Elektroladestellen« im »innovativen ganzheitlichen Konzept des Quartiers« versprochen. Aber bis dahin wird es noch dauern. Jahrelang passierte nichts auf dem Gelände, derzeit läuft immer noch der Abriss, danach muss neu gebaut ­werden. Im Laufe des vierfachen Verkaufs an wechselnde Investoren ist der Grundstückspreis von 150 Millionen auf 360 Millionen Euro gestiegen. Gleichzeitig mit dem Protest auf dem Holsten-Areal gab es eine ähnliche Aktion in Düsseldorf auf einer Baustelle eines anderes Immobilienunternehmens. Weil das dortige Transparent genauso wie das auf dem Holsten-Areal aussah, dürfte es eine koordinierte Aktion gewesen zu sein, sagte Theo Bruns im Gespräch mit der Jungle World. Und, Überraschung: Auf dem Dach sei ebenfalls der Schriftzug der ­Firma SAR Industrieservice zu sehen gewesen. Theo Bruns vermutet, dass hinter den Protestaktionen rumänische Bauarbeiter stehen, die bei einem Subunternehmen von SAR Industrieservice angestellt sind. »Dieses konnte die Löhne nicht mehr zahlen, weil es seinerseits von SAR nicht bezahlt wurde«, so Theo Bruns. »Den Letzten in der Kette beißen die Hunde, während die Konzerne an der Spitze sich als Unbeteiligte darstellen.« Medienberichten zufolge soll SAR durch ein Subunternehmen für mehrere Baustellen in Deutschland rund 70 Bauarbeiter aus Rumänien angestellt haben – und dieses Subunternehmen soll auf bis zu eine Million Euro an Löhnen gewartet haben. »Der Hungerstreik wurde denn auch vom Sub-Sub-Arbeitgeber inszeniert«, so die Hamburger DGB-Vorsitzende Tanja Chawla zur Jungle World. Sie habe »versucht, mehr über die Hintergründe zu erfahren und in Kontakt zu kommen, was nicht so einfach war«. Per Twitter lobte Chawla ihre Kolleginnen von IG BAU. Ihnen sei es »in Düsseldorf gut gelungen, Kontakt aufzunehmen«. »Dabei wurde auch deutlich, dass die rumänischen Kolleg*­innen ihr Geld inzwischen teilweise bekommen, aber einige durch die Aktion ihren Job verloren hatten,« sagte sie im Gespräch mit der Jungle World. Stefan Lührs, der Geschäftsführer des Abrissunternehmens Freimuth, sagte am Wochenende dem Hamburger Elbe Wochenblatt, sein Unternehmen habe seine Zahlungsverpflichtungen pünktlich erfüllt: »Wir haben die Zusammenarbeit mit dem Subunternehmen eingestellt, bis sich der Sachverhalt vollständig aufgeklärt hat.« Die auf dem Bau übliche Weitergabe von Arbeiten an Subunternehmer kann auch reguliert ablaufen, erklärt Katrin Brandt, die Geschäftsführerin des alternativen Bauträgers Stattbau Hamburg Stadtentwicklungsgesellschaft mbH: »Es gibt grundsätzlich die Pflicht des Auftraggebers, zu prüfen, ob der Auftragnehmer Lohnsteuer abführt.« Subunternehmen können aber auch zum Lohndumping genutzt werden. »Das ist ein grundsätzliches Problem«, so Brandt. »Es ist durchaus üblich, dass ein Bauvorhaben an einen Generalunternehmer gegeben wird und der dann Subunternehmen etwa für Malerarbeiten oder Putz oder Trockenbau beauftragt.« Dadurch werde es für den Bauherrn schwieriger nachzuprüfen, ob die Arbeitsverhältnisse auch bei den etlichen Subunternehmen in Ordnung sind. »Der jetzige Vorfall bestätigt die ­desaströsen Zustände auf dem Holsten-Areal, das aktuell noch dem finanziell angeschlagenen Investor Adler Group und seinem Projektentwickler Consus Real Estate gehört«, so Tanja Chawla. »Das ganze Bauprojekt auf dem Areal, auf dem eigentlich 1 300 neue Wohnungen entstehen sollten, stockt seit Jahren.« Der Hamburger Senat hatte deswegen schon vor dem Vorfall Interesse bekundet, das Holsten-Areal zurückzukaufen.     Die Adler Group ist hochverschuldet, der Aktienkurs sinkt seit einem Jahr stetig. NDR und RBB berichteten kürzlich, dass der Konzern Rechnungen in der Höhe von fast 78 Millionen Euro nicht bezahlt habe. Der britische Shortseller Fraser Perring hatte der Adler Group bereits im vergangenen Jahr Betrug und Bilanzfälschung vorgeworfen. Shortseller wetten auf fallende Aktien­kurse. Perring ist als »Wirecard-Jäger« bekannt, weil er lange vor den Finanzbehörden die kriminellen Machenschaften des deutschen Finanzkonzerns angeprangert hatte. Nun hat die Bundesfinanzaufsicht (Bafin) seinen Vorwurf zum Teil bestätigt. Gegen Adler Real Estate, eine Tochtergesellschaft der Adler Group, läuft derzeit ein Bilanzkontrollverfahren. Die Bafin teilte bereits mit, dass der Konzern eine fehlerhafte Bilanz vorgelegt habe. Ein bedeutendes Bauprojekt, das Glasmacherviertel in Düsseldorf, sei im Abschlussbericht für das Geschäftsjahr 2019 um bis zu 233 Millionen Euro zu hoch bewertet worden. Auf dem Grundstück sollten eigentlich über Tausend Wohnungen ­gebaut werden, doch der Bau kommt seit Jahren nicht voran. Das Bilanzkontrollverfahren der Bafin ist noch längst nicht abgeschlossen und umfasst auch die Geschäftsjahre 2019, 2020 und 2021. Dem Handelsblatt zufolge soll zudem die Staatsanwaltschaft Frankfurt dem Verdacht auf unrichtige Bilanzierung nachgehen. Vergangene Woche teilte der Immobilienkonzern Vonovia zudem mit, die geplante Übernahme der Adler Group aufgegeben zu haben. Vonovia hält derzeit 20,5 Prozent der Adler Group. »Die Märkte haben sich verändert und deswegen ist für uns die ursprüngliche Überlegung, die Adler Group zu übernehmen, definitiv vom Tisch«, sagte der Vorstandsvorsitzende Rolf Buch der ­Finanznachrichtenagentur DPA-AFX. Unter anderem wegen steigender Zinsen scheint der langjährige Immobilienboom in Deutschland ins Stocken zu geraten. Vielerorts steigen die Immobilienpreise zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht mehr. Gut möglich, dass daran einige windige Geschäftsmodelle zerbrechen werden. Redaktion Jungle World
Gaston Kirsche
Gaston Kirsche: Lohnbetrug und Subunternehmen auf deutschen Baustellen
[ "Mieterbewegung", "Proteste" ]
Inland
11.08.2022
https://jungle.world//artikel/2022/32/am-ende-der-nahrungskette?page=0%2C%2C1
Bitte nicht drängeln!
In diesem Jahr stellen Niedersachsen und Bayern die Schulzeit bis zum Abitur endgültig auf zwölf Jahre um – zwei bevölkerungsreiche Bundesländer also. Somit erhalten gleich zwei Jahrgänge eine Studienberechtigung, das bedeutet für Niedersachsen etwa 50 000 Abiturienten, fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Hinzu kommt die ab sofort bundesweit geltende Aussetzung der Wehrpflicht. Das stellt die Hochschulen vor mehrere Probleme. Eines ist, überhaupt abzuschätzen, wie viele zusätzliche Studienbewerber sich einschreiben wollen. Den großen Andrang erwarten die Hochschulverwaltungen für den Beginn des kommenden Wintersemesters. Um ihn zu bewältigen, versprechen die Kultusminister von allem etwas mehr: Es wird derzeit auffällig häufig an- und ausgebaut, neue Studienplätze sollen geschaffen und auch neues Personal soll eingestellt werden. Es wird aber auch mit allerlei Tricks der Verwaltungspolitik gearbeitet. So ist es in Bayern in diesem Jahr möglich, sich für die Hälfte der angebotenen Fächer schon im Sommersemester einzuschreiben. In Niedersachsen dürfen die Studenten die Bedeutung des Wortes »Vollzeitstudium« kennenlernen: Dort werden sie künftig eine Sechs-Tage-Woche absolvieren und Vorlesungen bis 22 Uhr besuchen müssen. Verbesserte Lehrangebote können also trotz zahlreicher Investitionen genauso wenig gewährleistet werden wie genügend Seminarräume und Hörsäle. Wie bei derart ausgedehnten Stundenplänen das Studium durch einen Job finanziert werden soll, bleibt wohl den Studenten überlassen. Nina Knöchelmann vom Allgemeinen Studierendenausschuss (Asta) der Technischen Universität Braunschweig kritisiert solche Maßnahmen als zusätzliche Härte. Ihrer Ansicht nach »muss seitens des Studentenwerkes und der Universität viel höherer Aufwand betrieben werden, damit die neuen Studierenden zum Beispiel günstigen Wohnraum zu Verfügung gestellt bekommen und flexible Arbeitsmöglichkeiten haben. Das Geld von Bund und Ländern wird nicht reichen, um die Kosten zu decken.« Dieses Geld kommt hauptsächlich aus dem 2009 beschlossenen Hochschulpakt II, der zwischen Bund, Ländern und Hochschulen vereinbart wurde. Für die 275 000 zusätzlichen Studienplätze, die von 2011 bis 2015 eingerichtet werden sollen, wurde eigens ein neuer Etat geschaffen. Dieser wird aber schon in diesem Jahr überproportional beansprucht, nicht zuletzt, weil Tausende junge Männer früher ein Studium aufnehmen können. Um den Etat nicht vor dem Ende der Laufzeit vollständig zu verbrauchen, üben sich manche Universitäten in Bescheidenheit und versuchen, so lange wie möglich mit den vorhandenen Mitteln zurecht zu kommen. Neue Professuren gehen mit der Einrichtung neuer Studienplätze in den seltensten Fällen einher, Vorlesungen werden oft von wissenschaftlichen Mitarbeitern gehalten. An der TU Braunschweig müssen Professoren unter anderem neun statt acht Semesterwochenstunden für Lehrangebote aufwenden. »Durch die Erhöhung des Lehrdeputats wird der Anschein erweckt, dass die Studierenden besser betreut würden. Hinter dem Schein von mehr Lehre verbirgt sich aber nur, dass mehr Studierende zugelassen werden, anstatt für die erhöhte Zahl von Studienanfängerinnen und -anfängern weitere Professorinnen und Professoren einzustellen, um den Betreuungsschlüssel aufrecht erhalten zu können«, sagt Knöchelmann. Wie an anderen Hochschulen wird auch in Kiel versucht, Geld flexibel zu verteilen, um in überfüllten Fächern kurzfristig Lehrangebote zu gewährleisten. Solche Ausgaben sind aber zeitlich begrenzt, oft nur auf ein Semester. Auf den ersten Blick ungewöhnlich ist dagegen der Schritt der Kieler Universität, für den sogenannten 2-Fach-Master keine Mindestanforderungen mehr zu stellen. Zumindest in diesem Fall kam die Hochschule also der Kritik an der Schranke zwischen Bachelor und Master entgegen, was von den Studierenden auch begrüßt wurde. Die Schaffung neuer Studienplätze sorgt aber nicht für einen leichteren Zugang zur Universität. Im Gegenteil, die nächste Studentengeneration wird einem noch höheren Auswahldruck ausgesetzt. Das Geld fließt nämlich vor allem in die klassischen zulassungsbeschränkten Fächer wie Medizin, die mit zusätzlichen Studienplätzen ausgestattet werden. Die Kriterien für eine Zulassung werden dort auch nicht gemildert, so ist beispielsweise für ein Medizinstudium in Nordrhein-Westfalen ein Abiturdurchschnitt von 1,0 nach wie vor die Grundbedingung. Zudem werden in den meisten bisher zulassungsfreien Studiengängen immer mehr Zulassungsbeschränkungen eingeführt. Wie Sebas­tian Ankenbrand vom AStA der TU Darmstadt berichtet, werden die Bewerber dabei immer häufiger anhand außerschulischer Leistungen ausgewählt, wie etwa der Teilnahme am Wettbewerb »Jugend forscht«. Für mangelnde Kapazitäten an seiner Universität macht er die Bundes- und Landespolitiker verantwortlich, die seit Jahren nicht für eine ausreichende Finanzierung sorgten. Als Folge davon würden zwar Drittmittel in Rekordhöhe eingeworben, diese kämen aber kaum der Lehre zu Gute. »So werden viele Menschen daran gehindert, zeitnah ein Studium ­anzufangen, viele müssen Wartesemester in Kauf nehmen, oder sie bewerben sich auf nicht akademische Ausbildungen, was vielerorts einen Verdrängungseffekt nach unten mit sich bringt«, sagt Ankenbrand. Auch das Deutsche Studentenwerk (DSW) betrachtet die Entwicklung mit Sorge. Die steigende Zahl der Studienberechtigten lasse befürchten, dass der Druck auf das gesamte Hochschulsystem steige. Nach Ansicht des DSW-Generalsekretärs Achim Meyer auf der Heyde sind die Mittel des Hochschulpakts II bei weitem nicht ausreichend. Er fordert zudem Investitionen in soziale Angebote für Studierende. »Wir brauchen nicht nur mehr Studienplätze, wir brauchen auch mehr Kapazitäten in den Wohnheimen und Mensen der Studentenwerke, und wir brauchen mehr Kapazitäten für die studienbegleitende Beratung«, sagt er. Die Ansprüche und Erwartungen der verschiedenen Hochschulangehörigen gehen einmal mehr weit auseinander. Wer eine akademische Ausbildung will, wird sich jedoch auf jeden Fall gegen seine Mitbewerber durchsetzen müssen und im Studium überfüllte Hörsäle und einen noch höheren Leistungsdruck kennenlernen. Wenn der erste Anlauf nicht klappt, werden viele Interessenten eine sogenannte Warteschleife in Kauf nehmen. Eine Stelle als Au-Pair bietet sich dafür ­genauso an, wie ein Jahr lang zu trampen. Eine weitere Möglichkeit der Überbrückung besteht nach wie vor in den freiwilligen sozialen, ökologischen und kulturellen Diensten. Wie freiwillig diese tatsächlich sind, ist eine andere Frage.
steffen falk
steffen falk: Doppelte Abiturjahrgänge und überfüllte Hörsäle
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Inland
10.03.2011
https://jungle.world//artikel/2011/10/bitte-nicht-draengeln?page=0%2C%2C2
Die Arbeit bleibt hier!
Power 8 heißt der Plan, mit dem beim europäischen Konzern Airbus in den nächsten vier Jahren 10 000 Stellen abgebaut werden sollen, davon 3 700 in den sieben Werken in Deutsch­land. Die Standorte im ostfriesischen Varel mit 1 350 Mitarbeitern und im baden-württembergischen Laupheim mit 1 200 Beschäftigten sollen verkauft werden, damit anschließend ein Zulieferer die dort produzierten Flugzeugbauteile billiger an Airbus abgeben kann – klassisches Outsourcing also, um die Löhne zu senken. Für das Werk im niedersächsischen Nordenham mit 2 300 Mitarbeitern wird ein Partner gesucht, aber auch auf die dort Beschäftigten hat der Vorstandsvorsitzende von Airbus, Louis Gallois, den Druck erhöht und erklärt, selbst ein vollständiger Verkauf sei möglich. »Warum nicht zu 100 Prozent?« fragte er in der Süddeutschen Zeitung. Der Flugzeughersteller Airbus war bereits vor der derzeitigen Krise ein Vorreiter, was die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse angeht. 35 Prozent derjenigen, die in den sieben Werken von Airbus in Deutschland arbeiten, waren im April 2006 bei Zeitarbeitunternehmern und Subunternehmern angestellt. Bereits im vorigen Jahr wurden 1 000 Leiharbeiter vorzeitig nach Hause geschickt, als die Pannenserie mit dem Prestige­objekt A380 begann. »Leiharbeitskräfte werden als Person an Airbus ausgeliehen, Fremdarbeitskräfte arbeiten bei Airbus im Zusammenhang mit einer Dienstleistung, wo es letztlich egal ist, von welchen Personen sie ausgeführt wird. Hauptsache, der Auftragnehmer, der oft eine Verleihfirma ist, erledigt seinen Auftrag«, erzählt Thomas M., der bei Airbus in Hamburg-Finkenwerder arbeitet, der Jungle World. »Als Leiharbeitskraft bin ich privilegiert gegenüber Fremdarbeitskräften, denn nach drei Monaten bei Airbus bekomme ich zur Zeit noch dasselbe Geld wie ein Festangestellter bei Airbus. Und das bei einer 35-Stunden-Woche.« Derzeit arbeiten neben den 22 000 Festangestellten, der Stammbelegschaft, noch 6 300 Leiharbeiter und zusätzlich so genannte Fremdarbeitskräfte bei Airbus; sie sind bei Subunternehmern beschäftigt. Am Freitag räumte der Vorsitzende von Airbus Deutschland, Gerhard Puttfarcken, nach einer Betriebsversammlung in Varel ein, dass noch offen sei, wie viele Entlassungen es in den sieben Werken in Deutschland jeweils geben werde. Er verteidigte den geplanten Verkauf des Werkes in Varel. Es sei aber »unstrittig«, dass der Standort auch danach Zulieferer für Airbus bleibe. Man rede nur über die Art und Weise, wie diese Zulieferung erfolgen solle. Im Prinzip wissen alle, dass es um mehr Arbeit und niedrigere Löhne geht. Puttfarcken betonte, die »Qualität und Leistungsfähigkeit« des Werkes in Varel werde nicht in Frage gestellt. Zudem sei es für die nächsten fünf Jahre ausgelastet. Am Freitag hatten Beschäftigte der niedersächsischen Werke in Varel und Nordenham ihn mit Buhrufen empfangen. »Er war nicht in der Lage, detailliert zu erklären, was hinter den Sparplänen steckt«, sagte Udo Nobel, Betriebsrat in Nordenham. Von Mittwoch bis Freitag stand dort und im baden-württembergischen Laupheim die Produktion still, nachdem Airbus und EADS das Sanierungsprogramm bekanntgegeben hatten, das einen Verkauf der Werke in Varel und Laupheim und eine Partnerschaft für Nordenham vorsieht. »Wir streiken nicht, wir streiten um den Erhalt der Arbeitsplätze«, versicherte der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Vareler Werks, Jürgen Blümel. Der Vareler Vertrauensmann der IG Metall, Dieter Lange, meinte: »Wir müssen das nun erstmal verdauen. Man will hier an unsere Jobs.« Die Standortlogik scheint von den Beschäftigten ziemlich verinnerlicht worden zu sein. Das Politikergerede von einer »französischen Dominanz« wird allenthalben nachgeplappert. »Der Betriebsrat klagt die Beteiligung von mehr Deutschen im europäischen Management von Airbus immer wieder ein«, sagt Thomas M. aus dem Airbus-Werk in Hamburg: »Von den Kollegen, besonders im gewerblichen Bereich, kriegst du mit, dass das Konkurrenzdenken, hier wir Deutsche, dort die Franzosen, gut funktioniert.« Von kämpferischer Stimmung bei Airbus in Hamburg kann nicht wirklich die Rede sein, obwohl hier knapp 1 000 Entlassungen geplant sind: 500 bei Leiharbeitern und 500 über Vorruhestandsregelungen. Auf der Betriebsversammlung am Freitag waren von den 12 000 fest angestellten Kollegen und den rund 5 000 Leih- und Fremdarbeitskräften immerhin 8 000 auf der Versammlung. Herbert F., ein Flugzeugmechaniker, berichtet: »Die Störungen der Rede von Jörg Kutzim aus der Geschäftsführung gingen nicht von sonderlich vielen Kollegen aus. Für die meisten hatten sie nur Unterhaltungswert, aber das war’s auch schon. Sofort nach den Beiträgen der Geschäftsführung und des Betriebsrats standen an die 1 000 Kollegen auf und gingen wieder an die Arbeit.« Thomas R. pflichtet ihm bei: »Es gab eine gute Idee des Betriebsrats. Um Punkt 11 Uhr am Donnerstag sollten alle Kollegen vor das Gebäude kommen, wo der Betriebsrat und die Standortleitung ihre Büros haben. Dort sollte man schon mal Fragen für die Betriebsversammlung aufschreiben und beim Betriebsrat abgeben. Und man sollte mit seiner Unterschrift auf großen Transparenten seiner Solidarität mit den Kolleg in Varel, Nordenham und Laupheim Ausdruck verleihen. Das Recht, jederzeit den Betriebsrat aufzusuchen, haben alle Festangestellten. Was wäre das für eine schöne Warteschlange gewesen, wenn sich nur die 12 000 fest angestellten Kollegen daran beteiligt hätten«, schwärmt er. »Die ganze Aktion aber hat keine halbe Stunde gedauert, was viel über die Zahl der solidarisch handelnden Kollegen aussagt.« Bei der Betriebsratswahl im Hamburger Werk im Mai 2006, an der sich nur knapp die Hälfte der Belegschaft beteiligte, erhielt eine obskure Liste, »Die Freien«, über 30 Prozent der abgegebenen Stimmen. In ihrem Programm heißt es, sie seien gegen »ein weiteres Abfließen von Machtbefugnissen nach Toulouse. (…) Die Gefahr, dass ausscheidende deutsche Führungskräfte ebenfalls durch französische ersetzt werden, ist riesig.« In der Betriebszeitung der »Freien«, im Einblick, heißt es, es reiche offenbar nicht »eine Krise zu haben, weil ein unfähiges Management in Frankreich unseren Kunden vorgespielt hat, sie könnten den A380 notfalls auch mit dem Cockpit hinten haben – oh nein …« Wo die deutsche Wertarbeit derart hochgehalten wird, ist vom Naheliegenden keine Rede. Airbus wäre als Hochtechnologiekonzern mit ausgelasteten Produktionskapazitäten leicht unter Druck zu setzen. Power8 könnte vielleicht sogar mit einem Streik verhindert werden. Thomas Enders, der Vorstandsvorsitzende des Mutterkonzerns von Airbus, EADS, warnte die Gewerkschaften eindringlich davor. »Wir sind in diesem Punkt hoch verwundbar«, sagte er dem Focus. »Längere Streiks würden uns empfindlich treffen und noch weiter zurückwerfen. Das kann nicht im Sinne der Beschäftigten sein.« Zumindest nicht der Deutschen.
Gaston Kirsche
Gaston Kirsche:
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Inland
07.03.2007
https://jungle.world//artikel/2007/10/die-arbeit-bleibt-hier?page=0%2C%2C1
Verwechslung wählen!
Einen so schlechten Ruf wie in Polen haben die Parteien fast nirgendwo in Europa. Viele Bürger haben sich hier längst von der Politik abgewendet. So will auch der 43jährige Familienvater Michal Nowak am kommenden Sonntag nicht zur Präsidentschaftswahl gehen: »Egal, wer an die Macht kommt – sie wollen zuerst ihre Taschen voll stopfen. Klar, ich würde es auch so machen.« Und so denken viele. Am vorletzten Sonntag boykottierten im pommerschen Ort Stary Dzierzgon, der 4 000 Einwohner hat, sogar vier von fünf Stimmberechtigten die Parlamentswahl. Nur 18,6 Prozent machten ihr Kreuz – die niedrigste Wahlbeteiligung in ganz Polen. Sie lag bei 40,6 Prozent. Angesichts dieser Stimmung bezüglich Parteien hatte zunächst der 37jährige Fernsehjournalist Tomasz Lis sehr gute Aussichten, Staatschef zu werden. Anfang 2004 wünschten sich viele Polen den Nachrichtenmoderator des Privatsenders TVN als Präsidenten. Nur die ebenfalls politisch unerfahrene Jolanta Kwasniewska, die Frau des Amtsinhabers, schnitt in den Umfragen noch besser ab. Beide treten dennoch nicht an. Lis verlor seinen Job, weil er eine Kandidatur nicht ausschloss. Nun macht er beim Konkurrenzsender Polsat als Programmdirektor Karriere und mischt als Journalist im Wahlkampf mit. Vorige Woche moderierte er das Fernsehstreitgespräch der beiden Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk und Lech Kaczynski, die große Chancen auf einen Sieg haben. Hinterher watschte Lis beide in seiner Internetkolumne ab: »Es ist zynisch, wie die Bildung einer neuen Regierung auf dem Altar der Präsidentschaftsambitionen geopfert wurde.« Man fühlte sich an die Containersendung »Big Brother« erinnert, als Kaczynskis rechtspopulistische Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS), die mit 27 Prozent der Stimmen die Parlamentswahl gewann, und Tusks konservative Bürgerplattform (PO), die 24,1 Prozent bekam, die Koalitionsverhandlungen begannen. Die fast zwei Stunden dauernden Auftaktgespräche übertrug das Fernsehen live. Beide Delegationen lieferten sich einen Schlagabtausch und sparten auch nicht mit Boshaftigkeiten. Es kam quasi einer Fortsetzung des Fernsehduells gleich, nur dass diesmal die Matadoren nicht selber antraten, sondern ihre Parteikollegen miteinander stritten. Nach vernichtenden Zeitungskommentaren über die »Telerepublik« und die »politische Reality-Show« mussten die Kameras wieder ausgeschaltet werden. Lech Kaczynskis Bestrebungen, Präsident zu werden, werden von seinem Zwillingsbruder Jaroslaw auf recht selbstlose Weise unterstützt. Eigentlich hätte Jaroslaw Kaczynski als Spitzenkandidat der PiS bei der Parlamentswahl Premierminister werden müssen, doch er nominierte stattdessen überraschend Kazimierz Marcinkiewicz, um die Wahlchancen seines Zwillingsbruders zu wahren. Denn die Polen wollen nicht die beiden wichtigsten Staatsämter Zwillingen überlassen, die ständig miteinander verwechselt werden. Selbst auf Lechs Website ist zu lesen, dass seine zweijährige Enkelin Ewa manchmal Jaroslaw für ihren Opa hält. Der designierte Regierungschef Marcinkiewicz leitete bisher die Schatzkommission des polnischen Parlaments, die sich mit Privatisierungen beschäftigt. Dem Mathematik- und Physiklehrer war bislang lediglich ein Amt als Finanz- oder Bildungsminister zugedacht. In seiner nahe der deutschen Grenze liegenden Herkunftsstadt Gorzow an der Warthe führte er die PiS auf 35 Prozent der Wählerstimmen. Nach der überraschenden Benennung von Marcinkiewicz gab PO-Präsidentschaftskandidat Tusk sogleich Contra: »Ich dachte, wir behandeln Regierungsangelegenheiten ernsthaft und nicht nur unter taktischen Gesichtspunkten.« Zugleich verlangte er eine Garantie, dass der Überraschungskandidat, den nicht nur die PO als Strohmann der Kaczynskis sieht, vier Jahre im Amt bleibt und nicht bereits in diesem Monat durch einen der Zwillinge ausgewechselt wird. Es ist schließlich möglich, dass Lech Kaczynski Premierminister wird, wenn er die Präsidentschaftswahl verliert. Die Außenpolitik spielte im Wahlkampf keine entscheidende Rolle. Die einzige Ausnahme waren am vorigen Freitag die getrennten Gespräche von Tusk sowie Lech Kaczynski und Marcinkiewicz mit dem EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Alle drei gaben sich dabei als begeisterte Europäer aus. Das gilt vor allem für Tusk. Seine erste Auslandsreise soll ihn, wie er sagt, nach Deutschland und Frankreich führen. Zur CDU-Chefin Angela Merkel und dem Chef der französischen Konservativen, Nicolas Sarkozy, pflegt er engen Kontakt. Beide besuchten Tusk im Wahlkampf, so dass er sich schon als Staatsmann präsentieren konnte. Kaczynski dagegen will als erstes in die USA reisen. Zur Begründung führt er an: »Das ist unser wichtigster strategischer Partner.« Katholikenliebling Lech Kaczynski biederte sich mit einem Wahlkampfbrief an die Pfarrer dermaßen bei der Kirche an, dass ihm der angesehene Bischof Tadeusz Pieronek am Wochenende in der Zeitung Gazeta Wyborcza eine Abfuhr erteilte: »Es gibt nichts Scheußlicheres, als wenn sich Politiker auf die Autorität der Kirche stützen. Fotos mit dem Papst oder von der heiligen Kommunion in Wahlbroschüren – das ist eines echten Politikers unwürdig.« Um Unterstützung warb Kaczynski unter anderem mit seinem Kampf gegen die »Demoralisierung« durch eine Schwulenparade, die er als Warschauer Bürgermeister im vorigen und in diesem Jahr verboten hatte. Tusk biederte sich hingegen wenige Monate vor der Wahl dem Klerus an und heiratete seine Frau auch kirchlich. Überraschend milde gingen Kaczynski und Tusk zuletzt mit Staatspräsident Aleksander Kwasniewski um, der nach zehn Jahren im Amt nicht wieder kandidieren darf. Viele rechte Abgeordnete wollen den ehemaligen Kommunisten wegen angeblicher Verfehlungen am liebsten vor Gericht stellen. Doch beide Präsidentschaftskandidaten versicherten während des Fersnsehstreitgesprächs, Kwasniewski bei einer möglichen Bewerbung um das Amt des Uno-Generalsekretärs zu unterstützen. Beide buhlen um linke Stimmen. Das ist auch deshalb leicht, weil der Kandidat der bisherigen sozialdemokratischen Regierungspartei SLD, der ehemalige Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz, nach einem Aktienskandal das Handtuch warf. Übrig geblieben ist auf der Linken nur der ehemalige Parlamentspräsident Marek Borowski, dessen SdPl bei der Parlamentswahl an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Am Sonntag kann er auf zehn Prozent hoffen. Laut einer vom Magazin Wprost veröffentlichten Umfrage führt Tusk mit 43 Prozent vor Kaczynski (32 Prozent), was auf eine Stichwahl zwischen beiden hinausläuft. Auf Platz drei liegt der radikale Bauernführer Andrzej Lepper mit 13 Prozent. Der berüchtigte Antisemit Leszek Bubel, vor dem auch die Kirche warnt, kann mit weniger als einem Prozent rechnen. Bei der Parlamentswahl bekam seine Polnische Nationalpartei 34 127 Stimmen. Das waren 0,29 Prozent.
oliver hinz
oliver hinz:
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Thema
05.10.2005
https://jungle.world//artikel/2005/40/verwechslung-waehlen?page=0%2C%2C2
Normal rechts
Fünf Jahre ist es her, dass sich mit dem gemeinsamen Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sowie dem Versand einer Bekenner-CD durch Beate Zschäpe eine rechtsextreme Terrorzelle der Öffentlichkeit zu erkennen gab, die in den Jahren zuvor mindestens zehn Menschen ermordet hatte. Die deutschen Medien, die angesichts dieser Mord­serie jahrelang mehrheitlich den ins migrantische Milieu weisenden Thesen der Ermittler gefolgt waren und Unworte wie »Döner-Morde« ersonnen hatten, zeigten sich schockiert. Insbesondere als sich bald abzeichnete, dass der NSU im rechtsextremen Milieu wurzelte und dass an nahezu allen wesent­lichen Stellen seines Netzwerks V-Leute des Verfassungsschutzes tätig waren. Eine vollständige Aufarbeitung dieses Komplexes wird es dennoch nie geben, und das liegt nicht nur an geschredderten Akten und dem Tod von Zeugen. Auch die Aussageverweigerung verantwortlicher Verfassungsschützer gegenüber parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, deren rechtliche Grundlage bislang nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, trägt das ihre dazu bei. Deshalb wird wohl auch nicht zu erfahren sein, wie ausgeprägt die strukturelle Vernetzung des Verfassungsschutzes mit dem Nazimilieu weiterhin ist, ganz gleich wie oft sich die Medien anlässlich neuer Skandale zu der redundanten Frage versteigen, ob denn der Staat »auf dem rechten Auge blind« sei. Diese Frage, sofern sie nicht rhetorisch gemeint ist, kann nur als Beleg für eine beängstigende Naivität von Journalisten betrachtet werden, die offensichtlich noch immer nicht bereit sind, sich mit dem auseinanderzusetzen, was seit der sogenannten Wiedervereinigung in diesem Land geschehen ist und weiter geschieht. Spätestens mit den ersten »Wir sind ein Volk!«-Rufen der Leipziger Demonstranten im Herbst 1989 begann sich seinerzeit eine völkische Massenbewegung zu konstituieren, aus der heraus in den Folgejahren Flüchtlingsheime angezündet und rassistisch motivierte Morde begangen wurden, ohne dass dies in den von ­nationaler Glückseligkeit berauschten Medien einen konzertierten Aufschrei ausgelöst hätte. Es brauchte zwei regelrechte Pogrome – Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 –, um diese rechte Massenbewegung überhaupt als solche zu thematisieren. Doch so blind die Medien seinerzeit auch auf dem rechten Auge waren, der Staat war es definitiv nicht. Auf politischer Ebene war man sich schnell darüber klar, dass diese Situation dem zentralen Projekt der Regierung unter Helmut Kohl – das Asylrecht zu stutzen und eine »deutsche Leitkultur« zu installieren – in die Hände spielte, und tat daher bewusst nichts, um der Entwicklung entgegenzuwirken. Im Gegenteil: Die damalige Jugendministerin Angela Merkel finanzierte unter dem Signet »akzeptierende Sozialarbeit« voraussetzungslos Jugendclubs für Nazis, und auch Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz handelten schon in diesen ersten Jahren nach einer Maxime, die der Autor und Filmemacher Alexander Kluge in einem erzählerischen Kurztext von 1991 einen Kriminalrat so zusammenfassen lässt: »Wir wissen gar nicht (…), was diese ›Bewegung‹ praktisch will. Wir dürfen sie nicht durch Benennung aus ihrem authentischen ›Fluss‹ herauslösen (…). Sie kann Balancen in sich haben, die ein Zusammenleben mit ihr später möglich machen.« Dieses im rechten Sinne konstruktive Zusammenleben ist heutzutage für weite Teile der Zivilgesellschaft akzeptierte Normalität, wie sich unter anderem zeigte, als der NDR vor einem Jahr von der Berufung Xavier Naidoos für den Eurovision Song Contest Abstand nahm und die versammelte deutsche Funk- und Fernsehprominenz daraufhin per ganzseitiger FAZ-Anzeige ihre Solidarität mit dem nach rechts agbewanderten Kollegen erklärte. Zur neuen Normalität gehört auch, dass sich eine Partei wie die AfD, die gemeinsam mit Pegida sowie einem stetig wachsenden Querfrontnetzwerk dafür sorgt, dass soziale Themen von völkischen Diskursen überdeckt werden, allabendlich per Fernsehtalk so erfolgreich den Wählern empfehlen darf, dass sie bei Landtagswahlen inzwischen um die 20 Prozent einfährt. Man könnte für Angela Merkel, die sich als »Wir schaffen das!«-Kanzlerin nun mit den Folgen jener Politik konfrontiert sieht, die sie einst als »Kohls Mädchen« beförderte, das Bild von Goethes Zauberlehrling bemühen. Aber das wäre so falsch wie die Vorstellung, der Staat sei auf dem rechten Auge blind. Merkel war stets eine überzeugte Wirtschaftsliberale und auch ihre Parole »Wir schaffen das!« folgte vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Brennende Flüchtlingsheime kann sie daher ebenso als Kollateralschaden verschmerzen wie die Pöbeleien beim Dresdner Einheitsgedöns oder Reichsbürger und andere Rechtsex­treme im Polizeiapparat, die letztlich nur der neuen gesellschaftlichen Normalität entsprechen. Solange das identitäre Milieu zuverlässig soziale Ängste in völkischen Wahn transformiert, ist Merkels politisches Kernanliegen nicht gefährdet. Wer diese einfache Tatsache nicht wahrhaben will, der sollte von rechtsseitiger Blindheit lieber schweigen. Aber genau in der Verweigerung dieser Erkenntnis liegt das Problem: Das neue völkische Wir-Gefühl hat längst alle Ebenen der Gesellschaft erreicht, weshalb auch für Lokalpolitiker und Journalisten nicht sein kann, was nicht sein darf. Kaum eine rechte Demons­tration oder Terrortat, nach der die jeweilige örtliche Zivilgesellschaft nicht eilig um Relativierung bemüht wäre. »Das waren Nazis aus dem Westen, die kamen gar nicht von hier«, behaupten viele in Hoyerswerda mit Blick auf das Pogrom von 1991 noch heutzutage. Gleiches war in Freital, Heidenau und Bautzen zu hören. Gerne werden auch angebliche Provokationen durch Flüchtlinge oder Linke zum Auslöser erklärt, oder es wird beschwichtigend auf das jugendliche Alter der Täter verwiesen, auf Missverständnisse gar. Und »das Volk«, gleich ob als nationales oder regionales Wir, hat immer recht, ist grundsätzlich erst mal gut und will darin von seinen »Volksvertretern« gefälligst bestätigt werden. So kommt es, dass auch ein Politiker wie Bodo Ramelow (»Die Linke«) sich in seiner Eigenschaft als »Landesvater« und damit zeitweiliger Häuptling der thüringischen Subethnie genötigt sieht, in der Diskussion über die möglichen »Spring doch!«-Rufe in Schmölln, wo sich kürzlich ein 17jähriger Flüchtling aus dem fünften Stock seiner Unterkunft stürzte und starb, Partei nicht nur für die Schmöllner zu ergreifen. Er kritisierte eine »reflex­hafte Vorverurteilung Ostdeutschlands« und legte nahe, die Anwohner hätten nicht »Spring doch!« sondern »Sprungtuch« gerufen. Doch nicht nur im Rückblick erweist sich die Breitbandtoleranz der lokalen Politiker und Medienvertreter gegenüber den »eigenen Leuten« als wenig hilfreich. Ein besonders bizarres Beispiel für fehlende Voraussicht lieferte Ben Schwarz, SPD-Bürgermeister von Georgensgmünd in Bayern, als er anlässlich der in einem Fall tödlichen Schüsse des Reichsbürgers Wolfgang P. zu Protokoll gab: »Wir haben ihn eben für ein bisschen anders gehalten, aber nicht in der Form, dass man reagieren muss.« Eine bemerkenswerte Aussage, bedenkt man, dass P. zuvor seinen Personalausweis abgegeben und seinen Wohnsitz abgemeldet hatte, dass er zudem einen Jagdschein ohne da­zugehörige Pacht und 31 Schusswaffen besaß. »Anlass zur Besorgnis gab es aber nicht«, meint Schwarz, denn: »Er hatte wohl ein normales soziales Umfeld« – beziehungsweise das, was weite Teile der Gesellschaft inzwischen eben als normales Umfeld akzeptiert. Wie anders wäre es zu erklären, dass die Nachricht von um sich schießenden Reichsbürger fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU so rasant vom Halloween-Thema »Horrorclowns« aus den Schlagzeilen verdrängt wurde? Und dass Xavier Naidoo zur gleichen Zeit seine neue Deutschland-Tour beginnen konnte, ohne dass irgendein Journalist auf die Idee gekommen wäre, Tim Bendzko, Jan Delay, Jan Josef Liefers, Anna Loos, Heinz Rudolf Kunze, Atze Schröder oder Til Schweiger zu fragen, ob sie nach den Schüssen von Georgensgmünd immer noch zu ihrer Solidaritätsadresse für ihn stehen. Die Selbstenttarnung des NSU vor fünf Jahren und der Prozess gegen Beate Zschäpe hätten die Chance bieten können, dem völkischen Rollback seit 1990 Einhalt zu gebieten. Nicht durch die Politiker, die von ihm profitieren, versteht sich, nicht mit Hilfe des in den Komplex verstrickten Verfassungsschutzes oder des von Rechtsextremen durchsetzten Polizeiapparats. Nein, es wäre die Aufgabe von Medien und Zivilgesellschaft gewesen, die Aufarbeitung der NSU-Morde offensiv dazu zu nutzen, dem propagandistischen Siegeszug des identitären Milieus entgegenzuwirken. Das Gegenteil ist eingetreten: Um sich schießende Rechtsextreme sind zurzeit augenscheinlich ein kaum noch skandalisierbarer Teil der neuen deutschen Normalität.
Markus Liske
Markus Liske: Der NSU-Komplex und die neue deutsche Normalität
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Thema
10.11.2016
https://jungle.world//artikel/2016/45/normal-rechts?page=0%2C%2C0
Exploitation oder Exodus
Manche dieser Menschen oder ihrer Angehörigen haben wahrscheinlich schon einmal in Russland gearbeitet. Eine Straßenszene in Bischkek Seit Russlands Angriff auf die Ukraine kriselt die Wirtschaft des Landes. Zahlreiche internationale Firmen haben sich vom russischen Markt zurückgezogen und Hunderttausende gut ausgebildete Menschen haben das Land wegen der Folgen der wirtschaftlichen Sanktionen oder der politischen Repression verlassen. Doch auch Millionen an Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan, die in den vergangenen 30 Jahren zu einer wichtigen Quelle billiger Arbeitskraft für die russische Dienstleistungs- und Landwirtschaft sowie den Bausektor geworden sind, sind von der drohenden Rezession betroffen. Auch wenn es kaum verlässliche Statistiken gibt, arbeiten schätzungsweise eine Million kirgisische, mindestens ebenso viele tadschikische und über drei Millionen usbekische Migrantinnen und Migranten in Russland. Einkünfte, die diese an ihre Familien zu Hause überweisen, sind eine wichtige Stütze für deren verarmte Herkunftsländer. Das Bruttoinlandsprodukt Kirgistans und Tadschikistans besteht zu rund 30 Prozent aus solchen Rücküberweisungen, mit die höchsten Quoten weltweit. Die russische Krise ist damit auch die ihrige.  »In Russland verschwinden die Arbeitsplätze, es wird gesagt, dass es ab jetzt nur noch für Russen Arbeit geben wird.« Atai Omursakow, ehemaliger Arbeitsmigrant aus Kirgistan »In Russland verschwinden die Arbeitsplätze, es wird gesagt, dass es ab jetzt nur noch für Russen Arbeit geben wird«, erzählt Atai Omursakow. Er ist vor kurzem aus Moskau zurückgekehrt, wo er mehrere Monate lang in der Restaurantbranche gearbeitet hatte. Nun sitzt er in seinem Lieblingscafé in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek. Seine Geschichte gleicht der unzähliger seiner Landsleute. Als er das erste Mal nach Russland gefahren sei, sei er 18 Jahre alt und gerade mit der Schule fertig gewesen, sagt Omursakow. Sein Vater habe einst relativ gut bezahlte Arbeit in einem kirgisischen Bergwerk gehabt, doch der Staub habe bei ihm Atemwegsbeschwerden verursacht und er habe seine Stelle aufgeben müssen. Als ältester Sohn sei Omursakow nach Russland gegangen, um die Familie weiter zu versorgen. »Ich arbeitete in einer Küche, sechs Tage die Woche, 13 Stunden am Tag, plus eine Stunde in der Metro hin und zurück. Wie eine Maus im Laufrad«, sagt er und wedelt mit der Hand. Die Schichten seien oft so stressig gewesen, dass für die Mittagspause keine Zeit geblieben sei. Wenn er abends endlich zum Essen gekommen sei, habe er oft Bauchschmerzen gehabt. Unter solchen Bedingungen arbeitet der Großteil der zentralasiatischen Mi­grantinnen und Migranten in Russland. Um Miete zu sparen, wohnen viele beengt. Omursakow selbst habe ein Zimmer mit drei Landsleuten geteilt. Gewalttätige russische Nationalisten und ständige Polizeikontrollen bereiten zusätzliche Probleme. Doch aufgrund der Arbeitslosigkeit und der niedrigen Löhnen in Kirgistan gibt es dort kaum eine Familie, die keine zeitweise in Russland arbeitenden Angehörigen hat. Ob die zentralasiatischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten wie während vergangener Krisen in ihre Länder zurückkehren werden, wird sich zeigen. »Während der Pandemie verließen viele Russland. Die Zahl der Arbeitsmigranten hier hat erst kürzlich wieder das Niveau von vor der Pandemie erreicht«, sagt Sergej Abaschin; er ist Anthropologieprofessor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg und verfolgt seit Jahren die Entwicklung der zentralasiatischen Arbeitsmigration nach Russland: »Jetzt haben wir erneut eine Reihe wirtschaftlicher Faktoren, etwa Einschränkungen im Devisenverkehr, Unternehmensschließungen und Inflation, die theoretisch eine ähnliche Rückkehrwelle hervorrufen sollten.« Auch wenn die Zahl der Rückkehrenden in jüngster Zeit etwas gestiegen sei, wie die russische Tageszeitung Kommersant Anfang April berichtete, ist es bisher noch zu keinem Massenexodus gekommen. Eine solche Entwicklung lässt sich allerdings nicht ausschließen. »Wir befinden uns erst am Anfang dieses Prozesses. Bisher warten die Menschen noch ab. Welche Ausmaße das Ganze annimmt, wird sich erst in ein paar Monaten abzeichnen«, meint Abaschin. Manche jedoch konnten nicht warten. Chan, der seinen Nachnamen nicht nennen will, arbeitete bis vor kurzem in einem Moskauer Café, unter ähnlichen Bedingungen wie Omursakow. Sein rechtlicher Status war allerdings ein anderer. Wie Zehntausende andere Kirgisinnen und Kirgisen in Russland hatte er die bürokratischen Scherereien, die man als Ausländer hat, satt und nahm vor einigen Jahren die russische Staatsangehörigkeit an. Damit konnte er nun zum Militär eingezogen werden. »Ich kenne mehrere, die einberufen wurden. Einer von ihnen bekam eine Kugel in die Brust, ein anderer ins Bein. Ich wollte es nicht riskieren, an die Front geschickt zu werden, und verließ deshalb Ende März das Land«, erzählt er in Bischkek. Auch die Zustände auf dem Arbeitsmarkt hatten sich zu dem Zeitpunkt schon merklich verschlechtert. »Nachdem internationale Firmen wie McDonald’s das Land verlassen hatten, kamen deren Angestellte zu uns, um Arbeit zu finden, und wurden als Praktikanten eingestellt. Es gab einfach wahnsinnig viele, die Arbeit brauchten, und eine Woche später verdiente ich plötzlich nur noch halb so viel wie vorher«, sagt Chan. Der Krieg hat die Arbeitsmigration nach Russland weniger lukrativ gemacht hat, doch die in Russland Arbeitenden haben meist keine Alternative. »Zurückzukehren löst nicht das Problem, keine Arbeit zu haben. Das geht höchstens vorübergehend«, sagt die kirgisische Politikwissenschaftlerin Asel Doolotkeldiewa. Sie hält eine große Rückkehrwelle für eher unwahrscheinlich. Ihrer Meinung nach könnte sogar eine entgegengesetzte Tendenz eintreten, da Familien versuchen könnten, geringere Einkünfte zu kompensieren, indem weitere Angehörige zum Arbeiten nach Russland fahren. Das Hauptproblem ist Doolotkeldiewa zufolge, dass die Rücküberweisungen nach Kirgistan in Zukunft stark schrumpfen dürften. »Etwa 70 Prozent des überwiesenen Geldes wird für den Einkauf von Lebensmitteln ausgegeben«, sagt sie. Es zeige sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Ausbleiben der Geldtransfers und der Verschlimmerung von Armut. »Während der Pandemie wurde das offensichtlich, als der Rückgang der Überweisungen den Kampf gegen die Armut um zehn Jahren zurückwarf.« Russland ist das wichtigste Zielland für kirgisische Arbeitsmigrantinnen und -migranten, jede Krise dort hat verheerende Folgen für die Ärmsten in Kirgistan. Was Doolotkeldiewa am meisten Sorgen bereitet, ist, dass die kirgisische Regierung das Problem nicht ernst nehme; sie betrachte die Arbeitsmigration nach Russland als einen praktischen Ausweg, um die sozialen Probleme im Land nicht selbst angehen zu müssen. »Es ist unglaublich, die reden nicht mal groß drüber. Jedes Jahr mahnen Organisationen, die sich mit der Migrationsfrage beschäftigen, dass wir zumindest die Zielländer unserer Migrationsströme diversifizieren sollten. Und jedes Jahr antwortet die Regierung ‚ja, ja‘ und vergisst es sofort wieder«, sagt sie frustriert. Ajimdschan Imanaliewa kennt dieses Problem genau. Sie arbeitet in einer NGO, die Arbeitsmigranten mit Informationen und juristischem Rat beisteht, und hat kürzlich an einem runden Tisch zum Thema alternative Zielländer teilgenommen, dem auch der stellvertretende kirgisische Arbeitsminister beiwohnte. Große Hoffnung habe die Veranstaltung bei ihr nicht hinterlassen, sagt sie. Kirgistan habe zwar offizielle Abkommen mit einer Reihe von Ländern wie Südkorea und einigen EU-Staaten, eine schnelle Lösung böten diese jedoch nicht. »Diese Alternativen versprechen ordentliche, legale Arbeit, aber es geht dabei nur um etwa 10 000 Stellen pro Jahr, was angesichts der einen Million in Russland Arbeitender so gut wie gar nichts ist«, so Imanaliewa. »Vertreter von Agenturen, die Visa und Jobs in der EU anbieten, haben außerdem erklärt, dass deren Anzahl dieses Jahr gesenkt wurde, was wohl mit der großen Zahl ukrai­nischer Flüchtlinge dort zu tun hat«, sagt sie. Omursakow, Chan und andere Kirgisen, die sie kennen, hoffen, trotzdem Arbeit im Ausland zu finden. Chan und einige Freunde, mit denen er sich sein Moskauer Zimmer geteilt habe, planten, in die Türkei oder nach Dubai zu fahren, erzählt er. Chans Vater ziehe es noch weiter. »Er spricht davon, nach Mexiko zu fliegen, um von dort die US-Grenze zu überqueren. Aber das ist teuer und riskant«, sagt Chan besorgt.
Volodya Vagner
Volodya Vagner: Russlands ökonomische Krise trifft auch zentralasiatische Arbeitsmigranten
[ "Russland", "Arbeitsmigration", "Usbekistan", "Tadschikistan", "Kirgistan" ]
Ausland
25.05.2022
https://jungle.world//artikel/2022/21/exploitation-oder-exodus?page=0%2C%2C2
Der große Knall ist verhallt
»Die innere Sicherheit« zeigt eine Dreier-Konstellation. Zwar gibt es auch isolierende Bilder und Schnitte, aber auffällig oft befinden sich alle drei Mitglieder dieser Kleinfamilie im selben Bildrahmen. Für die Arbeit an »Die innere Sicherheit« war es wichtig festzustellen, dass der Anlass der Szenen meistens schon vorbei ist. Man sieht in ihnen immer das Nachbeben von irgendwas, nicht ihre Entstehung. Die Figuren haben die großen Diskussionen schon geführt, der Knall ist bereits verhallt. Wie sitzt so eine Familie dann da? Rückt jemand vom Tisch ab? Beugt sich einer vor? Ändert sich die Blick-Choreographie? Ich wollte, dass all das in dem Körper dieser Familie sichtbar wird und nicht durch irgendeine Montage. Normalerweise setzen Filme in ihrer Inszenierung und Szenenauflösung ja stärker auf Kontinuität: Bewegungen aus vorherigen Bildern werden aufgenommen und in anschließenden weitererzählt. Dadurch entsteht etwas Fließendes. Bei »Die innere Sicherheit« hatte ich den Eindruck, dass zwischen den einzelnen Bildern oft Sekunden fehlten. Bei der Dreierkonstellation am Tisch ging es eben nicht darum, die Kamera in die Zelle Familie hineinzuführen und diese dabei zu erzeugen. Es ging darum, überhaupt eine Position zu der Familienzelle zu finden, herauszufinden, wie deren Energiefelder aussehen - das Ungesagte, was unter diesem Abendessenstisch liegenbleibt. Und man muss aus den Szenen ja auch immer wieder rauskommen. Deshalb dieser fragmentarische Schnitt. Du bist den ganzen Film über bei Jeanne und ihren Eltern. Dann plötzlich, in der Szene zwischen dem Verleger und der Anhalterin, unternimmst Du einen Perspektivwechsel. Von dieser Szene kann man im weitesten Sinne sagen: Sie ist autonom. Aber das erste, was wir in der Sequenz sehen, ist die wartende Familie. Barbara Auer steht an der Chaussee, die auf die Raststätte zuführt, sie erwartet den Verleger. Den Ort erkennt man wieder, weil die Familie schon einmal hier war, hier sind schon einmal Hoffnung, Glückserwartungen, Erinnerungen an die Vergangenheit und auch Melancholie formuliert worden. Jetzt steht die Familie wieder dort, schaut, wartet - und niemand kommt. In dieser Tankstellenszene taucht ein Leitmotiv auf: Ständig steht die Möglichkeit des Polizei-Zugriffs im Raum und die Frage, wie man darauf reagiert. Der ganze Film ist darüber rhythmisiert. Die Frage war: Ist man nach 15 Jahren Exil und Untergrund und Paranoia nicht so weit, dass man den Staat in sich herumschleppt? Benötigt man die andauernde Gefahr des Zugriffs nicht vielleicht sogar, um als Gruppe weiterzumachen? Während der Hausbesetzerzeit in Kreuzberg haben die Leute ja auch ständig darüber geredet, dass hinter jeder Ecke Zivilbeamte stehen und Verräter in den eigenen Reihen hausen. Vielleicht stimmte das sogar. Permanent wird eine Gefahr reklamiert, um eine Gruppe zusammenzuschweißen. Für eine Familienzelle ist das nicht anders. Der erste Zugriff, den man in dem Film sieht, gilt Migranten. Der zweite Zugriff ist ein von den Protagonisten eingebildeter. Der dritte Zugriff schlägt knapp neben ihnen ein, durch das Begehren des Anwalts, jungen Mädchen hinterherzuschauen. Wenn dann die Hubschrauber kommen, die Polizei eintrifft und die ganze Stille dieser Raststätte im Niemandsland mit ihrem militärischen Apparat besetzt, und dann im nächsten Bild die Familie, durch diese dunkle Chaussee verhüllt, nach Hause fährt - dann sind sie ja auch in dem bestätigt worden, was bisher immer nur als Vorstellung da war. Die Mutter schweigt, und der Vater spricht von Techniken, mit Verhören umzugehen. In diesem Moment leben sie wieder 1977, das ist ein absoluter timetunnel. Später wird das Mädchen diese Rede ihres Vaters umcodieren und daraus eine Liebesgeschichte machen. Sie nimmt diese Erfahrung, die ihr da mitgeteilt wird, und benutzt sie, aber eben nicht in einer polizeilichen Verhörsituation, sondern in einem erotischen Moment. Die Figur der Jeanne ist ja im ganzen Film durch Umsetzungen der Elternerfahrungen und -anweisungen geprägt. Der Film ist auch die Pubertätsgeschichte einer jungen Frau, die ihr Erwachsenwerden aufgrund der Umstände auf eine beinahe wissenschaftliche Weise betreibt. Die Erfahrungen, aus denen heraus die Eltern lehren, sind lange vergangen und für die Tochter nie nachprüfbar. Sie stammen aus einem vergangenen Land, jetzt leben sie im Nirgendwo. Das, was die Tochter von den Eltern hört, versucht sie in die Gegenwart zu übertragen. Sie benutzt es in der Liebe, bei der Kleidung, bei der Bewegung in Städten. Darum geht es in dem Film, um Leute, die keine Gegenwart haben, also geschichtlich sind, lebende Tote. Das, was sie überhaupt noch mitteilen können, wird von der Tochter in Gegenwart verwandelt. Die absolute Vergegenwärtigung geschieht dann am Schluss, wenn die Mutter sagt: »Wenn man sich liebt, sagt man sich irgendwann alles.« Das macht Jeanne dann auch, sie sagt ihrem Freund Heinrich alles. Das führt aber zum Exitus. In Deinen Filmen wird Vertrauen eigentlich immer bestraft und oft zu einer tödlichen Falle. Die Leute in meinen Filmen sind nie unschuldig, meistens haben sie bereits vor dem Anfang der Erzählung Scheiße gebaut. Es geht mir um die Frage: Kann man denn eigentlich von der Schuld runterkommen? Im Grunde genommen geht es um Wiedergutmachungsarbeit. Ich finde, dass solch eine Arbeit eine der menschlichsten Tätigkeiten überhaupt ist. Auch wenn die Protagonisten zum Schluss an ihrer Wiedergutmachung verelenden und die Urszene eigentlich nicht mehr einholen können, in dieser Arbeit entsteht etwas: eine Glocke aus Glück, Trost, Offenheiten. Meine Filme halten sich immer irgendwann einmal unter dieser Glocke auf, wenn auch nur für kurze Dauer. Eigentlich wird in den Erzählungen von Kino und Fernsehen viel zu oft gestorben. Aber der Filmtod ist, im Gegensatz zum realen Tod, der Abschluss einer Geschichte und kein wirkliches Sterben. Dieser Film erzählt nicht von Verlust und der Tod ist hier auch nicht die Lösung. Der Tod der Protagonisten in »Die innere Sicherheit« sagt ja einfach nur: Der Film ist jetzt zu Ende. Die RAF-Geschichte könnte für die Erklärung von Generationskonflikten im Allgemeinen herhalten. Der Übervater ist im Film der Staat, der Herrschaft über die Familie ausübt. So sehr die Familie sich auch anders konstituieren möchte, der Staat hat das letzte Wort. Die anfängliche Portugal-Sequenz ist ja nicht frei von utopischen Bezügen. Was wir da sehen, ist nicht nur eine Mangel-Familie, sondern auch eine, die von Zwängen befreit ist. Das Ganze könnte auch ein Kindertraum sein. Der Film reist dann von der Utopie in die Wirklichkeit. Was ich aus Romanen von Raymond Chandler gelernt habe und immer so komplex fand, dass ich seine Romane hundertmal lesen könnte, ist, dass es immer zwei Geschichten gibt, die miteinander verwoben sind - die nicht künstlich verwoben werden, sondern die verwoben sind. Im Fall von »Die innere Sicherheit« sind das zum einen die Loslösung eines Mädchens vom Elternhaus, zum anderen das Zusammenhalten-Müssen einer Zelle im Untergrund. Beide Geschichten haben den gleichen Ort und die gleiche Zeit, keine ist das Transportmittel der anderen. Ich benutze nicht die Familie, um die Geschichte der RAF zu erzählen, und nicht die RAF, um die Familiengeschichte zu erzählen. Die Familie ist Mikropolitik, die RAF ist Makropolitik. Beides ist miteinander verbunden, die Politik ist in der Familie und die Familie ist in der Politik. Beim Schreiben ging es stärker darum, dieses Verhältnis in seiner Spannung und Komplexität zu erhalten, als darum, es irgendwie aufzulösen. Du nutzt auch historische Details der RAF-Geschichte: »Moby Dick« als Erkennungszeichen, Gelddepots in Wuppertal, die gefälschten Pässe. Solche Elemente üben in dem Film zwei Funktionen aus: Einerseits weisen sie quasi dokumentarisch auf Sachverhalte hin, andererseits haben sie eine Kraft, die die Narration vorantreibt. Ob das nun Schließfächer auf Bahnhöfen in Portugal sind oder Gelddepots in Wuppertal: Ich versuche mit dem Realen solcher Dinge umzugehen. Richy Müller muss beim Ausgraben eines Verstecks wirklich physische Arbeit leisten, gleichzeitig ist das aber auch eine archäologische Arbeit. Das, was man dort findet, ist alt, nicht mehr zu gebrauchen. Im Grunde graben die Protagonisten in ihrer eigenen Geschichte. Dass diese Zeichen nicht einfach nur nackte, grausam eindeutige Ikonen sind, die ganz direkt zu übersetzen wären, sondern auch selber komplexe Assoziationsapparate in Gang setzen, das interessiert mich. Es wird aber nicht nur von den Zuschauern verlangt zu assoziieren, auch die Protagonisten müssen solche Verbindungen herstellen, zum Beispiel wenn Richy Müller zu den Bündeln alter, inzwischen wertloser Hundertmarkscheine sagt: »Geschichtsunterricht!« Wie kommt es, dass der Film sich auf der einen Seite der aufgeladenen Zeichen bedient, die auf den Deutschen Herbst verweisen, auf der anderen Seite aber die dazugehörige Kette von Erwartungen abgeschnitten wird? Es kommen Dinge hinzu. Der ganze Film ist durchzogen von Schiffsmetaphern. Neben der »Moby Dick«-Analogie gibt es den »Fliegenden Holländer«, ein Über-die-Meere-Streifen-aber-nirgends-anlegen-können. Es gibt auch ein Märchen von Wilhelm Hauff über Gespensterschiffe, von denen Indien-Fahrer berichten: Plötzlich zieht ein Lufthauch vorbei und kurz sieht man Gestalten auf diesen Schiffen und man weiß, dass die vor 250 Jahren verschwunden sind. So habe ich die Existenz dieser Familie verstanden. Wenn die mit ihrem weißen Volvo über die Straßen fahren, dann habe ich den Schauspielern gesagt: Ihr seid wie so ein Lufthauch, nur für einen Moment wahrnehmbar. Manchmal werdet ihr bei Radarkontrollen geblitzt, irgendjemand hat euch vielleicht für einen kleinen Moment erkannt, aber ihr habt eigentlich keine Existenz mehr, ihr seid nur noch ein Hauch der Geschichte. Ich dachte auch an Robinson Crusoe, der nach dem Schiffbruch auf seiner Insel die Zivilisation rekonstruiert. Hier versucht eine vereinzelte Familie, nach dem Schiffbruch ihrer Politik ein Familienmodell nachzubauen. Schließlich war da ein wunderschöner Satz von Hans Blumenberg: Ob es nicht darauf ankomme, aus den Resten der Geschichte, aus den Bruchstücken eines Schiffes, ein neues, tragfähiges Schiff zu bauen. Die Übertragung dieses Satzes von Blumenberg auf die Linke war für mich klar. Es müsste doch möglich sein, aus den Trümmerstücken der radikalen Linken etwas zusammenzubauen, ein neues Gebäude oder wenigstens ein Rettungsschiff. Genau das versucht die Familie hier. Nach jedem Zusammenbruch kommt sofort der Versuch, die Fassung wieder zu erlangen. Aber nicht wie brutale, sich ständig härter stählende Militärs, sondern indem sie dasjenige, was noch da ist, zusammenstellen und daraus einen Plan machen. Es gibt in »Die innere Sicherheit« viele sehr konkrete Zeichen, trotzdem ist das nicht unbedingt ein realistischer Film. Es gibt keine Dreitagebärte, keine ölverschmierten Hände oder ähnliches. Ich habe mich eigentlich schon um einen höchstmöglichen Realismus in dem Film bemüht und niemals versucht, diese Zeichenhaftigkeit zu erzeugen, die man vom Fernsehen kennt. Das ist aber ähnlich kompliziert wie der Versuch, Armut im Film darzustellen. Das ist so schwer, weil die Kamera eigentlich alles adelt. Selbst die entsetzlichsten Dinge sehen im Film nach etwas aus. Deswegen übertreibt man dann oft die Armut, indem man 2 000 alte Raviolidosen irgendwo rumliegen lässt, um »sozialen Verfall« zu zeigen. Wenn man Wirklichkeit inszenieren will, ist es eine wichtige Frage: Wann muss Realismus das Überzeichnete sein, wann das Unterspielte? Bei der Auswahl der Kostüme scheinst du ja eher der Dezenz verpflichtet gewesen zu sein. Was die Figuren tragen, ist eine Art Camouflage. Sie sollen das tragen, was die Leute drumherum auch tragen. Ich finde, dass die Leute in Filmen immer gut angezogen sein müssen. Die Dinge, die ein Schauspieler zu tragen hat, die muss er auch selber gerne tragen. Das ist bei denen genauso wie bei uns: Wenn wir plötzlich andere Codes am Leib haben, dann bewegen wir uns anders, weil mit der Kleidung ja auch Physis mitgegeben wird und Körperausdruck. Es geht in dem Film ja immer wieder ums Anziehen, um den Rückzug, um den Abendessenstisch und ums Autofahren. Nur - jedesmal ist irgendetwas passiert und es ist nicht mehr ganz genau das, was es vorher gewesen war. Es gibt die Bewegung, dass die Protagonisten einerseits versuchen, wieder einen Urzustand herzustellen und sich andererseits dabei immer weiter von diesem Urzustand entfernen. Die letzten Arbeiten am Drehbuch bestanden darin, die Szenenanzahl zu reduzieren, bis es nur noch eine Handvoll Szenenarten gab, die sich dann wiederholen und von Differenz zu Differenz voranschreiten. Diese ständigen Verschiebungen ähnlicher Szenen waren der Grundmotor der Dramaturgie. Nach drei Fernsehfilmen ist dies dein erster Film für das Kino. Was macht dabei den Unterschied für dich aus? Hauptsächlich geht es um das Wissen, dass man beim Fernsehen etwas herstellt, das ausgesendet wird und davor läuft dann »heute« und danach das »heute-Journal«. Die Position des Zuschauers bleibt im Fernsehen immer gleich. Die Position eines Kinozuschauers dagegen ändert sich immer, weil er jedesmal in einem anderen Film und anders in diesem Film sitzt, seinen Ausgangspunkt immer selbst verändert. Die Filme haben eine andere Form von Umgebung und ich weiß, wie ich damit korrespondieren kann. Außerdem weiß man beim Fernsehen von vornherein, dass der Film genau 86 1/2 Minuten lang sein soll. Es gibt die so genannten slots im Programmschema, in die der Film passen muss - das ist ja das Entsetzlichste am Fernsehen. Deswegen löst man für das Fernsehen die Szenen höher auf, damit es bei der Aufgabe, diese strenge Minutenvorgabe einzuhalten, mehr Entscheidungsmöglichkeiten gibt und trotzdem ein durchgängiger Rhythmus entstehen kann. Man kann dann eben verdichten, verlängern, verkürzen - aber das gängelt einen ziemlich. An der Totalen einer Familie, die nicht durch zusätzliche Nahaufnahmen ergänzt worden ist, kann man nichts mehr ändern. Man kann das dann nur noch entweder komplett rausschneiden oder komplett drinlassen. Und wenn man es drinlässt, hat so ein Bild seine Zeit, seine Dauer. Wenn man für das Fernsehen arbeitet, muss man sich Möglichkeiten bereitstellen, diese Dauer manipulieren zu können. »Die innere Sicherheit« D 2000. R.: Christian Petzold, D.: Julia Hummer, Barbara Auer, Richy Müller.
michael baute und stefan pethke
michael baute und stefan pethke: »Die innere Sicherheit« von Christian Petzold
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webredaktion
31.01.2001
https://jungle.world//artikel/2001/05/der-grosse-knall-ist-verhallt
Shinzo Abes Flucht nach vorne
Die im Dezember vorigen Jahres gewählte konservative japanische Regierung unter Ministerpräsident Shinzo Abe und seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) versucht, mit einer gewagten wirtschafts- und finanzpolitischen Kehrtwende den langjährigen ökonomischen Niedergang aufzuhalten. Die Strategie, die man als »Neokeynesianismus von rechts« bezeichnen könnte, ist Teil eines umfassenden Programms, das auf die Stärkung der Rolle Japans in der Welt zielt und letztlich eine Flucht nach vorne darstellt. Zu den Zielen der wieder erstarkenden LDP, die vor drei Jahren nach Jahrzehnten abgewählt worden war, gehören die Änderung der Nachkriegsverfassung von 1947, die Japan auferlegt, nur »Selbstverteidigungskräfte« zu unterhalten, und die symbolische Rehabilitation japanischer Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg. Anfang Juni versprach Abe afrikanischen Regierungen Investitionen und engere Kooperation, mit Frankreich schloss er Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in der Rüstungs- und Atomindustrie ab. Zugleich eskaliert der Streit mit China um eine nahezu unbewohnte Inselgruppe im Pazifik. Abe genießt in der Bevölkerung Zustimmungswerte um die 70 Prozent. Der allenthalben regis­trierte neue Optimismus, vor allem in der politischen Führungsschicht Japans, verdankt sich allerdings dem Eindruck, dass dies vielleicht die letzte Chance ist, um Japans Niedergang aufzuhalten. Im Zentrum dieser Neuausrichtung steht die Wirtschaftspolitik, von deren Erfolg es abhängt, ob Japan seinen weltpolitischen Einfluss erhalten kann. Noch Mitte der neunziger Jahre als eines der drei Zentren des globalen Kapitalismus betrachtet, hat Japan als einziges hochindustrialisiertes Land eine von wirtschaftlicher Schrumpfung begleitete Deflation durchlaufen. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahrzehnten verloren Aktien und Immobilien stark an Wert, fielen die Preise und sanken die Einkommen. Auf das rasche Wachstum der achtziger Jahre folgte schließlich ein Stillstand. Die Deflation war die Folge einer Krise am Aktien- und Immobilienmarkt: Der Nikkei-Index brach bis 1992 um 60 Prozent ein, bis 2003 erreichte der Verlust 80 Prozent. Die Bodenpreise in Tokio, die sich zwischen 1986 und 1990 verdoppelt hatten, fielen danach innerhalb von zehn Jahren um 60 Prozent. Von 1998 bis 2005 sanken die Löhne zwar um 5,3 Prozent, aber wegen der fallenden Preise blieb die Kaufkraft ungefähr auf demselben Stand. Der Ausbruch der Finanzkrise verschärfte die Deflation abermals. Aus Furcht vor Bankenpleiten vermieden Japanerinnen und Japaner Käufe riskant erscheinender Geldanlagen. Nahezu 50 Prozent der 1 500 Billionen Yen an Privatvermögen (etwa 12,5 Billionen Euro) liegen auf Sparbüchern. Die in bar gehorteten Sparvermögen belaufen sich nach einer Schätzung des Ökonomen Richard Jerram auf etwa 233 Milliarden Euro – vier bis fünf Prozent des Inlandsprodukts. Die dramatische Kapitalvernichtung der neunziger Jahre mündete in eine anhaltende Stagnation. Der Niedergang konnte nur mit umfangreichen Konjunkturprogrammen aufgehalten werden. Der Preis für diese Stabilisierungspolitik ist die weltweit höchste Staatsverschuldung aller OECD-Staaten von derzeit rund zwöf Billionen US-Dollar. Mit einer Staatsschuldenquote von mehr als 245 Prozent bewegt sich Japan auf einer vollkommen anderen Ebene als die übrigen Industriestaaten. Da der Zinssatz für japanische Staatsschulden jedoch nahe der Null-Prozent-Marke liegt und die Bank of Japan schon lange bei steigenden Zinsen interveniert, stellt die Rekordverschuldung bisher kein reales Budgetproblem dar, zumal der japanische Staat hauptsächlich im Inland verschuldet ist, während zugleich japanische Banken und Fonds neben China zu den Hauptgläubigern der USA gehören. Aber Abe und Haruhiko Kuroda, der neu ernannte Gouverneur der Bank of Japan, sind der Auffassung, dass noch viel mehr Schulden gemacht werden müssten, um ökonomisch Erfolg zu haben. Vor allem versprach Abe eine Schwächung des Yen durch eine extrem gelockerte Geldpolitik. So will die Notenbank innerhalb von zwei Jahren umgerechnet mehr als eine Billion Euro in die Wirtschaft pumpen, vor allem über den Ankauf von Staatsanleihen, börsengehandelten Indexfonds und Immobilienfonds. Ganz im Einklang mit dem Regierungsziel, die Exportwirtschaft zu stärken, verkündete Kuroda ein Inflationsziel von zwei Prozent. Mittels einer kontrollierten Inflation will er Japan von der chronischen Deflation befreien. Dadurch sinke der Wechselkurs des Yen, wovon die Exportwirtschaft profitieren soll. Um diese expansive und inflationsorientierte Geldpolitik durch eine Erhöhung der Binnennachfrage zu flankieren, hat Abe ein gigantisches Konjunkturprogramm vorgelegt. Anstatt Ausgaben zu kürzen, will er noch in diesem Jahr das primäre Haushaltsdefizit auf 11,5 Prozent steigern. Neben Investitionen in Infrastruktur und Bildung soll dabei vor allem der öffentliche Sektor gestärkt werden. Damit will Abe 600 000 neue Arbeitsplätze schaffen und das Wirtschaftswachstum um zwei Prozent steigern. Was aber über den Erfolg der neuen Wirtschaftspolitik entscheiden wird, ist die Frage, ob es in der nächsten Zeit zu Lohnsteigerungen oberhalb der Inflationsmarke kommen wird, die nicht nur die Konjunktur weiter in Schwung bringen, sondern indirekt auch dafür sorgen würden, dass der Staat seine Steuereinnahmen steigern kann. Um dies zu erreichen, will Abe die Unternehmen dazu bringen, die Gehälter ihrer Beschäftigten zu erhöhen, und gleichzeitig über eine Mischung aus Regulierung und Deregulierung den Arbeitsmarkt stimulieren. Sein Kabinett hat vorige Woche weitere Maßnahmen zur Förderung des Wachstums verabschiedet. Dazu gehört die Förderung der Berufstätigkeit von Frauen, überdies sollen ausländische Unternehmen in Sonderwirtschaftszonen Steuererleichterungen erhalten. An der japanischen Börse lösten die »Abenomics« einen Boom aus: Seit vorigen Herbst legten die Kurse zeitweise um 80 Prozent zu. Auf die Vorstellung des jüngsten Konjunkturprogramms der Regierung folgten allerdings kühle Reaktionen, viele Wirtschaftsvertreter hatten Steuersenkungen für Unternehmen und Strukturreformen, etwa eine weitere Liberalisierung des Arbeitsmarkts und der Landwirtschaft, erhofft. Dabei scheint die Strategie der Regierung zunächst aufzugehen. Dank des schwächeren Yen-Kurses und einer leichten Belebung der Weltwirtschaft wuchs das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal aufs Jahr hochgerechnet um real 4,1 Prozent. Seit dem vergangenen Sommer hat die japanische Währung gegenüber dem Dollar gut 30, gegenüber dem Euro sogar knapp 40 Prozent verloren. Falle der Yen um ein Prozent gegenüber dem Dollar, verkündete Toyota kürzlich, steige der Gewinn um 340 Millionen Dollar. Die Großbank UBS errechnete, dass ein Prozent Kursverlust des Yen den japanischen Exporteuren etwa zwei Prozent mehr Gewinn beschere. Allerdings treten auch die Risiken dieser Politik immer deutlicher zutage. Der schwache Yen verteuert die Importe und insbesondere auf die Einfuhr von Energie ist Japan angewiesen, weil nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima immer noch fast alle der 50 Atomkraftwerke abgeschaltet sind. Zudem sorgen steigende Treibstoffpreise für Unzufriedenheit. Die von vielen Beobachtern erwarteten harten Maßnahmen zur Arbeitsmarktderegulierung und Haushaltskonsolidierung könnten diese Unzufriedenheit verstärken und die Binnenkonjunktur abwürgen. Sollte das Wachstum zu schwach ausfallen oder ganz ausbleiben, bliebe von den bisher euphorisch begrüßten »Abenomics« nichts übrig als eine Ausweitung der bereits astronomischen Verschuldung. Zum Problem könnte hier vor allem der Anleihenmarkt werden, der jüngst erste Instabilität zeigte. Steigen die Zinsen, könnte Abes Flucht nach vorne in einer Schuldenkrise enden. Diese träfe als erstes die Schuldnerländer der japanischen Investitionsfonds, vor allem die USA, deren schuldenbasiertes Entwicklungsmodell schwer erschüttert werden würde, und könnte eine globale Rezession auslösen.
Lutz Getzschmann
Lutz Getzschmann: Über die japanische Geldpolitik
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Ausland
20.06.2013
https://jungle.world//artikel/2013/25/shinzo-abes-flucht-nach-vorne?page=0%2C%2C0
Lebenslänglich Anklagebank
Eines kann die deutsche Justiz ganz schlecht: Die eigene Machtlosigkeit eingestehen, vor allem wenn es um einen so publictyträchtigen Fall wie den von Monika Böttcher, geschiedene Weimar, geht. In einem ersten Prozeß in Fulda wurde die Frau verurteilt, im August 1986 ihre beiden kleinen Töchter ermordet zu haben, nach dem Revisionsverfahren sprach sie das Landgericht Gießen im April vergangenen Jahres von diesem Vorwurf frei. Nun hob der Bundesgerichtshof den Freispruch auf, so daß vor dem Landgericht Frankfurt ein drittes Verfahren gegen Böttcher ansteht. Das Gießener Urteil, so der 2. BGH-Strafsenat in seiner Entscheidung vom letzten Freitag, sei "in einem zentralen Punkt widersprüchlich" und von unzutreffenden Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung ausgegangen. Es sei weiterhin ungeklärt, ob die Mädchen von ihrer Mutter oder deren damaligem Mann Reinhard Weimar getötet worden seien. Endgültig wird sich diese Frage wohl auch im dritten Weimar-Prozeß nicht klären lassen. Aber da nur einer der beiden Elternteile als Täter in Frage kommt, hieße das ja, daß ein Mörder oder eine Mörderin frei herumläuft. Da hat man sie oder ihn doch lieber beide sicher im Gerichtssaal, auch wenn eine oder einer von ihnen mit großer Sicherheit unschuldig ist.
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Inland
11.11.1998
https://jungle.world//artikel/1998/46/lebenslaenglich-anklagebank?page=0%2C%2C0
Verzicht muss sein
Vertriebenen-Stiftung. Mehr als ein Bundesverdienstkreuz muss herausspringen: Wie die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza in der vorigen Woche berichtete, soll der CDU-Politikerin und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, nun das Amt einer Staatssekretärin im Innenministerium angeboten worden sein, um sie zu einem Verzicht auf einen Sitz im Beirat der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« zu bewegen. Im Herbst soll der Bundestag das Stiftungsgesetz verabschieden. Die Stiftung wird dann eine Ausstellung in Berlin betreiben. Der BdV kann drei Vertreter in den Beirat entsenden, Steinbach soll nach dem Willen der Bundesregierung aus Rücksicht auf die Beziehungen zu Polen nicht zu ihnen gehören.   mst
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Inland
11.09.2008
https://jungle.world//artikel/2008/37/verzicht-muss-sein?page=0%2C%2C0
Mörderischer Mythos
Denkfabrik des Terrors. Eine Kundgebung der Identitären vor deren Zentrum und Wohnprojekt in Halle am 20. Juli. Auf dem Transparent stand »Stoppt den Austausch«. Etwa 200 extreme Rechte trugen es am 6. Juni 2015 vor sich her, als sie durch den migrantisch geprägten Wiener Gemeindebezirk Favoriten marschierten. Die Demonstration war der Höhepunkt einer Kampagne der neofaschistischen Identitären Bewegung in Österreich. Sie zielte darauf, den Verschwörungsmythos vom »Großen Austausch« zu popularisieren, der auf den französischen rechtsextremen Philosophen Renaud Camus zurückgeht (»Le grand remplacement«). Der inzwischen in verschiedenen Varianten global wirkmächtige Mythos besagt, es gebe den geheimen Plan, weiße Mehrheitsbevölkerungen gegen muslimische oder nichtweiße Migrantinnen und Migranten auszutauschen. Dahinter stünden »die Globalisten«, »die kosmopolitischen Eliten«, »die Zionisten« oder auch Institutionen wie die Vereinten Nationen, die mittels Feminismus und Antirassismus die Wehrhaftigkeit des Abendlands gegen die anstürmenden Horden aus dem globalen Süden zu zersetzen suchten.  Die Wegbereiter des rechtsextremen Terrors findet man in Deutschland in Schnellroda und in Halle. Die Vorstellung, bestimmte Juden oder die Juden ganz generell seien als personifizierte Moderne für Aufklärung, Liberalismus und Kommunismus verantwortlich und lenkten im Ver­borgenen das Weltgeschick, ist nicht neu. Der Austauschmythos ist die auf ­einen vergleichsweise neuen, eingängigen und unverbrauchten Begriff ­gebrachte alte Verschwörungstheorie vom »internationalen Juden« in neuem Gewand. Der historisch weniger vorbelastete Begriff »Großer Austausch« ersetzt eindeutig rechtsextreme Begriffe wie »Umvolkung«, »Volkstod« und »Überfremdung« allerdings durch einen mindestens ebenso gefährlichen. Anders als der Aufmarsch der Identitären in Wien, der nach wenigen ­hundert Metern von Antifaschistinnen und Antifaschisten blockiert wurde, hat es der Verschwörungsmythos des »Großen Austauschs« weit gebracht. Als Agitationsschwerpunkt der sogenannten Neuen Rechten dient er mittlerweile als Bindeglied zwischen dem breit gefächerten und heterogenen ­Lager des weißen Ethnonationalismus. Populistische Politiker wie Viktor ­Orbán, Norbert Hofer, Donald Trump oder Alexander Gauland haben in ­ihren Äußerungen den Mythos aufgegriffen oder Anspielungen auf ihn ­gemacht. Seit der Austauschmythos sich zu verbreiten begann, diente er aber auch immer wieder der Legitimation tödlicher Angriffe. Am Abend des 11. August 2017 skandierten Teilnehmende der Demonstration »Unite the Right« in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia: »You will not replace us!« (»Ihr werdet uns nicht austauschen!«) Einige machten deutlich, wer mit »you« ­gemeint war und riefen: »Jews will not replace us!« (»Die Juden werden uns nicht austauschen!«) Am nächsten Tag fuhr ein Neonazi mit einem Auto in eine antifaschistische Demonstration und tötet dabei die 32jährige Heather Heyer. Es folgten 2018 der Angriff auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh mit elf Toten, im März 2019 der Angriff auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch mit 51 Toten und 50 teils schwer Verletzten und im August eine Schießerei in El Paso mit 22 Toten, deren Täter alle als Motiv für ihre Tat Bekenntnisse hinterließen, die sich mal mehr, mal weniger ausführlich auf die Vorstellung eines bevorstehenden »Bevölkerungsaustausch« bezogen; das umfangreiche Tatbekenntnis des Attentäters von Christchurch trägt den Titel »The Great Replacement«.
Alexander Winkler,Judith Goetz
Alexander Winkler,Judith Goetz : Neurechte Denk­fabriken des Terrors
[ "Rechtsextremismus", "Großer Austausch", "Antifaschismus", "Neue Rechte" ]
Disko
17.10.2019
https://jungle.world//artikel/2019/42/moerderischer-mythos?page=0%2C%2C1
»Jeder muß mal abwaschen und Klo putzen«
Der Titel dieser ersten Biografie über diesen Mann, der weder Fußballer noch Schauspieler und noch nicht mal 50 Jahre alt ist - "Joschka Fischer. Der Marsch durch die Illusionen" -nimmt zugleich das Leitthema des Buches vorweg. Fischer gehört - kein Kunststück- zu den schillerndsten Figuren der Bonner Parlamentsszenerie; seine Biografie hat die Journalistin und Politologin Sibylle Krause-Burger offenkundig fasziniert. Sie zeichnet seinen Lebensweg nach, von der Geburt als jüngster Sprößling einer aus Ungarn stammenden deutschsprachigen Metzgersdynastie im tiefen Schwaben bis hin zur jüngsten Gegenwart, als abgemagerter, von Liebeskummer und Alkoholproblemen gereinigter Polit-Superstar. Seine frühe Kindheit ist glücklich verlaufen, weiß Krause-Burger zu berichten. Die Mutter, eine tiefgläubige Katholikin, war die tonangebende Person im Haus, der Vater verhielt sich ruhig. Fischer, der Junge aus einfachen schwäbischen Verhältnissen, kam aufs Gymnasium; und schon hier sieht Krause-Burger den Weg des "Revoluzzers" bzw. des "Reformers" vorgezeichnet. Fischer verläßt die Schule, schmeißt die Lehre, geht auf Weltreise, kehrt zurück und geht mit 18 Jahren nach Stuttgart. Dort gerät der in konservativem Milieu aufgewachsene Fischer an die politische Linke, den Club Voltaire, wo er sich politisch schulte und seine ersten rhetorischen Erfahrungen sammelte. Der 2. Juni 1967 - der Tag, an dem Benno Ohnesorg in Berlin erschossen wurde - wirkt für ihn wie für die gesamte Außerparlamentarische Opposition wie ein Fanal. Er zieht gemeinsam mit seiner ersten Frau nach Frankfurt am Main, neben Berlin das Zentrum der ihrem Höhepunkt zustrebenden "68er Bewegung". Fischer, der Schulabgänger und Polit-Autodidakt, will und kann auf politischem und philosophischem Terrain mit den Genossen und Genossinen von der Uni mithalten und schlägt sie - folgt man den Schilderungen der Biografin - um Längen. Aktiv im Kampf gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, gegen Spekulanten, schließt er sich den Frankfurter Spontis um Daniel Cohn-Bendit an. Doch schon in dieser Zeit, so diagnostiziert Krause-Burger, will der Anarchist und Revoluzzer "auf die andere Seite" - ins bürgerliche Lager, wobei Krause-Burger keinen Zweifel daran läßt, daß dies zugleich die richtige Seite ist. In den Chaos-WGs habe er begriffen, daß es bestimmter Regeln im Zusammenlebens bedürfe. "Jeder muß mal abwaschen und mal das Klo putzen", zitiert die Autorin die Einsicht des gereiften Fischer. Den zweite Wendepunkt seines politischen Lebens stellten die Aktionen der Roten Armee Fraktion dar. Fischer lehnt - trotz grundsätzlicher Solidarität mit den "Genossen im Untergrund", so die Biografin - die avantgardistische Strategie der RAF unter Einschluß des politischen Mordes entschieden ab. Er setzt mit den Frankfurter Spontis auf Massenbewegungen und befürwortet allenfalls die kontrollierte Militanz. Seine Solidarität endete, als ehemalige Frankfurter Genossen sich an einem Entführungskommando beteiligen: Sie halfen einer pro-palästinensischen Gruppe 1976 eine Air-France-Maschine zu entführen und israelische von nicht-israelischen Flugpassagieren zu trennen. Der israelische Geheimdienst stürmte die Maschine in Entebbe/Uganda, die Frankfurter kamen ums Leben. "Das geschieht denen recht", kommentiert Fischer die antisemitische Aktion. Und: "Wenn sich Deutsche nochmals dafür hergeben, Juden von Nicht-Juden zu selektieren, dann verdienen sie es nicht anders." Fischer ist - allen politischen Wandlungsprozessen trotzend - überzeugter Antifaschist, dies zumindest versteht Krause-Burger überzeugend darzustellen. Und Fischer ist nicht - wie andere Linke - aus Solidarität mit dem palästinensischen Volk zum linken Antisemiten geworden. Gründlich daneben greift die Autorin indessen, wenn sie die Aktivisten der RAF und ihre Morde mit dem Völkermord an den europäischen Juden durch die Nazis vergleicht. Fischer wendet sich sukzessive von revolutionären Ansätzen ab und wird zum Realo, noch bevor er tatsächlich als Mitglied der Grünen und kurz danach als Bundestagsabgeordneter politische Verantwortung übernimmt. Im Eilschritt zeichnet Krause-Burger die Entwicklung Fischers vom unerfahrenen, aber kecken Geschäftsführer der ersten grünen Bundestagsfraktion über das frustrierte Rotations-Opfer bis zum hessischen Umweltminister in der ersten rot-grünen Koalition der Bundesrepublik 1987 nach. Die Koalition zerbricht, Fischer landet als Landtagsabgeordneter erneut in der Opposition, 1994 kehrt er als gefeierter Star und heimlicher Oppositionsführer nach Bonn zurück, wo er zuerst die Rolle des aufmüpfigen Abgeordneten spielt, sich nach und nach jedoch als Staatsmann geriert. Durch das Buch zieht sich leitmotivisch das Bild des intellektuell seinen Gegnern überlegenen politischen Überfliegers. "Und ist er, Joseph Martin Parsifal Fischer, dabei der Vollendung seiner Person und der politischen Erleuchtung nicht immer näher gekommen?" fragt Krause-Burger feierlich - ihre Antwort drängt sich auf. Dabei fehlt der Biografin das Verständnis für das politische Umfeld Fischers. Seine Entwicklung stellt sie als singuläres Phänomen dar, die Auseinandersetzungen innerhalb der Partei als einsamen Kampf des vernünftigen Strategen gegen die politischen Träumereien und ideologischen Starrheiten seiner Mitstreiter. Daß Fischers ideologische Entwicklung - der "Marsch durch die Illusionen" - parallel zu der des grünen Mainstreams verläuft, übersieht sie geflissentlich. Der von Fischer popularisierte Begriff vom "rheinischen Kapitalismus", den es zu verteidigen gelte, fällt im ganzen Buch nicht. Die "Fundamentalisten", gegen die sie Fischer unermüdlich kämpfen sieht, haben die Partei 1991 verlassen. Die heutige Parteilinke ist in den wesentlichen Punkten auf einen Ausgleich mit Fischers Realos bedacht. An der gemeinsamen Orientierung auf eine rot-grüne Machtübernahme gibt es keinen Zweifel. Das Buch ist unterhaltsam geschrieben, gibt einige interessante Einblicke in das Leben eines Bonner Politikers, für das Verständnis von Fischers Politik ist es hingegen untauglich. Sibylle Krause-Burger: Joschka Fischer - Der Marsch durch die Illusionen. Deutsche Verlagsanstalt. Stuttgart 1997, 256 S., DM 39, 80
friederike meyer
friederike meyer:
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dschungel
06.11.1997
https://jungle.world//artikel/1997/45/jeder-muss-mal-abwaschen-und-klo-putzen
Wir haben nichts zu verbergen
Lehrer an schwedischen Gymnasien könnten künftig nicht mehr nur als Pädagogen fungieren, sondern auch als Spitzel für die Geheimpolizei Säkerhetspolisen (Säpo). So will es jedenfalls Jan Björklund von der liberalen Volkspartei, die zusammen mit den anderen bürgerlichen Parteien Schwedens die Wahl im kommenden Jahr gewinnen will. Wenige Tage nach den Terrorattentaten am 7. Juli in London mahnte Björklund, der schulpolitische Sprecher seiner Partei, Lehrer sollten künftig genauer auf die religiösen Überzeugungen ihrer Schüler achten und extreme Einstellungen der Säpo melden. Die Attentäter von London seien »junge Männer knapp über dem Alter von Gymnasiasten« gewesen, argumentierte er. Die Tageszeitung Dagens Nyheter fand nach den Anschlägen Anzeichen dafür, dass auch unter muslimischen Schülern an Gymnasien in Stockholmer Vororten, wo viele Migranten wohnen, eine »Radikalisierung der Islaminterpretation« stattfinde. Unter anderem aufgrund der Marginalisierung, Benachteiligung und »Ghettoisierung« von Zuwanderern gebe es in Schweden heute einen »Nährboden für islamischen Extremismus«, ähnlich wie in London oder Madrid. Tatsächlich deutet darauf einiges hin. Als im vergangenen Jahr zwei Gymnasiastinnen vollständig verschleiert in eine Göteborger Schule kamen, führte dies zu intensiven Diskussionen über Religionsfreiheit. Im April befürchtete man Konflikte zwischen Christen und Muslimen, nachdem der Laienprediger Runar Sögaard den Propheten Mohammed einen »verwirrten Pädophilen« genannt hatte. Religiöse Eiferer drohten, Sögaard zu töten (Jungle World 19/05). Es blieb jedoch ruhig. Ob der Vorschlag, Lehrer zu Säpo-Informanten zu machen, ein geeignetes Mittel wäre, extreme Einstellungen zu entlarven und einzudämmen, ist in Schweden unterdessen umstritten. Von anderen Parteien wurde die Idee bisher nicht aufgegriffen. Wenn man Schülern mit Misstrauen und einer Überwachungsmentalität begegne, sei es nicht mehr möglich, religiöse und moralische Fragen im Klassenzimmer offen zu diskutieren, hieß es in mehreren ablehnenden Reaktionen von Lehrern und Schulleitern. Auch wenn Björklunds Vorschlag kaum Aussichten haben dürfte, sagt die Diskussion darüber dennoch einiges aus über eine Gesellschaft, die sich eigentlich als offen und frei versteht. Anfang dieses Jahres bereits hat die Tsunami-Katastrophe etwas in Schweden möglich gemacht, was bis dahin Tabu war. Das so genannte PKU-Register, eine Biodatenbank, in der seit 1975 Blutproben aller Neugeborenen gesammelt werden, wurde für Polizei und Gerichtsmediziner geöffnet. Die Daten aus dem Register, das von der Universitätsklinik in Huddinge bei Stockholm verwaltet wird, sollten helfen, schwedische Flutopfer in Thailand zu identifizieren. Als der Reichstag die Öffnung in einer Sondersitzung im Januar absegnete, war die Zustimmung unter den Abgeordneten von links bis rechts so groß, dass es keiner Zählung der Stimmen bedurfte. Auch außerparlamentarische Proteste gegen den Beschluss wurden kaum laut, obwohl das PKU-Register ursprünglich aus ganz anderen Gründen eingerichtet worden war, nämlich zu Forschungs- und statistischen Zwecken und um Erbkrankheiten bei Kindern zu entdecken. Die Gesetzesänderung konnte wohl auch deshalb so schnell und unkompliziert erfolgen, weil Schweden insgesamt einen freizügigeren Umgang mit persönlichen Daten seiner Bürger pflegt als andere Länder und weil viele Schweden an der Erfassung , Registrierung und Weitergabe solcher Informationen wenig Anstoß nehmen. Ein Symbol für die Erfassung der Bevölkerung in Datensätzen ist die schwedische »Personennummer«. Jeder Einwohner verfügt von Geburt an über eine zehnstellige Ziffernkombination, die ihn vor Behörden, Ärzten, Versicherungen, oder auch beim Einkaufen mit Kreditkarte oder im Internet identifiziert. Geburtsdatum und Geschlecht gehen direkt daraus hervor. Gesetze regeln darüber hinaus, welche weiteren Informationen die verschiedenen Interessenten jeweils abrufen dürfen. Daneben wird es mit dem allgemein anerkannten »Öffentlichkeitsprinzip« begründet, dass ein Großteil behördlicher Vorgänge für Bürger, Medien oder auch Polizei einsehbar sind. Dazu zählen Steuerbescheide. Jeder Schwede kann mit einem Gang zum Finanzamt feststellen, wie viel sein Nachbar oder Kollege verdient. Lokalzeitungen veröffentlichen bisweilen Listen der reichsten Einwohner einer Gemeinde oder auch Informationen über Immobilientransaktionen. Wer es wissen will, kann problemlos erfahren, zu welchem Preis Herr Svensson sein Haus verkauft hat und an wen. Und die Sicherheitspolizei muss nicht erst langwierige Ermittlungen anstellen, wenn sie erfahren will, ob Neonazis irgendwo ein Grundstück erworben haben. Für viele Schweden ist das alles selbstverständlich. Wer nach Recht und Gesetz handelt, sollte keinen Grund haben, den Einblick in seine ökonomischen Verhältnisse zu verwehren, und eine Behörde, zu der die Menschen Vertrauen haben sollen, soll nichts zu verheimlichen haben. Um die Ermittlungsarbeit von Polizei und Säpo angesichts vermeintlich zunehmender Bedrohungen zu erleichtern, soll vom kommenden Jahr an eine weitere DNA-Datenbank, die unabhängig vom PKU-Register besteht, ausgebaut werden. Darin sind zur Zeit die genetischen Fingerabdrücke von rund 2 800 Straftätern gespeichert, die zu mindestens zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Wie der sozialdemokratische Justizminister Thomas Bodström Anfang Juli mitteilte, sollen künftig schon beim Verdacht auf eine Straftat DNA-Proben erfasst werden. Die einzige Bedingung für die Registrierung einer Person ist dann, dass das Verbrechen, das sie begangen haben soll, zu einer Gefängnisstrafe führen kann. »Das neue Gesetz setzt so niedrige Grenzen, dass im Großen und Ganzen alle, die ein irgendwie ernsthaftes Verbrechen begangen haben, in dem Register landen«, sagte Bodström der Tageszeitung Dagens Nyheter. Die sozialdemokratische Regierung hofft, so die Aufklärungsrate von Verbrechen steigern und den Bürgern ein Gefühl größerer Sicherheit geben zu können. Die bürgerliche Opposition will noch weiter gehen und mahnte nach den Londoner Attentaten, auch die Kompetenzen der Polizei auszuweiten, um Wohnräume und Telefonleitungen besser überwachen zu können. Nicht alle sind jedoch über die zunehmende Datensammelwut erfreut. »Wir bekommen eine Gesellschaft, in der wir mehr und mehr registriert werden«, monierte etwa der prominente Rechtsanwalt Leif Silbersky im schwedischen Fernsehen. Er habe zwar Respekt davor, dass die Polizei Verbrechen verhindern und verfolgen wolle, dies dürfe aber nicht »auf Kosten der persönlichen Integrität« geschehen: »Niemand kann garantieren, dass Informationen über unsere Erbmasse nicht in finstere Kanäle gelangen.«
Bernd Parusel
Bernd Parusel:
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Ausland
27.07.2005
https://jungle.world//artikel/2005/30/wir-haben-nichts-zu-verbergen?page=0%2C%2C3
»Das ist der Wurstgeruch der Freiheit«
»Der Kampf ist verloren, wir haben versagt«, sagt Martin Kriesel traurig. »Wir müssen die Menschen hier sich selbst überlassen. Wie es weitergeht, ist noch völlig ungewiss.« Kriesel klappt den Tapetentisch zusammen, rollt seine Plakate ein. »Fleisch ist ein Stück Lebenskraft« steht darauf. In einem kleinen Rollköfferchen verschwinden die Probeexemplare der Fleischwirtschaft, dem Magazin der knorpelmasseverabeitenden Industrie. Seit zehn Tagen hat Kriesel, der für den Lobbyverband arbeitet, an seinem Stand ausgeharrt, hier, vor der VW-Kantine am Standort Kleinsaltzung. Hat Mitarbeitende agitiert, verschenkte kleine Dosen mit eingemachter Leberwurst. Umsonst: Die interne Weisung des Volkswagen-Konzerns, nach den Betriebsferien alle Fleischgerichte durch vegetarische Alternativen zu ersetzen, bleibt bestehen. Sogar ein Machtwort von ­Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der anmahnte, sich Wurst als »Kraftkolben« in die Goschen zu schieben, blieb ungehört. Nun gibt sich Kriesel geschlagen: »Wir haben die Macht des Vegetarismus unterschätzt.« Die Mitarbeiter nehmen es hin. Aus Überzeugung? Oder haben sie sich mit den neuen Verhältnissen arrangiert? »Eigentlich ganz froh« sei er, sagt ein Kollege, der anonym bleiben will. »Die Leute haben so schreckliche Klischeeerwartungen an uns Montagearbeiter. Tag und Nacht Currywurst, erstes Bier um vier, sexistische Sprüche. Viele von uns haben sich einen Schnauzer wachsen lassen, nur um den sozialromantischen Erwartungen von Alt-SPDlern entgegenzukommen. Dabei bin ich queer und vegan. Und ich kenne viele, denen es genauso geht.« Doch die Betriebskantine ist Schauplatz eines beispiellosen Kulturkampfs. Abgeordnete von CDU, SPD und Linkspartei reisen an, um sich mit den Fleischessern, die sie in der Belegschaft vermuten, zu solidarisieren. »Wenn uns Konzerne den Willen von skurrilen Ernährungsminderheiten aufzwingen, läuft etwas schief«, teilt Sahra Wagenknecht per Insta-Pic von einem Hummerbüfett mit. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalens konnte über Kontaktmann Joe Laschet bereits 15 Tonnen gemischtes Tönnies-Hack nach Kleinsaltzung einfliegen – nun verrottet das Billigfleisch vor den Toren von VW. »Das ist der Wurstgeruch der Freiheit«, sagt Kriesel. »Wer ihn nicht erträgt, soll sich die Nase zuhalten. Und sie nicht so hoch tragen!«   Aus der Urteilsbegründung: Leo Fischers preisgekrönte ­Reportagen sind in hohem Maße fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Geschehnissen sind unbeabsichtigt.
Leo Fischer
Leo Fischer: Kampf um die Bratwurst
[ "Leo Fischers preisgekrönte ­Reportage" ]
dschungel
19.08.2021
https://jungle.world//artikel/2021/33/das-ist-der-wurstgeruch-der-freiheit
Ölquellen des Friedens
Eineinhalb Jahre lang wurde zäh verhandelt, dabei ist die am Ende beschlossene Lösung doch denkbar einfach. Die beiden Kriegsparteien im Sudan, das islamistische Militärregime in Khartum und die Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA), erhalten jeweils die Hälfte der Öleinnahmen des Landes. Diese am 7. Januar unterzeichnete Vereinbarung gilt in dem nordostafrikanischen Land als entscheidender Schritt zur Beendigung des Bürgerkrieges. »Der Friedensprozess im Sudan ist jetzt irreversibel«, behauptet der SPLA-Führer John Garang, der sudanesische Vizepräsident Ali Osman Mohammed Taha spricht von einem »historischen Tag«, und zur Vorsicht mahnt nur der Chefunterhändler Lazaro Sumbeiywo: »Je mehr Probleme gelöst werden, desto komplizierter wird es, weil die Optionen weniger werden.« Umstritten sind unter anderem noch so wichtige Punkte wie die Machtverteilung in der Zentralregierung und der Status von drei Provinzen. Das Abkommen ist symptomatisch für den bisherigen Friedensprozess. Sowohl für die SPLA als auch für die seit dem islamistischen Militärputsch vom Juni 1989 herrschende Regierung Umar al-Bashirs ist die Aufteilung der Ressourcen des Landes, insbesondere des Erdöls, das mehr als 40 Prozent der Staatseinnahmen einbringt, prioritär. Die Ölquellen, die zu großen Teilen im südsudanesischen Operationsgebiet der SPLA und im ebenfalls vom Bürgerkrieg heimgesuchten Südkordofan liegen, wurden erst vor einigen Jahren entdeckt. Um Förderanlagen und Pipelines vor Angriffen der Rebellen zu schützen, ging die Regierung Ende der neunziger Jahre dazu über, die Zivilbevölkerung, die sie als Risiko betrachtete, massenhaft zu vertreiben. Für westliche Ölkonzerne wie die österreichische OMV, die sich erst 2003 wieder aus dem Sudangeschäft zurückzog, spielten Einwände von Menschenrechtsorganisationen erst dann eine Rolle, als sie in Europa für schlechte Presse sorgten. Die bewaffneten Konflikte im Sudan sind jedoch weit älter als die Erdölförderung. Bereits 1956, einige Wochen vor der Unabhängigkeit des Sudan, kam es im Süden zu Aufständen gegen die neue Regierung im nordsudanesischen Khartoum. Das ökonomische und politische Gefälle zwischen den arabischen Zentren um Khartoum und dem verarmten Südsudan, der lange Zeit von den britischen Kolonialherren isoliert wurde, führte zu einem Bürgerkrieg, der nur unter der Militärdiktatur von Gaafar Nimeiri für ein Jahrzehnt unterbrochen wurde. Der Frieden scheiterte vor allem an Nimeiris Septembergesetzen, die die Sharia im ganzen Land einführten. Nach seinem Sturz im Jahr 1985 erwiesen sich auch die demokratischen Regierungen unfähig, den Krieg zu beenden. Als schließlich 1989 eine Friedenslösung in greifbarer Nähe schien und als Vorbedingung für einen Waffenstillstand die Septembergesetze abgeschafft werden sollten, putschten sich islamistische Militärs an die Macht. Damit rückte ein Friedensvertrag wieder außer Reichweite. Insbesondere in den ersten Jahren der Militärdiktatur kam es auch im Norden zu einer Repressionswelle gegen säkulare Oppositionelle und VertreterInnen von Minderheiten. Das neue Regime unterstützte islamistische Gruppierungen in der ganzen Welt, Mitte der neunziger Jahre hielt sich auch Ussama bin Laden längere Zeit im Sudan auf. Derweil machten europäische und arabische Firmen insbesondere seit Beginn der Ölförderung gute Geschäfte mit dem Sudan. Während die Mehrheit der sudanesischen Bevölkerung weiter verarmte, führte der »islamische Neoliberalismus« der Regierung zu makroökonomischen Erfolgen. Auch der IWF honorierte diese Politik und hob 1995 den Status des Sudan als »unkooperativ« wieder auf. Allerdings behinderte der Bürgerkrieg bislang die Erdölförderung in Südkordofan und Upper Nile. Dies ist ein zentraler Grund für die Regierung, gegenüber der SPLA Kompromissbereitschaft zu zeigen. Zudem sind die islamistischen Generäle daran interessiert, sich vom Image eines den Terror unterstützenden »Schurkenstaates« zu lösen, und sie wollen die US-Regierung bewegen, die gegen den Sudan verhängten Sanktionen aufzuheben. US-Außenminister Colin Powell bemühte sich im Oktober 2003 sogar persönlich zu den Friedensverhandlungen, um auf eine Einigung zu drängen. Der Druck von außen und die inneren Widersprüche des Regimes machten nun ein Abkommen möglich. Primär konzentrierten sich die Verhandlungen zwischen Militärregierung und SPLA auf die Aufteilung von Ressourcen und Einflusssphären. In den letzten Jahren ist zwar der Spielraum für nordsudanesische Oppositionelle etwas größer geworden, Verhaftungen unliebsamer Kritiker der Regimes sind jedoch weiterhin an der Tagesordnung. Nur zwei Wochen nachdem Anfang Dezember ein Rahmenabkommen zur Unterstützung des Friedensprozesses zwischen der Regierung und der Dachorganisation National Democratic Alliance (NDA), die auch die Parteien des Nordsudan, Gewerkschaften und Guerillaorganisationen umfasst, abgeschlossen wurde, verhaftete der Sicherheitsdienst wieder einmal neun Gewerkschafter. Die zweite sudanesische Guerillabewegung, die seit Anfang 2003 in Darfur im Westen des Landes aktiv ist, wird von der Regierung weiterhin ignoriert. Trotz Aufsehen erregender militärischer Erfolge werden ihre Kämpfer vom Regime lediglich als kriminelle Unruhestifter bezeichnet. Dementsprechend wenig ist von der neuen Entspannungspolitik zu sehen, mehr als 75000 Menschen sind aus Darfur in den benachbarten Tschad geflohen. Die Flüchtlinge berichten von anhaltenden »ethnischen Säuberungen« durch regierungsnahe arabische Milizen gegen Fur, Masalit oder andere Angehörige nicht arabischer Bevölkerungsgruppen. In den Friedensverhandlungen wurden die Herrschaftspraktiken nicht in Frage gestellt. Über die Demokratisierung des Landes gibt es nur vage Absichtserklärungen, und nur der überwiegend nichtislamische Süden wird von der Sharia ausgenommen. Der Sudan ist damit noch immer weit von einem wirklichen Frieden entfernt. Allerdings wissen sowohl die SPLA als auch die Regierung Umar al-Bashirs, dass ein Frieden ohne die Einbeziehung aller relevanten politischen Kräfte des Sudan nicht dauerhaft halten kann. Dabei wird der Regierung eine wirkliche Demokratisierung keineswegs leicht fallen, fehlt ihr doch sogar im Nordsudan die Unterstützung der Bevölkerung. Ebenso brisant ist das bereits 2002 vereinbarte Referendum über die Unabhängigkeit des Südsudan, das sechs Jahre nach einem endgültigen Vertragsabschluss stattfinden soll. Das »Problemgebiet« abzustoßen, mag für die Militärregierung verlockend sein, doch sowohl für arabisch-nationalistische als auch für islamistische Ideologen wäre die Sezession ein Sakrileg, und mit dem Südsudan gingen auch die meisten Ölquellen verloren. Es dürften diese für das Regime unerfreulichen Alternativen gewesen sein, die den Chefunterhändler Sumbeiywo zu seiner Warnung veranlassten. Denn je näher ein umfassender Friedensvertrag rückt, desto schwieriger wird es für die islamistischen Generäle, sich vor den notwendigen politischen Entscheidungen zu drücken.
Thomas Schmidinger
Thomas Schmidinger:
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Ausland
21.01.2004
https://jungle.world//artikel/2004/04/oelquellen-des-friedens
Staatsfeinde ohne Grund
Die vernehmenden Polizisten sagten Mehmet Desde und Mehmet Bakir ganz offen, nichts über sie zu wissen, sie aber trotzdem zu verdächtigen. Die beiden saßen in verschiedenen Räumen der Anti-Terror-Abteilung auf dem Polizeipräsidium in Izmir, die Verhörstrategie war identisch: verbundene Augen, gefesselte Hände, Schläge, Misshandlungen und immer die gleichen Fragen: »Was wisst ihr über die Bolschewistische Partei Nordkurdistan-Türkei?« Die beiden sagten, dass sie eine solche Organisation nicht kannten, was ihnen die Polizisten jedoch nicht abnahmen. Das war im Jahr 2002. Nach mehr als vier Jahren endete Mitte Februar ihr Rechtsweg mit einer Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Haft im türkischen Hochsicherheitstrakt. Die absurde Geschichte von Mehmet Desde und Mehmet Bakir begann während eines Urlaubs in der Türkei. Dort wurden sie im Zusammenhang mit dem Erscheinen von Flugblättern und Aufklebern einer ominösen, in der Türkei als Terrororganisation geltenden »Bolschewistischen Partei Nordkurdistan-Türkei« in Izmir verhaftet. Die Ferien wurden für sie zu einem unfreiwilligen Dauerzustand. Desde und Bakir wurde vorgeworfen, Gründer und »leitende Mitglieder« der Organisation zu sein und sich im Land zu befinden, um ein militärisches Ausbildungscamp zu organisieren. Tatsächlich hatten sich die beiden im Urlaub kennen gelernt. Zusammen mit fünf anderen Freunden waren die beiden auf dem Weg zu einem Ferienhaus. Auf dieser Fahrt begann der Alptraum. Sie wurden von der Polizei angehalten und ohne Angabe von Grün­den festgenommen. Von dem absurden Vorwurf, Mitglieder einer Organisation zu sein, von der sie niemals gehört hatten, erfuhren sie erst nach ihrer Ankunft auf dem Polizeipräsidium in Izmir. Desde und Bakir sind Kurden, die ursprünglich aus der Provinz Tunceli stammen. Ihre Väter kamen mit der ersten Gastarbeitergeneration nach Deutschland, sie selbst kamen Ende der siebziger Jahre nach. Bereits diese Tatsache reichte aus, um sie für die Polizisten in Izmir als gefährliche politische Aktivisten erscheinen zu lassen. In den siebziger Jahren lieferten sich Rechte und Linke in der Türkei gewaltsame Auseinandersetzungen, die 1980 durch den Militärputsch beendet wurden. In dieser Zeit galt Tunceli als Hochburg der Linken. Ihre Herkunft entsprach insofern einem idealen Täterprofil. Mit einem einzigen Haken: Als sie nach Deutschland kamen, war Mehmet Bakir erst 17 Jahre alt, Mehmet Desde war ein unauffälliger 20jähriger. Bis zu ihrer Verhaftung hätte man sie in Deutschland als Vertreter der sozialen Kategorie der »vorbildlich integrierten Erwachsenen mit Migrationshintergrund« bezeichnet. Desde, der deutscher Staatsbürger ist, hatte eine schöne Wohnung und arbeitete als Krankenpfleger in einem Krankenhaus in Landshut. Bakir war freier Journalist in Berlin, fuhr aber häufig in die Türkei, um für Artikel zu recherchieren und zu fotografieren. Er hatte einen Einbürgerungsantrag in Deutschland gestellt und wartete auf dessen Bearbeitung. Nach der Festnahme wurde ihnen verweigert, die deutsche Botschaft sowie ihre Verwandten zu benachrichtigen. Völlig rechtswidrig wurde ihnen kein Kontakt zu Anwälten gewährt. Die Polizisten verlangten eine Unterschrift unter bereits vorgefertigte Geständnisse. Als die beiden sich weigerten, wurden sie schwer misshandelt. Mehmet Desde erzählte der Jungle World, er habe sich ausziehen müssen und sei geprügelt worden, die Polizisten hätten seine Hoden gequetscht und ihm damit gedroht, ihn in einem Fass einzuzementieren und ins Meer zu werfen. Erst nach vier Tagen wurden die beiden Festgenommenen dem Haftrichter vorgeführt. Bakir wurde entlassen, gegen Desde erließ das Gericht einen Haftbefehl, er verbrachte die nächsten vier Monate in einer Einzelzelle des Hochsicherheitstraktes von Buca bei Izmir. Für Bakir war die Freiheit allerdings von kurzer Dauer. Einige Tage nach seiner Frei­lassung, als er nach Berlin zurückfliegen wollte, wurde er in Istanbul auf dem Flughafen erneut verhaftet. Diesmal wurde auch gegen ihn ein Haftbefehl erlassen, das Gericht ging von Fluchtgefahr aus. Nach sechs Monaten wurden Desde und Bakir aus der Untersuchungshaft entlassen, gegen beide wurde eine Ausreisesperre verhängt. Erst dann begann ihr langwieriger Rechts­weg. Im Juli 2003 sprach das berüchtigte Staatssicherheitsgericht sein erstes Urteil. Die beiden wurden beschuldigt, Gründer und »leitende Mitglieder« einer terroristischen Organisation zu sein. Während des Prozesses stellte sich heraus, dass gegen sie keinerlei Beweise existierten, außer einer später widerrufenen Zeugenaussage, dass die beiden im Auto über ein »Camp« gesprochen hätten. Auch über die Organisation »Bolschewistische Partei Nordkurdistan-Türkei« gibt es kaum Informationen. Bekannt war sie bis dahin nur durch das Verteilen von Flugblättern, keine Gewaltaktionen gingen zu Lasten der Gruppe. Das Gericht beschloss daher während des Prozesses, dass es sich um eine »ideologisch staatsfeindliche«, aber nicht »gewaltbereite« Organisation handle. Trotzdem wurden die beiden jeweils zu 50 Monaten Freiheitsstrafe und 5 000 Euro Geldstrafe verurteilt. Doch noch bestand Hoffnung auf Revision. Im April 2004 hob der Kassationshof in Ankara das Urteil von Izmir auf. Im Oktober musste erneut in Izmir verhandelt werden. Da inzwischen aufgrund von EU-Reformen die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte abgeschafft worden waren, verhandelte hier nun das zivile Landgericht die Revision. Selbst der Staatsanwalt plädierte wegen der mangelhaften Beweislage auf Freispruch. Vergeblich. Das Gericht verurteilte die Angeklagten zwar nicht mehr wegen »leitender«, aber wegen »einfacher« Mitgliedschaft, die Strafe für beide wurde auf 2,5 Jahre Haft reduziert. In letzter Instanz bestätigte die neunte Kammer des Kassationsgerichtshofs das Urteil. Mehmet Desde und Mehmet Bakir wurden verurteilt, weil sie einer Organisation angehört haben sollen, die »gesinnungsgemäß« als »staatsfeindlich« eingestuft wird. Eine Chance, ihre Strafe in Deutschland abzusitzen, haben sie nicht, denn dieses Delikt gibt es nach deutschen Gesetzen nicht. Die Folterpolizisten wurden Anfang Dezember 2006 aus Mangel an Beweisen freigesprochen, trotz eines detaillierten Berichts der renommierten »Stiftung für Menschenrechte« in Izmir, in dem bestätigt wird, dass Mehmet Desde körperlich und psychisch gefoltert wurde und bis heute typische Be­schwer­den hat: Kopfschmerzen, Depressionen und Alpträume. Derzeit warten beide auf eine Begnadigung oder den Gang ins Gefängnis. Der Alptraum Türkei ist für sie noch lange nicht zu Ende.
Sabine Küper-Büsch
Sabine Küper-Büsch:
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Ausland
28.03.2007
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