title
stringlengths 1
171
| content
stringlengths 2
64.2k
| author
stringlengths 0
192
| description
stringlengths 0
383
| keywords
sequencelengths 0
17
| category
stringclasses 67
values | datePublished
stringlengths 0
10
| url
stringlengths 28
177
|
---|---|---|---|---|---|---|---|
mathias liebing | Unihockey begeistert in Skandinavien die Massen. Deutschland ist seit der letzten Weltmeisterschaft in Schweden nur noch zweitklassig. von mathias liebing »Suchen Fußballer, bieten Arbeitsplatz.« Mit Annoncen fahndet ein bayrischer Kreisligist in Ostdeutschland nach arbeitslosen Kickern. von mathias liebing Unihockey ist schneller, einfacher und unbekannter als alle anderen Hockeysportarten. von mathias liebing | [] | https://jungle.world//autorin/mathias-liebing |
||||
Nur in der Print-Ausgabe verfügbar | Die Jungle World ist eine Wochenzeitung!Man kann sie am Kiosk kaufen. Oder noch besser: abonnieren. http://jungle-world.com/abo | : | [] | webredaktion | 08.06.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/23/nur-der-print-ausgabe-verfuegbar |
|
dorothy guerrero | Politische Gegner werfen der philippinischen Präsidentin Arroyo Wahlfälschung vor. Während die Stimmen ausgezählt werden, kursieren Putschgerüchte.
von dorothy guerrero Der Putschversuch auf den Philippinen konnte schnell niedergeschlagen
werden. Doch die rebellierenden Soldaten haben einflussreiche
Unterstützer. von dorothy guerrero, manila Selbst jene NGO, die mit den Regierungen zusammenarbeiten, sind enttäuscht vom UN-Gipfeltreffen. Südafrikanische Organisationen konfrontierten die Teilnehmer mit der sozialen Realität des Landes. Um die Opposition gegen die militärische Zusammenarbeit mit den USA zu schwächen, verbündet sich die philippinische Regierung mit Anhängern des inhaftierten Ex-Präsidenten Estrada. Nach offiziellen Angaben sind die in den Philippinen stationierten US-Soldaten nur als Berater tätig. Oppositionelle befürchten jedoch deren bewaffneten Einsatz. Die philippinische Regierung hat ein Abkommen mit der islamischen Guerillagruppe Milf unterzeichnet, aber die Verhandlungen mit der maoistischen NDF wurden unterbrochen. Der Angriff von 20 000 Demonstranten auf den Präsidentenpalast in Manila ist misslungen. Die philippinische Regierung beschuldigt die Oppositionsführer, einen Umsturz geplant zu haben. Der Mord an dem linken Gewerkschaftsführer Filemon Lagman verschärft den Machtkampf auf den Philippinen. Der philippinische Präsident Estrada musste nach heftigen Protesten zurücktreten. Die Macht seiner Nachfolgerin Arroyo ist noch nicht gesichert. Vom Shooting Star zum Sündenbock: Eine ständig anwachsende, heterogene Koalition fordert den Abgang des philippinischen Präsidenten Estrada. | [] | https://jungle.world//autorin/dorothy-guerrero |
||||
Manuel Erbenich | Seit der »Safran-Revolution« 2007 und dem politischen Wandel 2011 befindet sich Myanmar politisch und gesellschaftlich im Umbruch. In diesem Jahr sollen erstmals freie Wahlen stattfinden, doch viele bleiben skeptisch. Oppositionelle, die lange im Gefängnis saßen, erzählen von ihren Erfahrungen und Erwartungen. | [] | https://jungle.world//autorin/manuel-erbenich |
||||
Erkennt den Eros! | Der letzte linke Student ist froh. Er ist froh, denn er hat es warm in seiner Bude. Auch wenn die Wände dünn sind. Denn die Heizung ist kräftig. Und seine Bude ist sehr gemütlich. Und: ein Hort des Geistes und der Theorie. Darum hat der letzte linke Student viele Bücher in seinem Regal stehen. Denn: Viele Bücher machen viele Gedanken. Aber die Wände sind dünn. Und darum ist der letzte linke Student jetzt nicht froh. Denn man hört Lärm von nebenan. Und das ist: sexueller Lärm. Und: eine Belästigung. Darum haut der letzte linke Student jetzt kräftig mit der Faust gegen die Wand. Damit das ein Ende hat. Und Ruhe ist. Doch: Dann hört der letzte linke Student, dass da geschlagen wird. Und dazu: wird laut gestöhnt. Das macht den letzten linken Studenten fast verrückt. Weil: Die haben Sex. Vor allem aber: Der Sex, der nebenan gelebt wird, ist aggressiv. Und damit: tierisch. Und daher: gegen die Aufklärung. Und deshalb genauso wie die Unterdrückung und der Krieg und der Hunger und das Alleinsein. Nämlich: grausam. Wenn man dabei stöhnt, nimmt man die Unterdrückung willig in Kauf. Indem man teilnimmt! Und: mitmacht! Der letzte linke Student weiß: Das ist ein Studentenwohnheim hier. Und: »Studenten und Studentinnen tragen die Aufklärung und den revolutionären Geist durch das repressive Zeitalter des Turbokapitalismus!« Das hat er bereits in sein goldenes Notizbuch geschrieben. Weil es: wahr ist. Und jetzt haben die nebenan ihren fiesen unterdrückerischen Sex. Und das: untergräbt das Prinzip. Der letzte linke Student geht nach nebenan. Denn nebenan wühlt ein Maulwurf. In der Aufklärung. Jetzt läutet er Sturm. Nach einer Weile öffnet seine Nachbarin. Sie trägt Lederwäsche unterm Bademantel. Der hängt fast offen. Die hat wohl keine Scham! Das denkt der letzte linke Student. Und: schämt sich. Für sie. Und lugt an ihr vorbei ins Zimmer. Da steht ein Mann. Der sie geschlagen hat? »Schwester!« Das sagt der letzte linke Student, um die Nachbarin an ihre Rolle zu erinnern. Und: sich zu solidarisieren. »Schwester! Lass Dich nicht schlagen! Das ist Unterdrückung, die ins Private verlängert wird! Deine Ausbeutung als Frau nimmt hier ihren Fortgang! Bedenke, Gewalt ist kein Spiel! Und auch wenn es Dir gefällt, ist das nur der Trieb! Der Verstand aber weiß, dass erfüllte Sexualität eine Sexualität des Friedens ist.« Das sagt der letzte linke Student zu seiner Nachbarin. Das hat er sich eben zurechtgelegt. Und es ist: sehr logisch. Und: aufgeklärt. Und: gut. Seine Nachbarin aber sagt: »Ich schlage ihn.« Und er ruft aus dem Zimmer: »Und das macht Spaß!« Und sie sagt noch: »Und es ist geil!« Doch da hat sich der letzte linke Student schon abgewandt. Und ist zurück zu seinem Zimmer gegangen. Nicht: Weil er rot geworden ist. Sondern weil: er empört ist. In seinem Zimmer setzt er sich vor den Schreibtisch. Sieht aus dem Fenster. Schaut den Blättern zu, wie sie fallen. Grübelt. Dann schlägt er sein goldenes Notizbuch auf. Er schreibt: »Das hat die fortschreitende Gleichberechtigung mit sich gebracht. Auch Männer stimmen ihrer Unterdrückung zu. Und Gewalt herrscht zwischen den Paaren gleichberechtigt. So nehmen die Frauen am Chor der Unterdrückung teil.« Dann schreibt er nichts mehr. Das ist sehr negativ, was er jetzt spürt. Das rüttelt an seiner Hoffnung. Und auch wir sollten die Zeitung sinken lassen und einen Augenblick erschrecken. | Jörg Sundermeier | Jörg Sundermeier: Der letzte linke Student VI | [] | webredaktion | 01.11.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/44/erkennt-den-eros |
Reiche 2000 | Daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden werden - das wissen nicht nur Robin Hood und Spiegel, sondern das hat jetzt auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) höchstwissenschaftlich belegt. Immerhin hat der ideelle Gesamtbundesbürger rund 4,6 Billionen Mark auf der hohen Kante - als Spar- und Bauspareinlagen, Wertpapiere oder Lebensversicherungen. Allerdings: Die Verteilung ist höchst unterschiedlich. Ein Fakt, der sich aber nur grob belegen läßt, da derartige Daten nur unzureichend erhoben werden. Die aktuellsten Daten zur Streung der Vermögen enthält die Einkommensstichprobe von 1993 - diese erfaßt allerdings nur Haushalte mit einem monatlichen Einkommen bis zu 35 000 Mark, ignoriert also rücksichtsvoll die Superreichen. 40 Prozent der Geldvermögen, so das DIW, werden damit nicht erfaßt. Das unterste Zehntel der Haushalte besaß höchstens 4 000 Mark, die wohlhabensten sechs Prozent der erfaßten Haushalte nannten Rücklagen von mehr als 200 000 Mark ihr eigen, ihnen gehörte knapp ein Drittel des Gesamtvermögens. Neidisch sind wir, die tapferen Jungle-Kämpferinnen und -Kämpfer, jedenfalls nicht: Lieber arm, gesund und sexy als reich, fit und schön! | : | [] | webredaktion | 13.11.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/46/reiche-2000 |
|
Reputation und Tugendpfad | Man bekäme kaum mit, dass Wahlkampf ist, lockerte nicht die Linkspartei die Tristesse mit kurzweiligen Dissonanzen auf. Zweifellos glänzt sie auch mit berauschenden Harmonien. Als Oskar Lafontaine in Essen sagte, nichts sei mächtiger »als eine neue Idee, deren Zeit gekommen ist«, und im »rechten Spektrum« versammelten sich »verzweifelte Menschen«, die nur »aus Wut« manchmal falsch wählten, wurde er mit überwältigender Zustimmung zum Spitzenkandidaten der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen nominiert. Doch der Alltag ist voller Tücken. »PDS schluckt Wasg«, titelte die taz. Der Osten schluckt den Westen! Was war geschehen? Bayerische PDS-Genossen hatten weisungsgemäß den Vorsitzenden der Wasg, Klaus Ernst, auf Platz eins der Landesliste gesetzt, aber andere Kandidaten der Wasg durchfallen lassen. Da regte Ernst sich routiniert über den »Eklat« auf, statt zu sagen: Um Fairness geht es nicht! Die Wasg hat nur, aber immerhin, zwei Attraktionen zu bieten: Lafontaine für die Verdoppelung der Stimmen, und ein paar Sozialdemokraten und Professoren für die Verwischung des SED-Anstrichs und die Reputation. Der Rest ist Beiwerk, der noch entrümpelt werden muss. Man will sich schließlich nicht als Bewegung, sondern als deutsche Ordnungskraft profilieren. Für die Regierungsfähigkeit und die eurozentristische Ausrichtung der Nation gegen »Angloamerika« bedarf es einer loyalen Fraktion. Sofern Listen mit Basismenschen aufzufüllen sind, werden auf Parteidisziplin verpflichtete PDS-Genossen der wuseligen Westbasis grundsätzlich vorgezogen. Außerdem kann man nicht jedem gescheiterten Sozialdemokraten eine Karriere zusichern. Dass die PDS die Listen aufstellt und das Wahlgesetz ihr die Majorität zuschreibt, mag hilfreich sein, ist aber nicht maßgebend. In Hamburg soll es übrigens dem PDS-Kandidaten an Ansehen gemangelt haben. Spitzenplätze sind halt für die überprüfte Reputation und Disziplin reserviert. Die andere Querele schien überflüssig zu sein. Warum bot Lafontaine der SPD via Bild eine Koalition an? Es kommt darauf an, die Basis darauf einzustellen, dass die Partei eine normale Kraft im Regierungszirkus werden soll. Das »kleinere Übel« will Regierungsluft schnuppern. Je näher die Wahl rückt, desto mehr sagt die realpolitische Vernunft: Die CDU wird regieren, dann soll sie es mit der SPD tun. Denn die wird einiges blockieren, um ihr Image aufzupolieren. Man muss sie stärken, statt die Stimme zu verschenken. Auch darum will Lafontaine die Regierungsillusion wach halten. Aber die SPD müsse sich zuerst wieder auf »ihre Tradition« besinnen, sagen Lafontaine und Gysi. Ihr kategorischer Imperativ, die SPD habe mit Gerhard Schröder erst den Pfad der Tugend verlassen, verdient Beachtung. Er adelt Helmut Schmidt, und Attac jubelt. Der Wehrmachtsoffizier befahl der GSG-9, in Mogadischu das Flugzeug zu stürmen. Für die Staatsräson hätten die Urlauber draufgehen können wie Zivilisten an der Front. Die SPD sorgte für Todesschüsse, für Hochsicherheit, für den Verlust der Anwaltsrechte. Aber Hartz IV gab es unter Schmidt nicht. Auch nicht unter Helmut Kohl, doch der war kein Sozialdemokrat, und er begriff den Sozialstaat, die Nachfrage und sein Verständnis für NPD-Wähler nicht als mächtige neue Idee, deren Zeit gekommen sei. Rainer Trampert beobachtet für die Jungle World die letzten Tage von Rot-Grün. | Rainer Trampert | Rainer Trampert: | [] | webredaktion | 03.08.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/31/reputation-und-tugendpfad |
florian schmaltz | Interview mit der ehemaligen Siemens-Zwangsarbeiterin Waltraud Blass, deren Klage auf Entschädigung 1991 abgewiesen wurde | [] | https://jungle.world//autorin/florian-schmaltz |
||||
#20/2024 Die Produktion stockt - Weltweit sinken die Geburtenraten | Ihr Kinderlein, kommet! Selbst in Indien, dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, sinkt die Geburtenrate. Galt jahrzehntelang die Übervölkerung der Erde als drohende Katastrophe, ängstigt nun der Geburtenrückgang. Das Kapital fürchtet einen Arbeitskräftemangel an relevanten Standorten, rechtsextreme Parteien haben Angst vor dem Aussterben ihrer »Völker«, Konservative sorgen sich um die Zukunft der patriarchalen Familie. Paare fürchten hingegen die finanzielle Belastung, die ein Kind mit sich bringt, besonders Frauen sind besorgt, zwischen den hohen Ansprüchen der Arbeitswelt und der Optimierung des Nachwuchses zerrieben zu werden. Im dschungel läuft: Bissige Schwäne. In der Serie »Feud. Capote vs. The Swans« trauert Truman Capote seinen Freundinnen nach – obwohl er sie selbst verprellt hat. ET: 16.05.2024 | Die »Jungle World« ist eine überregionale linke Wochenzeitung aus Berlin. Am Kiosk, im Briefkasten oder online. | [] | https://jungle.world//shop/20/2024-die-produktion-stockt-weltweit-sinken-die-geburtenraten |
|||
Run for your life | Das britische Innenministerium weiß, was Terroristen brauchen. Eine Wohnung zum Beispiel. »Kommt Ihnen irgendein Mieter oder Gast verdächtig vor?«, werden die Bürger in der Antiterror-Broschüre »Vorbereitung auf Notfälle – Was Sie wissen müssen« gefragt, die im August an alle Haushalte verschickt wird. Wenn ja, soll der Bürger die Polizei alarmieren. Terroristen müssen auch einkaufen. »Wenn Sie Verkäufer sind, haben Sie irgendeinen Grund, Verdacht zu schöpfen über irgend etwas, das gekauft wurde?« Eher selten wird ein Terrorist an den Tresen treten und sagen: »Ich hätte gern zehn Kilo Plutonium und einen Wecker.« Aber vielleicht ist ja schon der Versuch, einen Wecker zu erwerben, ein »mögliches Zeichen des Terrorismus«. Da jede Flasche ein potenzieller Molotow-Cocktail ist, werden die Briten jetzt wohl auf Dosenbier umsteigen müssen, wenn sie einen Aufenthalt in Guantánamo umgehen wollen. Diverse Bedenkenträger behaupten, es sei den Bürgerrechten abträglich, wenn mit so vagen Kriterien zur Denunziation aufgefordert wird. »Lassen Sie uns entscheiden, ob die Information, die Sie haben, wertvoll ist«, entgegnet man ihnen in der Broschüre. Im Falle eines Anschlags scheint es die größte Sorge der Regierung zu sein, die Bürger vor den Straße zu holen. »Go in, stay in, tune in«, wird ihnen geraten. Der Bürger möge in ein Haus gehen, dort bleiben, Radio und Fernsehen einschalten und die Hinweise der Behörden beachten. Bei »besonderen Gelegenheiten« jedoch könne es ratsam sein, ein Gebäude zu meiden. Zum Beispiel wenn es in Flammen steht. Offenbar hat die Regierung keine allzu hohe Meinung von der Intelligenz ihrer Bürger. Wenn radioaktive Wolken durch die Stadt wabern oder Anthrax-Bakterien nach einer Milz suchen, ist es eine Dummheit, ihre Ankunft abzuwarten. Das meint auch jener Tom Scott, der eine leicht veränderte Version der Broschüre im Internet veröffentlichte, die auf Intervention der Regierung wieder aus dem Netz genommen werden musste. Sein wichtigster Ratschlag: »Rennen. Sehr, sehr schnell.« jörn schulz | Jörn Schulz | Jörn Schulz: | [] | webredaktion | 04.08.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/32/run-your-life |
ezgi ahçik | Der symbolische Konfliktstoff von ezgi ahçik | [] | https://jungle.world//autorin/ezgi-ahcik |
||||
georg kammerer | Weder bei Gott noch bei Adorno wird man Patentrezepte für das optimale Liebesleben finden. Wer die Idee der monogamen Zweierbeziehung fragwürdig findet, sollte nicht bei dieser Erkenntnis stehen bleiben, sondern sie in die Tat umsetzen und sich ans Experimentieren machen. von georg kammerer | [] | https://jungle.world//autorin/georg-kammerer |
||||
claudia goldner | <none> | [] | https://jungle.world//autorin/claudia-goldner |
||||
patrick eiden | Alfred Döblins monumentales Epos über die gescheiterte Revolution von 1918 schildert, wie die Chancen auf einen Neuanfang
verspielt wurden. | [] | https://jungle.world//autorin/patrick-eiden |
||||
Jungle World #07/1998 - Und jetzt alle: Arbeitslooos! | Im dschungel läuft: | Nicht französisch: Die deutsche Arbeitslosebewegung 12.02.1998 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/1998/07 |
||
ann stafford | Deregulierung total: Mit dem Multilateralen Abkommen über
Investitionen will die OECD eine weltweite Freihandelszone schaffen Eine studentische Initiative will das Berliner Sozialbündnis wiederbeleben <none> | [] | https://jungle.world//autorin/ann-stafford |
||||
»gruppe autonome antifa [f]« | Dass eine Unterstützung der Proteste gegen das iranische Mullahregime ausbleibt, verdeutlicht die antiimperialistische Blockade der antifaschistischen Linken in Deutschland. | [] | https://jungle.world//autorin/gruppe-autonome-antifa-f-0 |
||||
Befehl und Initiative | Mitte August 1941 beendeten die beiden Brigaden der Waffen-SS ihre ersten Einsätze im Pripjetgebiet und auf ukrainischem Territorium in der Region um Shitomir. Die Verwendung der Einheiten war unter der persönlichen Aufsicht Himmlers von langer Hand geplant worden. Vorgesehen waren beide SS-Verbände mit zusammen über 11 000 Mann für die weit interpretierbare »Befriedung« ausgedehnter Landstriche. Der eigentliche Schwerpunkt der Einsätze der Brigaden lag dabei ganz eindeutig auf der Vernichtung der jüdischen Zivilbevölkerung. Hierbei realisierten die Einheiten des Kommandostabes eine neue, fürchterliche Eskalationsstufe. Während die Einsatzgruppe B ihr Vorgehen Anfang August 1941 noch mit dem begrenzten Motiv definierte, »die jüdisch-bolschewistische Führungsschicht möglichst wirksam zu treffen« (1), ermordeten beide Verbände der Waffen-SS zu gleicher Zeit jüdische Männer, Frauen und Kinder in einem vorher nicht dagewesenen Umfang. Die 1. SS-Brigade tötete von Ende Juli bis Mitte August 1941 etwa 7 000 Jüdinnen und Juden jeden Alters. Die berittenen Schwadronen der beiden Reiterregimenter übertrafen diese Dimension noch um ein Vielfaches. Fegelein legte am 13. August ein schriftliches Resümee vor, in dem er die »Gesamtzahl der erschossenen Plünderer« mit 13 788 angab. (2) Tatsächlich müssen die Reiterschwadronen beider Regimenter zusammen jedoch ungefähr 25 000 Juden ermordet haben. Die SS-Brigaden wurden bei ihren Vernichtungsaktionen immer wieder von einheimischen Christen unterstützt. Sie boten ihre Mithilfe an, verrieten die Häuser der Juden, hoben Erschießungsgruben aus und gingen oft genug selbst noch auf die Jagd nach Juden, um die Bürger des gleichen Wohnortes, oftmals sogar die eigenen Nachbarn, dem sicheren Tod durch die SS-Einheiten auszuliefern. Solche Hilfsmaßnahmen der Einheimischen haben die Vernichtungsaktionen der Deutschen erheblich erleichtert und beschleunigt. Bei den Massakern der Brigaden wurden erstmals überhaupt neben jüdischen Männern systematisch auch Tausende von Frauen und Kinder ermordet. Damit markiert dieser Einsatz der Verbände des Kommandostabes den eigentlichen Auftakt zur Shoah in der Sowjetunion. Zu Recht haben Historiker darauf verwiesen, dass Ende Juli 1941 auch andere Einheiten zum Mord an jüdischen Frauen und Kindern übergingen. Allerdings erreichten weder die Einsatzkommandos 3, 9, 10a sowie 10b noch das Polizeibataillon 322 oder das Reservepolizeibataillon 45 während dieses Zeitraums auch nur annähernd jene Dimension des Massenmordes, die die Brigaden der Waffen-SS mit ihren Einsätzen in der ersten Augusthälfte in die Tat umsetzten. Mit den so radikal wie nie zuvor realisierten Erschießungen ließen diese Verbände auch die bisherigen Vernichtungszahlen der Einsatzgruppen oder der Bataillone der Ordnungspolizei weit hinter sich. Bis Ende Juli 1941 hatten die Einsatzgruppe C und die diversen Polizeieinheiten in Ostgalizien zusammen ungefähr 7 000 Menschen ermordet; die 1. SS-Brigade verwirklichte eine derartige Vernichtungsquote allein in den folgenden zwei Wochen. Im Bereich der Heeresgruppe Mitte konnte die Einsatzgruppe B im gleichen Zeitraum eine Mordbilanz von 11 084 Menschen präsentieren; die Mehrzahl von ihnen waren Juden. In den beiden Wochen darauf ermordeten allein die Reiterschwadronen der SS-Kavallerie mehr als doppelt so viele Juden. Das Vorgehen der einzelnen Einheiten des Kommandostabes bei der Realisierung der Massenmorde stellte sich als durchaus unterschiedlich heraus. Am radikalsten von allen eingesetzten Verbänden verfuhr die Reitende Abteilung des SS-Kavallerieregiments 1 unter dem Kommando Gustav Lombards. Dessen Schwadronen ermordeten in einem Gebiet von mehr als 4 000 Quadratkilometern Größe die gesamte jüdische Bevölkerung. In mehreren Kleinstädten wurden Gemeinden mit teils jahrhundertealter Geschichte komplett vernichtet und mit den Menschen wurde die traditionsreiche jüdische Kultur eines ganzen Landstrichs in wenigen Tagen ausgelöscht. Die in den Schtetl wohnenden jüdischen Männer, Frauen und Kinder wurden mit größtem Nachdruck verfolgt und erschossen. Vorerst verschont blieben nur die im Randbereich an den Nachschubstraßen gelegenen Orte. In aller Deutlichkeit schrieb Lombard dazu in seinem Abschlussbericht: »Die an der Rollbahn gelegenen Orte wurden auf Rückfrage zunächst ausgelassen, weil die Juden zur Zeit für den Arbeitsdienst an der Rollbahn herangezogen werden müssen. Die Entjudung wird wohl später durch die Polizei ausgeführt.« (3) Diese Reiterschwadronen waren die ersten Einheiten, die im deutschen Einflussbereich auf der Grundlage von organisiertem Massenmord ein Gebiet als faktisch »judenfrei« meldeten – eben als »entjudet«, wie Lombard sich ausdrückte. Die beiden Infanterieregimenter der 1. SS-Brigade legten eine davon abweichende Mordpraxis an den Tag. Zwar töteten sowohl die Männer des 8. als auch des 10. Regiments von Beginn an Juden und Jüdinnen, Erwachsene und Kinder, jedoch führten beide Verbände offenbar keine Totalliquidierungen jüdischer Gemeinden aus. In den mehrmals wechselnden Einsatzräumen im rückwärtigen Heeresgebiet Süd und im Operationsraum der 6. Armee ließen die SS-Männer einen Teil der arbeitsfähigen jüdischen Bevölkerung sowie zahlreiche jüdische Handwerker mit ihren Familien auf Verlangen der Wehrmacht noch am Leben. Am deutlichsten unterschied sich bei den bisherigen Einsätzen die Praxis der Reitenden Abteilung des 2. SS-Kavallerieregiments vom Vorgehen der übrigen Einheiten. Zwar erreichte Magills Abteilung die höchste Mordrate aller eingesetzten Teilverbände; seine Schwadronen legten die grundsätzlichen Instruktionen und Einsatzbefehle jedoch so eng aus, dass nach einem insgesamt zögerlichen Beginn von den Reitereinheiten des 2. Regiments fast ausschließlich Juden männlichen Geschlechts getötet wurden. Unter den Opfern waren allerdings wie in Pinsk auch viele Kinder. Die innerhalb der grauenvollen Gesamtbilanz deutlich differierenden Ergebnisse der einzelnen Einheiten resultierten aus der unverkennbaren Interpretierbarkeit der von höherer Stelle gegebenen Befehle und dem unterschiedlich stark ausgeprägten Interpretationswillen der einzelnen Kommandeure. Mit dem linearen und einseitigen Verhältnis von bloßem Befehl und Gehorsam ist der radikale Schritt zur »Endlösung« in der Sowjetunion, der sich mit dem Einsatz der beiden Brigaden des Kommandostabes Anfang August 1941 erstmals deutlich abzeichnete, nicht hinreichend zu beschreiben. Grundlage der Massenmorde dieser Verbände war vielmehr ein vielschichtiges Kommunikationsgeflecht zwischen impulsgebender Zentrale und handelnder Peripherie vor Ort. Himmler und letztlich auch Hitler formulierten immer wieder verschiedenartig auslegbare Anweisungen, bei denen sie selbst im voraus nie sicher sein konnten, wie die immanenten Entscheidungsspielräume ausgelotet und der eigentliche Wortlaut letztlich in die Tat umgesetzt werden würde. Wie bei jedem Radikalisierungsschritt in der deutschen Judenpolitik wurde schließlich auch bei der Ingangsetzung der Shoah in der Sowjetunion Neuland betreten. Auf dieser neuen Stufe der Vernichtungspraxis existierten schlicht noch keine Erfahrungswerte, und es war nicht vorhersehbar, welche Erfolge oder Widrigkeiten sich im Verlauf der Realisierung einstellen würden. Die Initiativen aus der Zentrale wurden mitunter direkt, oftmals aber auch vermittelt durch den Kommandostab oder die Höheren SS- und Polizeiführer an die Mordverbände weitergegeben. Dort hatten die Einheitsführer den Sinn der Anweisungen zu erfassen. Je radikaler Antisemitismus, nationalsozialistische Weltanschauung und die Bereitschaft, zivilisatorische Schranken durch persönliches Handeln niederzureißen, bei den einzelnen Kommandeuren verankert waren, desto schärfer fielen die Interpretationen der Anweisungen und die Versuche zu deren Umsetzung aus. Lagen dann erste Ergebnisse der Mordeinheiten vor, konnten Himmler, Knoblauch, Jeckeln oder Bach-Zelewski diese auswerten und in der Konsequenz Belobigungen aussprechen, ermuntern oder Nachbesserungen fordern. Die beschriebene Entscheidungsstruktur existierte längst nicht nur im Rahmen des Kommandostabes und der unterstellten Brigaden. Ihre Geltung entfaltete sich genauso in anderen Bereichen des SS-Apparats oder an anderer Stelle des nationalsozialistischen Systems im allgemeinen. So hatte Heydrich das gleiche Prinzip bereits im September 1939 hervorgehoben. An die in Polen operierenden Einsatzgruppen gerichtet, hatte er damals geschrieben: »Es ist selbstverständlich, dass die heranstehenden Aufgaben von hier in allen Einzelheiten nicht festgelegt werden können. Die nachstehenden Anweisungen und Richtlinien dienen gleichzeitig dem Zwecke, die Chefs der Einsatzgruppen zu praktischen Überlegungen anzuhalten.« (4) In ganz ähnlichem Sinn riet Göring Alfred Rosenberg während der Besprechung am 16. Juli 1941 bei Hitler, er als künftiger Reichsminister für die besetzten Ostgebiete dürfe »die eingesetzten Leute ja nun nicht ständig gängeln, sondern diese Leute müssten doch sehr selbstständig arbeiten« können. (5) Auf diese Weise musste sich die obere Entscheidungsebene um Hitler, Himmler und andere führende Nationalsozialisten gar nicht mit Detailfragen vor Ort befassen, statt dessen hatten die dortigen Entscheidungsträger die passenden Antworten zu finden. Im beständigen Wechsel zwischen lokalen, regionalen und zentralen Impulsen konnten auf diese Weise binnen relativ kurzer Zeit immer wieder effiziente Lösungen für den nächsten Radikalisierungsschritt in der deutschen Judenpolitik gefunden und unpraktikable Alternativen ausgeschlossen werden. Eine solche Struktur erklärt auch, warum Tagesmeldungen und Tätigkeitsberichten, also einer konstanten Kommunikation während des Einsatzes der SS-Brigaden, eine so eminent wichtige Bedeutung zukam. Die Höheren SS- und Polizeiführer, der Kommandostab und Himmler waren auf tägliche Meldungen der Verbände vor Ort angewiesen, um sich ständig ein Bild davon machen zu können, wie die Einsatzaufträge interpretiert und umgesetzt wurden. Nur dieser fortwährende Informationsfluss ermöglichte die von Himmler oder den Höheren SS- und Polizeiführern vorgenommenen Korrekturen. Nur so ergab sich auch die Möglichkeit eines adäquaten Reagierens auf etwaige Fehlentwicklungen, wie sie sich beispielsweise in den Tagesmeldungen des 2. SS-Kavallerieregiments abzeichneten. Wie vorher schon bei den Verbrechen in Polen richtete sich der Tenor des Gesamturteils nach der radikalsten Interpretation, die fortan auf einem neuen Niveau der Realisierung von Massenverbrechen den allgemein geltenden und von anderen Einheiten noch zu erreichenden Standard markierte. Reguliert wurde das gesamte System über den simplen, aber hochwirksamen Mechanismus von Anerkennung und Ablehnung. Lombard konnte sich für seine Auslegung der erteilten Anweisungen absolut bestätigt fühlen. Nachdem er die Reitende Abteilung auf ihrem Vernichtungszug durch das nordwestliche Pripjetgebiet geführt hatte, erfuhr er von seiner Ernennung zum Kommandeur des 1. SS-Kavallerieregiments. Den Offizieren der 1. SS-Brigade wurde dagegen deutliche Kritik Himmlers zuteil. Wenige Tage später wurde ihnen von Jeckeln offenbar nochmals die Aufforderung zu einem radikaleren Vorgehen vermittelt. Die deutlichste Ablehnung bekamen die Entscheidungsträger beim SS-Kavallerieregiment 2 zu hören, dessen Reitende Abteilung eine so evidente Abweichung von der Praxis Lombards gezeigt hatte. Nachdem unmissverständliche Aufforderungen zum Einschwenken auf eine radikalere Vernichtungspraxis nur bedingt gefruchtet hatten, wurde Magill als verantwortlicher Kommandeur der Abteilung prompt seines Postens enthoben. Regimentskommandeur Hierthes, dem es letztlich auch nicht gelungen war, die Reiterschwadronen seines Verbandes auf die Ermordung von jüdischen Frauen und Kindern einzuschwören, wurde am Tage nach Beendigung des ersten Einsatzes seines Regiments auf Veranlassung Himmlers ebenfalls versetzt. Übereinstimmung mit den antisemitischen Motiven Damit bleibt festzuhalten, dass die Einheitsführer, die bei den Einsätzen den mörderischen Inhalt der Anweisungen am weitesten interpretierten und am radikalsten umsetzten, primär nicht nur überzeugte Nationalsozialisten, treue Anhänger des »Führers« oder ehrgeizige Karrieristen der Waffen-SS waren. Ganz wesentlich waren diese Männer findige Offiziere, die den eigenen wahnhaften Antisemitismus bereitwillig in die Tat umsetzten. Diese SS-Führer realisierten eine neue Eskalationsstufe in der deutschen Judenpolitik, weil sie sich selbst überzeugt davon zeigten, dass es nunmehr das angemessene Ziel sei, möglichst alle sowjetischen Juden, egal ob Männer, Frauen oder Kinder, zu ermorden. Eine solche Übereinstimmung mit den Motiven des Massenmordes setzte sich innerhalb der einzelnen SS-Verbände des Kommandostabes bis zu den Mannschaftsdienstgraden fort. Nicht zuletzt war für das Gelingen des Einsatzauftrags der Brigaden deren Verhältnis zur Wehrmacht von eminenter Bedeutung. Solange die Waffen-SS sich nicht anschickte, die jüdischen Handwerker oder andere zur Zwangsarbeit bestimmte Juden zu erschießen, gestaltete sich das Verhältnis zu den Orts- oder Feldkommandanturen völlig unproblematisch. Die Vernichtungsaktionen der Waffen-SS wurden lediglich stillschweigend zur Kenntnis genommen. Wie in Zwiahel beim Transport der Juden mit Heereslastwagen zur Erschießungsstätte war die Wehrmacht mitunter auch tatkräftig beteiligt. Gerade wegen der engen Kontakte zu Wehrmachtsstellen und der generellen Verwendung in den unter Militärverwaltung stehenden Gebieten wurde die Judenvernichtung in der Berichterstattung der SS-Brigaden oder des übergeordneten Kommandostabes grundsätzlich als ein Aspekt ausgegeben, der wie selbstverständlich zum Kontext militärischer Sicherungsaufgaben gehörte. Die Wehrmacht schritt bis auf den Fall des augenscheinlich von der dortigen Ortskommandantur erzwungenen Abbruchs der Massenerschießungen in Ostrog nirgendwo gegen die ausufernden Morde ein. Vielmehr wurde im Zusammenhang mit dem militärisch nützlichen Aspekt des Erscheinens der SS-Brigaden letztlich sogar noch der damit einhergehende Massenmord positiv vermerkt. Schenckendorff, der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte, in dessen Befehlsbereich die SS-Kavallerieregimenter ihre Vernichtungsaktionen realisierten, biederte sich bei Himmler persönlich an und ließ ihm ein großes Lob für den Einsatz der SS zukommen. Der Oberquartiermeister des Kommandostabes berichtete dazu: »Gelegentlich einer Vorsprache des O.Qu. (Oberquartiermeister) beim Ib (Versorgungsoffizier) des Befehlshaber rückw. Heeresgebiet Mitte liess General der Inf. von Schenckendorf (sic) den O.Qu. zu sich bitten, um zum Ausdruck zu bringen, dass er aufrichtig bedaure, den Reichsführer-SS bisher noch nicht persönlich aufgesucht haben zu können. Er lege Wert darauf, dass der Reichsführer-SS erfahre, dass Einsatz und Verhalten der SS und Polizei bei Mitte seine volle Anerkennung finde und dass die Zusammenarbeit der Wehrmacht und Polizei ganz vorzüglich sei.« (6) Schenckendorff übernahm zudem gleich selbst das von der Kavalleriebrigade zur Legitimierung der Morde herangezogene Stereotyp von den Juden als Unruhestiftern und Unterstützern des Bolschewismus. In einem Bericht an das Oberkommando des Heeres schrieb der Wehrmachtsgeneral am 10. August 1941 über das Ergebnis des ersten Einsatzes der SS-Kavallerie, wegen der »Niederdrückung der Juden dürfte das Gebiet als befriedet angesehen werden«. (7) Das positive Verhältnis zu der SS-Truppe hatte bei Schenckendorff Tradition. Bereits 1940 hatte er sich als Besatzungsoffizier im polnischen Garwolin sehr anerkennend über das Vorgehen der dort stationierten Schwadron der damaligen Totenkopf-Reiterstandarte geäußert. (8) Nicht viel anders waren die Reaktionen auf das Vorgehen der 1. SS-Brigade im Bereich der Heeresgruppe Süd. Als Jeckeln der 6. Armee am 31. Juli 1941 das Ergebnis der »Säuberungsaktion« der Brigade übermittelte, verschwieg er keineswegs die Zahl der von der Waffen-SS ermordeten 1 658 Juden. Der Lagemeldung fügte Oberst Heim, der Generalstabschef der 6. Armee, eine kurze handschriftliche Notiz bei. »Herzlichen Glückwunsch«, kritzelte er neben das Gesamtergebnis der Brigade, das unverblümt den Massenmord an der jüdischen Zivilbevölkerung belegte. (9) Die einvernehmliche Haltung gegenüber den Mordkommandos der SS hatte für die Wehrmachtskommandeure aber auch seine Schattenseiten. Wie die aktive Teilnahme von Soldaten des Heeres an den Massenerschießungen des SS-Infanterieregiments 8 in Zwiahel oder die Präsenz zahlreicher Wehrmachtsangehöriger unter den Zuschauern während der öffentlichen Hinrichtung in Shitomir zeigten, hatte das Heer häufig genaue Kenntnisse von den Verbrechen der SS. Oft genug nahmen Soldaten auch freiwillig an den Erschießungen teil. Bei solchem Verhalten befürchteten die Militärs sicherlich nicht ganz zu Unrecht das Entstehen disziplinarischer Probleme innerhalb der eigenen Truppe. Reichenau erließ daher am 10. August 1941 einen Befehl, der die freiwillige Teilnahme sowie das Zuschauen und Fotografieren bei Erschießungsaktionen der SS verbot. Gleichzeitig ordnete er im Fall entsprechender Anfragen der SS die Bereitstellung von Absperrmannschaften für die Mordaktionen durch die jeweiligen Ortkommandanturen an. Wie weit Reichenau selbst dem Vorgehen der SS zustimmte, unterstrich er in dem Befehl durch eine Formulierung, die die Massenmorde als »notwendige Exekutionen an verbrecherischen, bolschewistischen, meist jüdischen Elementen« beschönigte. (10) Soldaten wie andere auch? In den Monaten nach den ersten Einsätzen der beiden SS-Brigaden dauerte deren Vernichtungspraxis weiter an. Bis Ende Dezember 1941 fielen den Verbänden des Kommandostabes noch mindestens 57 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer. Damit kamen etwa zehn Prozent der im Jahr 1941 in der Sowjetunion ermordeten Juden bei den Vernichtungsaktionen dieser Einheiten der Waffen-SS ums Leben. Die erst ab Anfang September in Nordrussland eingesetzte 2. SS-Brigade beging wegen ihres späten Einsatzbeginns dagegen keine Massenmorde an der jüdischen Zivilbevölkerung. Die Vernichtung der relativ kleinen jüdischen Gemeinden Estlands und Nordrusslands hatten bereits Kommandos der Einsatzgruppe A mit Unterstützung einheimischer Kollaborateure verwirklicht. Die bereits in Zivilverwaltung übernommenen Gebiete des Baltikums schieden als Operationsgebiet für die 2. SS-Brigade vereinbarungsgemäß von vornherein aus. Als die Wehrmacht den drei Brigaden ab Oktober 1941 aus Mangel an eigenen Truppen Gebiete zur längerfristigen Sicherung übertrug, geriet im Kontext der so genannten Partisanenbekämpfung zunehmend die gesamte sowjetische Zivilbevölkerung ins Visier der Verbände. Die Maßnahmen gipfelten in kollektiven Bestrafungsaktionen, bei denen Einheiten des Kommandostabes mehrere Orte zerstörten und deren gesamte Einwohnerschaft ermordeten. Schließlich bildete die Tötung von etwa 25 000 sowjetischen Kriegsgefangenen durch die 1. SS-Brigade im Winter den grauenvollen Abschluss der Verbrechen der Truppen des Kommandostabes im Jahr 1941. Damit hatten die drei Brigaden in den sechs Monaten ihrer Präsenz in den besetzten Gebieten der Sowjetunion mindestens 85 000 Menschen getötet. Die meisten Opfer waren Juden. Der Einsatz der SS-Brigaden und die Tätigkeit des Kommandostabes blieben auch längst nicht auf das Jahr 1941 beschränkt. Jedoch ging die Bedeutung des Stabes seit 1942 kontinuierlich zurück. Die SS-Verbände standen währenddessen weiterhin im Osten im Einsatz. Fast grundsätzlich wurde nunmehr bei Einsätzen im Rahmen der »Partisanenbekämpfung« ein großer Teil der gesamten Zivilbevölkerung ermordet und die Dörfer wurden niedergebrannt. Zu solchen mörderischen Großunternehmen unter Decknamen wie »Sumpffieber«, »Nürnberg«, »Weichsel« und »Seydlitz« wurden die SS-Kavallerie und die 1. SS-Brigade in den Jahren 1942 und 1943 immer wieder herangezogen. Im Zuge der Einsätze kam es unter dem Deckmantel der »Partisanenbekämpfung« zu umfangreichen Judenmorden. Einerseits richteten sich die Unternehmen direkt gegen Juden, die in die Wälder geflüchtet waren; zum anderen wurden im Verlauf solcher Einsätze Ghettos der jeweiligen Regionen vernichtet. Daneben waren Ersatzeinheiten der untersuchten Verbände in Polen direkt an der »Aktion Reinhard«, der Ermordung der polnischen Juden, beteiligt. Die Waffen-SS realisierte etliche Ghettoliquidierungen in den Distrikten Radom, Lublin und Krakau, in deren Verlauf die Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden. Alte und kranke Menschen ermordeten die SS-Soldaten direkt vor Ort. Darüber hinaus war die Ausbildungs- und Ersatzabteilung der SS-Kavallerie bei der Massendeportation der Warschauer Juden nach Treblinka im Sommer 1942 eingesetzt. Die gleiche Einheit stellte im April und Mai 1943 einen wesentlichen Teil des deutschen Personals zur Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto. Damit läßt sich allein anhand der wenigen untersuchten Verbände nachweisen, dass die Waffen-SS ganz maßgeblich an der Realisierung der Shoah in Ostmittel- und Osteuropa mitwirkte. Ökonomische Faktoren haben in der gesamten Darstellung über den Kommandostab und die SS-Verbände keine Rolle gespielt. Die nationalsozialistische Wirtschafts- oder Ernährungspolitik hat in den Quellen zum Kommandostab kaum eine Spur hinterlassen. Damit soll eine Relevanz wirtschaftlichen Kalküls bei der Realisierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik keineswegs bestritten werden. Im Gegensatz zu anderen Forschungsarbeiten misst die vorliegende Studie den ideologischen Motiven der Nationalsozialisten jedoch einen eindeutigen Vorrang gegenüber ökonomischen Zielsetzungen oder gar strukturellen Sachzwängen bei. Hätten sich die Vorstellungen mancher Wirtschaftsplaner grundsätzlich nicht auch als so hochkompatibel mit den antisemitischen und rassistischen Vernichtungsplänen der Nationalsozialisten erwiesen, wäre ihnen kaum die Möglichkeit zu deren Verwirklichung eingeräumt worden. Für das vorliegende Thema wurde die herausgehobene Bedeutung ideologischer Motive nicht zuletzt durch die soziale und politische Analyse des Personals der Brigaden und des Kommandostabes unterstrichen. Mannschaften und Unterführer der Brigaden stammten fast ausschließlich aus den beruflich unqualifizierten Bereichen der unteren Mittelschicht und der Unterschicht. Im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt war jedoch das klassische Industrieproletariat eindeutig unterrepräsentiert. Fast ausnahmslos alle Männer hatten durch ihre freiwillige Meldung zur Waffen-SS ihren Willen bekundet, Teil der propagierten militärischen und weltanschaulichen Elite zu sein. Er schloss ein klares Bekenntnis zum Nationalsozialismus ein. Nach den vorliegenden Zahlen war weit mehr als die Hälfte der SS-Soldaten Mitglied der NSDAP oder anderer Parteigliederungen. Damit ist der Terminus der »politischen Soldaten« hinreichend belegt. Das Gros der Brigadeangehörigen stand fest hinter der nationalsozialistischen Ideologie und identifizierte sich mit deren Zielen. Noch unumschränkter gilt ein derartiges Urteil für das Offizierskorps der untersuchten Brigaden und des Kommandostabes. Die SS-Führer kamen, im Gegensatz zu den unterstellten Mannschaften, aus den qualifizierten Bereichen der Mittelschicht und im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt sogar deutlich häufiger aus der Oberschicht. Die Älteren unter ihnen hatten ihren politischen Erfahrungshorizont als Weltkriegsteilnehmer und Freikorpskämpfer ausgebildet. Autoritäre Charakterstrukturen, gepaart mit extremer völkischer Gesinnung, dem Hass auf die Weimarer Demokratie sowie antisemitischen und rassistischen Einstellungen wurden ebenso von den Jüngeren unter den SS-Offizieren geteilt. Weit mehr als die Hälfte der untersuchten Personengruppe bewies diese politische Identität mit einem bereits vor 1933 realisierten Beitritt zur NSDAP. Über 40 Prozent der Männer waren vor der Machtübertragung an Hitler außerdem bereits in der Allgemeinen SS. In Form des weltanschaulichen Unterrichts absolvierten sowohl Mannschaften als auch Offiziere während ihrer Ausbildung bei der Waffen-SS eine spezielle Schulung, die ihnen das ideologische Rüstzeug der NS-Ideologie und der SS vermitteln sollte. Dabei bestand ein wesentliches Kontinuum des Unterrichts in der Vermittlung des Antisemitismus. Auf diesem Gebiet lehrten die Schulungsoffiziere die ganze Bandbreite der antijüdischen Weltanschauung des Nationalsozialismus. Wie sich in einigen Fällen belegen lässt, nahmen die SS-Männer die antisemitischen Hasstiraden begeistert auf. Während in keinem einzigen Fall Vorgänge nachweisbar waren, in denen SS-Männer wegen der Verweigerung einer Teilnahme an Judenerschießungen ernsthaft bestraft wurden, waren persönliche antisemitische Motive bei den »politischen Soldaten« verbreitet. Die nationalsozialistische Weltanschauung und die von den SS-Männern geteilten antisemitischen Projektionen hatten offensichtlich direkte Auswirkungen auf die systematischen Massenmorde, die die SS-Einheiten an den Juden begingen. Nach der deutschen Niederlage kehrten mehrere tausend Angehörige der SS-Verbände und des Kommandostabes in das Ursprungsland der Massenverbrechen zurück. Fast alle Männer fügten sich nach 1945 reibungslos und unauffällig in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft ein. Nachkriegsermittlungen westdeutscher Staatsanwaltschaften wegen der Massenverbrechen der Brigaden an den weißrussischen, ukrainischen und polnischen Juden setzten Anfang der sechziger Jahre ein. Für die allermeisten früheren Einheitsangehörigen bedeuteten die justiziellen Ahndungsversuche jedoch nur ein kurzes Zwischenspiel in ihrem Nachkriegsalltag. Im Zuge der Verfahren wurden weit über 2 500 frühere Einheitsangehörige der Brigaden vernommen. Trotz häufig erdrückender Beweislast gegen die Beschuldigten wurde die überwiegende Mehrzahl der Ermittlungen wieder eingestellt. Neben weitreichenden Mängeln in der Gesetzgebung und haarsträubenden Fehlbewertungen der Justiz trug das völlig reuelose Aussageverhalten der früheren Einheitsangehörigen zu dieser ernüchternden Bilanz entscheidend bei. Schließlich wurden nur acht Angeklagte in drei getrennten Gerichtsverfahren zu Haftstrafen verurteilt. Der Verfolgungsdruck auf die Täter der Waffen-SS erwies sich insgesamt als äußerst gering. So wird neben deren Bedeutung für die Ingangsetzung und die Fortführung der Shoah in Osteuropa am Beispiel des Kommandostabes und der Truppen der Waffen-SS auch deutlich, wie selten im Nachkriegsdeutschland eine Ahndung der Massenverbrechen erfolgte. Anmerkungen (1) Vgl. Ereignismeldung UdSSR 43 vom 5. August 1941, BAB, R 58/215. (2) Abschlussmeldung Kommandeur (Kdr.) SS-Kavalleriebrigade vom 13. August 1941, VUA, Kdostab/K 24, A 154. (3) Kommandeur Reitende Abteilung SS-Kavallerieregiment 1, Abschlussbericht II, BA-MA, RS 4/441. (4) Chef der Sicherheitspolizei an Kdr. Einsatzgruppen vom 21. September 1939, abgedruckt in: Müller, Klaus-Jürgen: Das Heer und Hitler, Stuttgart 1969, S. 668 f. (5) Vermerk Chef Partei-Kanzlei über Besprechung vom 16. Juli 1941, Internationaler Militärgerichtshof, Bd. 28, Nürnberg 1948, S. 91. (6) Tätigkeitsbericht Kommandostab/O.Qu., 11. bis 17. August vom 19. August 1941, VUA, Kdostab/K 5, A 30. (7) Befehlshaber rückwärtiges Heeresgebiet Mitte/Ia an Oberkommando des Heeres vom 10. August 1941, BA-MA, RH 22/227. (8) Kdr. 1. SS-Totenkopf-Reiterregiment, Stimmungsbericht vom 13. August 1940, VUA, 8. SS-KD/K 1, A 7. (9) Höherer SS- und Polizeiführer Russland Süd an Armeeoberkommando (AOK) 6 vom 31. Juli 1941, BA-MA, RH 20-6/110. (10) Befehl Oberbefehlshaber AOK 6 vom 10. August 1941, ebd., RH 20-6/757. Vom Autor gekürzter Vorabdruck aus dem Buch von Martin Cüppers: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939–1945. April 2005, 464 Seiten. Mit freundlicher Genehmigung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. Für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 39 Euro, sonst 59 Euro | martin cüppers | martin cüppers: | [] | Dossier | 13.04.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/15/befehl-und-initiative |
Ossis - zum Fressen gern | "Der Kanzler verspeist einen Ostsee-Aal und spült mit Lübzer Pils kräftig nach", schlagzeilte in der vergangenen Woche die Berliner Zeitung. Während Helmut Kohl auf der Düsseldorfer Einkaufsmesse für ostdeutsche Konsumgüter die Gräten im Halse stecken blieben und er sich früh am Tage eine Bierfahne ansoff - nichts also ist anders im Meck-Pommes-Land - servierten seine Regierungsmannen den Ost-Wirtschaftsministern eine bittersüße Nachspeise: Nicht wie geplant um 700 Millionen Mark, sondern nur um 200 Millionen werden im laufenden Jahr bereits zugesagte Bundesmittel für Investitionsförderungen in Ostdeutschland gekürzt. Dafür sollen ab 1999 die Mittel des Bundes für die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" (GA) für den Bundeshaushalt 200 Millionen mehr betragen als bisher im Bundeskabinett vorgesehen. Die aktuellen Kürzungen sollen dadurch erreicht werden, daß Mittel, die wegen geplatzter oder verschobener Investitionen nicht in Anspruch genommen werden, nicht für neue Projekte genutzt, sondern dem Bundeshaushalt zurückgeführt werden. Allerdings: Werden von Unternehmen mehr Zuschüsse angefordert als Geld in den Kassen der Wirtschaftsministerien der Ostländer ist, müssen sie sich ein Jahr begnügen - die Zahlungen werden einfach ins nächste Haushaltsjahr verschoben. Für das Land Brandenburg belaufen sich die Kürzungen auf rund 30 Millionen Mark, für Berlin auf zwölf. Ob es dabei bleibt, ist ungewiß. Schließlich muß der Kompromiß noch im Bundestag abgesegnet werden. Bundesfinanzminister Theo Waigel jedenfalls plusterte prompt die Backen auf: Mit ihm sei das nicht zu machen, so der oberste Kassenwart. Alles in allem keine rosigen Aussichten für den Osten. Von der sogenannten Aufholjagd - ein euphemistischer Begriff, bei dem lediglich das Wirtschaftswachstum bei völlig unterschiedlichem Ausgangsniveau der Wirtschaftskraft betrachtet wird - ist längst keine Rede mehr. Im vergangenen Jahr hat der Osten zwölf Prozent zur gesamtdeutschen Wirtschaftsleistung beigetragen, auf die Einwohnerzahl bezogen müßten es 20 Prozent sein; die Produktivität liegt bei 60 Prozent. Im Westen ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf fast doppelt so hoch wie im Osten. Das Wachstum im Westen ist mittlerweile höher als die mageren zwei Prozent im Osten, weil es hier keine boomende Exportindustrie gibt, die öffentlichen Haushalte Bauaufträge zurückfahren und die Konsumnachfrage stagniert. Letzteres dürfte kaum überraschen, liegen doch die Osteinkommen bei gerade mal 72 Prozent des Westniveaus, die offizielle Arbeitslosenzahl erhöhte sich im Osten in diesem Sommer auf fast 20 Prozent, während sie im Westen leicht sank. Selbst der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, kann nicht umhin, in der Beschäftigung "eine zunehmende Schieflage zwischen dem alten und dem neuen Teil des Bundesgebietes" zu konstatieren. Hier wollen die ostdeutschen Bundestagsabgeordneten der SPD zur großen "Aufholjagd" ansetzen. Dazu müsse ein "Entwicklungskonzept Ost" her, das den bisherigen Förderdschungel ablösen solle, so Sprecher Rolf Schwanitz. Dieses Konzept sieht zunächst einmal institiutionelle Veränderungen vor: Um den Absatz von Ostprodukten im Westen zu verbessern, müsse eine Exportorganisation geschaffen werden; die Ausschreibungen der öffentlichen Hand müsse eine gemeinsame Agentur übernehmen. Darüber hinaus fordern die Sozis eine Art neuen Minister: Im Bundeskanzleramt sollte eine "Zentralstelle Aufbau Ost" im Rang eines Kabinettmitglieds errichtet werden. Zur Finanzierung des Ganzen müsse der Solidaritätszuschlag beibehalten werden; außerdem sollte das, was Bonn 1999 in Brüssel spart, u. a. in Brandenburg ausgegeben werden. Die geringeren Netto-Zahlungen an die Europäische Union ab 1999 müßten dem "Aufbau Ost zugute kommen", so Schwanitz. Daß Kohls PR-Aktion und Schwanitz' Ideen ein wenig Grün in die industrielle Wüstenlandschaft im Osten bringen - das darf getrost bezweifelt werden. Schon jetzt macht der Anteil der - volkswirtschaftlich gering geschätzten - Konsumgüterindustrie ein Drittel der ostdeutschen Industrieproduktion aus. Mit Eberswalder Würstchen und Radeberger Pils, Grabower Küßchen und Cottbusser Keksen lassen sich vielleicht einfache Bedürfnisse befriedigen - Wirtschaft, weder Plan- noch Markt-, aber läßt sich damit nicht machen. Eine Förderung solcher Branchen steigert vielmehr die - politisch gewollte - Abhängigkeit von ökonomisch stärkeren Regionen. Ein paar Großprojekte wie in Leuna - auch catedrali nel deserto, Kathedralen in der Wüste, genannt - ändern daran nichts, sondern bestätigen die Regel. Während aber in Süditalien wenigstens die (touristische) Sonne auf ein durchaus blaues Meer scheint, hat die Ost-Natur kaum was Interessantes zu bieten - wenn nicht gerade die Oder schwappt. | Richard Rother | Richard Rother: | [] | webredaktion | 11.09.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/37/ossis-zum-fressen-gern |
gabrielle cody | Für Annie Sprinkle gehören Kunst und Pornografie zusammen. Von Gabrielle Cody | [] | https://jungle.world//autorin/gabrielle-cody |
||||
Tschland! Tschlaaand! Tschlaaaaand! | Das Dossier in seiner ganzen Pracht gibt es natürlich nur in der Print-Ausgabe zu bewundern. (http://jungle-world.com/abo) | johannes raether | johannes raether: | [] | Dossier | 12.07.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/28/tschland-tschlaaand-tschlaaaaand |
Schöne Grüße aus Kabul! | I want to wake up in a city that never sleeps
And find I'm king of the hill
Top of the heap These little-town blues are melting away
I'll make a brand new start of it
In old Kabul,
If I can make it there I'll make it anywhere
It's up to you, Kabul, Kabul | : Wertkritik und Praxis I: Unsere Leute in Afghanistan | [] | webredaktion | 19.09.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/38/schoene-gruesse-aus-kabul |
|
Kritische Astrologie | Das Ende vom Ende ist leider kein Anfang. Angeblich leben wir ja in einer Phase der Postdemokratie, in der das Sprechen über Politik die Politik verdrängt oder gar ersetzt – was aber wiederum demokratisch total gewollt und nötig ist, | [] | https://jungle.world//tags/kritische-astrologie |
||||
Gastbeitrag von Florian Markl: Besiegeln Frauen Erdoğans Schicksal? | Uferpromenade in Izmir, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken Vor den am 14. Mai stattfindenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei ist die Ausgangslage spannend wie schon lange nicht mehr: Noch nie seit der Machübernahme der AKP vor mehr als zwanzig Jahren hatte die Opposition so gute Aussichten, einen Machtwechsel herbeiführen und der Ära von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Ende bereiten zu können. Das Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, die Währung hat massiv an Wert verloren, und auch wenn die Inflationsrate seit Spitzenwerten von über achtzig Prozent im Sommer letzten Jahres in den vergangenen Monaten gefallen ist, lag sie im März immer noch bei über fünfzig Prozent. Das verheerende Erdbeben Anfang Februar, bei dem über 50.000 Menschen ums Leben kamen, hat die Krise noch einmal verschärft. Und auch politisch sieht es für Erdoğan nicht gut aus: Das Oppositionsbündnis hat mit Kemal Kılıçdaroğlu einen aussichtsreichen Kandidaten, und dass die pro-kurdische HDP keinen eigenen Kandidaten ins Rennen ums Präsidentenamt schickt, hat die Chancen Kılıçdaroğlus noch weiter steigen lassen. Demgegenüber sind im Regierungslager deutliche inhaltliche und personelle Erschöpfungserscheinungen zu beobachten. Ob die zahlreichen fantastischen Versprechen, die Erdoğan bei seinem Wahlkampfauftakt gemacht hat, ausreichen, um die Stimmung im Land zu drehen, darf bezweifelt werden, zumal völlig unklar ist, wie sie je finanziert und umgesetzt werden können. Ein Beobachter sprach treffend von einer »Tayyip-im-Wunderland-Ökonomie«, die Erdoğan in Ankara vor jubelnden Parteigängern präsentiert habe. Dem Präsidenten und seiner AKP droht zudem Ungemach aus einer Bevölkerungsschicht, auf die er bei seinen bisherigen Wahlerfolgen hatte zählen können: Die erzkonservative und von vielen als zunehmend frauenfeindlich betrachtete Politik der AKP und ihrer rechtsextremen und islamistischen Partnerparteien droht viele der Frauen zu verprellen, auf deren Stimmen Erdoğan angewiesen ist. Dass die Regierung jetzt sogar das erst 2012 einführte Frauenschutzgesetz zur Disposition stellen könnte, mit dem die Bestimmungen der Istanbuler Konvention zum Schutz der Frauen in nationales Recht umgesetzt wurden, sorgt sogar für Widerstand langjähriger AKP-Politikerinnen. So etwa bei Özlem Zengin, einst enge Beraterin Erdoğans und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AKP im türkischen Parlament, die sich klar gegen die Abschaffung des Frauenschutzgesetzes ausgesprochen hat – und seitdem eine regelrechte Hetzkampagne gegen sich aus dem eigenen Lager erlebt. Rund 30 Millionen Stimmen brauche Erdoğan, um sich im Amt halten zu können, rechnet Zengin vor, mindestens zehn Millionen davon müssten von Frauen kommen. Doch einer aktuellen Umfrage zufolge wollen nur rund 69 Prozent der Frauen, die 2018 noch die AKP gewählt hatten, auch dieses Mal für die Erdoğan-Partei stimmen, fast acht Prozent dürften direkt zur oppositionellen CHP von Kılıçdaroğlu wechseln. Die AKP, die bisher stets die Spitzenposition unter den Wählerinnen erringen konnte, soll diesen Platz einer anderen Umfrage zufolge an die CHP verloren haben – und das war noch bevor die AKP für die bevorstehenden Wahlen ein Bündnis mit zwei islamistischen, frauenfeindlichen Parteien geschlossen hat. Die Popularität Erdoğans unter den Wählerinnen scheint bisher noch nicht so stark gelitten zu haben wie jene der AKP, aber fehlende Stimmen von Frauen könnten einer der Puzzlesteine sein, die ihn die Macht kosten könnte. Der Journalist Ruşen Çakır, der ein Buch über die Frauen in der AKP geschrieben hat, gibt zu bedenken: »Wenn Frauen zweifeln, nicht wählen und keine Wähler an die Urnen holen wie früher, wird die Wahl für Erdogan eine politische Katastrophe.« Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch | Gastbeitrag von Florian Markl | [] | Von Tunis nach Teheran | https://jungle.world//blog/von-tunis-nach-teheran/2023/04/besiegeln-frauen-erdogans-schicksal |
||
Geschäfte gut entwickelt | Einen Minister für Exportförderung gibt es nicht. Aber es gibt Carl-Dieter Spranger (CSU). Und der hätte den Titel redlich verdient, wie eine Studie des ifo-Instituts belegt. Im Auftrag Sprangers fanden die Wirtschaftsforscher heraus, daß die Entwicklungshilfe "volkswirtschaftlich weniger gekostet hat, als sie an Erträgen gebracht hat". 80 Prozent der Gelder, die Entwicklungsländer zur Finanzierung von Projekten zur Verfügung gestellt würden flössen als Aufträge unmittelbar nach Deutschland zurück. Ein Ergebnis, auf das der CSU-Mann stolz ist, aber er hat noch mehr zu bieten. Bei der Vorstellung der Studie vergangene Woche ergänzte der Minister: Deutschland sei der drittgrößte Lieferant für Entwicklungsprojekte der Weltbank. Den deutschen Einzahlungen von einer Milliarde Mark hätten 1997 Aufträge an deutsche Firmen für 1,5 Milliarden Mark gegenübergestanden. Spranger ist Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. | : | [] | webredaktion | 16.09.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/38/geschaefte-gut-entwickelt |
|
Lob des Luxus | 1. »Stalinismus« war lange Zeit ein Schlagwort im Kalten Krieg der bürgerlichen Ideologen mit dem autoritären Staatssozialismus, welches dem Antikommunismus einen moralischen Anstrich verlieh. In den postnazistischen Gesellschaften Österreich und Deutschland war der Hass auf den Stalinismus auch eine Form des Anti-Antifaschismus. An Stalin hasste man nicht seinen Verrat an der Revolution, sondern seine Rolle im »Großen Vaterländischen Krieg«, also seinen Beitrag zur Niederringung des Nationalsozialismus. Um von den über 20 Millionen von Deutschen und Österreichern dahingemetzelten Sowjetbürgern nicht reden zu müssen, sprach man vom totalitären System des Stalinismus, das mit seinen Arbeitslagern, die zwar gut zur Faschismusvorstellung der traditionellen Linken passen, aber mit dem Irrationalismus der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie nichts gemein haben, dem NS eng verwandt sei. »Stalinismus«, dieses Schlagwort ermöglichte es, vom Totalitarismus zu schwadronieren, ohne über die Totalität des Kapitals reden zu müssen. Wer aber über Totalitarismus redet, muss von der Totalität der Warengesellschaft sprechen, in die auch der Realsozialismus als Staatskapitalismus einerseits und als Bestandteil der warenproduzierenden Weltgesellschaft andererseits eingebettet war. Die bürgerliche Totalitarismustheorie, über deren Horizont auch George Orwell mit seinen Vorstellungen von einem »demokratischen Sozialismus« nur selten hinauszublicken vermochte, müsste, nach einer Bemerkung von Jürgen Elsässer aus einer Zeit, in der er noch nicht den Einsager für Israel- und USA-Hasser in der Friedens- und Antiglobalisierungsbewegung gegeben hat, vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Sozialistische und kommunistische Bestrebungen tendieren gerade dann zur totalen Herrschaft, wenn sie bürgerliche Vergesellschaftungsformen wie Staat, Nation und Wert adaptieren, also wenn geglaubt wird, man könne diese Vergesellschaftungsformen für die eigenen emanzipativen Zwecke dienstbar machen, wie es etwa im Gerede von der »sozialistischen Warenproduktion« und der »planmäßigen Anwendung des Wertgesetzes« zum Ausdruck kam. Wie Elsässer vor zehn Jahren richtig bemerkte, tendiert die bürgerliche Gesellschaft nicht zum Totalitarismus, wenn sie kommunistische Elemente in sich aufnimmt, sondern die sozialistisch-kommunistische Gesellschaft tendiert zum Totalitarismus, wenn sie bürgerliche Elemente in sich aufnimmt. Mit der Übernahme des wertverwertungsimmanenten Produktivitätsideals hat der Sozialismus sich die Vorstellung vom Schaffenden einerseits und dieses Schaffen zersetzenden Kräften andererseits zu eigen gemacht – und damit den Antisemitismus geradezu abonniert. Dieser Antisemitismus resultiert aber nicht aus der kommunistischen Kritik im Marxschen Sinne, sondern gerade aus der Ignoranz gegenüber dieser Kritik. Linke tendieren nicht deswegen zum Antisemitismus, und sie begegnen Israel nicht deswegen mit Hass, Misstrauen oder Indifferenz, weil sie zu radikal wären, sondern weil sie zu wenig radikal sind. 2. In der Stalinismuskritik des Filmes »Animal Farm«, der in den fünfziger Jahren zur gleichen Zeit entstand, als in Moskau die »Ärzteprozesse« stattfanden, bei denen sechs Juden und drei weitere Angeklagte unter anderem als »Agenten des Zionismus« unter Anklage standen, findet der Antisemitismus keinerlei Beachtung. »Animal Farm« von John Halas und Joy Batchelor ignoriert in seiner Stalinismuskritik aber nicht nur den Stellenwert des Antisemitismus in den realsozialistischen Gesellschaften. Der Film bleibt über weite Strecken selbst einer Denkart verhaftet, die nie und nimmer etwas zu einer Emanzipation wird beitragen können. Es wird nicht einfach Herrschaft kritisiert, sondern die Herrschaft der dekadenten, in Luxus schwelgenden, trinkenden Führungselite wird im Namen des ehrlich arbeitenden, sich in Abstinenz übenden Volkes kritisiert. Unterschwellig richtet sich die Kritik gegen den Luxus selbst, der doch das ganze Ziel einer ernsthaften kommunistischen Bestrebung sein müsste. Man stößt sich, ähnlich wie in den heutigen Bewegungen der Sozialneider, nicht daran, dass nicht alle gleichermaßen am Luxus partizipieren können, sondern daran, dass es nicht allen gleich schlecht geht. Und bei solch einer Denkfigur, welche die stalinistische Vergötterung der schaffenden Arbeit in die Kritik am Stalinismus übernimmt, ist es kein Wunder, dass das antisemitische Stereotyp zumindest in dezenter Ausprägung auch bei »Animal Farm« nicht fehlt. Man denke nur an die Figur des Bempel, einen auf das Geld fixierten, sich nicht um die Allgemeinheit scherenden Händler, der mit schlafwandlerischer Sicherheit mit einer Physiognomie ausgestattet wurde, wie sie Antisemiten für Juden reserviert haben. 3. Der Stalinismus hat den Wunsch nach Befreiung von Staat und Kapital zu einer sonderbaren Vorstellung werden lassen. Das aber ist kein Grund, von der Kritik zu lassen. Auch der Film »Animal Farm« endet ja durchaus optimistisch, obwohl offen bleibt, ob die erneute Rebellion der Unterdrückten gegen die im Schwein Napoleon verkörperte stalinistische Herrschaft am Ende des Films nun auf die tatsächliche Emanzipation zielt oder auf eine liberale, sozialstaatliche Demokratie. Das kann man sich aussuchen, was wohl einiges zum Erfolg des Films beigetragen hat. Den im Hintergrund agierenden Produzenten ging es allerdings keineswegs um eine Verteidigung des Gedankens der radikalen Kritik an Staat und Kapital gegen den Stalinismus, sondern um ein Progagandainstrument im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, der in den fünfziger Jahren auch ein Kampf gegen linksliberale Intellektuelle in den USA war. Nach George Orwells Tod bemühte sich die CIA bei der Witwe um die Filmrechte für »Animal Farm«. Und Sonia Orwell trat die Rechte unter der Bedingung an den US-amerikanischen Geheimdienst ab, einmal Clark Gable treffen zu dürfen. Die CIA beauftragte den sowohl propaganda- als auch kunstfilmerprobten Produzenten Louis de Rochemont, und der engagierte, nicht zuletzt aus Misstrauen gegenüber den sich im Visier des Kommunistenfressers McCarthy befindenden amerikanischen Filmschaffenden, das britische Paar John Halas und Joy Batchelor. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, ob das von der literarischen Vorlage abweichende Ende im Film dem Wunsch von Halas und Batchelor nach einem optimistischen Ausblick oder der Einflussnahme der CIA geschuldet ist. Bemerkenswert und ganz im Sinne der CIA ist jedenfalls, dass am Ende des Films die Menschen, die das kapitalistische System repräsentieren, nicht mehr vorkommen. Orwell schließt mit einer Kritik an den stalinistischen Schweinen, die von den kapitalistischen Menschen nicht mehr zu unterscheiden seien. Diese Ununterscheidbarkeit wird im Film nur mehr in einer kurzen Sequenz thematisiert, und der Aufstand findet dann nur mehr gegen den Stalinismus statt. Das sagte den US-amerikanischen Regierungsstellen so zu, dass sie den Film mittels der United States Information Agency auf der ganzen Welt verbreiten ließen. 4. Der Stalinismusbegriff dient heute Trotzkisten, Leninisten und verwandten Sozialdemokraten zur Abgrenzung. Lenin und Trotzki auf der einen und Stalin auf der anderen Seite sollen das jeweils ganz Andere gewesen sein. Und selbstverständlich gibt es diese Unterschiede, auch und gerade, was den Antisemitismus angeht. Lenins Theorie, insbesondere seine Imperialismustheorie, weist zwar strukturelle Ähnlichkeiten zum antisemitischen Weltbild auf, aber – und das sollte man heutzutage durchaus hervorstreichen – keine inhaltlichen. Stalin hingegen hat nicht nur in seinen Kampagnen gegen Kosmopolitismus und Zionismus den Antisemitismus als politisches Herrschaftsmittel eingesetzt, sondern war dem antisemitischen Wahn dermaßen verfallen, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach kurz vor seinem Tode die Deportation aller sowjetischen Juden nach Sibirien plante. Doch bei allen offensichtlichen Unterschieden – für seine Kritik autoritärer Herrschaft hätte Orwell, der in seiner Buchvorlage die Russische Revolution bis 1924 durchgängig idealisiert, nicht der Erfahrungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg und der stalinistischen Sowjetunion bedurft. Ein Hinweis auf die bolschewistische Niederschlagung des Kronstädter Aufstands als ein Beispiel von vielen für den Terror gegen die linke Opposition hätte vollauf gereicht. 1921 hatten bekanntlich in Kronstadt, unweit des revolutionären Zentrums Petrograd, Arbeiter und Soldaten einen wie auch immer widersprüchlichen, in seiner Zielrichtung aber eindeutig emanzipativen Aufstand gegen die bolschewistische Herrschaft angezettelt. Sie forderten Dinge wie Rede- und Pressefreiheit für »Anarchisten und linkssozialistische Parteien«, einen »neuen sozialistischen Entwurf gegen die Staatsbürokratie« und »Alle Macht den Räten – nicht den Parteien«. Lenin und Trotzki antworteten auf den Aufstand von etwa 4 000 Matrosen mit Denunziationen und einer Streitmacht von 50 000 Mann, die allen linksradikalen Kritikern der Bolschewiki vor Augen führen sollte, wer im neuen Russland das Sagen hat. 5. Kritik des Stalinismus wirft immer die Gewaltfrage auf. Stalinismuskritik bürgerlicher Provenienz zielt stets nicht nur auf die Gewaltexzesse der nachholenden Akkumulation in der Sowjetunion, sondern auf die Delegitimation von revolutionärer Gewalt überhaupt – und, vor allem in Österreich und Deutschland, auf die Delegitimation des antifaschistischen Befreiungskampfes der Roten Armee. Stalin sagte 1931: »In höchstens zehn Jahren müssen wir jene Distanz durchlaufen, um die wir hinter den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus zurück sind. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt.« Die Sowjetunion hat das, gerade durch die Anwendung des stalinistischen Terrors, geschafft. Stalin hatte in diesem Punkt Recht: Hätten Führung und Bevölkerung das nicht geschafft, wären sie von der deutschen Wehrmacht vernichtet worden. Gerhard Scheit streicht das Dilemma einer jeden Stalinismuskritik vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus heraus, wenn er in »Die Meister der Krise« schreibt: »Was immer über die alternativen Möglichkeiten zu Stalins Politik diskutiert werden mag – isoliert darf sie nicht betrachtet werden. Ohne Akkumulation und Industrialisierung hätte Nazideutschland Russland zermalmt. Indessen sollte die ›Stalinorgel‹ den deutschen Wehrmachtssoldaten einen Begriff davon geben, was diese Industrialisierung zu leisten imstande war.« 6. Eine Kritik an Staat und Kapital zum Zwecke der allgemeinen Emanzipation müsste sich heute vor allem gegen den Stalinismus in der Theorie richten. Lenins Dogmen haben in der Form des vom Stalinismus zur Legitimationsideologie erhobenen Marxismus-Leninismus, der sehr viel mehr ein Engelsismus als ein Marxismus war, nicht nur Einfluss auf die ML-Linke gehabt. Zwar ist der Marxismus-Leninismus schon zu Zeiten seiner Kanonisierung von Linkskommunisten angegriffen und später in der Kritischen Theorie in Grund und Boden kritisiert worden. Man denke etwa nur an die Schriften von Räte- und Linkskommunisten wie Paul Mattick und Willi Huhn oder an Theodor W. Adornos Ausführungen zur Erkenntnistheorie. Dennoch scheint der ML heute in der Linken allgegenwärtig zu sein, sei es in Form der barbarischen Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, mit der man sich besonders gerne mit Hamas und Hisbollah verbrüdert; sei es in einer Imperialismusvorstellung, die von einer Globalisierung und Modifizierung der Wertverwertung kaum reden möchte, aber antikommunistischen und antisemitischen Massenmördern wie Saddam Hussein, im Vergleich zu denen Orwells Diktatoren wie Humanisten erscheinen, fest die Treue halten; sei es in Parteiaufbaukonzepten und Avantgardevorstellungen, deren Kritik man heute am liebsten Humoristen und Satirikern überlassen würde; oder sei es in erkenntnistheoretischen Überlegungen zu einer »Widerspiegelungstheorie«, die schon in ihrer Leninschen Fassung von der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie gänzlich unberührt geblieben ist und in ihrer stalinistischen, ebenso autoritären wie positivistischen Fassung zum Gegenentwurf zur materialistischen Ideologiekritik, zur Kritik des real-abstrakten Fetischismus der kapitalen und staatlichen Vergesellschaftungsweise geworden ist. 7. Statt einer Aufnahme der Fetischkritik, die bei Marx zugleich eine Kritik der strukturellen Verfasstheit der Warengesellschaft und des Bewusstseins der Individuen, die in dieser Gesellschaft leben, ist und in der gezeigt wird, wie gesellschaftliches Bewusstsein und gesellschaftliches Sein miteinander korrespondieren, sich gegenseitig hervorbringen und bedingen, findet sich bei Lenin mit der Widerspiegelungstheorie, die dann im ML zur kanonisierten Erkenntnistheorie avancierte und neben der Lehre von der Naturdialektik zum zentralen Bestandteil des auf Herrschaftslegitimation abzielenden Sowjetmarxismus wurde, ein theoretischer Entwurf, der nicht nur hinter die Marxsche Fetischkritik, sondern sogar noch hinter die Hegelsche Logik und selbst noch hinter Kant zurückfällt und daher als vorkantische Ontologie hinreichend gekennzeichnet ist. Die gesamte Ideologie-, Bewusstseins- und Erkenntniskritik von Marx schrumpft bei ihm, wie es später sowohl Gerog Lukács und die Kritische Theorie als auch Antonio Gramsci kritisierten, auf eine der Optik entlehnte, mechanistische, eine starre Trennung voraussetzende Metapher zusammen. In Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« heißt es ebenso lapidar wie blöde: »Das gesellschaftliche Bewusstsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein – darin besteht die Lehre von Marx.« Während für die Widerspiegelungstheorie das Bewusstsein einfach nur, wie es bei Lenin heißt, »das Abbild des Seins, bestenfalls sein annähernd getreues Abbild (ist)«, hat Marx in der Wert- und Fetischkritik sehr viel umfassender versucht zu thematisieren, warum das Bewusstsein der Subjekte in der wertförmig konstituierten Warengesellschaft falsch ist, warum es notwendig falsch ist und warum es daher zugleich richtig ist, warum das Bewusstsein nicht einfach ein Abbild der Wirklichkeit, sondern immer ein verkehrtes und damit als Praxis auch verkehrendes Bewusstsein ist, ein für die Warensubjekte selbst richtiges Bewusstsein von einer scheinbar natürlichen, naturgegebenen Gesellschaft, das vor dem Hintergrund der Wertformanalyse und dem Marxschen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes Wesen ist, als falsches Bewusstsein von einer falschen Gesellschaft dechiffriert werden kann. Während in der Marxschen Waren- und Wertformanalyse die Subjekte nur scheinbar abwesend sind, existiert bereits in Lenins Widerspiegelungs- oder Abbildtheorie eine Tendenz zum Objektivismus. Zum vollendeten Dogma wird diese Tendenz, Erkenntnis auf eine bloße Verdoppelung der Realität im Bewusstsein herunterzubringen, bei Stalin, bei dem das Subjekt aus der Theorie endgültig verschwindet und Bewusstsein – egal ob in der fetischisierten kapitalistischen Warenproduktion oder im Sozialismus – immer nur ein mehr oder weniger gelungenes Nachvollziehen des ohnehin vonstatten gehenden objektiven historisch-gesellschaftlichen Prozesses ist. Ging es Marx noch darum, dass sich die Menschen von den in der kapitalistischen Gesellschaft als objektive und überhistorische Gegebenheiten erscheinenden (wenn auch in der Praxis real existierenden) ökonomischen Zwängen befreien, postuliert Stalin die Gegebenheit der ökonomischen und gesellschafltichen Gesetze in Parallelität zur Naturwissenschaft als übergesellschaftlich, unabhängig von allem menschlichen Handeln und Bewusstsein. Während man die Leninsche Theorie noch als verfälschende Vereinfachung oder Verflachung der Marxschen Ideologie- und Erkenntniskritik bezeichnen könnte, mutiert die Widerspiegelungstheorie bei Stalin zum genauen Gegenteil der Marxschen Fetischkritik und ist – um im Jargon der MLer zu bleiben – ein getreues Abbild, eine Widerspiegelung des stalinistischen Antihumanismus in der Theorie. 8. Eine frühe Kritik an Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« lieferte der Linkskommunist Anton Pannekoek. Dennoch wäre es falsch zu behaupten, der westeuropäische Linksradikalismus, wie er von Pannekoek, Herman Gorter, der Gruppe Internationaler Kommunisten und anderen repräsentiert wurde, hätte sich gerade bei der Rezeption der Marxschen Wert- und Fetischkritik vom Leninismus grundlegend unterschieden. Die Differenzen zwischen Linkskommunisten und Bolschewisten lagen vornehmlich auf einer anderen, vor allem praktisch-politischen Ebene. Ausnahmen stellten dabei lediglich Karl Korsch dar oder auch Georg Lukács, der aber nur mit Einschränkungen in die linkskommunistische Tradition eingereiht werden kann. Auch Rosa Luxemburg stand zwar in zahlreichen Fragen in Opposition zu Lenin und dem Leninismus, und ihre Krisentheorie gibt heute sehr viel mehr her als die Leninsche Imperialismustheorie, aber auch bei ihr findet sich nur eine sehr traditionalistische Interpretation der Marxschen Wertkritik. Bei Trotzki findet sich ebenso wie bei Lenin keine Fetischkritik. Anlässlich der Verurteilung der Kronstädter Revolte meinte Trotzki zwar, die Arbeiteropposition sei »mit gefährlichen Parolen hervorgetreten. Sie hat aus den demokratischen Prinzipien einen Fetisch gemacht«. Drei Jahre später führte Stalin, nicht zuletzt gegen Trotzki und seine Anhänger gewendet, aus, »dass die Opposition mit ihrer zügellosen Agitation für die Demokratie, die sie oft zu etwas Absolutem macht und zum Fetisch erhebt, die kleinbürgerliche Elementargewalt entfesselt«. In beiden Fällen wird der Fetischbegriff nicht im Sinne der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, sondern im alltagssprachlichen Sinne von Überschätzung und Überbewertung gebraucht. Das gilt auch für Stalins famose Behauptung, nach der die Kommunistische Partei der Sowjetunion frei sei »von einer fetischistischen Einstellung zu ihren Führern«. Sowohl Trotzki als auch Stalin ziehen den Fetischbegriff zur Legitimation der Parteidiktatur heran. Gerade in Hinblick auf Stalin kann man Ulrich Erckenbrecht zustimmen, der einmal meinte: »Zu dem Prinzip des Führerfetischismus passt, dass die Führer selbst wenig vom Fetischismus begreifen.« Auch wenn von einer Fetischkritik im Marxschen Sinne bei Trotzki keine Rede sein kann, findet sich in »Verratene Revolution« eine kurze, durchaus auf eine Rezeption der Marxschen Fetischkritik verweisende Notiz. Es handelt sich dabei aber nur um einen kurzen Ausflug in die Wertkritik, der zudem ähnlich wie die meisten Äußerungen Lenins zur Marxschen Fetischismusanalyse recht oberflächlich bleibt. Und so ist denn auch der Trotzkismus bis heute eine der am deutlichsten auf den Klassenkampf fixierten und eine Huldigung der Arbeit postulierenden Richtungen in der Arbeiterbewegung geblieben. Der Trotzkismus trifft sich darin mit der klassischen sozialdemokratischen Theoriebildung etwa eines Franz Mehring, dem neben Karl Kautsky wohl wichtigsten Vertreter der deutschen marxistischen Orthodoxie, der sich später den revolutionären Spartakisten annäherte. Seine Absage an alle »philosophischen Hirnwebereien« gilt als symptomatisch für einen Marxismus, der die erkenntnis- und bewusstseinskritischen Implikationen der Marxschen Fetisch- und Wertkritik nie reflektiert hat und daher in den Bewusstseinsformen der Subjekte in der Warengesellschaft nur ein aus der ökonomischen Basis abgeleitetes Phänomen sah, das kaum einer eigenen Untersuchung wert sei. Sowohl der Leninismus als auch die Sozialdemokratie waren gezwungen, die Fetischismuskritik und damit auch die Ideologiekritik im Marxschen Werk zu ignorieren. Dem Leninismus wäre die Legitimationsideologie für sein repressives, mit der Waren- und Geldlogik keineswegs konsequent brechendes Herrschaftssystem abhanden gekommen. Der Sozialdemokratie hätte bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Marxschen Wert- und Fetischkritik bewusst werden müssen, dass ihre Politik wie auch ihre Zielvorstellungen mit der Gesellschaftskritik von Marx, auf den man sich im sozialdemokratischen Milieu damals noch beziehen musste, nicht viel gemein hat. Statt Ideologiekritik zu praktizieren, haben daher Leninisten wie Sozialdemokraten, der dogmatische Marxismus wie der Revisionismus, die Orthodoxie wie die vermeintliche Häresie die eigene Theorie zur Ideologie erhoben. Die ausschließlich negative Konnotation des Ideologiebegriffs ist damit verlorengegangen, und viele Linke wollen noch heute im »ideologischen Kampf« »ihre Ideologie« gegen die bürgerliche durchsetzen. Die bürgerliche Ideologie wird dabei nicht mehr wie noch bei Marx in der Kritik der politischen Ökonomie als notwendig falsches Bewusstsein verstanden, sondern nur mehr als Schein, als Betrug, als bewusst eingesetztes Herrschaftsmittel, als Manipulationsinstrument »der Herrschenden« gegen »die Beherrschten«. Marx hat mit seiner Wertanalyse, mit seiner Kritik des Fetischismus und der Verdinglichung eindrücklich nachgewiesen, dass die Integration der Arbeit ins Kapitalverhältnis bereits im Begriff des Kapitals angelegt ist. Zugleich hat er, wenn auch mit einigen Brüchen, an seiner schon vor der Kritik der politischen Ökonomie entwickelten Theorie der proletarischen Revolution weitgehend festgehalten. Grundlage dieses festen Glaubens war unter anderem eine wie auch immer widersprüchliche Konstruktion oder auch Übernahme einer Ontologie der Arbeit. Gerade diese Arbeitsontologie, die bei Marx selbst noch durch eine Kritik der Arbeit und eines überhistorischen Arbeitsbegriffs konterkariert wird, wurde vom traditionellen Marxismus, von Engels über Hilferding, von Lenin bis Mehring, von der Sozialdemokratie bis zum Stalinismus übernommen, wohingegen die Wertformanalyse und die Fetischkritik weitgehend ignoriert wurde. Diese Ignoranz, diese Depotenzierung der Marxschen Theorie, die Beraubung dieser Theorie um ihren kritischen Stachel, der sich nicht gegen die Kapitalistenklasse, sondern gegen Klassen überhaupt, nicht gegen das Kapital im Namen der Arbeit, sondern gegen Kapital und Arbeit als Ausdruck des Wertverhältnisses, nicht gegen bestimmte Erscheinungsformen der kapitalistischen Konkurrenz wie die bei Lenin im Zentrum der Kritik stehenden Monopole, sondern gegen die warenförmige Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft richtete, dieser historische Angriff auf die Marxsche Kritik des Kapitals ist selbst ein Hinweis auf die Richtigkeit der Marxschen Kritik. Soll die bürgerliche Gesellschaft aus dem Wert- und Kapitalbegriff heraus begriffen werden, so muss auch die Entwicklung der Kritik dieser Gesellschaft mit dem Wert- und Kapitalbegriff in Zusammenhang gebracht werden. Es wäre eine materialistische Erklärung der Fehlentwicklungen des Materialismus notwendig, die zeigen müsste, dass diese Fehlentwicklungen aus dem Gegenstand der Kritik des Materialismus selbst resultieren und daher auch keine Fehlentwicklungen im Sinne von relativ zufälligen Irrtümern sind. Das, was die Arbeiterbewegung in den meisten ihrer Ausprägungen nach Marx zu bieten hatte, war kein einfaches Missverständnis der Marxschen Kritik, auch wenn dieses Missverständnis vielleicht die Voraussetzung dafür war, sondern die Ratifizierung dessen, was im Begriff des Kapitals bereits angelegt war, von der arbeitsmetaphysischen Seele in Marx’ Brust, wie Stefan Breuer bemerkt, »jedoch stets wieder zugunsten einer Ontologie der Arbeit zurückgenommen wurde: dass der Kapitalismus zwar das Proletariat produzierte, aber eben auch sein Proletariat, das noch dort, wo es sich scheinbar gegen das Wertverhältnis wandte, nur zu dessen Universalisierung beitrug«. 9. Seit einiger Zeit steht ein sozialdemokratisch-christlicher Reformmarxismus samt seiner antisemitischen und faschistischen Implikationen in den postnazistischen Demokratien wieder hoch im Kurs. Große Teile der Linken setzen zunehmend wieder auf dessen radikalisierte Variante: den Leninismus samt eines als konsequente »Interessenpolitik« ausgegebenen Klassenkampfs. Damit wird man über einen staatsfetischistischen Juristensozialismus ebenso wenig hinauskommen wie über die diversen Ausprägungen eines wert-, geld- und preisidealistischem Mathematikersozialismus, der nie auf die Abschaffung einer Ökonomie zielt, die auf der Wertförmigkeit der Arbeitsprodukte beruht. Der Kommunismus wäre aber nicht eine revolutionierte Berechnungs- und Verteilungspraxis, sondern der Bruch mit der Wertlogik. Es geht ihm nicht um eine Diktatur von Menschen über Menschen, sondern um eine Diktatur des Willens und der Wünsche der Menschen über die sachlich-materiellen Bedingungen ihres Daseins. Materialistischer Kritik geht es darum, gesellschaftliche Zustände zu schaffen, die es den Menschen erstmals ermöglichen, ihr Leben selbstbewusst, das heißt jenseits der Verwertungs- und Herrschaftsimperative von Staat und Kapital, zu planen. Es geht also um die Abschaffung der Warengesellschaft. Wer aber von der Abschaffung der Warengesellschaft redet, muss die Möglichkeit ihrer barbarischen Aufhebung thematisieren. Daher kann es nicht mehr um eine Kritik des Stalinismus wie die des George Orwell gehen. Notwendig ist eine Kritik der heutigen Linken, die sich anschickt, in einem mal ideellen, mal aber auch ganz praktischen Bündnis mit Nazis und Islamisten und mit den Regierungen der Old-Europe-Staaten unter Führung Deutschlands zur Vorhut eben solch einer barbarischen Aufhebung zu werden. Kritik an Staat und Kapital hätte sich heute nicht in erster Linie über die Gefahren autoritärer Führerpersönlichkeiten bewusst zu sein (auch wenn man die diversen Möchtegernlenins, -trotzkis und -stalins nicht unterschätzen sollte), sondern über die Gefahr eines Antikapitalismus, der von Marx fast gar nichts, von der deutschen Ideologie aber fast alles sich zu eigen gemacht hat. Der Stalinismus hat den Staatssozialismus für alle Zeiten diskreditiert, nicht aber eine Kritik an Staat und Kapital, die auf den Kommunismus im einzig emanzipativen Sinne zielt, also der Herstellung der Möglichkeit individuellen Glücks als absoluter Gegensatz zum völkischen Identitätswahn. Schaut man sich die realexistierende Linke heute an, so hat man das Gefühl, dass sie von der Kritik der politischen Ökonomie gar nichts, vom Stalinismus und vom nationalen Sozialismus aber jede Menge gelernt hat. Und so übt sie auch keine Kritik, sondern hegt ihre Ressentiments, die von einem Film wie »Animal Farm« eher bedient als destruiert werden. Diese Ressentiments richten sich gegen Zivilisation und Individualität, gegen Intellektualität, Abstraktheit, Künstlichkeit und Liberalität, gegen Ausschweifung und Freizügigkeit. Literatur: Heinz Abosch: Trotzki-Chronik. Daten zu Leben und Werk. München 1973 Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1992 Jürgen Elsässer: Ehrbarer Antisemitismus? In: Wolfgang Schneider/ Boris Gröndahl (Hg.): Was tun? Über Bedingungen und Möglichkeiten linker Politik und Gesellschaftskritik. Hamburg 1994 Bodo v. Greiff: Über materialistische Erkenntnistheorie und Emigration. In: Leviathan, Nr. 3, 1986 Stefan Breuer: Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse. Frankfurt a.M. 1977 Ulrich Erckenbrecht: Das Geheimnis des Fetischismus. Grundmotive der Marxschen Erkenntniskritik. Frankfurt a.M., Köln 1976 Stephan Grigat: »Bestien in Menschengestalt«. Antisemitismus und Antizionismus in der österreichischen Linken. In: Weg und Ziel, Nr. 2, 1998 Michail Heller/ Alexander Nekrich: Geschichte der Sowjetunion. 2 Bd., Frankfurt a.M. 1985 Wladimir I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Werke, Bd. 14, Berlin 1968 Marx-Engels-Werke, Berlin 1988 ff. Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Berlin 1990 Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Berlin 1960 Clemens Nachtmann: Krisenbewältigung ohne Ende. Über die negative Aufhebung des Kapitals. In: Stephan Grigat (Hg.): Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen Faschismus. Freiburg 2003 Oskar Negt: Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie. In: Abram Deborin/ Nikolai Bucharin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. Frankfurt a.M. 1969 Anton Pannekoek u.a.: Marxistischer Antileninismus. Freiburg 1991 Gerhard Scheit: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand. Freiburg 2001 Gerhard Scheit: Suicide Bombing. Über die neuen Formen des Antisemitismus – und ihren Zusammenhang mit den alten. In: Context XXI, Nr. 8/2002-1/2003 Josef W. Stalin: Werke. Berlin 1952 ff. Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? Essen 1996 Laurence Zuckerman: How the Central Intelligence Agency Played Dirty Tricks With Our Culture. In: New York Times. March 18, 2000, www.common dreams.org/headlines/031800-02.htm Stephan Grigat ist ab dem 16. Januar in der BRD auf Vortragsreise. Informationen unter www.cafecritique.priv.at | Stephan Grigat | Stephan Grigat: | [] | Dossier | 12.01.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/02/lob-des-luxus |
Jagdszenen aus Ostdeutschland | Ein Mann soll nicht Weiberkleider antun; denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel. Deuteronomium 22, 5 Wenn es dunkel wird in Quellendorf, verwandeln sich die Häuser in Festungen. Selbst das örtliche Eiscafé weist mit seinen geschlossenen Jalousien unkundige Kunden ab. Serienmörder geht nicht um - mit sechzehn Diebstählen im ersten Halbjahr ist die Kriminalität geringer als in einer Klosterschule. "Das ist eben unser flaches Land hier", sagt ein Kripobeamter fast bedauernd. Die Rollos bieten Schutz vor einer anderen Gefahr: "Man sitzt sonst auf dem Präsentierteller", erläutert Hans-Joachim Schieferhöfer, der sich als "Chef der Eisdiele" vorstellt. Die anderen sehen viel und reden noch mehr; allzu schnell ist man Thema. "Erblickt-werden heißt, sich als unbekanntes Objekt unerkennbarer Beurteilungen erfassen", schrieb Jean-Paul Sartre. Michaela Lindner muß sich darüber keine Gedanken machen, denn sie weiß recht gut, wie sie von vielen beurteilt wird: Als "Schande fürs Dorf". Die Resonanz in der Dorfzeitung, wie der Tratsch genannt wird, war nicht immer so. Noch vor zwei Jahren machten bei der Bürgermeisterwahl mehr als 60 Prozent ihr Kreuz bei Lindner. Damals trug sie mit Schnurrbart und Bierbauch noch die Hoheitszeichen der Männlichkeit und nannte sich "Norbert". Die Probleme begannen, als sie 20 Kilo abnahm und die Haare unter der Nase entfernte. Von den Jahren der Verdrängung, die davor lagen, erzählt sie ebenso anschaulich wie freimütig. Vor ihr sitzen der 60. und der 61. Interviewer; Nummer 62 und 63 werden erwartet. "Ich weiß schon lange, daß ich nicht bin, was ich darstellen muß", sagt sie. Nach unerquicklichen schwulen Experimenten dämmert ihr, daß sie schlicht keine Lust hat, "als Mann durch die Gegend zu wackeln". "Aber das ist ja leider etwas anderes, als es zu akzeptieren. Ich habe mich statt dessen mit meiner Droge betäubt - Arbeit." Fast zehn Jahre hält sie durch, bevor sie in der Frankfurter Transen-Szene in die Lehre geht. "Die haben mir viel beigebracht: Laufen, Sprechen, Anziehen." Die kindliche Lernphase nach der zweiten Geburt dauert nur einige Monate. Im Moment scheint sich die Bürgermeisterin im Stadium eines Teenies zu befinden - alles ist neu und spannend. Kichernd erzählt sie von Kleidungseinkäufen und davon, wie sie zum ersten Mal als Frau angebaggert wurde. Die Pubertät wird, wenn mit Epilation, Sprecherziehung und Operation alles plangerecht läuft, in zwei Jahren abgeschlossen sein. Der Lernbedarf von Michaela Lindner ist anfangs groß: "Völlig überschminkt" und in Klamotten, "die keine Frau anziehen würde", verläßt sie die Raststätte auf der Autobahn nach Frankfurt. Irgendwann wird sie von einem "ziemlich heruntergekommenen Typen" um ein Bier angehauen. "Dafür habe ich den armen Tropf vollgesabbelt. Nach zwei Stunden hat er zum ersten Mal etwas gesagt: 'Entweder du ziehst dieses Kleid nie wieder aus, oder ich komme in zwei Jahren zu deiner Beerdigung.'" Wieder daheim, informiert sie die andere Frau Lindner. Die nimmt es gelassen, besteht aber darauf, "alles langsam anzugehen". Es folgen Familienausflüge in andere Städte, wo die jugendlichen Töchter entscheiden, welche Kleider sie in Mamas Kabine schleppen. "Alles, was die ausgesucht haben, ist gut angekommen", lobt die Eingekleidete. Der endgültige Anstoß zum Coming-out ereignet sich fast so filmreif wie die Initialzündung am Main: Ein Lied im Transen-Musical "La Cage aux folles" bereitet Lindner ihr Damaskus-Erlebnis. "Mensch, war ich bekloppt: Im Anzug im Theater!" Sie kramt nach der CD. Während sich das Lied zwischen Schrankwand, Hochzeitsfoto und Strukturtapete ausbreitet, singt sie leise mit: "Wen stört es, daß ich Federn liebe, Glanz und Glitter, ich brauch's, sonst wär mein Leben trüb und bitter." Den Journalisten auf dem Kunstledersofa geht das Herz auf. Die wichtigste Zeile? "Ich will kein Lob, ich will kein Mitleid", sagt sie und ist dabei so sehr tapfere Frau, daß sich Hillu Schröder vor Neid unpäßlich fühlen müßte. Zur zweiten Aufführung in Dessau geht sie in adäquater Kleidung. Im zwanzig Kilometer entfernten Quellendorf heißt es nun, der Bürgermeister sei im Kleinen Schwarzen gesehen worden. "Dabei war das gar nicht das Kleine Schwarze", wundert sich Michaela Lindner. "Wir haben ihn dann im Gemeinderat aufgefordert, zu seinem merkwürdigen Verhalten Stellung zu beziehen", erzählt der parteilose Adolf Hecht. "Er hat eine gute Familie proklamiert und plötzlich - wir hatten ja keinen Fasching - tritt er in Frauenkleidung auf." Das Gremium einigt sich darauf, die Medien herauszuhalten, in der Sommerpause über die Situation nachzudenken und im September gemeinsam über den Umgang mit dem Phänomen zu entscheiden, das weder neu, noch besonders ungewöhnlich ist: Der römische Kaiser Eliogabal forderte für sich den Respekt einer Kaiserin und soll eine Selbstkastration versucht haben. Im konservativen Carterton, Neuseeland, wurde 1993 der ehemalige Mann Georgina Beyer zur Bürgermeisterin gewählt, und in diesem Jahr wurde Jacqui Grant, die "Tranny Granny" der Insel, in ein Gemeindeparlament geschickt. Eine Bürgermeisterin in Ostdeutschland nimmt derzeit männliche Hormone, sein Coming-out ist nur eine Frage der Zeit. Lindner spricht, wie in der Sitzung am 29. Juni verabredet, mit den Dorfbewohnern. Im Jugendclub fragen die Kids nach der richtigen Anrede. "Machen wir es einfach: Nennt mich Michi", antwortet Lindner, ohne zu ahnen, daß der Vize-Bürgermeister Uwe Pforte versuchen wird, einen Skandal aus dem Duzen zu machen. Im Juli bringt die Bild-Zeitung den ersten Artikel. Zwei Wochen später wird die Bürgermeisterin schriftlich informiert, daß ein Abwahlantrag gegen sie vorliegt. "Die haben weder die Sommerpause abgewartet, noch mit mir geredet. Da war ich der Meinung, daß die Abmachung nicht mehr gilt." Lindner beginnt, mit der Presse zu reden, die seit Wochen nervt. Für die Medienleute ein Geschenk: Sie ist nicht nur eine begnadete Geschichtenerzählerin, die zwischen Sachinformation, Anekdote und philosophischer Reflexion zu wechseln vermag, sondern sie ist nach dem Schritt ins neue Geschlecht auch gnadenlos offen und spart intime Details nicht aus. Die Journalisten mögen das und honorieren es mit ihren Beiträgen. Bei der nächsten Gemeinderatssitzung im September kommt nur die Hälfte der Schaulustigen aus dem Dorf, der Rest aus Redaktionen. "Das war wie eine Hexenjagd. Am schlimmsten war, daß sich der Bürgermeister nicht äußern durfte", erinnert sich der Ratsherr Erich Faßhauer, ein dynamischer Rentner, der seit 61 Jahren in Quellendorf lebt. Ebenso überflüssig wie eine Beteiligung Lindners an der Diskussion findet der Gemeinderat eine Begründung der Abwahl. Uwe Pforte: "Der Beschluß erfolgte auf der Grundlage des Paragraphen 61 der Gemeindeordnung und bedarf keiner Begründung." Eine entsprechende Vorschrift war bislang unnötig - der Abwahlantrag ist der erste in der Bundesrepublik ohne eine Erklärung. Von den acht Ratsmitgliedern stimmen nur Faßhauer und Anna-Maria Stephan (PDS) gegen den Umsturz. Eine Abstimmung der 767 Wahlberechtigten wird auf den 29. November gelegt. "Warum sollte ich aufgeben? Vielleicht würde ich die Bürger enttäuschen", sagt Lindner. Wenn sie am kommenden Sonntag ihren Posten verlieren sollte, will sie vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Für den Fall, daß die Klage scheitert, hat sie die Auswanderung geplant. "Es gibt Länder die toleranter sind: Schweden, Norwegen, Holland", hofft Lindner. Glaubt man der Tutzinger Anwältin Maria Sabine Augstein, Deutschlands erster Adresse, wenn es um die Rechte von Transsexuellen geht, ist die Emigration wahrscheinlich. Zu einer Anfechtung der Abwahl hat Augstein "eine ganz klare Meinung": "Das hat nicht die geringste Chance." Natürlich, da besteht Einigkeit im Rat, ist nicht die Transsexualität der Auslöser. "Wir wußten nicht einmal, was das Wort bedeutet", argumentiert Adolf Hecht. Auf einen plausiblen Grund konnten sich die Volksvertreter jedoch nicht einigen. Der Bauausschuß-Vorsitzende Hecht sagt: "Der Grund ist sein Ausbrechen aus unserer Gemeinschaft in den Medienrummel." Der stellvertretende Bürgermeister Pforte sagt: "Er hat Aufträge und andere Sachen festgelegt, wo es eigentlich Gemeinderatsbeschlüssen bedurft hätte." Das klingt einigermaßen gut, ist aber auch nicht der erste Versuch, eine Erklärung zu finden. Ein ganzen Kataloghaben die Zeitungen - selbstverständlich verfälscht - schon zitiert: Lindner habe die "Würde verloren", "sein abnormes Verhalten" verunsichere die Bürger, "er" habe einmal von 1 180 statt von 1 048 Einwohnern gesprochen, man wolle keinen "kranken Bürgermeister", "er" habe Jugendlichen das Du angeboten. Und so weiter. Die Journalisten mögen auch das. In ihren Artikeln halten sie sich streng an das Bild, das sich ihnen bietet. Läßt man eine Suchmaschine das Internet nach dem Begriffspaar Quellendorf + Lindner durchforsten, kann man zwischen Artikeln in allen wichtigen europäischen und einigen anderen Sprachen wählen. Ob auch die Aussage eines Dorfbewohners übersetzt wurde, daß es Transsexualität bei Pferden und Schweinen auch nicht gebe, ist unbekannt. Möglicherweise fand die Information, welche Lebewesen in Quellendorf soziale Normen setzen, nur nationale Verbreitung. "Die Medien verkaufen die Quellendorfer für dumm. Man braucht doch nur zwischen den Zeilen zu lesen: 'Die sind Bauernpinkel, die haben keinen Geist.' Nee, nee, wir haben einen guten Geist", findet Schieferhöfer. Transsexualität sei "jedem seine Sache", er werde Lindner aus anderen Motiven abwählen. "Der hat uns von Anfang an getäuscht. Der ist gar kein Quellendorfer, wie geschrieben wird, sondern aus Wolfen", weiß der Eisdielen-Boß. "Der hat sich ins gemachte Nest gesetzt. Das einzige, was er geschaffen hat, war ein Feuerwehrgerätehaus und der Jugendclub." "Und sich selbst", ergänzt sein Kumpel. Eine Frau wird gegen Michaela Lindner stimmen, weil die mehrmals nicht telefonisch erreichbar war, eine andere aus Rücksicht auf die älteren Bürger: "Die haben Probleme, 'Frau Bürgermeister' zu sagen." Der Crashkurs in Medienkommunikation hat Früchte getragen: Eckhard Spanier von der "Bürgerinitiative zur Abwahl des Bürgermeisters" spricht gar nicht mehr mit Journalisten, und die meisten anderen können Abwahlgründe nennen, ohne den Identitätswechsel zu erwähnen. Einigen Anteil daran haben die Flugblätter der Gemeinderäte um Lindners möglichen Nachfolger Pforte, die in sämtlichen Briefkästen landeten: "Mit Frechheit und Aggressivität fielen die Medien über das Dorf und seine Einwohner her. Lindner (...) witterte das Geschäft. Lindner hat aus seiner angeblichen Krankheit das gemacht, was eines Bürgermeisters nicht würdig ist, nämlich ein Geschäft aus reiner privater Profitgier. (...) Seine Transsexualität ist wirklich seine ureigenste PrivatangelegenheitÖ" Vorsichtshalber wird dennoch eifrig im Dreck gewühlt: "Er wurde von der Bevölkerung als PDS-Mitglied mit einer intakten Familie gewählt. Noch im April 1998, kurz vor der Landtagswahl wurde diese intakte Familie mit Lorbeer bedacht in einer Tageszeitung vorgestellt. Diese heile und intakte Familie, in der ein idealer männlicher Landtagsabgeordneter geschildert wurde, war damals schon eine Unwahrheit." Der beste Beweis, daß es nicht ums Geschlecht geht, wäre natürlich, daß Lindner gar nicht transsexuell ist. "Das wird hier viel bezweifelt", sagt Vize Pforte. "Denn er hat sehr viele Schulden, und da behaupten böse Zungen, daß er das nur macht, um abzukassieren." Er wisse von Exklusivverträgen und Geld. In der Tat sprach Lindner anfangs exklusiv mit Pro 7, um, wie sie sagt, "die anderen Sender abwimmeln zu können". Geld war nicht im Spiel, sieht man vom branchenüblichen Spesenausgleich ab. "Das waren ein paar Mark fuffzig, irgend etwas im unteren dreistelligen Bereich", sagt ein Pro 7-Mitarbeiter. Der zweite Vertrag wurde mit stern-TV abgeschlossen. Auch für den Auftritt in Günther Jauchs Jahresrückblick werden, teilt die Redaktion mit, lediglich Spesen für die Anreise gezahlt. Aber solche Details spielen keine Rolle. Daß ein Reporter der Bild-Zeitung auf einer Gemeinderatssitzung erklärte, der erste Tip sei nicht von Lindner gekommen, hindert Hecht bis heute nicht daran, das Gegenteil zu behaupten, um die Absetzung zu begründen. Er hat bessere Quellen: "Das ist uns zugespielt worden, so wie uns viel in letzter Zeit zugespielt wurde." Auch Lindners Familie wurde viel zugespielt, häufig telefonisch: "Sag deinem Vater, dem blöden Schwein, er soll sich ins Knie ficken!" Frau und Töchter sind inzwischen ins benachbarte Köthen gezogen; nach dem Transsexuellengesetzes (TSG) wäre eine Trennung ohnehin unausweichlich gewesen. "Meine Frau hat wieder ein funktionierendes Leben. Mein Leben ist nicht funktionierend. Das ist scheiße", sagt Lindner. "Ich habe meine Freunde und meine Arbeit verloren, meine Familie ist weg, mein Auto, das war ein Dienstwagen, bin ich auch los." Das Bauplanungsbüro, in dem die Diplomingenieurin angestellt war, kündigte ihr nach der Diät wegen "Umstrukturierungsmaßnahmen" - der Firma, versteht sich. Arbeitslosengeld gibt es nicht, da Lindner für den Bürgermeisterjob tausend Mark erhält. Moralische Unterstützung bringen die Briefe, die sie seit denersten Medienberichten bekommt, über hundert sind es inzwischen. So sitzt sie nun mit dem siebenfachen Östrogenwert einer Schwangeren im leeren Haus und resümiert: "Das einzige, was mich richtig ärgert, ist, daß ich das nicht zehn Jahre früher gemacht habe." Was spätestens nach der fünften Unterhaltung mit Bürgern auffällt, ist - neben der Tatsache, daß oft das Flugblatt wiedergegeben wird - die maßlose Aggression, die zutage tritt und bisweilen in unverhohlene Gehässigkeit abgleitet. Die Augen werden schmal und die Stimmen schneidend bei Sätzen wie "Frau Lindner hat sich unter Zeugen offenbart, wie schlecht es ihr geht unter der Herrschaft ihres Mannes. Aber die Familie Lindner ist ja intakt! Die Frau ist ja nun gottseidank ausgezogen." Der individuelle Frust scheint endlich ein Ventil gefunden zu haben. Natürlich gibt es auch Leute wie Bärbel Gräfe, die für Lindner stimmen wird und findet, "daß er, oder man muß ja jetzt 'sie' sagen, ganz schön viel hat einstecken müssen". Aber die sind selten. Die Journalisten mögen Sprüche wie "Die Operation machen wir mit dem Hackmesser!" oder "Der gehört an den Strick!" und zitieren sie ausgiebig. Schön finden sie die allerdings nicht, zumal den meisten nicht entgehen dürfte, daß sie als ungebetene Zeugen selbst Haßobjekt sind. "Es ist nicht korrekt, zwei Bauern als repräsentativ für das Dorf hinzustellen, aber ich werde es tun", sagt der Mitarbeiter einer Tageszeitung, nachdem ihn nur die alkoholbedingte Koordinationsschwäche seiner Gesprächspartner vor Prügel bewahrt hat. Ungefragt betont Adolf Hecht, daß "Herr Lindner in keiner Weise angegriffen worden" sei: "Sein Haus ist nicht beshcmiert worden. Dem ist keinHaar gekrümmt worden." Es wäre unfair, daraus Plan B zu deuten. Rainer Herrn, der sich mit Transsexualität in der historischen Perspektive befaßt und derzeit am Wissenschaftszentrum Berlin die Auswirkungen der Wende auf das Leben schwuler Männer erforscht, stieß bei seinen Interviews auf die Figur des "stigmatisierten Dorfschwulen" und auf die des integrierten Homosexuellen. Letzterer paßt sich den dörflichen Normen weitestgehend an und ist Teil der Gemeinschaft. Seine Männerliebe wird als Privatsache behandelt und ist kein Thema. Mit dem Dorfschwulen hingegen darf man sich nicht sehen lassen, will man einen Prestigeverlust vermeiden. Die Homosexualität ist Teil des dörflichen Diskurses, jeder ist gezwungen, Position zu beziehen - in der Regel eine, die vermeintlichen Normen entspricht. Lindner ist ein härterer Brocken. Sie demontiert eine der wenigen Lebensorientierungen, indem sie vorführt, daß Geschlecht nichts mit Schwanz und Möse zu tun hat. Was für Frauen verkraftbar sein mag - ihre Identität wird durch die neue Schwester bestätigt - ist für Männer ein Tiefschlag: Kastration um des Verrates willen! Daß es das Alpha-Männchen der Gemeinde ist, macht alles noch schlimmer. "Na hören Sie mal, der Mann ist noch zeugungsfähig; da hab ich gar keinen Anlaß, ihn als Frau anzureden", poltert ein Gemeinderat. "Bei diesen Abgrenzungsmechanismen geht es vor allem darum, das gar nicht so weit an sich heran zu lassen, daß es auf einer reflexiven Ebene bearbeitet wird", glaubt der Verhaltensgenetiker Herrn. "Das ist für diese Leute einfach der größte Schweinkram." Lindner sei "der lebende Beleg für die Zerbrechlichkeit der Geschlechterrollen" und werde "als Inkarnation der Sichtbarkeit das Skandalon im Dorf bleiben". Das Pulver ist noch nicht verschossen, die Gegenoffensive in Form von Flugblättern vorbereitet. Auf der einen Seite Gysi: "Selten habe ich so viel Hochachtung vor einem Menschen gehabt wie vor Ihrer Bürgermeisterin." Auf der Rückseite Jürgen Fliege: "'Lieber Gott, warum hast Du einige Menschenseelen in einen falschen Körper gesteckt? Bitte antworte mir, bitte!' - und irgendwann kam es: Jeder Mensch hat eine Botschaft des Himmels für alle. Jeder! (...) Kein Mensch wird geboren, den Erwartungen der Eltern zu entsprechen. Keiner! Also, geh und folge deinem Herzen. Und unter deinen Füßen werde ich das Feuer löschen und die Wasser trocknen lassen. Passen Sie gut auf sich auf!" | dennis stute | dennis stute: | [] | webredaktion | 25.11.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/48/jagdszenen-aus-ostdeutschland |
Urlaub im Nebel | Die Gorilla-Mafia aus den benachbarten ruandischen Urwäldern sollte es gewesen sein, die sie gekidnappt habe, um sie als Touristenattraktion zu vermarkten. So munkelte man, als vor fünf Monaten eine Gruppe seltener Berggorillas in Uganda spurlos verschwand. Auch in ihrem angestammten Revier im Maghinga Nationalpark waren die Tiere nicht einfach nur so beliebt. Dort kostet eine Stunde Gorillas gucken umgerechnet 280 Euro. Welchen finanziellen Verlust die monatelange Abwesenheit der Tiere mit sich gebracht habe, vermochte der Leiter der ugandischen Wildschutzbehörde, Moses Mapesa, gar nicht zu sagen. Viele Touristinnen und Touristen hätten Reisen in den Maghinga-Nationalpark mangels Gorillas abgesagt, die einem spätestens seit dem Film »Gorillas im Nebel« geradezu vertraut scheinen. Vielleicht liegt es aber nicht nur an dem Film. Die Berggorillas, von denen nur noch ein paar Hundert existieren, sind stärker als ihre Artgenossen an das Leben auf dem Boden gewöhnt, ihre Füße ähneln daher denen der Menschen sehr. Vorbildlich ihr savoir vivre: Sie fressen ungefähr während der Hälfte des Tages, ruhen ein Drittel, laufen ein bisschen rum und beschränken die sozialen Kontakte auf 3,6 Prozent der Zeit. Und schließlich ist ihre Erbmasse mit der menschlichen nahezu identisch, bis auf das vor ein paar Jahren angeblich identifizierte »Sprachgen« fehlt nicht viel. 1 000 Zeichen aus der Gebärdensprache soll einmal ein Gorilla beherrscht haben. Vor ein paar Tagen tauchten die vermissten Gorillas urplötzlich wieder in ihrem Revier auf. In ihrer Abwesenheit hat sich die Gruppe durch die Geburt eines Gorillababys sogar auf zehn Tiere vermehrt. Neuesten Spekulationen zufolge sind auch ihre Urlaubsgewohnheiten denen der Menschen recht ähnlich. Man vermutet, dass sie verreist waren, auf Safari im benachbarten Sudan, um Breitmaulnashörner anzugucken. regina stötzel | Regina Stötzel | Regina Stötzel: | [] | webredaktion | 04.05.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/18/urlaub-im-nebel |
rainer werning | In Manila demonstrierten rund 500 000 Menschen am 25. Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts. Die Träume der Guerilla haben sich nicht erfüllt Interview mit José Maria (Joema) Sison, Gründungsvorsitzender der KP der Philippinen (CPP) und politischer Chefberater der NDFP | [] | https://jungle.world//autorin/rainer-werning |
||||
Jungle World #46/2022 - Tanz für den Emir | Im dschungel läuft:
Partisanin des Feminismus. Die Wiener Ausstellung »Works of Heart 1974–2022« zeigt, wie eng Emanzipation, Politik und Geschichte im Werk von Sanja Iveković zusammengehören. | Katar, die Wanderarbeiter und das internationale Fußballgeschäft 17.11.2022 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2022/46 |
||
johannes groschupf | Zwischen Manga und Anime, Computerspiel und Sammelleidenschaft wächst in Japan eine neue Subkultur heran - die Otaku. <none> | [] | https://jungle.world//autorin/johannes-groschupf |
||||
Jan-Niklas Jäger | Auf seinem zwölften Album unter seinem Künstlernamen Destroyer vereint der Kanadier Dan Bejar den Crooner und den Dichter in sich. | [] | https://jungle.world//autorin/jan-niklas-jaeger |
||||
ulrich brand | … bleibt eine legitime Forderung. Von Ulrich Brand Nicos Poulantzas und die Reformulierung Internationaler Politischer Ökonomie. Von Ulrich Brand Über Globalisierungskritik, Hegemonie und Gegen-Hegemonie. Von Ulrich Brand | [] | https://jungle.world//autorin/ulrich-brand |
||||
judith halberstam | Der Neo-Splatterfilm »Bride of Chucky« ist die Fortsetzung des Werkes von Judith Butler mit den Mitteln des Genres. Judith Halberstam über Gender und Splatter Movies | [] | https://jungle.world//autorin/judith-halberstam |
||||
Jungle World #06/2002 - Völker, hört das Globale | Im dschungel läuft: | New York, München, Porto Alegre 06.02.2002 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2002/06 |
||
jan hertel aka chaoze one | Wie ist es, wenn ein deutscher Rapper in Uganda einen Song mit lokalen Künstlern aufnimmt? Chaoze One reiste im Auftrag einer NGO aus Hamburg nach Kampala. Ein Reisebericht. | [] | https://jungle.world//autorin/jan-hertel-aka-chaoze-one |
||||
carlos kunze und marcel noir | Albaniens Ex-Präsident will vom Kosovo-Konflikt profitieren | [] | https://jungle.world//autorin/carlos-kunze-und-marcel-noir |
||||
Last Exit Babyklappe | Aus dem Tagebuch eines jungen Vaters 2.20 Uhr: Neues Kind schreit. Freundin stellt sich tot. Das kann ich auch. Mal sehen, wer länger durchhält.
2.22 Uhr: Neues Kind hat gewonnen. Freundin steht auf, macht Milch. Ich richte mich mühsam auf, hole Neues Kind ins Bett und bringe uns in Position. Freundin bringt Milchfläschchen. Gar nicht so einfach, mit schlafverklebten, nur millimeterspaltgeöffneten Augen das winzige Mündchen mit dem Plastiknippel zu treffen. Neues Kind schreit nach dem zweiten Fehlversuch noch empörter. Soll doch froh sein, dass ich ihm den Nuckel nicht ins Auge gerammt habe.
2.24 Uhr: Neues Kind schreit empört, weil ich beim Wegdämmern die Flasche nicht fest genug gehalten habe. Justiere nach.
2.27 Uhr: Neues Kind schreit empört, weil ich eingeschlafen bin, Flasche nicht mehr im Zielgebiet. Starte zu einem neuen Angriff. Sicheres Dribbling im Halbschlaf. Los, mach das Ding rein, versenk es, Mann! Ja! Etwas unter die Latte gesetzt, aber es ist drin. Höre überraschtes Glucksen, dämmere sofort wieder weg.
2.30 Uhr: Schrecke hoch, wo bin ich? Ah. Jetzt ist Neues Kind beim Nuckeln eingeschlafen. Schüttle es etwas, es nimmt seine Saugaktivitäten sofort wieder auf, nach kurzem, empörtem Schreien.
2.35 Uhr: Neues Kind schreit wütend. Es ist satt und will keinen Plastiknippel mehr im Mund. Lockere meinen Pressgriff. Gut, das wäre geschafft. Jetzt nur das Bäuerchen. Neues Kind geschultert, beginne zu klopfen. Klopfe. Klopfe. Klopfe. Schüttle. Klopfe. Schüttle, schüttle, schüttle. Neues Kind schreit empört. Klopfe. Verdammt, nun mach endlich. – Neues Kind grunzt, gurgelt, ein großer Schwall warmer weißer Masse ergießt sich über mein T-Shirt und das Neue Kind. Sehr gut, Bäuerchen ist draußen. Will mich gerade schön in den weißen, warmen Sud auf der Matratze einkuscheln, da schreit Neues Kind, es hat Hunger, es ist ja wieder leer jetzt. Freundin flucht irgendwas, macht neue Milch.
2.55 Uhr: Flasche leer, Bäuerchen, Milch bleibt drin, endlich. Neues Kind in Wiege, erlöstes Wegdämmern.
3.30 Uhr: Altes Kind ist wach geworden und jammert nebenan in seinem Bett. Ich stelle mich tot. Freundin rührt sich nicht. Mal sehen, wer länger durchhält.
3.32 Uhr: Gehe ächzend rüber zu Altem Kind. Flüstere: »Was ist denn, mein Schatz?« Altes Kind sagt: »Geh weg! Lass mich in Ruhe! Mama soll kommen!« Gehe weg und sage Mama, dass sie kommen soll. Mama sagt schlimme Sachen, die ich aber gar nicht mehr richtig höre, weil ich wegdämmere.
4.10 Uhr: Freundin kommt zurück ins Bett, torkelt gegen Wiege, Neues Kind wird wach und schreit. Ich stelle mich tot. Freundin auch. Mal sehen, wer länger durchhält.
4.20 Uhr: Guck an. Neues Kind gibt auf und schläft wieder ein. Ha! Mit triumphierendem Lächeln weggedämmert.
7.05 Uhr: Träume, dass das Haus einstürzt und ich unter einer zusammenbrechenden Wand begraben werde. Unschön, so eine Ziegelwand, und jeder Stein bricht wie im Comic raus und fällt mir auf den Kopf und tut höllisch weh. Schrecke auf. Kurze Orientierungsphase. Aha. Altes Kind möchte etwas vorgelesen bekommen. Es verleiht seinem Wunsch dadurch Ausdruck, dass es »Das Große Vorlesebuch, 50 Geschichten für Kinder zwischen 3 und 4« in rhythmischen Abständen mit beachtlicher Kraftanstrengung auf meine Stirn aufschlagen lässt. »Aufstehen! Vorlesen!« kräht es jetzt, wo es sieht, dass ich endlich die Augen öffne.
7.10 Uhr: Die Geschichte vom Feuerwehrauto, das kommt, um Öl vom Badesee abzupumpen. Nach halber Seite: »Nein! Andere Geschichte!« Geschichte vom braunen Schaf Schoko, das so gerne geschoren werden will. Nach halber Seite: »Nein! Andere Geschichte!« Geschichte vom König, der nie lachen konnte, weil … »Nein! Andere Geschichte!« »Ach, geh doch zur Mama.« Mama grunzt etwas sehr Unfreundliches, aber Kind befolgt meinen Ratschlag. Freundin wird von Altem Kind zum Lego-Spielen abkommandiert. Schwache Proteste, letztlich vergeblich. Ich atme erleichtert auf, als sie ins Kinderzimmer gehen. Wertvolle Minuten gewonnen, döse sofort wieder ein.
7.25 Uhr: Fünfzehn wertvolle Minuten. Neues Kind schreit. Na ja, eh langsam Zeit, aufzustehen.
7.40 Uhr: Freundin will duschen, sagt, ich soll übernehmen und mit Altem Kind spielen. Gehe zu Altem Kind. Frage: »Na, was sollen wir spielen?« Altes Kind sagt: »Geh weg! Lass mich in Ruhe!« Zum Glück schreit Neues Kind. Das ist das Gute an zwei Kindern: Wenn das eine nicht taugt, hat man immer noch eines in Reserve.
7.45 Uhr: Während ich Neues Kind schaukle, kommt Altes und beklagt sich, dass ich nicht mit ihm spiele. Sage ihm, es hätte mich weggeschickt, sehr unhöflich sogar, und habe gesagt, dass es nicht mit mir spielen wolle. Doch, sagt Altes Kind, ich solle das Neue mal schön in sein Körbchen legen und stattdessen mit ihm spielen. Eisenbahn nämlich. Neues Kind gibt halbwegs Ruhe, also gut. Lege es ab, gehe mit Altem Kind in sein Zimmer, setze mich auf den Boden und spiele mit: Eisenbahn. Erwische offenbar den falschen Zug. »Den nicht!« kreischt Altes Kind. Nehme einen anderen. »Den nicht!« kreischt Altes Kind. Neues Kind fängt erneut an zu schreien. Gehe erleichtert wieder rüber.
Jetzt könnte man natürlich, wenn ich das so erzähle, fragen, warum um Gottes Willen man sich so etwas antut. Wobei sich die Frage natürlich hinterher eigentlich kaum noch stellt, wenn man nicht sehr viel Platz in der Tiefkühltruhe oder sehr große Pflanzentöpfe auf dem Balkon hat. Wenn ich aber jetzt die skeptischen Blicke junger Menschen sehe, die sich fragen, ob sie das wirklich wollen, so ein Kind, dann sage ich mit Nachdruck: Natürlich! Es ist ganz wunderbar! Es ist … na ja, irgendwie schwer zu vermitteln, aber es ist ganz großartig! Ein einzigartiges Erlebnis! Nehmen wir zum Beispiel den Abend. Irgendwann, selbst wenn man zwischenzeitlich gezweifelt hat, dass das jemals gelingen könnte, irgendwann sind beide Kinder, Neu und Alt, in ihrem Bett bzw. Korb und schlafen. Sie schlafen mit diesen niedlichen Kinderköpfchen und diesem herzzerreißenden Kinderschnorcheln ganz süß an ihre Kinderkuscheltiere geschmiegt, sie schlafen wie zwei kleine Engel, es ist ein unbeschreibliches Gefühl, dieser letzte Blick in das Zimmer nachts, bevor man selbst ins Bett geht.
Gerührt stehe ich vor dem Bettchen des Alten Kindes, streichle ihm sanft durch das feine Haar, berühre zart diese unglaublich weiche Haut und hauche ein glücksbesoffenes »Schlaf gut, mein Schatz!«. Altes Kind macht kurz Augen auf, sagt: »Geh weg! Lass mich in Ruhe! Geh weg!«, dreht sich um und wendet sich ab. Neues Kind fängt an zu schreien. Ein Blick auf die Uhr: 2.20 Uhr. Auf ein Neues.
Heiko Werning Elternabend im Kindergarten In der Kita meiner Tochter ist Elternabend. Wir sitzen im Krippenraum an Tischen für Ein- bis Dreijährige, auf Stühlen für Ein- bis Dreijährige, die in etwa die Sitzfläche eines Fahrradsattels haben, aber nur so hoch sind wie ein Dackel, trinken Apfelschorle aus bunten Plastikbechern und knabbern Apfelspalten. Mein Hintern tut weh – er fühlt sich so an, als könnte der winzige Stuhl jeden Moment darin verschwinden – und es hat mal wieder keiner, außer mir, an alkoholische Getränke gedacht, weshalb ich mich nicht traue, die Flasche Sekt aus meiner Tasche zu holen.
Die Vorsitzende des Elternbeirats steht auf und beschwert sich, dass das Projekt »Kafka für Krippenkinder« eher schleppend laufe und dass Emily noch gar nicht Schreiben und Rechnen gelernt habe und dadurch den Gruppenschnitt verschlechtere.
Die anwesenden Eltern nicken, halb zustimmend, halb besorgt. Gemurmel. Die Stichwörter »Globalisierung«, »Turbo-Abi« und »Masterstudiengänge« heizen die Stimmung zusätzlich an.
»Außerdem habe ich festgestellt«, führt die Vorsitzende weiter aus, »dass Emilys Benehmen zu wünschen übrig lässt. Sie benimmt sich, wie soll ich sagen, wie eine Vierjährige!«
Entrüstetes Aufschreien von Seiten der Eltern, vorwurfsvolle Blicke in Richtung Kindergärtner. Ein vorsichtiger Einwand der Kitaleitung – »Aber sie ist doch auch vier« – wird sofort niedergeschimpft: »Um so schlimmer!« ruft eine Mutter.
»Wir sind doch nicht im Mittelalter!« schreit ein Vater im Anzug, Apfelstückchen fliegen aus seinem Mund.
»Meine Tochter ist genau so«, flüstere ich der Frau neben mir zu. Sie guckt mich mitleidig an: »Es geht um deine Tochter.«
Scheiße, denke ich, das kommt davon, wenn man seinem Kind einen Modenamen gibt. Ich war eigentlich immer ganz zufrieden gewesen mit der Kita. Ich dachte immer, ich gebe Emily da ab, sie spielt ein bisschen, fertig. Jetzt sehe ich Emily vor mir: auf dem Schulhof, wie sie von ihren Mitschülern gehänselt wird, das dümmste Kind der Klasse, und das nur, weil alle anderen weiter sind als sie und besser gefördert wurden und nicht immer nur den ganzen Tag gefaulenzt und gespielt haben, und ich hole tief Luft, stehe auf und sage: »Wir wünschen uns eine konsequentere Erziehung unserer Kinder!«
Stille. Alle sehen mich mit offenen Mündern an, als hätte ich zur Prügelstrafe aufgerufen. Irgendwo hinten rechts hüstelt einer. Ich sage leise: »Äh, gewaltfreie Erziehung … ?«
Immer noch Stille. Irgendwo höre ich einen Apfelkern auf dem Linoleumboden aufschlagen. Eine Mutter kichert und flüstert einer anderen etwas ins Ohr. Meine Nachbarin stößt mich an und raunt mir zu: »Du, … Erziehung … das Wort … «
»Aber«, frage ich in die Runde, »was ist denn falsch an Erziehung?«
Eine Mutter kreischt auf vor Lachen. Ich verstehe immer noch nicht. Meine Nachbarin raunt mir zu: »Erziehung ist total 20.Jahrhundert, liest du denn nicht die gängigen Fachzeitschriften, die Eltern zum Beispiel? Oder die Gala?«
»Die Gala kann man lesen?« frage ich zurück.
»Heutzutage erzieht kein Mensch seine Kinder mehr, höchstens Lehrer«, flüstert sie weiter, »das, was Eltern jetzt machen, ist ›coachen‹.«
»Coachen?«
»Das Konzept der Erziehung ist doch schon lange gescheitert, viel zu schwächenkonzentriert. Anpassung, Unterordnung, all der altertümliche Scheiß, wie soll sich ein Kind denn damit heutzutage durchsetzen? Wir brauchen Alphatypen, Führungskräfte, personality. Kindercoaching setzt genau da an, es fokussiert die Stärken deines Kindes. Das ist total in, Halle Berry macht das, Katie Holmes … « Sie schüttelt mitleidig den Kopf: »Kein Wunder, dass deine Tochter so zurückgeblieben ist! Wo soll sie denn ihre Kraft hernehmen? Wie kann sie zwischen Kita- und Freizeitstress ihre Kita-Life-Balance finden?« Sie guckt mich forschend an: »Womöglich macht sie auch noch so eine schreckliche, altmodische Therapie, redet den ganzen Tag davon, wie schlecht es ihr geht und dass Mama oder Papa so gemein zu ihr sind?«
»Na ja«, sage ich, »über was sie da redet, weiß ich nicht so genau … «
Der Elternkreis lehnt sich seufzend zurück, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich vorwurfsvoll an. Ich überlege fieberhaft, wie ich die mir entgegengebrachte Verachtung unauffällig auf die Kindergärtner lenken kann. Ich zeige auf sie und frage: »Aber die sind doch noch von Beruf Erzieher, oder etwa nicht?«
Die Gruppe schüttelt den Kopf.
»Du meinst die Kindercoaches?« flüstert meine Nachbarin. »Schon seit acht Jahren nicht mehr.«
Mein Gesicht glüht. Gerade, als ich beschließe, unter Vortäuschung einer Lebensmittelvergiftung fluchtartig den Raum zu verlassen, steht die Gruppe auf.
»Was jetzt?« frage ich meine Nachbarin.
»Wir müssen«, flüstert sie. »Die Kinder haben uns zum Essen eingeladen, als Dank für die Finanzierung des Seminars ›Erfolgreich durch die Vorschulzeit – konstruktives Kritisieren für Fortgeschrittene‹.« Sie nimmt ihre Jacke vom Stuhl und läuft raus.
Als alle Eltern weg sind, hole ich die Sektflasche aus meiner Tasche. Ich kippe mir den bunten Plastikbecher voll und trinke ihn in einem Zug leer. Da legt sich eine Hand auf meine Schulter. Ich sehe auf. Mareike, eine der Kindercoaches. Sie ist bestimmt schon 50, wirkt aber dank der drei »M«s – Magersucht, Make-up und Micky-Maus-Stimme – wie Mitte 20. Sie strahlt mich an: »Also wir finden dich super! Du bist irgendwie so anders, so real, irgendwie old school.«
War das jetzt ein Kompliment?
»Echt«, fährt sie fort, »du machst das schon, da bin ich mir sicher, du musst nur an dich glauben.«
Ich bin zwar immer noch misstrauisch, aber unter das Misstrauen schiebt sich ein warmes, sonniges Gefühl. Ich lächle.
»Real?« frage ich. Mareike nickt aufmunternd.
Ich gehe durch den Regen nach Hause und fühle mich plötzlich stark und beschwingt.
Coaches, denke ich. Gar nicht mal so schlecht.
Johanna Wack Wenn Eltern sprechen Elternsprechabend.
»Soll ich nicht lieber hier bei dir bleiben?« versuche ich es.
»Nein, nein«, sagt mein Sohn Tom. »Geh ruhig, ich kriege das zu Hause prima alleine hin.«
»So wichtig ist das nun auch nicht, dass ich da hingehe«, sage ich.
»Doch, ist es«, sagt er.
»Ach was«, sage ich, »da wird eh nur belangloses Zeug …«
»Du musst!« schließt er das Thema ab. »Elternabend ist Pflicht!«
Es ist noch nicht so lange her, da ging die Welt im Kindergeheule unter, wenn ich abends mal wegwollte, jetzt kann es gar nicht oft genug sein – und so gut kann ich Süßigkeiten und Fernbedienung gar nicht verstecken, dass Tom sie nicht findet.
»Ab ins Bett jetzt«, sage ich, als ich gehe.
»Viel Spaß«, ruft er mir grinsend nach.
So habe ich mir das nicht vorgestellt: Mein Sohn macht sich einen gemütlichen Fernsehabend, und ich muss in die Schule.
Wenn Eltern sprechen … Ich sitze auf einem winzigen Stuhl in einem muffigen Klassenzimmer und will nichts davon hören, dass die Kuchen für den Schülerbasar bitte glutenfrei sein sollen, und »keine Schokoriegel in die Vesperbox«, und dass noch »Begleiteltern« für den Wandertag fehlen – was bitte sind »Begleiteltern«? – Und natürlich: »Wer besorgt die Girlanden fürs Schulfest?«
»Das Thema ADS sollten wir noch mal vertiefen.«
»Ich möchte bitte die letzte Mathearbeit auf die Tagesordnung setzen und glaube, da spreche ich im Namen aller.«
In meinem nicht! Ich verstopfe meine Ohren vor dem elitären Elterngetöse, dass die noch nicht zutage getretene Hochbegabung des Sprosses einzig und allein am zu laschen Unterricht liege.
»Man muss Kinder nicht nur fördern, sondern auch fordern«, sagt eine teuer kostümierte Mutter und droht beifallheischend, dass es schließlich auch noch andere Schulen in dieser Stadt gebe.
»Wobei, das eine sage ich Ihnen«, raunt mir ein feister Anwaltspapa zu, sollte sein Sohn im nächsten Bio-Test wieder nur eine Drei bekommen, erwäge er rechtliche Schritte. Weil ich nicht antworte, tauscht er mit jemand anderem Erfahrungen darüber aus, welcher Cello- und Klavierlehrer der beste sei.
»Entschuldigung«, kumpelt mich eine fragwürdig zurechtgeschminkte Mutter in bester Spätgebärendenprosa an, »und was spielt Ihr Sohn?«
»Computer und Fußball«, zische ich zurück.
Elternsprechabend.
»Mobbing – so weit würde ich nicht gehen«, sagt ein anderer Vater, der schon den ganzen Abend durch fingerschnipsendes Dauermelden unangenehm aufgefallen ist, aber er finde es schon beängstigend, wie einige Kinder hier ausgegrenzt würden, auch sein Jonathan-Elias tue sich trotz guter Schulnoten und reger Mitarbeit schwer, Freunde zu finden.
Weil er genauso ein dämlicher Streber ist wie sein Vater, denke ich, und das ist das Schreckliche am Elternsprechabend: Hier sprechen die Abziehbilder der Kinder, die exakten Blaupausen der Schleimer, Wortführer, Lehrertaschenträger und Angeber. Die Äpfel fallen nicht weit von den Stämmen … Und was ist mit den Turnbeutelvergessern, Schweigern und künftigen In-der-Raucherecke-Stehern?
Ein paar Eltern hätten bislang noch gar nichts gesagt oder beigetragen, unkt das teure Kostüm in diesem Moment, und ob ihnen das Wohl ihrer Kinder nicht auch am Herzen liege? Viele Augenpaare richten sich auf jene Versprengten, die bislang teilnahmslos in den hinteren Bänken saßen und wie ich hofften, dass das hier vorübergehen möge. Schnell erkenne ich in ihnen die Eltern von Toms Freunden Paul, Felix und Luka. So langsam entspanne ich mich.
»Das passt schon«, sagt Pauls Vater, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen, mit manchen aus der Klasse komme sein Sohn gut aus, mit anderen nicht so, aber das sei okay für ihn.
»Alles in allem fühlt er sich wohl in der Schule, und ich vertraue ihm.«
Ich nicke. Dann ertönt der Gong.
Das Kostüm und der Anwalt stürzen auf die Lehrerin zu, weil sie noch »etwas loswerden wollen«, der Vater von Jonathan-Elias wischt die Tafel. Ich gehe mit Pauls Papa ein Bier trinken.
Zu Hause liegt Tom friedlich und zufrieden in seinem Bett. Ich vertraue ihm.
Jess Jochimsen Kino mit Kind Was aussieht wie die Dreharbeiten zu »Der Hobbit«, ist ein Raum voller Kinder, die durch Limonade und Naschkram auf Speed-Niveau hochgeputscht wurden. Noch an der Uni war ich beim Studium des selbstmörderischen Kinderkreuzzuges von 1212 auf die Frage gestoßen, wie es zu dieser verheerenden Reise kommen konnte, von der fast niemand lebend zurückkam. Heute bin ich sicher, dass große Mengen Zucker im Spiel waren.
Wir stehen ganz vorne in der Schlange, aber als das rote Absperrseil geöffnet wird, weiß ich, wie es ist, in eine Lawine zu geraten. Wusch! Ich treibe wie eine Boje auf einem reißenden Strom, kurz kommt ein Stagedive-Gefühl auf, dann wird es schwarz um mich. Ein wenig später komme ich auf dem Boden des Saales zu mir. Von der Hüfte abwärts besteht meine Hose aus großflächigen Schokoflecken, klebengebliebenen Lutschern und einem etwas leicht geratenen, festpappenden Dreijährigen, den ich an der Kasse abgebe.
Mein Sohn sitzt bereits irgendwo im Saal und isst Popcorn. Als ich ihn entdecke, husche ich im Halbdunkel auf den freien Platz neben ihm und lege kuschelig den Arm um ihn. Das glaube ich zumindest, bis ich mir das kreidebleiche und hyperventilierende Kind, das ich eng umschlungen im Arm halte, genauer ansehe. In dem Moment kommt auch die echte Mutter des zitternden kleinen Mädchens von der Toilette zurück.
Erst der Mann an der Kasse kann die Situation entschärfen und eine Anzeige verhindern. Er bestätigt, dass ich tatsächlich mit meinem eigenen Kind in diesem Etablissement erschienen sei. Warum ich dann eine Hose aus Schokolade und Lutschern trage, wenn ich kein Pädophiler sei, möchte die Mutter wissen.
Nach 50 Euro Trinkgeld für den Kassenmann sowie Knabberkram im Wert von 20 Euro für die misstrauische Mutter und das verstörte Kind hilft man mir, meinen Sohn im Gedränge wiederzufinden. Der hat mich auch schon gesucht. Das Popcorn ist alle.
Als es endlich losgeht, denke ich an Youtube-Videos mit hinterherhängender Tonspur. Der Eindruck trügt aber, der gesamte Saal voller Kinder wiederholt einfach nur jeden Dialog noch einmal sehr laut. Also jeden zweiten. Die anderen versteht man ja nicht, weil die Kinder noch den Satz von davor wiederholen müssen.
Hinter mir sitzt ein Vater, der die Sätze ebenfalls nachspricht. Ich beginne über die Vorteile von Amokläufen in Kinos nachzudenken, lasse das aber, weil mein Sohn neben mir sitzt. Der anstrengende Vater hinter mir schiebt seine Füße weit unter meinem Sitz durch und stößt die Popcornschale und meinen Notfall-Flachmann mit dem Strohrum um.
Ich zünde seine Schürsenkel an. Sie kokeln aber nur so vor sich hin und gehen immer wieder aus. Die Hälfte des verbliebenen Strohrums landet in meiner Cola, ich versuche, ruhig zu atmen.
Neben dem Vater, der die Dialoge nachspricht, sitzt seine Tochter, die seit Beginn ohne zu atmen in den Saal brüllt, was ohnehin gerade zu sehen ist. So wie die Erläuterungen für Blinde bei manchen Sendungen im Fernsehen. Ich gieße den letzten Rest Strohrum aus meinem Flachmann auf die Füße des Vaters und zünde sie erneut an. Jetzt brennen sie.
Die folgende Schlägerei übertrumpft die dargebotene Handlung an Spannung, die Kinder bilden einen großen Kreis um uns und feuern uns an. Mein Sohn nimmt Wetten auf den Ausgang des Kampfes an, setzt aber gegen mich.
Das sind die Nachteile von gewaltfreier Erziehung: Die eigenen Kinder unterschätzen einen. Als die Polizei Tränengaskartuschen in den Saal schießt und ihn zu räumen beginnt, fliehen wir durch den Notausgang. Draußen hält mein Sohn mit strahlenden Augen meinen Pappbecher mit dem Cola-Rum in der Hand, leert auf einen Zug, was er nicht schon während meines Kampfes getrunken hat, und lallt dann selig: »Gino is doll! Geh’n wa moagen wieda hinnn?«
Seiner Mutter erzählen wir, dass er sich etwas eingefangen und Fieber habe. Dass er deshalb schmutzige Seemannslieder singe und Streit mit seinem Teddybären anfange. Wenn er wieder nüchtern ist, verrat ich ihm auch, dass das gar kein 3D-Film war, sondern ein Puppentheater.
Björn Högsdal Ich hab ein Kind im Ohr In letzter Zeit widerfährt es mir immer öfter, dass mich Freunde oder Kollegen begrüßen mit den Worten: »Hallo Volker, du siehst aber scheiße aus heute.« Sie müssen die Ringe unter meinen Augen meinen. Es sind die Ringe unter den Augen, wie man sie von jungen Eltern kennt. Manche Scherzbolde schieben sie auf den Verlag, den ich vor ein paar Monaten adoptiert habe. »Ha ha«, rufen sie und kugeln sich, »läuft noch nicht das Kind, was? Ha! So ein Baby kann einem ganz schön den Schlaf rauben, nicht?«
Stimmt aber nicht. Mein nimmersattes Verlagsbaby kann mir gar nicht den Schlaf rauben, denn der ist schon längst weg. Seit Monaten habe ich keine Nacht mehr durchgeschlafen. Denn ich hab tatsächlich ein Kind. Im Haus. Über mir wohnen. Seitdem kann ich jeden Morgen mit dem Brustton der Überzeugung des ZDF-Werbeopas sagen: »Ich hab ein Kind im Ohr.«
Ich hab es Tinnitus getauft. Jeden Morgen um sieben habe ich ein beständiges Poltern im Ohr. Denn es ist nicht irgendein Kind, es ist schlimmer. Es ist das schlimmste aller möglichen Kinder: Es ist ein (bitte zum Weiterlesen die »Sleepy Hollow«-Filmmusik von Danny Elfman einlegen) … POLTERKIND.
Ich wohne in einem Altbau: Überall abgezogene, leicht morsche Holzdielen, und beim Bau meines Hauses vor 100 Jahren ist wohl nicht genug Bauschutt angefallen, um die Holzdecke zwischen meiner Wohnung und der über mir vernünftig zu füllen. Oder die Bauarbeiter hatten einfach keinen Bock, den Bauschutt vier Stockwerke hoch in die vierte Geschossdecke zu tragen, nur um damit eine hohle Decke zu füllen. Im Ergebnis ist die Decke die Sorte perfekter Hohlraum, den man im Instrumentenbau »Resonanzkörper« nennt. Die Ergebnisse sind erstaunlich.
Eine Murmel, die auf die Holzdielen im Zimmer über mir fällt, klingt bei mir nach einem Medizinball. Ein Kind, das auf Hacken durch das Zimmer trapst, dröhnt bei mir wie ein Pferd, das seine frisch angenagelten Hufeisen eingaloppiert. Ein Bobbycar, das über Dielenbretter über mir rutscht, klingt, als donnere der Nachtzug Paris-Warschau durch meine Wohnung. – Wenn Roland Emmerich mal wieder Soundeffekte für den Weltuntergang braucht, könnte er sich monatelanges, digitales Soundmixing sparen. Effektiver wäre es, eine Kitagruppe mit Holzspielzeug in die Wohnung über mir zu schicken.
Das Polterkind (biol. infans elephans) versteht das physikalische Prinzip des Resonanzraums leider nicht. Was noch schlimmer ist: Das Polterkind interessiert das auch nicht besonders. Es interessiert sich für Bobbycars, Murmeln, Bauklötze und Holzeisenbahnen. Und was noch viel schlimmer ist: Das Polterkind ist nachtaktiv! Es steht um halb sieben auf.
Und wer schon morgens um halb sieben aus dem Schlaf gefahren ist, weil das Polterkind von oben erst einen Tisch quer durchs Zimmer zieht, dann einen Stuhl hinterherrollt, um hernach auf Stuhl und Tisch zu klettern, um aus größtmöglicher Höhe den Kasten mit Bauklötzen auf den Holzfußboden auszukippen, weiß, wie schnell man an dem Punkt ist, dass man einem Dreijährigen gerne den Hals umdrehen würde: Ein letztes Quieken und Knacken, und dann wäre Ruhe. Endlich. Und ich könnte mich wieder hinlegen und schlafen, bis auch den Eltern die ungewohnte Ruhe verdächtig vorkäme. Dann wäre für einen Moment noch mal großes Geschrei, aber das wäre mir egal, Geschrei ist hochtönig, das lässt die Holzdecke nicht durch …
Im Grunde habe ich überhaupt nichts gegen das Polterkind. Ich kenne es schon sehr lange. Ich kannte es schon, da war es noch eine Idee seiner Eltern. Ich war schon Zeuge seiner Zeugung. Und aller vergeblichen Versuche. Das könnte ich dem Polterkind sagen, bevor ich ihm den Hals umdrehte: »Du warst garantiert ein Wunschkind. Und du hast deinen Eltern schon viel, viel Freude bereitet. Sie hätten dir halt nur nicht ihr Schlafzimmer überlassen sollen.«
Verdammte, liberale Elterngeneration! Früher bekamen die Kinder den kleinsten Verschlag in einer Wohnung. Acht Quadratmeter mit Etagenbett, dessen Oberkante gerade so ans Oberlicht reichte. Heute müssen die Kleinsten die größten Zimmer haben. Wieso? Damit noch mehr Spielzeug hineinpasst. Noch mehr Bauklötze, noch mehr Geraffel, noch mehr Hartplastikschrott, mit dem man Kakophonie spielen kann! Noch mehr Plunder, den man über Dielen schleifen und runterschmeißen kann. Ein Plastikhammer! Super Idee! Mit dem donnert das Polterkind dann stundenlang autistisch auf dem Fußboden rum. Was da oben nur wie hospitalistisches Hämmern klingt, hört sich bei mir nach Abrissbirne an.
Wieso kann das verdammte Polterkind eigentlich nicht vernünftig laufen? Wieso trapst es durch die Wohnung wie ein Vierbeiner mit Holzpantoffeln? Und aus welchem verdammten Grund muss das Polterkind alle zwei Minuten hin und her und wieder zurück laufen?! Und wieso muss es mit seinem Bobbycar alle zwei Minuten hin und her und wieder zurück fahren? Schrappschrappschrapp … Vor. Schrappschrappschrapp … Und zurück. Schrappschrappschrapp … Und wieder einmal den Flur lang. Schrappschrappschrapp … Und zurück ins Kinderzimmer. Schrappschrappschrapp … Schrappschrappklodderadongdongdong … Da noch zwei Runden gedreht und den Bauklotzturm umgeworfen. Schrappschrappschrapp … Und zurück in den Flur. Und zwei Minuten später donnert die Höllenmaschine wieder ins Kinderzimmer. Diesmal scheint das Polterkind Gefallen daran zu finden, immer wieder gegen die Schranktür zu fahren. Vor und zurück, Anlauf, Schranktür, zurück, Anlauf, Schranktür. Schrappschrapp-schrappschrappschrapp. Poltern und Scheppern. Schrappschrapp. Poltern und Scheppern. Und dann wieder schrappschrappschrapp zurück in den Flur. Einmal noch gegen den Türrahmen donnern und weiter geht’s. – Wenn ich das nächste Mal meine Dielen abschleifen will, dann beauftrage ich keinen Dielenabschleifer mehr mit tonnenschwerer Schleifmaschine, fünf Dreijährige mit Bobbycars haben mindestens dieselbe Wirkung.
Wochenlang liege ich jeden Morgen um sieben im Bett, pfriemele mir Ohropax in die Gehörgänge, was nichts nutzt, weil die Polterbässe vom Polterkind durch alles durchpoltern. Ich presse Kopfkissen auf meine Ohren mit den Ohrstöpseln. Es hilft ein wenig, aber schlafen kann ich so nicht. In meinen kühnsten Verwünschungen habe ich das Polterkind schon auf alle erdenklichen Weisen massakriert, habe ihm Filzpantoffeln unter die Fußsohlen genagelt und es jeden Bauklotz einzeln schlucken lassen.
Ich fasse einen Entschluss: So geht es nicht weiter!!! Ich muss das mal ansprechen, bei den Eltern. Die sollen das Kinderzimmer wieder über meine Küche legen oder mit einer vierfachen Flokatischicht auslegen.
Im Treppenhaus treffe ich die Eltern mit dem bösartigen Polterkind. Das bösartige Polterkind drängt sich verschlagen an die Flurwand, hält sich hinterhältig an den Beinen des Polterkindvaters fest und schaut mich von dort mit fiesen, großen, bösen Kulleraugen schüchtern an. Eigentlich sieht das Polterkind aus wie ein schmächtiger, kleiner Junge mit etwas schiefsitzender Mütze.
»Er fremdelt etwas«, sagt der Polterkindpapa.
»Ich bin dein Mörder!« denke ich und erhebe meine Stimme, die Stimme meiner furchtbaren Rache.
Die Stimme der furchtbaren Rache sagt: »Nee, ist der putzig!«
Verdammt! So einem Kind kann man einfach nicht den Hals umdrehen. Verdammt, verdammt, verdammt!
Ich winke dem Polterjungen zu. Er bleibt stumm, winkt aber schüchtern zurück. Na ja, denke ich, er kommt ja eh bald in die Pubertät, dann schläft er bis in die Puppen.
Die zehn Jahre noch.
Volker Surmann Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Last Exit Babyklappe. Herausgegeben von Björn Högsdal und Johanna Wack. Satyr-Verlag, Berlin 2013, 192 Seiten, 12,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen. | heiko werning, johanna wack, jess jochimsen, björn högsdal und volker surmann | heiko werning, johanna wack, jess jochimsen, björn högsdal und volker surmann: Coachen eigene und fremde Kinder | [] | Dossier | 27.06.2013 | https://jungle.world//artikel/2013/26/last-exit-babyklappe |
dario fo | <none> | [] | https://jungle.world//autorin/dario-fo |
||||
Jungle World #44/2021 - Kill and Travel | Im dschungel läuft:
Erschöpfte Kraft. Deerhoof lassen auf ihrem neuen Album die alten Konzepte der »Counter Culture« aufleben. | Der internationale Aufstieg der Söldnerbranche 04.11.2021 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2021/44 |
||
Bananenernte | "Junta" ist wie das wirkliche Leben: Hauptziel ist es, möglichst viel Kohle auf's Bankkonto in die Schweiz zu schaffen. Und zwar bevor die Attentäter gegnerischer Familien-Clans zuschlagen oder putschende Generäle einen von dem gemütlichen Sessel des Staatspräsidenten verjagen. Denn dann ist das zusammengeheimste Geld verloren, richtig sicher ist es eigentlich nur im Ausland. Das Ausland ist in jener "Bananenrepublik", wo "Junta" spielt, sowieso einer der wichtigsten Faktoren: Jede Spielrunde fließen von dort etliche MPs (Millionen Pesos) ins Land, die der Präsident dann in Form eines "Haushalts" möglichst ungerecht verteilt. Genauso wichtig sind aber auch Einflußkarten - Konservative, Arbeiter, Monarchisten, Radikale, Christdemokraten, Kirche, Bauern usw. -, denn die bedeuten Pro-Stimmen. Ohne die kein Amt, ohne Amt keine Kohle, ohne Kohle keine Attentatsversuche, ohne Präsidenten-Leichnam keine Neubesetzung. Ganz realistisch auch die Ereigniskarten: "Studenten verteilen Flugblätter gegen die Unterdrückung" oder "Uno beklagt Menschenrechtsverletzungen" hat keinerlei Auswirkungen aufs Spiel. Bei "Junta" kann man also nicht nur die Sau rauslassen, sondern muß sogar ein Schwein sein, um überhaupt eine Chance zu haben. Denn was am Ende nicht in der Schweiz auf dem Konto liegt, ist verloren. Wie häufig man zwischendurch dabei draufgeht, ist hingegen egal. Wie im wirklichen Leben halt. Junta, ASS Verlag, ca. DM 39 | Dirk Hempel | Dirk Hempel: Spielen heißt kämpen | [] | Dossier | 11.12.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/50/bananenernte |
Klassen und Kämpfe | Die Umwälzung und Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen ist das zentrale Anliegen einer Politik der Emanzipation. Während das konservative Denken die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche als naturgegeben bestimmt und der Liberalismus diese Spaltung aktiv betreibt, haben sozialrevolutionäre und sozialistische Bewegungen versucht, die gesellscha ftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Klassenkampf hieß das Losungswort, um die treibende Kraft der Geschichte zu benennen und der Analyse des Kapitalismus eine politische Perspektive zu geben. Dass diese Perspektive ihre Evidenz verloren hat, ist Anlass genug, nach dem Stand der sozialen Kämpfe unserer Zeit zu fragen. Die Emanzipation des Individuums, die Beseitigung irrationaler und unmittelbarer Gewaltverhältnisse und die Rationalisierung der materiellen Produktion waren Möglichkeiten und Versprechen der bürgerlichen Revolution. Doch unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise stieß die freie Entwicklung des Individuums immer wieder an Grenzen, die das Proletariat als revolutionäres Subjekt der Geschichte beseitigen sollte. Während der Marxismus es weitgehend mit der Arbeiterklasse und deren Avantgarde identifizieren konnte, haben Imperialismus, Nationalismus und Kulturindustrie das Klassenbewusstsein verdrängt und geschwächt sowie den zentralen Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital staatskonform gebändigt. Die dem Kapitalismus unterworfenen Subjekte der Gegenwart, Lumpenproletarier und freigesetzte Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft, befinden sich, trotz aller bürgerlichen Vertragsverhältnisse, in einem Krieg aller gegen alle. Die Neue Linke hat sich von dem deterministischen Geschichtsbild verabschiedet, das aus den Arbeitern automatisch ein revolutionäres Subjekt macht. Das Widerständige, das angesichts der unversöhnlichen Gegensätze in der kapitalistischen Gesellschaft aufscheint, kann nicht an einer einzigen Klasse festgemacht werden. In diesem Kontext begannen Frauen-, Ökologie-, schwarze Bürgerrechts- und andere soziale Bewegungen ihre politischen Rechte einzufordern. Der Kampf um politische und kulturelle Anerkennung hat die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft jedoch oft aus den Augen verloren oder wurde in den Dienst kapitalistischer Modernisierung gestellt. Es stellt sich weiterhin die Frage, wie eine in unterschiedliche Milieus zerstreute Bewegung Bündnisse eingehen kann, um politische Hegemonie zu gewinnen und den Herrschaftscharakter des Staates in Frage zu stellen. Innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung ist es immer wieder gelungen, die durch Ausbeutung und Verelendung formierten revolutionären Kräfte entweder zu eliminieren oder aber zu integrieren. Die Integration betrifft nicht zuletzt die Verinnerlichung der kapitalistischen Arbeitsnormen und die daraus resultierende Idealisierung der Arbeit in der marxistischen Arbeiterbewegung. Sie führte zu dem »Konformismus«, den Walter Benjamin mit Blick auf Marxens Kritik des Gothaer Programms »von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch« sah und auf einen »korrumpierten Begriff von Arbeit« zurückführte. Nicht zufällig haben sich in der Geschichte der Klassenkämpfe emanzipatorische und antiemanzipatorische Tendenzen, Ideen der sozialen und der nationalen Befreiung immer wieder vermischt. Für Adorno ist in der verwalteten Welt und vor allem nach Auschwitz die Möglichkeit einer emanzipatorischen Praxis auf lange Sicht blockiert. Dabei hat Adorno sich nicht prinzipiell gegen Praxis ausgesprochen, sondern die Reflexion der Bedingungen von Praxis eingefordert, um die Idee der Emanzipation gegenüber blindem Aktionismus zu bewahren. Statt auf ein rebellisches Subjekt zu vertrauen, das spontan und voluntaristisch entsteht, spürt er den Momenten nach, in denen sich das deformierte Bewusstsein seiner Deformation verweigert. Marcuse, Bourdieu, Deleuze, Negri/Hardt u. a. halten an der Idee fest, dass der Klassenkampf der Motor der Geschichte ist, auch wenn sich die Klassen fragmentiert und die Kämpfe vervielfältigt haben. Auf globaler Ebene stellt sich allerdings die Frage, ob die Fragmentierung der Klassen und die Vervielfältigung der Kämpfe so weit fortgeschritten ist, dass sich die emanzipatorische Perspektive des antikapitalistischen Kampfes verliert, statt sich auszubreiten. Die alte Hoffnung, besonders in der Peripherie bestehe ein revolutionäres Potenzial, ist verflogen. Stattdessen scheinen im Nahen und Mittleren Osten nach dem Abdanken der realsozialistischen Systemalternative religiöse und ethnische Fundamentalismen als Alternativen vorgezogen zu werden. Die internationale Linke befindet sich nicht im geschichtsleeren Raum, sondern kann sich auf die Pariser Kommune, den spanischen Bürgerkrieg, den französischen Mai 68, die Experimente in Mittel- und Südamerika und andere politische Kämpfe beziehen. Das Bewusstsein vergangener Kämpfe ist für eine revolutionäre Perspektive ebenso wichtig wie deren ökonomische und soziale Position. Der Kapitalismus ist kein Schicksal, sondern Resultat von ununterbrochenen, mal offen, mal verdeckt geführten Klassenkämpfen. Er ist nicht abstrakt und ewig, sondern historisch und regional spezifisch in seinen Ausprägungen. Es sind die historischen und aktuellen Ausprägungen der sozialen Bewegungen, denen sich die Beiträge unseres Buches »Klassen und Kämpfe«, das diesem Dossier zugrunde liegt, widmen. Wie sind die Vergesellschaftungsformen entstanden, in denen sich diese Kämpfe konstituieren und die oftmals zugleich ihre Zuspitzung verhindern? Wie sind die Theorien und Ideologien einzuschätzen, die im Kontext dieser Kämpfe formuliert wurden? Die unklaren Frontverläufe der Klassenkämpfe der Gegenwart machen Antworten auf diese Fragen ebenso schwierig wie notwendig. Im Zentrum unseres Sammelbandes steht die Frage, wie sich politische Subjekte konstituieren können, wenn ihnen die ökonomischen und sozialen Grundlagen ihres Lebens entzogen werden. Wie ist es um die Möglichkeiten einer Emanzipation unter diesen Bedingungen bestellt? | »jour fixe initiative« (berlin) | »jour fixe initiative« (berlin): | [] | Dossier | 31.05.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/22/klassen-und-kaempfe |
alice köhler | <none> | [] | https://jungle.world//autorin/alice-koehler |
||||
G7 | Das G7-Gipfeltreffen im englischen Cornwall sollte einen Aufbruch markieren, und kaum jemand weiß solche Anlässe besser zu inszenieren als der britische Premierminister Boris Johnson. | [] | https://jungle.world//tags/g7 |
||||
sascha schultz | Hartz-IV-Bezieher, die sich selbständig machen wollen, werden von den Jobcentern immer seltener unterstützt. | [] | https://jungle.world//autorin/sascha-schultz |
||||
»Der fremde Blick sieht mehr« | Vier Jahre nachdem Jörg Friedrichs »Der Brand« über die Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg in Deutschland erschienen ist und heftige Diskussionen ausgelöst hat, liegt nun die englische Übersetzung (»The Fire«, Columbia University Press) vor. Diesmal werden die Debatten um das Buch in den Feuilletons der britischen Presse geführt, und so mancher wirft Friedrich Revisionismus vor, also den Versuch, die Schuld der Deutschen zu relativieren. Dass man ein Buch über den Bombenkrieg gegen Nazi-Deutschland veröffentlichen kann, ohne sich dem Verdacht des Revisionismus auszusetzen, zeigt der Berliner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich. »Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939 bis 1945« heißt sein Werk, das im Februar in Eichborns »Anderer Bibliothek« erschienen ist. Lubrich hat – ähnlich wie im Vorgängerband »Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland« (siehe auch Jungle World 52 / 2004) – Texte nicht-deutscher Zeitzeugen gesammelt und sie mit einem kenntnisreichen Vorwort versehen. Oliver Lubrich lehrt am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Waren die »Berichte aus der Abwurfzone« schon in »Reisen ins Reich« angelegt? Nicht direkt, aber das eine hat sich aus dem anderen entwickelt. Die Dokumentation »Reisen ins Reich« ging von der Frage aus: Wie haben internationale Besucher Nazi-Deutschland wahrgenommen und damals in ihren Aufzeichnungen beschrieben? Daraus ergibt sich, für die Kriegszeit, u.a. die folgende Frage: Wie haben ausländische Zeugen die Zerstörung deutscher Städte durch die alliierten Luftangriffe erlebt; und wie berichten sie von ihr? Dieses Interesse ist vor dem Hintergrund der zum Teil sehr erhitzten Debatten zu sehen, die in Deutschland in den letzten acht, neun Jahren über den Bombenkrieg geführt wurden. Ich möchte einfach den Vorschlag machen, nicht-deutsche Quellen zu berücksichtigen; und zu überlegen, was sie möglicherweise zur Diskussion in Deutschland beitragen können. Derzeit ist die Debatte zumindest hierzulande wieder abgekühlt. Befürchten Sie nicht, dass sie nun wieder von vorne beginnt? W. G. Sebald, der die Debatte 1997/98 eröffnete, hat deutschen Zeitzeugen und Autoren vorgeworfen, sie hätten im Umgang mit dem Bombenkrieg versagt, indem sie ihn entweder verdrängt oder aber auf eine fragwürdige Weise dargestellt hätten: die einen in alltäglichen Formeln, die anderen in gekünstelten Überhöhungen. Für die meisten ausländischen Berichterstatter, die ich kenne, trifft weder das eine noch das andere zu. Jörg Friedrich wiederum wurde vorgeworfen, er mache die Deutschen zu Opfern und rechne ihr Leid gegen ihre Verbrechen auf. Auch dies wäre bei den wenigsten internationalen Zeugen der Fall. Ein Schweizer Korrespondent hat weniger Grund, die Geschichte zu verdrängen oder zu beschönigen. Und im Verdacht, den Luftkrieg gegen die Shoah ausspielen zu wollen, steht er ohne weiteres auch nicht. Es mag Menschen geben, die dennoch von vornherein unterstellen, jeder, der sich überhaupt mit diesem Thema befasst, verfolge eine ideologische Agenda. Das ist aus meiner Sicht hysterisch. Nicht zuletzt deswegen aber schien es mir sinnvoll zu sein, unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen und andere Erfahrungen einzubeziehen, die zu einer weiteren Differenzierung und Versachlichung der Argumente beitragen könnten. Was haben die Beiträge im Buch gemeinsam? Die meisten Texte im Buch widersprechen jeder revisionistischen Lesart. Viele Ausländer sehen die Bombardements in Zusammenhang mit dem deutschen Angriffskrieg und Völkermord. Kritische Berichterstatter fragen, wie sehr sich Teile der deutschen Bevölkerung der eigenen Schuld bewusst waren. Solche Beobachtungen sind in ausländischen Quellen eher zu haben als in deutschen. Viele Zeugen berichten offener, als es Deutsche – aus zum Teil nachvollziehbaren Gründen – konnten oder wollten. Für alle Zeitzeugen gilt das nicht. Sie lassen auch zahlreiche Beobachter aus faschistischen Staaten oder mit den Nazis sympathisierende Autoren zu Wort kommen. Da haben Sie recht. Aber es gab sie ja, die Nazis, Faschisten, Kollaborateure, Sympathisanten und Opportunisten aus Ländern wie Frankreich, Italien oder Schweden. Auch ihre Äußerungen sind jedoch nicht allein symptomatisch, sondern oft durchaus auch komplex und facettenreich. Nehmen Sie beispielsweise Louis-Ferdinand Céline, den großen modernen Schriftsteller, der antisemitische Pamphlete verfasste und 1944/45 vor den Befreiern seines Heimatlandes neun Monate lang unter fortwährenden Bombardements durch Deutschland floh. In seiner Trilogie, die hiervon handelt, zeigt sich der Kollaborateur immer wieder deutschenfeindlich. Welche Bedeutung kommt diesen Berichterstattern zu? Im Buch wird beschrieben, wie ein Abgesandter Francos den Bombenhagel in Deutschland erlebt – zu einer Zeit, als Franco von den Achsenmächten zum Kriegseintritt gedrängt wird. Die politische Wirkung der Luftangriffe auf die Verbündeten der Deutschen wird von mehreren Beobachtern in Erwägung gezogen. Francos Minister Serrano Suñer besuchte Deutschland im Jahr 1940, nach dem Sieg über Frankreich, auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht. Und er erlebte, dass englische Bomben fielen. Der US-Journalist William Shirer schrieb in sein Tagebuch: »Das mag hilfreich gewesen sein.« Er machte sich Gedanken darüber, was der Besucher seinem Chef wohl berichten und ob er ihm von einem Kriegseintritt abraten würde. Das ist kein Einzelfall: Graf Galeazzo Ciano, zu dieser Zeit der Außenminister des faschistischen Italien, erschrak, als er im Jahr 1942 feststellen musste, dass die Kollegen vom Auswärtigen Amt »wie Höhlenmenschen« hausten. Droht der fremde Blick bei der Bombardierung einer Stadt – die jeden in gleicher Weise treffen kann – nicht verloren zu gehen? Das könnte man meinen. Ich habe mich natürlich auch gefragt, warum man ausländische Berichte nicht längst systematisch in die deutschen Debatten einbezogen hat. Und dies mag ein Grund dafür gewesen sein: dass man annahm, die Nationalität der Zeugen spiele unter extremen Bedingungen keine Rolle. In meinen Augen bestätigen die Dokumente diese Vermutung jedoch nicht. Die Beschreibungen vieler Ausländer sind nicht nur ausdrücklicher, sondern auch kontrastschärfer. Das heißt: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in ihren Heimatländern nehmen sie vieles in Deutschland deutlicher wahr. Der fremde Blick sieht mehr. Die Zeugen befinden sich dabei in einer einzigartigen Situation: mittendrin und trotzdem auf Abstand. Hinzu kommt, dass sie häufig auf sehr engem Raum von dramatischen Veränderungen berichten, auch subjektiven Wandlungen. Etwa wenn ein schwedischer Nazi, Gösta Block, als Mitarbeiter der deutschen Rundfunkpropaganda nach Berlin kommt und ein halbes Jahr später nach Hause zurückkehrt, um ein kritisches Buch über die Nazis zu schreiben. Was ausländische Beobachter außerdem unterscheidet, ist, dass ihnen, was Stil, Rhetorik und literarische Formen angeht, ein größeres Repertoire zur Verfügung steht. Nirgendwo sonst war die literarische Produktion derart eingeschränkt wie im Dritten Reich. Das ist die formale Seite. Was aber sahen Ausländer in Deutschland, was Deutsche nicht sehen konnten oder wollten? Viele beobachten die Deutschen geradezu ethnografisch. Der Schwede Arvid Fredborg zum Beispiel bemerkt, erst im Bunker lerne man »das wahre deutsche Volk« kennen. Er beobachtet nicht nur sich selbst und sein Verhalten in der Extremsituation, sondern vor allem die Einheimischen: Wie reagieren sie? Sind sie hasserfüllt oder apathisch? Erinnern sie sich daran, dass die deutsche Propaganda die eigenen Angriffe auf Warschau, Rotterdam oder London gefeiert hat? Und warum halten sie durch? Führt der Bombenkrieg dazu, dass sie sich noch stärker mit ihrem Regime identifizieren? Flößt er ihnen die Furcht ein, bestraft zu werden, wenn sie den Krieg verlieren sollten? Oder führt er zu widerständigem Denken, das aber kaum in die Tat überführt werden kann, weil die Infrastruktur zerstört ist und sich die Menschen ums bloße Überleben kümmern müssen? Welche Wirkung hat der Bombenkrieg? Wie sinnvoll ist er? Und wie verändern sich die moralischen Maßstäbe in seiner Bewertung? All das sind Fragen, die sich die Autoren stellen und zu beantworten versuchen. Bei den Antworten aber stehen viele Beobachter untereinander in großem Widerspruch. Ich war überrascht, dass die meisten Beobachter zu Beginn des Krieges vom Sinn der Bomben überzeugt waren. Sie glaubten: Die Deutschen werden zermürbt; andauernder Schlafmangel und Produktionsausfälle in den Fabriken werden nicht lange auszuhalten sein; mit wenigen Opfern kann ein großer Effekt erzielt werden. Der US-Amerikaner Howard Smith lief auf die Straße und rief den Fliegern zu: »Mehr davon! Noch größere!« Erstaunlich ist, in welchem Maße die Bombenangriffe von vielen Autoren als etwas beinahe Natürliches gesehen wurden, als normale und gerechtfertigte Kriegshandlungen, die sich im Lauf der Zeit verschärfen – bis es zu spät ist. Erst allmählich stellen sich ethische Fragen. Die meisten späteren Zeugen stellen fest, dass der erwünschte Effekt nicht eintrat. Es herrschte Apathie, die jeglichen Widerstand lähmte. Vor allem aber schien der Bombenkrieg insofern kontraproduktiv zu sein, als er die Schuldgefühle der Deutschen bestätigte und Goebbels’ Propaganda in die Karten spielte. Viele Deutsche wussten oder ahnten, welche Verbrechen ihr Volk begangen hatte. In den Luftangriffen erkannten sie den Willen zur gewaltigen Vergeltung. Diese Erkenntnis führte bei vielen zu einem blinden Weitermachen, um bloß nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ein Teufelskreis! Überwiegt bei den Zeitzeugen eine Identifikation mit oder eine Abgrenzung von ihrer Umgebung? Bei vielen ist beides zugleich der Fall. Sogar William Shirer, ein erbitterter Nazihasser und erklärter Gegner der Deutschen, spricht von »uns hier in Berlin«, womit er sich selbst und die Deutschen meint, wenn er von Bombenangriffen berichtet – die er befürwortet. Kurz vor Kriegsende schreibt Martha Gellhorn sehr ergreifend über das Leben in Trümmern; dieselbe Martha Gellhorn, die vor Wut auf die Deutschen glüht, denen sie ausdrücklich ihr Mitleid verweigert, da sie die halbe Welt in Krieg und Völkermord gestürzt haben. Verachtung und Mitgefühl gehen oft widersprüchlich miteinander einher. Sie haben bei den Texten eine chronologische Abfolge gewählt. Ja, ganz bewusst. Mir war es wichtig, den Luftkrieg historisch in seiner allmählichen Eskalation nachzuvollziehen. Ich denke, dass man aus der Entwicklung heraus mehr versteht, als wenn man die unfassbare Zerstörung beispielsweise Hamburgs oder Dresdens in den letzten Kriegsjahren isoliert betrachtet. Es geht mir nicht allein um die grauenvollen »Höhepunkte« und schon gar nicht um einen Sensationalismus des Schrecklichen. Ebnet die chronologische Abfolge aber nicht die Unterschiede der Zeitzeugen ein? Da steht im ungünstigsten Fall plötzlich der Text eines faschistischen Kollaborateurs neben den Beobachtungen einer KZ-Gefangenen. Die Aussagen von Gefangenen widersprechen den bisweilen verharmlosenden Darstellungen faschistischer Kollaborateure vehement; und manchmal, in der zeitlichen Abfolge, auch unmittelbar. Die Stimmen aus dem KZ oder aus einem Gestapo-Gefängnis bringen Ursache und Wirkung in einen direkten Zusammenhang: hier die Entfesselung eines Vernichtungskrieges, Terror und Shoah – dort die Bombardierung deutscher Städte. Menschen, die ins KZ verschleppt wurden, oder auch Kriegsgefangene sehnten die Bomben hoffnungsvoll herbei. Dies ist ein Teil der Geschichte. Mirjam Levie, eine niederländische Jüdin, die nach Bergen-Belsen deportiert wurde, schrieb, als sie die Trümmer von Bremen aus dem Zugfenster sehen konnte: Dieser Anblick habe die Fahrt »wettgemacht«. Der Schweizer Paul Stämpfli, der im Gefängnis Plötzensee auf die Hinrichtung wartete, macht in seinen Aufzeichnungen folgenden Vorschlag: Man müsse den Deutschen nach dem Krieg auferlegen, die Trümmer 20 Jahre lang liegen zu lassen – als allgegenwärtiges Mahnmal ihrer Verbrechen. Werden Sie weiter am Thema ausländische Beobachter und Nationalsozialismus arbeiten? Ja, ich arbeite an einer Studie. Zum anderen plane ich eine weitere Sammlung internationaler Zeugenberichte über den gesamten Zeitraum der Naziherrschaft. Es gibt noch viele wichtige Dokumente. Das Potenzial fremder, zeitgenössischer Beobachtungen aus Nazideutschland ist jedenfalls für die Literatur- wie für die Geschichtswissenschaft längst noch nicht ausgeschöpft. interview: maik söhler Oliver Lubrich (Hg.): Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939 bis 1945. Eichborn/Die Andere Bibliothek, Frankfurt/M. 2007. 476 S., 30 Euro | Maik Söhler | Maik Söhler: | [] | webredaktion | 21.02.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/08/der-fremde-blick-sieht-mehr |
Zwangsvorstellungen eines deutschen Generalstäblers. | "Über das, was wahr und was bloße Meinung, nämlich Zufall und Willkür sein soll, entscheidet nicht, wie die Ideologie es will, die Evidenz, sondern die gesellschaftliche Macht, die das als bloße Willkür denunziert, was mit ihrer eigenen Willkür nicht zusammenstimmt. Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Autorität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht." Adornos 1961 formulierte Einsicht in das Verhältnis von "Meinung, Wahn, Gesellschaft" wird durch die zunehmende Müdigkeit der wenigen kritischen Geister hierzulande, sich der ungebrochenen Serbenhetze entgegenzustellen, aufs neue bestätigt. Was soll man auch tun, wenn durch die Machtlosigkeit eines jeden Versuchs, die "gesunde" - den Apologeten bürgerlicher "Öffentlichkeit" zufolge sich einzig an empirischen Tatsachen orientierende - Meinung zumindest als Möglichkeit anzudeuten, doch nur die Übermacht des vom Staatsbürgerkollektiv sowieso Gewußten bestätigt wird. Die in der Tat durch "Fakten" im Wortsinne untermauerten Anstrengungen, die beispielsweise Peter Handke, Thomas Deichmann, Mira Beham und Peter Brock unternahmen, um den Empfängern der antiserbischen Hetzpropaganda einen unverzerrten Blick auf das Geschehen zu ermöglichen, sind gescheitert. Allerdings nicht, weil sie totgeschwiegen wurden. Vielmehr galt der hiesigen Öffentlichkeit allein der Versuch, Propaganda mit Tatsachen zu konfrontieren, als illoyale Unverschämtheit, einzig geeignet, die gewollte "Wahrheit" der Propaganda zu bestätigen. Es hat keinen Sinn, einen von Zwangsvorstellungen Besessenen über deren Unbegründetheit aufklären zu wollen. Befreien könnte ihn und seine potentiell gefährdete Umgebung nur die Einsicht in die Arbeitsweise der ihn plagenden Dämonen. Doch was tun, wenn der Besessene aufgrund seines pathogenen Zustandes zu solcher Einsicht weder fähig noch bereit ist? Die bürgerliche Gesellschaft in ihrer universellen "Humanität" hat für solche Fälle ein probates Mittel auf Lager: Wegsperren. Was tun aber, wenn Zwangsvorstellungen nicht mehr Ausnahmen, sondern Allgemeingut sind, wenn sie von den Repräsentanten der Gesellschaft in Übereinstimmung mit ihrem Fußvolk öffentlich artikuliert werden, wenn also das "Irre" in den Stand allgemeinverbindlicher "Wirklichkeit" gesetzt ist? Es bleibt nur die Möglichkeit, aus den wahnhaften Äußerungen auf die praktischen Intentionen zu schließen. Um sich dann vor deren Konsequenzen zu schützen, dürfte man allerdings nicht völlig machtlos sein. "Was wäre, wenn Karadzÿic«-Anhänger sich einen Soldaten greifen und ihn ... ach was, ... schlachten würden die den. Wie lange halten wir solche Bilder denn aus." Das stammt nicht von Peter Schneider, nicht von Erich Rathfelder, ist kein Produkt des "Meutenjournalismus". Es ist der vom Tagesspiegel (27. August) wiedergegebene Originalton des Klaus Naumann, deutscher General und ehemaliger Oberbefehlshaber der Bundeswehr, heute Chef des Militärausschusses der NATO, dem Gremium, in dem die Entscheidungen über Krieg und Frieden getroffen werden. Was der General hier in einem Vortrag über den "friedensstiftenden" Einsatz der von ihm kommandierten Sfor-Truppen zum besten gibt, ist eine geradezu klassische sadistische Projektion. Weil es sich hier nicht um einen beliebigen Stammtischsadisten handelt, sollte Naumanns Phantasie durchaus in der Tradition der kolonialistischen Kannibalismus-Projektionen und der antijüdischen Ritualmord-Legende gesehen werden. Das, was die Projekteure in die blutrünstigen "anderen" projizierten, wollten sie diesen stets selbst antun und übertrafen dann in ihrem Handeln noch ihre Phantasien. Das vom General genußvoll gemalte Bild der schlachtenden Serben und die billige rhetorische Frage nach der Standhaftigkeit deutscher Medienkonsumenten drückt den Wunsch nach präventiver Vergeltung aus. Wie eine solche dann bezeichnet wird, dafür liefert der gleiche Bericht des Berliner Hauptstadtschranzenblatts einen Anhaltspunkt: Die Tötung des ehemaligen Polizeichefs von Prijedor durch ein Sfor-Kommando wird "Verhaftung" genannt. Die deutsche Öffentlichkeit wird mit solchen Neudefinitionen keine Probleme haben. An der Unterscheidung von Faktischem und Willkürlichem ist sie nicht interessiert, überhaupt scheinen ihr Begrifflichkeiten nur noch notwendige, aber keineswegs unverzichtbare Verpackungen zu sein. Zeigte doch zuletzt der einhellige Beifall für das Agieren der "westlichen Wertegemeinschaft" im bosnisch-serbischen Machtkampf, daß hierzulande auch die inhaltliche Definition der sonst kultisch verehrten "demokratischen Werte" - wie Wählervotum und parlamentarische Mehrheitsentscheidungen - nicht mehr wert sind als der Dreck unter dem Fingernagel eines deutschen Generals. Von einer anderen Phantasie des Naumann wünschte man sich allerdings, daß sie in Erfüllung gehe: "Bei der heutigen Vernetzung der Welt wissen Sie nie, ob es zu Racheakten gegenüber Objekten im Herkunftsland der Truppe kommt." Doch angesichts der Schwäche und Zahnlosigkeit der radikalen Opposition im Herkunftsland Deutschland muß man wohl realistischerweise davon ausgehen, daß sich auch hier nur der projizierte Wunsch des Generals erfüllt: Ausbau des innerstaatlichen Über-wachungsapparates. | Horst Pankow | Horst Pankow: Klaus Naumann sinniert über friedensstiftende Einsätze in Bosnien | [] | webredaktion | 04.09.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/36/zwangsvorstellungen-eines-deutschen-generalstaeblers |
Daniela Berner | Was Superman mit dem Führer gemacht hätte: Eine Ausstellung in Frankfurt zeigt den Comic als Medium jüdischer Erinnerung. | [] | https://jungle.world//autorin/daniela-berner |
||||
Martin Büsser | Eingesperrt im Warschauer Ghetto, legte der jüdisch-polnische Historiker Emanuel Ringelblum ein umfangreiches Untergrundarchiv an, das den Alltag im Lager dokumentiert. Der amerikanische Historiker Samuel D. Kassow hat die Geschichte des Archivs und seines Leiters rekonstruiert. Homosexualität wurde ab Mitte der sechziger Jahre zum Thema in der Bravo: als krankhafte Abweichung. Erst in den Achtzigern wurde Schwulsein akzeptiert und Jimmy Somerville zu einer wichtigen Galionsfigur der Bewegung. Eine Studie zum Umgang
des Blattes mit dem Thema Homosexualität hat rund tausend Beiträge aus fünfzig Jahren untersucht. Heute ist nur noch von der Krise der Popkritik die Rede, einer Disziplin, die niemand mehr braucht. Eine Sammlung von Texten
des ersten wichtigen deutschen Popkritikers Helmut Salzinger zeigt, dass mal wieder früher alles besser war. Wenn Tarantino Comics zeichnen würde: »Spirou und Fantasio« im Kampf gegen die deutschen Besatzer. Wenn Nina Hagen die Mutter des Punk ist, dann ist Valeska Gert wohl seine Großmutter. Wolfgang Müller würdigt die vergessene Berliner Künstlerin. In Deutschland geschätzt, im Ausland geliebt: Neo Rauch ist die
Heidi Klum unter den Bildenden Künstlern. Eine kritische
Würdigung aus Anlass seines 50. Geburtstags. Der Fotoband »Fluffy Clouds« von Jürgen Nefzger zeigt Landschaften,
in denen Atomkraftwerke nicht fern sind. Die Studie »Queere Tracks« verspricht, eine Geschichte queerer Popmusik zu erzählen, verwechselt dabei aber »queer« mit »feministisch«. Dicke Männer haben es im Pop nicht schwer. Dicke Frauen schon. Dass aber Normen austauschbar sind, hat nicht erst Beth Ditto gezeigt. War Herbert Marcuse ein Vordenker der Grünen? Im sechsten Band seiner nachgelassenen Schriften, »Ökologie und Gesellschaftskritik«, beschäftigt er sich vor allem mit dem Verhältnis von Wissenschaft
und Philosophie und dem Umschlag ins Irrationale. Die frühverstorbene Fotografin und Künstlerin Birgit Jürgenssen zählt zu den herausragenden Vertreterinnen der feministischen Avantgarde. Eine Monografie stellt ihr Werk vor. Über den »Sexskandal« um die Ehefrau des nordirischen Premierministers und eine ungewöhnliche Gender-Konstellation. Bruce Gilbert war schon als Musiker der Postpunkband Wire sperrigen Klängen zugetan. Solo ist er für gar keine Kompromisse mehr zu haben. | [] | https://jungle.world//autorin/martin-buesser |
||||
Lukas Egger | Derzeit dämpft die österreichische FPÖ dämpft ihre Kritik an der EU, an ihrer Ablehnung der europäischen Integration aber hat sich nichts geändert. Dritter Teil einer Serie über die Reaktionen auf das britische EU-Referendum. In Österreich wird über die Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen debattiert. Die Regierung will mit ihrem Beschluss vor allem die deutsche und europäische Asylpolitik beeinflussen und erfüllt so Forderungen der Rechtsextremen. Nach dem Bankrott der Supermarktkette Zielpunkt debattiert man in Österreich vor allem über unternehmerische Moral. Noch immer ertrinken viele Flüchtlinge im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa. Die Unterbringung für Tausende von Asylsuchenden in Deutschland ist noch immer weitgehend unorganisiert. Während für die dringendsten humanitäre Probleme bislang keine Lösungen gefunden sind, diskutiert die deutsche Politik bereits über den eigenen Arbeitsmarkt. Die Auswirkungen der Zuwanderung werden skeptisch betrachtet. Österreich will angesichts toter Flüchtlinge und überbelegter Asylzentren vor allem Schlepper bekämpfen und die Grenzkontrollen verstärken. <none> | [] | https://jungle.world//autorin/lukas-egger |
||||
Jungle World #23/2002 - Der Bodenstatz vom Bodensee | Im dschungel läuft: | FAZ gegen Martin Walser 05.06.2002 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2002/23 |
||
Sven Jachmann | Als wär’s ein französischer Quasselklassiker: Im Comic »Sonnenfinsternis« streiten sich sechs Freunde in einem Ferienhaus
in der Provinz über die Liebe, die Lebensentwürfe und die verpassten Gelegenheiten. Lange indiziert, nun als DVD wieder veröffentlicht: Sam Peckinpahs »Straw Dogs« zeigt die gewalttätige Seite der Vernunft. von sven jachmann | [] | https://jungle.world//autorin/sven-jachmann |
||||
»Dann gibt’s auf die Finger!« | Die Santa Fe Natural Tobacco, die die Zigarettenmarke »Natural American Spirit« herstellt, hat Anfang Mai die Aktion »Spring Ride« gestartet. Sie stellt in den Berliner Bezirken Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg kostenlos Fahrräder zur Verfügung. Ein leidenschaftlicher Fahrradfahrer hat nachgefragt. Santa Fe Natural, hallo. Ich hab’ da mal eine Frage. Können Sie mir etwas über diese Fahrradaktion sagen? Wie funktioniert das? Ich hab noch keines dieser blauen Fahrräder gesehen. Diese Fahrräder stehen irgendwo. Wie kommt man zu diesen Rädern? Wenn Sie eins sehen, dann schnappen Sie sich eins. Und dann kann man einfach rumfahren? Ja. Anschließend stellen Sie es wieder irgendwo ab. Aber nicht abschließen, das ist ganz wichtig, damit der Nächste sich das dann schnappen kann. Ach so! Und wenn man es doch anschließt, was dann? Dann gibt’s auf die Finger! Mal im Ernst: Man kann sich einfach ein Fahrrad nehmen, so lange wie möglich oder wie man will damit rumfahren, und dann lässt man es irgendwo stehen? Ja. Haben Sie nicht Angst, dass die alle geklaut werden? Das ist ja der Test. Wir gucken mal, ob wir uns da auf unsere verantwortungsvollen Konsumenten verlassen können. Kennen Sie Berlin? Also, ich meine, hier werden ja sogar Fahrräder geklaut, die abgeschlossen sind. Genau. Aber vielleicht ist das ja nicht so interessant, wenn die nicht angeschlossen sind. Glauben Sie das wirklich? Die Fahrräder haben keinen Funk oder so etwas, wie zum Beispiel die von der Bahn? Nein, das haben die nicht. Wie viele stellen Sie denn da zur Verfügung? Nicht, dass am Ende das Unternehmen Pleite geht. 70 Stück. Und die erkennt man daran, dass sie blau sind … … und das Logo von American Spirit, den Indianer, aufgemalt haben. Nicht, dass man sich ein anderes Fahrrad nimmt, das gar nicht dazu gehört. Am Ende wird man noch erwischt. Das glaub ich nicht. Da ist kein Trick dabei? Nein. Wie lange soll diese Aktion dauern? Sammeln Sie die Räder am Ende wieder ein? Wir gucken erst einmal, ob es noch welche einzusammeln gibt. Dann schaue ich mal, ob ich irgendwo eines sehe. Alles klar. interview: stefan wirner | Stefan Wirner | Stefan Wirner: | [] | webredaktion | 16.05.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/20/dann-gibts-auf-die-finger |
Bremen? Bremen? | War da was? Lustige musikalische Tiere und eine verpatzte Meisterschaft, ja, aber sonst? Allein dank der Diskussion darüber, ob man eine ehemalige Terroristin auf unschuldige kleine Kinder loslassen darf, nahmen einige besonders aufmerksame Bürger außerhalb des kleinsten Bundeslandes die bevorstehende Bürgerschaftswahl zur Kenntnis. Seit Sonntag fragt man sich, wie viele Menschen in der Stadt selbst davon wussten. Denn mit einer Wahlbeteiligung von 57,6 Prozent der Stimmberechtigten ging es in etwa so zu wie bei den Asta-Wahlen an einer technischen Fachhochschule. Jene Bremer und Bremerhavener, die am Sonntag nicht depressiv im Bett lagen und auch nichts Besseres zu tun hatten, als zu einer muffigen Grundschule zu spazieren, belohnten die Grünen, die Linkspartei, die FDP und die DVU mit Kreuzchen dafür, dass sie derzeit nicht regieren. Sie alle sind künftig in der Bürgerschaft vertreten. Die Große Koalition könnte von einer rot-grünen abgelöst werden, und das könnte wiederum sogar die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat verändern. Doch selbst Kurt Beck scheint das egal zu sein, er äußerte »keine Präferenz« für einen möglichen Koalitionspartner. Derweil feiert Gregor Gysi, dass seine Partei zur »bundesdeutschen Kraft« geworden ist. Aber auch das lockt keinen Esel, keinen Hund, keine Katze und keinen Hahn hinter dem Ofen hervor. regina stötzel | Regina Stötzel | Regina Stötzel: | [] | webredaktion | 16.05.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/20/bremen-bremen |
bini adamczak und margarita tsomou | Ist der Feminismus, wie TOP Berlin nahelegt, »kaum noch geeignet, eine radikale Kritik der Verhältnisse voranzubringen«, wenn etwa die Bild-Zeitung 100 Frauen* einlädt, über Sexismus am Arbeitsplatz zu sprechen? Und gilt das gleiche für den Antikapitalismus, wenn sich auch Heiner Geißler ihm irgendwie sozialmarktwirtschaftlich anschließt? Ist Antikapitalismus überhaupt geeignet, eine radikale Kritik an den heterosexistischen Verhältnissen voranzubringen? | [] | https://jungle.world//autorin/bini-adamczak-und-margarita-tsomou |
||||
Gregor Katzenberg | Die Fotoausstellung »Fette Beute« im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe widmet sich der Ikonographie des Reichtums. Hartz IV und die Linke in Zeiten der Selbstoptimierung. Die Erfindung der Schreibmaschine hat die Menschheit stärker geprägt als die des Buchdrucks. Eine kleine Kulturgeschichte vom Schreibautomaten zur Rechenmaschine. Die Stadt, deren Entwurf auch mit sozialen Utopien verbunden war, ist zur unternehmerischen Stadt geworden. Das Zusammenleben wird vom Profitgedanken bestimmt. Drei Bücher beleuchten die Extreme dieser Entwicklung. Über das philosophische Denken der griechischen Antike und seine gegenwärtige Bedeutung. Kunst als asoziale Plastik: Jonathan Meese wird in Bayreuth 2016 Regie und Bühnenbild für Richard Wagners »Parsifal« besorgen. Der linke Theoretiker Robert Kurz ist im Alter von 68 Jahren gestorben. Seine Analysen der kapitalistischen Gesellschaft gehören zu den wichtigsten Interventionen gegenwärtiger Kritischer Theorie. | [] | https://jungle.world//autorin/gregor-katzenberg |
||||
david newman | <none> | [] | https://jungle.world//autorin/david-newman |
||||
wolfgang reinke (text) und christoph schröder (fotos) | Jahrzehntelang hofften ehemalige NS-Zwangsarbeiter in Lettland vergeblich auf Entschädigung. Jetzt soll die Auszahlung beginnen. | [] | https://jungle.world//autorin/wolfgang-reinke-text-und-christoph-schroeder-fotos |
||||
max brym | Die Auseinandersetzung zwischen Europa und Amerika offenbart, dass auch weltweit
operierende Konzerne nach wie vor an Nationalstaaten gebunden sind. von max brym | [] | https://jungle.world//autorin/max-brym |
||||
andrea perugini und steffen vogel | Drei Jahre nach dem G 8-Gipfel in Genua erscheinen vor Gericht 29 leitende Polizisten, die am Überfall auf die Diaz-Schule beteiligt waren. von andrea perugini und steffen vogel | [] | https://jungle.world//autorin/andrea-perugini-und-steffen-vogel |
||||
Ich?! Ein Schandfleck? | Seit Ende der neunziger Jahre hat die Islamische Republik Iran einen rasanten Boom neuer Medien erfahren. Vor allem das Internet wird von vielen jungen Iranern als neuer Freiraum entdeckt, sich über ihren Alltag und die politischen Verhältnisse in ihrem Land unabhängig zu informieren und auszutauschen. Allein in der Hauptstadt Teheran gibt es inzwischen rund 4 000 Internetcafés und sechs bis sieben Millionen Internetnutzer, die sich mehrere Stunden täglich im Netz aufhalten, Tendenz steigend. Unter ihnen sind auch viele regimekritische Journalisten oder Verfasser von Online-Tagebüchern, den so genannten Weblogs – ein vielfältiges und unzensiertes Mediennetzwerk, das den autoritären Machthabern in Teheran bereits seit einiger Zeit Probleme bereitet. Denn seit dem Siegeszug des Internet im Iran hat sich eine eindrucksvolle, lebendige Blogger-Community entwickelt. »Weblogistan« – wie sie sich selbst nennt. 70 000 bis 100 000 aktive Internet-Tagebücher soll es bereits geben. Die Mehrheit der Blogger ist anonym und schreibt auf Persisch, ein weitaus geringerer Teil auf Englisch. Der nach Kanada exilierte iranische Journalist Hossein Derakhshan gilt als »godfather« der persischen Weblogszene. Im Juni 2002 eröffnete er unter www.hoder.com erstmals sein eigenes Blog, in dem er Anleitungen zur Erstellung eines Online-Tagebuchs gratis als Download zur Verfügung stellte. Die seitdem regelmäßig neu entstandenen Blogs und Linksammlungen anderer Iraner stellt er auf seiner Webseite zusammen. Nicht zuletzt dank seines Engagements zur Verbreitung der Weblogs hat Derakhshan im Iran eine kleine Medienrevolution ausgelöst, zumal seit dem Beginn seiner »Blog-Kampagne« die elektronischen Tagebücher im Iran wie Pilze aus dem Boden schossen. »Ein Grund für die rasche Verbreitung des Bloggens im Iran ist die Tatsache, dass es Bedürfnisse befriedigt, die die Printmedien nicht erfüllen. Das Bloggen findet in einem sicheren Raum statt, in dem sich Menschen freimütig über die unterschiedlichsten Themen austauschen können«, schreibt die iranische Publizistin Nasrin Alavi in ihrem Buch »Wir sind der Iran. Aufstand gegen die Mullahs – die junge persische Weblog-Szene«. In ihren Tagebüchern berichten die – vor allem jugendlichen – Weblogger über ihren Alltag, ihre Liebesbeziehungen, Zukunftsängste und die Hoffnung auf ein unbeschwertes Leben ohne Zwang. Keine Selbstverständlichkeit in einem radikal-islamischen Gottesstaat, der die freie Meinungsäußerung massiv unterdrückt, in dem viele gesellschaftliche und politische Themen in der Öffentlichkeit tabuisiert werden. Bis heute bleibt der Iran nach Ansicht der Organisation Reporter ohne Grenzen das größte Gefängnis für Journalisten im Mittleren Osten. Selbst unpolitische Weblogs geraten zunehmend ins Visier islamischer Tugendwächter. Die 29jährige Teheranerin Sanam Dolatshahi, Online-Redakteurin der iranischen Frauenrechtsorganisation »Women in Iran« (womeniniran.org), war eine der ersten Aktiven innerhalb der Blogger-Szene im Iran. Sie berichtet von den grundsätzlichen Schwierigkeiten, mit denen die junge persische Weblog-Szene von Anbeginn konfrontiert wurde: »Das Problem ist, dass es im Iran überhaupt kein wirkliches Gesetz über das Internet gibt«, so Dolatshahi, »einige Leute denken deshalb, dass sie völlig frei schreiben können. Da wir unter unserem echten Namen publizieren, sind wir sehr vorsichtig, was wir schreiben. Wir wollen nicht verhaftet werden. Manchmal irren wir uns auch. Es ist eine Gratwanderung, da man nie genau weiß, wo die Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem verlaufen. Und es ist immer die Angst da, dass das, was wir schreiben, dem Staat nicht passt.« Die Cyber-Revolution im Iran beunruhigt die Mullahs. Und das nicht ohne Grund: Als viele reformorientierte Zeitungen seit 2000 verboten wurden, entzogen sich Journalisten und Schriftsteller der Zensur und Kontrolle. Sie gründeten Online-Magazine oder verbreiteten ihre politischen Ansichten in Weblogs. Seitdem beobachtete der Staat mit Argusaugen vermeintlich westlich-dekadente, anti-islamische oder konterrevolutionäre Inhalte im Netz. Online-Medien werden heute verstärkt gefiltert oder blockiert, Regimekritiker festgenommen. 2004 holten die Mullahs erstmals zum großen Schlag gegen die iranische Blogsphäre aus: Regimekritiker, wie Hanif Mazroui, Arash Sigartshi oder Modschtaba Saminedjad wurden festgenommen, angeklagt und zeitweise inhaftiert. Informationsportale wie Blogfa.com, Blogger oder Persian Blog werden seit längerem überwacht. Und in den letzten Jahren riefen immer wieder konservative Abgeordnete die Regierung auf, beliebte Jugend-Diskussionsforen, wie Orkut oder Yahoo Messenger, zu verbieten. Sanam Dolatshahi kann sich noch gut daran erinnern, wie die Webseiten ihrer Frauenrechtszeitung »Women in Iran« zum ersten Mal vor zwei Jahren blockiert wurden: »Wir konnten plötzlich unser Angebot nicht mehr abrufen. Schließlich machte die Herausgeberin, Shadi Sadr, unseren Fall in politisch einflussreichen Kreisen publik. Und zusammen mit Mitgliedern des damals noch von den Liberalen dominierten Parlaments konnten wir dann erreichen, dass das Ministerium für Kommunikation die Filter wieder beseitigte.« Auch Mahsa Shekarloo, Herausgeberin des feministischen Online-Magazins Badjens, berichtet, dass auch ihre Webseite bereits mehrfach blockiert wurde. Doch glaubt sie, dass sich das Filtern missliebiger Webseiten im Iran langfristig nicht aufrechterhalten lässt: »Zwar kontrollieren sie jetzt stärker das Internet, aber ich bezweifle, dass sie damit Erfolg haben werden«, so Shekarloo. »Die Situation hier ist ja auch nicht mit der in Ländern wie Syrien vergleichbar, wo der Staat der einzige Internetservice-Anbieter ist. Es ist sehr schwierig, dieses Medium vollständig zu kontrollieren, und es gibt mehr und mehr Leute, die wissen, wie man die Filter umgehen kann.« Das totalitäre Regime Irans sei bemüht, eine Gesellschaft aufzubauen, die nur eine einzige Stimme zulasse, meint der renommierte Publizist und Dissident Akbar Ganji. Und diese einzige erlaubte Stimme sei die des religiösen Führers. »Aus diesem Grund filtert das Regime sehr viele Webseiten, was den Zugang zu diesen Seiten erschwert«, so Ganji. »Mit ihren Petrodollars, die sie verdienen, versuchen sie, aus westlichen Ländern die neuesten Technologien einzukaufen, damit sie diese verbotenen Inhalte blockieren können.« Tatsächlich bedienten sich die Behörden in Teheran ausgerechnet des technischen Know-Hows des »großen Satans«, einer US-amerikanischen Computerfirma, um unliebsame Seiten zu filtern. So ermittelte die Initiative »Offenes Netz«, dass die iranischen Behörden unter anderem die von der US-Firma »Secure Computer« entwickelte Software »SmartFilter« einsetzten, um den Zugang zu regimekritische Seiten und Blogs zu unterbinden. Allerdings scheint das Unbehagen, das die Regierung Irans dem Internet entgegenbringt, nicht groß genug zu sein, um das Medium nicht trotzdem für eigene politische Zwecke zu nutzen: So werden jährlich mehrere tausend Studenten in Qom – dem Zentrum der schiitischen Geistlichkeit – an Computer und Internet ausgebildet, um ihr Wissen später in den Dienst der Islamischen Republik zu stellen. Dies wirft ein Schlaglicht auf das Dilemma und die Widersprüchlichkeit eines politischen Systems, das sich einerseits die technologischen Errungenschaften der Moderne zu Nutze macht, andererseits ein anti-modernistisches, klerikal-konservatives Weltbild predigt, das den Einfluss digitaler Medien als Import westlich-dekadenten und gottlosen Gedankenguts durch die Hintertür fürchtet. Präsident Ahmed Ahmadinejad hat diesen Widerspruch für sich vorerst gelöst und ging jetzt mit einem eigenen Weblog ins Netz, wo er im vertraulichen Tonfall über seine schwere Jugend plaudert und gegen Unmoral, Promiskuität und Perversion wettert. http://www.ahmadinejad.ir/ Zitate aus den genannten weblogs nur in der Printausgabe. | arian fariborz | arian fariborz: | [] | webredaktion | 23.08.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/34/ich-ein-schandfleck |
sebastian muy | Nach dem neuen Strafgesetzbuch in Ecuador droht einer Frau, die eine Abtreibung vornehmen lässt, selbst dann eine Gefängnisstrafe, wenn sie nach einer Vergewaltigung schwanger geworden ist. Gegen diese Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gründeten Aktivistinnen und Aktivisten eine Kampagne mit dem Namen YoSoy65. Die Jungle World sprach mit Anaís Córdova P. und Marcelo Echeverría M., Sprecherin und Sprecher der Kampagne über die Abtreibungsdebatte und Frauenrechte in Ecuador. | [] | https://jungle.world//autorin/sebastian-muy |
||||
eberhard löblich | Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer befasst sich die CDU eher unfreiwillig mit ihrer DDR-Vergangenheit. | [] | https://jungle.world//autorin/eberhard-loeblich |
||||
Jungle World #41/2021 - Zur Sonne, zum Reichtum | Im dschungel läuft:
Get Real! In seinem Dokumentarfilm über The Velvet Underground geht Todd Haynes den Verbindungen der Band zum Experimentalfilm nach. | Wirtschaftsreformen in der chinesischen Klassengesellschaft 14.10.2021 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2021/41 |
||
janin hartmann | Nach der anfänglichen Empörung versuchen rechte Politiker, den
Übergriff auf Ermyas M. zu verharmlosen und als eine gewalttätige Auseinandersetzung unter vielen darzustellen. von janin hartmann Der Verein »Gedächtnisstätte« will im sächsischen Borna eine Gedenkstätte errichten. Unter seinen Mitgliedern sind Rechtsextreme aus dem Umfeld des »Collegium Humanum«. von janin hartmann small talk raucherecke | [] | https://jungle.world//autorin/janin-hartmann |
||||
Nie wieder nach Hause | Wann genau ist eigentlich Samstag? Fast alle Clubs machen um Mitternacht auf, am Ausgehsamstag ist also immer schon Sonntag. Die Zeit vorher muss man herumbringen, in Bars, auf der Straße, wenn es gar nicht anders geht, auch zu Hause. Wer in einer Samstagnacht vor ein Uhr in einen Club geht, landet unweigerlich auf einer leeren Tanzfläche, die von einem DJ bespielt wird, der genau weiß, dass niemand um diese Zeit tanzen will, und der deshalb Musik spielt, zu der auch niemand tanzen würde, wenn denn jemand da wäre. Ist aber nicht. Die Leute stehen vor der Tür. In der Schlange.
Das ist überall so, vor allem aber vor dem Berghain. Lang und diszipliniert zieht sie sich durch den märkischen Sand. Ganz hinten eingegrenzt von Baustellengittern, in der Nähe der Tür dann s-förmig von Stahlsperren in eine raumsparende Form gebracht, als wollten die Leute in ein anderes Land einreisen. Wollen sie auch, gewissermaßen. Gemeinhin geht man ja davon aus, das Warten vor einer Clubtür habe etwas mit dem Anspruch auf Exklusivität zu tun, den der jeweilige Laden geltend mache. Ein Glaube, der wahrscheinlich noch immer fernes Echo des gequälten Stöhnens all derjenigen ist, die in den späten Siebzigern einmal darauf warteten, in das New Yorker Studio 54 hereingelassen zu werden, die berühmteste Discothek des 20. Jahrhunderts. Dort stellte das Schreckensregime des Türstehers jene Mischung aus Celebrity, Geld, Schönheit und Jugend her, um die sich auch heute noch einige Sehnsüchte ranken. Man wurde herangewunken, um hineingelassen zu werden – oder eben nicht, dann musste man dabei zuschauen. Was sich den Rest der Nacht hinziehen konnte, es zwang einen ja niemand, dort auszuharren, außer die schiere Attraktivität aufmerksamkeitsökonomischer Macht, die das Nachtleben von Städten regiert, in denen Berühmtheit, Reichtum und Geschmack zusammengehören. Was in Berlin nicht der Fall ist.
Tatsächlich endeten ausnahmslos alle Versuche von Clubbetreibern in den Neunzigern, eine Discothek aufzumachen, die nach diesem Prinzip funktioniert, im Fiasko. Geschmack und Geld gehören in Berlin eben nicht zusammen, sieht man einmal von der Kunstszene ab. Diese jedoch hat ihre einstmals enge Allianz mit den Techno- und Houseclubs gemeinsam mit der Idee, jede Vernissage bräuchte unbedingt einen DJ, seit den Neunzigern fast völlig aufgegeben. Heute treffen sich Künstler, Galeristen, Sammler und Kritiker lieber in einigen Restaurants und Bars in Berlin-Mitte. Dort ist dann auch der einzige Laden, dessen Tür entfernt an das Studio-54-Prinzip erinnert: das Cookies Unter den Linden.
All diese Gedanken kann man sich machen, wenn man in der berühmten Schlange vor dem Berghain steht. Erster und wichtigster Unterschied zu allen anderen Schlangen: Sie ist für alle da. Es gibt zwar auch hier eine Gästeliste, aber die ist vergleichsweise kurz und hat keinerlei symbolische Bedeutung. Wer draufsteht, muss trotzdem warten, er bezahlt nur nichts. Allein die DJs der Nacht und ihre Entourage können an der Schlange vorbeispazieren, dazu noch einige Leute, die dem Berghain besonders verbunden sind. Was aber nicht sehr stark ins Gewicht fällt. Vielleicht drei oder vier kleine Grüppchen pro Stunde ziehen an einem vorbei, mehr nicht. Die beobachtet man, während man wartet. Was immer eine Weile dauert, egal, ob um ein Uhr, um drei Uhr oder um sechs Uhr morgens. Manchmal gibt es einen extra Türsteher, der auf Höhe der Schlangenmitte steht und nichts anderes tut, als die Wichtigtuer zurück ins Glied zu verweisen, die glauben, aus irgendeinem Grund würde ausgerechnet für sie nicht gelten, dass vor der Tür des Berghain alle gleich sind.
Was in der Konsequenz der Umsetzung tatsächlich eine Anmutung von jakobinischem Terror hat. Denn ob Königin oder Bauer: Es kann wirklich jede und jeden treffen. Zum einen ist diese Tür also radikal demokratisch. Zum anderen ist sie aber von einer erfrischenden Willkür getragen, die einen, auch wenn man seit Jahren ohne Probleme hineingekommen ist, jedes Mal aufs Neue die Frage stellen lässt: Ob ich heute abgewiesen werde?
Die Schlangen der meisten Clubs funktionieren nach dem Modell der sozialen Korruption: Alle müssen warten, nur die nicht, die irgendjemanden kennen, der jemanden kennt, der einen auf die Gästeliste schreibt. Das ist zum einen der einzige Vorteil, den man gegenüber den zahllosen Touristen hat. Zum anderen logische Konsequenz des Lebens in einer Stadt, in der nicht das finanzielle oder kulturelle, sondern das soziale Kapital entscheidend ist.
Beim alten WMF, dem prototypischen Mitte-Club in der zweiten Hälfte der Neunziger, führte das dazu, dass es zeitweilig zwei Eingangstüren gab: eine extra für die Leute auf der Gästeliste. Die Schlange an der Gästelistentür war oft bedeutend länger als die der zahlenden Gäste. Was auch damit zu tun hatte, dass ein Club immer etwas von einem Vereinsheim hat. Clubs leben davon, dieses Gefühl von Zugehörigkeit stiften zu können. Dass man auf der Gästeliste steht, signalisiert einem selbst und allen anderen Mitgliedschaft, und das ist wesentlich wichtiger als der Umstand, dass man keinen Eintritt bezahlen muss – eine Summe, die ja verschwindend gering ist, wenn man sie aufrechnet gegen die Beträge, die man im Laufe einer durchfeierten Nacht für Taxifahrten, Alkohol und Drogen ausgibt.
Eine Weile versuchten die Macher des WMF diesen Auswüchsen des Gästelisten-Unwesens zu begegnen, indem sie verstärkt Clubmarken ausgaben. Hatte man eine ergattert, reichte es, sie an der Tür hochzuhalten, seine Nummer zu sagen, die dann auf einer Liste durchgestrichen wurde, und schon war man drinnen. Das schuf aber nur kurzzeitig Erleichterung, denn rasch waren Hunderte von Marken im Umlauf, und die Leute fingen an, sie untereinander auszuleihen. Was zu noch längeren Schlangen an der Tür führte.
Der entscheidende Nachteil der sozialkorrupten Tür wurde ebenfalls am WMF besonders deutlich: Je mehr das Publikum sich als selbstverständlichen Teil eines Clubs begreift, je niedriger also die Schwelle ist, die man am Beginn der Nacht überschreiten muss, desto weniger Gründe gibt es, dort hinzugehen. Als ein Großteil des Publikums am Eingang nur noch die Mitgliedsmarke schwenkte und sich dann umstandslos in die Lounge begab, um dort Multimedia-Projekte zu besprechen, wurde es im WMF nämlich schlicht langweilig. Bei all der Wichtigtuerei und Karriereplanung vergaßen viele, wozu ein Club eigentlich da ist. Zum Feiern nämlich.
Darauf soll einen die Schlange vor dem Berghain vorbereiten. Das gilt für alle. Ob es das Pärchen ist, das sich ab und zu ermahnt, jetzt nicht so herumzuhibbeln, oder die Gruppe Italiener, die aussehen, als gäbe es in Italien Berlin-Fanzines mit Styling-Tips für Berliner Clubs, Thema New-Rave: riesige bunte Sonnenbrillen und extrem asymmetrisch ausgewachsene Frisuren. Die Mädchen tragen lila Leggings zu giftgrünen Tops, die Jungs postironische Slogan-T-Shirts. Eine Frau bekämpft ihre Besorgnis, sie könne womöglich nicht hineinkommen, mit einem endlosen und zunehmend wirrer werdenden Vortrag über ihre Heimatstadt Wuppertal, der von zwei holländischen Jungs, die sie in der Schlange kennen gelernt hat, mit sporadischem »Aha«-Gemurmel am Versickern gehindert wird. Zwei andere Jungs machen Scherze über die, die nicht hineingelassen werden, und ermahnen sich gegenseitig, bloß nicht zu laut zu lachen, sonst könnte es sie ja womöglich selbst treffen.
Die Angst vor dem Türmann lehrt einem den nötigen Respekt, mit dem man sich dem Berghain zu nähern hat. Zumal er mit seinen Gesichtstätowierungen und den zahllosen Piercings auch nach Jahren noch jedes Wochenende aufs Neue die einschüchternde Autorität des radikalen Lebensentwurfs ausstrahlt. Er heißt Sven Marquart, und wenn er nicht hier steht, ist er Fotograf. Leute, die ihn kennen, sagen, er sei sehr nett. Das Berghain hat nicht nur architektonisch einige Ähnlichkeit mit einer Kathedrale. Es ist tatsächlich ein Tempel des Techno. Und ob es so gewollt war oder nicht: Das Warten ist der Auftakt eines Initiationsritus, der sich mit dem Kribbeln fortsetzt, das man unweigerlich verspürt, wenn man sich der Türe nähert. Man sieht, wie die Leute vor einem abgewiesen werden. Man versucht, die Kriterien zu ergründen. Meist ist das ziemlich einfach: Gruppen von Jungmännern haben es immer schwer, sind sie zudem Touristen, Heteros oder offensichtlich Betrunkene, wird es noch schwieriger. Aber das sind nur Wahrscheinlichkeiten. Als einmal ein Punk nicht rein darf und laut schreit: »Fuck you, Deutschland! Ihr seid das Letzte! Ich komm aus Wien!«, müssen alle lachen.
Man möchte nicht mit jedem feiern und weint deshalb keinem der Abgewiesenen eine Träne nach, zugleich bezahlt man die Exklusivität mit dem Risiko, selbst nicht reinzukommen.
Identifikation mit dem Peiniger, gemischt mit Vorfreude und Angst – auf dem Weg ins Berghain kommen eine Menge widersprüchlicher Gefühle zusammen. Und das muss wohl so sein, es ist die erste Spannung, die sich löst, wenn man den Laden schließlich betritt.
Der Initiationsritus setzt sich mit dem sorgfältigen Drogencheck fort, den man im Kassenraum durchläuft: die rituelle Reinigung. Danach entrichtet man seinen Obolus, auch ein religiöser Akt. Um dann in der Garderobe zu landen, einem riesigen Raum, in dem einige Sofas stehen und der von einem riesigen Wandgemälde des polnischen Künstlers Piotr Nathan dominiert wird. Es heißt »Rituale des Verschwindens«. Die Lichtarchitektur unterstützt das Gefühl einer Initiation: Draußen ist es dunkel, im Kassenraum schummerig, in der Garderobe hell. Wenn man die letzte Schwelle überschritten hat und die große Halle betritt, aus der man es vorher schon wummern gehört hat, dann wird es auf einmal wieder dunkel. Man durchquert den Saal, geht die große Stahltreppe hinauf, und auch wenn man weiß, worauf man sich für die kommenden Stunden eingelassen hat: Es ist jedes Mal aufs Neue ein kurzer Schock, vor der Tanzfläche zu stehen und sich von der Musik anbrüllen zu lassen. Einige Sekunden lang, bis sich die Augen auf die Stroboskopblitze eingestellt haben, irrt man halbblind in der Gegend herum. Es hat etwas von einem Schlag ins Gesicht – man muss sich als einigermaßen Nüchterner ja nicht nur durch eine Masse von schwitzenden Körpern drängeln, die alle schon ein paar Stunden länger dabei sind. Die Schallwellen der Musik greifen einen ja ganz körperlich an.
Erst mal was trinken.
Es gibt insgesamt sechs Bars auf den drei Ebenen. Eine im rechten Nebenraum des Berghain, neben der großen Tanzfläche, ein Raum, den man sich vorstellen kann wie das Seitenschiff einer gotischen Kathedrale. So wie die alten Baumeister ein geschicktes Zusammenspiel von Fenstern und schmalen Säulen inszenierten, um die direkte Verbindung nach oben zu betonen, sind hier Scheinwerfer so gesetzt, dass die ohnehin schon hohe Decke noch höher erscheint. Eine andere Bar ist etwas versteckt links neben der Tanzfläche, nahe den Darkrooms. Dort führt auch eine Treppe hoch zur Panoramabar, die etwas kleiner und etwas heller ist als das Berghain. Oben ist House und hetero, unten hart und schwul.
Hier endet die Parallelschaltung von Rave und Religion dann auch. Nicht weil sie prinzipiell Unfug wäre – im Gegenteil. In ihrer afroamerikanisch-schwulen Variante pflegen House und Religion ein inniges Verhältnis. Jack, den die Erfinder der House Music an den Anfang allen Seins setzten – »In the beginning there was Jack/And Jack had a groove/And this groove was the beginning of all groove« (Fingers Inc., »Can You Feel It«) –, war Jedermann und Tanzflächengott zugleich, ein Erlöser, geboren aus der Übertragung der Befreiungsrhetorik der Bürgerrechtsbewegung auf die schwule schwarze Subkultur. Das alte Emanzipationsversprechen wurde für die eigenen Zwecke umgedeutet, erweitert und spezifiziert. Und viel vom Pathos der schwarzen Kirchen übernommen.
Dennoch: Auch im Chicago der mittleren Achtziger ging es beim Ausgehen vor allem um die ganz profane Sünde. Und nur im Deutschen wird der Ort hinter den Plattenspielern tatsächlich Kanzel genannt – auf Englisch heißt sie höchst sachlich »booth«. Wenn man sich in der Panoramabar umschaut, gibt es genau zwei Dinge, die dieser Laden mit einer Kirche gemeinsam hat. Wie in jeder Kirche wird auch hier versucht, den Wunsch nach transzendentaler Erfahrung zu institutionalisieren – wenn das Religion ist, dann teilen die Anwesenden hier einen tiefen Glauben. Nur, dass sie nichts weiter verbindet als der tief empfundene Wunsch, es sich mal wieder so richtig zu besorgen. Und das andere: Wenn in den Kirchen der Sonntagsgottesdienst beginnt, sind auch hier noch alle da, um dem zu lauschen, was der Mann oder die Frau in der Kanzel zu sagen hat. Ins Berghain geht man spät, mitunter sehr spät: Viele Berliner kommen mittlerweile ausgeschlafen am Morgen, um der Touristen-Stoßzeit bis acht Uhr auszuweichen. Und man bleibt lange. Was man in den Stunden dazwischen dort macht, daran kann man sich später oft gar nicht mehr genau erinnern. Nicht nur, weil man zwischenzeitlich unter dem Einfluss diverser Weichspüler und Muntermacher gestanden haben mag – das Berghain öffnet ein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum. Andere Läden betritt man, bleibt eine Weile und fährt dann woandershin. Hier bleibt man. Der Rest der Welt verschwindet. Im Berghain ist man out of area. Das muss man wollen. Man kann sich sehr verloren fühlen als einzig Nüchterner unter Hunderten Rauschwilligen. Zumal der Laden riesig ist – in einer guten Nacht werden sicher 3 000 Leute durchgeschleust. Dabei wird aber jeder Raum von einem so sicheren Gefühl für Proportionen getragen, dass man – nun ja, dass man sich hier zu Hause fühlt, wäre wohl ein bisschen viel des Guten. Wie ein Fisch im Wasser, das trifft es eher. Man ist ja hier, weil es gerade nicht zu Hause ist.
Es ist nicht erlaubt, im Berghain zu fotografieren, nicht einmal mit der Kamera in seinem Handy. Weil viele Gäste nicht fotografiert werden wollen, während sie ihre sexuellen Fantasien ausleben, wird einem auf Nachfrage an der Tür gesagt. Das mag sein, doch vor allem wäre jedes Foto eine Brücke nach draußen, eine Erinnerung daran, dass es das Draußen überhaupt gibt. Kein Club schafft es so perfekt, sich gegen dieses Draußen abzudichten, wie das Berghain. Vor der Tür mag die Sonne schon hoch stehen – drinnen herrscht immer das Halbdunkel des gefühlten Morgengrauens.
Sicher, es gibt Leute, die hier Dinge machen, für die sie dieses Dunkel suchen. Jeder Besucher hat schon mal gesehen oder gehört, wie Leute an der Bar Sex hatten. Oder auf einem Sofa. Oder neben der Tanzfläche. Auch wenn die expliziten Sexpartys seit jeher ins angeschlossene lab.oratory ausgelagert sind (wo es Veranstaltungen für jeden sexuellen Geschmack gibt, solange er im weitesten Sinne schwul ist: von den »Yellow Facts« über »Fausthouse«, »Beard« und »Slime« bis zur Bikerparty »Spritztour«), hat das Berghain zwei Darkrooms. Und es gibt alle möglichen Geschichten über Leute, die in verschiedensten Zuständen temporärer Enthemmung dies und das machten.
Meist aber haben die Berghain-Geschichten damit zu tun, dass jemand wirres Zeug erzählt oder erzählt bekommt, oder dass man irgendjemanden trifft oder kennen lernt, der ziemlich außer sich ist. Dass man mit irgendjemandem gemeinsam aufs Klo geht und dass es einem der Beteiligten danach entweder wahnsinnig gut geht oder nicht so gut. Diese Geschichten sind oft auch unter der Woche noch lustig, manchmal aber auch traurig.
Vor allem haben sie aber ein unglaubliches Eigenleben. Wer über die Jahre immer wieder ins Ostgut und Berghain gegangen ist, kann an sich selbst und seinen Freunden wunderbar beobachten, wie aus diesen Geschichten der Mythos dieses Ladens entstanden ist und immer wieder aufs Neue konstituiert wird. Es gibt ja dieses große kollektive Gespräch, in dem man später die Ereignisse des Wochenendes noch einmal durchgeht, sich erzählt, wem was passiert ist, was man gesehen hat, was andere Leute einem erzählt haben, was sie wiederum gesehen und erzählt bekommen haben. Ein Gespräch, in dem all diese Geschichten ständig neu erzählt werden, neue Gewichtungen bekommen, wo abgewogen, bewertet und begreifbar gemacht wird. Wo man sich versichert, dass es so nicht weitergehen kann, und sich insgeheim freut, dass man bald wieder verlockt sein wird.
Ganz normale Ausgehgeschichten eigentlich, wie man sie auch in anderen Clubs erlebt – nur, dass es dort selten Sonntagnachmittag um fünf ist, wenn man den Absprung zurück in die Welt schafft. Das Besondere an den Geschichten ist, dass sie kontinuierlich in das große Berghain-Gespräch verwoben werden. Wie die von dem Mann, der seinen Partner auf der Tanzfläche des Berghain fistete und ein Zentimetermaß auf den Unterarm tätowiert hatte. Oder die eines Freundes, der aufs Klo ging, dort einer unbekannten Frau begegnete, die ihn anschaute und sagte, »los, fick mich jetzt«, was dieser aber nicht wollte, woraufhin diese ihm einen Faustschlag verpasste, der noch tagelang als Veilchen sichtbar war. Oder die von dem Mann, der auf dem Klo war, um zu pinkeln, als sich ein anderer neben ihn stellte, ihm kurz und überraschend seine Hand in den Strahl hielt, die Pisse austrank und wieder verschwand – »er hätte wenigstens fragen können!«
So entsteht der Mythos, und er setzt sich endlos fort. Das große Gespräch findet längst nicht mehr nur an Berliner Telefonen statt. Auch in Newsgroups werden Nächte diskutiert, in Stockholm oder Mailand gehen die Geschichten mit der stillen Post herum. In Melbourne wissen ein paar Leute Bescheid. Und irgendwann steht dann im New Zealand Herald, dass es in Berlin Technoclubs gibt, wo Sex auf der Tanzfläche die normalste Sache der Welt ist. Woraufhin dann wieder ein paar Neuseeländer ihre Berlin-Flüge buchen.
Für die Mythenbildung ist es ziemlich gleichgültig, ob die Geschichten sich wirklich ereignet haben, es genügt, dass es sie gibt, dass sie erzählt und weitererzählt werden.
Das Berghain ist ja nicht die Bar 25, die sich ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt am Spreeufer befindet. Auch dieser eilt der Mythos des entgrenzten Feierns voraus, aber die Geschichten aus der Bar 25 sind härter und grotesker. So wie die von der Frau, die auf einer Wiese lag, ihr Handy als Vibrator benutzte und »Vagina-Dialog! Vagina-Dialog!« rief. Verglichen damit geht es im Berghain alles in allem recht zivilisiert zu. Ja, in den Metallkabuffs neben der Panoramabar-Tanzfläche wird manchmal gevögelt. Im Grunde wissen die Leute sich hier aber zu benehmen. Oder sie fragen vorher: »Tschuldigung, ich muss dich jetzt echt mal kurz total volllabern, ist das okay?«
Das lässt man dann gerne mit sich geschehen.
Dann läuft man herum, schaut mal hier und mal da, trinkt was, geht aufs Klo und guckt vom Pissoir hinter der Panoramabar aus durch ein Fenster auf diesen merkwürdigen kleinen Bach, der sich durch das Brachland schlängelt. Man trifft alle möglichen Leute, manche kennt man, andere nicht. Während man darauf wartet, an der Bar bedient zu werden, erklärt einem ein Franzose Anfang zwanzig, dass er ein Techno-DJ aus Montpellier sei, und wie die Moslems nach Mekka pilgern, so sei er nach Berlin gekommen. Am Treppenaufgang kommt man mit einem riesigen, halbnackten Skinhead ins Gespräch, der einem lächelnd erklärt, so einen Club gäbe es nicht noch mal, »nicht mal in Russland«. Neben der Tanzfläche nimmt man den Faden eines Gesprächs über Dubreggae wieder auf, den man vor einigen Wochen dort liegen gelassen hat. Und dann tanzt man. In einer guten Nacht haben Berghain und Panoramabar die besten Tanzflächen der Welt. Alles, was gut ist an zwanzig Jahren House und Techno, glaubt man dann hier aufgerufen, die musikalische Expertise des Publikums ist erstaunlich, genauso wie die Bereitschaft, diese über Bord zu schmeißen, sobald die Euphoriekurve es verlangt. Eine Mischung aus schwul, hetero, älter, jünger, Mann, Frau, Berliner und Tourist, die nicht etwa wegen ihres multikulturellen Charmes so einmalig ist, sondern weil sie eine ganz eigene Dynamik zu entwickeln vermag. Auf einer Tanzfläche aus hartgesottenen Berliner Technoveteranen wissen zwar alle, was los ist, aber manchmal können sie die nötige Begeisterung vermissen lassen, wenn der DJ den Bass nach acht Takten Pause wieder reinknallen lässt. Man hat diesen Effekt einfach schon ein paar Mal gehört. Würde man sie vollständig durch junge schwule Italiener austauschen, die zum ersten Mal im Berghain sind und so richtig steil gehen, wäre es wahrscheinlich egal, was läuft – sie würden immer durchdrehen. Die Kombination aber ist wunderbar. Denn nichts geht über eine Tanzfläche, die sich über die Jahre gebildet hat, die weiß, was von welchem DJ zu erwarten ist. Und die trotzdem in der Lage ist, diese Routinen immer wieder zu durchbrechen. Die Musik ändert sich ja auch von Monat zu Monat.
Und irgendwann ist man in einem so verklärten Zustand, dass man emphatisch den politischen Gehalt von elektronischer Clubmusik bejaht. Er liegt in der Art und Weise, wie auf der Tanzfläche miteinander umgegangen wird, denkt man dann. Hier muss man sich verhalten. Sich seinen Platz suchen. Dabei den anderen keinen wegnehmen. Diese Dinge muss man lernen, sie fallen einem nicht zu.
Wenn sie fehlen, gibt es auch immer wieder diese äußerst konzentrierten Hassmomente. Wenn man etwa von einem dieser kleinen Grüppchen beiseitegeschoben wird, die denken, der Weg von der Tür zur Bar sei über die Tanzfläche einfach am kürzesten. Oder wenn man sich den Arm verbrennt, weil der Typ neben einem glaubt, er müsste jetzt tanzen und außerdem rauchen (was jetzt leider auch jenseits der Tanzfläche nicht mehr geht, sieht man von der etwas ungemütlichen Raucherlounge ab). Oder wenn zwei Jungs, die noch keine richtige Routine im Umgang mit ihrem Bewegungsdrang gefunden haben, sich erst neben einen drängeln, ein bisschen hin- und herwippen. Sich dann woanders hinbegeben, da auch ein bisschen herumhüpfen. Um dann zu beschließen, jetzt noch mal ganz woanders hinzuirren, und einen noch mal beiseite schieben.
Das sind die Momente, wo man Good Governance im Club einführen möchte: die gute Tanzfläche. Wo die Leute trotz allem wissen, was sie tun. Wo alle so breit und drauf sein können, wie sie wollen, aber immer noch respektvoll miteinander umgehen. Wo wenig Platz ist, aber die praktische Restvernunft den Anwesenden diktiert, sich nicht mehr Platz zu nehmen, als vorhanden ist. Wo kein Volldepp sich mit drei Drinks in den Händen durchdrängelt, um sie seinen Freunden zu bringen, die in der Mitte der Tanzfläche stehen und sich unterhalten.
Solche Dinge gehen einem dann manchmal durch den Kopf.
Oder: Kenn ich die nicht irgendwoher? Hab ich den nicht neulich irgendwo getroffen? Haben wir uns nicht sogar unterhalten? Wer ist eigentlich der Typ da vorne? Letzten Samstag hat der da auch schon immer vor den Plattenspielern herumgehampelt. Superstück, Wahnsinn. Man fragt sich: Geht einem das als DJ eigentlich auf die Nerven, wenn einem immer lauter superbreite Leute zuschreien, wie wahnsinnig super es gerade ist? Oder freut man sich? Schon wieder hat sich eine Scherbe in der Schuhsohle verhakt. Können die Leute ihre blöden Bierflaschen nicht irgendwo abstellen, anstatt sie einfach fallen zu lassen? Das Berghain und die Panoramabar haben ein anderes Euphorie-Level als andere Läden. Bis weit in den Sonntagnachmittag hinein geht die Feierkurve immer wieder steil nach oben. Was auch mit dem parallelgesellschaftlichen Charme des Ladens zu tun hat, hier funktioniert es tatsächlich, die restliche Welt auszuschalten. Oder noch besser: sie sogar als Effekt einzusetzen, als zusätzliche Stimulanz, als Intensivierungsmaschine. Wenn der Lichtmann in der Panoramabar etwa für einige Sekunden die Rollläden aufmacht und das Sonnenlicht hereinbricht, dann spülen körperlich spürbare Wellen der Begeisterung über die Tanzfläche, man schreit und reißt die Arme in die Luft – und kokettiert selbstverständlich damit, dass zu viel Sonne diese Welt ganz rasch verschwinden lassen könnte – wie ein Vampir würde man zu Staub zerfallen.
Das Berghain hat ein sehr heterogenes Publikum. Das war nicht immer so. Der Vorgängerclub Ostgut etwa war die längste Zeit ein schwuler Laden, in dem man als Hetero zwar wohlgelitten war, wenn man hart feiern wollte. Man blieb aber die Ausnahme. Die Eröffnung der Panoramabar änderte das, erst ein wenig, dann deutlich. Wer wissen will, wie sich in den Neunzigern sexuelle Identitätspolitik in Berlin verändert hat, könnte das schön an dem Verhältnis des Ostgut zur Panoramabar erzählen: Queer schlägt eine kleine Bresche ins schwule Feld, diese wird rasch größer, und am Ende ist gar nicht mehr so klar, was jetzt eigentlich schwul ist und was nicht, außer einer sexuellen Vorliebe. Jeder ist ja irgendwie queer, den man so sieht, wenn man sich Sonntagnachmittag in der Panoramabar umschaut.
Und irgendwann ist Schluss, da ist das Berghain ganz Club und eben nicht Afterhour-Laden. Man geht in die Garderobe und gibt seine Garderobenmarke ab, die – nur ein Indiz des detailversessenen Perfektionismus – nicht wie überall sonst ein Zettel mit einer Nummer ist, sondern eine Metallmarke an einem Bändchen, das man sich um den Hals hängen oder sonst wo festbinden kann. So verpeilt man am Ende der Nacht auch sein mag, man wird auf jeden Fall seine Jacke bekommen. Hier wird mitgedacht. Das ist wichtig, wenn geistig niemand mehr so richtig bei sich zu Hause ist.
So stolpert man aus der Tür hinaus ins Licht, verabschiedet sich mit einem Kopfnicken bei den Türstehern, die man zwar nicht kennt, aber denen man sich irgendwie verpflichtet fühlt, irgendwie muss man die Nacht ja symbolisch abschließen. Man schaut sich um, spürt die frische Luft auf der Haut, merkt, wie verschwitzt man eigentlich ist, hört das leichte Piepen in den Ohren, das sich mit dem Zwitschern der Vögel, dem Gemurmel der Leute vermischt, die in irgendeiner Ecke herumsitzen, noch ein Bier trinken, und dem leisen Scheppern der Anlage, das aus dem Gebäude dringt.
Jetzt kann man nach Hause gehen. Oder noch mal in der Bar 25 vorbeischauen. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags aus:
Tobias Rapp: Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. Ca. 250 Seiten, 8,50 Euro. Das Buch erscheint Ende Frebruar. | Tobias Rapp | Tobias Rapp: | [] | Dossier | 12.02.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/07/nie-wieder-nach-hause |
jens mattern | Während Zwangsarbeiter noch auf Geld aus dem Entschädigungsfonds warten, haben sich polnische Verwalter bereits selbst bedient. von jens mattern, warschau | [] | https://jungle.world//autorin/jens-mattern |
||||
adrian mengay und maike pricelius | Der Wohnraum in São Paulo ist knapp, vor allem für Menschen, die sich keine Luxusapartments in privat bewachten Vierteln leisten können. Durch selbst organisierte Wohnprojekte und durch die Besetzung von leer stehenden Gebäuden versuchen mehrere Initiativen, den Obdachlosen eine Perspektive zu bieten. | [] | https://jungle.world//autorin/adrian-mengay-und-maike-pricelius |
||||
Paradise lost | Man nennt ihn »Mörtel«. Richard Lugner ist einer der erfolgreichsten Bauunternehmer Österreichs und ein so genannter Partylöwe. Doch in den vergangenen Wochen war bei ihm mehr Ärger als Party angesagt. Anfang Februar exkommunizierte der Salzburger Weihbischof Andreas Laun ihn, weil sich in seinem Einkaufszentrum »Lugner City« auch eine Abtreibungsklinik befindet. Vergangene Woche attackierten nun angebliche Kommunisten eines seiner Partygirls. Die Hotelerbin Paris Hilton, die Lugner zum diesjährigen Opernball am Donnerstag voriger Woche eingeladen hatte, musste ihre Signierstunde im »Lugner City« abbrechen. Ein »spitzer Gegenstand« traf ihren Körper. »Das waren die Kommunisten«, rief »Mörtel« daraufhin aus, und die Frau wurde schleunigst von Bodyguards in Sicherheit gebracht. Angeblich wurden Flugblätter der Kommunistischen Jugend und Gegenstände wie Lippenstifte und Pappbecher auf Hilton geworfen. Seit 1991 schmückt »Mörtel« sich und den Wiener Opernball mit weiblichen Prominenten, die er in seiner Loge platziert. Um während des Balls eine dieser exklusiven Sitzgelegenheiten benützen zu dürfen, müssen Lugner und die anderen Logenfreunde der Wiener Oper rund 40 000 Euro spenden. Lugner ist ein Workaholic, der stolz darauf ist, auch im Alter von 74 Jahren noch 17 Stunden am Tag zu arbeiten. Er begann mit dem Errichten von Tankstellen und baute bald alles, was gewünscht wurde, sei es eine Moschee, einen jüdischen Tempel oder das Wiener Hundertwasser-Haus. Er stammt aus so genannten einfachen Verhältnissen und gilt österreichischen Feingeistern als Kulturbanause. Was ihn nicht davon abhält, die Wiener Kulturszene mit seinen Eroberungen zu beglücken. Nach dem überwältigenden Medienrummel um Hilton sagte »Mörtel« allerdings, er wolle zum nächsten Opernball etwas »kleiner fahren«. Das könnte auch daran liegen, dass Hilton ihn schnöde abblitzen ließ und ihm sogar einen Tanz verweigerte. kerstin eschrich | Kerstin Eschrich | Kerstin Eschrich: | [] | webredaktion | 21.02.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/08/paradise-lost |
devi dumbadze | Das neue Jahr begann der georgische Präsident Michail Saakaschwili mit kriegerischer Rhetorik. Doch die separatistischen Regionen bleiben unter russischer Kontrolle – und eine Aufnahme Georgiens in die Nato bleibt unwahrscheinlich. In Georgien protestieren Oppositionelle gegen die Regierung Saakaschwilis. Sie werfen dem Präsidenten vor allem das desaströse Ergebnis des Kriegs mit Russland vor. Der georgische Präsident Michail Saakaschwili, genannt »Mischa«, erinnert derzeit stark an den ehemaligen irakischen Informationsminister, bekannt als Comical Ali, der beim Einmarsch der amerikanischen Armee in Bagdad 2003 verlauten ließ, dass die Amerikaner »nirgendwo« seien. Auch Saakaschwili will seine Bevölkerung glauben machen, dass er den Krieg nicht verloren habe. Der nach Massenprotesten verhängte Ausnahmezustand in Georgien wurde aufgehoben, doch die oppositionellen Medien bleiben geschlossen. von devi dumbadze | [] | https://jungle.world//autorin/devi-dumbadze |
||||
antje schwarzmeier | Die V-Mann-Affäre hat zur Einstellung des Verbotsverfahrens gegen die NPD geführt. Der »Aufstand der Anständigen« endete in einem Debakel. von antje schwarzmeier ÄthertäterInnen kämpfen im Dschungel der Institutionen | [] | https://jungle.world//autorin/antje-schwarzmeier |
||||
Jungle World #18/2015 - Treffer, versenkt | Im dschungel läuft:
Sperriges Album.Tocotronic hören heißt, einen Steinway-Flügel in einem Fiat-Panda zu transportieren. | Die EU rüstet sich zum Kampf gegen die Schleuser 30.04.2015 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2015/18 |
||
Jens Uthoff | Sie haben einmal gesagt, Sie sähen Ihre Band Avengers auch in einer Folk-Tradition. Das überrascht, denn die Avengers pflegen einen klassischen Punksound. | [] | https://jungle.world//autorin/jens-uthoff |
||||
ayse durukan | Mustafa Altıoklars Film »Banyo« | [] | https://jungle.world//autorin/ayse-durukan |
||||
Can’t Beat It | Wie hätte der Dichter Allen Ginsberg, professioneller Bohemien und Bürgerschreck, wohl seinen 75. Geburtstag gefeiert? Vielleicht mit einer Nudelsuppe, einem Haiku, einem Libretto über George W. Bush oder mit einem Poetry Slam? Wahrscheinlich mit all dem gleichzeitig. Das war so seine Art. Die Allen Ginsberg-Stiftung in New York winkt ab. Nein, zum 3. Juni 2001 sei nichts Besonderes geplant, aber irgendetwas werde sich bestimmt ergeben. Möglicherweise eine Lesung seiner Gedichte. Warum er Gedichte schrieb, erklärte Ginsberg 1984 während seiner China-Reise: »Ich schreibe Gedichte, weil das englische Wort Inspiration vom Lateinischen 'Spiritus', der Atem, kommt, ich möchte frei atmen können. Ich schreibe Gedichte, weil mein Vater ein Poet war, meine Mutter aus Russland stammte, kommunistisch redete und im Irrenhaus starb. Ich schreibe Gedichte, um in meinem Kopf ein akkurates Bild zu zeichnen. Ich schreibe Gedichte, weil es verboten war, in den Vereinigten Staaten über Sex zu schreiben. Ich schreibe Gedichte, weil Hitler sechs Millionen Juden ermordet hat, ich bin Jude. Ich schreibe Gedichte, weil ich allein sein will und mit Menschen sprechen möchte. Ich schreibe Gedichte, weil der Dichter Walt Whitman gesagt hat: 'Widerspreche ich mir? Na gut, dann widerspreche ich mir. Ich bin weit gefächert, aus mir spricht Mannigfaches.'« Der Lyriker William Carlos Williams war in den dreißiger Jahren Ginsbergs Nachbar und Mentor: »Als wir beide noch jünger waren, kannte ich Allen Ginsberg als einen jungen Poeten in Paterson/ New Jersey, wo er als Sohn eines bekannten Dichters zur Welt gekommen und aufgewachsen war. Er war von schmächtiger Gestalt und sehr verwirrt von dem Leben, wie er es während jener Jahre nach dem Ersten Weltkrieg angetroffen hatte und wie es ihm dann in New York City und Umgebung gegenüber trat. Er war immer drauf und dran wegzugehen - wohin, schien keine Rolle zu spielen. Er beunruhigte mich, und ich hätte nie gedacht, dass er lange genug leben würde, um erwachsen zu werden und einen Band Gedichte zu schreiben. Seine Fähigkeit, zu überleben, zu reisen und weiterzuschreiben finde ich erstaunlich. Dass er dabei seine Kunst weiter vorangetrieben und vervollkommnet hat, verblüfft mich nicht weniger.« Auch Ginsbergs Freunde und Bekannte waren verblüfft, als der von Walt Whitman und den visionären englischen Dichtern des 18. Jahrhunderts inspirierte Beatpoet 1956 seinen ersten Gedichtband veröffentlichte und in San Francisco mit seinem zornigen Endlosgedicht »Howl« ans Mikrofon trat. »Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, wie sie im Morgengrauen sich durch die Negerstraßen schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze, Hipster mit Engelsköpfen, süchtig nach dem alten himmlischen Kontakt zum Sterndynamo in der Maschinerie der Nacht.« Amerikas Erstaunen, das sowohl ein Erschrecken wie auch Entzücken über die unkonventionellen Töne von Ginsberg war, hat sich nie ganz gelegt. Denn der rastlose, von einer unendlichen Neugier auf neue Erfahrungen besessene Hipster aus New Jersey war dem Zeitgeist immer drei Schritte voraus. Mochte die Massenkultur die drogengesättigten Visionen der Beat Generation im Laufe der Zeit auch tolerieren und der Dichter selbst Jeans und T-Shirt gegen Anzug und Krawatte eintauschen - es hat Ginsberg nicht geschadet. Der vor vier Jahren verstorbene Schriftsteller sei eine Art nationale Institution gewesen, sagt der New Yorker Dichter und ehemalige Sekretär von Ginsberg, Bob Rosenthal. »Film, Radio, Zeitungen - die Medien rissen sich um ihn als eine letzte Ikone der vierziger, fünfziger, sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahre. Er hat die Hipsters repräsentiert, die Beats, Hippies, Punks und was auch immer danach kam.« Aber das Leben als Ikone konnte auch anstrengend sein. Man habe, so Rosenthal, von Allen Ginsberg immer erwartet, dass er sich selbst treu bleibt und sich der Medienmaschinerie verweigert. Als der nicht mehr ganz junge Autor einmal sein Einverständnis dazu gab, dass ein Foto von ihm in einer Gap-Werbung verwendet wurde, hagelte es höhnische Kommentare. Dass Ginsberg sein Honorar der von ihm gegründeten Autoren-Akademie spendetet interessierte niemanden, erzählt Rosenthal. Man habe, meint er, bei Ginsberg immer höhere Maßstäbe angelegt als etwa bei Burroughs, aber zugleich seien dies ja auch die Maßstäbe gewesen, die Ginsberg selbst gesetzt habe. »Er konnte nicht auf Bestellung schreiben«, versichert Rosenthal. »Selbst als so etwas Unschuldiges wie ein kleiner tibetanischer Buchladen bei Ginsberg anfragte, ob er ein Gedicht über dänische Schultaschen, die er selbst gerne benutzte, schreiben würde, konnte Allen es nicht tun. Dabei wollten sie den Autoren fünf dieser Büchertaschen geben. Aber er konnte nicht auf Bestellung über Büchertaschen schreiben, und natürlich probierten wir, also ich und die anderen Autoren, ein Gedicht zu schreiben, das als echtes Ginsberg-Poem durchgehen sollte, aber er akzeptierte keines von ihnen, also haben wir diese Schultaschen nie bekommen.« »Kultautor«, »Guru«, »Prophet«, »Buddha der Beat-Bewegung«, »Großvater der Pop Literatur« nennen die Kritiker Allen Ginsberg heute. Und dann zählen sie auf, was sich der Mann, der auf Fotos oft mit einem riesigen, blauweiß-roten Uncle-Sam-Zylinder zu sehen war, zugute halten kann. Mit seinen Zeitgenossen Jack Kerouac, William Burroughs und Gregory Corso hob Ginsberg im Nachkriegsamerika die Beat Generation aus der Taufe. Seine für die amerikanische Literatur revolutionären reimlosen Gedichte, seine Prosatexte, Reiseberichte, Tagebuchnotizen, Platten und Fotos prägten das Denken und Empfinden einer ganzen Generation. Ginsberg gab sich mutig als Homosexueller zu erkennen. Er tauschte mit seinem Partner Peter Orlovsky Ehegelübde aus, Jahrzehnte bevor es in war, sich zu outen. Dass Kubas Fidel Castro und die Stalinisten in Prag ihn 1965 aus diesem Grund des Landes verwiesen, focht ihn nicht an. Der rebellisch offene Lebensstil der Beatpoeten, ihre Spontanität und unkaschierten Drogenexperimente bereiteten der Flower Power der Hippies, der Gegenkultur und der Neuen Linken den Weg. Ginsberg machte sich zum Sprachrohr der von Kalifornien ausgehenden Protestbewegung. Er hob seine Stimme für ein besseres, sozial gerechtes, vom Rassismus befreites Amerika. Demonstrierte gegen Johnsons Krieg in Vietnam, die Ausbeutung der Dritten Welt, Kissingers Pakt mit Pinochet, Washingtons Drogengesetze, Reagans nukleare Aufrüstung, Bushs Krieg gegen Saddam Hussein, Clintons schießwütiges FBI sowie gegen Obdachlosigkeit im reichsten Land der Welt, das Treiben der CIA in Lateinamerika, die Todesstrafe, die Umweltzerstörung, die Zensur und die Diskriminierung von Homosexuellen. »Allen war ein Workaholic«, sagt Bob Rosenthal. »Er war kein Drogenabhängiger, kein Pädophiler, kein Kommunist und kein Kapitalist - er war ein Arbeitstier. Er hat immer für die Person Allen Ginsberg gearbeitet. Wenn er von einer Reise zurück kam und die Stapel von Papier auf seinem Schreibtisch sah, Briefe, die beantwortet, Interviews, die gegengelesen werden mussten, und eine Liste mit 3o Anrufern, die alle auf Rückruf warteten, dann raufte er sich die Haare, stöhnte über sein Karma und setzte sich hin, um die Nacht durchzuarbeiten.« Entsprechend spät hat der Tag für Ginsberg begonnen. Vormittags passierte nicht viel. Ein paar Tai Chi-Übungen vielleicht, eine Mahlzeit aus Haferflocken und Seegras, deren Zubereitung er von einem befreundeten japanischen Dichter gelernt hatte. Aber erst am Nachmittag, sagt Rosenthal, sei er dann allmählich wirklich aufgewacht, und losgelegt wurde erst am Abend. Zwischendurch ein Essen. Ginsberg kochte gerne, und seine Freunde löffelten seine wundervollen Suppen. Wenn er nicht selbst kochte, aß er in einem Restaurant, besuchte anschließend Freunde und kam gegen ein Uhr nachts zurück, um zu lesen und zu schreiben. So gegen fünf Uhr morgens, sagt sein ehemaliger Sekretär, lag Ginsberg dann im Bett. Er kannte keine Freizeit. Leute luden ihn in ihre wunderschönen Häuser auf Hawaii oder in Kalifornien ein, aber er besuchte sie nie. Entspannung bedeutete für ihn, irgendwo auf der Lower Eastside in Manhattan eine Champignon-Barley-Suppe im veganen Restaurant zu essen. Sein mitreißendes politisches Engagement, seine Lyrik und Prosa inspirierten Musiker wie Bob Dylan, die Beatles, Arlo Guthrie, Tom Waits und Philip Glass. Ständig »on the road«, rund um die Welt, immer auf der Suche nach neuen bewusstseinsverändernden Erfahrungen, hörte er dennoch irgendwann auf, mit Drogen zu experimentieren, und praktizierte stattdessen Zen-Buddhismus, Yoga und Meditation schon lange Zeit bevor es Mode wurde, sich mit fernöstlicher Religion zu beschäftigen. Weil er ein guter Lehrer war, gab er seine Lektionen im »Meditation Rock« gleich weiter. Im Buddhismus fand selbst der rastlose und labile Ginsberg endlich die Ruhe, die er seit seiner Kindheit vermisst hatte. Schon kurz nach seiner Geburt am 3. Juni 1926 in Paterson/New Jersey erkrankte seine Mutter. Die Aufenthalte in Heilanstalten häuften sich und dauerten immer länger. Naomi Ginsberg, eine aus Russland stammende überzeugte Marxistin, litt, wie die Ärzte meinten, an paranoider Schizophrenie. Sie musste sich den damals üblichen grausamen Elektroschockbehandlungen unterziehen. Zuhause wurde sie häufig von dem hochsensiblen Allen gepflegt. Die traumatische Erfahrung, die das Leiden und Sterben seiner Mutter für ihn bedeutete, verarbeitete er später in seinem Gedicht »Kaddish«, dem in einer Nacht geschriebenen, über 58 Seiten langen jüdischen Totengebet für Naomi Ginsberg. »Kaddish« ist eine einzige Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ausdrückende Klage und eine der wichtigsten Arbeiten Ginsbergs. »Überraschend jetzt an Dich zu denken, dahin ohne Kragen & Augen, da ich gehe auf sonnigem Greenwich Village Pflaster. Manhattan Mitte, Mittag winter-brillant, ich übernächtigt vom Reden, Reden, das Kaddisch laut lesen, Ray Charles Blues blind schreien Hören im Grammophon«. Ginsbergs Vater Louis war der erste Lehrer des jungen Poeten. Aber erst als Student an der Columbia Universität nahm Ginsberg seine Schreibeexperimente wirklich ernst. Damals traf er William Burroughs und Jack Kerouac, experimentierte bald mit Drogen, trieb sich, wie sein Biograf Michel Schumacher schreibt, mit Junkies und Genies herum, zerbrach sich den Kopf über seine Homosexualität und rang darum, eine Stimme als Dichter zu finden. Eines Tages verhaftete man ihn, weil man ihm Kontakte zu den falschen Leuten vorwarf, und steckte ihn in eine psychiatrische Anstalt; das alles passierte noch vor seinem 23. Geburtstag. Den feierte er 1949. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das Studium abgeschlossen und von seinem Mentor W.C. Williams den wichtigen Rat bekommen, Form und Inhalt seiner Gedichte einfach zu halten, sein Augenmerk auf die unmittelbare Umgebung zu richten und auf die Umgangssprache zu hören. Mit mehr Spontanität zu schreiben, empfahl auch Jack Kerouac, Autor des Kultbuches »On the Road« und Protagonist der Beat Generation. Beat war für ihn die Abkürzung von beatified (beseligt). Und das waren die Glückssucher: jung, gierig, ausgelassen. Autoren, die auf die Konventionen der Zeit pfiffen, wirkten in den kulturell verarmten fünfziger Jahren ausgesprochen bedrohlich. Eisenhower und McCarthy gaben den Ton an, die Auswirkungen des Kalten Kriegs prägten das Land. Amerika war zerrissen von Hassgefühlen und Furcht vor allem Fremden. Sex und Drogen kamen nur in verbotenen Büchern vor. Frieden und Freiheit, Love and Peace, die Ideale der jungen Beatpoeten, hatten den Ruch des Subversiven. In diesem Klima erschien Ginsbergs Erstlingswerk »Howl and other Poems« und wurde sofort auf den Index gesetzt, sein Verleger, Lawrence Ferlinghetti, vor Gericht gestellt. Ein Gedicht, das seitenlang die erotischen Freuden seines schwulen Autors feiert, die Bewusstseinserweiterung durch Drogen ekstatisch zelebriert und vor dem geheiligten American Way of Life ausspuckt, ging entschieden zu weit. Nach einem langen, Aufsehen erregenden Prozess durfte »Howl« dann doch erscheinen. Der Band wurde in 23 Sprachen übersetzt und machte Ginsberg und seine literarischen Weggenossen quasi salonfähig. Doch FBI-Chef Hoover, dessen homosexuelle Neigungen damals noch ein Geheimnis waren, ließ die seiner Meinung nach »pervertierten Kommunisten« weiterhin überwachen. Kaum jemand begriff, dass die Beatpoeten keine neue Ideologie, sondern ein neues Bewusstsein forderten. Auch Hollywood scherte sich nicht um die politischen Beweggründe der Aussteiger. Der Unterhaltungsindustrie kamen die schrägen Typen im Rollkragen und mit dunkler Brille gerade recht, um eine Serie von albernen Reißern zu starten, die sich gegenseitig darin übertrumpften, die wilden jungen Literaten zu vermarkten und zu trivialisieren. Schlagersänger Perry Como versuchte sich als Beatbanause, und im New Yorker Greenwich Village gab es für Touristen, die hautnah dabei sein wollten, einen regelrechten Dichterverleih. Allen Ginsberg publizierte 15 Lyrik- und 15 Prosabände, er wurde zum Professor berufen, von Franzosen und Amerikanern in ihre jeweilige Nationale Akademie der Schönen Künste gewählt und mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet. Zu seinen Fans und Lesern zählten und zählen u.a. Robert F. Kennedy, Jimmy Carter, Vaclav Havel und der Dalai Lama. Zwar gehört der Autor inzwischen zum Kulturgut, aber genau genommen ist Allen Ginsberg in den USA immer noch verboten. »Howl« und andere vom Kongress für obszön befundene Texte dürfen vom Nationalen Radiosender NPR in voller Schönheit nur zwischen 11 Uhr abends und sechs Uhr morgens ausgestrahlt werden. Man hätte Ginsberg wohl gerne ignoriert, sagt Rosenthal, aber mit dem Erscheinen von »Howl« war das unmöglich geworden. »Heutzutage steht 'Howl' auf den Lehrplänen der meisten amerikanischen Highschools, obwohl gerade erst im letzten Jahr ein Lehrer in Florida gefeuert wurde, weil er 'Howl' durchnahm. Dieses Gedicht, vor 50 Jahren geschrieben, ist immer noch das wichtige Dokument einer Befreiung.« | Barbara Jentzsch | Barbara Jentzsch: Allen Ginsberg zum 75. Geburtstag | [] | webredaktion | 30.05.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/22/cant-beat-it |
andreas müller | Zur linken Kritik am europäischen Einigungsprozess gehörte es in den neunziger Jahren, vor einer europäischen Identitäts- und Nationenbildung zu warnen, die nationalstaatlichen Chauvinismus nicht ersetzen, sondern auf eine »Großmacht Europa« umlenken würde. Hat sich diese Analyse bestätigt? Einige Überlegungen. | [] | https://jungle.world//autorin/andreas-mueller |
||||
David Peters | Neonazis vor Gericht sind nichts Ungewöhnliches; dass sie dabei als Kläger auftreten, kommt schon seltener vor. Am 19. Satire schlägt in Deutschland leicht hohe Wellen, das ist spätestens seit Jan Böhmermanns Gedicht über Recep Tayyip Erdoğan klar. | [] | https://jungle.world//autorin/david-peters |
||||
Sven Ullenbruch | Der Tod von mittlerweile vier Menschen aus dem Umkreis der NSU-Ermittlungen beflügelt die Phantasie von interessierten Beobachtern und Antifaschisten. Doch im vermeintlichen »Zeugensterben« ist kein Muster zu erkennen. | [] | https://jungle.world//autorin/sven-ullenbruch |
||||
Zauberwort Pluralität | Der Rausch des Sendestarts war noch nicht verflogen, da witterte das Schwäbische Tagblatt schon den ersten Skandal im Hause Wüste Welle: Zensur im Freien Radio! Was war geschehen? Der Moderator einer Comedy-Show hatte seinen Sendeplatz verloren, weil das Redaktionsplenum, die Vertretung aller RadiomacherInnen, seine Witze für unvereinbar mit den Prinzipien Freier Radios hielt. Für das Tübinger Blatt gehörten die "paar unverbindlichen Blondinen- und Behindertenwitze" zum "professional entertaining" und die Wüste Welle in die Schublade mit der Aufschrift Intoleranz. Die Wogen haben sich inzwischen geglättet, aber noch immer versuchen die verschiedensten Gruppen, mit dem Ruf nach Toleranz einen Sendeplatz zu ergattern. Nach dem Motto "Laß mich doch machen, ich will ja auch nichts von dir" sollen ihre neuesten CDs und mehr oder weniger neue Erkenntnisse in den Äther gestreut werden. Bei den Stuttgarter "Freien" hatte gar in den ersten Monaten eine fundamentalistisch-islamistische Gruppe gesendet. Kann sich also im Freien Radio jeder und jede in aller Ruhe austoben? Diese Art von Freiheit bieten häufig die in vielen Bundesländern als "Bürgermedien" eingerichteten Offenen Kanäle, in denen ohne inhaltliche Konzeption Sendungen nacheinander abgespielt werden. Freie Radios dagegen sind selbstorganisierte Projekte, die sich ihre eigenen Regeln schaffen. Deren Freiheit besteht in der Abwesenheit von Intendanten und Chefredakteuren, aber auch von Putzfrauen und Sekretärinnen. Daß dabei neben Plattenteller und Mundwerk auch Müll, Wischmob, jede Menge Bürokratiekram und festgefahrene Positionen bewegt werden, das unterscheidet sie vom Offenen Kanal. Wer was mitzuteilen hat und Freiheit weder in der Vereinzelung noch in der Hingabe an eine festgefügte Ordnung sucht, organisiert sich hier. Freie Radios ziehen bunte Vögel an und sind so zum Treffpunkt für DissidentInnen in bewegungsarmen Zeit geworden. Da sind aber auch noch die, die gerne mal berühmter Radiomoderator werden wollen. Und die, die es schlicht cool finden, "in the mix" zu sein. Und natürlich die, die einfach ihre "Erleuchtung" anderen mitteilen wollen. Freie Radios sind keine geschlossenen Gesellschaften, und darum vernehmen die HörerInnen auch nicht nur Gutes, Wahres und Schönes. Dennoch bieten sie die Möglichkeit zu verändern: Die Entscheidungsstrukturen sind transparent, Mitglieder bestimmen, wenn's um die richtige Richtung geht. Nicht zuletzt, weil es immer noch zu wenige Mitglieder gibt, hat die Freiheit der Freien jedoch Grenzen, die von den Landesmedienanstalten gezogen werden. In Baden-Württemberg z.B. wurde Lizenzierung und Förderung an den offenen Zugang gesellschaftlicher Gruppen zum Radio gekoppelt. Damit war auch die Öffnung für Feuerwehr, Sportverein oder diverse Religionsgemeinschaften gemeint. Deren Anfragen sind bislang aber eine Seltenheit geblieben - vielleicht, weil sich ein Feuerwehrmann ohne Hierarchieleiter reichlich verloren vorkäme. Zwar besteht also selten ein konkreter Zwang, solche Gruppen senden zu lassen, dennoch geht der Druck der Landesmedienanstalt an den strukturellen Entscheidungen und politischen Ausrichtungen der Radios nicht gänzlich vorbei. So wurden Redaktionsstatute teilweise so formuliert, daß sich ein Ausschluß von Gruppen, die nicht ins Konzept Freier Radios passen, nur schwer zu machen ist. Schließlich heißt das Zauberwort, das die Tür zum Äther aufgestoßen hat, Pluralität. Doch Pluralität, sprich Vielfalt, läßt sich in doppelter Hinsicht interpretieren: Nach Definition der Medienanstalten müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse im Programm genau gespiegelt und dieses damit überflüssig gemacht werden. Im Sinn der Freien Radios dagegen soll Offenheit zwar für die unterschiedlichsten Interessierten, aber besonders für jene hergestellt werden, die diesen Verhältnissen entgegenwirken. Jenen also, die andere Töne setzen: Linken WortredakteurInnen und untergründige DJs ebenso wie SchülerInnen, die sich mit betreuten Mädchenradiosendungen einen öffentlichen Raum erschließen. Vielfalt und Freiheit bedeutet also auch die Abgrenzung von sexistischen und rassistischen Gruppen - und manchmal die Trennung von Leuten, die von Selbstorganisation nichts wissen wollen. Wie ein Radio in Bewegung selbst Bewegung hervorbringen kann, hat zuletzt die Tübinger "Love-and-Hate-Parade" gegen Vertreibungspolitik in den Innenstädten gezeigt: Vermeintlich unpolitische Techno-DJs gingen gemeinsam mit linken Gruppen auf die Straße - eine Initiative, die ohne die oft auch nervenaufreibenden Auseinandersetzungen im Freien Radio kaum möglich gewesen wäre. Der Sender wird zum sozialen Ort, der so manche ungewöhnliche Verbindung hervorbringt. Schließlich wird die Skizze der gesellschaftlichen Veränderung nicht in Quarantäne gezeichnet. | harald sickinger | harald sickinger: Radio Days | [] | Dossier | 22.07.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/30/zauberwort-pluralitaet |
peter stein | Rechtsextreme Hooligans einer Fangruppe von Dynamo Dresden greifen immer wieder ein linkes Hausprojekt in Dresden an. von peter stein | [] | https://jungle.world//autorin/peter-stein |
||||
hermann pfleiderer | Paris soll zwei mutmaßliche ExóMitglieder der Revolutionären
Zellen ausliefern. Doch mit den Beweisen tun sich die deutschen
Behörden schwer. <none> Trotz aufwendiger Polizeimaßnahmen sind mittlerweile fast alle Verfahren gegen mutmaßliche radikal-Mitarbeiter eingestellt Trotz Videoangriff und Zusammenarbeit mit der Stadtreinigung: Die Staatsanwaltschaft fand kein juristisch verwertbares Material gegen die autonome Wochenzeitschrift interim | [] | https://jungle.world//autorin/hermann-pfleiderer |
||||
»Wir waren auf einem anderen Planeten« | Sie mussten sich damit auseinandersetzen, dass die Deutschen bewusst die Vernichtung von Menschen betrieben haben.
Eine andere Sache: Ihr wisst, dass es diese Gas-Autos gab, bevor es die Gaskammern gab in den Todeslagern. Das waren Lastkraftwagen. Man hat die jüdischen Familien, Männer, Frauen, Kinder, hinten in die Lastkraftwagen geladen. Und der Auspuff ging nach innen statt nach draußen. Dann ist man 30, 40 Kilometer gefahren und die Leute sind langsam erstickt. Dann hat man die Leichen dort in ein Massengrab geworfen. Eines Tages, das hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, gab es einen Ingenieur, der seinem Vorgesetzten geschrieben hat, wie diese Lastwagen funktionieren. Dann hat er noch etwas hinzugefügt: Ich möchte noch etwas vorschlagen. Ich glaube, aus humanitären Gründen müssen wir etwas tun, um unsere armen SS-Chauffeure davor zu bewahren, dass sie diese Schreie hören müssen von hinten, die dann immer leiser werden. Und deshalb habe ich eine schalldichte Wand erfunden, die man so anbringen kann zwischen dem Chauffeur der SS und diesem hinteren Teil, sodass unsere armen Chauffeure das nicht mehr mitanhören müssen.
Als ich das zuerst las, »aus humanitären Gründen«, da dachte ich, er wolle irgendetwas vorschlagen für diese armen Menschen hinten. Aber nein: Humanitäre Gründe für die SS-Chauffeure. Diese Art von Dokumenten hat mich manchmal noch mehr erschüttert als die Beschreibungen, die sich oft wiederholt haben. Auch das hat einen mitgenommen, besonders, wenn es sich um Kinder gehandelt hat.
Wir hatten während der Voruntersuchungen auch Dokumente, aus denen hervorgeht, dass es immer wieder mal einen Versuch gab, bei irgendeiner jüdischen Familie oder einer Persönlichkeit eine Ausnahme zu machen. Und das wurde bei Eichmann vorgebracht. Die Polizisten brachten mir dann solche Eingaben, die bei Eichmann eingereicht wurden. Aber es kam immer alles chronologisch. Es waren hunderte, tausende Dokumente dazwischen. Das war dann simultan aus Frankreich, aus Holland, aus der Slowakei … das waren Versuche, irgendjemanden zu retten. Da hatte ich nachts geträumt, dass mal irgendeiner, irgendeine Familie gerettet worden ist. Aber wenn ich dann die Antworten von Eichmann vorgelegt bekam, das endete immer fatal, ohne jede Ausnahme!
Der Polizeioffizier, der für Frankreich zuständig war, brachte mir einmal eine Depesche, von einem deutschen General der Wehrmacht, dem Kommandanten von Paris. Der schrieb an Eichmann: Es gibt einen jüdischen Professor Weiß, ein Experte für Radar. Der hat einige Entdeckungen gemacht und einige Patente über Radarinstrumente. Das ist von besonderer Bedeutung für die deutsche Wehrmacht, schrieb dieser General, wir wollen diesen Mann verhören und das mit unseren Untersuchungen vergleichen. Und deswegen verlangte der General, dass dieser Jude Weiß und seine Frau nicht in den Osten deportiert werden. Das sei wichtig.
Da habe ich bei mir gedacht, mitten im Krieg, eine jüdische Persönlichkeit, ein Radarexperte, über den ein General der Wehrmacht schreibt, dass man ihn gebrauchen kann, da kann Eichmann doch gar nicht anders als bei dem eine Ausnahme zu machen.
Nach ein paar Tagen dann die Antwort von Eichmann: Aus prinzipiellen Erwägungen kann ich unmöglich einwilligen. Wieder ein paar Tage später eine Notiz, aus der hervorgeht, dass der deutsche General bei Eichmann angerufen hat: Wie können Sie es wagen, meiner Forderung nicht nachzugeben! Ich bin General der Wehrmacht. Die Antwort von Eichmann: Und ich bin Obersturmbannführer der SS, und es interessiert mich nicht, was der Jude über Radar weiß. Wieder ein paar Tage später ein Brief von Eichmann an den General: Ich habe diese Sache noch weiter untersucht und festgestellt, dass die deutsche Armee die Patente von diesem Juden Weiß schon übernommen hat. Deswegen sehe ich keinen Grund, die Deportation von diesem Juden Weiß auch nur einen Tag weiter zu verschieben. Daneben die Notiz, dass es ausgeführt wurde. Im Prozess unterstand mir die Beweisvorlage zu Frankreich, da habe ich diese Dokumente beim Gericht eingereicht.
Zwei Tage danach kam eine Sekretärin zu mir und hat gesagt, es sei ein junges Mädchen draußen, das mich sprechen möchte, Anita Weiß. Ich sagte: Kenne ich nicht, aber gut, bringen Sie sie rein. Da kam sie und sagte: Ich bin die Tochter von diesem Professor Weiß. Ich war ein Baby, als man meine Eltern abgeholt hat. Meine Eltern haben anscheinend gesehen, dass die SS kam, um sie abzuholen, da hat man mich zu Nachbarn geschickt. Die haben mich aufgenommen und mich nach Amerika geschickt. Jetzt habe ich gelesen, dass Sie diese Dokumente über meine Eltern eingereicht haben. Aber ich habe meine Eltern nicht nur nicht gekannt, ich habe auch kein Bild von ihnen, das zeigt, wie sie ausgesehen haben könnten. Könnten Sie mir einen Ratschlag geben, wie ich ein Bild von meinen Eltern bekommen könnte, die dann nachher in Auschwitz umgebracht wurden?
Einige Tage später kam eine andere Geschichte aus Holland – das war alles simultan in verschiedenen Ländern –, da kam der Mann, der für Holland zuständig war, und brachte mir einen Brief von dem Vorsitzenden der faschistischen Partei. Da gab es eine faschistische Partei in Holland, und dieser Mann schrieb an Eichmann: Es gibt zwölf Juden, die gehören der faschistischen Partei Hollands an. Es gab solche Typen, warum auch immer, sie waren da. Der Vorsitzende der faschistischen Partei hat verlangt, dass man diese zwölf Juden, die er mit Namen und Adresse anführte, nicht deportiert. Denn das könne demoralisierend wirken auf alle Mitglieder der Partei, das seien loyale Mitglieder der Partei. Deswegen verlangte er, dass diese Leute nicht deportiert werden. Um es noch attraktiver zu machen für Eichmann, schlug er vor, sie könnten ja eventuell Spitzeltätigkeiten in der Jüdischen Gemeinde durchführen. Das könne dabei helfen, alle Juden zu erfassen, wenn diese Leute der faschistischen Partei dort Ausschau hielten.
Wieder habe ich gedacht: Also da wird Eichmann doch wahrscheinlich einwilligen. Die Antwort von Eichmann war aber wieder: Aus prinzipiellen Gründen kann ich unmöglich einwilligen. Wenn es, schrieb er noch, demoralisierend wirken könnte, wenn die Leute heute deportiert werden würden, dann warten wir vielleicht drei, vier Wochen. Bis dahin werden sich alle so an die Deportationen gewöhnt haben, dass es keinen besonderen Eindruck mehr machen wird auf irgendjemanden. Aber er bestehe darauf, dass die zwölf Leute auch deportiert werden, sagte Eichmann.
Es gibt noch ein Beispiel, das ich unmöglich verstehen konnte. Da hat sich der italienische Konsul in Estland an Eichmann gewandt, genauer gesagt an die Abteilung der SS, zu der Eichmann gehörte: Da gibt es eine Frau, eine italienische Jüdin, deren Eltern in Estland wohnen. Die hat ihre Eltern besucht und ist dort gefasst worden. Man will sie deportieren. Da schrieb dieser Konsul: Diese Frau ist die Witwe eines hohen Offiziers der italienischen Armee, der gefallen ist. Er ist nicht nur gefallen, er ist für seine ungeheure Tapferkeit ausgezeichnet worden, in den Kämpfen dieses Krieges. Der ist gefallen, aber ganz Italien spricht von ihm. Von seiner Tapferkeit, von seinem Heldenmut, wie phantastisch er da gekämpft hat. Deshalb verlangte dieser Konsul im Namen der italienischen Behörden, dass man dieser Frau, der Witwe, die Möglichkeit gibt, nach Italien zurückzufahren. Italien, das waren ja die Alliierten von Deutschland – und dieser Offizier hatte auf der deutschen Seite gekämpft. Aber auch hier lautete Eichmanns Antwort: Aus prinzipiellen Erwägungen ausgeschlossen. Eichmanns Abteilung hat das dann genau verfolgt und dafür gesorgt, dass diese Frau auch in ein Lager gekommen ist und dort zu Tode gebracht wurde. Solche Dokumente gab es viele damals in der Voruntersuchung, so etwas macht man da durch, es ist traumatisch.
Haben Sie sich mit der Strategie der deutschen Verteidiger Eichmanns auseinandergesetzt?
Ich überlegte, was die wirklichen Verteidigungsargumente sind, und tatsächlich haben Eichmanns Verteidiger diese Punkte später vorgebracht: Zuerst war da das Anti-Nazi-Gesetz, nach dem Eichmann angeklagt war, das war von 1950. Der Verteidiger würde bestimmt bemängeln, das sei ein rückwirkendes Gesetz, also eine rückwirkende Bestrafung. Das wurde auch schon in den Nürnberger Prozessen vorgebracht. Man braucht kein Jurist zu sein, um zu sehen, dass das keine Sache eines Gesetzes ist, sondern der Gerechtigkeit.
Sehen Sie, wenn Sie heute etwas tun, was absolut legal ist, und später macht man dagegen ein rückwirkendes Gesetz, dazu sogar noch mit Todesstrafe, dann sieht das so aus wie etwas, das nicht gerecht ist. Aber das passt hierzu nicht. Als wir geschrieben haben, die Tötung von unschuldigen Menschen, von unschuldigen Juden sei verboten, da haben wir keine neue Norm geschaffen. Das war bereits nach deutschen Gesetzen verboten. Damals haben die Nazis so ein Vakuum geschaffen: Für den Mord an einem Juden kommt man nicht vors Gericht. Wenn man von Gerechtigkeit spricht, war es gerade hier eine Pflicht, ein Forum zu schaffen, um Leute vor Gericht zu stellen für Sachen, die absolut illegal waren. Das Argument des Rückwirkungsverbotes wurde deshalb verworfen, auch in allen europäischen Ländern.
Viele Rechtsgelehrte in Europa haben etwas anderes vorgebracht, auch an Universitäten: Israel ist der Staat des jüdischen Volkes, und Juden sind die Opfer von diesen Machenschaften. Gerechtigkeit muss nicht nur praktiziert werden, sie muss auch als solche erscheinen. Dass hier ein Gericht, das diese Opfer vertritt, jemanden aburteilt, der etwas gegen diese Menschen, die zu Opfern wurden, getan hat, sieht aus wie etwas, das nicht gerecht ist. Auch da ist juristisch nichts dran. Die ganze Idee des Strafrechts hat sich daraus entwickelt, dass anstelle der persönlichen Rache für einen Mord an einem Familienangehörigen oder einen Einbruch ein Gericht tritt, das die Gesellschaft vertritt. Da wurde eingewandt: Ja, aber hier in Israel sind doch starke Emotionen im Spiel. Aber es geht hier um internationale Vergehen, die überall vor Gericht belangt werden können. Und irgendein Richter in einem Land, der solche Aussagen hören kann, ohne Emotionen zu spüren, der ist nicht wert, Richter zu sein. Doch er muss hier natürlich objektiv sein. Er muss dem Angeklagten jede Möglichkeit geben, sich zu verteidigen. Niemand hat behauptet, dass das israelische Gericht dies nicht getan hat. Aber die Tatsache, dass Leute Gefühle haben, wenn sie hören, was da vorgefallen ist, ist nicht zu beanstanden.
Nicht vergessen werde ich in diesem Zusammenhang: Da kam auch ein Professor von einer Universität, der mich in der Staatsanwaltschaft besucht hat. Er kam aus einem europäischen Staat, ich weiß nicht mehr, aus welchem, ich glaube, vom Balkan. Der bat mich darum, die Anklageschrift einsehen zu dürfen: Er sah dort dann, dass wir Eichmann nicht nur wegen der Verfolgung und Tötung von Juden angeklagt haben, sondern auch wegen der Tötung von Zigeunern, der Tötung von russischen Kommissaren, gewissen Tschechen, Polen, wo seine Abteilung die Morde zu verantworten hatte. Da fragte der Professor mich: »Warum haben Sie ihn deswegen angeklagt, warum haben Sie das nicht einem tschechischen, einem russischen, einem polnischen Gericht überlassen?« Ich erwiderte: »Vor nicht einmal fünf Minuten haben Sie mir vorgehalten, dass ein Gericht, das eine Gesellschaft von Opfern vertritt, nicht das Recht hat, jemanden abzuurteilen. Sie haben anscheinend kein Problem mit einem russischen, tschechischen oder polnischen Gericht. Aber wenn es sich um das Gericht eines jüdischen Staates handelt, da haben Sie auf einmal Bedenken.« Der Mann hatte die Anständigkeit zu erröten, und er sagte: »Ich weiß wirklich nicht, wieso ich diesen Unterschied gemacht habe, ich werde es mir überlegen, ich werde mich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen.« Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.
Dann begann der Prozess?
Den ersten Moment dieses Prozesses werde ich nie vergessen. Als die israelischen Richter in den Saal kamen, mit dem hebräischen Wappen hinter sich, und wie dieser Mann, Eichmann, dessen ganzes Bestreben darin bestand, dieses Volk zu vernichten, wie der aufstand und Haltung annahm. Vor einem souveränen hebräischen Gericht eines souveränen israelischen Staates. Ich muss gestehen, in diesem Moment war mir die Bedeutung der Existenz des israelischen Staates klarer als in irgendeinem Moment, der diesem vorangegangen war. Und dieses Gefühl hatte man damals überall.
Dann gab es den Vorbehalt des Kidnapping – dass Eichmann damals nach israelischem Recht in Argentinien gekidnappt worden war. Dazu hatte ich vor dem Prozess eine Untersuchung gemacht.
Über den Umgang damit, gerade in den Ländern, in denen die Demokratie am meisten fortgeschritten war, wo die demokratischen Prozeduren am weitesten entwickelt waren, in Amerika oder England. Da wollte ich sehen, wie dort die Einstellung ist. In Amerika kommt es sehr oft vor, dass jemand in einem bestimmten Staat ein Vergehen begeht und dann in einen anderen Staat flieht. Die Polizei des einen Bundesstaates verfolgt denjenigen dann und bringt ihn zurück – auf illegale Weise – in den Staat, wo man ihn vor Gericht stellen will. Da kam es vor, dass die Verhafteten dagegen geklagt haben: Ich bin auf illegale Art und Weise hierher verschleppt worden – deswegen habt ihr nicht das Recht, mich anzuklagen. Das ging einige Male bis zum obersten amerikanischen Gericht. Und da wurde entschieden: Diejenigen, die sich der Verschleppung schuldig gemacht haben, können dafür ebenfalls vor Gericht kommen. Aber das beeinflusst nicht das Recht, den Verhafteten vor Gericht zu bringen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wenn ein Gericht berechtigt ist, etwas zu verhandeln, dann ist die Tatsache, dass man den Angeklagten auf illegale Weise vor das Gericht gebracht hat, nicht entscheidend. So ist die Rechtslage in den USA. Dasselbe gilt in England. Da gab es während des Krieges einen großen Prozess. Einen Deserteur, der in Belgien gefasst worden war, hatte man auf illegale Weise nach England gebracht. Der hat vor Gericht auch vorgebracht, dass man ihn deswegen nicht rechtmäßig anklagen kann. Das ist verworfen worden.
Da habe ich damals auch das Beispiel gebracht: Wenn heute jemand in der Türkei gefasst wird und es besteht der Verdacht, dass er Hochverrat gegen England begangen hat, dann wird ihn kein türkisches Gericht anklagen. Aber wenn ein englisches Gericht seiner habhaft werden kann, dann wird es dies tun. Wir hatten diese ganzen Punkte bedacht. Aber das entscheidende Argument, die Hauptverteidigung, wenn es um eine mögliche Verringerung des Strafmaßes ging, würde wohl sein, dass Eichmann nur ein Befehlsempfänger war. Und deshalb war es wichtig, Beweise zu haben, um zeigen zu können, wie besessen er war, wie er sich absolut mit der Ideologie identifizierte. Und wie er Entscheidungen von Hitler hintergangen hat, um noch mehr Juden umzubringen. Bis zum Schluss. Der SS-Hauptsturmführer Dieter Wisliceny hat in Nürnberg ausgesagt, dass Eichmann ihm gesagt habe: »Wenn ich eines Tage sterbe, werde ich lachend in mein Grab springen, in dem Bewusstsein, ich habe vier bis fünf Millionen Juden umgebracht.«
Da war für mich nur entscheidend, dass das israelische Gericht objektiv zeigen konnte, was geschehen war. Ich verdiene keine besondere Anerkennung dafür, aber ich habe das in jeder Strafsache so gemacht: Während wir die Millionen Dokumente durchgegangen sind, habe ich auch oft Dokumente gesehen, auch was die Verfolgung betrifft, bei denen ich dachte, das könnte für die Verteidigung interessant sein. Etwa über Leute, die bestraft wurden, weil sie Befehle nicht befolgt hatten, SS-ler, die einen Eid geleistet hatten, und die Verpflichtung dieses Eides war, alle Befehle zu befolgen. Diese Sachen habe ich an den Verteidiger geschickt, an den Doktor Servatius, weil ich dachte, das könnte ihn vielleicht interessieren. Doktor Servatius hat mir später erzählt, er habe diese Dokumente Eichmann gezeigt. Und Eichmann habe ihn gefragt, wo er denn diese Dokumente her habe. Da habe er gesagt, der Staatsanwalt habe ihm das gegeben, und da sei Eichmann fast ohnmächtig geworden: »Was, der höchste israelische Staatsanwalt hat Ihnen Dokumente gegeben, die uns vielleicht helfen könnten?«
Wie gesagt, das habe ich in jedem Prozess so gemacht, und hier habe ich es auch nicht anders gemacht. Die Verteidiger waren beide auch ganz besondere Persönlichkeiten: Servatius war einer der führenden Verteidiger in den Nürnberger Prozessen gewesen, und der andere, Dieter Weschenburg, der war auch hervorragend. Der lebt heute noch, der Servatius nicht mehr. Wir hatten eine gute, direkte Verbindung zueinander.
Wie waren die Richter?
Die Richter waren ungeheuer scharf: Wenn irgendwo ein Punkt war, wo sie dachten, das hat mit Eichmann vielleicht nichts zu tun, dann haben sie uns, die Staatsanwaltschaft, sofort daran gehindert, das vorzubringen.
Wir wussten aber, da im Saal sitzen Hunderte von Journalisten. Wir wollten, dass die Journalisten aus der ganzen Welt die Hauptpunkte mitbekommen. Ich habe viele Dokumente über antisemitische Ausschreitungen eingereicht, Gesetze oder Vorschläge. Darunter eines, das von besonderer Bedeutung war. Ich wollte die Paragraphen vorlesen, die uns interessieren. Da haben mich die Richter sofort unterbrochen: »Herr Bach, Sie brauchen das nicht vorzulesen, wir werden es schon lesen.« Aber ich wollte, dass es gehört wird im Radio, dass es gezeigt wird im Fernsehen. Das habe ich auch geschafft, indem ich sagte: »Es ist wichtig, hier vorzutragen, welche Paragraphen für uns von Bedeutung sind. Die Paragraphen, die wichtig sind, da bestehe ich darauf, Ihnen die vorzulesen.« Da haben sie dann eingewilligt.
Wie waren die Auftritte der Zeugen?
Ich wollte ja einen lebendigen Zeugen für jedes Land. Und für Frankreich hatte ich einen Professor, der ein Buch über Drancy geschrieben hatte. Drancy war ein Lager, in das man die Kinder gebracht hat, deren Eltern schon deportiert waren. Die jüdischen Kinder aus den französischen Familien, die hat man dort hingebracht. Er beschrieb in dem Buch, wie die Eltern den Kindern Schilder, auf denen ihre Namen standen, um den Hals gehängt hatten, damit sie wussten, wer sie sind. Die Kinder haben die Schilder dann manchmal im Spiel untereinander ausgetauscht.
Er beschrieb auch, wie die Kinder geweint haben, wenn sie unglücklich oder krank waren. Da hatte ich diesen Zeugen, der dies beschrieb, und ich fragte ihn: »Wer war Jacques Stern?« Da unterbrachen mich die Richter sofort: »Herr Bach, hat das wirklich mit Eichmann zu tun? Wenn nicht, erlauben wir das nicht.« Ich erklärte: »Geben Sie mir eine Chance, ich werde Ihnen die Verbindung zeigen.« Dann erzählte der Zeuge von diesem einen Jungen, der besonders aristokratisch aussah und der nur einen Schuh hatte. Den anderen hatte er auf dem Weg verloren. Aber er trug eine Krawatte, der kleine Junge im Anzug. Er beteiligte sich nicht an den Spielen, er hat nicht gelacht und nicht geweint. Er saß so dabei. Der Zeuge erzählte, dass er den Jungen gefragt habe, woher er sei, da kam heraus, dass sein Vater ein führender Anwalt und seine Mutter eine bekannte Pianistin war. Er beschrieb, wie er neben dem Kind geschlafen hat da im Lager. Der Junge hatte immer eine geballte Faust, die er nie aufmachte. Da fragte er ihn: »Was hast du da in deiner Faust?« Der Junge hat die Hand geöffnet, da lag ein halber Keks drin. Er sagte, den hebe ich auf für meine Mutti, wenn ich sie sehe. Da fing er das erste Mal an zu weinen. Er wusste ja, dass seine Eltern nicht mehr sind. Aber er dachte sich, solange ich diesen halben Keks habe, gibt es eine Hoffnung, sie vielleicht eines Tages doch wiederzusehen.
Am nächsten Tag in der Früh hat man Jacques Stern und viele Jungs zum Zug gebracht und mit dem ersten Kindertransport aus Drancy nach Auschwitz gebracht. Später kam auch der Zeuge nach Auschwitz. Das erste, was er getan hat, war, zu gucken, wo Jacques Stern ist. Doch der war wie die ganzen anderen Kinder nicht mehr am Leben.
Da habe ich ein Dokument von Eichmann eingereicht, das er an seinen Adjutanten in Drancy geschickt hat. Wo er einen Tag vor dieser Deportation geschrieben hat: »Hocherfreut kann ich Ihnen mitteilen, dass die Kindertransporte von Drancy nach Auschwitz ab jetzt beginnen.« In Kombination mit der Schilderung des Zeugen wirkte das. Besonders wenn es in Schilderungen um Kinder ging, waren die Verteidiger oft auch sehr mitgenommen.
Dann gab es den wohl einzigen Zeugen, den wohl einzigen Menschen der Welt, der schon in einer Gaskammer war, die schon abgeschlossen war, und der dies berichten konnte. Wie kam das? Er beschrieb, wie man immer 200 Kinder zusammengenommen hat für diese Gaskammern. Er beschrieb, wie er da zusammen mit den 200 reingestoßen wurde, wie abgeschlossen wurde, wie es dunkel war. Die Kinder haben dann angefangen zu singen, um sich Mut zu machen. Als dann nichts geschah, da fingen die Kinder an zu weinen. Dann öffnete sich die Tür. Weswegen? Es hatten ja auch andere geweint. Aber es war ein Zug mit Kartoffeln in Auschwitz angekommen. Es gab nicht genug SS-Leute zum Entladen. Da hatte der SS-Kommandant die Idee, warum soll man nicht einen Teil der Kinder aus der Gaskammer benutzen, um den Zug zu entladen, bevor man sie umbringt? Da hat man die ersten 20, 30 rausgenommen. Und unser Zeuge war einer von denen. Dann hat man abgeschlossen, die anderen 170 wurden gleich vergast. Er hat mit den anderen dann beim Abladen geholfen. Diese anderen wurden dann auch umgebracht. Aber man hat gesagt, er habe beim Entladen an einem der Lastwagen einen Schaden angerichtet. Da hat der Kommandant gesagt: Der soll erst mal gepeitscht werden, bevor er getötet wird mit der nächsten Gruppe. Der SS-Mann, der das Peitschen ausführen sollte, hatte Mitleid mit ihm und hat ihn bei sich gelassen. Es gab viele grausame Momente, aber dies war selbst für den Eichmann-Prozess etwas Besonderes. Es gibt vieles, was man schwer vergessen kann. Aber hier sagten die Richter, wir machen eine Viertelstunde Pause. Während des Prozesses gab es viele Tage, die nicht einfach waren. Und es ging zwei Jahre. Ich habe neun Monate mit der Vorbereitung zugebracht, drei Monate dauerten die Vernehmungen der Zeugen, dann dauerte es, bis das Urteil kam, dann war ich in der Berufung, da war ich auch dabei.
Hat Sie die gute Zusammenarbeit der deutschen Behörden bei der Prozessvorbereitung nicht irritiert, wo doch die Deutschen sehr zögerlich waren bei der Bestrafung der NS-Verbrecher?
Das war eine positive Überraschung. Keiner hat Einspruch erhoben. Keiner, mit dem ich gesprochen habe. Kein anderes Land hat die Auslieferung von Eichmann verlangt. Man hat gemerkt, dass die Leute damit einverstanden waren. Ich hatte aber auch nicht genug Zeit, mit allen darüber zu sprechen. Der Eichmann-Prozess hatte auch Auswirkungen, haben mir deutsche Staatsanwälte erzählt. Es gab immer Staatsanwälte, die wollten Prozesse führen. Es gab immer auch Lehrer, die wollten das in die Schulen bringen. Aber man hat sie nicht darin bestärkt, es gab keine Mittel dafür. Weder für die Staatsanwälte noch für die Lehrer in Deutschland. Die Eltern, die Nazis waren, die wollten bestimmt nicht, dass das ihre Kinder in den Schulen lernen. Aber selbst die Eltern, die keine Nazis waren, wollten nicht, dass ihre Kinder nach Hause kommen und fragen: Wo wart ihr, warum habt ihr nicht dagegen demonstriert, nichts dagegen gemacht? Die wollten auch lieber, dass die Kinder davon nichts erfuhren. Aber dann kam der Eichmann-Prozess, und dann kam das eine Stunde lang jeden Abend in jedes Haus. Da konnte man denjenigen nicht mehr widerstehen, die das in den Nachrichten bringen mussten. In den Staatsanwaltschaften kam dann eine Kettenreaktion von Prozessen, hauptsächlich, was die Todeslager betrifft. Da kamen die großen Prozesse: Auschwitz, Treblinka, Sobibor – das kam alles nach dem Eichmann-Prozess.
Das hatte eine große Bedeutung. Mit deutscher Gründlichkeit hat man dann diese Untersuchungen, diese Prozesse geführt, Urteile gefällt. Es gibt ja jetzt in vielen Ländern Leute, die bestreiten, dass so etwas stattgefunden hat, der Holocaust sei zionistische Propaganda, das sei alles übertrieben. Die Tatsache, dass wir jetzt deutsche Dokumente haben, von allen Lagern, das ist auch ein Resultat des Eichmann-Prozesses. Das alles hätte man auch früher machen können, sicher. Aber die Tatsache, dass es nachher gemacht wurde, ist etwas Positives. Als Resultat des Eichmann-Prozesses.
Interessant ist auch unsere Jugend in Israel. Die wollten davon nichts hören, erzählten mir Lehrer. Die hatten irgendein Schamgefühl. Ein junger Israeli kann verstehen, dass man in einem Kampf verletzt werden kann, dass man getötet werden kann, dass man eine Schlappe erleiden kann – das kann er verstehen. Aber er kann nicht verstehen, dass sich da Hunderttausende, Millionen von Menschen haben abschlachten lassen, ohne Widerstand zu leisten. Deswegen wollten sie darüber keine Einzelheiten hören. Es war nicht der Hauptzweck des Prozesses, aber wir haben uns bemüht, auch hier richtig wiederzugeben, was war. Wir haben im Prozess gezeigt, wie Eichmann und die anderen Nazis die ganzen Leute, die man umgebracht hat, wie man die in die Irre geführt hat bis zum letzten Moment. Egal ob es Juden waren oder Zigeuner oder russische Kommissare. Wie man die geschwächt und bedroht hat, auch ihre ganzen Familien.
Als Eichmann nach Ungarn geschickt wurde, da hat Himmler ihn gebeten, er soll eine Massenflucht verhindern. Eichmann hat uns im Prozess erzählt, dass das erste, was er gemacht habe, als die Juden aus Ungarn nach Auschwitz kamen, das Folgende gewesen sei: Er hat sie gezwungen, Postkarten zu schreiben, bevor sie in die Gaskammern kamen. An ihre Familien und an ihre Freunde. Es wurde von Eichmann diktiert, was dort stehen sollte. Sie mussten schreiben: »Wir sind hier in einem wunderschönen Ort, der heißt Waldsee, wir machen herrliche Ausflüge. Leichte Arbeit nur, aber es gibt nicht viel Platz. Also kommt so rasch wie möglich, damit ihr die Villen und Häuser bekommen könnt, die hier noch offen stehen.« Eichmann erklärte uns noch, er habe hinzugefügt: »Bringt gute Schuhe mit für die Ausflüge.« Damit die deutsche Armee dann die Schuhe der Leute bekommen kann, die in den Gaskammern getötet wurden.
Ich komme von einer Assoziation zur anderen. Das war sehr schwer zu ertragen, diese Postkarten zu lesen.
Ich war für Ungarn ja gar nicht zuständig in der Voruntersuchung, aber zu Ungarn gab es mehr Zeugen als gewöhnlich, weil Eichmann ja persönlich dort war. Nachdem ich vier Tage mit den ungarischen Zeugen zugebracht hatte, hörte ich, es gibt in Israel einen Mann, der so eine Postkarte von seiner Familie bekommen hat. Ich habe ihn ausfindig gemacht und ihm gesagt, er solle sofort nach Jerusalem kommen. Er kam um elf Uhr nachts. Ich erwähne das, denn normalerweise habe ich die Zeugen vor der Befragung im Prozess sehr sorgfältig verhört, aber ich hatte nie mehr als drei Stunden Schlaf während der ganzen Dauer des Prozesses. Und als der Mann kam, fragte ich ihn nur, »hast du die Postkarte?«, und ich bat ihn dann, sie aus dem Ungarischen ins Hebräische zu übersetzen. Das hat er gemacht. Ich sagte ihm: »Wenn ich dich morgen früh aufrufe als Zeuge, dann erzähl uns, was mit deiner Familie passiert ist.«
Am nächsten Morgen kam er als Zeuge, beschrieb die Postkarte, wie er sie bekam, dass er dann dorthin fuhr mit seiner Frau, seinem kleinen Töchterchen, zweieinhalb Jahre alt, und seinem Sohn, dreizehn, vierzehn Jahre alt. Er beschrieb, wie sie in Auschwitz ankamen, in Birkenau, er wusste gar nicht, was dort ist. Er dachte, es würde ›Waldsee‹ sein. Und dann beschrieb er die Selektion. Wie sie da waren, bei dem Bahnhof. Die Frau – nach links, und das Töchterchen – nach links. Dann hat man ihn gefragt: »Was war Ihr Beruf?« Er sagte: »Ich war Ingenieur in der Armee.« Nach rechts! Man wollte ihn noch ausnützen. Dann der Sohn: Wie alt ist der exakt? Dreizehn Jahre, vierzehn Jahre? Und dann hat der SS-Mann gesagt: »Das muss ich erst mit meinem Vorgesetzten beraten, was mit dem Sohn passiert.« Das hat eine, zwei Minuten gedauert, dann hat der gesagt: »Renn zu deiner Mutti.« Der Zeuge schilderte, er habe geguckt: »Ich dachte, ich würde meine Frau, meinen Sohn finden. Aber da waren inzwischen schon Hunderte von anderen Leuten durchgegangen. Ich dachte nun, ich würde meine Frau, meinen Sohn nicht finden. Meine Frau war in der Menge verschwunden, die sah ich nicht mehr. Mein Sohn, der war auch in der Menge verschwunden, den sah ich nicht mehr. Aber mein Töchterchen, das hatte einen roten Mantel. Und so wie dieser rote Punkt, der nun immer kleiner wurde, so verschwand meine Familie aus meinem Leben.«
Nun hatte ich selbst eine kleine Tochter, die genau zweieinhalb Jahre alt war, und der hatte ich eine Woche zuvor einen roten Mantel gekauft. Und als der Zeuge das jetzt sagte … einen Tag vorher hatte meine Frau eine Fotografie gemacht, von dem Töchterchen mit dem roten Mantel. Als der Zeuge dies sagte, versagte mir mit einem Mal völlig die Stimme. Ich konnte keinen Ton herausbekommen. Der Zeuge hatte sich erholt und wartete auf die nächste Frage. Die Richter hatten mir ein Zeichen gegeben, dass ich weitermachen solle. Das Fernsehen war auch da. Ich habe dann versucht, mit meinen Dokumenten zu spielen, das hat so vier, fünf Minuten gedauert, bis ich wieder etwas sagen konnte. Ich kann dir sagen, seitdem ist es so: Ich kann auf der Straße gehen, ich kann in einem Restaurant sein, und ich merke plötzlich, ich kriege Herzklopfen, und ich drehe mich um und sehe ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen mit einem roten Mantel. Vielleicht eine banale kleine Geschichte, aber für mich symbolisiert dieser rote Mantel diese ganze Geschichte mehr als irgendetwas anderes. Ich weiß nicht, ob Sie diesen Film gesehen haben, »Schindlers Liste«?
Der Regisseur, der weiß ja nicht von der Geschichte, der hat nur das Protokoll gesehen, in dem steht, was dieser Zeuge ausgesagt hatte. Das hat ihn so beeindruckt, dass er das in den Film hineingebracht hat. Aber natürlich gab es jeden Tag so etwas, solcherart Erfahrungen.
Wissen Sie, an diesem Tag, wo ich den Zeugen hatte, der beschrieb, wie die Kinder in der Gaskammer waren und erst gesungen haben, der Zeuge, der bereits in der Gaskammer war, an diesem Tag kam ich nach Hause und meine Frau sagte mir: »Es ist eine Katastrophe passiert. Das Dienstmädchen ist heute nicht gekommen.« Sie hatte völlig Recht, das Leben geht weiter, aber ich habe sie anscheinend ziemlich fassungslos angesehen, nachdem ich das gerade hinter mir hatte. Wir waren da gerade in eine neue Wohnung eingezogen. Sie hat mir hinterher gesagt, sie hatte einen wunderschönen persischen Teppich bekommen, und wollte mich damit überraschen. Und dann lag der Teppich da und ich bin nach Hause gekommen und habe nichts gesehen, nichts bemerkt. Wir waren auf einem anderen Planeten während des Prozesses.
Herr Bach, vielen herzlichen Dank für das Interview. | Moritz Herbst | Moritz Herbst: Zweiter Teil eines Gesprächs mit Gabriel Bach, der 1961 einer von drei Anklägern im Prozess gegen Adolf Eichmann war | [] | Dossier | 14.04.2011 | https://jungle.world//artikel/2011/15/wir-waren-auf-einem-anderen-planeten |
Neuschwabenland | Zum Weihnachtsfest wird beim neurechten Verlag Antaios Weltanschauung in klingende Münze verwandelt. | [] | https://jungle.world//tags/neuschwabenland |
||||
andreas röhler | Mit Sleipnir versucht Andreas Röhler ein Netzwerk der Holocaust-Leugner aufzubauen | [] | https://jungle.world//autorin/andreas-roehler |
||||
Jungle World #42/2022 - Volles Rohr für die Industrie | Im dschungel läuft:
Leben und Sterben in Leipzig. Mehr als 200 Filme wurden auf dem diesjährigen Dokumentarfilmfestival gezeigt – in vielen geht es um den Tod. | Milliardensubventionen sollen der deutschen Industrie durch die drohende Rezession helfen 20.10.2022 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2022/42 |
||
Wer hat Angst vor ’77? | Derzeit scheint diese Frage nicht nur die Bundesrepublik zu beschäftigen. Auch der italienische Staat scheint seine Gegner von damals nicht loswerden zu können. Nein, von den Neuen Roten Brigaden und ihren militärischen Projekten ist hier nicht die Rede. Hier geht es um »Settantasette«, um das Jahr, in dem die sozialen Kämpfe in Italien eine neue, radikale Qualität insbesondere unter Studenten erreichten. In der vorigen Woche sollte in der philosophischen Fakultät der Universität La Sapienza in Rom eine Gedenkveranstaltung stattfinden. Vor 30 Jahren war es dort zum endgültigen Bruch zwischen der Studentenbewegung und der Führung der Kommunistischen Partei gekommen, als die Studenten den kommunistischen Gewerkschaftsführer Luciano Lama daran gehindert hatten, an der damals besetzten Hochschule eine Rede zu halten. Um über die Bedeutung dieses Ereignisses zu diskutieren, war zu der Veranstaltung in der Sapienza auch eine Symbolfigur für italienische Linksradikale eingeladen worden: Oreste Scalzone, eines der Gründungsmitglieder von Potere operaio, der nach mehreren Jahrzehnten im französischen Exil nun wieder nach Italien fahren darf. Um erneut schlechten Einfluss auszuüben, wird sich der Rektor der Universität gedacht haben und sperrte das Gebäude an diesem Tag einfach. Die Veranstaltung fand trotzdem statt – auf dem Hof. federica matteoni | Federica Matteoni | Federica Matteoni: | [] | webredaktion | 21.02.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/08/wer-hat-angst-vor-77 |
Am Ende der alten Welt | Der tragische Unfall ereignete sich Ende Juli 1998 nahe der sächsischen Stadt Freiberg, kurz hinter der tschechischen Grenze. Zwei Dutzend kosovo-albanische Flüchtlinge versuchten, in einem Lieferwagen über die stark kontrollierte Schengener Außengrenze zu gelangen. Der Wagen verunglückte auf einer Verfolgungsjagd durch den Bundesgrenzschutz (BGS) bei hoher Geschwindigkeit in einer Kurve. Sieben Menschen starben noch am Unfallort. Über 20 Personen wurden in Krankenhäuser eingeliefert. In ihrem Herkunftsort bei Pristina war es im Juli zu achttägigen Kämpfen zwischen der UCK und serbischen Einheiten gekommen. Sie endeten mit der Niederlage der UCK-Einheiten und der Flucht der albanischen Bevölkerung. Ganz in der Nähe von Freiberg fand in jenen Tagen das Grenzcamp der Kampagne Kein Mensch ist illegal statt. Es gab eine Demonstration und verschiedene Versuche, Unterstützung für die Verletzten zu organisieren. Der Chefarzt des Freiberger Krankenhauses hatte einem Teilnehmer des Camps telefonisch eine Besuchserlaubnis erteilt. Doch der BGS bewachte das Krankenhaus wie ein Gefängnis. Die Grenzschützer hatten sich mit dem Chefarzt, dem städtischen Ordnungsamt und anderen lokalen Hoheitsträgern über eine Isolation der Verletzten verständigt - ohne jede gesetzliche Grundlage. Nur mithilfe von Tricks gelang es, die Verletzten Vollmachten unterschreiben zu lassen, mit denen anschließend einige AnwältInnen Anträge auf Asyl stellen konnten. Ein Teil der Verletzten wurde kurze Zeit später in die Tschechische Republik - in den so genannten sicheren Drittstaat - abgeschoben, ein anderer Teil hingegen freigelassen. Ein Kriterium für diese unterschiedliche Behandlung war, ob sich die Krankenhäuser in der Grenzzone oder bereits im Landesinneren befanden. Diese Begebenheit ist ein Beispiel dafür, in welcher Weise das Recht, Rechte zu haben, territorial abgeschwächt oder gar außer Kraft gesetzt wird. In der Grenzzone, gesetzlich auf eine Breite von 30 Kilometern festgelegt, haben Flüchtlinge, wenn sie gefasst werden, kaum Chancen auf eine Asylantragstellung und sind von sofortiger Rückschiebung in das Nachbarland bedroht. Manche werden einwenden, dass jeder Staat die Probleme der räumlichen Begrenzung seiner Macht verfahrenstechnisch löst. Gerade die Regelung von Souveränitäten und unterschiedlichen Rechtssystemen mache doch ein wesentliches Kennzeichen von Grenzen aus. In der aktuellen Flüchtlingspolitik geht es aber um einen anderen Aspekt: In den ostdeutschen Grenzregionen wird die Erzeugung von Rechtlosigkeit eingeübt. Staatliche Behörden und Teile der Gesellschaft praktizieren aktiv den Entzug von Rechten gegenüber einer bestimmten Personengruppe. Ein Ergebnis dieses Handelns ist die Zweiteilung der Gesellschaft in diejenigen, die ihres sozialen und rechtlichen Status entkleidet werden, und die anderen, die sich zu einer neuen Gesellschaftlichkeit oder Staatlichkeit formieren. Hinzu kommt, dass die alten Bestände an Ressentiments und historisch gewachsenen Anmaßungen unter dem Zeichen der Flüchtlingsabwehr und der Verweigerung von Rechten aktualisiert werden, was zu zahlreichen gewalttätigen Übergriffen in den Grenzregionen führt. Ein Klima des Verdachts entsteht in diesem System nicht aufgrund von Hinweisen auf ein Delikt, sondern wegen vermuteter Migration, mithin nach phänotypischen Kriterien. Alle AnwohnerInnen können sich beteiligen und bei einem eigens zu diesem Zweck installierten Bürgertelefon des BGS anrufen. Die Grenze wird hier als Schengener Außengrenze in Alltagsprozessen sozial neu erfunden. Flüchtlinge verwandeln sich für diese AnwohnerInnen in Illegale, in Kriminelle. Die staatlichen Bürokratien mutieren an der Grenze zu erfinderischen, eifrigen Behörden. Ausgehend von der These, dass die Grenze als solche kriminogen sei, wurden behördenübergreifende Instanzen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Krimineller gebildet: In informellen Arbeitsgruppen treffen sich Vertreter des Innenministeriums, Staatsanwälte, Richter, Polizisten und Grenzschützer und sprechen neue Kriminalisierungspraktiken ab. So entwickelte sich die Praxis der beschleunigten Verfahren, in denen Verhaftete sofort dem Gericht zugeführt werden und auf Verteidiger und gegebenenfalls Dolmetscher verzichten müssen, zuerst und im größten Ausmaß in den Grenzregionen. In verschiedenen Regionen wurden Taxifahrer strafrechtlich verfolgt, wenn sie - bei Inlandfahrten - Personen beförderten, die möglicherweise heimlich über die Grenze gekommen sind, und diese nicht per Funk der Polizei anzeigten. In der Grenzstadt Zittau wurde über ein Drittel der Taxifahrer bereits mit Strafverfahren überzogen. Der staatlich und gesellschaftlich legitimierte Entzug von Rechten gegenüber Flüchtlingen drohte mehrmals in Pogrome umzuschlagen. In manchen grenznahen Orten haben die Anwohner Bürgerwehren gebildet, die nachts auf Streife gehen und eigenmächtig Leute festnehmen. Die staatlichen Behörden versuchen, diese Initiativen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Politiker der Innen- und Justizministerien haben in den letzten Jahren zahlreiche regionale Versammlungen von Gemeindevertretern längs der Grenze einberufen. Dort wurden ernsthaft die Aufstellung von Selbstschussanlagen und das Auslegen von Fangeisen diskutiert. Die Staatsvertreter, die unter Law and Order an der Grenze den gesetzlichen Rechtsentzug gegenüber Flüchtlingen verstehen, warteten mit Statistiken und Polizeiexperten auf. Der Staat bekämpfe, das ist die Botschaft, bereits jetzt wirkungsvoll die grenzüberschreitenden Kriminellen. Eine noch engere Zusammenarbeit mit den BürgerInnen sei nötig, es dürfe auf keinen Fall zur Bildung von staatsunabhängigen Bürgerwehren kommen. Auf der anderen Seite der Schengener Außengrenze, in der Tschechischen Republik und in Polen, gibt es kein Pendant für diese gesellschaftliche Entwicklung. Zwar wurde in technischer und gesetzlicher Hinsicht ein ähnliches Grenzregime installiert, aber die Bevölkerung igelt sich nicht in gleicher Weise ein. Im Gegenteil: In Interviews längs der polnisch-deutschen Grenze betonen viele der Befragten ihre 15 oder gar 20 Jahre alten Arbeits- und Reiseerfahrungen in der ehemaligen DDR, in der alten Bundesrepublik und in anderen Ländern. (1) Sie sagen, sie kennen Europa, und sie gehören auch dazu. Transitflüchtlinge und Menschen aus der GUS, die an der Schengener Grenze kleine Geschäfte machen, stellen für sie keine Bedrohung dar. Die Schengener Außengrenze wird also aus der Binnensicht Westeuropas häufig als Limes wahrgenommen, an dem die Welt zu Ende ist und der zur mentalen Abschottung der Gesellschaft aufruft. Aber aus der Sicht der Menschen jenseits des Limes, in Zentral-, Ost- und Südosteuropa, hat die Grenze möglicherweise eine viel geringere Bedeutung, weil ihre Lebens- und Erfahrungshorizonte und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt bis nach Berlin, Paris und Genf reichen. Die Botschaft dieser Menschen ist, dass man Grenzen eben doch überschreiten kann, auch wenn das mit lebensgefährlichen Risiken verbunden ist. Diese Lücke, die sich zwischen den staatsverfassten Gesellschaften des Westens einerseits und den Sans Papiers, den Flüchtlingen und den GelegenheitsarbeiterInnen ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung andererseits auftut, ist - historisch besehen - nicht neu. Neu ist allerdings, dass die Grenzziehungspolitik wie ein Katalysator der westeuropäischen Integration und der allgemeinen Flüchtlingspolitik funktioniert. Die Schengener Außengrenzenpolitik, die 1985 mit fünf Staaten begann, hat sich zum Motor der EU-Staatsbildung und des europäisierenden Identitätsmanagements entwickelt. Heute gehören 15 Staaten dem Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) an, mehrere Staaten sind assoziiert, und entsprechend dem Vertrag von Amsterdam wird Schengen in den EU-Institutionen aufgehen. Im historischen Kontext besehen, fällt der lokalistische, fokusartige Charakter dieser Politik auf. Der große Umbruch in der Flüchtlingspolitik erfolgte nicht wegen einer europaweiten Diskussion, einer institutionellen Vereinheitlichung und einer daran anschließenden gemeinschaftlichen, gleichmäßigen Umsetzung im gesamten Westeuropa, sondern anhand der Schaffung von Brennpunkten, von gefährlichen Orten. Die Oder-Neiße- und die ostbayerische Grenze erhielten durch diese Praxis eine zunächst territorial begrenzte Vorbildfunktion. Keine andere Grenze Europas wurde in so kurzer Zeit derart aufgerüstet, funktional neu bewertet und sozial neu gezogen. 1992 bis 1994 hatte die Schengener Außengrenzenpolitik an Oder und Neiße sowie in Ostbayern Modellcharakter erreicht. Die Inventarien, die die deutsche Bundesregierung an dieser Grenze entwickelt hat, werden heute exportiert. Bilaterale Rückübernahmeabkommen, die Definition des sicheren Drittlandes und die »Schleierfahndung« - die Kontrollen auf den Transitrouten anhand phänotypischer Kriterien - sind heute in Europa im standardisierten Modell-Know-How zu haben. Die neue europäische Raumordnung Die Herausbildung der zwei Seiten einer Medaille - das Regime der Rechtsverweigerung gegenüber Flüchtlingen einerseits und das neue staatlich-gesellschaftliche Bündnis andererseits - erinnert an die Entwicklung zum »Doppelstaat«. Mit diesem Wort charakterisierte Ernst Fraenkel 1941 die Aufspaltung Deutschlands - zu Beginn der dreißiger Jahre - in einen »Maßnahmenstaat« und einen »Normenstaat«. (2) Den »Maßnahmenstaat« sah Fraenkel mit den Notstandsverordnungen, der verschärften Verhängung der »Schutzhaft« und den politisch motivierten, willkürlichen Maßnahmen gegen Oppositionelle, gegen die deutsche jüdische Bevölkerung und gegen ostjüdische MigrantInnen entstehen. Mit der Forcierung des »Maßnahmenstaats« habe der Nationalsozialismus einen unberechenbaren Weg der Willkür und der Radikalisierung eingeschlagen. Als »Normenstaat« habe sich der aufkommende Nationalsozialismus hingegen gegenüber der nicht verfolgten Bevölkerung gezeigt. An die Stelle der Rechtsstaatlichkeit sei diesem Teil der Bevölkerung gegenüber die Garantie der Normalität getreten, damit Gesellschaft, Arbeit und soziale Sicherheit weiter funktionieren konnten. Der »Maßnahmenstaat« und der »Normenstaat« hätten sich symbiotisch entwickelt. Mit diesem Rückgriff sollen nicht die heutigen Flüchtlingslager und -heime mit dem System der Konzentrationslager im Nationalsozialismus gleichgesetzt werden. Der historische Verweis soll vielmehr dazu dienen, die regionalen Vorkommnisse an der Schengener Außengrenze in einen größeren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zu stellen, da die aktuelle Flüchtlingspolitik eng mit der Formierung der europäischen Gesellschaft und Staatlichkeit verknüpft ist. Zu Beginn der neunziger Jahre hat sich diese Verschränkung von Flüchtlingspolitik und Europapolitik in lokalen Brennpunkten wie den Außengrenzen artikuliert. Aber seit 1997 - der Intervention in Albanien - und erst recht seit 1999 - der Intervention im Kosovo und in der Bundesrepublik Jugoslawien - macht sich an der Flüchtlingspolitik zusätzlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den von ihr abhängigen neuen Staatsverwaltungen in Südosteuropa fest, die provisorisch als Protektorate bezeichnet werden können. Entsteht in Gesamteuropa also eine Art Doppelstaat: die neue souveräne EU auf der einen Seite, andererseits der Südosten, in dem Ausnahmezustand und Protektion herrschen? Mit Privilegien für die EU-BürgerInnen einerseits und den Underdogs auf der anderen Seite, denen wegen ihrer Herkunft und ihrer heimlichen Ankunft in der EU die Persönlichkeit und das individuelle Gesicht, die soziale Eingebundenheit und der juristische Status abgesprochen werden? Nicht nur die Erklärung des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder im April 1999, dass sich die Neugründung der EU entsprechend dem Amsterdamer Vertrag gewissermaßen im Akt der Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawiens vollziehe, deutet auf ein besonderes Verhältnis zwischen der EU und Südosteuropa hin. (3) Es sind die migrations- und flüchtlingspolitischen Analysen und Maßnahmen der letzten Jahre, die aus dem Balkan das bedrohliche Hinterland der EU gefertigt haben. Auf den Begriff gebracht, heißt der neue Alarmfokus »Südroute« oder »türkisch-albanische Route«, auf der sich die Flüchtlinge mit Schmugglern, Schleusern und dem organisierten Verbrechen verbinden würden, auf dem Weg nach Westeuropa. Im Zusammenhang mit den Sezessionskriegen im zerfallenden Jugoslawien ist es entscheidend, wie die EU-Institutionen diese furchtbaren Entwicklungen in ihrer Politik übersetzen. Ähnlich wie bei der ostdeutschen Grenze Anfang der neunziger Jahre dominiert eine flüchtlingspolitische oder gar kriminalpolitische Panikmache. Bis Anfang der neunziger Jahre sind die angekündigten Millionen Flüchtlinge nicht an Oder und Neiße angekommen. Aber die Grenzaufrüstung mit allen sozialen Implikationen ist erfolgt. Die Zahlen festgenommener und rückgeschobener Flüchtlinge liegen heute wesentlich höher als damals. Während die dortige Grenzaufrüstung 1992 bis 1994 beispielsweise im Strategiepapier der Migrations- und Asylpolitik, das 1998 die österreichische EU-Präsidentschaft vorgelegt hat, inzwischen als normal angesehen werden, ist nun der Balkan der alles bedrohende Unruheherd. Es seien neue Instrumentarien zu entwickeln, um die Gefahren des Immigrations- und Kriminalitätsexports, die von dort ausgingen, zu bannen. Die Fahndung entlang der Fluchtwege, die Installierung eines Frühwarnsystems und die Schaffung von sicheren Häfen oder inländischen Fluchtalternativen seien die flüchtlingspolitischen Aufgaben, die sich die EU für die unmittelbare Zukunft vornehmen solle. Erhellend ist es, das Ergebnispapier einer Sitzung nachzulesen, die am 28. April 1999 in Brüssel unter dem Titel »Ein Nachkriegssystem für Südosteuropa« (4) stattfand. Die Leitung der Sitzung hatte der Präsident der EU-Kommission, Romano Prodi, inne. Die Sitzung war von der Arbeitsgruppe Südosteuropa des Centre for European Policy Studies (CEPS) organisiert. An dem Brainstorming nahmen EU-Botschafter der Region und Balkanexperten teil. Diskutiert wurde über eine neue Kategorie der EU-Assoziation, eine Art »virtuelle Mitgliedschaft« ohne Stimmrecht in den EU-Gremien. In diese Kategorie eines »Neuen Assoziierten Mitglieds« (Nam) sollen Kroatien, Albanien und Mazedonien ab 2000 eintreten, Bosnien-Herzegowina ab 2002 und, seit dem Sturz Milosevics, irgendwann auch die Bundesrepublik Jugoslawien. Die Nam-Ökonomie sollte schockartig in den EU-Binnenhandel und die Euro-Währungszone integriert werden. An Freizügigkeit der Menschen sei hingegen nicht gedacht: »In Hinsicht auf Südosteuropa steht die EU vor dem politischen Dilemma, sich vor einer Flut von Flüchtlingen und illegalen Migranten sowie (aus einigen Ländern der Region) vor der organisierten Kriminalität schützen zu wollen, ohne einen neuen Eisernen Vorhang zwischen sich und den Ländern, die integriert werden sollen, zu schaffen.« Aber langfristig laufe die restriktive Visapolitik und die anzustrebende Bewachung der Nam-Grenzen durch EU-Militär, Europol und parapolizeiliche Truppen auf eine vergleichbare Einschränkung hinaus. Die Flüchtlings- und Kriminalitätspolitik wird hier zum Schrittmacher einer neuen europäischen Raumordnung. Die EU legt sich einen Hinterhof zu. Die wirtschaftspolitische Bestimmung als Ergänzungsraum, die Südosteuropa dabei erhält, erinnert an altbekannte deutsch-österreichische Begehrlichkeiten. Die westeuropäischen Regierungen haben ihre neue Flüchtlingspolitik an den Schengener Außengrenzen in eine hauptsächlich polizeiliche Praxis übersetzt. Gegenüber Südosteuropa griffen die EU-Staaten in den letzten Jahren zu einer Politik auch des militärischen Containments. Erinnert sei an den Einsatz der italienischen Marine gegen Flüchtlingsschiffe in der Adria seit März 1997, an die Errichtung der mazedonischen und albanischen Flüchtlingslager während der Nato-Bombardierung, ihre Lokalisierung in unmittelbarer Nähe der Grenzen, also des Kriegsgebiets, und an den zeitweiligen Zusammenbruch der Fluchtmöglichkeiten über die Adria während dieser Lagerpolitik. Zur Zeit beteiligen sich die beiden Anrainerstaaten des im Aufbau befindlichen EU-Protektorats - Österreich und Italien - maßgeblich an der Ausarbeitung eines Zusatzprotokolls »gegen die Schleusung von Migranten zu Lande, in der Luft und zu Wasser« (5) im Rahmen einer UN-Konvention. Die Signatarstaaten verpflichten sich, heimliche GrenzgängerInnen strafrechtlich zu verfolgen. Außerdem soll die Marine der jeweiligen Staaten Flüchtlingsschiffe auf offener See aufbringen dürfen - ein Akt, der bisher völkerrechtlich verboten ist, auch in der Adria. Für die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien hat sich die Situation in jeder Hinsicht dramatisch verschlechtert. In Deutschland sind es die kosovo-albanischen Flüchtlinge, die, obwohl bekanntermaßen durch den jugoslawischen Staat bis zum Einmarsch der KFOR verfolgt, in asylrechtlicher Hinsicht am schlechtesten behandelt wurden. An dieser Gruppe wurde in den letzten Jahren der Entzug jeglicher sozialer Unterstützung erprobt. Und diejenigen, die nicht in ihre Herkunftsorte zurückkehren können, sondern in Baracken und Notunterkünften hausen, haben als internal displaced persons den minimalen internationalen Flüchtlingsschutz verloren. Die Bevölkerungen und die Hilfsorganisationen Fast scheint es, als hätte das Ende der bipolaren Welt nicht nur den Krieg weltweit rehabilitiert, sondern auch zu einer Zunahme von Erdbeben und anderen Katastrophen geführt. In Wirklichkeit hat sich der Blick der westlichen Regierungen auf die von Not gezeichneten Bevölkerungen geändert. Nach 1945 waren die völkerrechtlichen Verhandlungen und Konventionen dahin ausgerichtet, die Bevölkerungen aus den Kriegen nach Möglichkeit auszuklammern, sie zu Nichtbeteiligten zu machen. Dort, wo es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, galt für Hilfsorganisationen die Maxime, dass die Hilfe für die Bevölkerung keiner Kriegspartei zuzuordnen sein dürfe. Das Zauberwort jener Zeit hieß Entwicklung, mit der die entsprechenden Staaten - und nur indirekt die Bevölkerungen - zum Objekt wirtschaftlicher Zyklen gemacht wurden. Nach 1989/90 werden Konflikte und Katastrophen dagegen als Unruheherde interpretiert, die, wenn sie nicht territorial eingegrenzt werden, den Westen tangieren oder gar destabilisieren könnten. Die lebendigen Träger der Unruhe sind in dieser Bedrohungsperspektive die vom Unheil Getroffenen. Sie könnten fliehen, immigrieren oder, um zu überleben, illegale Geschäfte tätigen. Das Ziel zahlreicher westlicher Interventionen seit 1989/90 war es, die Bevölkerung der deklarierten Brennpunkte territorial zu binden, diesen Menschen nach territorialen Kriterien nur begrenzte Rechte zuzusprechen. Anhand der Flüchtlingspolitik sei dieser Umbruch detaillierter nachgezeichnet: Nach dem Scheitern der Nansenpolitik im Völkerbund, nach der Flüchtlingskonferenz von Evian 1938, dem Zweiten Weltkrieg und der nazistischen »Endlösung« nahmen die internationalen Hilfswerke einen neuen Anlauf zu einer unabhängigen Flüchtlingspolitik. Beflügelt von der Vorstellung, dass Flüchtlinge nie wieder zu Verschiebemassen zwischen Staaten werden dürften, instrumentalisiert zu politischen oder gar militärischen Zwecken, entstand aufs Neue ein menschenrechtlich begründeter Ansatz kritischer Flüchtlingshilfe, der sich das Refoulement-Verbot, die Nichtdiskriminierung und die aktive Eingliederung von Flüchtlingen in die Gesellschaft, zum Vorsatz erhob. Allerdings stellten die Unterordnung der Flüchtlingsfragen unter militärische Belange der unmittelbaren Nachkriegszeit und der heraufziehende Kalte Krieg eine prinzipienfeste Unabhängigkeit der internationalen Flüchtlingshilfe in Europa immer wieder in Frage. Ein tiefer Einschnitt erfolgte 1980. Damals initiierte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in der Generalversammlung der Vereinten Nationen unter dem Titel »Internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung von neuen Flüchtlingsströmen« (6) eine Entwicklung, die über viele Umwege zu den geschilderten Praktiken der Schengener Außengrenzen und der flüchtlingspolitisch forcierten neuen europäischen Raumordnung führen sollte. Die Beschränkung der Flüchtlinge auf ihre Herkunftsregionen, die Regionalisierung der Flüchtlingspolitik stand im Zentrum der Vermeidungs- oder Vorbeugungsstrategie. Die Flüchtlingshilfsorganisationen sollten sich von ihrer kritischen Tätigkeit in Westeuropa abwenden - damals begannen die Einschränkungen des Flüchtlingsstatus in Deutschland - und sich den Herkunftsländern der Flüchtlinge zuwenden, um diese dort zu binden. Die Umorientierung, die dann tatsächlich, aber sehr langsam erfolgte, degradierte die unabhängige Flüchtlingshilfe zum »humanitären Arm« politischer und militärischer Interventionen der USA und Westeuropas in anderen Regionen. Damals, in der Anfangsphase dieser Entwicklung, herrschte in der UN-Diskussion zu diesem Thema - im Special Political Committee der Generalversammlung - ein durchaus kritischer Impetus gegenüber den ungerechten Nord-Süd-Beziehungen. Die Flüchtlingsdiskussion firmierte bald unter dem Titel the root cause debate. Aristide R. Zolberg u.a. charakterisierten die Kontroversen folgendermaßen: »Die UN-Diskussion stellte den wesentlich politischen Charakter des Flüchtlingsphänomens heraus. Die Aufnahmeländer tendierten zu einer ðinternalistischenÐ Perspektive, indem sie den Herkunftsländern die Schuld aufluden; diese machten geltend, dass letztlich externe Zwänge verantwortlich sind.« (7) Sichtbare Ergebnisse dieser Debatten waren zwei Sachverständigenberichte 1985 und 1986, die scheinbar folgenlos blieben. (8) Weniger sichtbar war, dass sich 1985 die Regierungen der reichsten Länder zu einer informellen Struktur außerhalb der Vereinten Nationen zusammenschlossen, um eine Regionalisierung der Flüchtlingspolitik und eine Umorientierung der Flüchtlingshilfswerke in die Wege zu leiten. Es geht dabei um die Intergovernmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia, den IGC (zumeist Informal Consultations genannt) mit Sitz in Genf. Wenn man ihre Veröffentlichungen betrachtet, kommt man nicht umhin, den IGC einen Initiativcharakter bei der Koordinierung der internationalen Flüchtlingsabwehr zuzusprechen. Sie inventarisieren nicht nur die Rückübernahmeverträge und die verschiedenen Praktiken der Behandlung von AsylantragstellerInnen und Illegalisierten, sondern haben sich in den letzten Jahren als Datenverarbeitungszentrale profiliert. Ihr Frühwarnsystem, das die Daten gefasster heimlicher GrenzgängerInnen aus einer Vielzahl von westlichen Staaten monatlich aufarbeitet, wird zur Zeit an die EU-Institution Cirefi (Informations-, Reflexions- und Austauschzentrum für Fragen im Zusammenhang mit dem Überschreiten der Außengrenzen) angeschlossen. (9) Eine vergleichbare Aufgabe für Südost-, Zentral- und Osteuropa hat das 1993 gegründete ICMPD (International Centre for Migration Policy Development) in Wien übernommen. Dieser Think Tank ist überdies die Schnittstelle zwischen Sfor, Kfor, den Regierungen und NGOs in migrationspolitischer Hinsicht. Als Sekretariat der europäischen Ministerkonferenzen, dem so genannten Budapester Prozess, zeichnet es verantwortlich für die grenzpolizeiliche Aufrüstung der Protektorate. (9) Zusammenfassend kann man konstatieren, dass sich die westlichen Regierungen seit Anfang der achtziger Jahre darum bemüht haben, die politische Kontrolle über die menschenrechtlich orientierte Flüchtlingshilfe wie auch allgemein über die NGO-Hilfsorganisationen zu erlangen. Sie erkannten, dass die herkömmlichen einzelstaatlichen Instrumentarien und die UN-Politik nicht ausreichten, um langfristig an dieses Ziel zu kommen. In Europa entstanden zahlreiche Ad-hoc-Komitees der EU und informelle internationale Kontaktrunden, die sich zu schwer zu durchschauenden und parlamentarisch nicht zu kontrollierenden Instanzen der Flüchtlings- und Migrationspolitik entwickelten. Ab Anfang der neunziger Jahre setzte von hier aus die Hysterisierung der Außengrenzenfrage ein, und ab 1997 die Protektoratspolitik mit starken flüchtlings- und kriminalpolitischen Motivstrukturen. Die Flüchtlingspolitik hat sich wie insgesamt das humanitäre Engagement mehr und mehr den Territorialstrategien der großen Mächte angepasst. Sie ist ihr »humanitärer Arm« geworden. Anmerkungen: (1) Die Interviews wurden 1998 von einer zweisprachigen ForscherInnengruppe aus Berlin, der auch der Autor angehörte, durchgeführt. (2) Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat, Frankfurt a.M. 1974 (zuerst New York 1940). (3) »In den vergangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, was als ðneue deutsche VerantwortungÐ im Grunde seit Ende des Kalten Krieges und der staatlichen Einigung Deutschlands abzusehen war, (...) wo Europa sich auch politisch für Europa zuständig fühlt - und die entsprechende Verantwortung übernimmt. Das macht die Bedeutung unseres Engagements auf dem Balkan aus. Und insofern stimme ich Ismail Kadaré auch zu, wenn er von einem ðGründungsaktÐ spricht.« Gerhard Schröder: Regierungserklärung zur Wiedereröffnung des Reichstags. Abgedruckt in: Süddeutsche Zeitung, 20. April 1999. (4) CEPS: Working Document No. 131. (5) Draft elements for an international legal instrument against illegal trafficking and transport of migrants (UN Doc. A/C.254/4/Add1), Wien 19. bis 29. Januar 1999; Draft Protocol against the Smuggling of Migrants by Land, Air and Sea, Supplementing the United Nations Convention against Transnatioanl Organized Crime (UN Doc. A/AC.254/ 4/Add.1/Rev.1), Wien 28. Juni bis 9. Juli 1999. (6) UN Docs. A/35/PV.8, 24. September 1980; A/35/242, 25. September 1980; A/SPC/35/SR.43, 10. Dezember 1980 und A/36/582, 23. Oktober 1981, S. 19-26. Mit der Resolution 39/100/1984 erhielt eine Gruppe von Regierungssachverständigen den Auftrag, Vorschläge zur Umsetzung der Resolution zu entwickeln. (7) Aristide Zolberg, Astri Suhrke, Sergio Aguayo: Escape from Violence: Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World. Oxford, New York 1989, S. 261. (8) International Co-operation to Avert New Flows of Refugees (UN Doc. A/41/324), 13. Mai 1985. Note by the Secretary-General. Report by the UN-Group of Governmental Experts on Internatonal Co-operation to Avert New Flwos of Refugees; und: Refugees: Dynamics of Displacement. A report for the Independent Commission on International Humanitarian Issues. London 1986. (9) EU-Rat Justiz und Inneres: Entschließung über die Einrichtung eines Frühwarnsystems ðIllegale Zuwanderung und SchleuserkriminalitätÐ vom 27./28. Mai 1999, Dok. C/99/168. (10) www.icmpd.org. Der Text ist ein leicht gekürzter Vorabdruck aus dem Buch »Wie wird man fremd« (Unrast-Verlag Münster), herausgegeben von der jour fixe initiative berlin. Das Buch erscheint im April 2000. Weitere Informationen: | helmut dietrich | helmut dietrich: Grenzgänger | [] | Dossier | 13.12.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/50/am-ende-der-alten-welt |
Die Décollage des Kapitalistischen Realismus | Berliner Kunstherbstâ 1998: Berlin Biennale, Kunstmesse Art Forum, "Sensations" im Hamburger Bahnhof und Galerien-Rundgänge. Berlin, die undefinierte Stadt, entwickelte sich nach Mauerfall und im Schatten des Baubooms zur Kunstmetropole. Verliererin des nicht für möglich gehaltenen Aufstiegs der Kunst zum kulturellen Leitmedium: die Off-Kultur. Gewinner: ein neuer Phänotyp des Künstlers, der die sozialen und politischen Folgen der Wiedervereinigung restlos partikularisiert hat. In Berlin-Mitte, dem East Village Europas, haben sich zwischen all den Galerien, Boutiquen und Clubs die bohemistischen Lebensstile überlagert und einen neuen Großstadt-Typen hervorgebracht, den Limer (less income more experience), der minimal verdient und maximal sein Projekt auslebt. Die Zeit der Party-Hänger aus dem Milieu der Spaßguerilla und der Depri-Kreativen aus der Hausbesetzer-Szene ist vorbei. Um die politische Mechanik zu veranschaulichen, die künstlerische Aktivitäten in den sechziger und siebziger Jahre entfalteten und wie sie in den neunziger Jahren in die Berlin-ist-eine-Hauptstadt-Ideologie eingebaut worden sind, hier zwei Beispiele. Burn, ware-house, burn! 1967 lancierte die Kommune 1 ein Flugblatt ("Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?"), das einen Großbrand in einem Brüsseler Kaufhaus mit dem Vietnam-Krieg und der Situation in Berlin verband: "Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam zu beteiligen: Sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi." Das Flugblatt fordert indirekt zur Brandstiftung auf ("In der Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Bilka oder Neckermann diskret eine Zigarette in der Umkleidekabine anzünden") und endet mit dem Aufruf: "burn, ware-house, burn!" Für dieses Flugblatt werden Rainer Langhans und Fritz Teufel vor Gericht gestellt. Der Staatsanwalt beantragt zwölf Monate Haft. Statt sich aber zu rechtfertigen oder zu verteidigen, nehmen die Angeklagten die Verhandlung als surrealistisches Theaterstück und agieren bei der Befragung entsprechend. Richter: "Was sind die Ziele der Kommune? Ich möchte wissen, wie es bei Ihnen aussieht." - Teufel: "Besuchen Sie uns doch mal. So ist es schwer zu erklären." Usw. Zum Schluß der Verhandlung sollen die Angeklagten psychiatrisch untersucht werden, wogegen Verteidiger Horst Mahler protestiert. Unterdessen stellt sein Assistent einen großen schwarzen Koffer auf den Verteidigertisch. Richter: "Wem gehört der Koffer?" - Mahler: "Meiner." - Richter: "Was ist da drin, in dem Koffer, meine ich?" - Mahler: "Keine Bomben." - Richter: "Was dann?" - Mahler: "Surrealistische Literatur." Unter allgemeinem Gelächter und Beifall läßt der Richter den Saal räumen. Langhans und Teufel werden freigesprochen. Remake des Situationismus: Spaßguerilla Den ästhetischen Hintergrund dieser Gegen-Inszenierung im Gerichtssaal bildet nicht die Vorstellung vom Leben als Kunstwerk, wie sie die historischen Avantgarden prägten, sondern in Anlehnung an die Situationisten die Als-ob-Mechanik der Verfremdung von Situationen. Langhans und Teufel drehen die Rollen nicht einfach um, sie agieren so, als ob sie auch Richter wären. Sie halten sich streng an ein Diskussionsmuster von gleich zu gleich, was ihre vorgeschriebene Rolle als Angeklagte in Schieflage bringt. Als Folge büßt der Richter an Autorität ein, die gesamte Situation erscheint absurd und lächerlich. Gemessen allerdings am ästhetischen Rigorismus der Situationisten, ist die Spaßguerilla ein flaches Remake. "Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß", so beginnt der "Rapport über die Konstruktion von Situationen" von Guy Debord (1957). Vor die Wahl zwischen den Existenz-Verfälschungen des Kapitalismus und den kleinbürgerlichen Lebensformen des Stalinismus gestellt, schlagen die Situationisten einen dritten Weg vor, den "unitären Urbanismus", ein theoretisches Konzept zur Herstellung eines neuen, dynamischen Lebensmilieus. In insgesamt zwölf Ausgaben ihrer Zeitschrift Situationistische Internationale (S.I.) analysieren sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, kritisieren den Okkultismus der Surrealisten und begrüßen den wilden Generalstreik vom Mai '68 in Frankreich. Die praxisnah und erstaunlich klar formulierten Ideen der Situationisten haben zwar die "künstlerischen" Aktivitäten der deutschen Linken in den siebziger Jahren beeinflußt (Spaßguerilla), aber nicht zu einer grundlegenden ästhetischen Neuorientierung beitragen können, weder auf dem Höhepunkt der Hausbesetzerbewegung noch nach dem Burnout des Staatssozialismus. Ein Grund für die schwache Rezeption liegt im starren Gruppenkodex der Situationisten selbst begründet. Die Situationistische Internationale verzeichnete 70 Mitglieder, 45 Ausschlüsse (u.a. Armando, Dieter Kunzelmann und Hans Platschek), 19 Austritte (u.a. Asger Jorn) und zwei Abspaltungen. Die persönlichen Zwistigkeiten blockierten die angestrebte Agitation der Öffentlichkeit. Die in der Praxis kaum erprobten Ideen der Situationisten unterscheiden sich vom verkürzenden Konzept der "Gegenöffentlichkeit" aus den siebziger Jahren (ein von Oskar Negt und Alexander Kluge entwickeltes Modell linker Medienpraxis, das sich ausschließlich auf die alten Medien der One-to-Many-Kommunikation bezieht und das Anfang der Neunziger durch die kunstaktivistische Fraktion ein Revival erlebte), eher beflügelten sie die Spaßguerilla und deren Methode der "Entfremdung von Situationen" Anfang der achtziger Jahre. Eigentlich ein produktives Mißverständnis, denn die Situationisten hatten ein weitreichendes, in drei Phasen gegliedertes Auflösungsverfahren der herkömmlichen Kulturformen entwickelt, um die "revolutionäre Liquidierung des Kapitalismus" voranzutreiben. Marx-Brothers Karl und Erich Zweites Beispiel. Als Joseph Beuys 1982 die Ausstellung "Beuys, Rauschenberg, Twombly, Warhol" mit Werken aus der Sammlung des Berliner Bauunternehmers und Rehakliniken-Betreibers Erich Marx in der Berliner Nationalgalerie eröffnete, tobte in Berlins Stadtteilen Kreuzberg und Schöneberg der Hausbesetzerkampf. Es herrschte akuter Wohnungsmangel, da die Immobilienspekulanten die Häuser lieber leer und herunterkommen ließen, als sie auf Dauer zu vermieten, zumal die Mieten gesetzlich niedrig gehalten wurden. Diese Mietpreisbindung war soziales Regulativ und politisches Instrument zugleich; das insulare Berlin sollte für Zuzügler attraktiv gehalten werden. Eine Sanierung mit staatlichen Zuschüssen brachte den Spekulanten bei Weiterverkauf instandgesetzter Häuser höhere Gewinne ein. Wohnungssuchende besetzten kurzerhand leerstehende Häuser, setzten sie instand und verhandelten mit den Eigentümern um Verträge. Die sogenannte Berliner Linie, von der regierenden SPD getragen, bevorzugte zunächst die Besetzer; aber nach und nach setzten die Eigentümer ihre Interessen durch und die Häuser wurden polizeilich zwangsgeräumt. Die Marx-Brothers Karl und Erich standen sich also unversöhnlich gegenüber. Wo aber war der Platz des Künstlers, auf seiten der Kommunarden oder des Kapitals? Indem Beuys einerseits die Hauspatenschaft des besetzten Hauses Bülowstraße 52 übernahm und sich sogar mit den Besetzern der zum Marx-Besitz gehörenden sogenannten Villa Schilla solidarisierte, andererseits aber am Abend desselben Tages auf der Vernissage die Huldigungen seines Sammlers vor geladenem Publikum entgegennahm, vollbrachte er eine diplomatische Meisterleistung. Equilibristen unter sich. Der Freundeskreis der Nationalgalerie, eine vielgliedrige machtpolitische Verflechtung von Personen, Parteien und Ämtern, und Beuys, der für die Grünen kandidierte, für eine dezentrale Politikauffassung und eine soziale Kunstauffassung geworben hatte, zusammen tafelnd. Die Grünen hatten wohl recht, als sie trotz seines im Fernsehen vorgetragenen Pop-Songs ("Lieber Sonne statt Reagan") darauf verzichteten, Beuys auf die Kandidatenliste für den Bundestag zu setzen. Nachzutragen bleibt auch, daß die Hausbesetzer der Bülowstraße 52 die Beuyssche Solidarisierungsgeste, die darin bestand, eine von Beuys signierte Plakette am Haus anzubringen und es somit unter seinen Schutz zu stellen, zurückwiesen. Sammler Erich Marx bekam 1996 mit dem Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart Berlin - ein Mausoleum auf Staatskosten (Baukosten 100 Millionen Mark). Zu seinen Spitzenwerken zählen Beuys, Warhol, Rauschenberg, Kiefer, Twombly und Baselitz. Ex-Finanzsenator Elmar Pieroth gestattete Marx die Vorauszahlung der Erbschaftssteuer in Form von Kunstwerken. Das Environment "Unschlitt" von Beuys wurde auf sieben Millionen Mark Nominalwert festgesetzt und gehört jetzt dem Land Berlin. Bis dahin war es im Museum Abteiberg Mönchengladbach, wohin Marx die Arbeit zeitweilig verliehen hatte, mit nur 3,5 Millionen Mark versichert. Die Differenz ist der Mehrwert des Berliner Baubooms. Hausbesitzer locken Hausbesetzer nach Mitte Nur zehn Jahre später in Berlin-Mitte schien die Situation ideal für eine Revitalisierung zumindest der Ost-Hausbesetzerszene; im Westen hatte es sich die erste Hausbesetzer-Generation in ihren senatsgeförderten Schöner-Wohnen-Etagen gemütlich gemacht. Während sich Ende der achtziger Jahre in West-Berlin Stagnation und Langeweile ausbreiteten (die Produzentengalerien "Moritzplatz", "1/61" und "Büro Berlin" hatten ihr Pulver verschossen, Martin Kippenberger sein Erbe im SO 36 durchgebracht), war im Osten ein Neuanfang möglich. Wendejahr 1989: im Westen eine subventionierte Off-Kultur, im Osten eine von der Stasi kontrollierte Dissidenten-Gemeinde. Dann fiel die Mauer, und nichts war mehr so wie zuvor. Ob den Mauerspechten wohl bewußt war, daß sie mit jedem Stein auch ihre Identität knackten? Wer zu spät auf den Zug der Zeit aufsprang, den bestrafte das Arbeitsamt. Ein vager Hinweis auf IM-Tätigkeit genügte, um aus dem Staatsdienst entlassen zu werden. Die Ostler fühlten sich über den Runden Tisch gezogen, während die Westler deren Anspruchdenken kritisierten. Die Wiedervereinigung ging für beide Seiten mit hohen Verlusten einher: Die Westler verloren nach der Währungsunion ihre Kaufkraft und ihre Geduld, und die Ostler ihre Arbeitsplätze, ihre Denkmäler und ihr Selbstbewußtsein. Weil Verluste nach wie vor vergesellschaftet und Gewinne privatisiert werden, gab es auch Gewinner: die Künstler. Während die Mainzer Straße geräumt wurde, durften die Künstler ihre besetzten Häuser behalten und sogar für Ausstellungen oder Parties nutzen. Mit Mietpreisen von ca. acht Mark pro Quadratmeter von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte angelockt, ließ sich eine ganze Szene nieder. Berlin-Mitte war undefiniert und für soziale und künstlerische Experimente bereit. Weil Spekulanten zu dieser Zeit massenhaft Rückübereignungsansprüche aufkauften, benötigten sie für einen profitablen Weiterverkauf eine kulturelle Kulisse. Künstler gründeten Galerien und Clubs, organisierten Partys und pflegten den Lebensstil des Bohemiens. Die Generationen tauschten sich aus, die Szenen mischten sich. In der Gentrifizierung der Spandauer Vorstadt zwischen Rosenthaler-, Oranienburger und Auguststraße liegt die Erfolgsstory eines Konzerns wie "Kunst-Werke" begründet. Auch wenn mechanisch bei Langhans / Teufel und doppelbödig bei Beuys - das ästhetische Konzept vieler Vorwende-Künstler, ob sie nun aus dem Bezugsfeld des Sozialen oder des Kunstmarktes kommen, war zumindest politisch imprägniert. Nun, nach der kurzen Blüte einer "repolitisierten Kunstpraxis" - die US-amerikanische Issues in die hiesige Diskussion einbrachte, die Mehrheit der "traditionellen" Künstler zwar nicht agitieren konnte, aber stilbildend wurde ("Zettelästhetik") und mittlerweile in der Marginalität des Kunstmarktes operiert -, haben wir es mit einem neuen Phänotypen zu tun, der den sozialen Lebensstil gegen das zum ästhetischen Ornament degenerierte Politische eingetauscht hat. Dabei hatten die neunziger Jahre so hoffnungsvoll angefangen - mit Re-Politisierung, Zusammenschlüssen zu Künstlerkollektiven und selbstverwalteten Netzwerken. Kunstbetrieb und Ausstellungswesen wurden in einer Fülle von Projekten, in Symposien und Vortragsreihen durchreflektiert. Die von der Postmoderne elektrisierte Junggeneration schien einen wilden, die Institutionen nachhaltig verunsichernden Interdisziplinarismus hervorgebracht zu haben. Doch jede importierte Revolte - ob Rap, Zapatista oder PC - lenkte nur von den Verhältnissen hierzulande ab. Die Kontrollgesellschaft konnte ihre Dissidenten in die Selbstkontrolle entlassen. Nicht der Stützpfeiler des bürgerlichen Kunstbegriffs - die Autonomie - wurde ins Wanken gebracht, sondern die Körperpolitik nach dem Club-Besuch. Die zeitweilige Besetzung politischer, sozialer, medialer Zonen durch die Bildende Kunst brachte einen neuen Kulturproduzenten hervor, den "Poplinken" - Kunstakademien, Popkongresse und Raves sind seine Clubs Med. Wie mixe ich meine Lebensfragmente zu einem Track? Der Limer der Endneunziger, der sich in der Figur des umherschweifenden Künstlers verdichtet, ist das lebendig gewordene Projektil seines Selbstbildes, ein Begehren in Aussicht stellendes und zugleich Begehren verschlingendes politisches Neutrum. Seine ausgefeilte soziale Kompatibilität manifestiert sich in der Fähigkeit, Widersprüche zu delegieren, statt sie - wie noch in den punkig angehauchten Jugendkulturen der achtziger Jahre - im jeweiligen sozialen Set selbst aufscheinen zu lassen. Das politische Neutrum Künstler hat morgens einen Termin beim Art Consultant, geht mittags jobben, abends ins Atelier und nachts in einen Club. Er kondensiert scheinbar widersprüchliche Beziehungen zwischen Fremd- und Eigeninteressen, zwischen künstlerischer Autonomie und finanzieller Abhängigkeit, lebt so, wie die Lebensumstände es erlauben und bejaht sie dadurch. Die Frage, warum er statt den Widerstand gegen seine Lebensumstände lieber seine Existenz als McJob organisiert, stellt er sich als Exekutor des Avantgarde-Modells, dessen Du-mußt-nur-wie-ein-Künstler-leben-dann-wirst-du-automatisch-ein-Künstler-Maxime ihn motiviert, als Cover-Version: Wie mixe ich meine Lebensfragmente zu einem Track? Die höchst entwickelte soziale Kompatibilität gibt dem Begehren und der Kreativität zwar eine cosy Form, aber keine wirkliche Sprache, die auf die Form einwirkt, sie zur Disposition stellt oder gar sprengt. Die Form ist das politische Neutrum Künstler selbst, das seinen Körper als urban-kulturelles Ornament durch die Szene trägt, eine semiotische Höhle voller Zeichen, die auf Kommunikation warten. Weil das Soziale nicht als Kategorie des Politischen verstanden wird, sondern als deren Auflösung, ist das Politische für den Künstler auch nur ein weiteres Tattoo im Diskursdschungel. Ob das politische Neutrum Künstler, das mittlerweile alle freien Parkplätze insbesondere in Berlin-Mitte besetzt hat, eine Gießform der flexibilisierten Produktivkräfte, ein dereguliertes und zu innerer und nur seinem Selbstbild verpflichteter Globalität konvertiertes Subjekt-Objekt-Wesen ist, mag ein Thema für marxistische Soziologie-Seminare sein, wo alle vom Erkenntnisinteresse abweichenden Lebensformen mit Vorliebe denunziert werden, zum tieferen Verständnis des Phänotypen Künstler taugt die Neoliberalismus-Schablone nicht. Auch die Sache mit der ästhetischen Erfahrung als Ersatz des Politischen hilft nicht weiter, kann doch die Ästhetik nach wie vor ein Ort partikularen Widerstands sein. Seit die Demo von den Grünen zur höchsten Form der Öko-Spießigkeit entwickelt wurde, kann man selbst eine Menschenansammlung im Bus-Wartehäuschen für subversiver halten, zumal, wenn der Bus Verpätung hat. Peircing-Muster als Zeichen des Aufruhrs Ästhetik ist dehnbarer als jeder Gummi-Paragraph. Ihr Appeal ist sprunghaft gestiegen. In Shell-Studien der letzten Jahre geben Schüler mehrheitlich Künstler als Traumberuf an. Künstler ist ein Ideologem geworden, das in jedes Parteiprogramm eingebaut werden kann. Der Künstler ist längst kein Exponent der Kunstszene mehr, er hat seine Exklave verlassen und die Lehrpläne an Schulen und Hochschulen infiltriert, wo Kreativität angeregt, gesellschaftliche Rollenmodelle diskutiert, historisches Wissen weitergegeben und schließlich Fragen der Selbstorganisation im Hinblick auf das spätere Berufsleben geklärt werden. Weil sich das Verwalten eines Kanons, der die gesellschaftliche Komplexität in einen ästhetischen Leitentwurf zu reduzieren vorgibt, als Imagination herausgestellt hat, wohingegen die Realität des Lebens und Arbeitens als Künstler von politischen Faktoren, nämlich von gesellschaftlich in Aussicht gestellter Selbstverwirklichung und einem zugleich ökonomisch eingeschränktem Freiheitsbegriff, bestimmt wird, deshalb übt die Figur des Künstlers - die zwar ein Leben in Widersprüchen, aber dafür in vollen Zügen verspricht -, eine so hohe Anziehungskraft aus. Da hilt auch nichts, daß die Situationisten gegen den "originellen Lebensstil", der aus diesem Antagonismus hervorgeht, polemisiert haben: "Armutskult und Bohème. Die Bohème, die schon lange keine originelle Lösung mehr ist, wird nur nach einem völligen und unabänderlichen Bruch mit dem Universitätsmilieu gelebt." ("Über das Elend im Studentenmilieu", 1967) Diese im Vorfeld des Pariser Mai-Aufstands formulierte Zustandsbeschreibung ruft in der heutigen Jugendkultur Achselzucken hervor. Daß in Ermangelung gesellschaftlicher Perspektiven sowohl die realen Konflikte als auch die ästhetischen Kriterienkataloge verschwimmen, who cares? Der Künstler ist der Vorbote der in Tribes zersplitterten Öffentlichkeit, der kreativste Agent eines neuen Partikularismus, der die Revolte in die Subjekte hineinleitet und auf deren Körpern Peircing-Muster als Zeichen des Aufruhrs hinterläßt. Der Widerspruch des politischen Neutrums Künstler ist ein doppelter. Es lebt die gesellschaftlich in Aussicht gestellte Selbstverwirklichung aus, obwohl es weiß, daß die reale Welt mit ihren realen Konflikten eine daraus resultierende Imagination ist. Die perfekte ästhetische Selbstkontrolle. Der Künstler ist ein Zombie der Kulturindustrie, würde Marcuse sagen, welche die Ideale der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - zu seelischen Qualitäten pervertiert hat. Aber auch das hilft nicht weiter. Der Künstler wendet sich von der Theorie ab, er liest lieber Design-Magazine. Der Künstler hat einen Bruder, den Studenten Der Künstler hat einen Bruder, den Studenten, der 30 Jahre nach der Apo den Bildungsnotstand in den Mittelpunkt seiner Proteste stellt. Sein Protest ist die Imagination einer Revolte, deren Gegenstand - "die Bildungskrise" - genau seinen Phänotypen hervorgebracht hat. Ein eklatantes Beispiel dieser neuen Protestform zeigte sich auf dem Höhepunkt der "Let's putz"-Kampagne in Stuttgart. In der von Graffitis und Obdachlosen gesäuberten Innenstadt wirkten die Abiturienten-Demos für bessere Mathe-Zensuren wie eine freiwillige Putzkolonne, die auch noch von der Polizei exkortiert wurde. "Wir fordern Notendurchschnitt 1,5! Jetzt!", "Mathe - nein danke!" und "Treten Sie bitte zurück, Herr Kultusminister!" - so lauteten die Parolen. Die Lichterkette war von der Polizei vorab konfisziert worden. Die Unzufriedenheit unter den Studierenden ist derart stark angewachsen, daß sie z.B. in Berlin geschlossen in die FDP eintreten wollen. Die Wut über die eingespielte und Widersprüche versöhnende Mechanik eines Lehrbetriebs, der soziale Aspekte und politische Fragen nicht mehr erfaßt und statt dessen Snowboarder-Seminare anbietet, drängt zur Tat. So wurde die Snowboarder-Bewegung entpolitisiert, durch Streichung von Doktorandenstellen. Und wie immer, wenn es um die symbolische Tat geht, übernehmen Kunststudierende die Vorreiterrolle. Sie verweigern alles, was vereinnahmt werden könnte, sogar Soli-Adressen. Denn Universitäten sind kein Orte gesellschaftlicher Totalität mehr, sie sind Orte der Freizeitgestaltung geworden, wo die spätere McJob-Existenz schon mal eingeübt wird. Daß insbesondere die ästhetische Produktion dann eine gesellschaftliche Situation sein und somit die symbolische Ebene verlassen kann, wenn die künstlerische / theoretische / politische Auseinandersetzung mit der Realität des Lebens und Arbeitens des Studenten verknüpft ist, diese Erkenntnis ist bestenfalls in der Organisationsform des Begehrens als Erinnerung eingekapselt, die vielleicht irgendwann wieder aktiviert werden kann. Der "Akt der simultanen Zerlegung" Das vielleicht folgenschwerste Grundmuster des politischen Neutrums Künstler lieferte der Poststrukturalismus, insbesondere Roland Barthes. "Die Sprache ist das Depot der Lautbilder und die Schrift die greifbare Form dieser Bilder", hatte Ferdinand de Saussure, der Begründer der neueren Sprachwissenschaft, 1907 gesagt. Saussure, der die Prager Schule um Roman Jakobson und die französischen Poststrukturalisten inspirierte, unterscheidet zwischen der Ausdrucksebene des Sprachzeichens, dem Signifikanten, und der von ihr assoziierten Inhaltsebene des Sprachzeichens, dem Signifikat. "Bedeutung" entsteht in einer für die betreffende Sprachgemeinschaft repräsentativen Weise. Für diese Operation führt Saussure einen aus der Ökonomie entlehnten Begriff ein, den "Wert". Der Wert spricht das Austauschverfahren der Zeichen untereinander an, ihre Gleichgewichtung im System, aber nicht ihren inhaltlichen Stellenwert. So wird es möglich, Phänome losgelöst von ihren ideologischen Überfrachtungen, eben struktural zu beschreiben. In "Elemente der Semiologie" verfeinert Roland Barthes diesen Ansatz dahingehend, "daß die Bedeutung mit der Substanz des Inhalts und der Wert mit dessen Form verwandt ist". Während der Wert jene für die Bildung von Bedeutung unentbehrliche Disposition der Sprachzeichen zur Linearität und zur formalen Gleichgewichtung im System meint, ist die Bedeutung der Sprachzeichen demgegenüber ein "Akt der simultanen Zerlegung", und zwar mittels Selektion und Kombination. Der "Akt der simultanen Zerlegung" begründet strenggenommen den sprachlichen Strukturzusammenhang jeder poetischen Technik, und er läßt sich auf andere Felder übertragen, die - einmal semiotisch abgesteckt - als neues Untersuchungsgebiet, das der Kulturanthropologie, erscheinen. So wird es möglich, "Substanzen" in andere "Formen", auch ihnen widersprechenden, zu bringen. Dadurch verschieben sich auch "Bedeutung" und "Wert" der nun zu Artefakten mutierten sozialen und politischen Phänome, die ursprünglich in klarer Hierarchie standen. Roman Jakobson spricht davon, daß z.B. das Brüllen eines Löwen von dessen mächtiger Präsenz zeuge, und Barthes bezeichnet den Citro'n DS als die neuzeitliche Kathedrale. Diese kulturanthopologischen Operationen laufen darauf hinaus, daß die Imagination eines Löwen letztlich der Löwe selbst ist. Bezogen auf den Künstler, der seine Revolte in einer "Form" zum Ausdruck bringt, der ästhetischen, die der ursprünglichen "Substanz" nicht adäquat ist, ergeben sich eine Fülle von Rekombinationsmöglichkeiten, sowohl seine Produktions- als auch seine Lebensformen betreffend. Das Politische ist eine weitere "Substanz" im ästhetischen Formenkanon, ein bedeutungsvolles Ornament ohne Rückbezug auf den ursprünglichen Kontext. Décollage des Kapitalistischen Realismus Die Rekombination sozialer und politischer Rahmenbedingungen - Wiedervereinigung, Bauboom, ökonomisches Versprechen der Hauptstadt - hat eine dem bohemistischen Künstlerbild entlehnte Lebensform hervorgebracht, die eben diese Rahmenbedingungen künstlerisch substantiiert. Das Alltagsleben des Künstlers ist zum Inbegriff der Generation Berlin geworden: jung, erfolgreich und spaßorientiert. Davon profitieren insbesondere die Investoren, die, um ihre Milliardengräber loszuwerden (nach Schätzung des empirica-Instituts stehen in Berlin derzeit 1,5 Millionen Quadratmeter Büroflächen leer), die bis Ende 1996 steuerlich abgeschrieben werden konnten, verstärkt Kunst fördern und also die Lebensform Künstler mitfinanzieren. Im Frühjahr 1995 eröffneten gleich zwei Häuser mit einem Kunst / Büro-Mischnutzungskonzept, das Haus Pietzsch Unter den Linden und ein 80 Millionen teures Sanierungskomplex der Gruppe Gädeke & Landsberg im ehemaligen Heeresproviantamt in Potsdam. Mit dem Haus Pietzsch errichtete Architekt Jürgen Sawade ein 50 Millionen teures Büro- und Geschäftshaus inklusive Privatmuseum. Das erste Neubauvorhaben in Mitte machte Schlagzeilen, weil hier das Bundesverfassungsgericht erstmals der Investition Vorrang vor Restitutionsansprüchen eingeräumt hatte. Kunst spielte bei dieser Entscheidung - wie auch beim Zuschlag der Sophien/Gips-Höfe durch die Treuhand an die Sammler Hoffmann -, eine wichtige Rolle, wurde sie doch von den Investoren als Stadtentwicklungsfaktor in die Verhandlungen eingebracht. Der Fall der Mauer im November 1989, als West-Abiturienten nach Mitte strömten und dort Galerien und Clubs gründeten, bedeutete das Ende der Off-Kultur in dem bis dahin geltenden Sinne, daß man seine kulturellen Aktivitäten, seien sie noch so dilettantisch, als oppositionelle politische Akte verstand. Tatsächlich war zumindest die West-Berliner Kultur bereits in den achtziger Jahren mit Senatssubventionen zur entmilitarisierten Zone der Hochkultur befriedet worden. Doch der Künstler in Berlin-Mitte gab selbst diesen Minimalkonsens auf. Seine Orientierung gilt weder der Kunst, noch der Politik, sie ist ausgerichtet auf eine Décollage des Kapitalistischen Realismus, der ihn nach seinem Ebenbild geformt hat: wettbewerbsfähig und risikoreich, selbstverliebt und publikumsorientiert zugleich. Der Künstler ist der fleischgewordene Kriterienkatalog öffentlicher Bauaufträge. Anfang der Neunziger hatte es der Künstler noch schwer, denn spätestens mit dem Untergang des Sowjetimperiums schwand das Vertrauen in den Kunstmarkt. Die Mafia fand im Osten profitablere Geldwaschanlagen, wie der 1992 gestorbene Kunstkritiker Wolfgang Max Faust behauptete. Allerdings strich ihm der Verlagsjustitiar die Anschuldigungen gegen Museen, auch Berliner, aus dem Buchmanuskript "Dies alles gibt es also. Kunst, Alltag, Aids" wieder heraus. Um den Preisverfall Ende der achtziger Jahren aufzuhalten, wurden auf Auktionen manche Bilder von den Anbietern selbst zurückgekauft. Die Sammler investierten in alte Kunst und in Kunsthandwerk. Doch mittlerweile sind Linien- und Auguststraße zu Boulevards der Besserverdienenden aufgestiegen, wenn auch in imaginierter Form, denn die Ausstellungsräume werden auf niedrigem ökonomischem Niveau betrieben, was wiederum die Lebensdauer erhöht. Galerien, Feinkostgeschäfte, Cafés und Boutiquen schlucken die Touristenmassen. In den topsanierten Appartments und Fabriketagen lebt jetzt die dynamische Handy-Generation das Abziehbild des Künstlers, während die übriggebliebenen Fahnenträger der Off-Kultur entweder nach Prenzlauer Berg verdrängt wurden oder im Tacheles seit Jahren überwintern dürfen, und das auch nur, weil dem Investor die Kohle ausgegangen ist. Die Off-Kultur, von der Entwicklung überrollt und dem Subventionsdenken verhaftet, ist im alten Sinne verschwunden. Sie reißt sich mittlerweile um öffentliche Bauaufträge, doch ihre Form ist falsch substantiiert und deshalb nicht mehr kompatibel. | marius babias | marius babias: Das Off im On | [] | Dossier | 06.01.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/01/die-decollage-des-kapitalistischen-realismus |
Ever Given | Eine rosa FFP2-Maske. | [] | https://jungle.world//tags/ever-given |
||||
Markus Bickel | Der große Zeitungsmacher Klaus Behnken dachte Form und Inhalt radikal zu Ende – kompromisslos in der Sache, unnachgiebig gegen sich und andere. Die Staatspräsidentenwahl im Libanon ist zum 14. Mal verschoben worden. Das scheint aber nur wenige zu stören. von markus bickel, beirut Trotz des Drucks Frankreichs und der USA ist der neunte Versuch gescheitert, einen neuen libanesischen Präsidenten zu wählen. von markus bickel, beirut Seit diesem Frühjahr wird im libanesischen Bekaa-Tal wieder Hanf angebaut. In den vergangenen Wochen wurde die erste Großernte eingefahren. Begünstigt wird das Comeback von Cannabis durch die anhaltende politische und wirtschaftliche Krise sowie durch die angespannte Sicherheitslage im Land. von markus bickel Die Präsidentschaftswahl im Libanon musste verschoben werden. Die antisyrische Regierungsmehrheit und die prosyrische Opposition stehen sich unversöhnlich gegenüber. von markus bickel, beirut Acht Jahre nach dem Kosovo-Krieg hat sich die antideutsche Linke vom Antimilitarismus jener Tage verabschiedet. Selbst Auslandseinsätze deutscher Truppen sind für sie nicht mehr tabu. von markus bickel Die Entscheidung des Uno-Sicherheitsrats, ein internationales Tribunal zur Aufklärung einer Serie politischer Attentate einzurichten, könnte die Krise im Libanon noch verschärfen. von markus bickel, beirut Der militärische Amoklauf der islamistischen Fatah al-Islam stärkt die Stellung derArmee und schwächt die Palästinenser. Eindrücke aus Tripoli von markus bickel Syrien drängt auf Gespräche mit den USA. Gemeinsame Interessen im Kampf gegen islamistische Terroristen könnten die US-Regierung zu einer Wiederaufnahme der Beziehungen zwingen. von markus bickel, beirut | [] | https://jungle.world//autorin/markus-bickel |
||||
Goldt sei Dank | Max Goldts Texte sind vor allem Stilübungen. Seit über 15 Jahren perfektioniert er nun sein elegantes Plauder-Parlando, das bei aller auch bisweilen ziemlich handgreiflich-burlesker, grotesker Komik nie ganz diesen vornehmen, fast aristokratischen Tonfall verliert. Das liest sich manchmal so, als wolle er die großen Feuilletonisten vom Anfang des 20. Jahrhunderts beerben: Alfred Polgar, Alfred Kerr, Peter Altenburg, Victor Auburtin etc. Auf jeden Fall hat er die goldenen Zeiten des Feuilletons ein bisschen wieder aufleben lassen in den neunziger Jahren. Denn nicht zuletzt nach seinen Bestsellererfolgen mit Büchern wie »Die Radiotrinkerin«, »Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau« und »Die Kugeln in unseren Köpfen«, die vor allem seine Kolumnen aus dem Untergrund-Magazin Ich und mein Staubsauger (1987 ff.) und der Titanic (seit 1989) versammeln, gab es auf einmal wieder Schriftsteller, die sich ohne Scham »Kolumnisten« nannten. Und sogar Verlage, die deren Bücher druckten. Bücher mit mehr oder weniger witzigen Aufsätzen, Essays, Feuilletons, Glossen und sogar Kritiken. Das war eben noch »Kassengift« gewesen – und blieb es oftmals auch, denn kaum einer der Adepten hatte solche Verkaufszahlen vorzuweisen. Immerhin, die offene essayistische Form schien, Goldt sei dank, plötzlich keine mindere Gattung mehr zu sein. Als er anfing zu kolumnieren, gab es da Vorbilder, literarische Ahnherren für ihn, die seine Art zu schreiben beeinflusst haben könnten? »Interviewer sind traditionell ein wenig beleidigt, wenn man ihnen sagt, man habe keine Vorbilder. Erstens finden sie es nicht gut, wenn man ihre Standardfrage so knapp abbügelt (und dadurch auch als Standardfrage entlarvt), zweitens wittern sie dann stets einen autogenen Geniekult und glauben, man wolle sich aus der Kontinuität der Kulturgeschichte ausklinken und eigenmächtig, vielleicht gerade noch von Gott gelenkt, irgendwelchen Pantheons und Walhallas entgegenschreiten. Ich habe keine Vorbilder, war aber stets bereit, mich Einflüssen mit Freude auszuliefern. Es beeinflusst einen doch alles, was man mag, und deswegen sollte man viel kennen lernen, damit man viel mag und sich von vielem bereichern lassen kann. Unter anderem muss man freilich sich selbst und seine eigenen Mittel kennen lernen und in den Griff kriegen, und solche Wege führen durch manches trockene Tal und manche muffige Schlammkuhle. Fragen Sie mich bitte nicht, ob ich gerade durch eine muffige Schlammkuhle oder ein trockenes Tal schreite – das weiß man ja erst hinterher. Ich habe zur Literatur immer ein ganz freundliches Verhältnis gehabt, war aber nie ein enthusiastischer Leser oder Büchernarr. Von den genannten Feuilletonisten habe ich sicher irgendwann mal etwas gelesen, von Kerr in den Achtzigern das Buch ›Yankee‹ – aber mehr, weil es eine chice Art-Deco-Originalausgabe war, und da stand ich damals drauf. Das sind sicher gute Leute, aber dass ich aus dem Lesesessel aufsprang und rief, so etwas will ich eines Tages auch mal machen – so war es nicht. Robert Walser wird manchmal genannt als eines meiner möglichen Vorbilder, aber den habe ich erst begonnen zu lesen, nachdem ich so um 1990 ein paar mal mit ihm verglichen wurde. Vorher kannte ich ihn nicht. Ein wunderbarer Autor, gewiss. Kempowski ist zweifelsohne in mich reingeflossen, aber ein Vorbild? Wenn er das wäre, würde ich mehrbändige Familiensagas schreiben, um Gottes willen, nein. Der Kempowski-Stil ist natürlich fein, sein Gebrauch des Konjunktivs z.B. ist ja sehr speziell. Man kann aber seinen Stil an allen guten Autoren schulen. Eigentlich aber noch besser an schlechten. Indem man sagt: So möchte ich auf keinen Fall schreiben!« Vor langer Zeit hat Goldt Stadtrundfahrten für den Berliner Senat moderiert. Neulich hat ein Literaturwissenschaftler versucht, nicht ganz ernsthaft, die Struktur der Kolumnen auf diese frühe Tätigkeit zurückzuführen – und das gelegentlich sanft Belehrende seiner Ausführungen, auch der gelegentliche Zeigefinger (»Links sehen Sie …«) scheint diese Ähnlichkeit zu bestätigen. Außerdem ist sie viel zu schön, um unwahr zu sein: Die Geburt der Kolumne aus dem Geiste der Stadtrundfahrt? »Das war ein reiner Brotjob. Von 1979 bis 85/86 habe ich es regelmäßig gemacht, während der Saison vielleicht zwanzig Fahrten pro Monat. Dann nur noch sporadisch, an ›Großkampftagen‹, wenn ›Not am Mann‹ war, das letzte Mal 1988. Ich habe diesen Job nicht besonders gern gemacht, aber man konnte sich seine Zeit gut einteilen und es gab 75 Mark für eine Fahrt und 90 Mark für eine fremdsprachliche. Dass dieses langweilige Herumgegurke irgendeinen Einfluss auf die spätere literarische Produktion gehabt haben könnte, kann ich mir nicht mal im Alptraum vorstellen. Wenn überhaupt, habe ich während dieser anstrengenden Fahrten gelernt, mit der Stimme hauszuhalten.« Das wird ihm jetzt zugute kommen bei seinen umfangreichen Lesetourneen, die ihm offensichtlich nicht nur Freude bereiten. Es gibt in fast allen seinen Büchern Invektiven gegen ein verhaltensauffällig werdendes Lesepublikum! Meistens scharf, gelegentlich auch einen moderaten Snobismus nicht gänzlich verschmähend. Macht er die Lesungen eigentlich noch gern? »Ja! Nicht jeden Abend gleich gern, aber im Großen und Ganzen auf jeden Fall. Natürlich betreibe ich die Auftritte in erster Linie, um Geld zu verdienen, aber ein Abend in einem gut klingenden Raum mit einem freundlichen und aufnahmebereiten, durchhaltefähigen, nicht zu aufgekratzten Publikum ist etwas Schönes, und so selten passiert es nicht, dass man einen richtig guten Abend hat, bei dem alles stimmt. Im Übrigen bin ich einfach gern ›on the road‹. Mehr als drei oder vier Wochen en bloque muss ich nicht zu Hause sein. Die Lesungen sind auch von Bedeutung, was die Weiterentwicklung der Texte angeht. Wenn ich einen Text die ersten Male vorlese, ist er im Allgemeinen weit davon entfernt, fertig zu sein. Beim öffentlichen Vortrag, im Zustand durch Adrenalinzufuhr erhöhter Aufmerksamkeit, zeigt sich ohne Schonung, was an einem Text nicht stimmig ist. Von sprachlichen Verbesserungswürdigkeiten mal abgesehen: Stimmig ist er dann, wenn er trotz Polythematik ohne groß konstruierte Überleitungen aufgrund seiner atmosphärischen Dichte und Kontinuität einen ›Fluss‹ hat. Ein perfekt gebautes Ding wie, sagen wir mal ›Waffen für El Salvador‹ (aus ›Der Krapfen auf dem Sims‹) oder ›Es soll keiner dabei sein, den man nicht kennt‹ (aus ›Wenn man einen weißen Anzug anhat‹) richtig gut vorzutragen, stellt auch für mich selber eine ästhetische Befriedigung dar. Es gibt vereinzelt regelrecht elektrisierende Momente. Man muss sich beim öffentlichen Testen von Texten übrigens davor hüten, die Lautstärke der Publikumsreaktion mit einem Qualitätszeugnis zu verwechseln! Ein Text mit vielen wirkungsvollen Pointen ist noch lange nicht automatisch gut. Das Publikum – also zumindest der Teil des Publikums, der mir wichtig ist – kann das ebenfalls unterscheiden. Es kommt oft vor, dass ich nach einer Lesung gerade für Texte gelobt werde, bei denen nicht besonders viel gelacht wurde. Ab und zu gibt es natürlich noch immer Abende, wo die Technik nicht stimmt, wo der Saal blöd ist und das Publikum nervt, Abende, bei denen ich in Folge der ungünstigen Umstände dann auch schlecht bin, mich öfter als akzeptabel verlese z.B., aber das passiert immer seltener. Die Schenkelklopfer habe ich mit ziemlichem Erfolg vergrault. Es wird in Zukunft vermutlich nicht mehr nötig sein, ›Invektiven gegen verhaltensauffälliges Lese-Publikum‹ vom Stapel zu lassen, loszuschlagen, auszusenden oder was immer man mit Invektiven macht. Scharf fand ich meine Invektiven übrigens nie. Gedacht habe ich gelegentlich schon Schärferes.« Goldt ist mittlerweile als Künstler ziemlich vielseitig. Von Anfang an hat er Musik gemacht – am bekanntesten ist wohl seine Kollaboration mit Gerd Pasemann für die Neue-Deutsche-Welle-Band Foyer des Arts –, dann Prosabände veröffentlicht, Hörbücher, immer wieder Fotos, seit ein paar Jahren auch Comics zusammen mit Stephan Katz (Katz + Goldt). Bisweilen behaupten Goldt-Leser der ersten Stunde wehmütig, in den Comics sei er noch ganz der Alte. Und so falsch scheint das nicht zu sein. Hier kann er sich noch freier, ungezwungener bewegen, hier leistet er sich noch Albernheiten, Kalauer, Dummheiten, die er in der Prosa nicht mehr durchgehen ließe. War das vielleicht auch ein Grund, Comics zu machen? Um weiterhin ein Ventil zu haben für diese eher anarchistische Abteilung seiner Kreativität? »Dass so rege unterschieden wird zwischen dem ›frühen Goldt‹‚ und dem ›reifen Goldt‹, ist amüsant und es ehrt mich wohl auch, da es zeigt, dass eine Entwicklung erkannt wird. Diese Entwicklung ist aber ein langer, ruhiger Fluss. Es gab in meinen Texten zu allen Zeiten Spontanes und Durchdachtes, Mildes und Strenges, Stilles und Wildes nebeneinander. Die Comics mache ich vor allem, weil es mir Freude bereitet, mit Stephan Katz zusammenzuarbeiten. Die Schnelligkeit der Produktion gefällt mir auch. An Comics habe ich an sich wenig Interesse, das ist ja heute das kunstgewerblichste Medium überhaupt, ewig diese entfremdeten Typen, die nach einem Nuklearschlag oder was auch immer auf der Suche nach ihrer Identität durch düstere Stadtskelette irren – es scheint ja kaum ein Genre zu geben, in dem Komik so verpönt ist wie im Comic. Neben den Filialen von Ulla Popken* sind Comic-Läden diejenigen, in die ich am seltensten hineingehe. Freilich gibt’s Ausnahmen, Rattelschneck, OL, Fil, Walter Moers und wohl auch Katz und Goldt. Richtig ist, dass das muntere ›Assoziieren von Disparatem‹, was man als so typisches Kennzeichen meiner frühen Texte begreift, zur Zeit besonders in den Comics zum Tragen kommt, die dummerweise von denen, die das Aberwitzige und Spontane in meiner aktuellen Prosa nicht finden zu können glauben, einfach nicht zur Kenntnis genommen werden, weil das ja ihre Theorie stören würde. (Im Übrigen wird ja auch in den Dialogen, von denen ich einige neue sehr schöne im Programm habe, weiterhin geradezu enthemmt assoziiert.) In der frühen Zeit sind ja aus dem gleichen Grunde die vielen melancholischen und lyrisch streng gebauten Stücke von Foyer des Arts einfach ignoriert worden, weil sie dem Klischee des damals angeblich ständig aus mir heraussprudelnden ›alltäglichen Wahnsinns‹ nicht entsprochen hätten. Ich muss aber betonen, dass man sich an der Rezeption seiner Arbeit nicht übermäßig stören sollte. Das wird sich im Laufe der Jahre schon einpendeln. Man ist nicht gut beraten, wenn man seine Kritiker kritisiert. Bald wird dieses kritisiert und bald jenes, und man geht weiter seinen Weg, so gut man eben kann.« Und wo führt dieser Weg hin? In der Kompilation »Die Aschenbecher-Gymnastik« schreibt Goldt, über kurz oder lang sei auch ein Band mit gesammelten Gedichten geplant. Ohnehin ist seine Qualität als Lyriker noch nicht recht gewürdigt worden. »Erntedankfäscht« (mit Gerhard Henschel) etwa ist ja ein ganz wunderbares Buch, nicht zuletzt als Groß-Parodie des Genres: »Zweierlei Strahlen // Strahlend / zeigt dir ein Kind / sein Zeugnis. / Das Kind ist versetzt. / Strahlend / zeigt dir ein Kind / sein Gesundheitszeugnis. Das Kind ist verstrahlt.« Aber auch die Songtexte kommen oft genug ohne musikalische Begleitung aus. Doch, so einen Lyrikband mit Altem und Neuem, den würde man gern lesen. Um die kreative Welt des Max Goldt zu komplettieren, fehlt eigentlich nur noch der Film! Er ist auch keineswegs abgeneigt. »Aber man muss sich dem von unten nähern. Mit Mitteln, die man selber beherrscht. Die heutige Technik bietet dazu immer mehr Möglichkeiten. Mit Katz mache ich übrigens häufig kleine sehr spontane Filme. Irgendwann wird es vielleicht eine DVD geben. Einen richtigen Kinofilm kann ich nicht machen, dazu bin ich zu wenig kompromisswillig, und der ganze Verwaltungs- und Finanzierungskram schreckt mich auch. Ich habe vermutlich auch zu wenig Talent, ein Ensemble zu führen. Ich kann sehr gut mit ein oder zwei Leuten zusammenarbeiten, aber nicht mit fünfzig. Ich bin von Filmproduktionen zigmal aufgefordert worden, an Drehbüchern ›mitzuwirken‹. Worunter wohl zu verstehen ist: schwache Dialoge aufzupolieren. Es lockt mich aber ›nicht wirklich‹, dazu beizutragen, irgendwelche vom ZDF koproduzierten deutschen Spielfilmchen drei Prozent weniger uninteressant zu machen.« Goldt bekennt indessen, dass er sich als Jugendlicher gut hätte vorstellen können, »zum Film zu gehen«. »Aber was mich am meisten gereizt hätte, wäre die Ausstattung gewesen. Noch immer stört mich nicht nur bei deutschen Filmen, die mangelhaft durchdachte Ausstattung/Garderobe noch mehr als die schlechten Dialoge. Und die ›Empfindsamkeit‹ der Schauspieler – die sprechen ja häufig so, als würden sie die standardisierte Schicksalsmusik, die über ihr Sprechen drübergelegt werden wird, beim Drehen mithören. Es gab vor ungefähr zehn Jahren einen Vierteiler im Fernsehen, namens ›Regina auf den Stufen‹, nach einem Roman der abscheulichen Utta Danella, von dem ich mir alle Folgen angesehen habe allein wegen der stimmigen Ausstattung. Sollte ich je etwas mit Film machen, dann etwas selbst Finanziertes, wo es auf Ausstattung nicht so ankommt, mehr auf authentische Frische. Definitiv keinen Kinofilm, eher so eine Art Independent-DVD.« Und wo wir gerade bei den zukünftigen Projekten sind. Gelegentlich hört man es auch munkeln, Goldt schreibe an einem Roman … »Das wüsst ich aber. ›Man‹ munkelt von einem Roman? Wer denn? Gewisse Kreise? ›Roman – muss man doch mal machen‹, von wegen: ›Königsdisziplin, sonst ist man doch kein richtiger Dichter!‹ Wurmt mich nicht. Mir kommt es auf die Dichte und Kraft eines Textes an, nicht auf seine Länge und Genrezugehörigkeit. Im übrigen bin ich der Meinung, dass in Deutschland zu viele Geschichten erzählt werden und zu wenig Stilbewusstsein herrscht. (›Stilbewusstsein‹ jetzt nicht im Sinne von: Herrje, da trinkt einer Weißwein aus einem Rotweinglas. So etwas interessiert mich nicht.)« Vornehmlich um Stilfragen ging es ja auch den Protagonisten der Punk- und NDW-Bewegung, die schon seit einer Weile Wiederauferstehung feiert. Goldt wurde mit Foyer des Arts damals auch der Neuen Deutschen Welle zugeschlagen, vielleicht nicht völlig zu Recht, aber so ganz abwegig erscheint das auch wieder nicht, denn das Angriffsziel war doch in etwa das Gleiche: die aus den Siebzigern übrig gebliebene Friedensbewegungs-Alternativ-Szene und deren gesellschaftskritische Liturgie. Die Szene-Veteranen erinnern sich gerade an diese Zeit als eine Art Aufbruch, als ungeheure Freisetzung von kreativer Energie in kürzester Zeit etc. Goldt erinnert sich »vor allem in die vielen Stunden des Experimentierens vor dem Vier- bis Achtspurgerät mit gelegentlich beglückenden und erstaunlichen Resultaten«. »Es war aber sehr schwierig, etwas zu veröffentlichen, und eigentlich harren diese Dinge noch immer ihrer Entdeckung. Nostalgische Erinnerungen an Foyer des Arts habe ich keine, im Vordergrund standen Geldsorgen, Label-Probleme, Unverständnis und Ablehnung. Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich damals überhaupt irgendwas veröffentlichen konnte. Meine musikalischen Projekte sind immer am Desinteresse der Außenwelt zugrunde gegangen. Es hätte gewiss vieles und sehr Vielseitiges entstehen können, wenn es etwas mehr Unterstützung gegeben hätte. Es gab immer ein gewisses kultisches Geschwärme, aber nichts Brauchbares. Bizarrerweise herrscht heute die Auffassung vor, ich wäre damals erfolgreich gewesen. Das liegt vermutlich daran, dass ›Wissenswertes über Erlangen‹, ein durchaus nicht missratenes, aber unter den meinigen eher unwichtiges Stück, auf tausend NDW-Samplern drauf ist. Als eine Zeit des Aufbruchs oder auch nur eine besondere Zeit habe ich die frühen Achtziger nicht in Erinnerung. Von einigen Ausnahmen abgesehen, Holger Hiller oder den frühen Neubauten etwa, habe ich das, was damals im Punk/NDW-Bereich passierte, als ausgesprochen trivial und eindeutig empfunden.« Seine letzte Platte mit Elektro-Avantgarde-Pop, »Nuuk«, hat er 1998 veröffentlicht. »Die ist mir die liebste von allen. Die einzige Rezension, die diese Platte bekam, war im Wom-Journal. Darin stand, ich und mein Mitmusiker sollten uns doch mal untersuchen lassen.« * Ulla Popken verkauft Mode für Mollige. | Frank Schäfer | Frank Schäfer: | [] | webredaktion | 04.02.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/06/goldt-sei-dank |
AbonnentInnenworld | Warum ich die Jungle World von Beginn an und immer noch abonniert habe. Gegen Identifikation geimpft Was blieb mir anderes übrig? Nach einem Jahr in Berlin hatte ich noch nicht so viele Freunde – und bevor ich gleich drei auf einmal verlieren sollte, entschied ich mich für ein Abonnement der Jungle World. Vielleicht hätten sie ja dennoch Kontakt mit mir gehalten, der Redakteur dieses obskuren linken Blattes, den ich kannte, und die beiden Leser, die man kaum mit diesem profanen Begriff beschreiben kann, da ich weder früher noch später jemals enthusiastischere Leser einer Zeitung getroffen habe. Nett sah es auch aus, dieses Spaltprodukt, das sich der antisemitischen alten Kader auf originelle Art und Weise entledigt hatte. Schade war nur, dass der Oberlehrer, wie ihn nur die deutsche Linke lieben kann, der Redaktion der Jungle World noch angehörte. Dabei war er ja der Hauptgrund gewesen, warum ich die junge Welt nur sporadisch gelesen hatte. Später ist er dann doch gegangen, und seine Pirouetten auf dem politischen Parkett haben manche überrascht, dabei blieb er nur seinem selbstverliebten Oberlehrerdasein treu. Dafür kamen andere seines Kalibers mit anderer Ausrichtung nach – es stand also immer etwas in der Zeitung, worüber man sich aufregen konnte. Wunderbar waren die Ausgaben, in denen sich die Anhänger der Frankfurter mit denen der französischen Schule gefetzt haben, bis beide nicht mehr konnten (was sehr schade war), und man anschließend von »öden Orten« lesen konnte, die einem so manche Bahnfahrt erspart haben. Das Ganze dazu garniert mit ausdrucksstarken Dossiers über den Deutschen Herbst, die das Rauschen aller anderen Zeitungsblätter zum Schweigen brachten. Auch bittere Stunden gab es, in denen die Jungle World mir Trost spendete, als ich mit Entsetzen zusehen musste, wie sie wieder mal Belgrad bombardierten, und alle fanden’s gut – nur Winnetou und die Jungle World hielten zu mir in meinem einsamen Aufschrei inmitten meines grünen Müezels. Danach war sie die Rettung in meiner ländlichen Diaspora. Auch wenn ich von dort aus einen leichten Sittenverfall beobachten musste, etwa eine Themenauswahl, die manchmal vom Ticker inspiriert zu sein schien. Aber wo finde ich sonst ein »Deutsches Haus«, das mir sagt, wo ich zuhause bin, oder ein Dossier, bei dessen Lektüre ich mich zur Erholung über Emily Dickinsons Bindestriche amüsieren darf? Gut, dass nun alles anders wird, denn jetzt wurde ich zehn Jahre gegen Identifikation geimpft. Und was denke ich, als eine mir vollkommen fremde Frau sich mir gegenüber in der bayrischen Oberlandbahn hinsetzt und ein buntes, exotisches Blatt auspackt: Ob ich sie fragen soll, was Markus wohl nächste Woche im Knast mit den Nazis machen wird, oder ob sie zu denen gehört, die die Comics nie lesen? tobias schrag, berlin Warum ich die Jungle World von Beginn an und immer noch abonniert habe. Schnelle Post Am Anfang war der Name: Aus der jungen Welt der einstigen FDJ eine Jungle World hervorgehen zu lassen, hielt ich für eine den neuen deutschen Umständen bestens entsprechende Idee; das Konzept wandte sich auch optisch und inhaltlich an junge Leserschichten, und so schien es mir sinnvoll, eine neue linke Wochenzeitung zu unterstützen. Ich meine, alle am Erhalt der Zeitungsvielfalt interessierten Leser sollten, soweit das nötige Kleingeld vorhanden, die fortwährend notleidende linke Presse unterstützen, unabhängig davon, ob sie nun mit allem inhaltlich konform gehen. Als im Ausland lebende passionierte Zeitungsleserin nehme ich die deutsche Tagespresse nur punktuell zur Kenntnis, und da die wenigen deutschsprachigen linken Wochen- und Monatsblätter hier keinen Vertrieb haben, muss man sie abonnieren, wenn man sie lesen will und sich nicht mit dem Internetverschnitt anfreunden kann. Die Jungle World ist bei der Postzustellung übrigens am schnellsten (die Nummer 24 vom 13. Juni erreichte mich schon tags darauf in Venedig). Ich lese sie nicht immer sofort, weil sich einiges auf meinem Zeitungsstapel anhäuft, aber die tollen Titelseiten laden mich immer zumindest zum Durchblättern ein. Diese Titelblätter halte ich für eine der Stärken des Blattes, sie erinnern mich manchmal in ihrer Qualität an die der italienischen Tageszeitung il manifesto, die berühmt dafür ist und ab und zu Buchausgaben ihrer besten Titelblätter macht. Das könnte die Jungle World auch mal tun: z.B. die 30 besten Titel der letzten 10 Jahre als Sonderdruck für 30 Euro – da käme etwas in die Kasse und es diente auch der Reklame. Ich erfahre nämlich immer wieder, dass das Blatt in Deutschland weitgehend unbekannt ist, sogar bei Berlinern! Ich bin gespannt, ob die angekündigten Veränderungen das Blatt auch in Zukunft weiter lesbar machen. susanna böhme-kuby, venedig | : | [] | webredaktion | 27.06.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/26/abonnentinnenworld |
|
alexander diehl | raucherecke | [] | https://jungle.world//autorin/alexander-diehl |
||||
Haitata | Eine Schneegans, der April war heiß geworden, steht mitten auf der Blissestraße in Wilmersdorf, dem dämmrigen Witwenviertel, das jedoch bunter geworden ist. Der Verkehr rollt kaum zur Mittagszeit, die Sonnenhitze hat sich zu einzigartigen Ferien in der Stadt ausgedehnt.
Eine Pizza-Bude von zwei Libanesen an der Straße ist geöffnet. Es gibt Spinat oder Pilze als Füllung in rundem Blätterteig.
Hinter dem Maschendrahtzaun der evangelischen Gemeinde tobt ein Schäferhund. Er darf nicht hinaus, soll von der Pfarrersfrau, die Hennahaare trägt, auf den Kopf geschlagen werden.
Die Schneegans, den Hals nach oben gereckt, beherrscht, die Flügel ausgebreitet, die Magistrale.
Autos umrunden sie, Lastwagen zögern, hupen, fahren entweder rückwärts, um sich eine andere Straße zu suchen, oder sie schleichen mit Abstand vorbei; die Fahrer nicken aus den Seitenfenstern.
Nach dem Sonntagsgottesdienst hat die Hennapfarrerin ihre Kirche, eine Art Liftstation mit italienischem Turm, einst kühne Moderne der fünfziger Jahre, als Berlin noch voller Ruinen stand, sonntagnachmittags an die Presbyterian Church of Ghana vermietet.
Die deutsche Gemeinde verringert sich, in der es nur noch ein paar Versprengte aus Kroatien, Slowenien, der Herzegowina und Moldawien gibt.
Durch die norddeutschen Ziegelmauern dringen die Lieder der ghanesischen Gemeinde, steps by God, to Jesus, belonging to Mary.
Draußen im Garten, sonntäglich angezogen, spielen farbige Kinder Fußball und Federball. Von irgendwoher haben sie sich Eiswaffeln besorgt, die in der Hitze, wenn sie zu langsam essen, auf ihre Hemden kleckern.
Die Mesmerin, auch eine fatale Person, die wahrscheinlich öfter als die Pfarrerin dem Schäferhund auf den Kopf schlägt, wischt mit ihrer Küchenschürze über die Kleckse und murmelt Verwünschungen.
Der Schäferhund, vielleicht ein Geselle der Kirchensprache, ist nicht mehr zu sehen, hat sich unter einem Stapel von Kleidern verkrochen, die zu verkaufen sind.
Die Schneegans mit ihren ausgebreiteten Flügeln klopft gegen das Portal. Die Tür besteht aus Panzerglas, da aus Hochhäusern in der Nähe einmal eine Krawalltruppe mit Steinen und Brandsätzen sie aufzubrechen versuchte.
Die Gans wird eingelassen, geht, ihre Schwingen an sich ziehend, durch die Reihen, in denen reich bekleidete Frauen sitzen, die, die Arme hoch erhoben, singen. Es rauscht und vervollständigt sich zu einem Orgelwerk von zu viel Stoffen.
Ein junger Priester empfängt die Gans unten vor den Stufen und weist ihr einen Platz vor dem Altar zu.
Er sagt: Wir haben Euch erwartet. Wie viel Liebe und Glück.
Die schnelle, eingreifende Musik beginnt noch einmal. Eine Burkaträgerin trommelt Schritte, die notwendig sind, herbei zum Entzücken, manchmal klappt nur ihr schwarzes Visier hoch.
Plötzlich geht es der Gans schlecht, der Schnabel ist auf die Brust gesunken, auch das Gefieder sieht nicht mehr schneeweiß aus.
Der junge Priester in seiner weißen Soutane eilt zu ihr und hält ihr ein Mikrophon vor den Schnabel, bittet darum, der verwunschene Gast müsse noch etwas sagen.
Das tut er und sagt: Wer nicht schön bleibt, stirbt bald.
Die Gans verendet vor dem Altar, die ghanesische Gemeinde verstummt. Draußen im Garten ist es den Kindern gelungen, ihren Ball weit über die Kreuzung zu kicken.
Solange der Ball auf der Schnellstraße hüpft, halten die Autofahrer noch Ehrerbietung ein. *** Frank Zappa ist wieder da mit seinem Ziegenbärtchen, seinem Schnauzer und seinen langen, wüsten Haaren. Er schaut noch genauso energisch, die Brauen zusammengezogen, geradeaus, als wolle er niemanden verletzen.
Zappa heißt Hacke auf Italienisch. Seine Vorfahren kamen aus Sizilien. Inzwischen gibt es einen Fisch seines Namens, eine Qualle, eine Molluske, die Pachygnatha zappa, eine Spinne, sowie den Asteroiden 3834 Zappafrank.
Er geht durch die U-Bahn und möchte seine Broschüre Pfiff/Whistle verkaufen, in Deutsch und Englisch gedruckt. Er sagt nichts, bleibt nur immer wieder stehen, vor allem bei Frauen und Mädchen, und ruckelt ein wenig hin und her, was genügt, um fast brühwarmen Kontakt aufzunehmen. Die Leute sind entweder fasziniert oder er verschreckt sie bis zur Ergebenheit.
In diesem U-Bahn-Wagen verkauft er zehn Stück seiner Broschüre, Preis ein Euro. Almosen nimmt er ebenso entgegen. Immer wieder bedankt er sich in einem vernuschelten Amerikanisch, das nicht zu verstehen ist, trotzdem, es genügt, dass viele »danke auch«, »freut mich« oder »einen schönen Tach noch« sagen. Was aber ist in der Broschüre zu lesen? Niemand schlägt sie auf.
Er nimmt seine Klampfe, die auf dem Rücken hängt, und spielt leise mit seinen langen, lackierten Fingernägeln, dazu singt er. Es sind zwei Lieder, »Absolutely Free« und »What’s the Ugliest Part of Your Body«, Melodien mit ein paar abgründigen Gurglern darin. Zappa wurde gerühmt, dass er auch Zwölf-Ton-Orchesterwerke entwerfen könne.
Der Waggon schweigt, niemand klatscht, nur ein Hirtenhund gähnt überschwänglich, was Zappa derart ärgert, dass er ihm einen Tritt gibt. Die Besitzerin kann das bellende und keifende Ungeheuer nur mit Mühe an der Leine wieder zu sich ziehen.
Schweigen im Waggon und nächste Station.
Zwei unscheinbare junge Männer kontrollieren, ihre Ausweise zeigend, ob die Fahrgäste Tickets besitzen. Oh wie schön, alle Berliner weisen die richtigen Fahrscheine vor!
Bei Zappa zögern sie. Er hält einen in Plastik eingeschweißten Ausweis als Musician, Commissioner of the United States of America, mit Lichtbild in der Hand.
Verneigung der Kontrolleure, die an der nächsten Station die Tür öffnen und gehen.
Zappa lacht nicht oder grölt, sondern stöhnt, geht in die Knie. Mädchen und Frauen, auch Männer, dazwischen der große weiße Hirtenhund, drängen zu ihm.
Was hat er? Wer ist er? Was können wir tun?
Niemand weiß, was geschehen soll, selbst wenn jemand wüsste, dass es sich um Zappa handelt, der Prostata-Krebs hatte. Alles wurde herausoperiert, der Patient erhielt Bestrahlungen und chemische Infusionen, eine grässliche Tortur, vielleicht hätte ein wenig Heil daraus werden können?
Stattdessen entstand eine Douglas-Höhle, die nur Frauen haben.
In dieser Höhle entwickelte sich Zappa noch einmal, sehr klein, wie vor seiner Geburt, wollte heraus, strampelte, und Zappas erwachsener Bauch wölbte sich, so dass er platzte.
Beide schreien, der große und der Kindskopf- Zappa. Sie wehren sich gegen Schleim und Geschlinge, Blut spritzt, das Publikum in dem Berliner U-Bahn-Wagen weicht zurück.
Was mag das gewesen sein, nachdem beide Zappas, groß und klein, sich gegenseitig aufgefressen haben? Nur noch ein Häufchen Geschlabber bleibt übrig, das der Schweizer Hirtenhund aufschleckt.
Als die Tür sich öffnet, stoßen alle sich gegenseitig hinaus. Von draußen sind verflixte Klänge »Pli selon Pli« von Pierre Boulez zu hören, mit dem Zappa musiziert hatte, aber französisches Essen verabscheute er. *** Aus Häusern, Anstalten und Kurheimen rollen Elektrokarren, in denen Amputierte, Schlaganfälle und völlig Verstümmelte sitzen, die sich mit Antennen und einem Knöpfchenpult, auf dem das schlaffe Händchen ruht, fortbewegen.
Es ist Sonntag im Städtchen, die Straßen sind leer, allein ein paar Türken, die schon in Rente sind, stolzieren umher.
Haitata, finnisch für behindern, sie rollen hinaus zur Umgehungsstraße zwischen Wällen und Efeuzäunen, wo die Truppe hintereinander und nebeneinander einen gehörigen Stocksalat anrichtet. Fünfachsige Trucks hupen unentwegt, Personenautos daneben schlingern beim Bremsen.
Selbst Elstern, immer schlau auf der Suche nach Futter, das sie aus geöffneten Kabrioletts holen würden, flüchten entsetzt, denn die Kärrchen und Wägelchen ziehen unbeirrt dahin, langsam in Formation, wie es der elektrischen Ladung ihrer Batterien entspricht, bis vor einen Hügel, der zu steil ist. Nach einem Schwenk entfernt sich das kleine Heer unbeirrt entlang eines Baggersees und kehrt nach Hause zurück, wo Helfer und Pflegerinnen längst ihre Stiefel angezogen haben.
Es dämmert, die Glocken läuten wie immer abends.
Schande, es gab kein Warpgewitter, in der Zeitung wurde nichts berichtet, der Schwamm der Nachrichten füllte sich nicht, als sei die ganze Landschaft ohne Schnee, sich selbst reinigend, von einem Lotusblatt, das zunächst Mangroven-, dann Sanitätskönnen hatte, gerutscht. *** Im kleinen Back & Snack, das einer Kette angehört, gibt es verschiedene Frauen und Mädchen, die dort Dienst tun.
Diesmal hoffte ich, nachmittags vor der Bude auf einem wackligen Stühlchen einen Espresso trinkend, dass die Erkorene da sei. Und so war es.
Ich hatte eine große, dornige Rose dabei, die ich ihr geben wollte.
Zuvor fragte ich, woher sie komme.
Sie schüttelte den Kopf, und ihre braunen Haare fluteten über ihr braunes, friedliches Gesicht.
Sie habe einen kleinen weichen Akzent, den ich nicht entschlüsseln könne, sagte ich. Odessa? Alle Völker seien dort zusammengekommen, auch ein Strang meiner Verwandten. Sie hießen Babel, waren während der Hungerstürme Mitte des 19. Jahrhunderts ausgewandert. Unter ihnen gebe es einen wichtigen Schriftsteller, der Isaak Babel geheißen habe. Ich hätte nur einen Polizeioffizier namens Daniel Babel kennengelernt, als ich in Nowosibirsk, es war fürchterlich kalt, ausgeglitten und vor seine Polizeilimousine gefallen sei. Oberst war er, nahm mich gleich mit auf die Kommandantur, wo Schnaps getrunken, Orangen gegessen und in einem Gemisch aus Jiddisch, Englisch und Französisch gesprochen wurde. Ein lateinisches Wörterbuch hatte er auch, in dem wir, wenn wir nicht weiterkamen, manchmal nachschauten.
Die Rose, die ich der Verkäuferin noch entgegenhielt, wurde nicht als Gruß angenommen. Zwischen uns stand das gläserne Buffet mit Backwaren.
Sie lächelte flüchtig, während hinter uns ohne Zögern eine Rosenhecke wuchs, die in das Back & Snack eindrang. Wir waren von Dornen, verflochtenen Stängeln und Blüten eingesperrt.
Hinaus aus dem Laden, rief ich, was wir taten.
Hinter ihm jedoch, wo ein kleiner Platz war, hatte sich eine undurchdringliche Efeuhecke errichtet.
Haben Sie Fackeln, einen Bunsenbrenner oder einen Flammenwerfer?
Nichts dergleichen. Die Efeuhecke war besonders bedrohlich. Ihre Blätter sprühten, wenn sie berührt wurden, ätzendes Gift aus.
Was sollten wir tun? Ich wusste es nicht.
Die Begehrte umarmend, fragte ich in ihr Ohr, woher sie sei. Sie war aus Marokko, eine Berberin, vor achtzehn Jahren eingewandert.
Krachend rückten die Hecken näher, so dass wir uns umklammerten. Ihr Schoß und ihre Brüste drückten sich an mich, während ich sie küsste und sie mich ebenfalls. Ihr braunes Haar fiel über mich, ihre weiche Taille entsprach meinem Verlangen.
Ach, wie sanft und lieblich seid Ihr, sagte ich.
Très doux, la calamité, antwortete sie.
In diesem Augenblick öffneten sich die Rosen und der Efeu. Hand in Hand gingen wir hinaus zur nächsten U-Bahn-Station. Sie musste zurück zu ihren Kindern und ihrem Mann.
Am nächsten Nachmittag wollte ich meinen Espresso trinken.
Das ganze Haus war von unten bis oben dicht von Rosen und Efeu bewachsen.
Handwerker waren da, auch die Feuerwehr hatte sich aufgebaut. Es gelang ihnen nicht, Fenster und Türen zu öffnen.
Lassen Sie es doch, wie es ist, wir kommen mit unseren Schlüsseln aus, sagten die Bewohner des Hauses.
Sie bedauerten nur, dass es Back & Snack nicht mehr gab. In ihm hatten Rosen und Efeu eine ganze Gartenschau aus nur zwei Pflanzensorten entstehen lassen. *** Herr Tavernier geht durch den Garten, hat ein schwarzes Strohhütchen auf, nickt den Bäumen zu und hört das Getobe der Finken. Mehrmals zieht er die Taschenuhr heraus, wartet.
Vom Gartentor her springen seine Enkel auf ihn zu, umarmen ihn und sind schon wieder weg, haben vielleicht am Bächlein zu tun. Sie tragen Knickerbocker mit langen Strümpfen, die weißen Hemden zugeknöpft, ihre Scheitel sind tief, die langen Haare englisch geschnitten, sodass sie fast bei jeder Bewegung zur Seite geworfen werden können.
Sohn und Schwiegertochter treffen ein. Die Eisenbahn hatte wie schon oft Verspätung. Sind die Buben vorausgerannt?
Vater und Sohn umarmen sich, die Schwiegertochter mit ihrem Dutt kriegt ebenfalls ein Küsschen. Der Sohn, dicker geworden in seiner Behörde, murrt, klagt, er hätte doch Maler werden sollen wie der Vater, aber er habe Angst davor gehabt.
In einer schmiedeeisernen Laube wird von Celèste, der Haushälterin, kalte Milch mit Erdbeeren serviert. Die langen Löffel darin sind aus Belgien.
Tavernier ist entzückt, sitzt am Kopfende, befiehlt den Enkeln, wenn sie hereinbrausen, dazubleiben, das Mittagessen beginne bald.
Das Mahl, vor allem, wenn es gefilmt worden wäre, sieht sehr hübsch aus.
Die Gespräche sind klagelos, Scherze werden ausgetauscht. Selbst Celèste erhält eine kleine Portion und schüttelt lächelnd den Kopf.
Nachmittags, es ist sehr warm geworden, liegen Sohn und Schwiegertochter im Salon auf der Ottomane. Die Jalousien sind heruntergezogen.
Ein schwarzer Pudel rast herein, hinweg über die beiden Dösenden, wieder hinaus über Bach und Wiesen, vorbei an den Enkeln und, endlich angekommen auf der Brust des Großvaters, der in einem Liegestuhl ruht, das Hütchen heruntergerutscht, schleckt er über dessen Gesicht.
In ihrem Gefährt aus Messing und Kupfer, das Verdeck zurückgeklappt, fährt Tochter Amélie in den Park, Küsschen, Umarmungen in der Küche für Celèste, draußen Kompliment für die Buben, ach, wie hübsch seid ihr geworden, zurück zum Papa, ihn unterhakend sagt sie, jetzt du, gehen wir ins Atelier.
Wo er malt, in einem zweistöckigen Holzgebäude Ende des 19. Jahrhunderts, dort sieht sie seine Bilder an, es sind immer wieder dieselben, eine muselmanische Schärpe im Zwielicht über eine Recamière gelegt. Ach, Papa, genug gesehen.
Sie fahren durch eine Allee, währenddessen Mädchen in Rüschenkleidern auf einer Wiese unter dem Hals eines Esels hin- und herschlüpfen. Amélie hält vor einem Freizeitcafé. Sie setzen sich auf eine Bank, bestellen kalten Holundertee. Paare tanzen unbeholfen, tragen Hüte mit Wild- und Blumenkreationen auf dem Kopf. Papa, sagt Amélie, gib mir die Ehre.
Sie tanzen im Kreis, Vater und Tochter, zwischen den anderen, die angetrunken schwanken, zuletzt tanzen alle durcheinander bei Schalmeien- und Harmonikamusik.
Herr Tavernier sitzt wieder auf der Bank gegenüber seiner Tochter, die ihn unentwegt ansieht, als sei es eine Großaufnahme, ohne Regungen im Gesicht.
Weißt du, sagt Herr Tavernier, ich habe sie mir alle angesehen, Manet und Monet, Seurat und Pissarro, auch Cézanne, ich bin sogar in den Sterbeort van Goghs gereist, um dem großen Maler nahe zu sein, aber Portraitaufgaben erreichten mich, es waren wichtige Leute, wir wurden wohlhabend, deine Mutter war zufrieden, zuletzt bekam ich das Große Ehrenkreuz.
Zu Hause führt Amélie ein anklagendes Telefongespräch, muss sofort nach Paris zurück. Herr Tavernier bedauert es, tätschelt ihre Hand.
Zum Abendessen sitzen alle am Tisch, stolz der Vater, sein mürrischer Sohn und seine unentwegt freundliche Schwiegertochter neben sich, die beiden von Sonne und Spielen durcheinandergebrachten Enkel müssen öfter ermahnt werden. Celèste serviert feierlich und umständlich.
Plötzlich der Aufbruch, es ist fast zu spät geworden. Auf dem kleinen Bahnhof werden ein, zwei Einzelcoupés aufgerissen. Gewölk und Zischen, Rufe und Abschiede, der Zug fährt an.
Herr Tavernier geht ein staubiges Sträßchen entlang, der Sonntag auf dem Lande ist zu Ende. Das alte Eisentor ächzt in den Angeln, Herr Tavernier ruft zum Haus, Celèste solle nicht, wie immer zu früh, die Fensterläden schließen, es sei noch hell. Er wolle in zwei Stunden seinen Kräutertee im Atelier.
Im oberen Stock bleibt er vor der Staffelei stehen, nimmt das Bild ab und stellt es beiseite. Auf den frei gewordenen Platz stellt er einen Rahmen mit leerer Leinwand.
Herr Tavernier geht steif zur Recamière mit der muselmanischen Schärpe, setzt sich, schaut und sinnt. Draußen, vor dem Fenster, lodern senkrecht Farben in der Abendsonne.
Vor der Staffelei, manchmal in die Knie gehend, als hole er aus ihnen Kraft, beginnt er, mit schwarzer Kreide Entwürfe einer ganz anderen Landschaft zu zeichnen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, in Zeiten des Existenzialismus, wird sein Stil kopiert werden. Buffet war sein erster Nachahmer. *** Das Böse ist überall vorhanden, zum Beispiel, wenn die Weizenfelder bis zum Horizont sich bei Wind wie Meereswellen häufen oder die Karosserien der neuen Automobile oder Frauenmodelle eine Ontologie der Schönheit garantieren, die, selbst im nächsten Jahr, sich nur wenig verändert haben wird. Die Weizenfelder aber könnten durch einen Pilzsporn eingestürzt sein, was ganz und gar nicht böse ist, vielmehr Entropie garantiert, sich jedoch durch Keimung erholen wird.
Das Böse hat einen schmalen Mund, eine Hakennase und eine Fülle von Haaren. Es sieht protestantisch aus, küsst Frauen die Hände, musikalisch ist es auch. Es kann schnitzen, Drachen steigen lassen, Bonbons zur Fröhlichkeit der Kinder so lange auswickeln, bis die Bonbons wieder eingewickelt sind.
Das Böse sitzt auch in der stetigen Funktionalität der Verkehrsampeln. Fallen sie aus, gibt es keine Hermeneutik mehr. Die Ampeln müssen repariert werden, entsprechend einer Könnerschaft. Dort mag das Böse gar nicht sein, ähnlich wie in den Höllenfahrt-Gesängen von Dante. Der Dichter hatte sich geirrt, indem er Würdenträger seines Zeitalters ins Fegefeuer schickte. Allerdings, die Geistlichkeit brennt nur und vermag nach lästerlicher Dauer der Pein sich wieder davon zu erholen zur Erringung einer Himmelsfahrt.
Gibt es das Böse im Paradies? Auf jeden Fall, denn ohne seine Anwesenheit wäre das ganze Weltall nicht entstanden. Es ließ zwar zu, dass die heißen Elektronen sich ballten und später Sternennebel sich bildeten, aus denen Planeten entstanden, aber insgesamt blieb es beiseite als Higgs-Boson, das selbst Quanten eine gewisse Masse geben sollte, tat es aber nicht, sondern erzeugte, wie in einem Märchen, eine dunkle Energie, ohne die des Alls Schildkröte gar nicht schwimmen könnte.
Das Böse scheint also der Zweifel zu sein oder die abbrechende Kurbel Gottes?
Immer hat es mit Symbolen spekuliert, um Ungerechtes gerecht werden zu lassen, hinuntergehend in die Tiefenstrukturen von Transformationsregeln, was das Böse langweilt.
Jedoch schätzt es nicht den Krieg, vielmehr den Frieden, sobald eine Wasserflasche zur dunkelgrünen Rotweinflasche wird, Lumpen sich in Kostüme verwandeln, genauso wie ein zerbeultes Motorrad in die schönste Verkehrsmaschine der Welt, eine lindgrüne und teilweise vernickelte 750er Laverda. Es sehnt sich nach dem Schönen, Friedlichen, nach Vollendung gleich dem Zahnkranz eines Dynamos auf den Fahrradreifen oder den genauen Krümmungen der tonnenschweren Magneten im CERN, um einen sonnenheißen Plasmastreifen in der Mitte des Wegs zu halten.
Böse ist das Böse nur bei Wiederholung, inklusive eines aperspektivischen Scheins, der mit einem Machetenschlag unterbrochen werden kann.
Das Böse würfelt fortliebend, damit das Schöne und Funktionale zu einem Ende gerät, als sollte ein Buntes Bentheimer-Schwein, widerstandsfähigste Züchtung aus dem Mittelalter, doch geschlachtet werden. Es sitzt auch im Wetter, beschleunigt oder verlangsamt, für das Böse nur ein Firlefanz, schlürfend am Rand der Tonga-Inseln.
Müde wird es nie, weder in Kirchen noch auf Skipisten. Plötzlich, es ist eine gigantische Primzahl, die niemals ein Ende haben wird, dreht es sich um, weil ihm die Welt nicht mehr gefällt. Eine andere gibt es bisher nicht.
Bloch schrieb, wo Heimat sei, würden wir nie sein, wünschten es aber. Dort wartet schon lang das Böse und reibt sich die Fingerchen. *** Peter Lorre steht, den Mantelkragen hochgeschlagen, auf Geleisen in einer öden Gegend und lässt sich von einem Schnellzug, viel Dampf und Lärm, von hinten überfahren.
Es ist ein Film, gedreht 1950 in Berlin. Lorre, der Schauspieler, führt selbst Regie. Verwicklungen, Rückblenden, Gestapo, ein Kreis, der sich aus dem Dritten Reich absetzen möchte, Lorre, als wissenschaftlicher Tor darin. Erschossene und Erhängte, zuletzt, gottlob, nur noch erzählt.
Lorre, von vorn gezeigt, raucht fortwährend. Die düstere Psychologie des Films wird 1952 mit dem Bambi ausgezeichnet.
Nach einem Wink von Goebbels konnte Lorre, ein Wiener Jude, einst frühzeitig fliehen, emigrierte nach Amerika, versuchte in Hollywood hochzukommen, was dauerte. Dass er in Fritz Langs Film »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« berühmt geworden ist, spielt keine Rolle mehr.
Nun ist er wieder da, doch sein Film »Der Verlorene « wird vom Publikum missachtet. Niemand will ihn sehen.
Lorre stirbt, kaum sechzig Jahre alt, in Hollywood, ausgehöhlt von Alkohol, Nikotin und Drogen.
Hätte er einen Brief von Brecht beherzigt, »Verehrter Herr Kollege, kommen Sie zu uns, in die Trümmerlandschaft, wir brauchen Sie …«, wäre er vielleicht in Brecht-Stücken auf den Brettern des Theaters am Schiffbauerdamm umhergeschlurft, nicht nur zu leise sprechend, auch rauchend.
Doch Fritz Lang, seinem ersten Regisseur, kann er nicht entrinnen. In dessen Multi-Color-Film »Das indische Grabmal« spielt das Froschgesicht mit den hervorquellenden Augen einen Höllenfürsten, in dessen Schlund alle Bösewichter verschwinden.
Und im »Tiger von Eschnapur« tritt nicht der hübsche Paul Hubschmid als Maharadscha auf, sondern Lorre mit Turban, Juwelenhalskette und Geschmeide an den Fingern. Als er von abgefallenen Kolonialtruppen verfolgt wird, reitet er auf einem Elefanten, pfeift seinen Tigern, die, durch Bambus und Baumkronen brechend, die Feinde zerfleischen.
Lorre, eine britische Geliebte im Arm, die beinahe getötet worden wäre, steht im Abendlicht vor seinem indischen Palast, lässt sich von einem Diener aus einer Karaffe ein Gläschen sprudelnden Wassers einschenken, während ihm braune Schminke vom Gesicht rinnt.
Günter Herburger wurde 1932 im Allgäu geboren. Nach einem abgebrochenen Studium in Sanskrit, Philosophie und Theaterwissenschaft begab er sich jahrelang auf Reisen, unter anderem nach Spanien und Frankreich, und kehrte Ende der fünfziger Jahre nach Deutschland zurück. Er schrieb Prosabände, Hörspiele, Filmdrehbücher und Gedichte und wurde für sein Werk unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis und dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. In Berlin unterhielt er Kontakte zur Studentenbewegung, zeitweise war er Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei. Seit den achtziger Jahren ist Herburger passionierter Langstreckenläufer. Am 6. April wurde er 80 Jahre alt. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Günter Herburger: Haitata. kleine wilde Romane. A1-Verlag, München 2012, 112 Seiten, 18,80 Euro. Das Buch ist soeben erschienen. | günter herburger | günter herburger: | [] | Dossier | 12.04.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/15/haitata |
peter dierlich | Gesine Schwan ist beliebt, ihr Bestreben, Bundespräsidentin zu werden, aber nicht. Denn Horst Köhler ist noch beliebter, weil er bereits Bundespräsident ist und deutsche Bundespräsidenten stets das Gute loben und das Schlechte tadeln, ohne jemandem wehzutun. Martin Mosebach wurde im vergangenen Jahr mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet, obwohl er den schlechtesten Roman der Welt geschrieben hat. »Ruppertshain« heißt er, und Peter Dierlich musste ihn lesen. Ein Rückblick auf den Debattenherbst 2007, nebst einem dringenden Aufruf. Von Peter Dierlich Der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Jürgen Rüttgers (CDU), erklärt, wohin die Marktwirtschaft soll und muss: Zurück auf den Pfad der Tugend. von peter dierlich | [] | https://jungle.world//autorin/peter-dierlich |
||||
Sekt statt Cash | Für russische Verhältnisse war die Situation so normal, daß sie niemandem aufgefallen wäre, hätte der Fischhändler in Nischnij Nowgorod nicht einen Kredit bei der Europäischen Bank für Entwicklung und Wiederaufbau (EBEW) beantragt. Als der zuständige Kreditberater der Bank die Bücher des Unternehmers prüfte, stieß er auf ein kleines Wunder an Kreativität: Der Fischhändler muß seinen Fisch in bar bezahlen. Unglücklicherweise ist sein größter Kunde das Gefängnis von Nischnij Nowgorod und wie fast alle öffentlichen Einrichtungen in Rußland ständig knapp bei Kasse. Allerdings gibt es im Gefängnis eine Näherei, die Zeltplanen herstellt, um sie an die Firma Gas, Hersteller der berühmten ehemaligen Staatslimousine Wolga, zu liefern. Diese stellt als Gegenleistung dem Gefängnis ab und an einen ihrer Kleinlaster vor die Tür. Und der geht dann schnurstracks an den Fischhändler, der ihn für Bargeld verkaufen und damit seine Lieferanten bezahlen kann. Derartiger Einfallsreichtum ist bei Geschäftsbeziehungen eher die Regel als die Ausnahme. Denn Bargeld ist äußerst knapp in Rußland und meist nur auf Umwegen zu bekommen. Die Politik der Bank ist daher äußerst pragmatisch. "Wie die Unternehmen an das Geld kommen, um ihre Raten zu bezahlen, ist uns ziemlich egal", sagt Christoph Fraytag, Kreditberater der EBEW, "solange wir feststellen, daß die Geschäfte auf einer festen Basis stehen und das Geld regelmäßig fließt." Das Geschäftsgebaren der EBEW ist dem russischen Staat jedoch ein Dorn im Auge. Denn was nicht in den Büchern steht, kann auch nicht durch eine der zahlreichen Steuern abgeschöpft werden, die den Steuersatz auf bis zu 60 Prozent treiben. Die russische Steuerbehörde schätzt, daß der Staat deshalb lediglich zehn bis 20 Prozent der Steuern eintreibt, die ihm zustehen. Das Anti-Krisenprogramm, das Premierminister Kirijenko vor kurzem unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgestellt hat und von Präsident Jelzin inzwischen in "Stabilisierungsprogramm" umbenannt wurde, sieht daher eine Steuer auf Tauschhandel, sogenannte Barter-Geschäfte, vor. Wie diese Steuer erhoben werden soll, steht allerdings nicht im Programm. Für Julia Shvets, Wirtschaftswissenschaftlerin am Russisch-Europäischen Zentrum für Wirtschaftspolitik, ist der Gesetzesvorschlag lediglich eine Drohung: "Es ist ein Signal an die Unternehmen, daß es der Staat ernst meint mit der Absicht, mehr Steuern einzutreiben, aber solche Absichtserklärungen haben wir schon oft gehört." Das von der Europäischen Kommission in Brüssel bezahlte Forschungsinstitut hat in seinen Untersuchungen zwar festgestellt, daß die staatlichen Stellen durchaus versuchen, das Ausmaß der Barter-Geschäfte zu erfassen, allerdings ohne Konsequenzen daraus zu ziehen. So gibt es seit einiger Zeit eine übergreifende Untersuchungskommission, die im Auftrag der staatlichen Konkursbehörde die 210 größten russischen Steuerschuldner unter die Lupe nimmt. Die Kommission kann Einblick in alle Geschäftsunterlagen der untersuchten Firmen nehmen und so auch feststellen, welcher Anteil des Umsatzes tatsächlich als Barter abgewickelt wurde. Die Anteile, die die Kommission in einem internen Untersuchungsbericht gerade den größten Unternehmen zuschreiben, liegen zum Teil bei mehr als drei Vierteln des jeweiligen Umsatzes: So werden bei Gasprom, der größten Öl- und Gasfirma des Landes, nur zwölf Prozent der verkauften Ressourcen in bar bezahlt - der Rest in Naturalien. Beim Energiemonopolisten Vereinigte Energiesysteme liegt der Anteil bei ebenfalls mageren 13 Prozent; die restlichen Gläubiger werden dafür zum Beispiel durch den Bau eines Verwaltungshochhauses entschädigt, wie kürzlich bei Komienergo in Syktywkar im Norden Rußlands geschehen. Ob dieses Haus auch tatsächlich gebraucht wird, ist dabei zweifelhaft. Insgesamt begleichen 57 Prozent der untersuchten Unternehmen ihren Umsatz nur zu einem Fünftel oder weniger mit Bargeld; nur vier von 210 Firmen erhalten 90 bis 100 Prozent in Cash. Die Motive für diese Art von Geschäften sind vielfältig. Die Kassen öffentlicher Einrichtungen, wie Krankenhäuser oder Schulen, sind leer; ihnen bleibt nichts anderes übrig, als auf bargeldlose Zahlungen auszuweichen - was wie beim Fischhändler aus Nischnij Nowgorod meist in einer Kette von nahezu unüberschaubaren Tauschstationen endet. So ist auch zu erklären, daß die Bergarbeiter, die zum Teil seit acht Monaten keine Gehälter bekommen haben, überhaupt überleben können: Die Lebensmittel, die sie in den Kantinen der Bergwerke erhalten und mit denen sie häufig auch ihre Familien ernähren, kommen von Firmen, die von den Minen mit Kohle versorgt werden. Der Wert der Lebensmittel wird dann mit dem Einkommen der Kumpel verrechnet. Auch bei diesen Großunternehmen muß der Mangel an Bargeld häufig als Begründung für die Barter-Geschäfte herhalten. Doch Wirtschaftsexpertin Shvets hält dieses Argument für vorgeschoben. Die meisten großen Unternehmen hätten genug Bargeld, um ihre Steuern zu bezahlen, wenn sie dazu nur endlich gezwungen würden: "Manchmal sind Firmen wirklich pleite, aber häufig geht es nur darum, Gewinne zu verstecken, Steuern zu hinterziehen, oder marode Firmen, die eigentlich längst hätten Konkurs anmelden müssen, weiterarbeiten zu lassen." Für Shvets eine typische Konsequenz daraus, daß viele ehemalige Staatsbetriebe zwar privatisiert, aber von ihren früheren Managern übernommen und weitergeführt wurden: "Diese Leute sind in einer Planwirtschaft groß geworden, in der die Schattenwirtschaft unabdingbar war, um die Unternehmen am Leben zu erhalten. Viele von ihnen verwenden einfach heute die gleichen Methoden wie damals, um zu verdecken, daß ihre Firmen eigentlich pleite sind und können so auf ihren Posten bleiben." Ein Anliegen, das von den örtlichen Verwaltungen häufig unterstützt wird, weil diese sonst mit noch höheren Arbeitslosenzahlen zu kämpfen hätten. So ist das Bruttosozialprodukt seit Beginn der neunziger Jahre um etwa 40 Prozent gesunken, die Zahl der Arbeitsplätze allerdings "nur" um 25 Prozent. Diese gegenseitige Deckung wird dadurch erleichtert, daß Unternehmen bei regionalen Verwaltungen in der Kreide stehen, während deren Schulen oder Krankenhäuser wiederum Außenstände beim betroffenen Unternehmen haben. Und auch der Untersuchungsbericht der Konkursbehörde zeigt nach Ansicht von Julia Shvets das Problem zwar deutlich auf. Der Bericht entschuldigt aber dieses Vorgehen damit, daß die Verhältnisse ein anderes Wirtschaften im Moment nicht zuließen. Diesen Kreislauf zu durchbrechen und damit auch den Barter-Geschäften den Hahn abzudrehen, ist nun Premierminister Kirijenko angetreten, indem er dem größten russischen Steuerschuldner den Gerichtsvollzieher ins Haus geschickt hat. In einem spektakulären Schritt verpflichtete er Gasprom, das bei der Steuerbehörde mit rund zwölf Milliarden Rubeln - etwa 3,5 Milliarden Mark - in der Kreide steht, alle Steuerschulden in den nächsten Monaten zurückzuzahlen. Doch um auch nur teilweise bezahlen zu können, wird Gasprom den Kreislauf von unbezahlten Rechnungen durchbrechen müssen. Zwar schuldet der Staat dem Unternehmen insgesamt mehr Geld als umgekehrt, aber Kirijenko bleibt nichts anderes übrig, als schnell das Steuereinkommen zu erhöhen. Denn das ist eine der Hauptforderungen des IWF, ohne dessen Kredite der Rubel zur Abwertung verdammt wäre. Und eine Abwertung würde nicht nur die meisten russischen Banken in den finanziellen Abgrund reißen, sondern den Tauschhandel für lange Zeit zementieren. Was allerdings für einige der Betroffenen auch positive Auswirkungen haben könnte. Wie etwa für die städtischen Angestellten in Nischnij Nowgorod. Wirtschaftsberater Fraytag erinnert sich noch gut an die Jahre 1995/96, als die Beamten ihre Gehälter von der örtlichen Sektkellerei in Naturalien bezogen, weil diese ihre Rechnungen bei der Stadt nicht bar bezahlen konnte: "Da bekam das Wort Liquidität auf einmal eine völlig andere Bedeutung." | mathias spielkamp | mathias spielkamp: | [] | webredaktion | 22.07.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/30/sekt-statt-cash |
Angela Merkel | Ein paar aufmunternde Worte vorneweg: Wer Angela Merkels Regierungszeit, also diese 16 bräsigen, bleiernen, nicht enden wollenden Jahre der Verwaltung des Bestehenden überstanden hat, schafft auch | [] | https://jungle.world//tags/angela-merkel |
||||
steffen küssner | Mit Israel solidarisch zu sein bedeutet auch, den Zionismus zu verteidigen. Mit Identifikation hat das nichts zu tun. | [] | https://jungle.world//autorin/steffen-kuessner-0 |
||||
paul bokowski | Die Nacktheit anderer führt zwangsläufig zu eigener Prüderie. Das FKK-Verbot ist richtig. Kurze Geschichten von Paul Bokowski | [] | https://jungle.world//autorin/paul-bokowski-0 |
||||
»Goldhagen und die deutsche Linke« | Im Frühjahr 1996 veröffentlichte in den USA der junge Politologieprofessor Daniel Jonah Goldhagen ein umfangreiches Werk mit dem Titel "Hitler's Willing Executioners". Der Text, eine erweiterte Fassung seiner 1992 beendeten Dissertation, stieß in der US-amerikanischen Öffentlichkeit sofort auf eine große Resonanz. Ab April 1996, lange vor Erscheinen der deutschen Ausgabe, begannen auch die deutschen Medien, allen voran Die Zeit, sich mit Goldhagens Werk zu beschäftigen. Als dann im August 1996 im Siedler-Verlag die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" erschien, wurden davon innerhalb von acht Wochen mehr als 100 000 Exemplare verkauft. Anfang September 1996 kam Goldhagen nach Deutschland, um an einer Reihe von Vortragsveranstaltungen teilzunehmen. Goldhagens Untersuchung belegt umfangreich und detailgenau wie kein Buch zuvor, was in Deutschland bis heute bestritten wird: Die deutschen Täter waren weder emotionslose Befehlsempfänger, noch wurden sie "von oben" oder durch "Gruppendruck" zu ihren Taten gezwungen. Die beliebte Rede vom "typisch deutschen Gehorsam" sei eine Schutzbehauptung. Die Deutschen verfolgten und vernichteten die Juden vielmehr freiwillig und mit einer Eigeninitiative, mit der sogar die nationalsozialistische Führung zunächst nicht gerechnet hatte. Dabei war ein fanatischer, auf Vernichtung zielender Antisemitismus ihr Hauptmotiv. Damit dieser schon im 19. Jahrhundert entstandene "eliminatorische" Antisemitismus zur realen Vernichtung schreiten konnte, bedurfte es, so Goldhagen, der Mitwirkung des Staates und eines charismatischen Führers. Das Zusammentreffen dieser beiden Voraussetzungen des Holocaust war nur in Deutschland gegeben. Wie voraussehbar, stieß Goldhagens Untersuchung bei deutschen Historikern und Publizisten auf massive Abwehr. Von der Behauptung, Goldhagen biete keine Neuigkeiten und seine "knalligen Thesen" zielten nur auf Erfolg am Medienmarkt über den Vorwurf, er bewege sich "hart am Rande einer Kollektivschuldthese", bis hin zu dem Angriff, der Autor sei ein arroganter "antigermanischer" Rassist, der den "mehr oder weniger verstummten Antisemitismus wieder neu beleben könnte", war wirklich alles dabei. Nichts beweist mehr die fortbestehende Identifikation mit diesem Kapitel der "deutschen Vergangenheit" als die Behauptung, Goldhagen habe ein Buch über den "deutschen Nationalcharakter" bzw. über die "deutsche Kollektivschuld" geschrieben. Indem die "deutsche Öffentlichkeit" (deutsche Juden, Afrodeutsche, in Deutschland geborene Kinder türkischer Einwanderer etc. gelten da meistens als nicht zugehörig) eine Untersuchung des Holocaust als Anschlag auf "uns" rezipiert, gibt sie zu erkennen, in welcher Kontinuität sie sich sieht. Das Buch "Goldhagen und die deutsche Linke" zeigt nun, daß es auch auf linker Seite und sogar bei Teilen der Antinationalen diverse Formen der Abwehr gegenüber Goldhagen gibt. Die sorgfältige Durchsicht sämtlicher relevanter linker Zeitschriften ergibt ein erschreckendes Bild: Goldhagen wird dort nicht nur "als Änhänger des Kapitalismus und der bürgerlich-demokratischen Staatsform geoutet, der er erklärtermaßen ist, sondern zugleich als latenter Sexist, antideutscher Rassist und Karrierist..." Die Autorinnen und Autoren setzen sich in diesem Zusammenhang sachlich und nachvollziehbar mit traditionsmarxistischen (Antisemitismus als "Ablenkung sozialer Unzufriedenheit", Postulat von der Unschuld der Mehrheit der Lohnabhängigen, ökonomische Rationalität der Vernichtung), adornitischen (Blindheit und Intentionslosigkeit des totalitären Antisemitismus, der kein spezielles deutsches Phänomen sei) und ableitungstheoretischen (bei Moishe Postone: strukturalistische Ableitung aus der Verdinglichung und Versubjektivierung des gesellschaftlichen Verhältnisses, insbesondere aus der Mystifikation von kommerziellem Profit und Zins) linken Ansätzen auseinander, die sie alle als - wenn auch in unterschiedlichem Maß - unzureichend qualifizieren. Auch mit den Erklärungsansätzen der antinationalen Linken (Bahamas, ISF-Freiburg-Umkreis, Enderwitz), denen sie sich selbst zurechnen, sind sie nicht einverstanden. Sie finden dort "polit-ökonomischen" Reduktionismus, die Erklärung der Vernichtung als Konsequenz des totalen Krieges oder aus einem mysteriösen Umschlag von Rationalität in "Wahnsinn". Dabei stellt sich heraus, daß auch die antinationale Linke Goldhagens Untersuchungsergebnisse meistens zurückweist, weil sie diese nicht in ihre theoretischen Konzepte einordnen kann. | regina behrendt, werner fleischer, günther jacob und nicola meißner | regina behrendt, werner fleischer, günther jacob und nicola meißner: Goldhagen und die antinationale Linke | [] | Dossier | 08.01.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/02/goldhagen-und-die-deutsche-linke |
Subsets and Splits
No community queries yet
The top public SQL queries from the community will appear here once available.