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Der Schreck
Alle Fluchtversuche sind zwecklos. Die Macht und die Gewalt des Staates gründen in der souveränen Entscheidung über Leben und Tod. Jeder weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, dass das Recht nur eine Erscheinungsform der Souveränität ist. Nicht zwar in dem Sinne, dass es ganz und gar überflüssig wäre, vielmehr so, dass es eine Zutat darstellt, den notwendigen Zierat der souveränen Selbstdarstellung in den Zeiten gelingender Akkumulation. Es ist nicht das Recht, das den Souverän ausmacht oder konstituiert, er ist der Herr des Ausnahmezustands, dem das Recht nur Schmuck ist. Jeder weiß, wenn er auch sonst weniger als nichts weiß, dass die Form des Rechts, wenn es denn gilt, Funktion ist von Ware und Wert, von Geld und Kapital. Jeder weiß das schon ganz ohne das Studium der Marxschen »Kritik der politischen Ökonomie«, weil das Recht, der Vertrag gleicher und freier Subjekte, der jedwede Gewalt ausschließen soll, auf die Fiktion des freien Willens gebaut ist, die zwar einerseits Vorspiegelung ist wie jede Fata morgana, die doch andererseits als geltend unterstellt und tatsächlich vorausgesetzt wird in der Form des gewaltbewehrten Rechts selbst: reale Fiktion und dingliche Gewalt in einem. Macht und Gewalt des Staates gründen somit im totalen Zwang zur Freiheit, in der kapitalen Gewalt gegen die Individuen, die sie nötigt, Subjekte zu sein. Die Entscheidung über Leben und Tod wiederum, Monopol des Souveräns, fundiert in dem Urteil, das die Akkumulation des Kapitals über den Einzelnen vollstreckt, basiert auf der im Kapitalverhältnis notwendig und unvermeidbar produzierten so relativen wie absoluten Überbevölkerung. Der Staat, der selbständige Verwalter des Rechts, ist so zugleich der Handlanger der Produktion des überflüssigen Menschen. Widerstand ist irrelevant. Was auf den Montagsdemonstrationen als Notwehr gegen Hartz IV und Agenda 2010, gegen »Sozialabbau und Neoliberalismus« daherkommt, was »für Arbeit und soziale Gerechtigkeit« plärrt – das Vorhaben, das Elend der Ökonomie mit dem Terror der Politik zu kontern –, führt nur immer tiefer in den Schlamassel hinein, in die deutsche Misere. »Eine andere Politik ist möglich!« meint, frei nach Attac, die Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit. Es geht aber in Wahrheit um die Abschaffung, nicht um den alternativen Gebrauch des Staates. Hartz IV ist nur vordergründig Ökonomie, und die Agenda 2010 bezweckt vielmehr die Produktion von Panik im Subjekt von Staats wegen. Der Staat provoziert geradezu den Protest gegen den »Sachzwang« der »Wirtschaft«, um gegen die Objektivität der »Globalisierung« den freien Willen zu pointieren, um den Voluntarismus aus der Gesellschaft zu destillieren und ihn sich rein, als die Kraft der Dezision, anzueignen. Der freie Wille hat aber keine Substanz außer dem Opfer des Leibes für den Souverän. Der Staat nimmt die Probe auf den Körper und das Leben, das Kapital auf die Arbeitskraft; und beide setzen darin das Subjekt als Stück Natur. »Der Mensch selbst«, sagt Karl Marx, »ist, als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, ein Naturgegenstand, ein Ding«, wenn auch, fügt er hinzu, ein »lebendiges, selbstbewußtes Ding«. Dass die Arbeitskraft nicht einfach mit Gewalt angeeignet wird, sondern als Ware erst noch gekauft werden muss, ist zwar das Gesetz der kapitalistischen Vergesellschaftung (d.h. der reale Schein der Freiheit), zugleich aber das Elend jedes einzelnen Kapitalisten. Einerseits kommt dem Individuum das Selbstbewusstsein zwar aus seiner Gattungseigenschaft selbst zu, andererseits ist es nur als das eines Subjekts gesellschaftlich zugelassen und gültig, d.h. als die Denke des Kaufens und Verkaufens, so, wie es aus der merkwürdigen Tatsache erwächst, dass der Bezug des Menschen auf sich selbst, seine Selbstreflexion, nur in der Form des Privateigentums an sich selbst als der Ware Arbeitskraft möglich ist. Aber das gehört zum ABC der kommunistischen Gesellschaftskritik. Nicht dazu gehört, zumindest nicht unter deutschen Marxisten, dass der Staat damit nicht etwa der Ökonomie als fauler Überbau aufsitzt, sondern ihr vielmehr immanent ist, dass der Staat dem Kapital einwohnt als die Bedingung der Möglichkeit des Kapitals selbst. Was geschieht nun, wenn der Staat die Warenform an der Arbeitskraft durchstreicht? Die Antwort aus dem ABC ist: Dann ist Schluss mit dem »Lohnabstandsgebot«, dann drückt die industrielle Reservearmee gnadenlos auf den Lohn der Arbeiter, dann macht das Kapital wieder Profit, die Gewerkschaft geht in Konkurs, und mit den working poor kehrt der Klassenkampf wieder. Die Frage müsste jedoch lauten: Was geschieht, wenn mit der Subjektform auch die Arbeitskraft als gesellschaftliches Schicksal der Menschen durchgestrichen wird? Dann überlässt der Staat sie nicht auf Gedeih und Verderb dem Schicksal der freien Konkurrenz, d.h. dem Hunger, dann eignet er sich vielmehr die Ware Arbeitskraft als sein Privateigentum und sein Monopol an. Indem der Staat mit Hartz IV das »Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee«, d.h. den »Pauperismus« (Marx), mit einer industriellen Reservearmee verschmilzt, d.h. sie mit einer objektiv für Zwecke der Kapitalverwertung überflüssigen Menschenmasse vereint, die keine Reserve mehr für irgendeinen kapitalproduktiven Zweck sein kann. Indem der Staat die Arbeitskraft vermittlungslos vergesellschaftet, wird die überschüssige Bevölkerung in einer jenseits von Lohnarbeit und Kapital stehenden, einer gewissermaßen dritten Klasse zusammengeworfen, die, als Staatsklasse, zugleich unter und daher über den Klassen steht. Das Subjekt lebte stets auf Kosten des objektivierten, verwalteten Menschen. Seine Herrlichkeit war geborgt. Neu ist der schleichende Übergang von der Selbstherrlichkeit der Geldverfügung zur autoritären Fürsorge von Bedarfsprüfung und Sozialrazzia, und damit entfällt jeder Grund zu der wie immer verblendeten Hoffnung, der Aufstieg ins Subjekt liege in der Entschlossenheit und Willenskraft des Einzelnen. An die Stelle des Kontinuums der schiefen Bahn tritt nun das Abrupte, der Sprung, der Absturz. Indem die Vermittlung abgeschafft und eine Grenze gezogen wird, ändert sich auch die Qualität der Rubrifizierten selbst. Aus den Verkäufern im Wartestand wird das Zwangskollektiv der Versorgten, hartherzig Gepflegten und halbherzig Gespeisten. Jedermann weiß, wenn er sonst auch nichts weiß, dass die Überflüssigmachung des Menschen keineswegs mit der Verwaltung und Lebendhaltung des Körpers nach Maßgabe der Sozialhilfe endet, d.h. in Armenspeisung und Caritas, sondern, das Schicksal der Entmündigten und Psychiatrisierten lehrt es, erst mit Geschäftsunfähigkeit und Entmündigung. Hartz IV leitet eine Entwicklung ein, an deren Ende nicht nur die Verstaatlichung der Arbeitskraft steht, sondern das Kuratel auf Leben und Tod, die Aneignung der Körper als einer Biomasse durch den Staat, durch die politische Souveränität des Gesamtkapitals. Im Zwielicht zwischen dem Status der noch pro forma Subjektivierten und dem der schon de facto Objektivierten spielt sich das Drama ab. Denn hier wird die Panik gezüchtet, die die Klasse des Staates in der kommenden Krise des Kapitals zu Taten treiben wird. Was hier wiederkehrt, ist nicht das so aufklärungsfähige wie durch Not zur Selbstaufklärung angehaltene ökonomische Klasseninteresse, sondern die mit allen Mitteln der Politökonomie forcierte Verblendung, die gesellschaftliche Energie und der Élan vital der Barbarei selbst. Hier entsteht eine unmittelbar vom Staat abhängige Menschenschicht, die ihm auf Biegen und Brechen so unbedingt zum Gehorsam verpflichtet ist wie nur der vereidigte Beamtenpöbel, der für seine bloße Treue und routinierte Pflicht belohnt, der allgemeinen Konkurrenz enthoben und in seiner Existenz alimentiert wird. Im Staatsproletariat allerdings wird nicht die Existenz, sondern die Subsistenz, die Lebendhaltung alimentiert. Was hier zählt, ist nicht die tariflich regulierte Veräußerung der Arbeitskraft, sondern ihre ständige Einsatzbereitschaft. Diese Unmittelbarkeit zum Staat ist nur ein anderer Name der objektiv bereitliegenden gesellschaftlichen Schwungmasse zur neuerlichen Wendung in den autoritären Staat und in die Faschisierung, die dem eigentlichen Faschismus notwendig vorausgeht. Die Reprise der Volksgemeinschaft, der vermittlungslose Einbau der Vereinzelten in den gesellschaftlichen Zwangszusammenhang, dessen Synthese der Souverän ist, bedarf nur noch der neuerlichen, so antikapitalistischen wie deutschen Revolution gegen alle Vermittlungen durch Geld und Recht. Hartz IV und Agenda 2010 sind das Labor der Panik. Es geht hier nicht um die begründete Furcht, die der Mensch, als Individuum betrachtet, haben kann und irgendwie bewältigen muss. Dann gälte: Das Pfeifen im Walde vertreibt zwar nicht die Dunkelheit, macht aber leichter ums Herz. Das wäre ja der Lohn der Angst: die Aufklärung. Dem Staat geht es vielmehr darum, die reale Angst ins Phantastische zu verfremden und die Furcht durch die Panik der Selbsterhaltung zu substituieren. Der Mensch, von Staats wegen nicht als Individuum, sondern als Subjekt betrachtet, hat zwischen sich als Naturding einerseits und als Gesellschaftswesen andererseits kurzzuschließen und – darin besteht das Wesen der Panik – den politischen Souverän als das Selbstbewusstsein seiner leiblichen Not in sich zu installieren. Damit ist nicht gesagt, dass der Staat, als »ideeller Gesamtkapitalist«, eine Idee, gar einen Begriff vom Ganzen hätte, das er repräsentiert und exekutiert. Das Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft, das sich im Staat inkarniert, ist Ideologie, objektiv unabweisliches und notwendiges, eben darum falsches Bewusstsein. Weil es bei Hartz IV gar nicht wirklich um die »Wirtschaft« geht, kann der ideelle Gesamtkapitalist auch gar keinen Plan haben, kein Rezept und kein Programm. Es gibt keine Offensive des »Neoliberalismus« außer in der blühenden Phantasie derer, die den Staat zumindest pro forma und den Schemata der Volkssouveränität gemäß zumindest an sich und seiner Idee halber für die Zentralisation des politisch freien Willens halten: »Der Staat sind wir.« Was er an sich ist, das muss er für uns, das »eine Volk«, erst werden: Das ist der Staatlichkeitswahn, der den Protest antreibt. Dass es bei Hartz IV nicht um die »Umverteilung von unten nach oben« und zu Lasten des »kleinen Mannes« geht, gar um die berüchtigte »Profitmaximierung«, zeigt die simple Frage danach, wie denn in einer Gesellschaft vollendeter Konkurrenz irgendwer das Bewusstsein der Totalität als das konkrete, praktische Wissen um die Verallgemeinerbarkeit seines besonderen Zwecks überhaupt zu haben vermöchte. Wäre es mit den »Kapitalisten« wirklich so bestellt, wie es die Linken sich vorstellen, dann könnte das Kapital als die Totalität unmöglich sein. Daher nimmt das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Zusammenhang, das vom »freien Willen« des »Volks« ausgeht, bei seiner Karriere durch Öffentlichkeit und Politikwissenschaft hindurch und in die Staatsspitze hinein keineswegs zu, und es gewinnt auch keineswegs etwa an Umfang durch bessere Information oder gar an Klarheit durch gründlichere Reflexion. Den Planstaat kann es gar nicht geben. Das spontane Bewusstsein wird nur gereinigt, gewissermaßen gefiltert. Die Dummheit der Stammtische ist, im Kabinett angelangt, mit der Philosophie des Kanzlers identisch, und der Mann von nebenan weiß von der »Wirtschaft« gerade ebenso viel wie der Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, demzufolge die gegenwärtige Krise daraus folgt, dass die Leute, obwohl man ihnen die totale »Einkaufsfreiheit« verschafft, nicht aus ihrer »Konsumstarre« erwachen wollen. Wenn das Bewusstsein der Bevölkerung dem Staat zu Kopfe steigt, wird es naturgemäß nicht klüger, sondern erst recht brutal und raffiniert, weil systematisch. Was Marx der Volkswirtschaftslehre, der Vulgärökonomie, bescheinigte, trifft zugleich die Vulgärpolitik: Nichts anderes unternimmt sie, »als die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsweise von ihrer eigenen besten Welt zu systematisieren, zu pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren«. Daher kann es bei Hartz IV überhaupt nicht um Ökonomie gehen. Nicht die Agenda 2010 ist von Interesse, sondern die Fehlleistungen sind es, die so genannten Kunstfehler des Gesetzgebungshandwerks. Die Fehlleistungen, das Unabsichtliche und Ungewollte, offenbaren, wie in der Psychoanalyse, worum es tatsächlich geht: um die Produktion der Panik. Die Unmittelbarkeit zum Staat, die Schaffung der Staatsklasse, kann nur das Wechselbad der Gefühle in Permanenz bedeuten, das um den Verstand bringt. Systemnotwendig muß daher ein Skandal auf den nächsten folgen, und die neueste Schlagzeile, »Arbeitslose erhalten im Januar kein Geld. Clement bleibt bei Zahlungspause für ALG II«, macht die letzte noch lange nicht vergessen: »Für Arbeitslosengeld-II-Empfänger stehen alte Plattenbauten bereit.« Eine Frage jagt die nächste: »Große Bild-Telefonaktion: Wird der Lohn meiner Tochter auf meine Stütze angerechnet? Zehntausende riefen an.« Wer aber einen guten Rat braucht, der versteht ihn nicht, und wer ihn versteht, der braucht ihn nicht. In dieses Paradox resultiert der gesellschaftliche Zwangszusammenhang und die losgelassene Antivernunft, die der Souverän so unbewusst inszeniert wie kalkuliert administriert. Die Produktion der Panik will den Schock, und sie erzeugt – von niemandem gewollt, von allen intendiert – die Nazifizierung der Subjekte, die sich in Aggression nach innen und außen äußert. Weil der Bürger weiß, wozu er selbst fähig ist, darum traut er seinem Staat noch viel mehr zu. Dieses »Vertrauen in Politik« (Gerhard Schröder), die kostbarste Ressource des Souveräns überhaupt, wird durch den Schock nicht etwa irritiert, sondern forciert. Der Schock ist der Nerv der Panik, er elektrisiert und scheucht die Subjekte zur Masse auf, zur Stampede der Lemminge. Die Politik, die den Schock setzt, ist das System, dem es allein um das vermittlungslose Eintakten in die Ermessenswillkür der Staatsräson geht. Die Ökonomen der FAZ wissen längst, dass es nicht um Ökonomie geht, dass der »Wirtschaft« nicht mehr zu helfen ist. Vielmehr geht es, im Herrenzynismus und »aus der Sicht der realistisch-machiavellistischen Sicht der ökonomischen Theorie der Politik« formuliert, um die »Sprengung des Konsenskorsetts«. »Wichtig ist konzeptionelle Klarheit, strategisches Denken, Mut und politische Führung mit visionärer Kraft«, kurz und gut: »der Untergang« nicht nur im Kino, die Gesellschaft als Lawine, der losgelassene Zwangszusammenhang der falschen Vergesellschaftung. Panik hat, das versteht sich nun, mit der Anthropologie von Individuen nichts zu tun, dagegen alles mit der gesellschaftlichen Ontologie des Subjekts. Panik ist nicht eine Neigung der Masse Mensch und ihrer Psychologie; sie ist ein politisches Produktionsverhältnis, das dem Subjekt qua Schock vor Augen führt, dass es keine wirkliche Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Gattung gibt, nur den barbarischen Sprung der Monade mitten ins falsche Kollektiv. Und wie immer in Deutschland handelt es sich darum, wer beim kollektiven Hineinsteigern in die Theorie und Praxis der putativen Notwehr den guten Grund zum Losschlagen als erster erfindet.
Joachim Bruhn
Joachim Bruhn:
[]
webredaktion
20.10.2004
https://jungle.world//artikel/2004/43/der-schreck
Die Welt als Sicherheitsproblem
Wir befinden uns in einer Übergangsphase zur Demokratie, die noch lange nicht abgeschlossen ist«, sagt Victor Hugo de la Fuente. Der Direktor der chilenischen Ausgabe von Le Monde diplomatique empfängt uns in einem Hochhaus im Zentrum von Santiago. Sein winziges Büro beherbergt eine beeindruckende Sammlung kleiner Pinguine, an den Wänden hängen Erinnerungsbilder. Eine Schwarzweißfotografie zeigt den Redakteur im Pariser Exil als Sprecher von Radio France-International. 1988 kehrte de la Fuente nach Chile zurück. General Augusto Pinochet musste damals nach fünfzehn Jahren Militärdiktatur den Weg in die Demokratie freigeben. Zuvor ernannte der General sich und einige Getreue noch zu »Senatoren auf Lebenszeit«. Die Putschisten schufen sich eine Art christlich-fundamentalistischen Wächterrat außerhalb demokratischer Normen, um jederzeit in die Geschicke des Landes eingreifen zu können. Auch die Armee funktioniert in vielen Belangen unabhängig von der Regierung. Die hohen Offiziere berufen die Generalität bis heute selber. Eine Mehrheit der BürgerInnen ist damit zwar nicht einverstanden, doch die Minderheit reicht fast an sie heran. Knapp die Hälfte der rund 16 Millionen ChilenInnen gab bei den letzten Wahlen den aus den Putschisten hervorgegangenen Parteien Renovación Nacional (RN) und Unión Demócrata Independiente (UDI) ihre Stimme. »Armee und Unternehmer haben eine brutale Macht in diesem Land«, sagt de la Fuente. Eine einzige Tageszeitung, die kleine Nación, an der der Staat selber Anteile hält, sei nicht grundsätzlich gegen das regierende Bündnis der linken Mitte von Präsident Ricardo Lagos eingestellt. In der Tat: Wer den hauptstädtischen Mercurio aufblättert, könnte meinen, Lagos repräsentiere eine extreme Splittergruppe und sei gar nicht der Präsident. Im Mercurio tagt das Schattenkabinett. Dabei brütet es nicht nur nationale Direktiven aus, es lässt sich auch mit Freunden in täglichen Fotoseiten der Zeitung zur Schau stellen. »Vida social« (»Gesellschaftliches Leben«) heißt diese Rubrik im vorderen Teil der Tageszeitung. Die Bildstrecken zeigen die bedeutenden Persönlichkeiten beim Empfang in der Bank von Chile, beim 187. Gründungstag der Militärschule oder beim Sekttrinken in einer Gemäldegalerie. Dass die Rechte in Chile ein Imageproblem hat, war lange Zeit unübersehbar. Nach der Einlieferung Pinochets in eine Londoner Klinik und der medizinisch attestierten Senilität, die den Alten vor Strafverfolgung schützt, wurde dies auch für viele Angehörige der Oberschicht klar. In Anspielung auf Pinochets Krankenhausaufenthalt gründete sich in Chile die satirische Wochenschrift The Clinic. Sie ist wegen ihres respektlos subjektiven Tons gerade bei jüngeren LeserInnen sehr beliebt und spricht für eine neue Generation, die sich eindeutigen politischen Zuordnungen zu entziehen versucht. Sie spottet bei jeder Gelegenheit über fundamentalistische Moralvorstellungen und den »Gran General«, der sich seit der Rückkehr aus London in eine seiner Privatvillen verkrochen hat. Auch Joaquín Lavín, der bereits im Jahr 2000 als Präsidentschaftskandidat der Rechten gegen Lagos antrat, ist seit der vorübergehenden Festsetzung Pinochets in London auf Distanz zu dem ehemaligen Diktator und seinen alten Kameraden bedacht. Der Führer der UDI will 2005 endlich für die gewendete Rechte eine nationale Wahl gewinnen. Auf demokratische Weise ist dies seinem Spektrum seit den sechziger Jahren nicht mehr gelungen. Und seit der Rückkehr zur Demokratie regiert ununterbrochen die Concertación, das Bündnis der vier »antifaschistischen« Parteien, das von den Sozialisten bis zu den konservativen Christdemokraten reicht. Lavín, derzeit Bürgermeister von Santiago, der seine Mitgliedschaft im rechtskatholischen Opus Dei gerne scherzend zur unpolitischen Privatangelegenheit erklärt, wird zumindest rechts der Mitte hoch gehandelt. »Im Kampf gegen das Verbrechen« brachte Lavín gerade eine Säuberungskampagne im Zentrum der chilenischen Metropole erfolgreich hinter sich, seine Freunde sprechen gar von einer kulturellen »Revolution«. Ihre sichtbaren Zeichen sind Gauchokutschen nachempfundene Blumenkästen in der Fußgängerzone, privates Sicherheitspersonal und zentral gesteuerte Musikberieselung auf den Straßen. Die Menschen sollen sich so behütet fühlen wie in einer gut gesicherten Shopping Mall. Auf den ersten Blick scheint dies bei vielen gut anzukommen. Auch wenn es nicht ins Bild passt, dass der Rio Mapocho so dreckig wie früher durch Lavíns Santiago rauscht und die vom Bürgermeister versprochenen »Badestrände« am Fluss weit und breit nicht zu sehen sind. Die chilenische Hauptstadt mit ihren viereinhalb Millionen EinwohnerInnen wirkt ein wenig wie Los Angeles ohne Traumfabrik wie ein etwas zu groß geratenes Dorf. Im Zentrum bestimmen die Wolkenkratzer der Dienstleistungs- und Finanzunternehmen das Bild. Wenn Büros und Einkaufsläden abends und am Wochenende schließen, leeren sich die Straßen. Viele der besser Verdienenden ziehen sich wieder stadtaufwärts Richtung Anden zurück; nach Osten in die bewachten Appartementgebäude, in die Einfamilienhäuser mit den Vorgärten und der frischeren Luft. Die von Verkehrslärm umtoste Plaza Italia, so schreibt der Schriftsteller Pedro Lemebel, ist die unsichtbare Grenze, die den bürgerlichen Osten von den proletarischen Vierteln des Westens trennt. Hier thront General Baquedano auf einer imposanten Reiterstatue und hält seine einsame Wacht. Niemand soll sich im Weg irren, aufwärts beginnt das bürgerliche Providencia, abwärts das von der Mittelschicht misstrauisch beäugte Zentrum. Das Barrio Quinta Normal ist eines der ArbeiterInnenviertel westlich der Innenstadt. Man nimmt die U-Bahn bis zur Universidad de Santiago, durchschreitet das Universitätsgelände und steht plötzlich vor den großen modernen Blocks der Villa Portales. Sie wurden Anfang der sechziger Jahre errichtet, inspiriert von der sozialen Architektur Le Corbusiers. Ricardo Alvarez lebt bereits seit vierzig Jahren hier. Er war stolz, als Arbeiter in eine »so schöne« Siedlung zu ziehen, sagt er. Alles war grün, Autos gab es nicht. Heute sind die großen Plätze zwischen den Wohnblöcken versandet und dienen als Parkplätze. Sieben Kinder haben er und seine Frau in einer Vierzimmerwohnung der Villa Portales großgezogen. Die futuristisch anmutenden Betonkonstruktionen waren durch Fußgängerbrücken miteinander verbunden, die ganze Anlage machte einen offenen Eindruck. »Dann kam der 11. September«, sagt Alvarez in seinem typisch chilenischen Singsang und meint den Militärputsch von 1973. Die Siedlung mit den vielen Gemeinschaftsanlagen galt fortan als »medio complicado«, als gesellschaftlich schwierig. Ein Ruf, der an dem Viertel bis heute haften blieb. Offensichtlich auch in den Köpfen einer Mehrzahl der BewohnerInnen. Der alte Mann schüttelt den Kopf und deutet auf die vielen vergitterten Fenster und Eingangsbereiche. Sie waren, so sagt er, in der ursprünglichen Architektur nicht vorgesehen. Aber auch das »einfache« Chile hat sich verbarrikadiert und pflegt nur noch, was im eigenen umzäunten Bereich liegt. Die Welt da draußen ist ein einziges Sicherheitsproblem. Die Verbindungsbrücken zwischen den Häusern, auf denen Alvarez früher spazieren ging, sind heute zerstört. Einige enden bizarr und sinnlos in den Dächern kleiner Reihenhäuser, die nachträglich um diese Brücken errichtet wurden. Dass noch die unscheinbarsten Buden mit Draht und Gitter verhauen sind, ist das Markenzeichen der heutigen chilenischen Gesellschaft. Manche Leute leben, so scheint es, am liebsten gleich in Käfigen. Eine direkte Telefonleitung zur Polizei gehört schon in mittelgroßen Wohnlagen ebenso zum Standard wie der Autoabstellplatz. Dabei hat Chile eine im südamerikanischen Vergleich atemberaubend geringe Kriminalitätsrate. Die Rechte hält dies für einen Erfolg ihrer Prävention. Während die Militärs sich in die Kasernen zurückzogen, blieben ihre neurotischen Angst- und Bedrohungsdiskurse haften. »Die autoritären Dimensionen waren in der politischen Kultur Chiles immer präsent«, sagt der Soziologe Tomás Moulián. Dieser »offensichtliche Autoritarismus« manifestiere sich in einer »Besessenheit«, was die öffentliche Sicherheit betreffe. Und in einer konservativen Doppelmoral, wäre hinzuzufügen, die das private Leben zu kontrollieren sucht. Doch 15 Jahre nach dem Übergang zur Demokratie sind in der chilenischen Gesellschaft auch gewisse freiheitliche Gegentendenzen unübersehbar. Die diskriminierten Minderheiten sind selbstbewusster geworden. Mapuche-Indígenas fordern ihre Rechte, Landlose halten Brachen besetzt, und in Santiago hat sich eine offenere Schwulenkultur etabliert. Institutionell geht es zwar langsam, aber manches doch voran. So konnte die Regierung Lagos vor wenigen Tagen ein modernisiertes Ehegesetz im Parlament durchbringen, das ab November die Scheidung erlauben wird. Die Macht der Linken in Chile ist begrenzt. Die außerparlamentarischen Bewegungen sind im Vergleich etwa zu Argentinien schwach, und im Parlament stellt Lagos’ Partido Socialista gerade mal zehn der 122 Abgeordneten. Lagos’ SozialistInnen sind in der »antifaschistischen« Concertación bloß Juniorpartner, die Bürgerlichen sind weitaus stärker. Lagos mag als Persönlichkeit und Präsident über die Parteigrenzen hinaus beliebt sein. Und seiner amtierenden sozialistischen Verteidigungsministerin Michelle Bachelat werden allgemein gute Chancen eingeräumt, den rechten Herausforderer Lavín auch im kommenden Jahr in die Schranken zu weisen, da Lagos selbst kein zweites Mal kandidieren darf. Doch als Kandidatin der Concertación ist auch eine Christdemokratin im Gespräch. Bis ins vergangene Jahr gab sich die Rechte um Lavín sehr siegessicher. Doch dann erholte sich die Wirtschaft und blieb vor allem im Gegensatz zur Situation in den meisten Nachbarländern stabil. Bei derzeit vier Prozent Wachstum und den hohen Deviseneinnahmen aus dem gestiegenen Kupferpreis lässt sich schwer über die Regierung meckern. Als noch schlimmer für Lavín und seine konservativen Saubermänner erwiesen sich Vorwürfe, zwei ihrer UDI-Senatoren seien mitsamt einem Christdemokraten in einen Kinderpornoskandal verwickelt. Sie sollen auf den Partys eines befreundeten Unternehmers minderjährige Drogenabhängige sexuell missbraucht und vergewaltigt haben. Die Beschuldigungen stammen ausgerechnet aus den Reihen des Bündnispartners RN. Seit Oktober tobt darum in den beiden Rechtsparteien eine Schlacht, in deren Zentrum die RN-Abgeordnete Pía Guzmán steht und in deren Verlauf die Präsidien beider Rechtsparteien ausgewechselt wurden. Guzmán ging im Oktober als Vizepräsidentin der RN an die Öffentlichkeit und brachte den Skandal ins Rollen. Ihr Wahlkreis ist der wohlhabende Hauptstadtbezirk Las Condes. Sie hatte sich schon früher für missbrauchte Kinder eingesetzt. Offenbar lagen ihr konkrete Informationen vor, und offensichtlich befürchtete sie, dass die chilenische Justiz die Sache unter den Teppich kehren würde. Die UDI und rechte Medien schossen sich sofort auf Guzmán und die Belastungszeugen ein, darunter ein Pater, dem sich mehrere Jugendliche anvertraut hatten. Das Thema ist nach sieben Monaten immer noch nicht vom Tisch. Lavíns Leute haben es aber mittlerweile geschafft, Guzmán in ihrer eigenen Partei, der RN, zu isolieren. »Es gibt kein einziges Video«, gab sich UDI-Generalsekretär Patricio Melero von Anfang an siegessicher. Und so mag es am Ende auch sein. Doch so manchen auch konservativen ChilenInnen dürfte die »Mauer des Schweigens«, welche die UDI-Männer errichtet haben, und die Kampagne gegen Guzmán missfallen. Drei Monate nach ihrem Beginn glaubten nach einer Umfrage des konservativen Mercurio noch immer 75 Prozent der Bevölkerung an das, was nach Lavín einfach nicht sein darf. Doch trotz der Glaubwürdigkeitskrise der Rechten: Links sind viele ermüdet von dem langsamen und stockenden Reformprozess in Chile. Die Verfahren um die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur haben noch nicht einmal richtig begonnen. Und wirtschaftspolitisch sind keine großen Sprünge drin. Manche wünschen sich da, die SozialistInnen würden in die Opposition gehen. »Doch«, sagt Victor de la Fuente, »die Regierungsinstitutionen sind die einzigen Machtorgane in Chile, die nicht komplett von der extremen Rechten kontrolliert werden. Das kann man nicht einfach aufgeben.«
andreas fanizadeh und eva meier
andreas fanizadeh und eva meier:
[]
webredaktion
02.06.2004
https://jungle.world//artikel/2004/23/die-welt-als-sicherheitsproblem
Lisa Bolyos
Es war das blutigste politische Attentat in der österreichischen Nachkriegsgeschichte: Am 4. Februar 1995 wurde im burgenländischen Oberwart von Rechtsextremen ein Anschlag verübt, bei dem vier junge Roma starben. 20 Jahre später bereitet sich die kleine Siedlung auf eine große Gedenkfeier mit viel politischer Prominenz vor. Im österreichischen Braunau am Inn befindet sich das Geburtshaus Adolf Hitlers. Dass die Stadt nicht zu einem Pilgerort von Neonazis geworden ist, liegt auch an der lokalen antifaschisten Bewegung.
[]
https://jungle.world//autorin/lisa-bolyos
Eine Hand filmt die andere
Stefan Pethke: Zuerst sieht man eine Katze an einem PC-Monitor posieren, dann reibt sie sich den Kopf an einem aufgeschlagenen Larousse, dem französischen Brockhaus. Danach fährt das Makro-Objektiv der Kamera über das Wort, um das es hier geht - »glaner«, aufklauben. Die Stimme von Agnès Varda verliest die dazugehörige Definition. Das vergilbte Papier, die Buchstaben, vor allem aber die zwei altmodischen Schwarz-Weiß-Illustrationen bedeuten »altes Material«. Michael Baute: Varda erklärt, dass beide Motive Nachzeichnungen von Ölbildern aus dem 19. Jahrhundert sind. Eines bezieht sich auf Jean-François Millets »Die Sammlerinnen« und zeigt drei gebückte Frauen bei kollektiver Arbeit. Das andere bildet eine einzelne, aufrechte, stolze Landarbeiterin ab. Varda sieht sich beide Originale in den Museen an, das Einzelporträt stellt sie sogar mit sich selbst nach. Davon geht sie also aus, auch im Titel schon: zwei Bilder, die das Lexikon als Inbegriffe des Sammelns kanonisiert und die Varda durch ihr Filmen in einen persönlichen Bezug setzt. Damit sagt sie auch: »Mich interessieren Randarbeiten, ein Sammeln, das nach der verwertenden Arbeit stattfindet.« Das ist ja auch eine Idee aus den sechziger, siebziger Jahren, die Varda stark geprägt haben: zu schauen, was an den Rändern der industriellen Arbeit an Individualismus möglich ist. Das sucht die Varda heute wieder, und sie findet größtenteils Elend, jedenfalls am Anfang des Films. Pethke: Aber nicht nur ökonomisches, sondern auch reichlich Psycho-Elend. Zum Beispiel der Mann, der zu 100 Prozent aus der Mülltonne lebt, aber einen Job hat, ein Typ, der nur in Gummistiefeln rumläuft. Trotzdem sucht der Film nicht den Anschluss an irgendwelche Interessenverbände, geschweige denn an Parteien. Anna Faroqhi: Daraus spricht eben eine sehr französische Weltanschauung: »Ich gehe vom Bild aus - ein bisschen wie Foucault -, bleibe in der Erzählung drin und lasse das Agitprop-Zeug weg.« Was ihr trotzdem erlaubt, auch einmal zu sagen: »Ich werde nie vergessen, dass es Menschen gibt, die auf dem Markt Essen sammeln und von den Resten leben müssen.« Baute: Was solche Schwierigkeiten bereitet, den Film zu einem eindeutigen politischen Statement hochzupitchen, ist, dass Varda die Menschen nie symbolisch darstellt. Sie versucht nie, die Figuren zu Funktionsträgern innerhalb ihrer These zu machen, zu instrumentalisieren und zu abstrahieren. Pethke: Ja, auch dieser Gummistiefelmann personifiziert nichts, selbst wenn er die Resteverwertung schon ein wenig wahnhaft betreibt. Faroqhi: Der Film ist von Anfang an sehr subjektiv. Gleichzeitig versucht Varda ständig, von der ersten Person wegzugehen und andere Menschen zu porträtieren. Sie folgt dem Motiv von Millets Bild und guckt: Wo und was wird gesammelt? Sie führt eine Art Reisetagebuch. Eine nachträgliche Konstruktion? Baute: Der Charme dieses Films beruht darauf, dass man nicht genau entscheiden kann: »Gibt's da vorher eine Konstruktion, oder ist das wirklich zufällig?« Varda behauptet ja keineswegs, dass in dem Film alles zufällig war. Andererseits kommen auch Sachen vor wie der tanzende Objektivdeckel bei der Weinernte, skurrile Fundstücke auf der Ebene des Films selbst. Bei Dokumentarfilmen lässt sich das ja sonst häufig sofort feststellen: Aha, das ist die These, daher entwickelt sich das. Varda vertritt dagegen die offene Form. Dadurch verwischt ihr Film die Spuren seiner eigenen Konstruiertheit. Marion Kerner: Bei aller Offenheit bleibt Varda beim Thema, nur dass sie sehr frei darauf variiert, zum Beispiel bei dem Paar vor dem Café und seiner Geschichte von der ersten Begegnung, wie die Frau den Mann gar nicht hat übersehen können mit seiner auffälligen Kleidung. Faroqhi: Ein Objet trouvé! Kerner: Mit welcher Einfachheit Varda Sachen aus den Leuten herauskriegt! Wie sie den sehr armen Mann in dem Wohnwagen mit einer kurzen Frage - »Hatten Sie früher Haus und Kinder?« - zu einem Bekenntnis reizt: »Ich denke jeden Tag an sie.« Sie macht immer einen direkten Kontakt mit dem Gegenüber auf. Pethke: Und sie macht eben auch Diskussionsangebote, will nicht nur einfach was wissen. Kerner: Die provoziert. Die ist überhaupt nicht harmlos. Pethke: Varda ermächtigt sich ganz oft zu Urteilen. Vor allem bei der Auseinandersetzung zwischen den Öko-Punks und dem Supermarktleiter ist das so. Das handelt sie relativ gnadenlos ab. Kerner: Sie ist enttäuscht: Sie fährt da hin, um einen scheinbar interessanten Fall zu dokumentieren. Junge Obdachlose haben regelmäßig die Mülltonnen eines Supermarktes nach Nahrungsmitteln durchsucht, dabei die Tonnen umgeworfen. Weil die Angestellten am nächsten Morgen den Restmüll immer wieder einräumen müssen, hat der Leiter des Supermarkts Chlorwasser über die Reste geschüttet, damit sich daran keiner mehr bedienen kann. Varda wird in ihrem Kommentar auch deshalb aggressiv, weil sie nichts auftreiben kann, was sie überrascht. Alle sagen genau das, was man erwartet. Faroqhi: Varda will einfach aus dem Überfluss schöpfen, aus dem, was sonst noch alles da ist, aus dem Potenzial. Nur so kann sie sich ihre Spielchen erlauben und Schimmelflecken in ihrer Wohnung zu einem modernen Kunstwerk erklären, indem sie sie in einen Bilderrahmen stellt. So schafft sie es, mit dem Überfluss, auch dem erzählerischen, derart umzugehen, dass die klassische Komposition einer Erzählung hält, obwohl sie an den Rändern immer wieder ausbeult. Kerner: Varda bemüht sich um Bandbreite, sie macht einen Fächer auf. Sie setzt ganz bewusst die bitterarmen Wohnwagenleute gegen den Meisterkoch, wie der sein Trüffelsößchen kocht und dabei sagt, er gehe lieber liegen gelassene Äpfel sammeln, statt tiefgefrorene zu kaufen. Pethke: Sammeln findet eben aus verschiedenen Motiven statt, und es erklärt Unterschiedliches. Einerseits zeigt es, wo das Ende des Kapitalismus liegt, wo er aufhört, innerhalb seiner Logik Wert zu produzieren. Andererseits erzählt sich mit dem Koch etwas über grundsätzliche Kulturleistungen, darüber, was man alles wissen kann über die Dinge. Baute: Eine Grundhaltung dieses Films ist zu fragen: »Wo finde ich Reichtum, der noch nicht abgegrast, noch nicht konventionalisiert ist?« Deshalb auch so eine Enttäuschung bei dem Supermarktfall, wo sich alle verhalten, wie man das schon kennt. Auch da ist kein Reichtum, kein erzählerischer, mehr. Das ist formatiert. Faroqhi: Ein weiteres Beispiel für das mäandernde Erzählen: Man sieht Lastwagen auf der Autobahn, Varda filmt aus dem fahrenden Wagen ihre linke Hand, die die vorbeigleitenden Lkws einrahmt und sie dann wegschnappt. Dabei sagt sie: »Ich möchte die Lkws einfangen, wie Kinder das im Spiel können.« So schien mir der Film auch: sehr spielerisch und frei. Baute: Ihre Hand zu filmen und die Operation dabei zu beschreiben - mit der einen Hand etwas anderes machen als mit der anderen, aber beides zusammenführen -, das ist wirklich die leitmotivische Bewegung des Films. Bei diesen mehrmals wiederholten Lkw-Travellings kommt das besonders schön: »Ich kann, indem ich die Hand vor das Objektiv halte, die Objekte, die ich damit filme, verschwinden lassen.« Das ist angewandte Kinogeschichte, das funktioniert wie der Stopptrick bei Méliès. Das ist kindlich-einfaches Zauberkino, selbst-affirmierendes Verzaubern. Faroqhi: »Eine Hand filmt die andere« - das bezieht sich auch auf eine klassische Übung in der Malerei. Der Maler malt seine linke Hand mit der rechten. Varda stellt ja immer wieder Verbindungen her zur Malerei, extrem deutlich in dieser Szene, wo sie ihre Hand filmt, die dann zu Rembrandts Selbstporträt geht. Kerner: Da sieht man Vardas Hand auf der Rembrandt-Postkarte, das Bild im Bild, ein Wechselspiel, das zeigt, wie das eine das andere immer verdeckt, aber auch, wie man das eine im anderen sehen kann. Baute: Da kommt diese leichte Digitalkamera ins Spiel, auf die sie ein rasches Loblied singt. Das Filmen mit Video verbindet sich mit der Geste des Sammelns. Faroqhi: Der Film ist mit wenig Aufwand gedreht, trotzdem hatte Varda mindestens noch zwei weitere Leute dabei: einen Tonmann und einen zweiten Kameramann, der die festen Einstellungen gemacht hat. Sie selbst hat auch gefilmt, manchmal kommt ihre Kamera ins Bild. Kerner: Eine klassische Vorgehensweise. Man sieht sie drehen, dann folgt der Schnitt auf das, was sie sieht. Eine Übertragungsform von objektiver auf subjektive Wahrnehmung. Faroqhi: Varda hat auch keine Angst davor, alle möglichen Dokumentarverfahren zu mischen, Interviews, Inszeniertes, beobachtete Szenen, gefundene Bilder. Es gibt einfach keine Striktheit oder Formalisierung. Kerner: Sie rappt sogar selbst! Pethke:Beim letzten der drei Rap-Stücke in diesem Film hört man tatsächlich zwei älter klingende Frauenstimmen. Da dachte ich auch: »Ist Varda wirklich so frei, dass sie auch noch anfängt zu rappen?« Zuzutrauen wäre es ihr. Kerner: Ich finde, in den Lkw-Bildern steckt Vardas gesamte Kamerahaltung. Sie sieht eine Sache. Die will sie zeigen. Das fängt sie ein. Das sah für mich alles eher spontan aus. Das Gleiche bei der Bäuerin mit der Schürze. Ihr sieht man zwar an, dass sie sich extra für den Film angezogen hat. Und auch, dass sie an diese Feldkante gestellt wurde, um das Sammeln zu erläutern. Und natürlich ist es auch ihre Absicht, dass am Ende der Einstellung der Hund mit dem Boxhandschuh-Halsband auftauchen wird. Aber nicht zu sehen ist ein ganz bestimmter Rahmen, der in eine totale Gewissheit münden würde, von der Bildkomposition her. Die Einstellungsgröße ist meist dieselbe, nie füllt ein Gesicht die ganze Leinwand aus, die Kamera bleibt immer in einer gewissen Distanz. Das sieht sehr intuitiv aus, wie ein Automatismus. Ich sehe da keine Fragen wie: »Wo ist jetzt gerade das Licht? Wo stellen wir die Kamera hin?« Faroqhi: Das finde ich überhaupt nicht. Wenn man sich etwa das Bild von den Maschinen anguckt, die die Kartoffeln ernten, dann ist das doch ganz gut kadriert, nicht mit zu viel drumrum und nicht zu nah. Varda zeigt uns ihre Motive auch nicht aus sämtlichen Perspektiven. Sie lässt meist nur ein Bild gelten, ist nicht verschwenderisch. Und überhaupt: Genau das zu zeigen, was man zeigen will und nichts weiter, das ist doch die ganze Kunst. Pethke: Natürlich hat Varda nicht auf das Licht gewartet, und es gibt auch viel schlechtes Wetter in ihrem Film. Es ist eben Herbst, die Zeit nach der Ernte. Kerner: Ja, aber auch das kann man schönen bis zum Umfallen. Da kann man den Nebel über den Feldern haben, minutenlang, und irgendwo im Hintergrund sammeln welche. Faroqhi: Varda bringt die Menschen und die Objekte in einen Zusammenhang. Wenn sie Bilder im Museum zeigt, dann sind die nur kurz freigestellt zu sehen. Sofort stören komische Effekte wie Zeitraffer oder vor den Bildern stehende Menschen den Kunstgenuss. Es soll klar werden, in welchem Kontext die Ölbilder stehen. Das sieht manchmal wie eine Persiflage der dokumentarischen Konvention aus und ist im klassischen Sinn eben ein bisschen lächerlich oder sogar hässlich. Kerner: Bei einer Aufnahme war ich besonders skeptisch. Da filmt Varda die Gummistiefel des Gummistiefelmannes. Der Typ redet in seinem Kampfjargon darüber, warum er die Stiefel braucht, und dazu gibt es auch eine Aufnahme der Stiefel, wie sie vor der Kamera herlaufen. Pethke: Das ist im Prinzip sogar Fernsehen, wie bei der »Tagesschau«. »Was fällt uns zu Skinheads ein? Springerstiefel!« Was Varda hier macht, ist eine Rückkehr zum Einfachheitskonzept: »Was sich im Fernsehen schon beinahe vollständig sinnentleert hat, kann ich hier noch einmal befragen: Was steckt für ein Gedanke hinter der Idee des Schnittbildes?« So wie sie das Verfahren einsetzt, kriegt das Fernsehen etwas Sinn zurückgeschenkt, wird aus einer blinden rhetorischen Figur wieder ein passendes Bild. Denn die Gummistiefel will ich sehen, mit denen ein Mann behauptet, Herr über ein Terrain sein zu können. Baute: Genau, eine weitere Form von Selbstaneignung. Aber es stimmt schon auch: Der Film hat öfter so ein pädagogisch-insistierendes Bildprogramm. Im Hintergrund einer Szene kann man einmal deutlich Gummihandschuhe wahrnehmen. Trotzdem schneidet Varda da nochmal extra ran, damit auch wirklich alle diese Miniskulptur erkennen. Einerseits werden da im Arbeitszusammenhang Gummihandschuhe in einem Gestell getrocknet. Andererseits sehen die Dinger aus wie ein bunter Plastikigel und werden durch den Blick von Agnès Varda ein Objet trouvé, ein Ready-made. Kerner: So ähnlich ist auch die Sequenz über die Kühlschrankkunst montiert. Varda nimmt dort erst eine Aufnahme »Kühlschrank zu«, dann »Kühlschrank auf mit Playmobilfiguren drin«, und dann sieht man noch eine Nahaufnahme von den Figuren. Drei Schnitte in sehr kurzer Zeit, aber der Film gewinnt dabei keine Geschwindigkeit, es findet viel eher eine Verdichtung statt. Da nimmt Varda trotz hoher Schnittfrequenz das Tempo raus. Pethke: Ich finde den Film trotzdem sehr flott. Der hat so gar nicht das, was es sonst ganz oft im Dokumentarfilm gibt, das Warten, welches das später eintretende Ereignis aufwerten soll, oder andere Kniffe, die das Ungeplante sichtbar machen müssen wie korrigierende Schwenks oder plötzliches Ranzoomen. Ich kann mich hier an keine einzige Suchbewegung der Kamera erinnern. Auch nicht in der Episode vom Trödelmarkt, wo Varda zufällig das Bild findet, das beide Sammlerinnen-Motive aus dem Larousse auf einer Leinwand vereinigt. Das ist in einer nachträglichen Filmerzählung aufgelöst, in wenigen festen Einstellungen. In diesem Sinn ist der Film sogar rasant, daran kann man merken: Wenn Varda die Kamera anmacht, dann hat sie schon im Vorfeld viele Montage-Entscheidungen getroffen. Bei anderen beginnt dann erst ein Suchprozess. Denen sieht man beim Suchen zu, Varda beim Finden. Die sammelt eben ein. Faroqhi: Sie schafft es auf jeden Fall, uns beides zu erzählen, Wissen und Suchen: »Ich erzähle euch, dass ich die Kamera wie einen Bleistift benutzt habe und dass ich filmte, während ich lebte.« Baute: Dieser Film war in Frankreich ziemlich erfolgreich. Er kriegte in zehn Wochen die für einen Dokumentarfilm erstaunlich hohe Besucherzahl von 43 000 Zuschauern ins Kino, obwohl er vorher im Fernsehen gelaufen war. Das hat sicher auch zu tun mit diesem Aufklärerischen, diesem Appellativen, das der Film hat. In den gestellten Szenen mit den Rechtsexperten wird ja eine Aneignungsidee propagiert: »Dieses Aufklauben ist seit 1554 verbrieftes Grundrecht. Ihr dürft an euch nehmen, was scheinbar in Privateigentum ökonomisiert ist! Ihr dürft diese Kartoffeln einsammeln, die aus irgendwelchen Normierungsrastern und somit aus der kommerziellen Verwertbarkeit kippen. Also tut das auch!« Das Gleiche sagt der Film über das Filmemachen selbst: »Mach was! Ich habe mir diese Freiheit genommen und möchte damit vermitteln, dass du das auch kannst.« Mit so einer Produktionsaufforderung angesprochen zu werden, wird mir immer wichtiger beim Filmegucken. Das kommt bei mir vom Punk. Wenn da 43 000 Franzosen reingehen in diesen Film, dann gibt es nächstes Jahr relativ viele Filme zu gucken! »Die Sammler und die Sammlerin« (F 2000). Regie: Agnès Varda. Start: 6. Dezember Michael Baute studiert Komparatistik an der FU Berlin. Stefan Pethke arbeitet als Regieassistent. Anna Faroqhi ist Filmemacherin. Marion Kerner ist Webdesignerin und Videofilmerin. Alle leben in Berlin.
michael baute, anna faroqhi, marion kerner und stefan pethke
michael baute, anna faroqhi, marion kerner und stefan pethke: »Die Sammler und die Sammlerin« von Agnès Varda
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webredaktion
05.12.2001
https://jungle.world//artikel/2001/49/eine-hand-filmt-die-andere
Afrika wird nicht zugrunde gehen
Gegenwärtige Berichte über Aids in Afrika beginnen meist mit Statistiken über Millionen von Infizierten und mit Szenarien verwüsteter Landschaften. Diese Darstellungen sind sachlich nicht falsch, und doch führen sie oftmals nicht unbedingt zu einem besseren Verständnis der Situation. In diesem Beitrag soll in aller Kürze die Geschichte einer Krankheit erzählt werden, die wie kaum eine andere in der Menschheitsgeschichte das Überleben von ganzen Gesellschaften bedroht und geradezu zu einem Symbol für eine globalisierte, aber abwehrgeschwächte Welt geworden ist. Wir schreiben das Jahr 1981. Fünf junge Männer in Los Angeles erkranken an einer mysteriösen Krankheit. Sie sind jung, offensichtlich leistungsfähig, und doch bricht plötzlich wie aus heiterem Himmel ihr Immunsystem zusammen. Ein Arzt erkennt, dass es sich hier um ein neues Syndrom handelt, und veröffentlicht seine Beobachtungen. Die Ursache dieses Phänomens liegt völlig im Dunkeln. Nur ein Faktum ist bekannt: Alle fünf Männer sind homosexuell. Man spricht von Grid (Gay related immune deficiency). Gleichzeitig in einer ganz anderen Weltregion: In Uganda herrscht ein grausamer Diktator, Idi Amin. Als er seine Truppen im Nachbarland Tansania einmarschieren lässt, ist die Geduld der Tansanier zu Ende. Sie schlagen zurück, und nach langen Kämpfen wird Idi Amin abgesetzt. Kurz danach beobachten die Menschen in der Region ein merkwürdiges Phänomen: Junge Menschen magern extrem ab und sterben nach einer Krankheitsphase, die begleitet ist von Lungenentzündungen und Durchfällen. Man spricht von der slim-disease, da die Abmagerung am meisten ins Auge sticht. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass die Ereignisse in Los Angeles und in Kampala miteinander in Verbindung stehen. Jahre später werden Wissenschaftler herausfinden, dass es sich bei dieser neuen Krankheit um eine Virusinfektion handelt, dass dieses Virus aller Wahrscheinlichkeit nach um das Jahr 1930 durch eine Mutation aus einem eng verwandten Virus entstanden ist. Aber dieses Virus verbreitete sich zunächst nur langsam. Es musste erst die Bedingungen für eine massenhafte Vermehrung finden: Mobilität durch neue Transportmöglichkeiten, größere Konzentration von Menschen in urbanen Ballungszentren oder Wirtschaftszentren wie Minen und Bergbau, Menschenbewegungen durch Krieg und Bürgerkrieg wie an der Grenze zwischen Uganda und Tansania mit allen Folgeerscheinungen von Gewalt, vor allem auch sexueller Gewalt gegen Frauen. 1985 kommt ein neuer Test auf den Markt. Mit seiner Hilfe können Antikörper gegen dieses Virus nachgewiesen werden. In Nordamerika und Europa bricht geradezu eine Hysterie aus. Man sieht die Gesellschaften bedroht und startet Aufklärungskampagnen. Man erkennt schnell, dass es sich um eine sexuell übertragene Erkrankung handelt. Die Infektion kann relativ leicht durch Benutzung eines Kondoms verhindert werden. Sexuelles Verhalten ändert sich nicht über Nacht, aber die Epidemie schwächt sich in den Industrienationen stark ab. Für viele kommt diese Entwicklung aber zu spät. Sie sind zu diesem Zeitpunkt schon infiziert. Inzwischen weiß man, dass diese neue Krankheit eine extrem lange Inkubationszeit hat, d.h. zwischen Ansteckung und Ausbruch der Krankheit vergehen im Durchschnitt zehn Jahre. Der Höhepunkt der Sterblichkeit wird in Westeuropa Anfang der neunziger Jahre erreicht. Zurück nach Afrika. Die Welt hat inzwischen wahrgenommen, dass sich diese neue Krankheit offensichtlich in Zentralafrika besonders in der Region um den Viktoriasee dramatisch ausbreitet. Es gibt Aids-Konferenzen, auf denen Wissenschaftler Statistiken vorlegen, über steigende Krankheits- und Sterblichkeitsraten diskutieren. Aber die Gesundheitsminister Afrikas interessieren sich zunächst wenig für diese Schreckensszenarien. Sie halten es für eine Übertreibung westlicher Medien. Außerdem haben sie mit vielen Gesundheitsproblemen zu kämpfen. Dass Menschen viel zu früh sterben, ist in Afrika keineswegs ein neues Phänomen. Es gibt eine Ausnahme. In Uganda kommt 1986 ein neuer Präsident an die Macht. Yoweri Museveni hat sich im Dschungelkrieg gegen seine Widersacher durchgesetzt. Angeblich fürchtet er um die Gesundheit seiner jungen Soldaten. Auf jeden Fall macht er die Aids-Bekämpfung zur Chefsache. Man beginnt mit Aufklärungskampagnen im ganzen Land. Selbsthilfegruppen gründen sich und man versucht, diese neue Krankheit aus der Tabuzone herauszuholen. Leider bleibt Uganda lange Zeit eine Ausnahme. In Kenia fürchtet man um die wichtige Tourismusindustrie, in Südafrika sitzt Nelson Mandela noch im Gefängnis, und man ist beschäftigt mit der Abschaffung der Apartheid. Wenn Aids im südlichen Afrika überhaupt wahrgenommen wird, dann als Krankheit von weißen Homosexuellen. Ende der achtziger Jahre registrieren Ärzte auch in den ländlichen Regionen Afrikas eine drastische Zunahme von HIV/Aids. Aber für die Menschen ist der Zusammenhang zwischen dem Sexualverhalten und Aids nur schwer nachzuvollziehen. In der traditionellen Gesellschaft führen Tabubrüche auch im sexuellen Bereich durchaus zu Krankheiten, aber nicht mit zehnjähriger Verzögerung und in so diffuser Weise wie bei HIV/Aids. Es scheinen doch fast alle betroffen zu sein, also muss es sich um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen handeln, das sich der persönlichen Verantwortung entzieht. Der westliche Individualismus entspricht nicht der afrikanischen Weltanschauung. Man existiert in einer Gemeinschaft, in der es nicht auf den Einzelnen und sein Verhalten ankommt. Kein Wunder, dass Kondome weitgehend abgelehnt werden. Kirchen und Religionsgemeinschaften vergrößern sicherlich das Misstrauen gegenüber dieser scheinbar so einfachen Lösung, aber die Vorbehalte sitzen sehr viel tiefer. Mitte der neunziger Jahre hat sich das Virus über den ganzen Kontinent bis nach Westafrika und vor allem bis in das südliche Afrika ausgebreitet. Dort erreichen die Infektionsraten 20 bis 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Sie sind weit höher als in den zuerst betroffenen Ländern wie Uganda und Tansania. In der Republik Südafrika hat man inzwischen das verhasste und menschenverachtende Apartheidssystem abgeschafft. Die Welt ist beeindruckt vom friedlichen Wandel und vom neuen Präsidenten Nelson Mandela. Er hat mit vielen Problemen zu kämpfen und kann sich der wachsenden Bedrohung durch Aids nicht auch noch widmen. Erst nach seiner Amtszeit wird deutlich, dass diese Krankheit hier offensichtlich noch stärker wütet als anderswo. Aber wie soll man darauf reagieren? Der neue Präsident Thabo Mbeki predigt eine afrikanische Renaissance, er ist zu Recht stolz auf die Errungenschaften seiner jungen Regenbogennation. Er hofft auf ausländische Investitionen und darauf, dass sich Südafrika als wirtschaftliches Zentrum für den afrikanischen Kontinent etabliert. Soll er der Welt jetzt erzählen, dass ein Viertel seiner erwachsenen Bevölkerung mit HIV infiziert ist, dass seine Firmen zwei bis drei Mitarbeiter pro Stelle ausbilden müssen, weil so viele in der Zwischenzeit sterben werden, dass die Weltbank drastische Rückgänge des Wirtschaftswachstums durch Aids errechnet, und der Weltsicherheitsrat Aids zu einem Sicherheitsrisiko erklärt, das ganze Regionen in Afrika destabilisiert? Er tut es nicht. In seiner Eröffnungsrede zur Welt-Aids-Konferenz in Durban im Juli 2000 stellt er in Frage, ob HIV tatsächlich der Auslöser von Aids ist, und erklärt, dass seine Landsleute nicht an Aids, sondern an Armut sterben. Die Weltöffentlichkeit und die versammelte Wissenschaft sind empört. Wie kann jemand ihre wissenschaftlich bewiesenen Theorien in Zweifel ziehen? Mbekis Thesen sind zum Teil nachvollziehbar. Selbstverständlich hat Aids etwas mit Armut zu tun. Würden Familien nicht durch Wanderarbeit systematisch getrennt, stünde das Gesundheitssystem nicht am Rande des Zusammenbruchs, wäre das Erziehungswesen nicht chronisch unterfinanziert, dann fände Aids nicht solch einen fruchtbaren Nährboden. Aber es gibt eben keinen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Aids, wie Mbeki behauptet. Botswana ist eines der reichsten Länder des Kontinents und meldet inzwischen erschütternde Infektionsraten von fast 40 Prozent, während Uganda immer noch arm ist, aber durch erfolgreiche Präventionsmaßnahmen die HIV-Rate auf weniger als acht Prozent reduziert hat. Tragischerweise verstärkt Mbeki auch noch die vorhandene Tendenz seiner Landsleute, keine persönliche Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen, das zu einem höheren Ansteckungsrisiko führt. Denn wenn Aids letztlich durch Armut verursacht wird, braucht man keine Kondome mehr. Wie sieht die Zukunft für Afrika aus? Die Antwort muss offen bleiben. Es gibt ermutigende Tendenzen. In Uganda geht HIV / Aids zurück, in Sambia und Tansania gibt es Anzeichen, dass auch hier der Höhepunkt überschritten ist. Wirksame Behandlung, die bislang für Afrika als unbezahlbar und zu kompliziert angesehen wurde, könnte zunehmend verfügbar werden. Die Preise sind um 95 Prozent gefallen, der Globale Fonds als internationales Solidarinstrument stellt größere Finanzsummen zur Verfügung, und verschiedene Organisationen arbeiten daran, Prävention und Behandlung zu intensivieren. Trotzdem wird Aids den afrikanischen Kontinent stärker verändern als alle bisherigen Katastrophen, einschließlich der Sklaverei und der zahllosen Kriege und Bürgerkriege. Aids ist nicht nur eine neue Krankheit, sondern ein Phänomen der Globalisierung und der Postmoderne, das den afrikanischen Kontinent auf brutalste Weise heimsucht und auf das er nicht vorbereitet war. Dieses Virus traf auf Gesellschaften, die durch Kolonialisation, wirtschaftliche Ausbeutung und die Auflösung traditioneller Gesellschaftsformen geschwächt waren. Sie sollten Konzepte übernehmen, die kulturell fremd waren und im weltanschaulichen Kontext nicht überzeugen konnten. Afrika wird an Aids nicht zugrunde gehen. Der Zusammenhalt der Menschen, ihre Leidensfähigkeit und ihre Lebenskraft sind für Westeuropäer oftmals nur schwer begreiflich, aber ohne Frage die wichtigsten Elemente zur Überwindung dieser Katastrophe. Die Kräfte zur Überwindung der Immunschwächekrankheit müssen von innen kommen. Aber Afrika braucht trotzdem unsere Solidarität. Aids ist ein globales Phänomen, und es bedarf wahrhaft globaler Anstrengungen, um diese größte medizinische und soziale Katastrophe der Neuzeit wirksam zu bekämpfen. Christoph Benn ist stellvertretender Direktor des deutschen Instituts für ärztliche Mission in Tübingen und Leiter der Aids-Abteilung. Von 1988 bis 1992 leitete er ein Aids-Kontrollprogramm in Tansania; seitdem engagiert er sich in vielen Ländern als Berater von Aids-Programmen, u.a. in Kenia, Uganda, Botswana, Namibia und Südafrika sowie in Indien, Thailand, Indonesien, China und Russland.
christoph benn
christoph benn: Africa Apart
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Dossier
11.12.2002
https://jungle.world//artikel/2002/50/afrika-wird-nicht-zugrunde-gehen
markus wissen
Das Weltsozialforum in Porto Alegre erarbeitet nicht nur Reformvorschläge, sondern es stellt eine Globalisierung von unten dar. Zur Rolle der Europäischen Union im Prozeß neoliberaler Restrukturierung. Mit der Agenda 2000 und den Strukturfonds will sich die EU gegen die US-Konkurrenz fit machen
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https://jungle.world//autorin/markus-wissen
carl hegemann
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https://jungle.world//autorin/carl-hegemann
björk triehagger
Die Fällung der »Friedenseiche« in Rostock war bestenfalls eine Kritik an der konkreten Form des staatlichen Gedenkens, nicht aber daran, dass die politischen Profiteure der Pogrome von 1992 das Gedenken heute vereinnahmen wollen.
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https://jungle.world//autorin/bjoerk-triehagger
lisa mayr
Marlene Streeruwitz
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https://jungle.world//autorin/lisa-mayr
Expo ist großartig, alles andere ist Quark!
Wenn Sie mal wieder keine Lust auf Deutschland haben, weil aus der Nachbarkneipe das Horst-Wessel-Lied erschallt oder in der U-Bahn ein alter Mann doch noch die Kesselschlacht von Stalingrad gewinnt, dann fliehen Sie doch einfach. Auch der 3. Oktober und die Diskussion, wer denn nun der schlimmste Antideutsche war - Richard von Weizsäcker oder Oskar Lafontaine - reichen aus, um sich abzusetzen. Nicht mal ins Ausland muss man derzeit ausweichen, um den deutschen Mief und Pief für ein paar Tage zu vergessen. Das Expo-Gelände in Hannover bietet sich mit seinen Länderpavillons aus aller Welt als ideales Refugium an. Nun denken Sie vermutlich sofort an Gen-Tech-Kritik, verräterische NGOs, Bevölkerungspolitik und die Manipulation der Herrschenden, kurz: an linke Bilder einer Ausstellung. Ganz falsch ist das alles nicht. Aber auch nicht so wichtig. Und sicher nicht so interessant wie zum Beispiel der großartige Pavillon der Briten. Niemand sollte sterben, ohne die Antwort des Vereinigten Königreichs auf die Umweltkatastrophe gesehen zu haben. Wälder und Wiesen sterben, Flüsse und Meere werden vergiftet, Asbest is all around - nicht auf der Insel: Great Britain is clean. Und sollte in Liverpool oder Manchester doch noch jemand unzufrieden sein, kein Problem, dann singen wir eben darüber. Die Erfinder des Pop zeigen sich auf der Expo von ihrer besten Seite. Okay, das versuchen alle. Kolumbien schenkt seinen besten Kaffee aus, die Schweden zeigen, wie wichtig die richtige Entspannung ist, Lettland kommt mit einem Mega-Reetdach daher, Rumänien betont, wie toll Brachflächen für die städtische Struktur sind. Ein super Gesundheitssystem und die feinsten Zigarren kann Kuba vorweisen, Sri Lanka hat einen geilen Plastik-Buddha, der Iran setzt voll auf weiches Wasser, Pakistan präsentiert einen Hippie-Bus. Überall wird geprotzt und geprahlt, was das Zeug hält: »Every intellectual has two homelands: his own, and Syria« ist über einem großzügig eingerichteten syrischen Wohnzimmer zu lesen. Ob das wohl der Grund war, warum der Nazi-Kriegsverbrecher Alois Brunner seit Jahrzehnten in Syrien lebt? Der deutsche Pavillon, eine Baustelle mit Warteschlangen und schlechter Animation, wird als Werkstatt präsentiert, in der Dr. Motte, Steffi Graf und Albert Einstein die Hausmeister machen. Intelligenter ist ein anderes Land: »Isr@el - from Holy Land to Whole-E-Land« heißt das Motto, gezeigt wird allerlei Multimediales zu Tourismus und Technologie. Via Internetübertragung lässt sich aber auch ein Blick in die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem werfen. So weit ist der Pavillon des Heiligen Stuhls noch lange nicht. Dröge Bilder von irgendwelchen Misereor-Nasen aus aller Welt hängen neben Sinnsprüchen von Johannes Paul II. zu den Themen Familie, Solidarität und Gerechtigkeit. Nicht mal Faltblätter gibt es hier für lau, und die zahlreichen Jugendlichen, die auf ihren City-Hoppern um die Ecke kommen, müssen das Gerät draußen stehen lassen. Bei Papsts wird nicht gerollert. Und im Keller des Christus-Pavillons nicht geredet. Wer glaubt, der schweigt. Christen auf Kisten. Nur im Innenhof trällern die obligatorischen CVJM-Jugendlichen Besinnliches zur Wandergitarre und trinken Fencheltee, als ob es gelte, noch das letzte Klischee erfüllen zu müssen. Überhaupt die Christen: Heiliger Stuhl, Christus-Pavillon und der Pavillon der Hoffnung, in dem alles versöhnt wird, was sich nicht wehrt - das ist schon ein bisschen ungerecht gegenüber den Tadschiken, Kambodschanern und Guineern, die jeweils nur einen kleinen Fleck in einer großen Halle haben. Macht aber nichts. Im Zoo schaut man sich ja auch die schrulligsten Tierchen am liebsten an. Und nicht die ernsten, langweiligen wie Gnu oder Dachs. Das Gnu der Expo ist das Europa-Haus. Hier präsentiert sich die EU mit einer Zeitreise zur europäischen Einigung so behäbig wie eine Verwaltungsverordnung. Und der Dachs wäre wohl der Planet M von Bertelsmann. Zum Glück verhindern lange Warteschlangen den Zutritt, sodass der nächste Pavillion von Irren für Irre rasch besichtigt werden kann, oder besser könnte: Der Isländische Pavillon steht komplett unter Wasser, wer keine Gummistiefel dabeihat, schüttelt den Kopf und schlappt weiter. Die Expo ist toll: viele Verrückte, noch mehr Ausländer, wenig Nazis. Expo Yes. Denn Deutschland sieht anders aus.
Maik Söhler
Maik Söhler: Trümmer einer Ausstellung III
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webredaktion
04.10.2000
https://jungle.world//artikel/2000/40/expo-ist-grossartig-alles-andere-ist-quark
66 - die Nummer der Besten
Unlängst, da ich keinerlei Grund hatte, mir den lieben langen Tag mit dem obligatorischen Ausflug zum Flughafen Tegel zu versüßen, obschon ich den Bohnenkaffee mit künstlichem Zuckerersatz würze, und so eine Metapher weder im Hinblick auf den Ärport noch auf diese recht gelungene Einleitung meiner sinnentleerten Kolumne passen will, erniedrigte ich mich, Olympischem Ringen zum Trotze, doch einmal das andere Fernsehprogramm zu wählen und kam in den Genuss, der heiteren Geburtstagsfeierlichkeit von Udo Jürgens beizuwohnen, der ebenfalls gern einmal beiwohnt, jedoch im unsittlichen biblischen Sinne, weshalb mich die Ziffernfolge seiner Jahre auch geradewegs an die muntere Johannes-Offenbarung denken ließ, da Herr Jürgens trotz methusalemschen Alters mindestens 666 female Leiber auf dem Gewissen haben soll. Nicht, dass Sie denken, ich verabscheute Herrn Jürgens, stets war er der Lieblingsschtar meiner maroden Kindheit, welche ich Bäume erklimmend in der Abgeschiedenheit des Ländlichen verbrachte. »Ein Platz an der Sonne« war immer schon mein favorisiertes Singspiel gewesen, und mit Inbrunst formulierte ich es, und wie es sinnenfroh über meiner Unterlippe Klippe stürzte, war ich froh ob der Geborgenheit, die Herr Jürgens mir zu schenken vermochte. Heintje war auch okay. Doch ich erkannte die einzigartige Frische, die Jürgens im Gegensatz zum kleinwüchsigen Heintje, dessen »ich schlafe im gleichen Bett wie Peter Alexander, bin sein Mündel und er mein Lehrer, und morgens gehen wir mit einem Chanson auf den Lippen in die Schulmeisterei, wo ich ihn mirnichtsdirnichts mit der geilen Sau von Mathematiklehrerin verkupple«-Attitüde mir aufs Gemüt schlug. Während Alexander und Heintje Batman und Robin gaben, interpretierte Jürgens stets den lendenfrohen Fu Manchu, ein Kärräckter, der mit Hilfe seiner sämigen Last fröhlich den Anstand mit Füßen trat und vielerlei willige willfährige, wenngleich gelbe Damen einer unterdrückten Gesellschaft zu veredeln wusste und gehorsame Nachkommen in die Welt setzte. In einer aufregenden Dokumentation, die den jungen Jürgens jovial darzustellen wusste, erkannte der geschulte Beobachter sogleich dessen Format und Weitblick, war er doch Vorreiter für verzettelte Herrschaften wie den ewigen Meikel (Jackson) und Liberace, ein weltfremdes Gemüt, dem devianten Sex frönend. So etablierte Jürgens und kein anderer die marode Marotte, den Fiaker, welcher ihn zum Konzert transportierte, in Begleitung eines Kindes und einer Schnittblume zu besteigen. Ein Satz, der gleich drei erschreckende Themen innehat: Kind / Schnittblume = Die junge Schnitte, Begleitung = Gesellschafterin. Selbst der ewige Meikel zollte dieser unbekümmerten »Wennsekannnehmichse«-Einstellung Tribut, wenngleich er sich in Gesellschaft geldgeiler, immerhin geiler, Knaben zur Volksbelustigung verklappen ließ. Gern würde ich ein wenig ausholen, doch nun hat der Text seine 3 000 Zeichen überschritten. Herzlichen Glückwunsch.
naatz (der)
naatz (der): Die erbauliche Kolumne III
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webredaktion
18.10.2000
https://jungle.world//artikel/2000/42/66-die-nummer-der-besten
Jungle World #16/2008 - Ohne Kampf kein Mampf
Im dschungel läuft: Berlin Biennale, Punk in Belgrad, JaKönigJa, Andreas Neumeister, Kampfstern Galactica, David Foster Wallace
Revolten gegen steigende Lebensmittelpreise 17.04.2008
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2008/16
Man muss nicht Reginald Blocks heißen
Julian Weber: In Ihrem Buch bezeichnen Sie Punk als eine medienkritische Bewegung. Was war bei Punk anders als bei vorangegangenen Jugendbewegungen wie den Hippies? Jon Savage: Auch die amerikanischen Hippies waren bereits sehr medienbewusst. Es gab viele Gemeinsamkeiten zwischen Hippies und Punks. Punk entwickelte jedoch ein Bewusstsein für die Art, wie die Medien die Themen anpacken, verzerren und schließlich killen. Daran übte man Kritik und war zugleich davon fasziniert. Das konnte man der Musik anhören. Oder all diese Bandnamen: Magazine, The Adverts, Television. Das Thema der Massenmedien zieht sich durch Punk wie ein roter Faden. Die Musik handelte davon. Es war ein unterschwellig verbreitetes Wissen. Guy Debord betrachtete in der Gesellschaft des Spektakels die Kulturindustrie als eine Hauptantriebsfeder für die Wirtschaft. Mir gefiel, dass Punk 1976 anfing, Presse und Fernsehen offen anzugreifen. Das war völlig berechtigt und war ja auch das Großartige daran. Sie haben Guy Debord erwähnt. War der Einfluss des Situationismus auf Punk wirklich so stark? Insbesondere Johnny Rotten bezeichnete den Mode- und Kunsthintergrund einmal abfällig als nachträgliche Erfindung. England's Dreaming erzählt zunächst von Malcolm McLaren und Vivien Westwood. In deren Laden hat die Geschichte der Sex Pistols begonnen. Die nannten sich ja nicht einfach so »Sex Pistols«. Nein, sie hießen nach diesem Laden und sie waren die Hausband dieser Boutique mit Namen »Sex«. McLaren und Westwood haben die Band zusammengesucht. Punk beginnt in diesem Laden und die Sex Pistols waren die erste Punkband. Ich würde sagen, dass sowohl Johnny Rotten wie auch Greil Marcus falsch liegen. Und zwar aus einem einfachen Grund. Johnny Rotten und die anderen Sex Pistols wurden von McLaren und dem Umfeld von »Sex« mit Ideen gefüttert. Die Sex Pistols waren nicht einfach Teenager aus der Arbeiterklasse, die für Teenager aus der Arbeiterklasse spielten. Sie kommunizierten und tauschten sich mit Leuten aus, die die sechziger Jahre erlebt hatten. Johnny Rotten war derjenige, der gesungen hat und seinen Part auf der Bühne fantastisch spielte. Dafür hat er auch eine Menge Ärger kassiert. Aber er hat das nicht alles ganz alleine zu verantworten. Auch wenn die theoretische Verbindung zum Situationismus damals recht schwach war und nur wenige darüber etwas Genaueres wussten. Der Situationismus ist dennoch ein wichtiger Bestandteil von Punk, genauso wie Glam Rock, Pop Art oder Prank-Ideen aus der US-amerikanischen Gegenkultur. Punk bezog sich am Anfang vor allem auch auf Andy Warhol in New York. Warum Warhols Einfluss auf Punk häufig unterschlagen wird, war für mich nie nachvollziehbar. Als ich die Pistols im November 1976 zum ersten Mal sah, erschienen sie wie eine Version von Warhols Factory, nur eben zehn Jahre später und nach England verpflanzt. Wie haben Sie die ersten Punk-Konzerte in England wahrgenommen? Es gab auf diesen ersten Konzerten eine Menge verwegen aussehender Kids. Einigen von ihnen sah man schwerwiegende Probleme an, so wie mir auch. Der Saal war voller Kameras, voller Glitter. Es wurde heftig herumposiert. Man tat das alles mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein und auch Gewalttätigkeit. Was die Pistols für mich auf der Bühne wirklich darstellten, war eine Band von Sado-Masochisten. Sado-Masochismus war eine Möglichkeit, einen öffentlichen Skandal zu provozieren. Der Einfluss des Situationismus war aber deshalb so wichtig, weil er Punk bis heute eine spürbare antiautoritäre Stoßrichtung gibt. Punk ist gegen die Massenmedien, gegen den Konsum und das große Geschäft. Und vor allem gegen die Gesellschaft des Spektakels! Und auch wenn die Musik heute, nach 25 Jahren, entsetzlich alt klingen mag, stecken da immer noch viele Ideen drin. Sie schreiben, dass für die Entstehung von Punk der englische Rock'n'Roll und die Erfahrungen eines Impresarios wie Larry Parnes ebenfalls von großer Bedeutung waren. Für McLaren war Parnes das Stereotyp des schmierigen Managers. Das gefiel ihm. Parnes' Geschäftspraktiken waren äußerst manipulativ und er schrieb seinen Popstars alles vor. Zu einem gewissen Teil ist er der Erfinder des britischen Pop. Das war ja keine eingeborene Form in England, alles war aus den USA übernommen. Parnes versorgte seine Figuren mit einer Extra-Injektion Fantasie. Parnes war schwul. Er entstammte einer alten Hinterzimmer-Showbusiness-Tradition. Er begriff schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, 1954, während er die Teenager bei der England-Tour des US-Sängers Johnny Ray ausrasten sah, dass es einen hausgemachten Markt für britische Talente gibt. Er gabelte all diese bodenlos schlechten Elvis-Imitatoren und englischen Rock'n'Roller auf und gab ihnen wundervolle Künstlernamen. So wie später Warhol und danach die Punks. Es ist die Idee von der Umformung der Identität. Man muss nicht Reginald Blocks heißen, man kann sich auch Marty Wild nennen. Oder Billy Fury, oder Duffy Power. So nannte er seine Stars. Das waren technisch noch rohe Namen, aber die Transformation ist das Entscheidende. Die Hartnäckigkeit, mit der ein schwuler Manager künstlich zusammengesuchte Popgruppen konstruiert, zieht sich durch die Popgeschichte. Und es gibt eine nicht ganz falsche Formel, nach der schwule Manager Musik für junge, meist weibliche Teenager erfinden. Sehr konstruiert und plastikmäßig, aber ganz echt. Viele von Parnes' Gruppen waren Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre sehr erfolgreich. Mc Laren wollte auch gerne ein so manipulativer Manager sein und einer Gruppe vorschreiben, was sie zu tun hat. Aber die Sex Pistols ließen sich dann nicht so einfach herumkommandieren. Eine Generation nach Duffy Power wollte sich niemand mehr so behandeln lassen. Punk hat seine volle Dynamik in England entfaltet. Warum nicht in New York im Anschluss an Warhol? In New York fing es früher an. Es gab Richard Hell, Television oder die Ramones. Die Leute, die sich in England für Punk interessierten, waren im Durchschnitt etwa zehn Jahre jünger. In England ging es weniger um Poesie: Richard Hell war beispielsweise sehr von Literatur beeinflusst. Rimbaud, solche Sachen. Oder nimm den Television-Song »See No Evil« mit der Zeile »I understand all destructive urges«. Was für ein himmelweiter Unterschied zu den Sex Pistols und »Anarchy in the UK« und »get pissed, destroy!« In New York sang man distanziert, man beobachtete, während sich englische Bands in ihre Texte regelrecht reinsteigerten. Aber vor allem hat England eine kleine und zentralisierte Popökonomie. Ein Hype erfasst sofort das ganze Land, und es geht sehr schnell. So etwas wie mit Punk in England könnte in New York - und in den restlichen USA - gar nicht passieren. Außerdem gab es in England 1976/77 eine sehr lebendige Musikpresse. Man landete auf dem Cover eines Magazins, und das ging sofort landesweit zu den Kids hinaus. Wenn eine Band bei »Top of the Pops« im Fernsehen auftritt, wird das durchschnittlich von ein Fünftel der Bevölkerung verfolgt. Pop in England ist Volkskultur, sie wird sehr schnell weitergetragen, dann geht es in die Charts und in die überregionalen Mainstream-Medien. US-Punk war dagegen kein landesweites Phänomen. Das änderte sich erst 1991 mit Nirvana, also 14 oder 15 Jahre, nachdem Punk in England begonnen hatte. In Ihrem Buch kommen Sie als teilnehmende Person nicht unmittelbar vor, obwohl Sie als Journalist und Zeitzeuge dabei waren. Warum haben Sie nicht einfach eine autobiographische Erzählung verfasst? Ich glaube nicht an den Sinn und Zweck von Bekenntnisliteratur und hätte eine Autobiographie langweilig gefunden. Ich habe stattdessen sehr viele Beteiligte von damals interviewt. Ihre Aussagen machen den Löwenanteil von England's Dreaming aus. Zu einem gewissen Teil ist es also ihr Buch. Ich möchte ihre Geschichte erzählen. Es ist einfach interessanter, über die Pistols zu erzählen als über mich. Deswegen ist nicht viel »von mir« in dem Buch. Punk trat aus der Subkultur und wurde ein Phänomen der Massenmedien. In diesem Moment wurde die Bewegung auf Eigenschaften wie dumm, hässlich oder gewalttätig festgelegt. Bei allen Pop- und Modestilen kommt irgendwann der Zeitpunkt, bei dem das Besondere und Mysteriöse von den Massenmedien aufgesogen, verzerrt und definiert wird. Bei Punk ging es rasend schnell. Die frühen Punk-Konzerte, die ich miterlebt habe, waren hingegen sehr dramatisch und aufregend. Das Publikum verstand die Bands nicht. Es hasste die Bands auf der Bühne. Es kam zu Gewalttätigkeiten, aber nur zwischen Bands und Publikum. Punk spielte mit hohem Einsatz, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Dann wurde er zu einem interessanten Beispiel, wie die Massenmedien die Ideen einer Avantgarde-Bewegung verhackstücken können. Die englische Gesellschaft war in den Siebzigern auch politisch sehr polarisiert. Der Faschismus war ein Thema, die National Front agierte offensiv. 1976 brachen beim Notting Hill Carnival Krawalle aus. Vor allem schwarze LondonerInnen rebellierten gegen die Diskriminierung durch die englische Gesellschaft. Und dann sprach Punk den verlogenen Umgang Englands mit seiner Vergangenheit politisch offen aus. Wenn man 1975 jung war, konnte es einem nicht verborgen bleiben, dass Britannien eigentlich den Krieg verloren hatte. Das Land war in einem erbärmlichen Zustand. Aber dennoch sprachen die Massenmedien und unsere Väter von nichts anderem als dem Sieg im Zweiten Weltkrieg und dem glorreichen Empire. Diese Nostalgie war schrecklich. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht stolz auf den Kampf gegen Hitler war. Aber die Darstellung des Ganzen war verlogen. Punk war da doch viel realistischer: »Give me World War 3!« Nimm dagegen die Euro 2000: Die Hooligans berufen sich bis heute auf Britanniens glorreiche Vergangenheit. Wie waren die Reaktionen, als Sie Ihr Buch 1992 in England veröffentlichten? Als ich es schrieb, wollte zunächst niemand davon hören. Die Leute, die mit Punk zu tun hatten, reagierten genervt und sagten: »Nein, nicht schon wieder, wie langweilig.« Aber ich denke, neben anderen wie dem von Legs McNeill über Punk in New York (Please Kill me) oder Edie von Jean Stein und George Plimpton (über die Factory-Ikone Edie Sedgwick) hat England's Dreaming sicherlich seinen Platz gefunden. Ich habe um die Interviews herumgeschrieben, sie stark redigiert wiedergegeben und vom Erzähltext abgesetzt montiert. Legs McNeill hatte mit seinem Buch offenbar anderes im Sinn. Er reiht so viele Sex- und Drogen-Anekdoten wie möglich aneinander. Das wollte ich unbedingt vermeiden. Mir wurden sehr bizarre Geschichten erzählt, die ich aber für das Buch nicht verwendet habe. Ich möchte nicht sleazy sein. * Jon Savage ist 47 Jahre alt und lebt in Manchester. Julian Weber ist Kulturredakteur der schweizer Wochenzeitung WoZ. Er traf Jon Savage im März in Manchester.
Julian Weber
Julian Weber: Jon Savage über Punk und Duffy Power
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webredaktion
02.05.2001
https://jungle.world//artikel/2001/18/man-muss-nicht-reginald-blocks-heissen
Abokampagne
Diktatoren, Propheten, Visionäre. Wer geht nach vorn? Was ist wichtig? Das große Durcheinander zu Beginn der Woche. Es gibt Konferenzen, Debatten, den Masterplan und die Produktion. Claudia Roth? Ist gekippt! Hitler geschoben. Bush kriegt mehr Platz. Den Jihad verlängern! Tausend Themen. 32 Seiten. Aber nur eine Jungle World.
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webredaktion
25.10.2006
https://jungle.world//artikel/2006/43/abokampagne
Jungle World #27/2011 - Akropolis now!
Im dschungel läuft: Rockaway Beach. Umsonst & draußen: Wo das Festival »Make Music New York« am schönsten ist.
Krise und Protest in Griechenland 07.07.2011
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2011/27
tom combo
Feierabend. Der Gebäudekomplex ist riesig und menschenleer. Jetzt beginnt die Arbeit des Wächters. Tom Combo hat ihn auf seiner Tour begleitet
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https://jungle.world//autorin/tom-combo
Der Freidenker
Wenn ein Politiker sagt, man werde doch mal etwas sagen, fragen, prüfen oder gar kritisieren dürfen, so handelt es sich in der Regel um einen ganz besonderen Unsympathen und bei seinem Anliegen um ein außergewöhnlich reaktionäres. Peter Gauweiler ist einer von jenen, die immer gern nicht existierende Tabus brechen. Nur sind die besten Tage des Rechtsaußen der CSU vorbei. Lange ist es her, dass er zum Beispiel dachte und aussprach, man müsse Junkies zwangstherapieren und alle, die ihren Fuß auf bayerischen Boden zu setzen gedenken, einem Aids-Test unterziehen. Des Weiteren sei Bayern kein Einwanderungsland, die Wehrmachtsausstellung aber der Versuch eines moralischen Vernichtungsfeldzuges gegen das deutsche Volk. Der »schwarze Peter«, wie er sich gern selbst nennt, ist inzwischen 55 Jahre alt und sitzt – hätten Sie es gewusst? – für die CSU im Bundestag, nachdem er sich bis zum Jahr 2002 stets in München getummelt und dort vom Stadtrat zum Staatssekretär, Landtagsabgeordneten und Minister hochgearbeitet hat. Es ist ruhig geworden um ihn. Sich als Fan von Uschi Glas zu outen, gegen den Irak-Krieg, für eine Direktwahl des Bundespräsidenten, gegen die neue Rechtschreibung, aber für ein größeres Gewicht der deutschen Sprache in der Europäischen Union zu sein, ist weder originell, noch Aufsehen erregend. Seine Ausländerhetze wollen möglicherweise sogar die Parteikolleginnen und -kollegen nicht mehr hören. Als er sich in der vorigen Woche erneut in der Bild-Zeitung »gegen Denkverbote« aussprach, schaffte er es lediglich, die Republik zum Schmunzeln zu bringen. Er schlug vor, die europäische Währungsunion rückgängig zu machen und die D-Mark wieder einzuführen. »Mit dem Aufweichen des Stabilitätspakts ist die Geschäftsgrundlage des Euro brüchig geworden«, und eine »Weichwährung« tauge nun einmal nichts. In seinem Auftrag soll nun der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags prüfen, wie die Währungsumstellung vonstatten gehen könnte. Das wird ja wohl mal möglich sein. regina stötzel
Regina Stötzel
Regina Stötzel:
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webredaktion
30.03.2005
https://jungle.world//artikel/2005/13/der-freidenker
klaus smit
Sechs Jahre sind vergangen, seit Robert Wyatt seine letzte Platte, "Dondestan", veröffentlicht hat. Mit "Shleep" (Hannibal/Rykodisc/RTD) legt Wyatt nun elf neue Songs vor. Waren die Texte auf den bisherigen Platten häufig geprägt von offenen Bekenntnissen zum Kommunismus, dreht sich "Shleep" um das Thema Schlaf. Mit dabei waren seine Frau Alfie Benge, Brian Eno, Phil Manzanera, Philip Catherine, Evan Parker, Annie Whitehead und Paul Weller.
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https://jungle.world//autorin/klaus-smit
Hoher Einsatz
»Stunde der Wahrheit« nennt US-Präsident George Bush in seiner Kriegserklärung an den Irak das Szenario, das nun folgen soll. Den Blick der Falken auf die geopolitischen Perspektiven der USA wendet Immanuel Wallerstein gegen sie selbst und umreißt damit die Dynamik und die möglichen Konsequenzen des »präemptiven« Krieges. Die USA stecken in Schwierigkeiten. George Walker Bush spielt mit hohem Einsatz aus einer schwachen Position. Etwa vor einem Jahr beschloss er den Krieg gegen den Irak. Die Demonstration überwältigender militärischer Überlegenheit sollte zwei Hauptziele verfolgen: Erstens würden alle potenziellen Atomwaffenbesitzer eingeschüchtert werden, so dass sie entsprechende Entwicklungsprogramme stoppten; zweitens ging es darum, die europäischen Vorstellungen von einer selbstbestimmten Rolle im Weltsystem im Keim zu ersticken. Rascher Sieg. Bis jetzt ist Bush grandios gescheitert. Nordkorea, der Iran und vielleicht auch andere haben ihre Atomprogramme forciert. Frankreich und Deutschland haben gezeigt, was selbstbestimmt bedeutet. Und die USA kriegen keines der sechs Länder aus der Dritten Welt im Sicherheitsrat dazu, einer zweiten Irakresolution zuzustimmen. Wie ein Spielsüchtiger setzt Bush deshalb alles auf eine Karte. Er hat den Krieg erklärt und will einen raschen Sieg. Er glaubt, dass die USA militärisch ein solches Ergebnis erzielen können, das die Atomwaffenaspiranten und die Europäer reuig auf den rechten Weg zurückführt, damit sie zukünftig US-Entscheidungen akzeptieren. Zwei mögliche Ergebnisse zeichnen sich ab: Ersteres wäre von Bush gewollt und erwartet. Aber wie wahrscheinlich ist die rasche Kapitulation des Irak? Vom Pentagon ist zu hören, man habe geeignete Waffen. Zahlreiche Ex-Generäle äußerten sich skeptisch. Einen raschen und totalen Sieg halte ich für unwahrscheinlich. Die verzweifelte Entschlossenheit der irakischen Führung kombiniert mit nationalistischen Aufwallungen sowie dem angekündigten Unwillen der Kurden, Saddam zu bekämpfen (nicht, weil sie ihn nicht hassten, sondern weil sie den Amerikanern bezogen auf ihn zutiefst misstrauen), werden den USA enorme Schwierigkeiten bereiten, den Krieg innerhalb von Wochen zu beenden. Er kann Monate dauern, und wenn dem so ist, wer könnte dann vorhersagen, wie sich die Stimmung in der US-Gesellschaft entwickeln wird? Szenario Nummer eins. Würden die USA rasch gewinnen, käme Bush ziemlich ungeschoren aus der Situation: nicht als Sieger, aber auch nicht als Verlierer. Der Sieg würde die geopolitische Situation praktisch unverändert lassen. Denn zunächst stellt sich die Frage, was im Irak danach passieren würde. Es ist unklar, ob es darüber in der US-Regierung genaue Vorstellungen gibt. Wir wissen nur, dass die unterschiedlichen Interessen, die ins Spiel kommen, vollkommen gegensätzlich sind. Das Szenario riecht nach Konfusion. Um sich Einfluss auf die Nachkriegsentscheidungen zu sichern, müssten sich die USA über längere Zeit mit Truppen und sehr viel Geld engagieren. Ein Blick auf die ökonomische und innenpolitische Situation in den USA zeigt, dass es der Bush-Regierung sehr schwer fallen würde, längerfristig mit Truppen Präsenz zu zeigen, und noch schwerer, das Geld aufzutreiben, das man bräuchte, um politisch mitzuspielen. Status quo ante bellum. Hinzu käme, dass alle anderen Probleme überall auf der Welt bestehen blieben. Es wäre wenig wahrscheinlich, dass auf dem Weg zur Schaffung eines palästinensischen Nationalstaats Fortschritte gemacht würden. Die israelische Regierung sähe einen Sieg der Amerikaner als Bestätigung ihrer harten Linie und würde vielleicht noch härter agieren. In der arabischen Welt würde die Wut wachsen, wenn das möglich ist. Das iranische Atomwaffenprogramm würde sicherlich nicht eingestellt werden. Eher wird der Iran in der Region mehr Einfluss wollen, wenn Saddam Hussein erst einmal aus dem Weg geräumt ist. Nordkorea würde weiter und mehr provozieren; Südkorea würden die amerikanischen Verbündeten mit ihrem Hang zu Militäraktionen beunruhigen. Frankreich könnte auf lange Sicht profitieren. Ein schneller militärischer Sieg der USA würde den geopolitischen Status quo bewahren. Das ist mit Sicherheit nicht das Ergebnis, das die Falken im Weißen Haus wünschen. Szenario Nummer zwei. Angenommen, der militärische Sieg käme nicht rasch. Dann wäre das Unternehmen ein geopolitisches Desaster. Ein Inferno bräche aus, und die USA hätten auf ihr Schicksal weniger Einfluss als etwa Italien, also eigentlich keinen. Im Irak wird zunächst folgendes passieren: Saddam würde als Held des irakischen Widerstands dastehen, und er weiß so einen Eindruck auszubeuten. Der Iran und die Türkei werden Truppen in den kurdischen Norden entsenden, was vermutlich mit einem Krieg zwischen beiden Ländern enden wird. Die Kurden könnten sich kurzfristig mit dem Iran verbünden. In diesem Fall werden die schiitischen Gruppen im Süd-irak zum US-Militäreinsatz auf Distanz gehen. Die Saudis könnten sich als Vermittler anbieten, doch sind sie auf beiden Seiten unwillkommen. Im Westen der Region wird die Hisbollah vermutlich Israelis angreifen, Israel wird den Angriff erwidern und möglicherweise versuchen, den Südlibanon zu besetzen. Wird sich Syrien dann einschalten, um die Hisbollah oder, allgemein gesprochen, seinen Einfluss im Libanon zu retten? Gut möglich, doch in dem Fall wird die israelische Luftwaffe Damaskus bombardieren, möglicherweise Nuklearwaffen einsetzen. Werden die Ägypter sich dann ruhig verhalten? Und da gibt es ja noch Ussama bin Laden, der zweifellos das tun wird, was er am liebsten tut. Blair in Den Haag. Europa? Wahrscheinlich wird es eine größere Revolte in der englischen Labour Party geben, die zur Spaltung der Partei führt. Tony Blair könnte dann seine Haut retten, indem er eine Notstandsregierung mit den Tories bildet. Er wäre immer noch Premierminister, der Druck in Richtung Neuwahlen würde immer größer. Diese könnte Blair haushoch verlieren. Und dann gab es da noch eine Nebensächlichkeit. Seine Berater haben Blair vor einer Beteiligung britischer Truppen am Angriff auf den Irak ohne explizites UN-Mandat gewarnt: Er könnte vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden. José Maria Aznars politische Aussichten in Spanien sehen ähnlich zweifelhaft aus, angesichts der Opposition gegen Spaniens Kurs selbst in seiner eigenen Partei. Berlusconi und die Osteuropäer werden langsam kalte Füße bekommen. Zwischenzeitlich wird man sich in Lateinamerika von der panamerikanischen Freihandelszone verabschieden. Lula wird sich stattdessen für die Wiederbelebung des Mercosur als gemeinsamer südamerikanischer Handels- und Währungsstruktur stark machen. Vincente Fox in Mexiko wird tief in Schwierigkeiten stecken. In Südostasien könnten die beiden größten Nationalstaaten mit muslimischer Bevölkerung, Indonesien und Malaysia, deren Regierungskurs gegenwärtig US-freundlich ist, versucht sein, Europa nachzueifern und eine Region zu schaffen, die auf selbstbestimmte Politik pocht. Auf den Philippinen wird der Druck auf die Regierung wachsen, die US-Truppen nach Hause zu schicken. Und China wird vermutlich Japan erzählen, dass es besser ist, die politische Bindung an die USA zu lockern, wenn das Land eine ökonomische Zukunft in der Region haben will. Wo wird das Bush-Regime im Frühjahr 2004 stehen? Es wird sich in den USA einer schnell wachsenden Antikriegsbewegung gegenüber sehen, die die Demokraten dazu bringen kann, tatsächlich in Opposition zu Bushs Art von Weltpolitik zu gehen. Dann könnten sie sogar die Wahlen gewinnen. Wenn alles so kommt, hätte Bush tatsächlich sein Ziel erreicht: einen Regimewechsel – in Großbritannien, Spanien und den USA. Die USA würde niemand mehr als unbesiegbare Supermacht ansehen. Fazit: Wenn Bush siegt, erhält das den geopolitischen Status quo, was viel weniger ist, als er will. Wenn er verliert, verliert er alles. Die Chancen sind nicht sehr vielversprechend. Für Historiker ist festzuhalten, dass es nach dem 11. September für die USA keine Notwendigkeit gab, sich in diese unmögliche Lage zu begeben. Immanuel Wallerstein ist Historiker am Fernand-Braudel-Center und lehrt an der Yale University. Seine Kommentare aktueller politischer Ereignisse aus der Perspektive der Weltsystemtheorie finden sich unter fbc.binghampton.edu/commentr.htm. Copyright 2003 Immanuel Wallerstein http://fbc.binghamton.edu/commentr.htm Aus dem Englischen von Thomas Atzert.
immanuel wallerstein
immanuel wallerstein:
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webredaktion
02.04.2003
https://jungle.world//artikel/2003/14/hoher-einsatz
GM: Unnützes Wissen und signierte Bälle
Gastspiel von Lokomotive Leipzig bei Lichtenberg 47 im Zoschke-Stadion Das erste Gastspiel von Lokomotive Leipzig bei Lichtenberg 47 hatte alles zu bieten, was Regionalliga-Freunde ins Stadion zieht. Matchday im Zoschke, dem inoffiziellen Wohnzimmer des „Picke.Grätsche.Aus”-Blogs! Bislang herrscht bei den Autoren Einigkeit, dass dieses hübsche Stadion, nur drei U-Bahnstationen vom Frankfurter Tor entfernt, Garant für einen wunderbaren Fußballnachmittag mitten im Kiez ist. Das Stadion ist ein aus Mauern geformtes Rechteck mit Zuschauerrängen, die direkt an die Außenlinien reichen, sodass die Fans mitten im Geschehen sind und alle Anfeuerungen und Flüche auf dem Platz verstehen können. Zum Beispiel die, die Lichtenbergs Torhüter Niklas Wollert seinen Vorderleuten zubrüllt. Bei schönstem Wetter machten sich die Mannschaften auf dem Rasen warm und ließen dem Stadionsprecher Zeit, die Leipziger und ganz besonders herzlich deren Fans zu begrüßen, nicht ohne festzustellen, dass die meisten von ihnen das erste Mal im Zoschke sein dürften. Schließlich war die Ansetzung in der Vorsaison „aus Gründen“ ausgefallen. Und so gab er den Zuschauern gleich noch ein paar „komplett unnütze Fußballfakten“ mit. Nämlich, dass das Hans-Zoschke- Stadion 1952 erbaut und am 14. September mit dem Namen „Stadion an der Normannenstraße“ eingeweiht wurde. An diesem Tag wurde auch gleich der bis heute währende Zuschauerrekord aufgestellt. 18.000 sahen damals das Finale im FDGB-Pokal zwischen dem SV Volkspolizei Dresden und der BSG Einheit Pankow. Die Truppe der Dresdner Volkspolizei, dem Vorgängerverein der heutigen SG Dynamo Dresden, gewann das Spiel mit 3:0. Das Zoschke sollte ursprünglich für einen Erweiterungsbau der angrenzenden Stasizentrale abgerissen werden. Zum Glück wurden die Pläne aus Geldmangel verschoben – auf die 1990er Jahre. Aus bekannten Gründen kam es also gar nicht mehr dazu. Ein absoluter Glückfall, wie jeder bestätigen kann, der dieses Stadion, das laut Wikipedia nach der Alten Försterei das zweitgrößte reine Fußballstadion Berlins ist, schon einmal besucht hat. Nach so vielen interessanten historischen Infos kam gleich das nächste Highlight. Die Mannschaften liefen ein und die Lichtenberger Spieler schossen elf mit Autogrammen beschriftete Bälle ins Publikum, wo sich schon begeisterte Kinderhände nach ihnen ausstreckten. Als die rot gekleideten 47er auch noch mit der zweiten Aktion des Spiels in Führung gingen, war der Lichtenberger Sonntagnachmittag perfekt. Aus dem zur Hälfte gefüllten Gästeblock kamen nun auch erste Gesänge der Ultras, die mit dem Ordnen ihrer Fahnen und Doppelhalter fertig geworden waren. Der Stadionsprecher sagte ein Mal durch, dass es in Berlin nicht erlaubt ist, zu singen. Der Anhang von Lok ignorierte die Ansage konsequent, immerhin setzten sie sich aber nach zehn Minuten Masken auf, vielleicht als Kompromissangebot. So blieb die Stimmung auch dann noch sehr entspannt und friedlich, als Leipzigs Torjäger Djamal Ziane nach einem harten Foul die rote Karte sah und sich selbst einigermaßen geschockt auf die leer gehaltenen Ränge der Gegengerade setzte. Die Beobachtung der Kollegen beim Spiel der 47er gegen Altglienicke, über das wir berichteten, dass viele Fans der verschiedenen Ostberliner Vereine gerne zu Lichtenberg kommen, kann ich nur insofern bestätigen, als eine sehr große Zahl an Besuchern mit diversen Union-Utensilien zu sehen waren und, wenn ich es richtig gesehen habe, ein einzelner mit weinrotem Dynamo-Mundschutz. In der Pause war auch der sympathische ältere Herr wieder am Start, der die wunderbaren Anstecknadeln unzähliger Vereine anbietet. „Picke.Grätsche.Aus” hatte ihn auch schon im Jahnsportpark getroffen. Das Spiel bot vor allem in der zweiten Hälfte noch jede Menge Spannung. Lok erkämpfte in Unterzahl den Ausgleich, Lichtenberg daraufhin einen Zwei-Tore-Vorsprung. Da die Berliner aber weitere Hundertprozentige nicht verwerteten und die Leipziger zum Anschluss kamen, blieb es bis zur letzten Aktion extrem eng, als Lok eine riesige Chance zum Ausgleich vergab. Am Ende hieß es es 3:2. So konnten am Ende irgendwie alle zufrieden sein. Die Leipziger, die mit der Tabellenspitze ohnehin nichts mehr zu tun haben mit ihrer starken Leistung in Unterzahl, die Lichtenberger mit drei Punkten und alle mit diesem perfekten Fußballnachmittag, aus dem sie wieder neues unnützes Wissen oder sogar einen Ball mitnehmen konnten. Mehr Bilder auf dem Instagram-Account von „Picke.Grätsche.Aus”
GM
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Picke.Grätsche.Aus.
https://jungle.world//blog/pickegraetscheaus/2020/10/unnuetzes-wissen-und-signierte-baelle
christian dornbusch und andreas speit
Wird ihr die Verharmlosung des Judenmords vorgeworfen, meint der Holocaust für die Dark-Wave-Band »Death In June« im Zweifelsfall eine »vulkanische Landschaft«. Das Darkwave-Magazin Black lobt neuerdings den rumänischen Faschisten Corneliu Codreanu und übt sich in rechten Statements.
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https://jungle.world//autorin/christian-dornbusch-und-andreas-speit
Bombenstimmung in São Paulo
Eine weltweite Finanzkrise ist nach Meinung von Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer derzeit unwahrscheinlich. Dagegen spreche schon der robuste Zustand der Wirtschaften in Europa und der USA. Obwohl das "weltwirtschaftliche Umfeld" schwierig sei, könne daher von einer "fundamentalen Instabilität" keine Rede sein. Welche "Schwierigkeiten" das "Umfeld" derzeit hat, zeigte sich vergangene Woche z.B. in Brasilien. Nachdem dort ein Sparprogramm der Regierung am Widerstand des Kongresses gescheitert war, fielen die Aktienkurse um fast neun Prozent. Die Nachricht von der Abstimmungsniederlage sei "wie eine Bombe" an der Börse in S‹o Paulo eingeschlagen, berichtete ein Händler. Die Anleger würden zunehmend nervös. Die Werte an den Börsen in Argentinien, Chile, Venezuela und Mexiko verzeichneten ebenfalls erhebliche Einbußen. Das Sparpaket war Bedingung für einen 40 Milliarden-Dollar-Kredit, den das Land vom Internationalen Währungsfonds bewilligt bekommen hat. Damit sollte die brasilianische Wirtschaft stabilisiert und eine Rezession in ganz Lateinamerika mit gravierenden Folgen für die Weltwirtschaft verhindert werden. Auch ein anderes "Umfeld" gestaltet sich zunehmend schwieriger. Der Bankier George Soros erklärte in Washington, daß die Situation in Rußland mittlerweile völlig "außer Kontrolle" sei. Eine Hilfe von außen sei seiner Ansicht nach derzeit nicht mehr möglich.
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webredaktion
09.12.1998
https://jungle.world//artikel/1998/50/bombenstimmung-sao-paulo
Das Rädchen überprüft, ob das Rad sich noch dreht
Während meiner täglichen Fahrt zur Arbeit durch die Straßen von New Delhi kommt mir immer wieder ein Bild in den Sinn, aufgenommen am 11. September unmittelbar nach der Zerstörung des World Trade Center. Ein Mann, allein auf einer Parkbank, mitten in dem wie Konfetti wirkenden Niederschlag des Alptraums, schaut, von Asche bedeckt, auf den geöffneten Bildschirm seines Laptop: auf der Suche nach Daten, die den Einsturz der Türme überlebt haben könnten. Dieser Mann, in den Fabriken der immateriellen Arbeit ein Helot, der Überlebende inmitten der Asche und sein Laptop sind für mich zum Bild für das alltägliche Zusammenbrechen der uns umgebenden Wirklichkeit geworden. Während um ihn das Leben in Stücke fällt, überprüft er noch, ob seine Maschine auch ordentlich bootet. Akkumulation der Unterwerfung Wäre ich an der Stelle jenes Mannes gewesen, in einem vermeintlich unbeobachteten Moment während eines Luftangriffs, der sich in dem Krieg, den die Regierenden uns in ihrer Weisheit schenkten, als Episode herausstellen könnte, ich hätte vielleicht das gleiche getan. Die Maschine und der Mann hängen an jenem Dispositiv, über das die Macht und die Produktion koordiniert und aufrechterhalten werden. Das Rädchen überprüft, ob das Rad sich noch dreht, auch wenn Türme einstürzen oder Bomben und Lebensmittelpakete vom Himmel fallen. So war es nur eine Woche nach dem 11. September, als ein Wirtschaftsmagazin im Fernsehen aufgeregte Lokalmatadoren indischer Dotcoms präsentierte, die sich in Erwartung des Konjunkturaufschwungs im Datensicherungsgeschäft sonnten, nun, da transnationale Konzerne einen größeren Teil ihrer Finanzabwicklung in die virtuellen Sweatshops »unserer« Vorstädte verlagerten. Krieg, Kapitalismus, Business as usual. Das Empire findet in der Akkumulation solch winziger Momente Aufschub vor der Unbeständigkeit des Glücks. Seine Energien zieht das Empire gleichwohl aus der Biomacht, aus der lebendigen Arbeitskraft des globalen Arbeitstags. In unseren Köpfen finden sich die Fabriksirenen, die Stechuhren und die Werksausweise, das Empire lässt uns auf der Stelle treten, weist uns unseren Platz zu und richtet unsere Ansprüche aus, alles im Dienst des Kapitals. Wichtiger als die Schicksale von Staaten, die vergehen und neu entstehen, und erst recht wichtiger als die von allen Seiten drängende Rhetorik des Krieges bleibt die Verfügungsgewalt über die Bedingungen des Lebens in Zeiten permanenter Krise. Jeder Tag schwächt den Widerstand gegen die Unterstellung, der Terror, der Kapitalismus heißt, sei der ewig währende Stand der Dinge. Das Alltagsleben findet sich verschoben, es spielt sich auf der Bühne des Fronttheaters ab, und da scheint es wenige Aufrufe zur Desertion zu geben. Das unaufhaltsame Empire, Triumph des Empire? Aufruf zur Unruhe. Das Ende des römischen Imperiums kennzeichnete ein ähnliches Vertrauen auf den Fortbestand der Macht. Es war Edward Gibbon, der viele Jahrhunderte später die Verletzlichkeit dieser dem Anschein nach absoluten Macht beschrieb, ihre Verwundbarkeit durch die Unzufriedenheit der Menge wie durch innere Widersprüche. Gibbon schrieb in einer Zeit, als die Macht einmal mehr in ihren Grundfesten erschüttert war. In der heutigen Welt sieht es beinahe danach aus, als ob das, was als sicher gelten kann, einzig das Zusammenwirken von staatlichem Terror und terroristischen Freischärlern wäre, so sicher wie die anhaltende Unterdrückung oder wie die befohlene Austerität und die aufgenötigten Opfer, die die Ökonomie des globalen Kriegs mit sich bringen. In diesen Zeiten bedarf es der Kombination projektiver Phantasie mit der Bereitschaft und dem Willen, den Teufel beim Schwanz zu packen und die Macht im Empire heute in ihrer Zusammensetzung zu zeigen. Nur so lässt sich skeptisch und weitsichtig zugleich zur Desertion aufrufen. Empire (nicht die Wirklichkeit oder die metaphorische Rede, sondern das Buch von Michael Hardt und Antonio Negri, das diese Wirklichkeit beschreibt und diese Metapher aufnimmt) ist ein solcher Aufruf zur Desertion. Wir sollten dem Aufruf zur Unruhe folgen und uns von dem Text, von seinen verschiedenen Lektüren überall auf der Welt provozieren lassen, Verbindungen und Verknüpfungen materiellen Widerstands herzustellen. Das könnte die Akkumulation der Unterwerfung brechen, die es dem Empire erlaubt, gegen die Unbeständigkeit des Glücks zu bestehen. Imperialismus und Identität Wenn Hardt und Negri den Ausdruck Empire verwenden, um die heutige globale Realität zu beschreiben, dann um den begrifflichen Ladenhüter »Imperialismus« loszuwerden, den selbstgewisse Linke im Trikont zur Schau stellen: Denn wo wären die Befreier der unterdrückten Völker und die Gründer all unserer Nationen ohne Imperialismus? Was würde Fraktionen des globalisierten Kapitals in die Lage versetzen, sich mit lokalen Eliten zu verständigen, könnten sie im Weltmaßstab nicht ganz diskret eine Fiktion nationaler Identität gegen die andere ausspielen? Wie anders würde das Regime der Firmen, Märkte und Kartelle funktionieren? Wie anders könnte das mobile Kapital Profite erzielen als dadurch, gegen die Produzentinnen und Produzenten seinen Schnitt zu machen, gegen Multitudes, die in Schach gehalten werden von Passkontrollen, Armeen, Grenzposten und Migrationsgesetzen? Wie könnte das Kapital herrschen, wenn nicht dadurch, dass es spaltet und diese Spaltungen durch Flaggen dekoriert, durch die Insignien der nationalen Identität, selbst wenn diese Identität antiimperialistisch, trikontinental, als eine der nationalen Befreiung auftritt? Während das Kapital global agiert, beschränken nationalstaatliche Grenzen die Mobilität der lebendigen Arbeit. Der Fundamentalismus und andere Formen militanter Identität verstärken den Zwangsapparat bestehender Nationalstaaten oder schaffen ihm neue Formen. Der Staat ist, wie Hardt und Negri prägnant schreiben, »das vergiftete Geschenk der nationalen Befreiung«. Er ist die Voraussetzung lokaler Kontroll- und Disziplinarregimes weltweit, die das Verhalten der Arbeiterinnen und Arbeiter mit dem nationalen Interesse vereinbar machen. Den globalen Interessen des Kapitals dient nichts besser als der Staat, der innerhalb seines umgrenzten Territoriums die Opferbereitschaft seiner Bürgerinnen und Bürger mobilisieren kann. Mit jeder Nationalhymne singen wir der toten Arbeit ein Loblied. Das Empire ist der Apparat der globalen Herrschaft, in ihm wird Biomacht ausgeübt, die über den Nationalstaat hinausgeht und sich zugleich in Disziplinarregimes durchsetzt, die den gleichen nationalen oder protonationalen Einheiten angehören, die das Empire überflüssig werden lassen. Sein Treibstoff ist die flüssige und immaterielle Arbeit der Menge, der Multitudes, kanalisiert in den weitläufigen Netzwerken der Informations- und Kommunikationsmedien. So angetrieben ist die kapitalistische Akkumulation in der Lage, flexibel und intensiv nicht nur die Welt, sondern alle Verhältnisse nach ihrem Bild zu formen. Das ist der Alp, der die Welt heute drückt, der Kapitalismus, das Schreckgespenst der toten Arbeit, die schwer auf dem Gehirn der Lebenden lastet. Das Glück, Kommunist zu sein. Die Überwindung nationaler Einteilungen durch das globale Kapital ist jedoch zugleich die Grundlage des Widerstands. Es gibt, wie Hardt und Negri schreiben, im Empire »kein Außen«. Die Bedingungen des Widerstands sind selbst global, das Globale ist im Empire der einzige Schauplatz. So können sich wirksame transnationale Solidaritäten der Menge, der Produzentinnen und Produzenten, entwickeln, welche die einzige Grundlage des Empire bilden. Die Maschinen der neuen Weltökonomie laufen mit dem Treibstoff der immateriellen Arbeit. Sie produziert die Informationsinfrastruktur, die Kommunikationsressourcen und den affektiven Kitt, der den globalen Kapitalismus aufrechterhält. Zu diesem Netzwerk gehören die Dienstleistungen, die Informationstechnologien, die Medien und die Unterhaltungsindustrien. Von ihnen hängen die weitläufigen Produktionsapparate und ihre Reproduzierbarkeit tagtäglich ab. Die im globalen, zerstreuten und digitalisierten Produktionsprozess schuftende Arbeitskraft ist international vernetzt. Wenn es ihr gelingt, ihren Widerstand entlang der Linien zu organisieren, denen sie heute international produzierend folgen muss, so kann sie das Empire mitten ins Herz treffen. Aus diesem Grund kann es keine ausschließlich lokalen Kämpfe mehr geben. Jede Forderung sich anzueignen, was einem genommen wurde, lässt sich letztlich nur noch im globalen Maßstab artikulieren. Die permanent bedrohte Solidarität der Multitudes entdeckt sich in einer nomadischen, einer mestizischen Ethik, die die Produktion der Brand Identities von Kultur und Zivilisation unterläuft. Sie braucht und duldet keine Repräsentation, keine politischen Führer, die im Namen eines Volkes handelten, keine Nation, in der ein Volk sich fände, kein Militär und keine Miliz, ein Volk zu verteidigen, keine Parteien, ein Volk zu mobilisieren, keine Kultur, die als Ausdruck der geistigen Kräfte eines Volkes gälte. Die Menge steht gegen das Volk, sie setzt den Akten der Repräsentation Momente der Produktion und Konstitution neuer Formen der Macht entgegen. Die späte Anerkennung dieser Tatsache mag im Lager der Anhänger des Multikulturalismus ein wenig Herzstechen verursachen. Multikulturalismus gilt ihnen als Möglichkeit des Widerstands in der Postmoderne, obwohl er doch nichts weiter ist als Repräsentation unter den Bedingungen des Spektakels im kapitalistisch gefesselten Alltagsleben. Doch geht es für die Menge darum, die schlichten Bedingungen ihrer Existenz zu entdecken. Indem sie die Netzwerke der Unterwerfung, der Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige identifizieren, kommen Negri und Hardt zu zwei Forderungen, die ebenso einfach wie radikal sind. Wenn das Kapital von seiner globalen Expansion profitiert, ist es nur legitim, wenn die lebendige Arbeit sich weltweit frei bewegt; und es muss für jede Einzelne und jeden Einzelnen global ein gesellschaftliches Einkommen geben, als Voraussetzung der Erhaltung der Biomacht. Diese Forderungen sind nicht utopisch, sie beziehen sich nicht auf unerreichbare Bedingungen, sondern reflektieren nüchtern die unmittelbaren Existenzbedingungen, die Wirklichkeit der Arbeit in der heutigen Welt. Die Forderungen zielen nicht auf eine reaktionäre Rücknahme der Globalisierung, die einen Großteil der linken Rhetorik zu dieser Frage bisher beherrscht, ein Echo des Flirts der Linken mit den Tragödien nationaler Befreiung. Sondern mit diesen Forderungen wird darauf insistiert, dass die Globalisierung auf die Multitude zurückgeht und nicht auf das Diktat transnationaler Konzerne und des militärisch-industriellen Komplexes. Erkennt man das Hier und Jetzt, die Bedeutung der Globalisierung, so lässt sich ein Schritt weiter gehen. Dann lassen sich die Vorschläge, die Marx und Engels an die internationale Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts richteten, in die materielle Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts übersetzen. In dieser Erkenntnis, die in sich die Anlage trägt, das Empire zu aufzulösen, liegt, was Negri und Hardt »die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein« nennen. Wir, die Überlebenden inmitten der Asche, die der Zusammenbruch der uns umgebenden Wirklichkeit hinterlässt, brauchen heute mehr denn je diese Leichtigkeit und dieses Glück. Dann könnten wir aufhören, das Rädchen zu sein, das überprüft, ob das Rad sich noch dreht. Dann könnten wir erleben, wie die Unbeständigkeit des Glücks sich zu unseren Gunsten wendet, und das Empire sich in ein bescheidenes Grab senkt. Aus dem Englischen von Thomas Atzert. Shuddhabrata Sengupta lebt in Delhi und ist Mitarbeiter der Initiative Sarai (www.sarai.net) am Centre for the Study of Developing Societies. »On Empire« erschien in Biblio - A Review of Books, New Delhi, Februar 2002, Sonderheft »Cosmopolitanism and the Nation State«. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
shuddhabrata sengupta
shuddhabrata sengupta: Über Empire
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webredaktion
03.04.2002
https://jungle.world//artikel/2002/14/das-raedchen-ueberprueft-ob-das-rad-sich-noch-dreht
nicola montagna
MigrantInnen organisierten im vergangenen Jahr in Brescia vier Wochen lang Aktionen und Demonstrationen, um ihre Legalisierung zu erreichen. Nicola Montagna nimmt den Jahrestag der Ereignisse zum Anlass, um von der Dynamik der Bewegung zu berichten.
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https://jungle.world//autorin/nicola-montagna
Chronik der Grenzcamps
Sommer 1998 Görlitz, Sachsen. Im Sommer 1998 rufen AktivistInnen von kein mensch ist illegal, Autonome sowie antifaschistische Gruppen in Ostsachsen erstmals zu einem Aktionscamp an der deutsch-polnischen Grenze in der Nähe von Görlitz auf. Etwa 300 Menschen aus Ost und West beteiligen sich an Aktionen gegen ein Grenzregime, in dem sich ein hoch technisierter BGS und die Denunziationsbereitschaft großer Teile der Bevölkerung in einer bisweilen tödlichen Menschenjagd auf die so genannten illegalen EinwandererInnen kombinieren. Ein Schwerpunkt bilden zudem Aktionen gegen regionale (neo-)faschistische Strukturen. Sommer 1999 Zittau, Sachsen. Das zweite deutsche Grenzcamp im Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland kann erst nach dreitägigen Verhandlungen mit dem Bürgermeister der Stadt durchgesetzt werden. Wesentliches Thema ist erneut die Präsenz des BGS an der Grenze sowie das deutschnationale Klima vor Ort. Das Grenzcamp bewirkt, dass die unmenschliche Flüchtlingsunterkunft geschlossen wird. Heute ist Zittau eine Stadt, die vor den Neonazis kapituliert hat und ihnen dauerhaft ein Jugendzentrum zur Verfügung stellt. Sommer 2000 Forst, Brandenburg. Das dritte deutsche Grenzcamp findet in Forst bei Cottbus statt und richtet sich gegen das rassistische Klima in der Grenzregion. In diesem Jahr wird die »Aktionsform Grenzcamp« erstmals auch in anderen Ländern ausprobiert. Inspiriert von den positiven Erfahrungen in Deutschland werden Camps in Süditalien, Polen und, im Spätsommer, in Mexiko organisiert. Marzamemi, Süditalien. 300 italienische AktivistInnen campen eine Woche lang an der Straße von Otranto, einer Küstenregion, die das Ziel vieler Flüchtlingsschiffe aus dem östlichen Mittelmeer ist. Es finden Aktionen gegen Internierungslager für Flüchtlinge und Diskussionen über und Aktionen gegen die Verschärfung der italienischen Einwanderungsgesetze statt. Ustrzyki Gorne, Polen. Die TeilnehmerInnen des ersten polnischen noborder camps im selben Jahr befassen sich vor allem mit der Situation im polnisch-slowakisch-ukrainischen Grenzgebiet. Die durch den bevorstehenden EU-Beitritt Polens ausgelösten Verschärfungen des Grenzregimes in dieser Region erschweren nicht nur in zunehmendem Maße Grenzübertritte von MigrantInnen, sondern bedrohen auch die suitcase economy, die sich zu einer wichtigen Überlebensstrategie der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze entwickelt hat. Tijuana, Mexico. In Diskussionen und Workshops während des ersten dreitägigen borderhack-Festivals werden das »Leben mit der Grenze«, aber auch Möglichkeiten ihrer Überwindung thematisiert. Unter anderem kommt es zu einem grenzüberschreitenden Volleyballspiel, in dem anstelle eines Netzes der Grenzzaun benutzt wird. Sommer 2001 Bialystok/Kynki, Polen. Die TeilnehmerInnen des zweiten polnischen noborder camps im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet setzen sich mit den Konsequenzen der Verschärfung des Grenzregimes in der Region auseinander. Schon vorher gibt es Schwierigkeiten mit der Polizei. Tarifa, Südspanien. 600 zumeist spanische AktivistInnen diskutieren in diesem direkt an der Straße von Gibraltar gelegenen Grenzcamp die Möglichkeiten antirassistischer Politik und Vernetzung. Es finden Aktionen am Strand und im nahe gelegenen Fährhafen von Algeciras statt. Lendava, Slowenien. Etwa 150 AktivistInnen beteiligen sich während des Camps, das sich in einer ehemaligen Sommerresidenz Titos befindet, an Umzügen und Straßentheateraktionen entlang der Grenzen zu Kroatien und Ungarn. Es findet eine Kundgebung vor dem zentralen Abschiebegefängnis in Lubiljana statt. Genua, Italien. Anstelle des ursprünglich geplanten Grenzcamps in der Woche vor dem G 8-Gipfel in Genua findet am 19. Juli eine Demonstration für die Rechte der ImmigrantInnen statt, an der sich mehr als 50 000 Menschen beteiligen. Diese Demonstration markiert gleichzeitig den Auftakt der Proteste gegen den G 8-Gipfel in Genua und vereint dabei GlobalisierungkritikerInnen und antirassistische AktivistInnen. Frankfurt/Main. Das deutsche Camp verlässt zum ersten Mal die Außengrenzen im Osten und belagert den deutschen Abschiebeflughafen Nummer eins in Frankfurt/ Main. Das Camp wird von Menschen aus verschiedenen Spektren sowie Flüchtlingsselbstorganisationen und unter Beteiligung polnischer AktivistInnen organisiert und getragen. Im Verlauf des Camps gelingt es den TeilnehmerInnen mit freundlicher Unterstützung der Staatsmacht, mehrmals den Reisebetrieb auf dem Flughafen empfindlich zu stören. Tijuana, Mexiko. Im Spätsommer 2001 findet die zweite Ausgabe des Borderhack-Festivals statt, an dem sich über 600 Personen beteiligen. Gleichzeitig wird zum ersten Mal eine Kunstausstellung, »attachments«, zum Thema Grenze organisiert. Frühjahr 2002 Woomera, Australien. Inspiriert von den europäischen Camps und angesichts des aktuellen Diskurses über illegale Einwanderung nach Australien entstehen in Australien im Sommer 2001 Pläne für ein antirassistisches Grenzcamp. Organisiert von einem breiten Spektrum von antirassistischen, antikapitalistischen und Anti-Atom-Gruppen sowie Aktivisten für die Rechte der Aborigines findet dieses Camp über Ostern 2002 in Woomera in der südwestaustralischen Wüste vor dem berüchtigtsten Internierungslager für Flüchtlinge statt. Als zirka 1 000 AktivistInnen den äußeren Zaun des Lagers niederreißen und etwa 50 internierten Migranten die Flucht ermöglichen können, konzentrieren sich die Aktivitäten im folgenden darauf, die befreiten Flüchtlinge zu beschützen und sicher aus der Umgebung des Lagers zu bringen. Das gelingt in etwa zehn Fällen. Sommer 2002 In diesem Jahr finden antirassistische Grenzcamps in Jena, Hamburg, Strasbourg, in Polen (an der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad und zu Weißrussland), in Finnland (an der Grenze zu Russland) und - zum dritten Mal - in Tijuana in Mexiko statt. Weitere Informationen zu diesen Camps finden sich unter www.noborder.org/camps/02/ Berichte von (fast) allen vergangenen Camps gibt es unter www.noborder.org/camps/campsite.html
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Dossier
10.07.2002
https://jungle.world//artikel/2002/28/chronik-der-grenzcamps
andreas exner
Der Euro-Mayday Von andreas exner Attac denkt über eine »alternative Weltwirtschaft« nach. Das Modell läuft auf einen Aufguss gescheiterter Konzepte hinaus. von andreas exner
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https://jungle.world//autorin/andreas-exner
david chotjewitz
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https://jungle.world//autorin/david-chotjewitz
jan jansen
ich-ag der woche ich-ag der woche
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https://jungle.world//autorin/jan-jansen
Jungle World #17/2015 - Das bisschen Völkermord
Im dschungel läuft: Vampir im Hijab. »A Girl Walks Home Alone At Night« ist eine Perle des US-Independent-Films.
Die Türkei und ihre Freunde wollen von einem Genozid an den Armeniern nicht sprechen. 23.04.2015
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2015/17
sonja fahrenhorst
Ein Laden nur für Berliner Produkte Die Empfänger des Arbeitslosengeldes II haben praktisch kein Recht auf Privatsphäre mehr. von sonja fahrenhorst Berlin bekommt ein neues Shoppingcenter. Die Anwohner verfolgen die Arbeiten an der riesigen Baustelle mit gemischten Gefühlen. von sonja fahrenhorst Schnorren ist sozial, notwendig und verdient Respekt. von sonja fahrenhorst Berufspraktikanten eröffnen sich unerschöpfliche Möglichkeiten. von sonja fahrenhorst Vor rund zwei Monaten haben die ehemaligen Bewohner der Yorckstraße 59 das Bethanien am Berliner Mariannenplatz besetzt. Während des Wahlkampfs ist Ruhe eingekehrt – vorläufig. Mit zwei Besetzerinnen sprach sonja fahrenhorst Einige Berliner Bezirke versuchen, das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit zu verhindern. Warum nicht gleich drastische Strafen verhängen? sonja fahrenhorst war auf Kiezstreife Spielende Kinder, Picknickstimmung und ein bisschen Erinnerung. Das Holocaust-Mahnmal ist eröffnet. Einen Spaziergang durch Deutschlands neuesten Freizeitpark unternahm sonja fahrenhorst 15 Jahre nach ihrem Fall wird die Berliner Mauer am Checkpoint Charlie teilweise wieder aufgebaut. Eine gute Idee? sonja fahrenhorst hat sich umgehört Proteste gegen den Doppelhaushalt Sozialläden Neues bei der Sozialhilfe 75 Millionen Euro sollen die drei Berliner Universitäten sparen. Seit der Senat auch noch die Einführung von Studiengebühren diskutiert, werden die Studenten aktiv. von sonja fahrenhorst Sparpläne bei Frauenprojekten
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https://jungle.world//autorin/sonja-fahrenhorst
Jungle World #01/2021 - Das nächste Virus kommt bestimmt
Im dschungel läuft: Der Idiot des Kinos. Eine neue Biographie zeichnet auch die politischen Irrwege des Filmemachers Jean-Luc Godard nach.
Pandemien im Kapitalismus 07.01.2021
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2021/01
christian suchomel
18 zum Teil minderjährige linke Jugendliche mussten in Baden-Württemberg Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. Eine neue Antirepressionsgruppe will die Öffentlichkeit über die seltsamen Umstände der Durchsuchungen aufklären.
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https://jungle.world//autorin/christian-suchomel
Dekonstruktivismus und
Spätestens seit Erscheinen der Übersetzung von Judith Butlers "Gender Trouble" ("Das Unbehagen der Geschlechter") ist der feministische Diskurs auch hierzulande ohne dekonstruktivistische Modelle nicht mehr denkbar. Butler hat mit ihrer Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht zwar zunächst heftigste Kontroversen ausgelöst, doch haben sich die Wogen allmählich geglättet, und fast könnte man sagen, daß sich das Butler-Modell und seine Weiterführungen trotz ihres machtdiskurskritischen Anspruchs auf dem akademischen Terrain selbst zu einem gewissen Machtdiskurs ausgewachsen haben. Elisabeth List schreibt hierzu: "Wer die neue Sprache der 'Dekonstruktion' nicht beherrscht, mit ihren Vokabeln nicht jonglieren kann, ist nicht 'in', nicht 'interessant'. (...) Anders gesagt: Theorien, auch feministische und natürlich nicht nur die poststrukturalistischen, können zum 'symbolischen Kapital' werden, akkumuliert in den Händen einer neuen Elite von Meisterdenkerinnen." Obschon hier nicht eine nochmalige Kritik an einzelnen Thesen Butlers geübt werden soll, ist es angebracht, mehrere Jahre nach Einsetzen des "Butler-Booms" (Annuß) darauf hinzuweisen, daß mit dem Dekonstruktivismus ein Bruch vollzogen wurde, der zur Ablösung feministischer Theorie vom Feminismus geführt hat, so daß dieser - wenn überhaupt - allenfalls noch als Kathederfeminismus auftritt. Will man bestimmte Schritte feministischer Theorieentwicklung skizzieren, so läßt sich eine Linie ziehen von einem Konzept der Subjekt- beziehungsweise Gleichwerdung der Frauen (Simone de Beauvoir) zu einem radikalen Differenzkonzept (maßgeblich Luce Irigaray). Die hierauf folgende Theorieströmung, die von der Subjekt-Frau-Dekonstruktion (Judith Butler) schließlich zur Entwertung des Körperlichen und zur Unterordnung der Frauen unter die technophilen Ideale von Cyber-Utopien führt (Donna J. Haraway), wird zwar irrtümlicherweise oft noch als feministische Theorie aufgefaßt. Es ist jedoch kein Zufall, daß zumindest Butlers Dekonstruktivismus unter dem Signum Gender-Theorie firmiert, wodurch eine gewisse Abgrenzung zur einstmals feministischen Theorie auch explizit deutlich wird. Weniger klar scheint das beim Cyber-Feminismus, und so muß unmißverständlich gezeigt werden, daß dieser keinerlei feministischen Gehalt hat. Anzusetzen ist hier zunächst bei der von Butler in "Das Unbehagen der Geschlechter" vorgeschlagenen Dekonstruktion der Kategorie des Subjekts (Frau) und des Geschlechts. Der damit vollzogene radikale Bruch im Feminismus affirmiert Theorien, die objektiv mit derzeitigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Tendenzen korrespondieren, und legitimiert die weitere Entpolitisierung einer bereits in der Krise befindlichen Frauenbewegung. Butlers Subjektdekonstruktion geht einher mit ihrer Kritik am Axiom einer einheitlichen Geschlechtsidentität, die von der gesamten philosophischen Theorietradition ontologisiert und ratifiziert worden ist, und der sich laut Butler auch fortgeschrittenere feministische Theoriekonzepte nicht gänzlich entziehen konnten. So konstatiert sie beispielsweise bei Monique Wittig "das Festhalten an der Metaphysik der Substanz, die das normative Modell des Humanismus auch als Rahmen für den Feminismus bestätigt". Nach Butler behalten also auch feministische Theorien die Metaphysik der Substanz und den Ursachen- und Ursprungsgedanken der Philosophie bei, die sie für den "vorherrschenden disziplinären Mechanismus" hält. Daraus läßt sich umgehend schließen, daß Butler sich in ihrer Kritik der Geschlechts- und Subjektkategorie weitgehend auf die philosophische Dekonstruktion essentialistischer Konzepte beschränkt und die Konstitutionsbedingungen eines solchen Geschlechts und Subjekts in erster Linie in der Begriffs- und Ideensphäre verortet. Dies verhindert die Thematisierung des Subjekts und des "Geschlecht(s) als gesellschaftliche Strukturkategorie" (Annuß). Es kann hier weder darum gehen, im Gegenzug zu Butlers Thesen einer Ontologisierung oder Substantialisierung von Kategorien das Wort zu reden, noch darum, den Subjektbegriff für einen politischen Feminismus stark zu machen - auch wenn dies in Zeiten der zunehmenden Entpolitisierung eine berechtigte Intention wäre. In Frage gestellt werden muß die Annahme, die Philosophie sei als vorherrschender disziplinärer Mechanismus die wesentliche subjektkonstituierende Macht. Dabei wird nämlich das Verhältnis von Theorie und (gesellschaftlicher) Praxis nicht mehr reflektiert. Diese Tendenz ist der neueren feministischen Theorie allgemein schon bescheinigt worden: "Spätestens seit dem realpolitischen Abgang marxistischer Theorie scheint auch ihr zentrales Anliegen einer Verbindung von Theorie und Praxis historisch entsorgt. Jahrzehntelang kreisten und rangen um diese Verbindung die verschiedensten Varianten gesellschaftskritischen Denkens. Nun sind die Handlungsimpulse erschöpft. Die Dialektik von Theorie und Praxis zerfällt. Auch die feministische Theorie hat von dieser Dialektik ihren Abschied genommen." (Rauschenbach) Butlers Theorie mag zwar eine relativ treffende Beschreibung von der Macht des Diskurses über Geschlechtsidentität sein, und der "selbstreferentiellen Debatte" (Nickel) des akademischen Feminismus hat sie entscheidende Impulse geliefert, aber eine gesellschaftskritische Analyse der Kategorien Geschlecht und Subjekt leistet sie nicht. So bemerkt auch Evelyn Annuß hierzu: "Die historisch zu bestimmende Kategorie des (bürgerlichen) Subjekts, seines Geschlechts und die gesellschaftlichen Bedingungen seiner möglichen Dezentrierung bleiben bei Butler unproblematisiert." (Annuß) Das heißt, Butler bleibt trotz kritischen Anspruchs gesellschaftstheoretisch ignorant und damit letztlich affirmativ. Die Analyse auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene führen, hieße, die gesellschaftlichen und historischen Bezüge des Geschlechts- und Subjektbegriffs herauszuarbeiten, um zeigen zu können, daß die Geschlechter, wie sie in westlich-kapitalistischen Gesellschaften - denn nur in diesen ist überhaupt eine derart aufwendige Theoretisierung solcher Kategorien zu verzeichnen - bestanden und bestehen, fremdbestimmte sind, deren philosophischer, aber auch gesellschaftlich-sozialer Konstruktion bestimmte Vergesellschaftungsformen zugrunde liegen. Ausgehend davon, daß die Geschlechter als Geschlechterrollen, als gesellschaftlich erzwungene geschlechtsspezifische Verhaltenskonditionierung zu verstehen sind, gilt es, in kapitalistischen Gesellschaften das fremdbestimmte Geschlecht vom Geschlecht zu unterscheiden. Das heißt, es geht um die Thematisierung der konkreten geschlechtsspezifischen Fremdbestimmung und nicht um eine vorwiegend philosophische Dekonstruktion von Begrifflichkeiten, wie Butler sie vornimmt. Ein Grund für diesen blinden Fleck bei Butler ist sicherlich ihr Standort im postmodernen Denken, das genauer zu betrachten und selbst kritisch zu hinterfragen wäre. Hierbei ist zunächst zu konstatieren, daß postmoderne Theorien - besonders solche, die den Tod des Subjekts verkünden und die Vervielfältigung von Bedeutungen und Identitäten an seine Stelle gesetzt sehen wollen - mit einer gesellschaftlichen Tendenz korrespondieren, die sich durch funktional fragmentierte und ständig neu zusammensetzbare und sich zusammensetzende Identitäten und Standpunkte auszeichnet. In treffender Weise führt Annuß Fredric Jameson an, wenn sie bemerkt: "Im Kontext der Expansion kapitalistischer Vergesellschaftung zum Weltsystem geht Jameson von der Ablösung bisheriger Entfremdungserfahrungen durch fragmentierte Subjektivitätsformen aus." (Annuß) Dieser multiple Charakter, wie er in der spätkapitalistischen Gesellschaft erfordert ist, wird von einigen feministischen Theoretikerinnen offensichtlich als Errungenschaft gefeiert. Sabine Hark führt als Beispiel Teresa de Lauretis an: "Sie sieht in feministischer Theorie und Praxis eine neue Konzeption von Subjekt erwachsen, die von heterogener Subjektivität und multipler Identität ausgeht; es ist ein Subjekt, das Bewegung und nicht Person oder Idee ist." Die Verhältnisse, die eine solche multiple Identität erforderlich machen, bleiben konsequent unhinterfragt und werden gar als Freiheitshorizont vorgestellt. Cornelia Eichhorn hingegen weist sehr klar auf die in diesen Theorien drohende Gefahr der blinden Wiederholung gesellschaftlicher Prozesse und auf ihre entpolitisierenden Implikationen hin: "Gegenwärtig, wo so viel von einer Pluralisierung der Lebensstile, dem Anwachsen räumlicher, politischer und sozialer Mobilität, der Zunahme biographischer Wahlmöglichkeiten und ähnlichem die Rede ist, wenn es um die Entwicklungstendenzen in den kapitalistischen Zentren geht, kann eine 'Verviefältigung der Bedeutungen' und 'Pluralisierung der Identitäten' auch einer Anpassung an die Erfordernisse dieser Entwicklungen gleichkommen. Es ist noch nicht lange her, da wurde die Anforderung an Frauen, vielfältig und flexibel, Mutter und Vater, Kumpel und Freundin, Geliebte und Kampfgefährte, Karriere- und Putzfrau in einer Person zu sein, als Teil der sexistischen Arbeitsteilung begriffen und als Zumutung zurückgewiesen. Heute hingegen könnte frau mit Butler glauben, hinter dieser Anforderung das Licht der Freiheit aufblitzen zu sehen." (Eichhorn) Die Frage an dieser Stelle jedoch lautet: Was ist mit der Pluralisierung für die Frauen gewonnen? Will man sich damit nicht in den "akademischen Wettbewerb", in die "Konkurrenz zwischen Feministinnen" (List) begeben, also sich nicht in die schon oben erwähnte Riege der neuen Elite von Meisterdenkerinnen einreihen, sondern den Anspruch einer Theorie vertreten, die das Verhältnis von Theorie und Praxis reflektiert, dann fällt die Antwort vernichtend aus. Es läßt sich nämlich nichts anderes erkennen als der Trend zur Zersprengung beziehungsweise zunehmenden Entpolitisierung einer politischen Frauenbewegung. Ein Artikel zum Internationalen Frauentag in der Zeit vom 7.März 1997 hat wohl nicht zufällig den Titel "Solidarität gibt es nicht". Und in der Beschreibung der Reihe Coyote-Texte im Argument-Verlag heißt es: "Die neunziger Jahre sind für den gesellschaftskritischen Feminismus Jahre des Rückschlags und der Defensive. Herrschaftskritik wurde (...) aus ihrer polymorphen Gestalt in eine universitäre depolitisierte Institution ge- und verdrängt." (Die Herausgeberinnen, in: Haraway II,3) Wenn die Herausgeberinnen Haraways Theorien und Vorschläge dann allerdings als ein Beispiel für "kontinuierlichen Widerspruch" zur "neuen Weltordnung" präsentieren und ihr "die Formulierung von alternativen Möglichkeiten" (ebd.) bescheinigen, so zeugt dies nur vom Mangel an theoretischen Alternativen. Die entsinnlichte, technophile und letztlich im Dienste des Kapitalismus stehende Struktur des wissenschaftlichen Denkens galt der feministischen Theorie anfangs als etwas, das kritisch hinterfragt werden muß. Die neueren Theoretikerinnen laufen jedoch mit der Übernahme technomorpher Kategorien Gefahr, mit dem einstmaligen Gegner identisch zu werden. Dies soll anhand einiger Aussagen aus dem Manifest für Cyborgs von Donna Haraway veranschaulicht werden. Auch wenn Haraways Manifest als kritische Auseinandersetzung des Feminismus mit den Technowissenschaften gemeint ist, läßt sich die problematische Affinität Haraways zu den neuen Technologien nicht leugnen. So konstatiert sie für das Zeitalter der Gen- und Computertechnologien den "Zusammenbruch der klaren Unterscheidung von Organismus und Maschine" (Haraway ) und geht davon aus, daß wir alle mittlerweile zu cyborgs, zu Maschinenmenschen durch ständige Konfrontation mit Computern, Faxgeräten und Anrufbeantwortern geworden sind. Sie sieht hierin zwar eine gewisse Gefahr, hält es aber für fruchtbarer, die Chancen dieser neuen Möglichkeiten aufzugreifen, anstatt nur Verluste und Niederlagen zu beklagen. In welches Fahrwasser sie sich damit begibt, scheint für sie keine Rolle zu spielen. Da ihr Manifest ständig oszilliert zwischen metaphorischer und begrifflicher Ausdrucksweise, sind ihre Thesen auf den ersten Blick nur schwer einzuordnen und erwecken eher den Anschein spielerischer Mimikry denn kritischer Auseinandersetzung mit einer relativ neuen Problematik; eine Verfahrensweise, die die Gefahren der kompletten Technisierung bis hin zur Abschaffung des Menschen nicht wirklich thematisiert und die letztlich entgegen ihrer Intention von den alten Denkformen beherrscht wird. Haraway favorisiert in ihrem Manifest eine Cyber-Utopie, die eine "Post-Gender-Welt" (Haraway) begründe und als Emanzipation von jeglichen "Imperativen westlicher Epistemologien" anzusehen sei. Mit dieser Cyborg-Metaphorik läßt sich ihr zufolge jenseits von Kategorien wie Gender, Identität, Ursprung und jenseits jeglicher Dualismen argumentieren, was sie als Chance für Feministinnen betrachtet: "Feministinnen können allerdings großen Gewinn daraus ziehen, wenn sie die Möglichkeiten explizit aufgreifen, die sich aus dem Zusammenbruch der klaren Unterscheidung von Organismus und Maschine und ähnlicher Unterscheidungen ergeben, die das westliche Selbst strukturiert haben." Dieses "westliche Selbst" meint Haraway mit der Cyborg-Metapher umgehen zu können und unterstreicht ihrerseits ebenfalls den multiplen Charakter, von dem bereits die Rede war: "Die Cyborg ist eine Art zerlegtes und neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst. Es ist das Selbst, das Feministinnen kodieren müssen." Auch wenn Haraway Cyborg überwiegend als Metapher meint, so bedient sie sich damit eines Modells der neuen Technologien und ist somit "mittendrin", wie sie selbst in einem Interview sagt. Dieses Mittendrin-Sein ist Ausdruck einer Anerkennung dessen, was eben im Maße dieser Anerkennung zu erkennen nicht mehr möglich ist. Es impliziert jedoch auch den Wunsch teilzuhaben, das heißt dieses Mal wollen die Frauen dazugehören und mitmischen, egal um welchen Preis. Und hierbei geht Haraway davon aus, Frauen beziehungsweise Cyborgs seien in der Lage, besser mit den neuen Technologien umzugehen: "(...) dann werden wir unser eigenes Handlungsfeld und unsere Hoffnung auf lebenswertere Welten genau darin finden, diese Praxen zu formen, statt uns vor ihnen zu verstecken." Derartige Argumentationen gehören zu der landläufigen, vor allem in den Technowissenschaften vertretenen, von kritischen Autoren jedoch längst als interessierte Naivität entlarvten "Vorstellung, daß die Wissenschaften und ihre technischen Projekte im großen und ganzen schon in Ordnung und auch nützlich seien, freilich käme es wohl zunehmend darauf an, daß diese Instrumente nicht in falsche Hände geraten, nicht von einseitig interessierten Auftraggebern genutzt und bestimmt würden und daß der einzelne Wissenschaftler über eine integre Moral verfüge, also auch schon einmal ein Forschungsprojekt einstellt, wenn die (absehbaren) Folgen prekär zu werden drohen oder eben Folgen nicht mehr absehbar sind usw." (Müller-Warden) In ihrer Erläuterung des Netzwerks, von dem sie sich Chancen für Frauen verspricht, weil es die "Verschmelzung verschiedener Räume und Identitäten" und die "Durchlässigkeit der Grenzen des individuellen Körpers wie der Körperpolitik" (Haraway I) garantiert, greift Haraway schließlich explizit auf einen Vergleich mit kapitalistisch bewährten Konzepten zurück: "'Vernetzung' ist nicht nur eine multinationale Unternehmensstrategie, sondern auch eine feministische Politikform, das Weben von Netzen ist die Praxis oppositioneller Cyborgs." Auch hier gilt: indem Frauen anfangen, für ihre Ziele Argumente aus der Tradition funktionaler Vergesellschaftung, mithin der des Gegners zu bemühen, werden sie "in dem Maße mit ihm identisch, wie sie ihn verstehen". (Müller-Warden) Feministinnen, die eine solche Cyber-Utopie favorisieren, unterliegen letztlich doch der elementaren Struktur von Wissenschaft, wie sie bereits in den weltflüchtigen Maßstäben der Philosophie Platons formuliert ist: "Und solange wir leben, werden wir, wie sich zeigt, nur dann dem Erkennen am nächsten sein, wenn wir, soviel möglich, nichts mit dem Leibe zu schaffen noch gemein haben, was nicht höchst nötig ist, und wenn wir mit seiner Natur uns nicht anfüllen, sondern uns von ihm rein halten, bis der Gott selbst uns befreit." Aber auch Descartes kommt einem in den Sinn. So weist Jochen Rack darauf hin, daß "die cartesianische Vorstellung von einem körperlosen Geist zur Grundlage (wurde), auf der man Mitte des 20. Jahrhunderts die Metapher vom Geist als Softwareprogramm entwickelt hat" (Rack). "Ich erkannte daraus", heißt es bei Descartes, "daß ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Ding abhänge, so daß dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist als dieser und auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist." Diese Vorstellungen scheinen heute dank des technischen Fortschritts weitgehend Wirklichkeit geworden zu sein, wie auch ein Beispiel aus einem zeitdiagnostischen Artikel belegt: "Millionen von Cybernauten 'surfen' hier, ihrer Körper entledigt, in einem idealisierten immateriellen Reich. Als Wesen des Äthers sind die Cybernauten (...) aller physischen Begrenzung enthoben. Sie sind frei von Mißbildung, Krankheit und Häßlichkeit. (...) Im Cyberspace, sagen die Freaks, kann man einfach 'sein' - eine reine Seele, die körperliche und nationale Grenzen überschreitet." (Wertheim) Es scheint, als wolle die feministische Theorie auf diesen wohl unaufhaltsamen Zug des Homo cyber sapiens aufspringen. Daß dies jedoch keine Lösung ist, sondern neue alte Probleme mit sich bringt, darauf weist Käthe Trettin hin: "Der Cyberfeminismus ist kein ernstbafter Lösungsvorschlag (...). Er berauscht sich an Multimedia-Visionen und fällt im übrigen zurück in einen völlig unreflektierten Umgang mit der Kategorie 'Frauen'." (Trettin) Statt sich jedoch blind an den Zug anzuhängen, gibt es immerhin die Möglichkeit, sich gegen alle akademischen Trends und Modeerscheinungen einiger vorhandener kritischer Auseinandersetzungsmodelle zu erinnern, die, wie Annuß schreibt, "zu der Einsicht führen, daß auch der Gegenstand Geschlecht nur als exemplarischer einer kritischen (Gesellschafts-)Wissenschaft sinnvoll ist". Annuß, Evelyn: Umbruch und Krise der Geschlechterforschung: Judith Butler als Symptom. In: Das Argument 216, Heft 4,1996 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechte., Frankfurt a.M. 1991 Eichhorn, Cornelia: Zwischen Dekonstruktion und Identitätspolitik. Eine Kritik zur feministischen Debatte um Judith Butler. In: Die Beute, Heft 1, 1994 Haraway, Donna (Haraway 1): Ein Manifest für Cyborgs. In: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M./New Yorck 1995 Haraway, Donna (Haraway II): Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg 1995 Hark, Sabine: Vom Subjekt zur Subjektivität: Feminismus und die Zerstreuung des Subjekts. Nr. 12 der Vortragsreihe Berliner Wissenschaftlerinnen stellen sich vor, Vortrag vom 14. Januar 1992 List, Elisabeth: Politik, Geschlecht, Lebensform. Perspektiven feministischer Theorie und Praxis. In: Grosz-Ganzoni, Ita-Maria (Hg.): Widerspenstige Wechselwirkungen. Tübingen 1996 Müller-Warden, Joachim: "Was ist Wissenschaft?" In: Ders./Welzer, Harald (Hg.): Fragmente kritischer Theorie. Tübingen 1991 Nickel, Hildegard Maria: Feministische Gesellschaftskritik oder selbstreferentielle Debatte? Ein (ostdeutscher) Zwischenruf zur Frauen- und Geschlechterforschung. In: Berliner Journal für Soziologie, Band 6, 1996 Platon: Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politeia. Hamburg 1985 Rack, Jochen: Homo Cyber Sapiens. Die Kolonisierung des Körpers. Sendeskript des Features vom 14. Februar 1997 im Deutschlandradio Rauschenbach, Brigitte: Erkenntnispolitik als Feminismus. Denkformen und Politikformen im feministischen Bildungsprozeß der Erfahrung. In: Die Philosophin, Heft 11, Mai 1995 Trettin, Käthe: Es geht weder mit noch ohne Frauen. In: Frankfurter Rundschau, 10. Juni 1997. Wertheim, Margaret: Ehre sei Gott im Cyberspace. In: Die Zeit, Nr. 22, 24. Mai 1996 Den Beitrag entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Band "Fatal real", herausgegeben von Ilse Bindseil und Monika Noll bei ç a ira, Freiburg 1997
sabine grosch
sabine grosch: Hab mich gerne, Postmoderne.
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Dossier
13.11.1997
https://jungle.world//artikel/1997/46/dekonstruktivismus-und
anna voigt und esther rachow
In Südafrika ist Gewalt gegen Frauen allgegenwärtig. Dass Geschlechtergerechtigkeit und weitreichende Frauenrechte in der Verfassung festgeschrieben sind, ändert wenig an der alltäglichen Gewalt, die das Leben vieler südafrikanischen Frauen bestimmt. Gewerkschaften, Frauen- und LGBT-Organisationen engagieren sich für die Betroffenen. Aber es gibt auch Männer, die einen anderen Umgang mit Frauen, Sexu­alität und Männlichkeit lernen wollen.
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niki sabercke
Bei einem Vortrag des rechten Professors Klaus Weinschenktrafen sich Korporationen und militante Neonazis
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Jungle World #42/2021 - Revolution im Anflug
Im dschungel läuft: Rasende Reporter. Ein fiktives Magazin und seine schrulligen Mitarbeiter stehen im Zentrum des neuen Films von Wes Anderson.
Ufokommunisten, Apokalyptiker und der neue Bericht der US-Geheimdienste 21.10.2021
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janne mende
Sowohl die Guttenberg-Anhänger als auch die Guttenberg-Gegner berufen sich auf deutsche Tugenden. Über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wird daher gar nicht erst diskutiert. Die US-Serie »Lie to me« propagiert die Mimik-Lehre des Psychologen Paul Ekman. Kriminelle lassen sich seiner Theorie zufolge mithilfe der Ausdrucksanalyse erkennen. In der Debatte um die Karbonbeine des behinderten südafrikanischen Läufers Oscar Pistorius trifft latente Behindertenfeindlichkeit auf emanzipatorische Potenziale. Einfach dazugehören! Die »Volksprodukte« von Bild.de und diversen Unternehmen suggerieren Sicherheit, wo es keine gibt. Die Bionade GmbH macht vor, wie man zielgruppengerecht wirbt. Schulkinder werden mit dem Spruch »Gut in Bio, schlecht in Chemie« gelockt, Kreuzberger mit dem: »Von führenden US-Getränke­herstellern nicht empfohlen«.
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»Ossama ist anerkannt«
Beim Institut für Metereologie in Berlin, unter www. wetterpate.de, kann man Patenschaften für Hoch- und Tiefdruckgebiete übernehmen. Metereologisches Institut, Schmidt, guten Tag. Gute Tag. Yildriz ist mein Name. Ich habe Frage. Sind Sie zuständig für Wetterpate? Nicht wirklich. Was möchten Sie denn gerne wissen? Ich möchte wissen, ob ich einen Wetterpate werden kann und einen Hochdruckgebiet Namen geben kann. Ja, das können Sie. Haben Sie Internet? Jaja. Da müssten Sie auf die Internetseite gehen und sich so ein Formular ausdrucken. Wenn Sie ein Hochdruckgebiet haben wollen, steht da: Ich möchte die Patenschaft für ein Hochdruckgebiet von 299 Euro übernehmen. 299 Euro? Genau. Das wird ja wahrscheinlich im Jahr 2006 sein. Sie sagen dann den Anfangsbuchstaben, ich weiß ja nicht, welchen Sie da haben möchten … Ich habe gesehen frei ist noch O. Würde ich gerne O nehmen. Sie müssen den Namen dann darunter eintragen. Das steht alles auf dem Formular. Das können Sie dann faxen oder per Post schicken. Und das wird dann das Hochdruckgebiet auch zum Beispiel in Tagesschau? Oder wo? Das kommt darauf an. Oft sind es Hochdruckgebiete, die sehr langlebig sind. Das Hoch Michaela hielt vier oder sechs Wochen. Das war in der Tagesschau. Aber ob Ihr Hochdruckgebiet ein sehr langlebiges wird und viel Aufsehen erregt, das kann man im Vorhinein nicht sagen. Ich kann Namen nehmen, wie ich will? Sie müssen einen Namen nehmen, der auch anerkannt ist. Den Namen muss es geben. Es darf kein Firmennamen sein. Aber ich kann zum Beispiel nehmen Ossama? Ossama. Arabischer Name. Kann ich nehmen, oder? Ja, müsste eigentlich gehen. Sie schreiben den Namen ja auf, und dann wird das von unserem Institut geprüft. Falls etwas mit dem Namen nicht in Ordnung sein sollte, melden die sich nochmal. Aber so, normal, Ossama kein Problem? Das ist ein normaler Name, der eigentlich anerkannt ist, und da ja Leute so heißen, müsste das eigentlich gehen. interview: stefan wirner
Stefan Wirner
Stefan Wirner:
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webredaktion
12.10.2005
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Neue Kino-Tarife
Der Tarifkonflikt in den Kinos ist beigelegt. Die IG Medien und der Hauptverband Deutsche Fimtheater (HDF) haben sich auf einen zweijährigen Vertrag geeinigt. Demnach werden die Löhne und Gehälter rückwirkend zum 1. Juli um zwei Prozent für Filmvorführer und um drei Prozent für alle übrigen Beschäftigten erhöht. Die Bruttolöhne betragen derzeit zwischen zwölf und dreizehn Mark. Die Kinobranche hat im vergangenen Jahr einen Besucherrekord von über 143 Millionen verzeichnet - über 14 Prozent mehr als 1996.
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webredaktion
05.08.1998
https://jungle.world//artikel/1998/32/neue-kino-tarife
Jungle World #24/2014 - Zuckerhut und ­Peitsche
Im dschungel läuft: Vom Underdog zum Leader of the Pack. Cesar Millan erklärt, wie man seinen Hund glücklich macht.
Zuckerhut und ­Peitsche 12.06.2014
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https://jungle.world//inhalt/2014/24
annett gröschner und peter jung
Wien, 1944/45. Von Annett Gröschner und Peter Jung Genf, 1938/39. Von Annett Gröschner und Peter Jung
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federica matteoni und niklas luhmann
»Die besten Jahre«, ein sechsstündiges Familienepos aus Italien, kommt in die deutschen Kinos. von federica matteoni und niklas luhmann
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Michael Heinrich
Die schwarz-gelbe Koalition führt fort, was die rot-grüne Koalition begann – den Umbau der Sozialversicherungen zu Gunsten der Unternehmer. Armer Staat! Damit es »unserer Wirtschaft« gut gehe, versucht er sein Bestes, weiß aber nicht recht wie. Die Finanzmarktkrise ist kein Betriebs­unfall des Kapitalismus, sondern gehört notwendiger weise dazu. Wen retten die »Rettungspakete« eigentlich vor was? In der Finanzkrise finden auch die Gesund­beter der freien Wirtschaft Gefallen an ­einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte. Doch die Krisen lassen sich nur in ihrem Verlauf beeinflussen, aber nicht verhindern. Die Kritik an den Voraussetzungen der eigenen Kapitalismusanalyse ist die Voraussetzung aller Kritik. Es kommt aber auch darauf an, die Kritik in die Tat umzusetzen. von michael heinrich Debatten über den »Sozialismus des 21. Jahr­hunderts« haben derzeit Konjunktur. Doch wird dieses Jahrhundert zunächst eher eines des Kapitalismus als des Sozialismus werden. Nicht, weil mal wieder ein Aufschwung existiert. Prosperität und Krise wechseln sich im Kapitalismus beständig ab, doch stehen hinter diesen Aufs und Abs Tendenzen zur Ausdehnung wie auch zur Weiterentwicklung des Kapitalismus, die noch längst nicht an ihr Ende gekommen sind. von michael heinrich Dem Kapital geht es schon länger wieder blendend. Weil die Mehrheit der Bevölkerung davon wenig hat, soll sie sich jetzt an geringfügig besseren Wirtschaftsdaten erfreuen. von michael heinrich Über den Umgang mit der Marx’schen Theorie und über die Schwierigkeiten einer heutigen Lektüre – eine kritische Auseinandersetzung mit Karl Heinz Roth und anderen. Von Michael Heinrich Postones Neuinterpretation der Marxschen Theorie leistet eine kategoriale Kritik mit Defiziten. von michael heinrich Der Feldzug im Irak war vor allem ein Präventivschlag gegen die weltpolitischen Konkurrenten der USA. Denn auch im 21. Jahrhundert bleibt der Nationalstaat ein bedeutender politscher Akteur. von michael heinrich Wie entwickelt sich die Europäische Union? Was bringt die Ost-Erweiterung für die neuen Mitglieder? Und welche Rolle spielen einige Globalisierungskritiker? In den Imperialismustheorien treffen sich Ökonomismus und moralisierende Kritik. Sie taugen nicht dazu, den weltweiten Kapitalismus zu analysieren. Entgegen den Prognosen wuchs die deutsche Wirtschaft im Jahr 2001 kaum, die Arbeitslosenzahlen stiegen dafür kräftig.
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peter brunnett
Der Hindu-Nationalismus hat in Indien eine Wahlschlappe erlitten. Er könnte in noch radikalerer Form zurückkehren. von peter brunnett Indiens Regierungspartei braucht den Hindu-Nationalismus. Im Wahlkampf verzichtet sie jedoch auf radikale Parolen. von peter brunnett
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VW
In knapp vier Monaten soll vor dem Landgericht München der erste Strafprozess in Deutschland wegen der sogenannten Abgasaffäre stattfinden.
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johannes kramer
Von der privaten und öffentlichen Forschung verspricht sich die EU neue Technologien zum Aufspüren von Flüchtlingen. Elektronische Spürhunde, vernetzte Sensoren und intelligente Roboterfahrzeuge sollen künftig die Sicherung der Grenzen teilautomatisieren.
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Ich habe gar nichts gemacht
Also, Euer Ehren, wenn Sie mich so fragen, ich weiß nicht, was ich hier soll. Erst mal halte ich nicht viel davon, wenn man sich darüber auslässt, was man denn für kleine, niedliche Verbrechen begangen hat, damals, als man noch jünger war. Das klingt mir zu sehr nach einer Mutter, die sich in den Siebzigern nackt hat fotografieren lassen und die jetzt die Fotos aus der Kiste holt, um ihren Kindern mal zu zeigen, was sie damals für einen tollen Körper hatte. Mutti nackt im Schlamm oder ums Lagerfeuer tanzend, untenrum bemalt und unrasiert. Ist doch peinlich, so was. Ich habe auch gar nichts zu erzählen. Da ist nämlich nichts gewesen. Ich bin eine grundehrliche Haut, ich wurde so erzogen. Um das zu illustrieren: Mit 13 Jahren habe ich mal ein Fünfmarkstück gefunden. Es lag im Schnee und glänzte, hinter einem Zaun, der eine kleine Kioskbude umzäunte. Derselbe Kiosk übrigens, an dem ich mir später die Sexhefte besorgte, die unter dem Pullover immer so gut nach Druckerschwärze rochen, weshalb ich … aber darum geht es ja nicht. Ich bin über den Zaun geklettert und habe mir das Fünfmarkstück geholt, natürlich. Auf dem Nachhauseweg bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe dies und das gedacht, hauptsächlich aber, dieses eine Fünfmarkstück könnte jemandem furchtbar fehlen, einer alten Frau, die von Sozialhilfe lebt, frierend in einer baufälligen Wohnung. Ich bin dann wieder zum Kioskbesitzer zurück, habe ihm das Geldstück gezeigt und gefragt, ob das seines sei oder ob … Natürlich hat er »ja, meins« gesagt, das Arsch, und: »Dankeschön, mein Junge. Den ganzen Tag habe ich nach den fünf Mark gesucht.« So war ich. Grundehrlich bis zur Blödheit. Es gibt auch sonst keine Verfehlungen in meinem Leben. Was soll ich denn schon gemacht haben? Prügeln, Verwemsen, Raub? Dazu hat es nicht gereicht. Ich war klein und schmächtig und wurde selbst dauernd verkloppt. Vor allem Jost Burgmann hatte mich immer wieder in der Mangel, wenn Ecki gerade nicht da war, der noch schwächer war als ich. Burgmann hat uns auf dem Schulweg gequält, in der Schule, auf dem Schulhof. Kopfnüsse, Arschtritte, tausend Stecknadeln, so was. Ecki musste ihm auch Geld für Negerküsse geben. Die hat ihm Burg­mann dann im Gesicht zerquetscht. Einmal hat’s mir dann gereicht. Ich habe der dummen Sau so in die kleinen Eier getreten, dass er sich auf dem Boden wälzte und heulte, als habe er ein mit heißer Scheiße gefülltes Dampfbügeleisen verschluckt. Ich war zehn damals, und ich musste zum Direx, Jost Burgmann kam ins Krankenhaus, zur Kontrolle. Nein, leid tut mir die Sache bis heute nicht. Es ist ja letztlich auch nichts passiert, ich war noch gar nicht strafmündig. Und danach kam nichts mehr mit Hauen, außer, dass ich zwei, drei Mal noch was aufs Maul gekriegt habe, von Nazis oder Polizisten. Gut, die Drogen später, das war vielleicht ein bisschen illegal. Aber nicht nach der heutigen Rechtssprechung, und darauf kommt’s doch an. Ich finde es lächerlich, von Verbrechen zu erzählen, die längst keine mehr sind. Und ich hatte sicher nie mehr als die sechs Gramm Hasch bei mir, die heute selbst in Bayern toleriert werden. Oder, hatte ich? Klar habe ich das geraucht. Hat doch jeder. Aber ich habe nie mit Drogen gehandelt oder sie geschmuggelt. Ich hatte einfach zu viel Angst. An der Grenze wurden wir jedes Mal gefilzt, allein schon wegen unserer langen Haare. Manchmal schickten sie auch Hunde durch die Autos, übel riechende Cockerspaniel, und hin und wieder mussten wir uns ausziehen: Beine breit und bücken. Da bin ich immer drum herum gekommen. Aber einige meiner Freunde nicht. Die waren ja auch ’ne Nummer härter: Sie haben das Dope in Kondome gestopft, geschluckt und sind bei Hengelo rüber über die Grenze. Das hat immer geklappt. Es war aber jedes Mal ein großes Drama, bis dann das Hasch wieder draußen war, vor allem, wenn einer Verstopfung hatte. Danach wurde es gleich angeraucht. Ullo schwor: »Wenn das Zeug einmal durch deinen Darm gegangen ist, dann turnt es besser.« Das ist ungefähr so wie bei vietnamesischem Wieselkaffee. Der schmeckt wirklich aromatischer, wenn er … ach, Sie kennen die Geschichte? Ich konnte das aber nicht, das Schlucken. Nee, halt, alles zurück, ich habe gerade eine Epiphanie. Ich sehe mich im Haus meiner Eltern vor der Klosettschüssel stehen und mit einem kleinen Stöckchen in der eigenen Scheiße pulen. Habe ich also auch gemacht. Ich habe aber kein Kondom genommen, sondern nur in ein bisschen Zellophanpapier, weil ich Angst hatte, so ein ausgeleiertes Kondom könnte sich irgendwie im Darm verhaken. Eigentlich soll man sich die ganze Verpackerei sowieso sparen können, denn große Haschischstücke werden gar nicht verdaut, höchstens ein bisschen angenagt von der Magensäure und den Darmbakterien. Wenn man aber ein Piece nicht verpackt, dann braucht man sehr viel länger, um es wieder zu finden, weil sich Hasch schwer von Scheiße unterscheiden lässt. Nun ja, es gibt unangenehmere Sachen: Hodenkrebs zum Beispiel, ausgelöst durch Tritte in der Kindheit. So viel zu meiner Drogenkarriere. Natürlich ist sie noch ein bisschen länger. Wer Drogen nimmt, kann immer was erzählen, muss es aber nicht. Na, meinetwegen noch die Geschichte auf Fuerteventura, aus pädagogischen Gründen. Da war ich mit meiner Ex. Die Beziehung war noch ganz frisch, wir hatten im ersten Liebesrausch kurzfristig gebucht, da macht man ja noch solche Sachen. Im Hotel angekommen, suchte ich sofort meine Kondome. Ich fand sie im Kulturbeutel, und direkt daneben steckte ein Döschen. Ach, du Scheiße. Das hatte ich total vergessen: Sieben Es waren da drin, also Ecstasy-Pillen. Ich war ganz aufgeregt und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich wusste ja noch nicht einmal, ob der Besitz von Ecstasy in Spanien illegal war. Die haben ja so komische liberale Gesetze. Kurz dachte ich daran, bei der Polizei mal nachzufragen. Auch mein alter Kiosk fiel mir wieder ein. Hätte er auf der Insel gestanden, wäre ich da gewiss hingegangen und hätte gefragt: »Entschuldigung, ist das vielleicht Ihr Ecstasy?« »Genau, mein Junge, das sind meine Pillen. Ich erkenne sie an den lieben Smilies oben drauf.« Ich wette, so wär’s gekommen. Fest stand, dass ich das Zeugs auf keinen Fall wieder zurück nach Deutschland bringen wollte. Jetzt, wo ich wusste, dass ich es hatte, hätte mir jeder angesehen, was los war. Ich hätte mir gleich ein Schild um den Hals hängen können, auf dem stand: Ich habe übrigens Drogen im Gepäck. Erschießen Sie mich bitte. Wegschmeißen konnte ich sie aber auch nicht. Ich bin ein sparsamer Mensch und kann nichts wegwerfen, was mich Geld gekostet hat. Außerdem hätten die Pillen vielleicht Kinder finden können; oder sie hätten dem Grundwasser was angetan. Also beschloss ich, sie zu nehmen. Wir hatten für eine Woche gebucht und weil sich meine Freundin partout nicht zum Mitmachen überreden ließ, musste ich pro Tag eine einwerfen. Für mich war es dann eigentlich ein ganz okayer Urlaub. Ich fand die Insel und die Leute sehr entspannt. Meiner Ex gefiel es weniger. Sie meinte, ich hätte sie zwei Nächte lang nur vollgequatscht. Ab der dritten musste ich auf dem Balkon schlafen. Habe ich schon gesagt, dass wir nicht mehr zusammen sind? Das kommt davon, wenn man sich opfert. Dabei konnte ich ja wirklich nichts dafür. Es war halt ein Versehen, wie es jedem mal passiert. Auch an den Spritdiebstählen auf dem Weg nach Portugal bin ich schuldlos. Ich gebe zu, wir haben auf der ganzen Strecke kein einziges Mal an einer regulären Tankstelle getankt. Stattdessen schlichen sich Jones, Olli, Albert oder Ullo nachts mit dem Kanister raus und zapften Diesel für unseren Ford Transit aus LKWs oder Baggern. Aber ich war nie dabei. Ich habe das abgelehnt. Nicht aus Angst, nein, ich war dagegen, weil ich es nicht in Ordnung fand, dass reiche deutsche Bürgersöhne armen portugiesischen LKW-Fahrern den Diesel stehlen. Zugegeben, ich wusste nicht, ob die LKW-Fahrer ihren Sprit selbst bezahlen mussten. Und sicher: Wären die vier erwischt worden, hätte man sie fürchterlich verprügelt. Deswegen behaupteten Sie ja auch, ich hätte bloß aus Schiss nicht mitgemacht. Ich habe das dann widerlegt, als wir zurück in Bielefeld waren. Da fuhr ich mit meinem Sparkäfer hin und wieder auf Parkplätze und saugte auch aus fremden Tanks. Das war nicht schwer, denn damals waren die meisten Tankdeckel noch nicht abschließbar, vor allem bei den billigen Autos. Ich klaute das Benzin allerdings nicht, um mich zu bereichern. Es ging nur darum zu beweisen, dass ich das kann. Ich hätte den Sprit auch wieder weggekippt, wenn das nicht die Umwelt belastet hätte. Nee, streichen Sie das. Das war jetzt gelogen. Die Frage aber bleibt: Was ist das überhaupt, ein Verbrechen? Das Verbrennen einer Deutschlandfahne in einer Bundeswehrkaserne? Nein, ich leugne nicht, dass ich das gemacht habe. Erst den gelben Streifen unten abgerissen, später die Fahne aus dem Fenster gehalten und angezündet. Nach dem Gesetz ist das Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole. Nach dem Gesetz habe ich auch mehrmals Hausfriedensbruch begangen, das waren die diversen Hausbesetzungen. Einmal war auch Landfriedensbruch dabei. Landfriedensbrecher – das klingt großartig, als ob man es geschafft hätte, ganz Deutschland in Aufruhr zu versetzen. Dabei ging es nur um irgendwelche RAFler, die im Hochsicherheitstrakt in Ummeln saßen. Da sind wir rausgezogen und haben vor den Betonmauern ein bisschen Krach gemacht. Keine Ahnung, was der Anlass war, aus Solidarität eben. Man hat uns dann alle eingesammelt, uns ins Polizeipräsidium nach Bielefeld verfrachtet und dort erklärt, wir hätten den Landfrieden gebrochen. Deshalb wurden wir auch der Reihe nach erkennungsdienstlich behandelt, so wie richtige Verbrecher, mit Fotos von vorne und im Profil, an denen Nummern dran waren. Der Polizist, der mich ED-mäßig in der Mache hatte, zählte aber erst mal alle meine Narben. Die unterm Kinn, die in den Augenbrauen, an den Schläfen, auf der Nase. Das hörte Antje, die im Nebenzimmer saß und auch gerade durchkatalogisiert wurde. Als wir wieder draußen waren, sagte sie: »Hey. Ich habe gar nicht gewusst, dass du so viel Narben hast. Irre, oder? Dabei sind die doch alle im Gesicht.« Antje war ziemlich blond und niedlich und eine linksradikale Feministin oder feministische Linksradikale, so was in der Richtung. Aber das mit den Narben klang bewundernd. Ich dachte, wenn ihr die gefallen, kriege ich sie vielleicht auch ins Bett. Aber mir fiel nicht ein, wie ich strategisch weitermachen sollte. Und jetzt ist wirklich Schluss damit. Denn dass ich gegen die Gesetze verstoßen habe, von der Polizei festgenommen wurde, Anzeigen kassierte usw., beweist gar nichts. Das waren keine Verbrechen, das war Lifestyle. Hausbesetzen, Landfriedenbrechen und den Staat verächtlich machen sind die Funsportarten der Siebziger und Achtziger gewesen, also das, was heute Paragliding, Kitesurfen oder Extrembügeln heißt. Das ist ja auch nicht kriminell, obwohl es fast immer so aussieht. Wie absurd es aber ist, all jene Akte, auf die Strafen stehen, als Verbrechen zu begreifen, beweist das schlimmste »Verbrechen« meines Lebens; vorausgesetzt man versteht unter dem schlimmsten das mit der höchsten Strafe bewehrte. Ich verübte es vor ein paar Jahren in Singapur. Da wurde ich ein paar Mal in Oralverkehr verwickelt, was in dem Land mit lebenslänglichem Gefängnis bestraft werden kann. Für mich ist das allerdings kein Grund, Lecken oder Blasen in mein persönliches Strafgesetzbuch aufzunehmen. Die einzigen Verbrechen, die ich gelten lasse, sind Mord, Totschlag, Körperverletzung, Betrug, Vergewaltigung, Brandstiftung und Diebstahl. Keines davon habe ich je begangen. Und auf der Stelle sollen meine Hoden wie einst die von Jost Burgmann schmerzen, sollte das nicht die Wahrheit … Okay, ich habe einmal »gestohlen«. Das war am 13. Juni 1982, und zwar das Buch »Einführung in die Sozialpsychologie« in der Buchhandlung Phoenix am Jahnplatz in Bielefeld, aus dem zweiten Regal von links in der Sachbuchabteilung im ersten Stock. Ich hatte allerdings fest damit gerechnet, dass man mich erwischen würde, weshalb auch in meiner linken Parkatasche eine zehnseitige Verteidigungsrede steckte: ein flammendes Manifest, in dem ich Bildung und kostenlose Bücher für die Armen, Schwarzen, Braunen, Gelben forderte. Soll sich denn, so wollte ich dem Staatsanwalt entgegenschleudern, der Stahlschmelzer dieses Fachbuch nach Feierabend selber schreiben? Oder soll man ihm nicht lieber die dringend benötigte sozialpsychologische Studie kostenfrei überlassen? Ich war fest davon überzeugt, dass mich das Gericht nach diesem ergreifenden Plädoyer nicht nur freisprechen, sondern mich auch noch zu meiner Tat beglückwünschen würde. Und dann wurde ich einfach nicht erwischt. Das war Pech, aber kein Diebstahl. So, Euer Ehren, Sie haben selbst gesehen, dass ich nichts getan habe, was man im weitesten Sinne als Verbrechen oder Vergehen bezeichnen könnte. Jetzt muss ich aber wirklich weiter. Wie, das geht nicht? Sie sind immer noch nicht durch mit mir? In der Anklageschrift … Dieser Wisch da? Darf ich mal lesen? Ach Gottchen: 52 eingeschlagene Laternen zwischen 1971 und 1975, 12 abgebrochene Mercedessterne, 23 beim Drüberlaufen beschädigte parkende Autos, 17 abgetretene Seitenspiegel. Das ist nun wirklich Kinderkram. Ich war besoffen, vertrug die Dunkelheit nicht, mir wurde wehgetan, der Fürst der Finsternis hat mich ferngesteuert. Der hat mir übrigens auch das hier gegeben. Nein, Sie können es ruhig in die Hand nehmen, das ist nur ein Abzug. Erkennen Sie’s? Genau: Das ist ein Foto Ihrer Mutter. Aufgenommen 1978 in Porta Westfalica, beim »Umsonst & draußen«-Festival. Ja, das ist ein großes Schlammloch rechts neben der Bühne, und das sind Lebensmittelfarben auf den Brüsten, sonst gar nichts … Alles klar? Na dann, tschüss, Euer Ehren. Wir sehen uns sicher wieder, spätestens beim jüngsten Gericht. Im September erscheint in der Edition Tiamat das Buch »Little Criminals. Peinliche Verbrechen und andere Kleinigkeiten«. Mit Beiträgen von Hunter S. Thompson, Wiglaf Droste, Hans Zippert, Gerhard Henschel, Funny van Dannen u.v.a., 176 Seiten, 13 Euro.
Christian Y. Schmidt
Christian Y. Schmidt:
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webredaktion
02.08.2006
https://jungle.world//artikel/2006/31/ich-habe-gar-nichts-gemacht
carsten does und gerda heck
Ein Gespräch mit Linda Lannacone von Paper Tiger TV aus New York, dem ältesten und einflussreichsten US-amerikanischen Videokollektiv
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https://jungle.world//autorin/carsten-does-und-gerda-heck
susanne schultz und elke schäfter
In Peru wurde zwischen 1996 und 1998 systematisch zwangssterilisiert. Feministische Organisationen reagierten zu spät auf das Programms
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rike müller
Kurz vor dem Treffen von IWF und Weltbank in Prag reagieren die tschechischen Behörden zunehmend hysterisch auf die erwarteten Proteste. Das Berliner Verwaltungsgericht verbietet dem Asta der Freien Universität allgemeinpolitische Äußerungen
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jens balzer
Vor hundert Jahren erschienen die "Katzenjammer Kids" zum ersten Mal im New Yorker Journal Eisensteins "Panzerkreuz Potemkin", Picassos "Guernica" oder Paul Klees Aquarell "Angelus Novus" - Otto Karl Werckmeister entstaubt die Bildergalerie der Linken Er schätzte die Gemütlichkeit der frühen Pulps. Heutige Comics waren ihm zu wild. Ein Nachruf auf Roy Lichtenstein, der im Alter von 72 Jahren gestorben ist
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sarah scheiner-bobis
In der Nachbarschaft des Facebook-Imperiums im kalifornischen Palo Alto ­explodieren die Immobilienpreise. Die Gentrifizierung hat längst auch das vorwiegend von Armen und Migranten bewohnte Stadtgebiet von East Palo Alto erfasst. An diesem Ort betreibt Johnny Gray seinen Box-Club, mit dem er Jugendliche von der Straße holen will.
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Die Revolution ist steinalt geworden
Hartes Pflaster Er kommt aus dem Nichts. Dann greift er an. Es ist bereits dunkel, das Konzert am Kreuzberger Oranienplatz wurde gerade beendet. 20 Meter weiter wird der Plus-Supermarkt geplündert. Schokoriegel, Eiscreme und andere Lebensmittel werden durch die zersplitterte Eingangstür nach draußen geworfen. Irgendwer brüllt: »Yeah«, andere rufen: »Boah«. Der Bundesgrenzschutz rückt an, die Menge rennt los. Und da steht er. Ausweichen? Zu spät. Ich verliere das Gleichgewicht. Poller gegen Mensch. Eisen gegen Redakteur. Redakteur verliert. Das Pflaster ist hart. Das Knie nicht. Eine wirklich beschissene Performance. Hallo Partner, danke schön! 9 Uhr, eine öde Betonpiste in Marzahn. Der Motorradclub Kuhle Wampe lädt zum Sicherheitstraining, und seine Mitglieder trotzen dem Druck der Straße. Statt Pflastersteinen werden Pylone ausgepackt, Barrikaden heißen hier Schikanen und sind Autoreifen, die nicht mit Benzin, sondern mit Regenwasser gefüllt sind. Es braucht keine Klassiker, um Sachschaden zu provozieren. Blinker, Tank, Fußrasten und Gepäckträger sind gern geopferte Anbauten. Hier zählt nur der physikalische Erkenntnisgewinn. Auch an Flexibilität stehen die Parcours den Demorouten in Kreuzberg und Mitte nicht nach. Eben noch simulieren die Pylone eine Kreisbahn, gleich darauf ein Oval, und wer dachte, Leitern wären nur dazu gut, Höhenunterschiede zu Fuß zu überwinden, wird eines Besseren belehrt: Drüberfahren mit wachsender Geschwindigkeit kickt deutlich mehr als Fensterputzen. Pausen dienen nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern liefern wichtige Tipps. Auch der Sound der Auspuffanlage muss stimmen. Er sorgt nicht nur für rege Kommunikation mit den Nachbarn, sondern trägt auch zur Sicherheit bei: Wer früh gehört wird, dem steht keiner im Weg rum. Auch nicht zu unterschätzen: Ein Krankenhausvergleich. Unfallkrankenhaus Marzahn (Osten, Brandopfer von Djerba, Städtisch) vs. Uniklinikum Benjamin Franklin (Westen, Subventionsgrab, Abwicklung). Das Ergebnis des Rankings ist eindeutig: Marzahn hat's drauf. In jeder Hinsicht. Nie wieder Zurück geht's nun nicht mehr, nach vorne schon lange nicht mehr. Zur rechten Seite dichtes Gestrüpp, zur Linken überall Menschen. Von hinten wird gedrängt, von vorn auch. Wer jetzt zu entkommen versucht, läuft Gefahr, überrannt zu werden. Wer stehen bleibt, wird sicher überrannt. Nur raus hier. Aber wie? Da, ein kleiner Spalt. Jetzt aber schnell. Zu spät, kein Durchkommen mehr. Der Druck von hinten nimmt zu, die Beine zittern, der Schweiß läuft. Auf jeden Fall gegen die Panik ankämpfen. Ist die Bezugsgruppe noch da? Zusammenbleiben, los, gib mir deine Hand, nein, du doch nicht, da, warte, festhalten. Noch mehr Leute. Wo kommen die her? Alle wirken gehetzt. Wie soll man da ruhig bleiben? Lass' jetzt bloß nicht los. Dieser Krach. Und wie das hier riecht. Ist das Rauch? Was qualmt denn da? Macht doch jetzt keinen Scheiß. Hört doch mal auf zu drücken, es geht hier nicht weiter. Raus hier, nur raus hier, und dann nie wieder. Nie wieder mit dem Kinderwagen zum Fest auf den Mariannenplatz. Und wenn es noch so friedlich verläuft. Jesus, Jutta Ditfurth Es war meine kürzeste 1. Mai-Demo. Sie begann, wo sie endete - am Ort der Kundgebung. Kaum auf dem Rosa-Luxemburg-Platz angekommen, drückt mir ein blonder Vertreter der Sicherheits- und Ordnungskräfte 'ne bunte Postkarte in die Hand: »1. Mai 2002: Gemeinsam friedlich in den Mai!« lässt der Polizeipräsident in Berlin ausrichten. Untermauert wird die freundliche Aufforderung vom gesamten Bürgerkriegsapparat, der entlang der Demoroute aufgefahren worden ist. Am friedlichsten gucken die Schützenpanzer vom BGS. Dann sticht mir ein rosa Transparent ins Auge: »Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Jesus«. Jesses, denk ich, jetzt schlägt der deutsche Friedensfundamentalismus auch hier schon zu. Ich geh' mir die TransparentstangenträgerInnen anschauen, immerhin, einer hat ein »Jesus-Terror-Front«-T-Shirt an. Dann kommt der inhaltliche Top Act der Kundgebung. Jutta Ditfurth hat sich Gedanken zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern gemacht und muss sie auch gleich loswerden. Einige Leute rufen »Möllemann, Möllemann«, die große Mehrheit klatscht. Und tschüss! Was läuft Das Inlandsressort sucht wie immer nach ganz neuen Perspektiven und begibt sich ins Medienzentrum der Polizei in Tempelhof. Zu verlockend ist die Aussicht, einen Polizei-Presse-Button mit der Aufschrift »Gemeinsam & friedlich« geschenkt zu bekommen, dem Einsatzleiter die Hand zu schütteln, Häppchen essend in bequemen Sesseln das Geschehen zu verfolgen und endlich mal Infos aus erster Hand zu bekommen. Wir beschäftigen drei Beamte damit, uns in den richtigen Raum im ersten Stock zu bringen, bestaunen eine ansprechende Polizeikappen-Ausstellung und bekommen die Buttons und die Zusage, alles fragen zu dürfen, was uns bewegt. Dennoch macht sich schnell Enttäuschung breit. Den Auftritt des Einsatzleiters knapp verpasst, keine Häppchen, Standardkekse auf himmelblauen Servietten, viel zu wenig Schokokekse. Die multimediale Präsentation beschränkt sich auf Demo-Bilder aus der Vogelperspektive. Die Hoffnung, wenigstens Bekannte beim Bockwurstessen auf dem Mariannenplatz beobachten zu können, erfüllt sich nicht. Wir wollen wissen, ob sich das Polizeikonzept nach den bösen Krawallen vom Vorabend geändert hat. Nein, es werde weiter auf Deeskalation gesetzt. Erst mal »mit schwachen Kräften 'rangehen«. Auf kritische Nachfragen - wann wieviel Polizei einschreiten sollte - erfahren wir, dass wir ja auch nicht wollen, dass unsere Bürgersteige verwüstet werden. Genau, denken wir, und recherchieren vor Ort weiter. Der Running Gag Mit der Laubsäge komme ich nicht weiter. Der Bolzenschneider bringt's auch nicht. Scheiß Poller. Mit dir werd' ich noch fertig. Die Polizei räumt die O-Straße. Diesmal in die andere Richtung. Mir doch egal. Es gibt nur noch ihn und mich. Zum Teufel mit der Deeskalation. Dem reiche ich keine ausgestreckte Hand. Doch Fußtritte können ihm nichts anhaben. Der Poller steht wie eine Eins. Alles bleibt, wie es ist Wenn es auf 18 Uhr zugeht, wird die proletarische Avantgarde in der Umgebung des Mariannenplatzes unruhig. Kreuzberger Jugendliche klopfen ungeduldig mit ihren Knüppeln auf das Pflaster. Dann kommt Bewegung in die Menge, doch es wird kein Kontaktbereichsbeamter gelyncht, der ein klärendes Wort an die militante Jugend richten wollte. Man prügelt sich untereinander. Nun wird es Zeit, sich auf den Weg zur revolutionären Demonstration zu machen. Der erfahrene Revolutionär erspart sich die zweistündige Auftaktkundgebung und bewundert lieber die realsozialistische Architektur in der Umgebung des Alexanderplatzes. Als sich die Demonstration dann doch in Bewegung setzt, wird der verblüffte Revolutionär ausführlich darüber belehrt, dass die Berliner Politik korrupt ist und die Stadt deshalb ziemlich viel Geld verloren hat. In Argentinien stürzen sie wegen sowas die Regierung, ein live aus Buenos Aires zugeschalteter Vertreter der piqueteros ist sich allerdings nicht sicher, ob sich dieser Vorgang beliebig wiederholen lässt. Es hat ohnehin niemand einen Kochtopf dabei, und so bleibt Schröder weiter Kanzler. Tanztee Die Oranienstraße rauf und runter: das Übliche. Irgendwann hat man dann einfach genug vom ewigen Hineindrängeln in Hauseingänge und Dönerbuden, wenn die Polizei ihr Spielchen »Straße räumen« durchzieht. Aus einem improvisierten Soundsystem mit schlechten Boxen und einem CD-Player, der dauernd hängen bleibt, erklingt Bob Marley, alle tanzen, und es fehlen eigentlich nur noch die Blumen, die man der Polizei an die Kampfanzüge stecken könnte. Willkommen im Hippie-Klischee! Eigentlich ist diese spontane Reclaim the Streets-Party ja ziemlich abgeschmackt. Gleich um die Ecke werden die Leute von der Straße vertrieben, während man hier sein privates »Peace, Love & Happiness«-Refugium aufgemacht hat. Doch irgendwie bildet diese relativ relaxte Stimmung auch einen willkommenen Kontrapunkt zu all der Aggression um einen herum. Man kann diesen Tanztee ja auch als Erfrischungszentrum für ausgebrannte Autonome betrachten, die danach frisch gestärkt ihren revolutionären Verpflichtungen nachgehen können. Allerdings wird auch hier recht schnell deutlich, dass die Polizei nicht wirklich an einer friedfertigen Störung der öffentlichen Ordnung interessiert ist. Wenn irgendein Polizeitrupp oder ein Wasserwerfer über die Adalbertstraße strategisch versetzt werden soll, wird die Party rigoros durchbrochen, was Aggression erzeugt, und irgendwann läuft dann auch Metallica statt Reggae. Die Stimmung wird nun verspannter, woraufhin die Polizei das Soundsystem abwürgt. Einem solidarischen Soundsystem, das daraufhin aus dem gegenüberliegenden Fenster »Love Me Do« von den Beatles schmettern lässt, wird sofort die Konfiskation der Anlage angedroht. Ab sofort ist Schluss mit lustig, und es bleibt einem gar nichts anderes mehr übrig, als wieder in der Oranienstraße gegen den ganzen Scheiß zu protestieren. Letzte Runde Kurz nach 22 Uhr, Skalitzer Straße: Eine Menschenmenge steht rund um den Görlitzer Bahnhof. Die Polizei hat fett aufgefahren. »Diese Versammlung genießt nicht den Demonstrationsschutz des Grundgesetzes«, ruft ein Beamter mit Abitur aus dem Wasserwerferwagen. Kommen wir noch durch? »Verlassen Sie den Platz in Richtung Wiener Straße!« Alles okay, da wollen wir sowieso hin. Gleich kann es unangenehm werden, außerdem muss es sich um eine jener »illegalen Zusammenrottungen« handeln, vor denen die Kreuzberger Patriotischen Demokraten / Realistisches Zentrum - Massenlinie (Generalcommando) (KPD/RZ-ML (GC)) gewarnt haben: »Sämtliche Veranstaltungen kiezfremder Personen, Bündnisse und sonstiger irrelevanter gesellschaftlicher Kräfte« seien »ungültig und nichtig«. Jetzt also die »einzig wahre Erste-Mai-Demo« unter dem Motto »Schluss mit dem Pollenterror«. Zwar hat die Polizei in letzter Minute die Demo verboten, immerhin, die Kundgebung vor dem Gebäude der »Unfreiwilligen Feuerwehr« in der Wiener Straße kann stattfinden. Die Massen rufen »Pollen raus!« und »Bravo Feuerwehr!«. Dazwischen haben sich offensichtlich Provokateure aus Nordost-Kreuzberg gemischt, die mit »Nie-wieder-Kreuzberg!«-Rufen Unruhe stiften wollen. Erfolglos. Kaum ist die Kundgebung beendet, startet ein Angriff auf die am Görlitzer Bahnhof stationierten Wannen mit Göppinger Kennzeichen. Unter dem dumpfen Klang von Pflastersteinen, die auf sie einprasseln, rasen die gepanzerten Mannschaftswagen davon. Nach zwei, drei Angriffswellen auf die anrückende Verstärkung beginnt die Gegenoffensive. Während die schwäbischen Beamten nun ihren flüchtenden Landsleuten hinterherhetzen, verteilen sich die Kader in die umliegenden Kneipen. Feierabend.
andreas hartmann, holger hegmanns, patrick kunkel, carlos kunze, jörn schulz, maik söhler, regina stötzel und deniz yücel
andreas hartmann, holger hegmanns, patrick kunkel, carlos kunze, jörn schulz, maik söhler, regina stötzel und deniz yücel: Der 1. Mai in Kreuzberg
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webredaktion
08.05.2002
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baruch de spinoza
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https://jungle.world//autorin/baruch-de-spinoza
Einen doppelten Dimitroff, bitte!
Lieber Hermann, im letzten Dossier der Jungle World (gemeint ist das "Links-Rechts"-Dossier vom 4. Dezember 1997) kündigt sich nun auch in größerem Rahmen eine Polarisierung an, vor der mir graut und die wir mit unserem Buch ("Goldhagen und die deutsche Linke") mit Sicherheit nicht hatten auslösen wollen: Anstatt sich mit Goldhagens Thesen auseinanderzusetzen und Schlußfolgerungen daraus zu ziehen, um linke Analyse und Theoriebildung zu erweitern, wird der Abschied von falscher linker Analyse als Abschied von Marx oder der Linken insgesamt zelebriert. Und als Gegenreflex wird dann auf jener falschen linken Analyse und einem "Durch-die-Hintertür-Dimitroff" beharrt? (Ö) Es gibt ja seit vielen Jahren den Streit um die Begriffe "Nationalsozialismus" vs. "deutscher Faschismus", die mit unterschiedlichen Deutungen jener Zeit korrespondieren. Du hast Dich nicht für den einen oder für den anderen Begriff entschieden, sondern für die Kombination: "Der Holocaust charakterisiert den Nationalsozialismus, der zugleich als Faschismus die imperialistischen Ziele der deutschen Bourgeoisie verfolgt. (...) Dimitroffs Theorie beschreibt den Faschismus, und also den Nationalsozialismus, nur insoweit er Faschismus war - sie ist keine Theorie des Nationalsozialismus, die dessen besonderes Merkmal, die Vernichtung der europäischen Juden, auch nur zu erklären versuchte." Was aber soll das bedeuten? Gehst Du von einer Art Doppelherrschaft von Nazis und Bourgeoisie aus, unter der die Nazis den Holocaust machen durften und die Imperialisten das Geschäft? Dann hätte Dimitroff falsch gelegen, weil er eben dies verkannte. Oder liegt Deiner Kombination eine zeitliche Abfolge zugrunde, wonach bis, sagen wir, 1939 der von Dimitroff beschriebene Faschismus als "die Macht des Finanzkapitals selbst" herrschte, der dann erst im Zuge der Vernichtung der Juden - quasi janusköpfig - seine nationalsozialistische Seite offenbarte? Diese Deutung würde der massenhaften, bis 1941 sich steigernden Zustimmung zur NS-Politik, die alle neueren Untersuchungen zweifelsfrei belegen, nicht gerecht werden können. Mir scheint Deine Kombinationsthese ein fauler Kompromiß zu sein. Wir alle wissen inzwischen, daß der Holocaust mit einem unmittelbaren imperialistischen Interesse nicht länger erklärt werden kann. Also trennst Du ihn vom Faschismus ab und reklamierst für den letzteren die fortwährende Richtigkeit der Dimitroffschen Beschreibung. Oder sehe ich das gänzlich falsch? Wenn ich richtig informiert bin, hat es diese Form der Teil-Rehabilitation von Dimitroff, derzufolge seine Theorie den Faschismus immerhin beschreibe, "Nationalsozialismus, soweit er Faschismus war", in den letzten Jahren weder von Pätzold noch von Gossweiler oder Kühnl mehr gegeben, weil man sich auf diese "Theorie" Dimitroffs (es war wohl mehr die Erläuterung einer neuen politischen Taktik) zustimmend überhaupt nicht mehr beziehen kann. Die Separierung von "Nationalsozialismus" und deutschem "Faschismus" ist m.E. eine reine Fiktion. Der Nationalsozialismus war keine Erweiterung oder Unterabteilung des deutschen Faschismus, sondern dieser selbst. Deswegen kann man zu Goldhagens These von der Zentralität des Holocaust für den Nationalsozialismus auch nicht "ja und nein" sagen, wie Du es tust. Wenn Goldhagens These stimmt, war der Holocaust seit 1933 das Ziel der deutschen Politik. Wenn sie nicht stimmt, war der Holocaust nicht das Kennzeichen des, sondern seine mehr oder weniger zufällige Begleiterscheinung. Der Streit um diese Alternative ist eine jener dringlichen Auseinandersetzungen, die um Goldhagens Buch geführt werden müßten, aber nicht geführt werden. Es geht mir nicht darum zu bestreiten, daß nach den Massenerfolgen der NSDAP Hitler für maßgebliche Teile des Kapitals interessant und später auch äußerst lukrativ geworden ist. Das Verhältnis des Kapitals zum NS-Herrschaftssystem wird bei Barkai als "das des 'sleeping partners' oder 'stillen Teilhabers' definiert, der die Gewinne der 'Firma' bezieht, ohne Mitspracherecht an deren Leitung und Geschäftsführung". Für diese Charakterisierung scheint einiges zu sprechen. Und es wäre absurd, vor lauter antideutschem Sentiment die Rolle etwa des französischen, britischen oder US-amerikanischen Kapitals hinsichtlich der Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus zu unterschlagen. Es kann aus meiner Sicht nicht darum gehen, in einer Pendelbewegung anstelle des deutschen Kapitals nun die organisierte deutsche Arbeiterklasse für Hitlers Machtübernahme verantwortlich zu machen. Sondern es geht um die Wechselbeziehung zwischen Volk und Führung sowie um die Widerlegung des weitverbreiteten Mythos, demzufolge sich die deutsche Bevölkerung unter Hitler in eine terrorisierte bzw. durch Gehirnwäsche manipulierte Masse ohne eigenständige politsche und soziale Ansichten verwandelt hat. Dieser Mythos, der seit Dimitroff die kommunistische Nationalsozialismus-Interpretation dominiert, wurde in Deinem Artikel - im Widerspruch oder in Ergänzung zu den ersten fünf Zeilen des Textes - neu aufgelegt. Wenn Du etwa schreibst, daß das kennzeichnende Merkmal des Faschismus (doch wohl auch in Deutschland?) darin bestehe, daß die bürgerliche Demokratie in eine Herrschaftsform transformiert werde, die den Gegensatz der Klassen in einer Volksgemeinschaft scheinbar aufhebe, "und zwar mit den Mitteln des Terrors und der Propaganda", dann bleibt in dieser Formel die Dichotomie von der Herrschaft, die Terror ausübt und Propaganda verbreitet, und den Beherrschten, die von beidem jeweils das Opfer sind, erhalten. Wie ich Dir schon zu erkennen gab, hatte mich insbesondere der Absatz Deiner Fußnote irritiert, der mit "Wenn die Vernichtung der europäischen Juden ..." beginnt, und in dessen Anfangszitat nicht vom eliminierenden (also vertreibenden) Antisemitismus, sondern vom vernichtenden, also dem "exterminatorischen Antisemitismus" die Rede war. Ich will nicht bestreiten, daß es auch das Interesse deutscher Mittelständler, Industrieller und Bankiers an der Bereichung mit "arisiertem" Vermögen gab. Dies war ein Motiv, Juden zu vertreiben oder in ihrer beruflichen Existenz zu ruinieren. Du sprichst aber von dem geschäftlichen Interesse jener Bankiers an "der möglichst spurlosen Beseitigung" der Juden, also ihrer Auflösung in Rauch. Damit wird zumindest partiell eine materieller Zwecksetzung der Gaskammern suggeriert, die es nicht gab. Kühnl hatte diesen Nachweis bereits in seinen Faschismus-Dokumenten zu erbringen gesucht. Wir haben das in unserem Buch (S. 27) kritisiert. (Ö) Hätte Reinhard Kühnl diese Fußnote in den Marxistischen Blättern geschrieben, wäre mir das vollkommen gleichgültig gewesen. Selbstverständlich sehe ich Deine/Eure Meriten - die Editorials von 1989, die Golfkriegsintervention (durch die ihr mit falschen Argumenten das Richtige bewirkt habt), den Pohrt zur Inneren Einheit von 1991, die Aly/Heim-Debatte, die Groehler-Debatte um den Antisemitismus in der DDR usw. usf. Ohne diesen Hintergrund hätte mich Euer verkürzter Umgang mit Goldhagen nicht so erstaunt. Das eigentlich Angemessene wäre eine Konferenz der antinationalen Linken zum Thema Nationalsozialismus und Antisemitismus aus Anlaß der Goldhagen-Thesen und in einem Rahmen, der etwa demjenigen der Dresdener Konferenz von 1994 entspricht. Statt dessen scheint unser Buch zum Katalysator einer gänzlich anderen Debatte zu werde, eine Debatte, mit der es die Restlinke erneut erfolgreich geschafft haben würde, den Herausforderungen, die Goldhagens Thesen enthalten, und der Grunddiskussion, die daraus eigentlich zu folgen hätte, aus dem Weg zu gehen. Anmerkung der Jungle World-Redaktion: Der obige Brief von Matthias Küntzel an Hermann L. Gremliza stammt vom 9. Dezember 1997 und kritisiert den Artikel ("Fußnote zu Zuwi"), den Gremliza im Anschluß an eine Rezension von "Goldhagen und die deutsche Linke" in konkret 10/97 veröffentlicht hatte. Nach der öffentlichen Antwort Gremlizas (vgl. konkret 2/98) hat uns Küntzel dieses Schreiben zur Verfügung gestellt.
matthias küntzel
matthias küntzel: Sackgassen&Sonderwerg
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Dossier
19.02.1998
https://jungle.world//artikel/1998/08/einen-doppelten-dimitroff-bitte
»Ein Korrektiv im Wahnsystem«
Anton Landgraf: Was hat sich in den letzten fünf Jahren verändert, abgesehen davon, dass die Produktion routinierter geworden ist und sich die Arbeitsbedingungen verbessert haben? Ferdinand Muggenthaler: Politisch hat sich das Umfeld verschoben. Antisemitimus und Antiamerikanismus haben wir immer thematisiert. Doch nach dem 11. September wurden die Themen auf einmal sehr brisant, weil Teile der Antiglobalisierungsbewegung einen traditionellen Antiimperalismus wieder entdeckt haben und einem gefährlichen Antizionismus anhängen. Da war die Diskussion in der Linken schon mal weiter. In dieser Situation wird die Jungle World, ohne grundsätzlich ihre Position verändert zu haben, von einigen plötzlich als die große Verteidigerin der USA wahrgenommen. Regina Stötzel: Wurde der Jungle World früher auch Kriegshetzerei vorgeworfen? Muggenthaler: Im Kosovo-Krieg wurde uns auch vorgeworfen, wir würden zu wenig gegen den Krieg agitieren. Nur kam die Kritik damals aus dem antideutschen Spektrum, während wir jetzt als zu »antideutsch« kritisiert werden. Ich sehe da eine wichtige Kontinuität: Wir verschreiben uns nicht einer Kampagne, sondern versuchen, in einem bestimmten Rahmen eine Debatte abzubilden und voranzutreiben. Bernd Beier: Ich bin sehr wohl für eine Schwerpunktsetzung. Wenn 90 deutsche Professoren und Intellektuelle einen Aufruf mit deutschnationalem Hintergrund gegen die USA schreiben und sich an die Islamisten hängen, wenn sie wie selbstverständlich kein Wort zu den Ambitionen Deutschlands sagen, dann nehme ich das aufs Korn. Und dann muss ich nicht reflexhaft dazuschreiben, dass ich gegen den Krieg der USA bin. Das gleiche gilt für die Kritik an der Anti-Bush-Demo: Alle kritisieren die USA, aber niemandem fällt auf, dass der deutsche Staat auch Interessen verfolgt, siehe Benes-Dekrete usw. Da muss man doch auf die Gefahr hinweisen, das Muster der deutschen Friedensbewegung aus den Achtzigern könnte sich wiederholen, dass mit deutschnationalem Friedensgesäusel die halbe Linke eingekauft wird. Muggenthaler: Aber eben nur die halbe Linke. Es gab auf der Demo gegen den Besuch des US-Präsidenten Anfang Mai auch Versuche, der Gefahr zu begegnen. »Gegen Schröder und Bush« war auf einigen Transparenten zu lesen. Für die Professoren gilt das natürlich nicht, da ist bedingungslose Kritik angesagt. Wenn wir aber den Eindruck erwecken, wie seien nur darauf fixiert, vor allem die Linke zu kritisieren, dann läuft was falsch. Ich glaube aber, dass uns insgesamt diese Gratwanderung gut gelingt. Einerseits beziehen wir uns zwar auf die Linke, wir lassen uns aber nicht für Kampagnen einspannen, sondern haben auch hier die Aufgabe der Kritik. Das Hauptobjekt der Kritik sind natürlich die herrschenden Verhältnisse und nicht die leider fast bedeutungslose Linke. Stötzel: Man muss aber auch genau bleiben. Es ist noch kein ausreichendes Argument gegen die Anti-Bush-Demo, dass dort so viele Menschen waren, während am 8. Mai vor der SPD-Zentrale nur wenige gegen Schröder und Walser demonstriert haben. Landgraf: Es geht nicht nur um diesen Anlass. Zum Beispiel Möllemann: Hier zeigte sich eine deutliche Verschiebung in der deutschen Politik. Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit führt ein prominenter Politiker mit antisemitischen Parolen Wahlkampf. Er gerät zwar daraufhin etwas in Bedrängnis, aber letztlich hat es keine Konsequenzen für ihn. Die Linke hat so gut wie gar nicht darauf reagiert. Die einzige größere Kundgebung gegen Möllemann, an der sich auch ein paar Dutzend Linke beteiligten, wurde von der Jüdischen Gemeinde organisiert. In einigen linken Publikationen wie etwa der SOZ oder der jungen Welt wurde Möllemann sogar explizit verteidigt. Und auch das neue Selbstbewusstsein der so genannten Vertriebenenverbände ist bislang kein Thema. Nicht nur bei den Benes-Dekreten sind bis hin zur taz mittlerweile Positionen salonfähig, die vor zehn Jahren nur von der extremen Rechten verteidigt wurden. Stötzel: Die Kritik daran sollte unser Schwerpunkt sein. Wir sollten uns nicht darauf konzentrieren zu kritisieren, was andere nicht tun. Kerstin Eschrich: Aber es ist ja kein Zufall, dass zur Anti-Bush-Demo so viele kommen und zur der gegen Möllemann und Walser nicht. Stötzel: Sicher, aber die Gesellschaft bewegt sich insgesamt nach rechts, und darauf sollte unser Hauptaugenmerk liegen. Es geht nicht in erster Linie darum, irgendwelche Bewegungsaktivisten zu verurteilen, weil sie nicht so argumentieren, wie wir es am liebsten hätten. Beier: Zwei weitere Einwände. Erstens: Mit wem solidarisiert sich die globalisierungskritische Bewegung? Emanzipatorische, säkulare Bewegungen mit sozialen Forderungen und räteähnlicher Organisationsform wie in Algerien in der Kabylei spielen da kaum eine Rolle. Nein, es gibt eine große Solidaritätskampagne für die palästinensische Bewegung, d.h. für eine Bewegung, bei der im besten Fall ein autoritärer Staat, im schlechtesten Fall ein islamistischer Polizeistaat herauskommt. Zweitens: Der 11. September hat die Ideologisierung noch beschleunigt. Der Anschlag, ein Massaker mit Tausenden Toten, war schnell kein Thema mehr, aber alle, die nicht sofort Zeter und Mordio schreien, wenn das Taliban-Regime vertrieben wird, sind gleich Kriegshetzer. Und zusammen mit dem Antizionismus ergibt das eine gefährliche ideologische Konstellation. Zufällig hat die Antiglobalisierungsbewegung mit den USA und Israel die gleichen Hauptfeinde wie die Islamisten. Stötzel: Aber die Hauptkritik der globalisierungskritischen Bewegung richtet sich auf den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und andere Institutionen, nicht auf Israel. Also Institutionen, die eindeutig kritikwürdig sind. Zu deren Treffen wird regelmäßig mobilisiert. Und außerdem gibt es die eine Antiglobalisierungsbewegung gar nicht. In Genua demonstrierten die unterschiedlichsten Gruppen, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Die ganze Bewegung auf Attac zu reduzieren, weil diese Gruppe mittlerweile den medienwirksamsten Teil der Bewegung ausmacht, ist falsch. Deren Ziele sind tatsächlich sehr kompatibel mit dem Mainstream. Landgraf: Ein Problem der Bewegung besteht darin, dass ihre Ansichten teilweise noch aus dem vergangenen Jahrhundert stammen. Der Begriff des Kapitalismus wird mit dem Neoliberalismus gleichgesetzt, der wiederum häufig als Synonym für die USA verwendet wird. Daraus werden dann anschließend antiimperialistische Positionen formuliert. Die USA sind sicherlich derzeit das mächtigste Land auf der Welt und Bush ist alles andere als ein Sympathieträger. Aber man kann heute den Kapitalismus nicht mehr geografisch verorten, dieses System ist doch längst nicht mehr an bestimmte Territorien gebunden. Stötzel: Es ist falsch, so zu tun, als wäre die Linke komplett in den Achtzigern stecken geblieben. Organisationen wie die Buko machen doch auch heute etwas anderes als damals. Wenn man behauptet, alle andern sind stehen geblieben, nur man selber hat sich weiter entwickelt, landet man in der Bedeutungslosigkeit. Beier: Die globalisierungskritische Bewegung steht doch auch vor einem anderen Problem. Das Gipfelhopping allein kann auf Dauer nichts verändern. Will man eine tragfähige radikale Bewegung daraus entwickeln, muss eine Kritik des Alltags hinzukommen, in dem man als widerständiges Subjekt handeln kann. Und genau diese Verbindung hat bislang nicht stattgefunden. Attac versucht sozusagen eine sozialdemokratische Variante: Slogans wie »Gesundheit oder Bildung dürfen keine Ware sein« bedeuten bei Attac, dass diese Bereiche wieder staatlich reguliert werden müssen. Kritik an der Totalität aus Staat und Kapital - Pustekuchen. Eschrich: Eine Stärke der Jungle World ist es, dass sich viele Artikel auf Deutschland beziehen, also aufs eigene Land. Trotzdem sind auch Artikel wichtig, die sich mit Bewegungen kritisch auseinandersetzen. Muggenthaler: Ich kann weder mit dem Begriff kritische Solidarität viel anfangen, noch mit Artikeln, in denen zu viel enttäuschte Liebe zur deutschen Linken zum Ausdruck kommt. Es gibt keine radikale Bewegung, für die es sich lohnen würde zu sagen: Unsere Hauptaufgabe ist es jetzt, diese Bewegung kritisch zu begleiten. Deshalb will ich eine gewisse Gelassenheit bewahren gegenüber linken Bewegungen und ihren jeweiligen Borniertheiten. Für eine rein innerlinke Debatte bräuchte es sicherlich auch keine Wochenzeitung. Landgraf: Eine Stärke der Jungle World liegt darin, dass sie unbequeme Thesen formuliert, die sicherlich nicht immer Sympathie einbringen. Die Schwächen sind im Wesentlichen konstant geblieben. Positionen, die streitbar und provozierend sind, fehlt es häufig an einer empirischen Untermauerung. Das liegt vor allem an den mangelnden Ressourcen, wir können es uns im wahrsten Sinne des Wortes kaum leisten, durch Reportagen vor Ort oder investigativen Journalismus unsere Thesen entsprechend zu unterfüttern. Das können wir meistens nur bei Themen, bei denen wir viele Kontakte haben, und bei Ereignissen, die in geografischer Nähe stattfinden. Tobias Rapp: Die Stärke der Zeitung liegt darin, dass sich alle vertragen, was sehr erstaunlich ist angesicht der unterschiedlichen politischen und lebensweltlichen Positionen, die hier existieren. Konflikte führen nicht dazu, das ganze Projekt in Frage zu stellen. Das ist aber nur möglich, weil bestimmte Auseinandersetzungen nicht in letzter Konsequenz ausgetragen werden. Das führt dazu, dass es mitunter keine richtige Linie der Zeitung gibt. Vielleicht ist das Problem, dass man bestimmte Themen ganz stark macht und andere nicht; das man sich eben im Zweifelsfall immer auf die Themen einigt, bei denen Konsens besteht. Und das ist auf die Dauer auch nicht besonders spannend. Beier: Das Problem kommt aber daher, dass sich seit 1989 kritische Positionen hier permanent in der Defensive befinden. Weil die pseudointellektuellen Debatten regelmäßig von rechts und immer aus der deutsch-nationalen Ecke angefacht wurden. Insofern ist man da in einer permanenten Abwehrschlacht. Für ein neues deutsches Verständnis der Nation müssen das Establishment und seine Ideologen die deutsche Geschichte uminterpretieren. Und weil man auf kritische Weise gegen Deutschland ist, ist man gezwungen, das immer wieder zu kontern. 1991ff. ging es gegen die Ausländer, heute wird wieder munter die so genannte Judenfrage diskutiert. Muggenthaler: Klar, das ist eine Aufgabe der Zeitung, aber eben nicht nur. Es war immer auch eine Qualität der Jungle World zu sagen, trotz dieser »Abwehrschlacht« bunkern wir uns eben nicht in den Gräben ein, sondern sehen noch andere Themen, die uns interessieren. Pathetisch gesprochen: Wenn wir nicht die Idee von einem besseren Leben hätten, dann gäbe es auch keinen Grund, das Bestehende zu kritisieren. Manche haben das Hedonismus genannt. Rapp: Man könnte auch sagen, dass uns manchmal die Distanz zu den Ereignissen fehlt. Wenn man sich ständig in einer Abwehrschlacht wähnt, muss man eben immer voll dagegenhalten. Eine andere Sicht wäre, den Ball flach zu halten und genauer hinzuschauen. Wenn man immer nur aus der Defensive heraus schreibt, kann es leicht passieren, dass man bestimmte Zustände für gegeben hält und sozusagen nicht über den Wahnsinn schreibt, sondern aus dem Wahnsinn heraus. Stattdessen müsste man häufiger überprüfen, wie sich die eigene Wahrnehmung zu dem großen Wahnsystem verhält. Dass man sich nicht nur als Korrektiv begreift, sondern das Korrektiv-Sein gleich noch mitkorrigiert. Muggenthaler: So wie wir jetzt diskutieren, könnten wir auch ein Monatsmagazin machen. Warum machen wir eigentlich eine Wochenzeitung? Beier: Man kann schneller eingreifen. Eine Tageszeitung wäre noch besser. Rapp:Nein, eine Tageszeitung wäre nicht besser. Bei einer Wochenzeitung hat man schon ein paar Tage mehr Zeit zum Nachdenken. Ich finde es super, der Aktualität nicht so sehr ausgesetzt zu sein. Eine Schwäche der Zeitung ist sicher der Personalstand. Es gibt zwar eine gute ressortinterne Planung. Auf jeden Fall besser wäre es aber, wenn es mehr ressortübergreifende Themensetzungen geben würde. Doch dafür fehlen derzeit die Ressourcen. Landgraf: Die Zeitung wirkt wegen der statischen Formate mittlerweile etwas zu behäbig. Zu Beginn gab es auf der Diskoseite fast immer zwei Texte, inzwischen wird meist nur noch ein Text veröffentlicht. Bei vielen Themen wären jedoch kurze Kommentare besser angebracht. »Schnelle« Formate wie Porträts und Kurzinterviews fehlen ganz, aber das wird sich ja demnächst ändern. Rapp: Wir müssen viel mutiger werden, was die Themensetzung angeht. Zum Beispiel hätten wir schon im vergangenen Jahr die Rolle von Möllemann thematisieren können. Aber wir haben zu sehr auf die Spielregeln geachtet, wollten nicht vorgreifen und haben mehr darauf geachtet, was die anderen so machen. Man hätte da viel früher und schärfer schießen können. Muggenthaler: Aber es nützt uns ja auch nichts, dass wir schon immer Recht hatten - siehe Walser. Eschrich: Und man kann sich auch mehr in die Nesseln setzen. Es gab ja Themen, wie etwa den Islamismus, den wir schon lange vor dem 11. September diskutiert haben. Aber einige Themen, die in der Linken nicht so kompatibel sind, fallen leicht raus. Stötzel: Themen selber zu setzen könnte heißen, dass wir nicht zu jedem CDU-Parteitag etwas im Blatt haben müssen, wenn dort nur die selbe Leier wie immer geboten wird. Stattdessen sollten wir mehr Themen aufgreifen, die man woanders nicht liest. Landgraf: Besonders ökonomische Themen sind unterrepräsentiert. Ökonomie findet bei uns nur am Rande statt. Die Frage, wie der Alltag organisiert ist, welchen sozialen und materiellen Bedingungen wir ausgesetzt sind, spielt mittlerweile kaum mehr eine Rolle. Die Fixierung auf außenpolitische Themen führt auch dazu, dass solche Themen völlig vom Tisch sind. Vor zwei Jahren waren wir uns noch einig, dass Arbeit und Ökonomie zentrale Anliegen der Zeitung sein sollten. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Dass man diese Themen aufgegeben hat, ist ein strategisches Defizit. Muggenthaler: Das liegt daran, dass wir wohl zu sehr auf die Ideologiekritik fixiert sind. Rapp: Das ist ein Problem der Identifizierung in der gesamten Linken, nicht nur der Zeitung. Landgraf: Die Zeitung hat immer die Verbindung zwischen Ideologiekritik und Hedonismus gesucht. Und die Kritik an den materiellen Lebensbedingungen hat ja auch immer mit dem Wunsch nach einem besseren Leben zu tun, dem Wunsch nach Veränderung.
bernd beier, kerstin eschrich, anton landgraf, ferdinand muggenthaler, tobias rapp und regina stötzel
bernd beier, kerstin eschrich, anton landgraf, ferdinand muggenthaler, tobias rapp und regina stötzel: Fünf Jahre "Jungle World"
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Dossier
31.07.2002
https://jungle.world//artikel/2002/31/ein-korrektiv-im-wahnsystem
wolf-dieter vogel und kolja lindner
Über die rot-grünen Ausstiegspläne können sich auch die Betreiber nicht beschweren: Zuerst einmal wird dafür gesorgt, daß kein AKW vom Netz gehen muß
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https://jungle.world//autorin/wolf-dieter-vogel-und-kolja-lindner
»Das stimmt schon, das stimmt schon«
Peter Clever, der Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, fordert, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld generell auf zwölf Monate begrenzt wird. Ein Arbeitsloser hat in der Pressestelle der BDA angerufen. Guten Tag. Ich hab’ da mal eine Frage. Ich habe heute gelesen, dass Ihre Vereinigung schon wieder Kürzungen bei Arbeitslosen fordert. Ich bin selbst arbeitslos und verstehe nicht, wieso Sie die ganze Zeit nur Kürzungen bei uns fordern. Ich meine, was soll denn das? Sie sind Unternehmer, Sie verdienen prima. Aber wir hocken hier rum. Schauen Sie sich doch mal Berlin an. Sie kriegen ja gar keine Arbeit hier. Nee. Und dann wollen Sie uns noch alles wegkürzen. Nur noch ein Jahr Arbeitslosengeld. Was soll denn dann nach einem Jahr werden? Sie wissen doch, wie das in Berlin ist. Ja, das stimmt. Was soll ich denn machen? Ich kann das so weitergeben. Mehr kann ich im Moment auch nicht für Sie tun. Das ist jetzt nicht meine konkrete Aussage. Die ganze Zeit hört man von Ihnen nichts anderes. Ja. Nichts anderes. Wenn Sie mal eine Idee hätten, was ich machen soll. Ich bin jetzt 50. Das ist schwer. Wenn Sie mir was sagen, dann mach’ ich’s. Das glaube ich schon. Von Ihnen hört man immer nur: kürzen, kürzen, kürzen. Ja. Können Sie das verstehen? Natürlich. Natürlich. Auf jeden Fall. Sie arbeiten hier in der Stelle, ist ja wunderbar. Aber ich? Jaja. Schon klar. Wissen Sie wie viele Arbeitslose es gibt in Berlin? Ich weiß nicht mal die Zahl, so viele sind das. Das denke ich auch. Das ist Wahnsinn. Was soll man denn nach einem Jahr machen, wenn man kein Geld mehr hat? Soll ich auf der Straße wohnen? Das ist ja auch nicht zumutbar. Was heißt da »nicht zumutbar«? Ich muss meine Wohnung zahlen. Sie zahlen mir die nicht. Wenn ich so viel Geld hätte … So vielen Leuten können Sie die Wohnung gar nicht zahlen. Ich würde mich freuen, wenn Sie das mal weitergeben. Das mache ich auf jeden Fall. Das stimmt schon, das stimmt schon. interview: stefan wirner
Stefan Wirner
Stefan Wirner:
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webredaktion
02.08.2006
https://jungle.world//artikel/2006/31/das-stimmt-schon-das-stimmt-schon
Jungle World #45/2018 - Die Karawane der Weisen von Zion
Im dschungel läuft: The Punk Singer. Für Kathleen Hanna und die Riot-Grrrl-Bewegung gehen politischer Prag­ma­tismus, Affirmation der eigenen Lust und Kunst wunderbar zusammen.
Antisemitismus, Terror und Donald Trump 08.11.2018
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2018/45
huda zein
Bei den Protesten in Syrien geht es um mehr als um den Sturz des seit elf Jahren regierenden Bashar al-Assad. Es geht um die seit mehr als 40 Jahren herrschende »Präsidialmonarchie« der Assads und um die Erinnerung, die viele Syrer mit Bashars Vater Hafez al-Assad verbinden: Der hatte 1982 einen Aufstand der Muslimbrüder in Hama mit einem Massaker niederschlagen lassen – und damit ein Exempel statuiert, das bis heute nachwirkt.
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https://jungle.world//autorin/huda-zein
holm friebe und jens kastner
Der Publizist, Pop- und Kunsttheoretiker Diedrich Diederichsen lehrt an der Merz Akademie Stuttgart und am Art Center Pasadena. In seinem Buch "Politische Korrekturen" (Köln 1996) hat er sich mit dem Kampf der US-amerikanischen und deutschen Rechten (und Linken) gegen PC befaßt und Vorschläge gemacht, wie man den Begriff Political Correctness produktiv und dekonstruktiv einsetzen könnte.
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https://jungle.world//autorin/holm-friebe-und-jens-kastner
Die Börse als Glaubensfrage
Gute Zeiten für düstere Propheten, Hochkonjunktur für Krisentheoretiker: Einen derart massiven Einbruch gab es weltweit zum letzten Mal vor knapp 70 Jahren. Nur beim "Mini-Crash" von 1987 kam es zu einen ähnlich rasanten Absturz. Damals erholten sich die Aktienwerte bereits nach wenigen Tagen. Doch eine Entspannung ist derzeit nirgendwo in Sicht. Von Frankfurt über New York bis nach S‹o Paulo fielen die Aktienkurse. Der Nikkei-Index in Tokio purzelte auf den Stand von 1986. Gründe für die Börsen-Panik gibt es genügend. Die Ankündigung des vorläufigen russischen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin, die Notenpresse anzuwerfen, bedeutet de facto das Eingeständnis des Bankrotts. Damit sollen die nahezu wertlosen Staatsobligationen, mit denen bisher hauptsächlich der russische Haushalt finanziert wurde, noch einmal gerettet werden. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Ebenso könnte man Muscheln zur offiziellen Währung küren. Und neben Rußland befindet sich Japan weiterhin in ökonomischer Lethargie. Nichts deutet darauf hin, daß in absehbarer Zeit die Sanierung des maroden Bankenwesens gelingen könnte. Auch Lateinamerika ist von dem Crash mittlerweile voll erfaßt, dort reagierte der Handel geradezu hysterisch. An der mexikanischen Börse sind die Kurse seit Jahresbeginn um über 40 Prozent gefallen. In S‹o Paulo, dem größten Börsenplatz des Kontinents, fiel der Kurs ebenfalls dramatisch. Die brasilianische Regierung versucht verzweifelt, mit einer Hochzinspolitik die Landeswährung Real stabil zu halten - Voraussetzung, damit das internationale Kapital weiterhin im Lande bleibt. Dadurch wird aber nicht nur die Binnen-Konjunktur abgewürgt. Brasilien kann sich seine Stabilität nicht mehr lange leisten: Die Exporte sinken, die Auslandsschulden steigen. Rutscht das Land, achtgrößte Industrienation der Welt, in den Keller, fällt der Kontinent hinterher. Davon wäre auch Nordamerika massiv betroffen. Wegen der Einbrüche im Asienhandel wuchs das US-Bruttoinlandsprodukt zwischen April und Juni bereits um zwei Drittel weniger als im ersten Quartal. Auch in London, Paris und Madrid gaben die Börsenwerte deutlich nach. Die Auswirkungen des russischen Desasters gleichen einem Flächenbrand - obwohl die ökonomische Bedeutung des Riesenreichs eher dem eines Wirtschaftszwergs wie Dänemark entspricht. Halb so schlimm, meinen daher einige "Börsianer". Die Kurse seien schon seit geraumer Zeit überzogen; die Einbrüche bedeuten daher "nur" die dringend nötige Korrektur. Die Panikverkäufe hätten keine realen ökonomischen Gründe, sondern seien vor allem psychologisch zu erklären. Bald könnten sich die Kurse wieder erholen. Es könnte aber auch anders kommen. Denn auch die Börsenrekorde der letzten Jahre waren in erster Linie eine Glaubensfrage. Nach dem Ende des Realsozialismus hieß das Credo, daß die Aktienmärkten nun keine Grenzen mehr kennen würden. Der Run auf die Wertpapiere - in den USA liegt die Sparquote bei dem historisch einmaligen Stand von Null - und in die "emerging markets" der Schwellenländer basierte auf der Annahme, daß die Konzerne weltweit ohne Ende expandieren könnten. Dabei schoben bereits Ende der achtziger Jahre die japanischen Banken ihre faulen Kredite vor sich her. Und warum sollte in Rußland gelingen, was selbst in der ehemaligen DDR trotz der Milliarden-Transfers aus Bonn nicht klappen will? Die Hoffnung auf stetig steigende Aktienkurse zog eine "Reichtumsspirale" nach sich - immer schneller wanderte das Kapital aus langfristigen Anlagen in die Investmentfonds. Doch die reale Akkumulation stieg nicht wie die Börsenentwicklung exponentiell an, sondern ging in vielen Region der Welt sogar drastisch zurück. Die Entwicklung in den USA wird von entscheidender Bedeutung sein. Bleiben die US-Bürger weiterhin überzeugt, daß die Gewinne unaufhörlich steigen werden, könnte sich der Crash von vergangener Woche in Grenzen halten. Sollten sie jedoch ihren Glauben demnächst verlieren, steht die "Kursbereinigung" erst an ihrem Anfang.
Anton Landgraf
Anton Landgraf:
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webredaktion
02.09.1998
https://jungle.world//artikel/1998/36/die-boerse-als-glaubensfrage
»Hupen wirkt befreiend«
Werden die Deutschen fußballverrückt? Ein Gespräch mit der Psychologin Michaela Bio. Haben Sie in den vergangenen Wochen in Ihrer Arbeit mit Auswirkungen der WM zu tun gehabt? Eigentlich nicht. Es ist ja viel die Rede von dem Phänomen, dass die Deutschen die Liebe zu ihrer Fahne wiederentdeckt haben. Wie erklären Sie sich die Begeisterung? Ich würde nicht verallgemeinern, dass alle Menschen eine Begeisterung für Deutschland entwickeln. Auf mich wirken die Deutschen nach wie vor derartig verklemmt, dass es offenbar eine ungemeine Befreiung darstellt, wenn man mal hupend durch die Straßen fahren darf. Ich glaube, ein Italiner etwa hat nicht ein so großes Nachholbedürfnis. Woher rührt das? Die Deutschen sind in vieler Hinsicht sehr rigide. Sehr streng in ihren Regeln. Wenn der Nachbar zwei Zentimeter zu nah parkt, regen sich alle auf. Was geht psychologisch in jemandem vor, der »die Sau rauslässt« und hupend durch die Straßen fährt? Man darf es endlich mal, anderntags ist es eben verboten. Außerdem gehört man dazu. Die Menge, die Masse macht es schon aus. Viele fühlen sich ansonsten als Außenseiter und nicht so gut integriert in die Gesellschaft, und im Moment sind wir wieder alle eins. Mit welcher Reaktion rechnen Sie, wenn die Deutschen das Halbfinale oder das Finale verlieren sollten? Ein verlorenes Halbfinale wäre schlimmer als ein verlorenes Endspiel. Es wird für Frustration sorgen, Ärger, Wut, und der Traum ist aus. Der kurze Traum. Was geschieht, wenn die Mannschaft gewinnt? Man muss unterscheiden. Es gibt Leute, die den Nationalismus gerade bewusst ausnutzen. Für andere wird es nicht so viele Auswirkungen haben. Ich fühle mich an Wilhelm Reichs Theorie vom autoritären Charakter erinnert. Er hat beschrieben, wie die Menschen manch Unterdrückendes zwangsverinnerlichen, um es dann an anderer Stelle auszuleben. Die Menschen brauchen ein Ventil. Das scheint momentan der Fußball zu sein. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass das Nationale über den Ausschluss funktioniert. Man wendet sich der eigenen Mannschaft zu und brüllt: Argentinien raus! Die anderen Mannschaften werden niedergemacht. Niemand klatscht bei einem guten Spielzug des Gegners. interview: stefan wirner
Stefan Wirner
Stefan Wirner:
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webredaktion
05.07.2006
https://jungle.world//artikel/2006/27/hupen-wirkt-befreiend
El Salvador
Ängste, Unwohlsein und weitere Beschwerden gehören schon bei einer »unauffällig« verlaufenden Schwangerschaft zum Standardprogramm – egal ob diese gewollt oder ungewollt war. Manchmal muss man eben etwas deutlicher werden. Das dachte sich am Sonntag offenbar Nayib Bukele, der seit Juni 2019 amtierende Präsident El Salvadors.
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Die Perle des Betriebs
Von Zeit zu Zeit, wenn man mittwochs, zum Beginn der Arbeitswoche, missmutig in die Redaktionsräume der Jungle World hastet, sitzt am Konferenztisch bereits ein unbekannter schüchterner junger Mann oder eine unbekannte schüchterne junge Frau, in die Lektüre der druckfrischen Zeitung vertieft. Denn so wird vertröstet, wer pünktlich zum Beginn des Praktikums erschienen ist. Manchmal meinte man, Ratlosigkeit oder auch leichtes Entsetzen in den Augen der Praktikantin oder des Prak­tikanten zu erkennen, wenn es gleich auf der ersten Redak­tionssitzung hoch her ging. Denn Kolleginnen und Kollegen, die seit Jahren zusammenarbeiten, pflegen in hitzigen Debatten nicht immer die allerfeinsten Umgangsformen. Dennoch hat kaum jemand der willigen Helferinnen und Helfer je vorzeitig das Weite gesucht. Nicht einmal, wenn es im barschem Ton hieß: »Ist das Deutsche Haus immer noch nicht fertig?« Oder: »Lass mir die Nachricht einfach da, ich schreibe sie dann später um.« Mit stoisch-freundlichen Gesichtern ertrugen sie die enervierendsten Rechercheaufträge oder besonders unangenehme Aufgaben, für die angeblich sonst niemand Zeit hatte. Noch den rappelköpfigsten Straßenkämpfer richteten wir zu einer Perle des Betriebs ab. Einer sortierte akribisch unsere Altpapiersammlung, pardon, das Archiv. Gleich eine ganze Gruppe von Neulingen wurde genötigt, sich mit dem Wegbringen von Pfandflaschen ein erbärmliches Taschengeld zu verdienen. Einen verheizten wir sogar als Versuchskaninchen eines gemeingefährlichen Zauberers. Lediglich das Abstauben von Gummibäumen blieb ihnen erspart. Aber nur, weil es dergleichen in den Redaktionsräumen nicht gibt. Viele von ihnen avancierten zu Starautorinnen und Starautoren. Mancher blieb der Redaktion so beharrlich treu, dass er irgendwann zum Redakteur berufen wurde. Einer hat es sogar zum Chef vom Dienst geschafft. Auch entstanden Kontakte über die Praktikumszeit hinaus, die nicht immer rein beruflicher Natur waren. Aber an dieser Stelle wollen wir lieber nicht ins Detail gehen. regina stötzel
Regina Stötzel
Regina Stötzel:
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webredaktion
27.06.2007
https://jungle.world//artikel/2007/26/die-perle-des-betriebs
#04/2025 Braunes Fleckvieh im Anmarsch
Alpen-Höcke als Kanzler. Herbert Kickl und seine FPÖ treiben ihren konservativen Juniorpartner ÖVP in den Koalitionsverhandlungen vor sich her, doch über Einsparungen im Staatshaushalt und mehr Abschiebungen sind sich beide Parteien einig. Auch die putinfreundliche Haltung der FPÖ wird vom Wirtschaftsflügel der ÖVP unterstützt. Distanz zu Rechtsextremen heuchelt die FPÖ kaum noch, sagt die Faschismusforscherin Isolde Vogel im Interview. Und was macht eigentlich die Antifa? Im dschungel läuft: Bloß kein Rockismus. Die schottische Band Franz Ferdinand meldet sich mit ihrem neuen Album »The Human Fear« zurück. ET: 23.01.2025
Die »Jungle World« ist eine überregionale linke Wochenzeitung aus Berlin. Am Kiosk, im Briefkasten oder online.
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federica matteoni und thomas atzert
Antonio Negri
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david mcnally
Gewerkschaftsfunktionäre und NGO-Vertreter geben sich als Sprecher der globalisierungskritischen Bewegung. Gleichzeitig aber organisiert sich eine radikale Bewegung, die mit direkten Aktionen und Streiks die Basis für eine neue antikapitalistische Linke aufbaut.
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sven hillenkamp
In Unterfranken übten 14 Journalisten mit der Bundeswehr den Kriseneinsatz. Lernziel: Kriegsberichterstattung.
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»Klar hatte ich richtige Groupies«
In den dreißiger Jahren steckte Heinz Jakob Schumann seinen Judenstern in die Tasche und spielte weiter: Swing. Er wurde deportiert und musizierte in den Lagerbands von Theresienstadt, Auschwitz und Dachau auf der Gitarre um sein Überleben. Er kam zurück. Und spielt noch heute: Swing. Coco Schumann sitzt in seinem kleinen Studio in seiner Wohnung zwischen Fotos und Konzertankündigungen, im Schrank stehen Lackschuhe. Die kann der beinahe 80jährige »Ghetto-Swinger« heute nicht mehr tragen, das wäre zu ungesund, die neue Hüfte zwackt. »Ich bin ein großer Schuhliebhaber. Während des Krieges und danach gab’s ja nichts zu kaufen. Aber Budapester Schuhe vom Kurfürstendamm, das musste sein«, sagt Coco, der so heißt, seit sich eine französische Freundin beim Aussprechen von »Heinz« fast die Zunge brach. Auf einem der vielen Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand posiert der kleine Mann in seiner ganzen Eleganz zusammen mit seiner Band auf einem Kreuzfahrtschiff. Sein Aussehen war und ist dem Swing-Boy eben wichtig: »Ich hatte immer Maßanzüge, für meine Figur gab’s ja nichts von der Stange, nur den modischen Ausschuss. Weiße Anzüge habe ich sehr gerne getragen. Jetzt ziehen wir diese betressten Blazer an, im Kapitänslook. Nicht zu vornehm, sportlich-elegant … Kleidung muss immer sitzen, gute Schuhe müssen sein.« Regelmäßig tritt Coco Schumann mit seinen Jungs auf. Getanzt wird leider jetzt viel zu selten auf seinen Konzerten, findet er. »Count Basie hat mal gesagt, wenn die Leute nicht mehr tanzen, dann stimmt was nicht mit meiner Musik.« Aber keine Bange, Coco, die Musik stimmt schon. Die Clubszene von heute gefällt ihm nicht mehr so unbedingt. Doch Coco hat versucht, sich ihr anzupassen: »Wenn die Leute anfangen zu schreien, dann werde ich immer leiser. Der Trick hat schon immer funktioniert.« Trotzdem, Fans hat er heute immer noch viele, und auch einige Groupies – Coco musste schon Autogramme auf nackte Damenhintern schreiben. »Während und nach dem Krieg war da natürlich die Stimmung eine ganz andere«, erinnert sich Coco, »klar hatte ich richtige Groupies! Das war schön, unten saßen manchmal zwei, drei Mädels und haben auf mich gewartet.« »Das ist die Dagmar!« Schwupps, und schon wieselt er wieder die Treppe hinunter, um Fotos zu holen. »Das ist die Dagmar!«, sagt er begeistert und ein wenig außer Atem. Ein Mädchen mit hohen Wangenknochen, Fifties-Frisur und Schalk in den Augen strahlt vom Foto. Ab und zu telefonieren die beiden, Coco Schumann, der einen großartigen Stripper-Blues komponiert hat, und Dagmar, die von der Barfrau übers Nummerngirl zur Nachtclubtänzerin avancierte. Die blauen Augen des Profigitarristen blitzen bei der Erinnerung an die Stripteasemädchen im Nachkriegsberlin auf: »Ach i wo, Striptease war ja nicht unanständig! Einen guten Striptease hinzulegen, das ist schon eine Kunst! Die eine, die hatte so lange Beene, die hörten gar nicht mehr auf. Die Dagmar war ein nettes Mädchen. ›Da kommt der Carlo Ponti mit der Sophia Loren‹ haben die Leute immer gesagt, wenn wir Arm in Arm morgens nach der Arbeit ein flüssiges Frühstück einnahmen.« Schöne Vorstellung, wie der kleine Coco damals mit seinem großen Gitarrenkoffer und den Mädels durch die Trümmerhaufen in die nächste Bar gestiegen ist. Coco Schumann hat es krachen lassen, so viel steht fest. Und anbrennen ließ er sowieso nichts. Coco ruft: »Damals, da war hier in Berlin die Luft elektrisiert! Unsere Musik, die war so was von in, die wurde in den Kellern überall gespielt! Und Stripteasetänzerin, das war ein richtiger Beruf, so was musste man richtig können.« Die Leute wollten endlich leben, nach dem Krieg, Heimatfilm und Wirtschaftswunder gab’s noch nicht: »Nach dieser schrecklichen Zeit waren auch die, die nicht solch schreckliche Dinge erlebt haben wie ich, sehr gebeutelt.« Coco Schumann spricht nicht gerne über die Zeit in den Lagern, lieber zurrt er aus der untersten Schublade noch schnell eine Konzertankündigung, als ob er dadurch seine Besucherin vom Grauen ablenken wollte, und dies gelingt ihm auch ziemlich gut: »Bombenalarm, Luftschutzkeller, raus auf die Straße, und alles war weg und hat gebrannt, das war schon eine schlimme Zeit.« Zwischen dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 21. August 1941 und dem verheerenden Ende des Krieges hatte in Berlin keiner mehr das Tanzbein geschwungen. »Als ich nach Berlin zurückkehrte, da war ja nichts mehr vorhanden, es fuhr keine Straßenbahn, nichts, alles ein einziger Trümmerhaufen«, sagt Coco Schumann. Doch für den damals gerade 21jährigen fing jetzt das Leben erst richtig an: »Aus den Trümmern hörte ich an der Uhlandstraße Musik klingen. Nichts wie rein da! Das ist meine Musik! Meine Freunde und Kollegen in der Ronny-Bar, die dachten, sie sehen einen Geist. Wir hatten alle Tränen in den Augen. Ich spielte einfach wieder weiter. Meine Mutter hatte meinen Smoking durch den Bombenhagel gerettet, im Kinderwagen meines kleinen Bruders versteckt.« Jazz, Swing, Bebop, das gefiel auch den Alliierten, bei den Amerikanern spielten sie um Zigaretten, bei den Russen lernten sie, Wodka zu schütten, ohne sich zu verspielen. »Ich und Marlene Dietrich« Stillsitzen, das konnte er wohl noch nie besonders gut. Schon kramt er wieder nach der Speisekarte vom »Studio 22«, auf der so wundersame Dinge wie Ochsenmaulsalat oder die Dose Ölsardinen mit Brot für zwei Mark angeboten wurden. »Das war dann die Grundlage. Trinkfest war ich schon immer, schon als Teenager. Als Musiker, der jede Nacht unterwegs ist, musst du das sein«, meint Coco trocken. »Nach dem Krieg ging es hier richtig los. Alles, was es an amerikanischen Superstars gab, war hier in Berlin, ich bin mit Ella Fitzgerald und Marlene Dietrich zusammen aufgetreten! Wenn man als Musiker diese Namen gehört hat, dann hat man erst mal die Luft angehalten. Nach dem Auftritt wollten die Stars dann natürlich nicht im Hotel bleiben, die sind dann zu uns gekommen ins Studio 22, da war immer noch was los, und das ging dann bis morgen früh.« Wie die Deutschen die Dietrich nach dem Krieg behandelt haben, das hat ihm gar nicht gefallen. Neben den Konzerten besuchte Marlene Dietrich ihre kranke Mutter in Berlin. Der Empfang, den die deutsche Presse und die Berliner ihr bereiteten, war von hasserfüllter Häme getragen, sie war und blieb die »Verräterin« der »Volksdeutschen«, die am liebsten immer noch die alten Landsersongs intoniert hätten. »Ich juble, dass ich rausgekommen bin!« Die Erinnerungen lassen Coco Schumann bis heute nicht los, die Erinnerungen an die Augen derer, die ins Gas gingen, während er und seine Lagerband »La Paloma olé« intonieren mussten. Deswegen stieß ihm auch die immergute Laune der kommenden Wirtschaftswunderjahre mehr als sauer auf. Doch es gab auch etwas Gutes nach dem Krieg: »Ich konnte wieder meine Musik machen. Das war für mich wie ein Wunder.« Eigentlich lief für Coco ab 1946 so langsam alles bestens, er tat sich um in den Berliner Bars, spielte wieder mit dem berühmten Geiger Helmut Zacharias, seinem langjährigen engen Freund, alles war wieder ein wenig wie vor dem Krieg. »Das ›Femina‹ war ein heißer Laden in der Nürnberger Straße. Heute sitzt da das Finanzamt oder sonst was Langweiliges. Da haben wir gespielt, da war was los! Paulchen Kuhn trat hier zusammen mit Freddy Brocksiper auf, Gene Krupa hieß er auch, der war Schlagzeuger in Goebbels’ Lieblingsband.« Coco Schumann spielte »La Paloma olé« nun für inzwischen satte, reiche Nachkriegsgewinnler in den großen Hotelbars. Irgendwann ging jedoch nichts mehr für den geborenen Musiker, man schien ihn nicht mehr sehen zu wollen. »Die gute Laune wollte ich mir dadurch nicht verderben lassen. Dann hätten die Nazis im Nachhinein ja gewonnen. Mein Motto ist bis heute: Ich jammere nicht, dass ich drin war, ich juble, dass ich rausgekommen bin!« »Ich wurde der SS überstellt. Das war’s dann.« Trotzdem, Deutschland bekam ihm und seiner Frau Gertraud immer weniger. Sie hat Theresienstadt überlebt. »Klar, das verbindet, da ist mehr Verständnis füreinander da«, sagt Coco Schumann. »Irgendwann war hier die ›gute Laune‹ hin. Uns ist vieles sauer aufgestoßen.« Die beiden gingen in Australien auf Glücksuche. Doch sie kehrten wieder nach Deutschland zurück; das Unbehagen aber blieb. Im Alter von mehr als sechzig Jahren wagte sich Coco Schumann dann an die Aufarbeitung seines Lebens, als 1986 der Journalist Paul Karalus einen Film über ihn drehte. Theresienstadt, Auschwitz, Dachau – diese harmlosen Ortsnamen bedeuten das Grauen, da braucht man doch eigentlich nichts hinzufügen, dachte er sich damals. Hatte Coco Schumann deswegen so lange geschwiegen? Viele verschiedene Gründe waren es, die ihn dazu bewogen haben, in einem Land, das unter der Adenauerschen Parole »Keine Experimente« den Weg in die Zukunft antrat, Freunde und Kollegen nicht mit seiner Geschichte zu konfrontieren. Noch heute windet sich Coco Schumann ein wenig vor der Frage, was denn nach seiner Verhaftung im März 1943 geschah: »Im ersten Moment, da dachte ich nur: ›Scheiße‹. Mein Vater kam mit mir zum Alexanderplatz, da war die Kriminalpolizei. Dort wurde ich verurteilt, aufgrund von Rassenschande. Justiz gab es nicht mehr, ich wurde der SS überstellt. Das war’s dann. Mein Vater hatte nach meiner Verhaftung die Gitarre aus der Rosita-Bar geholt und sie während der schrecklichen Zeit verwahren können.« »Die Evelyn Künneke, war die früher ein Feger!« Ihm reicht’s langsam. Genug erzählt. Hat denn die Besucherin sein Buch nicht gelesen? Hat sie. Hat sie denn die Filme mit und über ihn nicht gesehen? Hat sie tatsächlich nicht. Also rücken wir rüber ins Wohnzimmer, vor die dicke Glotze. Coco hantiert geschickt mit den vielen topmodernen Fernbedienungen. Kassette rein, Lautstärke regeln, und da fragt seine Besucherin auch schon wieder, wie man die Hoffnung im KZ-Alltag aufrechterhielt. Er seufzt: »Da mussteste einfach durch. Ich hab’ überhaupt nicht weiter gedacht, nur, wie überlebe ich die nächsten Stunden. Als wir im KZ ankamen, hatten sie gerade die alte Band vergast. In dem Moment, wo alles nach Tod riecht, nach verbranntem Fleisch, da ist sich jeder selbst der nächste. Und ich habe letztlich einfach unglaubliches Glück gehabt.« Die neugierige Fragestellerin soll sich endlich entspannen, das scheint ihr Coco mitteilen zu wollen. Also: Film ab. In »Coco, der Ghettoswinger« von Paul Karalus sehen wir irgendwann eine Szene im luxuriösen Haus von Helmut und Hella Zacharias am Lago Maggiore in der Schweiz. Coco, Helmut und Hella sitzen auf der hellen Couchgarnitur und Coco erzählt seinen engsten Freunden von seinen schweren Tagen, Wochen, Monaten, Jahren. Hella sagt: »Das haben wir ja gar nicht gewusst«, und spielt ein wenig hilflos mit ihrem Glas. Daraufhin gucken wir uns doch lieber eine Kassette von einer Galaaufzeichnung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen an, in der Coco Schumann und Helmut Zacharias vor ausgewähltem deutschem Showpublikum (»ja, da sitzt die Evelyn Künneke, war die früher ein Feger!«) ihre Faxen machen. So wie früher im legendären »Groschenkeller«, als die beiden während des heißesten Swings, von einem Takt zum anderen, umschwenkten, wenn eine Nazistreife im Anmarsch war. Da wurde aus »You can’t stop me from dreaming« ganz schnell das schunkelselige »Rosamunde«. Im »Groschenkeller« kamen sie damals alle zusammen, Nazis und Linke, denn alle wollten nur eins: den Swing hören. Hier verkehrte Norbert Schultze, der nicht nur das berühmte Soldatenlied »Lilli Marleen« komponiert hatte, sondern auch stramme Durchhaltelieder wie »Bomben auf Engeland«. »Die Stimmung im Groschenkeller, die war enorm«, schwärmt Coco noch heute, »draußen war Verdunkelung, aber im Keller, da kamen unglaublich viele Menschen zusammen. Dort saßen Bierkutscher neben bekannten Filmschauspielerinnen, wie Hannelore Schroth eine war. Es war ein ganz gemischtes Publikum dort unten, Abenteurer und schöne Frauen, eine wunderbare Mischung. Franz Jung, der linke Verleger und Utopist, war auch da, der war offen für alles. Aber um Mitternacht war Schluss.« »Man musste sich benehmen, um eine Tante aufzureißen.« War früher also vielleicht sogar manches besser als heute? Coco Schumann, das Gegenteil eines rückwärtsgewandten Rentners, antwortet: »Es war einfach anders, heute ist doch das Feiern bei den jungen Leuten ein Krampf. Wenn ich mir die Bilder von der Love Parade im Fernsehen ansehe, die können doch gar nicht mehr richtig selber feiern, die brauchen doch alle Ecstasy. Ich bin objektiv genug, ich hab’ keine Sause ausgelassen. Heute kommt mir das alles ein bisschen künstlich vor. Früher, da musste man elegant sein und Benehmen an den Tag legen, wenn man eine Tante aufreißen wollte.« »Die Süßigkeit des Vergessens«, so wurde der legendäre Tanzpalast Delphi auch genannt. Hier packte Coco der Swing und ließ ihn nicht mehr los. Er meint: »Es war ja Sommer! Mit dreizehn Jahren saß ich vor dem Delphi, die Musiker spielten draußen auf der Terrasse Swingmusik, die Leute tanzten wie verrückt und die Sterne blinkten. Seitdem bin ich der Musik, dem Swing, verfallen. Damals, vor dem Krieg, und auch noch kurze Zeit nach Kriegsende, da war Berlin wie Hollywood. Das hat es nachher nicht mehr gegeben, nicht diesen Glanz. Denn die meisten von denen, die für die Atmosphäre damals sorgten, sind emigriert. Alle, die konnten, sind aus Deutschland raus und haben in Amerika Karriere gemacht. Das merkt man Berlin heute noch an. Das kommt nicht wieder.«
Silke Kettelhake
Silke Kettelhake:
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webredaktion
17.12.2003
https://jungle.world//artikel/2003/51/klar-hatte-ich-richtige-groupies
Jungle World #42/2020 - Das wird noch grün
Im dschungel läuft: Chaos in den USA. James Sturm erzählt im Comic »Ausnahme­zustand« vom Scheitern einer Beziehung zur Zeit von Donald Trumps Wahl zum Präsidenten.
Die neue Klimapolitk der EU 15.10.2020
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2020/42
»Sie waren sich immer einig«
In den Verhandlungen zur Entschädigung von Sklaven- und Zwangsarbeitern hat sich die deutsche Seite nun endlich mit der von den USA zugesicherten Rechtssicherheit vor weiteren Klagen zufrieden gegeben und damit den Weg zum Beginn der Auszahlungen freigemacht. Sie haben im Oktober letzten Jahres gesagt, Sie seien mit zehn Milliarden Dollar zufrieden. Daraus sind nun zehn Milliarden Mark geworden. Ist das für Sie akzeptabel? Ich habe in den zehn Monaten eingesehen, dass wir in diesen Verhandlungen nicht mehr bekommen konnten. Womit man zufrieden ist, hängt auch von den Verhandlungen ab, die dem Ergebnis vorangehen - auch wenn wir anfänglich doppelt so viel wollten; die US-Anwälte haben sogar 40 Milliarden Dollar gefordert, also das Achtfache. Da gab es eine Studie, die von den US-Anwälten in Auftrag gegeben worden war. Dabei wurde der Gewinn errechnet, den die deutsche Wirtschaft allein mit den noch lebenden Opfern gemacht hat - ausgenommen waren alle, die in der Zwischenzeit verstorben sind. Wie werden denn die in Aussicht gestellten zehn Milliarden Mark aufgeteilt? Eine Milliarde geht an die »Arisierungs»-Opfer. Es ist aber leider nicht so, dass die restlichen neun Milliarden den Sklaven- und Zwangsarbeiter zufallen. Nur 8,1 Milliarden gehen an die Opfer von Zwangsarbeit, also nur 81 Prozent. So sind für die Verwaltungskosten und die Anwaltshonorare 200 Millionen eingerechnet. Und der Zukunftsfonds, der in den Händen der deutschen Industrie bleiben wird, erhält weitere 700 Millionen Mark. Wir glauben nicht, dass das erforderlich ist; es wäre viel wichtiger, das Geld den Opfern direkt auszuzahlen. Darum waren wir gegen die 700 Millionen. Ursprünglich war es sogar eine Milliarde, die hierfür vorgesehen war. Auch die Gremien, die das Geld dann verteilen, werden von diesem Geld finanziert. Welche Rolle spielen die Entschädigungen für »Arisierungen»? Bei den »Arisierungen« gibt es drei Kategorien. Es geht zum einen um banking claims, das heißt um Ansprüche von Opfern, die durch die Banken beraubt wurden - das waren die meisten. So war es im »Protektorat Böhmen und Mähren« eine Zweigstelle der Dresdner Bank, die die Bankguthaben einzog. Die zweite Kategorie von zu entschädigenden »Arisierungs»-Opfern sind die insurance claims, also Enteignungen durch Versicherungsunternehmen. Der letzte Punkt betrifft andere Vermögensfragen. Wie die Entschädigung hier am Ende geregelt wird, muss die Kommission klären, die das Geld vergibt. Denn wer das Geld wie verteilen wird, war nicht Gegenstand der Verhandlungen und ist nicht geklärt worden. Das passiert wahrscheinlich erst durch das Kuratorium der Stiftung, das nach der Verabschiedung des Gesetzes durch den Bundestag gebildet wird. Insgesamt gibt es für den Komplex »Arisierungen« eine Milliarde Mark. Die Summe für alle drei Kategorien von »Arisierungen« zusammen beträgt 350 Mllionen. Hinzu kommen noch 650 Millionen, die an die Jewish Claims Conference (JCC) für humanitäre Hilfe gehen. Wir waren dagegen, denn wir wollten, dass die Opfer der »Arisierungen« das Geld direkt bekommen. Diese Summe von 650 Millionen an die JCC geht an die »indirekten Opfer«, das heißt an die Nachkommen der Enteigneten und Ermordeten. Ist es nicht verwunderlich, dass die Frage der »Arisierungen« in diesen Verhandlungen überhaupt auftaucht? Ursprünglich sollte es nur um die Entschädigung für Zwangsarbeit gehen. Wer hat denn diesen Komplex eingebracht? Soweit ich mich erinnere, war das die deutsche Delegation. Sie will mit dieser Sache einen Schluss-Strich unter alles ziehen, was mit dem Krieg zusammenhängt. Wir wollten das nicht, wir wollten nur über die Zwangsarbeiter und die Sklavenarbeiter reden. Wir wollten, dass der Komplex der »Arisierung« separat behandelt wird. Wie sieht eigentlich die Situation der tschechischen Opfer aus? Haben sie schon etwas von der deutschen Seite bekommen, oder ist das der erste Anlauf zu einer Entschädigung? Von der deutschen Regierung hat niemand eine Entschädigung bekommen. Es waren nur einzelne Unternehmen, die an einzelne Zwangsarbeiter etwas ausgezahlt haben, etwa VW; nicht alle, aber das waren akzeptable Summen - immerhin 10 000 Mark, also mehr, als sie von der Stiftung bekommen werden. Die zumeist sehr alten Opfer, die schnellstens entschädigt werden müssten, werden vor der Verabschiedung des Gesetzes von der Regierung nichts erhalten. Nach der Verabschiedung wird es zunächst noch eine Antragsfrist von acht Monaten geben, in der die Ansprüche angemeldet werden können. Erst dann steht die Zahl der Opfer fest. Es ist zwar nicht so, dass die Schätzungen sehr ungenau wären, es werden sich keine großen Abweichungen ergeben. Aber bis nicht die genaue Zahl der Opfer feststeht, werden die genauen Pro-Kopf-Summen nicht veröffentlicht. Deshalb bekommen die Opfer vorerst nur einen Teil. Die Zwangsarbeiter sollen etwa Ende dieses Jahres 35 Prozent der geschätzten Pro-Kopf-Summe erhalten, die Sklavenarbeiter vielleicht 50 Prozent. Wie sieht es denn in anderen osteuropäischen Ländern aus? Polen hat 300 Millionen Mark erhalten, die ehemalige SU 500 Millionen. Die Situation ist nicht mit Tschechien vergleichbar, da die Fonds schlecht gearbeitet haben, sodass die Opfer nur sehr wenig erhalten haben. Der tschechische Fonds aber funktioniert gut. In der Süddeutschen Zeitung haben Sie zu den Entschädigungsverhandlungen gesagt: »Ich war in meinem Leben schon in Hunderten von Verhandlungen, doch so eine Art habe ich noch nie erlebt.« Da ging es um die Präambel, die besagte, dass es keine Rechtsansprüche gebe und dass der Fonds allein eine moralische Schuld begleichen solle. Das konnten wir so nicht annehmen, da haben wir protestiert. Der amerikanische Delegationsleiter Stuart Eizenstat hat mich dann um eine andere Formulierung gebeten, die ich auch verfasst habe. Ich wüsste jedoch nicht, dass sie in den Regierungsbeschluss aufgenommen worden wäre. Nach dem, was ich in der Hand habe, hat man die alte Formulierung beibehalten. Zum zweiten wurde während der Verhandlungen kein Ergebnisprotokoll geführt. Ob das, was wir gesagt hatten, angenommen wurde, war am Ende der Sitzung nicht klar. Wir selbst konnten es erst ersehen, wenn wir in der nächsten Verhandlungsrunde die neuen Unterlagen zu Gesicht bekamen. Das oblag den beiden Vorsitzenden, Eizenstat und Lambsdorff. Wahrscheinlich war daran auch die deutsche Wirtschaft beteiligt. Hatten Sie das Gefühl, von der deutschen Regierung als Verhandlungspartner überhaupt ernst genommen zu werden? Sicherlich war, der ernst zu nehmende Partner die USA. Das ist der Geschäftspartner. Das kann ich zwar nicht gutheißen, aber ich kann es verstehen. Manchmal war es so, dass wir zuerst nicht angehört, später aber doch einbezogen wurden. Es gab Situationen, in denen wir die Verhandlungen verlassen wollten. Einmal war die Summe für die tschechische Republik plötzlich um die Hälfte gesunken. Wir haben dann gefragt, ob das der offizielle Vorschlag der deutschen Delegation sei. Lambsdorff sagte uns daraufhin, es handle sich nicht um einen offiziellen Vorschlag, man müsse jedoch auch über niedrigere Ziffern sprechen. Zwanzig, dreißig Minuten später stand dann Dr. Manfred Genz, Finanzvorstand von DaimlerChrysler, auf und sagte, doch, dies sei das offizielle Angebot der deutschen Delegation. Wir sind aufgestanden und gegangen. Das hat offensichtlich seine Wirkung nicht verfehlt. Man konnte nicht ohne eine der Delegationen entscheiden. Woher kamen denn diese Unstimmigkeiten auf deutscher Seite? Es war nicht so, dass es in der Öffentlichkeit Uneinigkeiten zwischen den Wirtschaftsvertretern und der deutschen Regierung gegeben hätte, das war nur das eine Mal der Fall. Sonst waren sie sich immer einig. Hatten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt den Eindruck, dass die deutsche Seite Verständnis für Ihre Forderungen aufbringt? Oder ging es nur darum, genügend Druck aufzubauen? Von Verständnis habe ich nicht sehr viel gesehen. Nicht auf Seiten der deutschen Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft lässt sich die Hälfte ihres Beitrags von der deutschen Regierung bezahlen, obwohl die Unternehmen viel mehr verdient haben. Haben Sie denn den Eindruck, dass mit der unzureichenden Summe und auch mit dem Einbringen der »Arisierungen« von der deutschen Seite bezweckt war, Opfergruppen gegeneinander auszuspielen? Nein, das habe ich nicht bemerkt. Was die deutsche Delegation bezweckte, war für mich nicht so durchschaubar. Rechtsanwalt Michael Witti hat angekündigt, dass das vorliegende Verhandlungsergebnis für ihn nicht das Ende der Klagen bedeutet, da immer noch eine Reihe von »Arisierungen« nicht entschädigt würden. Zum Beispiel alle, die direkt durch die SS »arisiert« wurden. Ja, das meinen wir alle. Aber ich glaube, dass die deutsche Delegation schon einen klaren Strich unter die Vergangenheit ziehen will. Deshalb muss jeder, der etwas bekommt, unterzeichnen, dass er auf alle weiteren Forderungen verzichtet.
steffen küßner, nora markard, gerhard wolf (ikg)
steffen küßner, nora markard, gerhard wolf (ikg) : Verwertet und vergessen
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Dossier
05.07.2000
https://jungle.world//artikel/2000/27/sie-waren-sich-immer-einig
Andreas Latzko: Menschen im Krieg.
In „Menschen im Krieg“ beschreibt Andreas Latzko zwölf Jahre vor Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ den Wahnsinn des Ersten Weltkriegs. Das in erster Auflage anonym publizierte Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt und in allen kriegführenden Staaten verboten. Der Pazifist Latzko wurde, anders als Karl Kraus es in der „Fackel“ forderte, vergessen. Dabei mitgeholfen hat die massive Ablehnung der Nationalsozialisten gegenüber dem Österreicher und seinem Werk – „Menschen im Krieg“ gehörte zu jenen Büchern, die am 10. Mai 1933 den Bücherverbrennungen zum Opfer fielen. Es sind Novellen von der Front, aus den Schützengräben, Lazaretten und aus den Städten, die zu den Kriegsgewinnern gehörten – geschildert werden nicht taktisch-militärische Überlegungen, sondern der Alltag und das Befinden der Soldaten, deren Bewusstsein und dunkle Instinkte. Man begegnet ihrer realen Qual, ihrem Ausgeliefertsein, deren Zweck letztlich nicht mehr verstanden werden kann. Selbst wem es gelingt, diesem „Duell der Munitionsindustrien“ zu entkommen, bleibt ohne Hoffnung zurück. Die Davongekommenen müssen das weitere Leben mit ihren körperlichen und seelischen Verletzungen fristen.
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webredaktion
30.04.2017
https://jungle.world//artikel/2017/17/andreas-latzko-menschen-im-krieg
Exile in Armenia
Juli 2002 Das Civic Education Project (CEP), eine von George Soros finanzierte Organisation, bietet mir ein Stipendium an, um in Armenien Journalismus zu unterrichten. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wissen, was für ein Journalist ich bin, aber was soll’s? Ich unterschreibe auf der gepunkteten Linie. 31. August Meine Frau (Vika) und ich sitzen in der unteren Ebene des Frankfurter Flughafens und warten auf einen Flug nach Jerewan. Der Flug hat Verspätung, aber keine Durchsage erklärt warum oder gibt einen Hinweis, wann wir vielleicht fliegen. In der Toilette entdecke ich eine wichtige Botschaft und renne zurück, um meine Kamera zu holen (wer weiß, wir könnten jede Minute an Bord gehen). (#1) Am Ende kommt ein Bus und fährt uns zum letzten der Flugzeuge, am Rand des Asphalts. Es ist eine alte sowjetische Maschine, süß durchweht von Essence d’Urine. Ein bisschen intensiv für meinen Geschmack. Ich brauche einen starken Drink, aber die Stewardessa (#2) ist nirgends zu sehen. Kommen spät nachts in Jerewan an. Der Flughafen ist schwach beleuchtet. Ein brandneuer, in Mylarfolie gewickelter Reifen fällt auf das abgenutzte Gummi des Gepäckbands. Irgendwie sind alle unsere Taschen da. Der Ausgang wird von einer kleinen Menschenmenge blockiert, die darauf wartet, uns zu helfen. Ein stark hinkender Typ mit ein paar Freunden greift sich unseren Gepäckwagen, schiebt ihn ein paar Meter zu einem wartenden Bus und besteht dann auf einem saftigen Trinkgeld für seine Mühe. 1. September Armenien ist sehr, sehr heiß. Verschärfend kommt hinzu, dass ein armenischer Amerikaner der Stadt Millionen Dollar gegeben hat, um die Straßen und Bürgersteige aufzureißen. Man sagt uns, dass sie bald einen neuen Belag bekommen werden; in der Zwischenzeit kriecht der Staub überallhin. (#3) 3. September Mein Geburtstag. Vielleicht ist es mir zu Ehren, dass sie überall in der Stadt Müll anzünden. Vielleicht nicht. (Notiz für mich: in einen tragbaren Feuerlöscher investieren.) 4. September Die Leute vom CEP haben irgendwie vergessen uns mitzuteilen, dass man das Wasser hier abkochen muss, vielleicht wussten sie es auch einfach nicht. Bringe viel Zeit damit zu, zur Toilette zu laufen. 16. September Es ist der erste Tag meines Graduierten-Fotoseminars, und mir fällt auf, dass meine Studenten keine Ahnung haben, was sie von mir erwarten sollen. Neugierig frage ich sie, wie der Kurs in ihren Stundenplänen aufgeführt ist. Sie sagen: »Englisch.« Doch keine Sorge, wenn ich ihnen etwas über Fotografie beibringen will, ist das kein Problem. Es sind nur vier Studenten, aber sie wollen versuchen, andere zu überzeugen, beim nächsten Mal mitzukommen. 19. September Mein Kurs für Nichtgraduierte an der Staatsuniversität ist ein praxisbezogener Schreibkurs mit ungefähr 35 Studenten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich ohne die Hilfe eines Assistenten all die Hausarbeiten lesen und korrigieren soll, aber es sieht so aus, als ob das kein so großes Problem wäre: Null Studenten haben die erste Aufgabe gemacht. 10. Oktober Ständig werden Kurse aus diesem oder jenem Grund abgesagt. Irgendwie weiß nie jemand vorher davon, oder falls doch, schaffen sie es nicht, die Dozenten zu informieren. Heute hält der ukrainische Präsident eine Rede an der Universität. Meine Magisterstudenten haben nicht die Einladungen, die sie bräuchten, um sie zu besuchen, aber das hält sie nicht davon ab, den Kurs zu schwänzen. Zwei freundliche Studentinnen begleiten mich zur Haupttreppe. Zusammen warten wir und hoffen, einen flüchtigen Blick auf den Präsidenten werfen zu können, wenn er kommt. Sie erzählen mir, dass letztes Jahr Putin die Universität besuchte. »Ah, Putin«, seufzt eine. »Der ist ein echter Muschik.« Sie reden über ihn, als wäre er so eine Art Rockstar, und ich sage ihnen, dass das für Journalismusstudentinnen etwas seltsam klingt. Sie sagen, ich verstünde das nicht: (wie oft ich das höre, und wie wahr es ist!) »Putin musste diese Fernsehsender schließen …« Es folgt eine seltsame Bemerkung, die zu bedeuten scheint: »Weil sie Juden gehörten.« Ich lasse es durchgehen. Sie fügen hinzu: »Wen du fürchtest, den achtest du.« Bald diskutieren wir die Vorzüge Stalins, und ich verliere die Debatte. Wenn ich nur eine bestimmte Biografie gelesen hätte, würde ich ihren Standpunkt zu würdigen wissen. Was ich nicht verstünde, sei, dass es ein harter Job ist, ein so großes Land wie die Sowjetunion zu regieren, und dass dabei halt ein paar Leute getötet werden müssten. Ich verstehe nicht nur nichts, ich fühle mich allmählich auch ein bisschen unzulänglich. Der Amerikaner, der letztes Jahr diese Studenten unterrichtete, liebte armenisches Essen, armenische Lieder, armenische Tänze und offensichtlich alles andere an diesem Land. Ich weiß nicht viel über armenisches Essen oder armenische Musik, und ich bin langsam ziemlich frustriert von der armenischen Post, von der armenischen Telefongesellschaft, vom armenischen Internetprovider, die sich alle verschworen haben, diesen landumschlossenen Staat noch mehr zu isolieren, als es nötig wäre. Aber vielleicht brauchen sie all diese neumodische Kommunikation nicht. Die armenische Kultur ist sehr, sehr alt (#4), und Armenien war einst groß und mächtig. Bis vor verhältnismäßig wenigen Jahren hat kaum jemand von amerikanischer Kultur auch nur gehört. 12. Oktober Ein paar Tage später kommt Boris Jelzin, und irgendwie bin ich nicht dazu gekommen, mich um einen armenischen Presseausweis zu bemühen. Information ist hier ein »defizitäres Produkt«, und was ich auch versuche, ich kann die Telefonnummer des für die Akkreditierungen zuständigen Menschen nicht bekommen. Also bleibt mir nur, mir einen Weg durch die Menschenmengen zu bahnen: keine guten Aussichten, etwas zu meiner Serie »unscharfe Bilder von berühmten Leuten« (Jungle World, 50/00) hinzuzufügen. Ein paar Provinzbezirke sind gebeten worden, anlässlich Jelzins Besuch üppige Gelage auszurichten (#5, #6), und nachdem er weitergefahren ist, fallen die Massen über das Essen her. In Minuten ist alles – Kisten voller Äpfel und Wassermelonen, Berge von Weintrauben, große Stücke Fleisch – verschwunden. Eine alte Frau läuft mit einer Hand voll Honig (#7) herum und ist sehr dankbar, als ich eine Plastiktasse finde, in die sie ihn hineintun kann. Irgendwo mache ich Fotos von einem Politiker beim Weintrinken (#8), bis mir sein Leibwächter sagt, ich soll damit aufhören. Ich will ihm erklären, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, weil sein Gesicht nicht auf den Fotos sein wird, aber die Leute um mich herum kommen ihm schnell und energisch zu Hilfe, und sie scheinen nicht besonders an einer Diskussion über Ästhetik interessiert zu sein. 17. Oktober Versuche, eine alte Frau zu filmen, die den Bürgersteig vor dem schicken Hotel säubert, in dem Jelzin jemanden trifft. Irgendwie denken die präsidialen Security-Leute, ich sei viel gefährlicher als die Zuschauer ohne Kameras, und sie bitten mich zu gehen. Karine glaubt, das eigentliche Problem seien meine alten Turnschuhe (Jungle World, 26/02). Okay, es gibt eine Menge Staub/Schlamm hier und die Schuhe sehen schmutzig nicht sehr gut aus, aber man muss erstmal ein Taschentuch zur Hand haben, um sie ständig sauber wischen zu können. (Notiz für mich: Schuhe, Taschentuch kaufen.) 18. Oktober Wir sind unterwegs nach Georgien zu einem regionalen Treffen der CEP-Stipendiaten. Wie so oft sind wir spät dran. Der Fahrer versucht, die verlorene Zeit aufzuholen, indem er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit Bergstraßen hinunterschlingert. Ein paar meiner Kollegen beugen sich zum Fenster hinaus, um ihr Frühstück bei sich zu behalten. Ich bitte den Fahrer, langsamer zu fahren, und er dreht sich um (ohne langsamer zu fahren), um mir mitzuteilen, dass er diese Strecke dauernd fährt und sie sehr gut kennt. In all den Jahren habe er niemals ein Problem gehabt. Ich denke, der Fahrer des umgestürzten Wagens, den wir vor ein paar Meilen passierten, hat vermutlich das gleiche gesagt. Irgendwie überzeugt ihn ein anderer Amerikaner (Rich), eine nicht geplante Erholungspause einzulegen, damit wir die schöne Gegend fotografieren können (# 9), und der Fahrer gibt dieser etwas vernünftigeren Bitte nach. (Natürlich sind wir jetzt noch später dran …) Ein paar Stunden später erreichen wir die georgische Grenze. Während sie unsere Pässe abfertigen, machen Rich und ich Fotos von Staatsgeheimnissen. (#10) Rich wird erwischt und sein Film konfisziert; ich entkomme unbemerkt. Die Straße nach Tiflis – die Hauptstraße nach und aus Armenien (?) (Notiz für mich: andere Straßen nach und aus Armenien überprüfen) – ist ein schlammiger Hindernispfad aus Gräben und Pfützen. Unsere armenischen Kollegen erzählen uns, ihre Regierung habe angeboten, die Straße ausbessern zu lassen, es sei ihnen aber verweigert worden. Filme Wasservögel beim watscheln/schwimmen entlang der Straße. Wir kommen spät an, aber es gibt doch ein bisschen Zeit zum Sightseeing. Ich habe keinen Film mehr, also kaufe ich einen. Bis ich merke, dass er ein halbes Jahr über dem Verfallsdatum ist und zu dem Laden zurückkomme, ist die Fotoabteilung geschlossen. Eine freundliche Frau aus einer benachbarten Abteilung hilft mir, mein Geld zurückzubekommen; dafür höre ich ihrer Geschichte zu, wie gerne sie ihre Verwandten in New York besuchen würde, dass sie aber den Kontakt verloren habe. Sie zeigt mir ein paar oft gelesene Briefe und ein altes Adressbuch, und ich biete ihr an, mit ihr zur Post zu gehen und zu versuchen, sie anzurufen. Sie beginnt zu weinen und winkt mich weg. 21. Oktober Meine Studenten haben mich gewarnt, Georgien sei sehr gefährlich, und sie schienen recht besorgt zu sein, dass ich diese Reise unternahm. Vielleicht haben wir nur Glück gehabt, aber es war sehr spaßig (#11) und es gab keine Zwischenfälle, außer dass Eric mit dem Schlüssel für unser Zimmer verschwand (das Hotel hatte keinen Ersatzschlüssel, und so musste ich die Nacht auf dem Balkon verbringen), weil wir spät zum Zug kamen und rennen mussten, und dass ein paar Leute den Zug zurück nach Armenien zuerst verpassten. Aber sie nahmen ein Taxi zur nächsten Stadt und stiegen da in den Zug, und so klappte noch alles. 22. Oktober Mein Vermieter war so freundlich, uns einen Fernseher zu bringen, und die Stadt ist so freundlich, CNN und ein paar russische Sender auszustrahlen. Ich klebe an meinem neuen Apparat und wünsche, ich wäre dabei, entweder in Washington D.C., wo ein Heckenschütze die Anwohner terrorisiert, oder in Moskau (#12), wo Terroristen ein Theater besetzt und ein paar hundert Geiseln genommen haben. 27. Oktober Eduard von der Brusov-Universität leitet eine Fahrt zur Kirche, in der Maschtotz, der die armenische Schrift erfand, beerdigt ist (#12); danach gehen wir zu einem Berg in der Nähe, auf dem sie jahrtausendealte Artefakte ausgraben. (#13, #14) Höre wieder von Maschtotz und davon, dass Armenien das erste Land war, das das Christentum zur Staatsreligion erhob. Entdecke ein paar Friedhöfe und Müllkippen; trampe zurück nach Jerewan in einem Schulbus voller Kinder auf einer Tour durch alte Kirchen. (#15) Ich wünsche immer noch, ich hätte ein Visum für Russland bekommen und könnte mir das Theater ansehen, das die Terroristen besetzt haben. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass all diese Kirchen und Ruinen auf den Hügeln auch irgendwie zur Verteidigung gegen altmodische Terroristen gedient haben, aber es ist kein großer Trost. Gehe nach Hause; schalte den Fernseher an. (#16) 29. Oktober Es klingelt an der Tür, was gemeinerweise die eine oder andere Sondersendung unterbricht. (#17?) (Notiz für mich: zurückgehen und herausfinden, wann ich welches Foto machte und wann es an der Tür klingelte.) Es sind zwei Männer in schwarz. Der eine mit einer Lederjacke und einem dezenten Tattoo zeigt wiederholt auf ein Klemmbrett mit einem schmuddeligen Computerausdruck. Der andere steht eine halbe Treppe weiter unten mit einer Hand am Schalter meines Stromzählers. Anscheinend habe ich eine Rechnung nicht bezahlt und es muss für die Elektrizitätsgesellschaft mehr Sinn machen, Eintreiber vorbeikommen zu lassen als die Rechnungen per Post zu schicken, da sie einfach verloren gehen würden. Ich sage ihm, ich würde lieber im Postamt zahlen als das Geld irgendeinem Fremden zu geben, der einfach an der Tür auftaucht und um Geld bittet. »Kein Problem«, sagt er und gibt seinem Freund ein Zeichen, »wir drehen den Strom ab und Sie bezahlen die Rechnung. Die sollten in der Lage sein, ihn in ein paar Tagen wieder anzudrehen.« Ich schicke sie zum örtlichen Büro des CEP, das glücklicherweise ein paar Treppen tiefer ist. Es gibt einen großen Streit; der Strom bleibt an und ich gehe zurück, fernsehen. Es gibt Zeiten, da ist CNN International einfach nicht genug; glücklicherweise gibt es Internet Service Provider hier in Jerewan. Aber meiner funktionierte in diesem Monat meistens nicht. Ich kann nicht behaupten, ich sei nicht gewarnt worden, mir wurde von Anfang an geraten, den anderen Provider zu nehmen, der zehn oder hundert mal langsamer ist und doppelt so viel kostet, da er verlässlicher ist. Ich könnte immer noch umsteigen, aber ich hoffe weiterhin, dass meiner wieder auf die Beine kommt oder dass Sascha, dem der Jazzclub um die Ecke und der Übersetzungsservice um die andere Ecke gehört, bald seinen eigenen Internetservice zum Laufen bringt. Verbringe viel Zeit in verrauchten Internetcafés mit quälend langsamen Verbindungen. 4. November, 3.45 Uhr Bringe Vika zum Flughafen. Warten fünf Minuten vor der Auffahrt, weil zwei große Reisebusse durch den schmalen Durchgang zurücksetzen. Die Auffahrt hat eigentlich vier Spuren, aber zwei sind abgesperrt und eine wird zum Parken benutzt. Das Problem ist, dass ein Wagen so geparkt ist, dass die Busse nicht durchkommen. Unser Taxifahrer erklärt uns, dass sie ein Parkhaus bauen, und ich sage, dass alles okay sein wird, wenn es fertig ist. Er sagt sehr gelassen: »Hier ist der Osten. Es wird niemals okay sein.« 5. November Karine belehrt uns, wie wir klar kommen, wenn es nicht okay ist. Insbesondere erklärt sie uns, wie man seine Kleider bügelt, wenn man keinen Strom hat: Man benutzt einen Kessel mit heißem Wasser. Es ist nicht wirklich überraschend, dass Armenier sich Sorgen übers Bügeln machen, wenn es keine Heizung oder fließendes Wasser gibt. Aber könnte das eine Andeutung sein? (Notiz für mich: Bügeleisen kaufen.) 9. November Samstag ist ein ganz normaler Tag in der armenischen Sechstagewoche, und eine CEP-Kollegin führt an der Brusov-Universität einen Film vor. Es ist ein Kunstfilm: narrativ, schwarzweiß und ohne Dialog. Er scheint sich um Krieg zu drehen und ist ziemlich traurig. In der anschließenden Diskussion beklagen sich die Studenten, es sei ein schlechter Film, weil er deprimierend sei. Einer redet von »Fehlern«, die der Regisseur gemacht habe. Ich kann mich nicht bremsen und halte eine Rede darüber, dass Filmemacher in der Lage sein sollten, jeden Film so zu machen, wie er ihnen gefällt; jeder, der ihn nicht mag, sollte seinen eigenen Film machen. Später kommt eine Studentin zu mir und erklärt, alle Filmemacher hätten eine Pflicht gegenüber ihrem Land, die man durch erhebende Filme erfülle. 15. November Nach zwei einwöchigen Verschiebungen fahren wir nach Berg-Karabach, um Gastvorlesungen zu halten. Auf der Fahrt halten wir kurz an für ein paar Eimer Benzin. (Also das bedeuten diese Schilder! Die letzten beiden Monate habe ich mich gefragt, welche Menge Benzin zehn Dollar kostet.) Filme das Auffüllen der Eimer und das Einfüllen in den Benzintank; fotografiere Gläser mit Motoröl. (#18) Glücklicherweise war unser Lieblingsfahrer (s. 18. Oktober) für das Wochenende frei und spät nachts fährt er sehr, sehr schnell eine kalte, trostlose Strecke entlang. (Wir sind wieder zu spät, was soll man machen?) Er überfährt ein Kaninchen, setzt dann zurück, damit er es mitnehmen und kochen kann. Meine Kollegen bitten ihn, das nicht zu tun, und er fährt weiter. Als er es eine Minute später schon wieder versucht, schreien alle, und das Kaninchen kann knapp von der Straße flüchten. 16. November Unterrichte, besuche eine schicke neue Kirche, fotografiere zukünftige Verteidiger von Karabach. (#19) 17. November Als wir an diesem Sonntagmorgen aus der Stadt fahren, sehen wir junge Männer mit kurz geschorenen Haaren den Berg hinaufjoggen. Ah, könnte ich nur eine Sache finden, für die es sich zu kämpfen lohnt! 18 Uhr. Vielleicht habe ich meine Sache gefunden, aber ich bin nicht ganz bereit, dafür zu sterben. Wir sind an einem schönen Pass in den Bergen und unser Minibusfahrer wirft ein Bonbonpapier auf den Boden. Ich hebe es auf, gebe es ihm und erkläre ihm höflich, dass er es verloren hat. Er wirft es wieder auf den Boden. Ich frage ihn, warum er das macht, und er sagt, ich verstünde die armenische Mentalität nicht. Ich bitte Aza, die CEP-Assistentin, es mir zu erklären. Sie sagt, sie glaube, er sei teilweise Georgier. 20. November Das CEP veranstaltet ein Diskussionsforum in Georgien und ich bin eingeladen, im Auswahlkomitee mitzuwirken. Es ist etwas frustrierend, weil sich die Auswahl- und Teilnahmeregeln dauernd ändern; die lokale Programmkoordinatorin (die nicht im Komitee war) lehnt vier der zehn ausgewählten Studenten ab und ruft mich dann früh am nächsten Morgen an, um mir einen wichtigen Posten in einem völlig neuen Komitee anzubieten. Ich lehne ab. 29. November Es stellt sich heraus, dass Filmemacher nicht die Einzigen sind, die eine Pflicht gegenüber Ländern haben. Eine Amerikanerin hat hier irgendwie davon gehört, dass manche Kollegen (keine Filmemacher) und ich schlecht von unseren Gastgebern gesprochen haben und schickt uns eine vierseitige E-Mail, die uns wissen lässt, erstens: wir sollten nicht schlecht über Armenien denken, und zweitens: falls wir es tun, sollten wir diese Gedanken besser für uns behalten. Ich bin nach Gümri (ehemals Leninakan) eingeladen worden, um dort ein paar Vorlesungen zu halten. Es ist eine sehr erhebende Erfahrung. Werde in einem frisch gewaschenen sowjetischen Wagen jüngeren Baujahrs abgeholt und zu einer Tour durch das Stadtmuseum gefahren, das sich in einem alten Steingebäude ohne Heizung befindet. Drinnen liegen die Temperaturen wahrscheinlich unter dem Gefrierpunkt, und ich sehe es mir höflich an, solange ich es aushalte. Um Strom zu sparen, schalten freundliche junge Assistentinnen das Licht an, wenn ich einen Raum betrete, und wieder aus, wenn ich ihn verlasse. Dann gehen wir zu einem sowjetisch aussehenden Denkmal (XXL) des Zweiten Weltkriegs mit einer ewigen Flamme (#20) (im Moment außer Betrieb), und zu einer alten Festung, die einst zur Verteidigung gegen türkische Invasoren diente. Es gibt keine Heizung im Auditorium, in dem ich meine Vorlesung halte, also fasse ich mich kurz. Ich glaube, sie hätten mich hinterher gerne in ein Restaurant eingeladen, können es sich aber nicht leisten. Schließlich trinken wir eine Flasche Wein in meinem Hotelzimmer. 30. November Der Morgen ist kalt und schön (#21), besonders wenn die Heizung im Hotelzimmer funktioniert (wie meine). Halte eine Vorlesung an der Kunsthochschule (#22) und am Wirtschaftsinstitut. Dieses eine Mal scheint es, als gebe es Gerechtigkeit in der Welt: Die Künstler haben eine Heizung und die Wirtschaftsstudenten nicht. Armens Mutter hat ein großes Mahl bereitet, damit ich nicht hungrig nach Hause gehen muss. Esse und trinke; nehme den nächsten Kleinbus nach Jerewan. 8. Dezember Trete aus meiner Wohnung; versuche, eine Baustelle nebenan zu fotografieren. Ein Mann kommt zu mir und fragt, was ich da tue. Ich sage ihm, ich wolle lediglich ein Foto machen; er sagt mir, dass er hier wohnt. Ich sage ihm, dass ich hier ebenfalls wohne, aber er gewinnt: Er wohnt hier länger als ich. Finde eine andere Baustelle weiter entfernt von zu Hause; mache ein Foto (#23); verstecke meine Kamera, bevor irgendwelche Langzeitanwohner sie bemerken. Gehe weiter. Auf einmal merke ich, dass die Antwort für alle Probleme als Tryptichon auf einer Wand klebt (#24), aber irgendwie fehlt etwas. (Notiz für mich: früher aufstehen.) 19. Dezember Heute ist der letzte Tag meines Fotografieseminars und ich muss die Studienbücher der Studenten abzeichnen. Zum ersten Mal in diesem Semester ist der Klassenraum voll. Zwei Studenten, die ich niemals zuvor gesehen habe, und einer, den ich nur einmal in 28 Sitzungen sah, erwarten ein Ausreichend. Mir wurde gesagt, dass viele Dozenten Bestechungsgeld annehmen; normalerweise, vermute ich, würden sie für ihre Noten bezahlen, aber zum Glück bietet niemand etwas an. Später plädiert der Assistenzdekan für einen Studenten (»er ist einer unserer Besten«), der zwei Hausarbeiten eingereicht hat, um die verpassten Stunden wettzumachen. Beide sind Wort für Wort aus Büchern abgeschrieben; eine hat überhaupt nichts mit Fotografie zu tun. Ich möchte weinen. 20. Dezember Endlich bricht der Winter herein. (#25) Es hat beinahe jeden Tag geschneit, und nach drei Jahren in Los Angeles kann ich davon nicht genug bekommen. Setze meine Wollmütze auf und ziehe viele Schichten Kleidung an. Mache einen langen Spaziergang. Falle dabei mehrmals fast um. Die Gehwege sind neu (siehe 1. September) und, mit Schnee darauf, glatt wie Glas. 22. Dezember Armenische Weihnachten feiert man erst im Januar, aber westliche Dozenten dürfen früher in die Winterpause fahren. Mein Taxi kommt zu spät, und dieses eine Mal bin ich froh, dass der Fahrer viel zu schnell über die vereisten Straßen zum Flughafen fährt. Aber die Taxizentrale hatte Recht: kein Grund zur Sorge; wir fliegen mit einer Stunde Verspätung. Amsterdam ist kalt und regnerisch, aber der Flughafen ist warm, hat Internetcafés und heißes und kaltes fließendes Wasser. Ich leiste mir ein Mittagessen in einem chinesischen Restaurant, gehe dann zur Toilette und mache ein Foto. (#26) Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster. Der Foto- und Videokünstler David Reed (#27) lebt und arbeitet derzeit in Jerewan. In Jungle World veröffentlichte er seine Arbeiten »The Circumstantial & the Evident 1 & 2« (5 und 6/99), »Mein 9. November« (48/99), »Heaven can wait« (22/00), »The Media Zone« (36/00), »Chad Fever« (50/00), »11. September« (43/01) und »Just Stuff« (26/02).
David Reed
David Reed:
[]
Dossier
26.03.2003
https://jungle.world//artikel/2003/13/exile-armenia
Keine Ruhe, trotz Mercenaires
Wir haben Im Verlaufe unseres Gespräches schon ein paar Namen von Deutschen genannt. Das waren doch großenteils junge Leute, also nicht wie Sie Jahrgang 1920, sondern wesentlich später ... Ich bin ein Veteran. Sie sind ein Veteran, Sie haben auch, wenn ich an Ihre Schilderung des Juni 1941 denke, so etwas wie eine antibolschewistische Tradition bereits ... Richtig. ... aber diese jungen Leute doch nicht. Wir haben für den Kongo gekämpft, nicht weil wir für den Kongo kämpften oder für Tshombé - Personnage spielt gar keine Rolle. Wir haben für Europa gekämpft im Kongo, für die Idee des Westens, und zwar, um es ganz genau zu sagen, für Liberté, Fraternité usw. Sie kennen diese Sprüche ... Egalité. Ja. Seit 1789 im Sprachgebrauch. Richtig, und dafür habe ich gekämpft, nichts anderes, denn Afrika ist für mich die Verteidigung des Westens in Afrika. Wir haben für die westliche Zivilisation gekämpft, wir haben für den Kongo gekämpft. Der Kongo bedeutet in diesem Falle die westliche Zivilisation, einschließlich Europa, einschließlich unserer Nato, das habe ich ja allen Belgiern erklärt, der Kongo ist ein Nato-Fall. Er ist nicht wie ein Spielchen so daneben, sondern der Kongo ist ein Nato-Fall, der Kongo ist ein Fall, wo wir Europa gegen den Kommunismus verteidigen. Gut, ich habe verstanden, Major Müller. Eine Frage noch: Wenn ein Deutscher starb, hat dann ein Angehöriger in Deutschland irgendeine Nachricht erhalten, wurde ihm Trost zuteil, oder wie war es? Dies ist natürlich etwas, das ist zu viel von mir verlangt, denn ich bin nicht im Hauptquartier der Kongolesen-Streitkräfte gewesen. Ich kann nur sagen, dass ich mich mit aller Mühe bemüht habe. Wie? Ich habe mich an das Hauptquartier gewandt und hab' gesagt: »Hört mal, da sind Deutsche - da sind Deutsche im Einsatz, da sind Deutsche gefallen, nun sagt endlich den Verwandten, der Mann ist gefallen.« Ich möchte sagen, ich persönlich hab' mich bemüht, die Situation zu klären, jedem die Chance zu geben, dass jeder in Deutschland Bescheid weiß: sein Mann oder sein Sohn ist gefallen. Er ist in Albertville begraben oder in Stanleyville oder so. Major Müller, ich versuche mich jetzt in Ihre Lage hineinzuversetzen. Wie ging es eigentlich zu, wenn Sie nach einem Gefecht, möglicherweise nach der Situation einer militärischen Umzingelung, nach dem Abgeben vieler Schüsse, Toten vor den Linien, Gestank in der Luft, abends sich im Quartier zusammenfanden? Sie waren ja nun doch ein großer Teil, oder ein wesentlicher Teil, deutsche Landsleute. Gab es da auch mal so etwas wie, ich möchte mal fragen, Stunden der Besinnung oder Stunden der Einkehr? Die Stunden der Besinnung, die habe ich reichlich genossen. Und hohen Genuss werden vor allem die Stunden in der Etappe bereitet haben, die Sie sich in Abständen in Leopoldville gegönnt haben? Oh, Leopoldville ist eine Stadt wie im Frieden ... Ja? Man merkt überhaupt nichts vom Krieg, in dem ... Geht alles friedlich vonstatten. Das Internat der jungen Töchter läuft genauso wie vor zehn Jahren. Die Bars haben dasselbe Vergnügen wie vorher. Es gibt überhaupt nichts, ich möchte sagen, Leopoldville, Elisabethville, das ist der Frieden, wie wir ihn in Europa haben. Also nicht nur das Internat der jungen Töchter ist intakt, sondern vielleicht auch, ich meine, wir dürfen ja unter Männern ein raues Wort gebrauchen, vielleicht auch das Internat der leichten Mädchen, gibt es das da auch? Oh, es gibt auch leichte Mädchen, aber die gab es vorher schon, nicht. Die gab es vorher schon. Und leichte Mädchen sind nicht schlecht, haha! Aber ich möchte sagen, das Gefährliche liegt immerhin in dem Gebiet nördlich und östlich von Stanleyville, und da wird bis auf weiteres keine Ruhe sein, trotz Mercenaires, trotz des neuen Ministerpräsidenten. Das ist zwar sein Gebiet, aber das liegt immer noch in den Händen der Rebellen. Sagen Sie, in Leopoldville gibt es auch eines der Goethe-Institute? Ja, richtig. Ich habe, wenn ich in Leopoldville war, des öfteren dieses Goethe-Institut besucht, und ich habe also eine wundervolle Aufnahme gefunden. Sicherlich ist es eine Institution der Bundesrepublik, aber ich möchte sagen, wir haben etwas, was zweifach läuft, und nicht nur im Kongo, sondern überall in der Welt, die offizielle und die inoffizielle Politik. Man kann es nicht ändern, aber es ist so. Und ich will daran nichts ändern, es ist eine Tatsache. Und im Goethe-Institut wurde Ihrer Meinung nach die inoffizielle Politik betrieben? Ja, ich möchte nicht betrieben sagen - verstanden ... Verstanden, ja. - Haben Sie schöne Abende dort verlebt? Richtig, ich habe Klavierabende dort verlebt von deutschen Künstlern ... Herr Major, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat das Goethe-Institut so etwas wie eine verständige Begleitmusik zu Ihrer Arbeit im Kongo geliefert. Richtig, das Goethe-Institut hat total verstanden, um was es sich im Kongo dreht. Major, Sie tragen an Ihrer Brust das Eiserne Kreuz I. Klasse. Noch immer! Noch immer. Wann haben Sie es bekommen? 1945. Darf ich Sie fragen, ob Sie wissen, wann der Orden, den Sie an Ihrer linken Brustseite tragen, gestiftet worden ist? Ja. 1813 in Breslau, in meiner schlesischen Hauptstadt. Ja, in welchem Zusammenhang eigentlich? Der Befreiungskrieg, ich bin für die Befreiung, für die Befreiung aller Menschen, ob es die Preußen sind oder die Kongolesen. Ihr Eisernes Kreuz trägt in der Mitte das Hakenkreuz. Nehmen Sie davon bitte keine Kenntnis, sondern dieses Eiserne Kreuz ist ein Kreuz aus dem Zweiten Weltkrieg, und es hat nichts mit meiner politischen Einstellung zu tun. Ich bin zwar ein Deutscher, aber betrachten Sie das bitte nicht als politisches Dekorum oder so irgendwie, sondern das ist lediglich ein Ausdruck der Zeit, in der ich als Soldat in Deutschland tätig war. Ich verstehe, ja. Und da gibt es ein Bild in Ihren persönlichen Fotoalben ... Ja. ... da sind Sie zu sehen auf dem Flugplatz von Leopoldville, und neben Ihnen steht ein Oberstleutnant der US-Streitkräfte. Hat dieser amerikanische Oberstleutnant keinen Anstoß genommen? Kein Mensch hat Anstoß genommen. Genau genommen war er doch eigentlich, Major Müller, Ihr Kriegsgegner, genau genommen. Ah, das ist 20 Jahre zurück, das ist Historie. Damit möchte ich überhaupt nichts zu tun haben, sondern ich sage, sicherlich habe ich das EK I verdient als ein Offizier oder ein Soldat der Deutschen Wehrmacht. Aber es hat nichts damit zu tun, was zurzeit in Afrika stattfindet, denn ich kämpfe in Afrika nicht für Hitler, der ist schon lange tot, nicht für Bormann, der existiert für mich nicht, höchstens sein Sohn, den ich versuchte zu befreien. Für mich ist lediglich interessant, dass ich für den Westen arbeite, für unsere freiheitliche Demokratie. Interviewauszüge aus »Der lachende Mann. Bekenntnisse eines Mörders«, Dokumentarfilm von Walter Heynowski und Gerhard Scheumann, Kamera Peter Hellmich, Montage Traute Wischnewski, 65 min., s/w., 35mm, Berlin: Defa 1965, Ursendung 9. Februar 1966.
walter heynowski und gerhard scheumann
walter heynowski und gerhard scheumann: Siegfried Müller im Interview
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webredaktion
04.09.2002
https://jungle.world//artikel/2002/36/keine-ruhe-trotz-mercenaires
»Kann ich das mal sehn?«
Zehn nach zehn, es klingelt pünktlich an der Haustür. "Schuber*mein Name, ich komme vom Bezirksamt, hier mein Ausweis." Der Mann hält ein gelbes Plastikkärtchen hoch. Er ist um die Vierzig, recht groß, trägt einen Schnauzbart und ist nicht nett, aber freundlich. Keine Überraschungen also. Axel M.* ist trotzdem etwas nervös, schließlich ist Herr Schubert gekommen, um zu prüfen, ob Axels Antrag auf Kleidergeld, den er vor wenigen Wochen beim Sozialamt gestellt hat, auch wirklich berechtigt ist. Axel entschließt sich, ebenfalls freundlich zu bleiben: "Kommen Sie doch rein." Herr Schubert sortiert seine Unterlagen. "Ich muß mir erstmal ihre bisherigen Sachen angucken", sagt er und steuert auf Axels Schlafzimmertür zu. Axel M. ist seit gut einem halben Jahr arbeitslos. Das Arbeitslosengeld reicht zum normalen Leben aus, doch große Sprünge sind damit nicht zu machen. In diesem Winter beantragte Axel deshalb Kleiderbeihilfe beim Sozialamt. Weil er nach seinem Status nicht leistungsberechtigt ist, bekommt er das Geld für Mantel, Schuhe, Hose, Mütze, Schal und Pullover nur als Darlehen. Später muß er die 540 Mark, die nach Listenpreisen errechnet werden, in kleinen Raten wieder zurückzahlen. Für einen Mantel gibt es auf der Liste 200 Mark, für neue Stiefel 150 Mark und so weiter. Im zweiten Anlauf soll das Sozialamt Axel eine Matratze, zweimal Bettwäsche und fünf neue Handtücher vorfinanzieren. Die Prozedur geht wieder von vorne los: zum Amt, warten, Antrag abgeben, sich mit Sachbearbeiterinnen streiten. Diesmal kommt der Scheck von der Bezirkskasse jedoch nicht so reibungslos ins Haus. Herr Schubert kündigt sein Erscheinen eine Woche vorher an. Axel zeigt seine Habe her. Mit Blick auf die bescheidene Schlafstatt schlägt Herr Schubert vor: "Möchten Sie nicht auch noch ein Bett mit beantragen?" Auch die anderen vorhandenen Dinge sind ausreichend zerschlissen. Mit geübtem Auge entdeckt Herr Schubert noch ein Handtuch hinter der Badezimmertür. "Nein, das gehört der Frau D.*" Axel wohnt zusammen mit Gabi D. in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Berlin-Friedrichshain. "Menschen ohne Job und ohne Hoffnung stehen mit der Bierflasche auf der Straße", schreibt die B.Z. über die Rigaer Straße, die gerade ein paar hundert Meter von hier entfernt ist. Friedrichshain ist zwar nicht der ärmste Bezirk der Hauptstadt, doch besonders gut geht es den Leute hier nicht. Von den rund 58 000 Friedrichshainer Erwerbspersonen waren im Februar 10 112 ohne Arbeit. Das liegt nur wenig über dem Berliner Schnitt. Bei der Zahl der Sozialhilfe-Empfänger steht der Bezirk sogar ganz gut da. 46,04 kommen durchschnittlich auf tausend Einwohner. Ein Wert, der in der Nähe dessen der eher als gutbürgerlich bekannten Westberliner Quartiere Wilmersdorf und Steglitz sowie des Hauptstadtbezirks Mitte liegt. Die meisten Berliner Sozi-Empfänger wohnen im Wedding. Auf tausend Einwohner kommen hier 168,39 Leistungsbezieher. Im benachbarten Kreuzberg sind es 157,65, im wüsten Neukölln 109,37. Es sind also eher die pittoresk verfallenen Häuserfassaden, die die lokale Presse im Zuge der Zusammenlegung von Friedrichshain und Kreuzberg bei der nächsten Bezirksreform von der "Schaffung von Elendszonen" faseln lassen. Das Haus, in dem Gabi und Axel wohnen, sieht auch nicht gerade toll aus, aber die Wohnung ist okay. Abgezogene Dielen, frischgekacheltes Bad, funktionierende Gasetagenheizung. Daß die beiden hier zusammen wohnen, machte das Sozialamt skeptisch: Handelt es sich hier um eine WG? Oder besser noch um eine eheähnliche Gemeinschaft? Da könnte doch noch jemand sein, der für Axels Unterhalt haftbar zu machen ist. Herr Schubert stellt pflichtgemäß seine Frage: "Wohnen Sie hier in einer Wohngemeinschaft?" Nee, in einer Mietergemeinschaft. Der Satz klingt wie einstudiert. "Na, dann muß ich jetzt prüfen, ob Sie eine Wohngemeinschaft oder eine Mietergemeinschaft sind." Der Blick in das Zimmer der Mitbewohnerin bleibt versperrt. "Wie machen Sie das denn mit Einkauf, Abwasch und so?" Natürlich ist alles getrennt. Es folgt der obligatorische Kühlschranktest: "Kann ich das mal bitte sehen?" Säuberlich wurde alles in verschiedene Fächer sortiert, zweimal Butter, zweimal Käse, alles liebevoll arrangiert, es fehlen nur die Aufschriften auf den Frühstückseiern: "Gabi" und "Axel". Aber das wäre vielleicht etwas zu dick aufgetragen gewesen. Sozialhilfe ist ein hartes Geschäft in Deutschland. Wer später einmal in der Bild-Zeitung stehen will, muß klein anfangen. "65 000 Mark abgezockt! Schon wieder Sozialhilfebetrüger erwischt!" So oder ganz ähnlich steht es dort fast jede Woche geschrieben, und man fragt sich: Wie machen die das nur? Wenn man nämlich mal einen ganz normalen Sozialhilfe-Empfänger befragt, bekommt man immer nur die Schwierigkeiten auf dem Amt vorgehalten: Ewiges Warten in vollen Fluren, unfreundliche Beamte, die so tun, als verteilten sie ihr eigenes Geld, erfolglose Anträge und fehlende Unterlagen, die später nachgereicht werden müssen. Kommen Sie am besten gleich nächste Woche wieder! Wie soll man da nur 65 000 Mark zusammenbekommen? Eigentlich eine beeindrukkende Leistung. Von der anderen Seite aus sieht die Sache auch nicht viel besser aus. Ständig einen Flur voller wartender Klienten, viele der Antragsteller sind schon so fertig, daß sie ihre Unterlagen nicht mehr vernünftig zusammenbekommen, der ständige Druck von oben, die geringen Budgets einzuhalten, und dann sind da auch noch die ganz Schlauen, die sich besser als man selbst im BSHG auszukennen meinen. Herr Schubert arbeitet nicht nur für das Sozialamt, sondern für alle Abteilungen des Bezirksamtes. "Die geben uns einen konkreten Auftrag, und wir prüfen die Notwendigkeit." Eine Empfehlung wird er nicht abgeben, sondern nur einen Bericht, in dem steht, was er vorgefunden hat. "Der ist dann nächste Woche beim Sozialamt." Zu besonderen Zwischenfällen sei es bei seiner Arbeit bisher noch nicht gekommen. "Aber ich denk' mal, damit ist zu rechnen. Die Klientel ist nicht immer so einfach wie hier, sondern da gibt es auch Alkoholiker und so", vor deren Unberechenbarkeit sich der stämmige Herr Schubert offensichtlich fürchtet. Er geht auch einem etwas merkwürdigen Beruf nach. In seiner Rolle als Bedürftigkeitskontrolleur ist er schließlich der natürliche Feind der Antragsteller. Daß die über eine Woche Zeit haben, um ihre Wohungen den vermeintlichen Ansprüchen des Prüfers entsprechend herzurichten, weiß auch Herr Schubert. Was kann man da schon groß prüfen? "Na, das war's denn schon", sagt Herr Schubert und hält kurz inne. Für den Fall, daß Axel in der nächsten Zeit weitere Anträge auf Haushaltsgegenstände oder Möbel stellen will, macht er noch schnell eine Inventur des Zimmers. "Damit wir dann nicht nochmal kommen müssen." Ein vorausschauender Mensch. *Die Namen wurden geändert und sind der Redaktion bekannt.
hugo breithaupt
hugo breithaupt:
[]
webredaktion
19.03.1998
https://jungle.world//artikel/1998/12/kann-ich-das-mal-sehn
sigurd jennerjahn,
Beim diesjährigen Finale der brasilianischen Fußballmeisterschaft ging es hauptsächlich um zwei junge Nachwuchstalente.
[]
https://jungle.world//autorin/sigurd-jennerjahn-0
Welcome to Dover
Zwischen den Welten Nicht mehr zu Hause, noch nicht angekommen. Nicht mehr auf der Reise, doch noch längst nicht am Ziel. Voll Hoffnung, bleiben zu können, in einem Land, das abweisender kaum sein könnte. Zusammengepfercht auf engstem Raum, doch Bindungen einzugehen zu der Person, die neben einem schläft, macht wenig Sinn: Morgen kann sie schon weit weg sein. Weggeschickt in ein Detention Center, abgetaucht, abgeschoben. Genau wie man selber. Die Menschen in den Bildern von Cecilia Choi - Kriegsflüchtlinge, Asylbewerber, »Bogus Asylum Seekers«, wie der englische Terminus für »Scheinasylanten« lautet - leben in einer Zwischenwelt, die nie kennen lernen wird, wer in Westeuropa in gesicherten materiellen Verhältnissen und ohne Verfolgung aufgewachsen ist. Kaltes Land Bis weit in die neunziger Jahre galt Großbritannien als ein Land, das - gemessen am europäischen Substandard - relativ human mit seinen Flüchtlingen umging. Spätestens seit zum 1. April dieses Jahres große Teile der deutschen Asylgesetzgebung adaptiert wurden, gibt es für die Flüchtlinge keine Sicherheit mehr. Für die meisten von ihnen sind die Hafenstädte Dover und Margate seitdem nur noch eine Durchgangsstation. Die einst gut organisierten Netzwerke mancher Flüchtlingsgruppen funktionieren gar nicht mehr oder schlecht. Die Lücke wird von professionellen Flüchtlingshelfern gefüllt, die sich ihre Dienstleistung gut bezahlen lassen. Wer nicht zahlen kann, muss oft unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen in der Landwirtschaft oder der Baubranche seine Schuld abarbeiten. Die Menschen, die Cecilia Choi fotografiert, wissen davon oft noch nichts. Die meisten wurden eben erst an Land gespült, und wer von »Wirtschaftsflüchtlingen« redet, der soll sich diese Gesichter anschauen. Sozialdienste wie der Kent Refugee Link haben ihnen ein Quartier verschafft. Sie haben vielleicht draußen an der Uferpromenade die Parolen und die abgefetzten Plakate der National Front gelesen, die hier alle ein, zwei Monate einen kleineren Aufmarsch durchführt. Sie haben womöglich gehört von den respektablen Geschäftsleuten, die in ihren Spielzeug-Läden Unterschriften sammeln gegen »die so genannten Asylbewerber, die unser Sozialsystem vergewaltigen«. Womöglich haben sie schon einmal eine Ausgabe des Dover Express oder des Margate Herald in Händen gehalten, in denen zum Beispiel behauptet wurde, die Flüchtlinge betrieben in Dover mehrere Bordelle. Vielleicht haben die Flüchtlinge in »A Refuge from Home« aber auch nur den unerbittlichen Dauerregen gesehen, den nassen Asphalt und die versteinerten Gesichter, und nun fragen sie sich, was sie in dieses kalte, ferne Land verschlagen hat. (Die Fotos dieses Dossiers entnehmen Sie der Print-Ausgabe.)
cecilia choi
cecilia choi:
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Dossier
19.07.2000
https://jungle.world//artikel/2000/29/welcome-dover
Vorbereitung auf den Bürgerkrieg
Seit Anfang voriger Woche geht es Schlag auf Schlag in den palästinensischen Gebieten. Zunächst wurden drei Söhne (zwischen sechs und acht Jahren alt) des Geheimdienstoffiziers Baka Babusha, eines Vertrauten des Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas (Fatah), vor ihrer Schule in Gaza-Stadt erschossen. Am Freitag wurde das Auto des amtierenden Ministerpräsidenten Ismail Hanija (Hamas) unter Beschuss genommen, der in den Gaza-Streifen einreisen wollte, mit einem Koffer mit 26,5 Millionen Euro Spendengeldern aus dem Iran. Tags darauf stürmten Milizionäre, offenbar von der Hamas, ein Ausbildungscamp der Präsidentengarde in Ramallah, während Fatah-Anhänger von der Hamas gehaltene Ministerien in Gaza-Stadt besetzten. Abbas hat am Samstag Neuwahlen angekündigt, die die Regierung stellende Hamas wertet dies als Putschversuch. Wechselseitige Beschuldigungen der jeweiligen Führungspersonen als »Verräter«, »ausländische Agenten« und »Diebe« sind ein weiteres Indiz dafür, dass die Warlordisierung in den palästinensischen Gebieten, das Ergebnis der militarisierten und religiös aufgeladenen Al-Aqsa-Intifada, in einen offenen Bürgerkrieg umschlagen kann. Bezeichnet wird diese Entwicklung in deutschen Medien, von ARD über Spiegel online und Focus bis zur Stuttgarter Zeitung, in bester völkischer Tradition als »Bruderkrieg«. carlos kunze
Carlos Kunze
Carlos Kunze:
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webredaktion
20.12.2006
https://jungle.world//artikel/2006/51/vorbereitung-auf-den-buergerkrieg
Jungle World #43/2006 - Unterschicht? Soll’se doch Kuchen essen!
Im dschungel läuft:
Armut in Deutschland 25.10.2006
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2006/43
Im Edelstahlrachen
Chanina spielt Rollen. Er trägt viele Namen. Je nach dem, mit wem er gerade zusammen ist, sei es nun eine Freundin, sei es sein alter Weggefährte Jadnuga, der aber auch anders heißt, oder sei es ein Fremder, ein alter Gegenspieler von früher. Denn Chanina, die Hauptfigur des Romans, ein Geschäftsmann in der Werbebranche, war in seinem früheren Leben bei einer Spezialeinheit des israelischen Geheimdienstes tätig, wo es zu seinem Beruf gehörte, seine Identität zu wechseln. Sein alter Feind, den es zur Strecke zu bringen gilt, hat mindestens sieben verschiedene Namen bzw. Spitznamen. Nebenbei geht es in der Geschichte aber auch noch um eine das sexuelle Empfinden steigernde Liebespille, den Holocaust und um die Ereignisse im Leben zweier Frauen, die freilich auch jeweils mindestens zwei bis drei Namen tragen. Na, haben Sie schon genug? Man sieht bereits, die Geschichte, sofern es eine solche überhaupt gibt und nicht vielmehr viele jeweils ineinander verschachtelte, ist alles andere als simpel. Der Verfasser ist Joshua Sobol, der in den achtziger Jahren vor allem mit seinem Theaterstück »Ghetto« Erfolg hatte. Bereits an seinem erstem Roman (»Schweigen«) wurde gelobt, dass er reich an Ereignissen und an Zeitsprüngen sei, dass der Schriftsteller heterogene Geschichten gekonnt miteinander verwebe. »Formal gesehen, wäre Sobols Schreiben postmodern. Es folgt nicht dem Gang der Logik oder einer Chronologie, sondern ist von Reflexionen und Einschüben, Wiederholungen, Rückgriffen und Sprüngen gekennzeichnet«, hieß es etwa in der Frankfurter Rundschau zum Prosadebüt des Dramatikers. Man könnte Sobols Qualitäten als Erzähler jedoch auch anders beschreiben. Dass er Vergnügen daran hat, Zeit- und Erzählstränge ineinander fließen zu lassen, muss nicht heißen, dass er die von ihm gewählte Technik beherrscht. Vielfach scheint der »virtuose« Autor, offenbar unter dem Einfluss seiner »Phantasie« (Klappentext), die Übersicht über die Komposition seiner Erzählung zu verlieren, sodass ein nur mit Geduld entwirrbares, verknäueltes Mischmasch an Erzählpartikeln dabei herauskommt. Ein sich bei der Lektüre ergebender Effekt ist der, dass der Leser sich inmitten mehrerer halb begonnener, halb angedeuteter, wiederholt unterbrochener und wahllos irgendwann wiederaufgenommener, disparater Erzählfragmente wiederfindet, die ihrerseits wiederum von Rückblenden unterbrochen werden. Der Verlag bezeichnet das in der ihm eigenen Klappentextpoesie als ein »hintersinniges, vor Phantasie sprühendes Verwirrspiel«. So kann man’s freilich auch nennen. Stilistisch jedenfalls liegt hier einiges im Argen. Beim ersten Erscheinen der Gefährtin unseres Helden gelingt es dem Autor, sie dem Leser so vorzustellen: Die Frau ist »schmal wie eine Wespe«, hat »spindeldünne, zerbrechliche Glieder wie die langbeinige, perfide Segestria-Spinne« und wird daher fortan eine »spinnenhafte, langbeinige Wespe«, eine »langgliedrige«, eine »betrügerische« oder »verräterische Spinne« bzw. die »Spinne mit den Spindelgliedern« genannt, was sich in Variationen im Fortgang des Romans wiederholt (»Gottesanbeterin«, »Storchenbeinchen«, »ihre langen, dünnen Beine sprossen wie zwei Bambushalme«, »perfide Spinne«, »Spinnenmädchen«, »Spinnenfrau«, »Spinnwebfinger«, »Spinnfadenfinger«, »Fadenfinger«, »Schnürsenkelleib«, »Zahnstocherbeine«, »langfingrig«, »fadendünne Splitternacktheit« usw.) Die Manie Sobols, alles fortwährend mit etwas grundsätzlich Unpassenden zu vergleichen, ist hochgradig enervierend. Möglicherweise ist mit der Rede vom »wortgewaltigen« (Klappentext) und vor Phantasie sprühenden Erzähler ja dessen geschwätziger, fabulierfreudiger Stil gemeint. Beliebt sind insbesondere Vergleiche aus Flora und Fauna: »Ihr elastischer Körper schmiegte sich an ihn wie eine Eidechse.« Finger bewegen sich wiederholt »wie zuckende Schlangenköpfe«, und weil dieser Vergleich noch nicht …hm, plastisch genug ist, wird an anderer Stelle noch etwas dazugedichtet, damit’s richtig rauscht: »…wie die Schlangenköpfe auf dem Gorgonenhaupt der Medusa«. Ja! Und weiter: Knöchel »winden sich wie Wurzelstränge in die Laufschuhe hinein«, ein Auto »wiehert mit jubelnder Freude wie ein Pferd«, Flugzeuge sind »mächtige Stahlvögel« bzw. »donnernde Stahlungeheuer«, Großstadtgeräusche klingen »wie ein heulender Raubtierchor im Wald«. Die sich schließenden Metalltüren eines Fahrstuhls sind also niemals einfach nur Fahrstuhltüren, sondern (Phantasie!) ein »Edelstahlrachen«, ein »rostfrei stählernes Raubtiergebiss, das (…) zuschnappt«. Vielleicht soll der stur durchgehaltene Stil mit seinen fortwährenden Vergleichen blumig-lebensprall wirken, womöglich glaubt der Autor gar, er stelle Literatur her. Mit fortschreitender Lektüre wächst ein wahres Sammelsurium an Plattitüden heran. Die spinnenbeinige Gefährtin Chaninas wird etwa von dessen »rechtem Auge« getroffen, und zwar »so scharf wie ein Laserstrahl«. Das ist aber nicht das erste Mal, dass derlei geschieht. Die Augen des Protagonisten etwa »bohren sich« schon auf den ersten Seiten in das Gesicht seines Gegenübers »wie zwei Laserstrahlen«. Sobol zeigt eine ausgeprägte Vorliebe für abgegriffene, standardisierte Nullachtfünfzehn- und Fertigprosaversatzstücke, die der Trivialliteratur entlehnt sind. Die Spinnenbeinige hat demnach zwangsläufig »volle, aufgeworfene Lippen«, »Pfirsichbrüste« und ein »glockenreines Lachen«, und mit »ihren zu zwei Schlitzen zusammengekniffenen Augen« »mustert« sie ihren Freund »katzenhaft«. Es bleibt auch nicht aus, dass sie ihm »ihre Lippen darbot, nass, sehnend und begehrlich«, sodass unser Held »spürte, dass sein Glied prall wurde«. Der Kopf des Kumpans unseres Helden wiederum ist »bekränzt von einer silberlockigen Mähne, unter der lausbubenhaft seine kindlich verwunderten Augen…«, genau: »funkelten«. Hier »senkt sich Dunkelheit über das Land«, dort klärt sich eine Erinnerung »wie ein ferner Traum«, der sich »Stück für Stück aus dem Nebel herauszuschälen beginnt«, an anderer Stelle »lässt der Motor ein drohendes Knurren vernehmen«, bevor das Auto »trabt« bzw. »einen Slalom hinlegt wie eine betrunkene Ruderrakete«, was auch immer das nun wieder sein mag. Und wie viele PS hat es? Es sind »150 Feuergäule, die unter der Motorhaube gefangen waren«. Es mag sich um den Versuch handeln, geistreich oder lebendig zu erzählen: Bisweilen erzielt der Autor mit derlei kunstgewerblichen Passagen eine erstaunliche Komik. Aufgepasst! Meine Lieblingsstellen kommen jetzt, als Belohnung für alle, die bis hierher gelesen haben. Wir fangen einfach mitten im Satz an: »… spürte er die Lippen ihrer geöffneten Scham an der Haut seines Oberschenkels lecken, wie ein blinder Welpe, der mit seiner nassen Nase nach den Zitzen seiner Mutter spürt und sich begehrlich an die Warze drängt –«. Nun gut, also von mir aus Welpen: »… ihre Brüste schnellten freudig in die Nachtluft hinaus, sich schüttelnd wie…« – Wie? – »… wie zwei nasse Welpen.« Wie zwei nasse Welpen. Genau. Joshua Sobol: Whisky ist auch in Ordnung. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Luchterhand, München 2005. 320 S., 21,90 Euro
Thomas Blum
Thomas Blum:
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Dossier
19.10.2005
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cornelius coot
Die Reaktorkatastrophe in Fukushima hat in Japan kaum Protest seitens der Anti-AKW-Bewegung ausgelöst. Die Debatten über Atomwaffen und Atomenergie wurden dort schon immer getrennt geführt.
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https://jungle.world//autorin/cornelius-coot
Beim Lutschen des Brühwürfels
Wieso gilt ein mediokres Talent wie Herr Grass bei Ihnen als Papst der Epik, während Arno Schmidt seit gut zwanzig Jah­ren in der Ecke stehen muss, zur Strafe dafür, dass er Deutsch kann?« Diese Frage stellte Peter Hacks in einem Brief Hellmuth Karasek. Aber Hacks war nicht der einzige, auch andere große Autoren fanden die Bücher von Grass vollkommen überschätzt. Hannah Arendt schrieb an ihre Freun­din Mary McCarthy, daß sie »Die Blech­trom­mel« nie zu Ende lesen konnte, weil sie das meiste darin »aus zweiter Hand, nicht originär« fand. »Ich las sie [Die Blechtrommel] vor Jahren auf Deutsch, und ich finde, es ist eine künstliche tour de force – als ob [Grass] alles an moderner Literatur gelesen und dann beschlossen hätte, sich einiges auszuleihen und etwas Eigenes draus zu machen.« Und Friedrich Dürrenmatt war heilfroh, daß Grass ihm nicht wie versprochen den »Butt« schickte, weil er ihn dann auch nicht zu lesen brauchte: »Der Grass ist mir einfach zu wenig intelligent, um solche dicken Bücher zu schreiben.« Das gleiche Buch, nämlich »Der Butt«, regte Robert Gernhardt zu einem Zweizeiler an: »Man kann alles übertreiben/auch das Schreiben.« Und mehr gab’s aus Gernhardtscher Sicht zu Grass auch nicht zu sa­gen. »Ekelhafte Altmännerliteratur« nannte Elke Heidenreich die Prosa von Grass: »Es muss in erster Linie gute Literatur sein. Und ich finde, dass Grass und Walser seit Jahren nichts Gutes geschrieben haben. (…) Und bei Grass hat mich immer das Übermaß an Eitelkeit und Selbstgefälligkeit gestört.« Das trifft die Sache auf den Punkt genau. Und weil die Bücher von Grass nicht lesbar sind, machte sich Wolfgang Neuss schon früh Gedanken darüber, wie das Zeug anderweitig nutzbar gemacht werden könne: »Macht aus der Geheimrättin von Grass Fragebogentexte bei der Volkszählung.« Das würde die Volkszähler richtig zur Verzweiflung bringen. Bis auf wenige Ausnahmen glaubt das Feuille­ton fest daran, Grass sei ein bedeutender Autor, und weil ihm der Literaturnobelpreis verliehen wurde, hält sich dieses Missverständnis hartnäckig. Grass wurde jedoch nicht damit ausgezeichnet, weil er ein großer Schriftsteller ist, sondern weil er einer der größten Kulturbetriebs­intriganten ist, der, wie Heinar Kipphardt einmal schrieb, »mit der SPD in alle Arschlöcher kriecht, in das des Papstes inklusive«. Günter Grass hat es immer verstanden, seine mediokren Bücher unter die Leute zu bringen, und Otto wusste auch, wie er das machte: »Du kaufst jetzt Günter Grass, sonst setzt es was!« * Stop! Nicht alle Bücher von Günter Grass waren öde und mittelmäßig. Es war auch ein witziges darunter, auch wenn Grass nichts dafür konnte. Und zwar handelte es sich um eine Übersetzung der »Blechtrommel« ins Schwedische aus dem Jahre 1961, für die Grass dann ja auch den Nobelpreis bekam. Aus »Hut« hatte der Übersetzer »Haut« gemacht. Und man stellt sich vor, wie jemand seine Haut aufsetzte. Aus »Brandungsgeräusch« wurde »Brandgeruch«. Auch nicht schlecht: Es drang ein beruhigender Brandgeruch an sein Ohr. Offensichtlich wollte der Übersetzer, wenn schon kein Schwung in die Sache zu kriegen war, wenigsten den Leuten was zum Lachen bieten. Aus dem Buch »Draußen vor der Tür« von Wolfgang Borchert wurde ein Schauspiel, das in der freien Luft aufgeführt wurde. Aber es geht noch weiter: »Die braunen und schwarzen Uniformen von SS und SA wurden als braune und schwarze ›Vorhänge‹ beschrieben. Das Geheimnis, das sich hinter dem Lied High Society von Louis Armstrong verbarg, wurde vom Übersetzer völlig verkannt: Er übersetzte, die Kapelle habe so gut gespielt, daß sie sich wie zur besten Gesellschaft gehörig fühlte.« (Rainer Schmitz, »Was geschah mit Schillers Schädel. Alles, was Sie über Literatur nicht wissen«). Aber wer kann schon Schwedisch? * In dem aufgeregten und hysterischen Geschnatter, das die Presse um die SS-Vergangenheit von Grass anstimmte, ging es fast ausschließlich um das Verschweigen eines peinlichen Flecks auf der weißen Weste von Günter Grass, kaum jemand zweifelte jedoch an seinen künst­lerischen und schriftstellerischen Fähigkeiten, denn schließlich hatte man ihm über Jahrzehnte hinweg die Stange gehalten und ihn zum größ­ten deutschen Autor gekürt. Kaum jemand machte sich einen Kopf, wie es dazu kam. Karl Heinz Bohrer war einer der wenigen, der ein paar Überlegungen anstellte, die sich vom üb­lichen Empörungsjournalismus wohltuend unterschieden. Grass habe als berühmtester Vertreter der deut­schen Nachkriegsliteratur, meinte Karl Heinz Bohrer, seine »künstlerischen Defizite« mit »einem aufdringlichen Moralismus« auszugleichen versucht. Anders als bei den Intellektuellen, die während der Nazi-Zeit oder danach ins Exil gingen und bei denen »eine existentielle Trauer im Spiel war, von der die Rhetorik der politischen Moralisten charakteristischerweise nichts hatte«, steckte hinter dem laut und vernehmlich vorgetragenen »mea culpa« nicht nur eine »Zer­knirschung, sondern mehr noch eine Art Erpres­sungsversuch, dass man endlich doch die Schuld vergeben möge. Ganz besonders die Opfer selbst, die Juden, sollten das tun.« Und als sich Grass lange genug stellvertretend für alle Deutschen zerknirscht gegeben hatte, aber die Juden dennoch nicht die Begeisterung an den Tag legten, die man von ihnen bei der geforderten General­amnesie erwartet hatte, wurde der Spieß um­ge­dreht, und Grass drehte mit, indem er sich nun­mehr als Bewährungshelfer gegenüber den Juden aufspielte, da­mit sie nicht rückfällig und Ver­haltens­wei­sen an den Tag legen würden, die man als Grass und als Deutscher lange genug und vehement öffentlich bereut hatte. Vielleicht weil Grass bei einem Vortrag in Jeru­salem 1971 mit Tomaten beworfen wurde, schrieb er im gleichen Jahr: »So hat Israel durch die schleichende Annexion der besetzten Gebiete den arabischen Staaten einen Vorwand für deren Angriffe geliefert.« Könnte natürlich auch umgekehrt gewesen sein. Weil Grass die arabischen Angriffe auf Israel rechtfertigte, wurde er mit Tomaten beworfen. In diesem Fall muss man sagen: Die Israelis waren so freundlich, ihn nur mit Tomaten zu bewerfen! Wie auch immer. Grass versuchte doch nur, die Juden zu guten Menschen zu erziehen, denen man eben auch mal die Ohren lang ziehen muss, wenn sie nicht auf den Volkserzieher Grass hören wollen. »Es ist für mich auch ein Freundschaftsbeweis Israel gegenüber, dass ich es mir erlaube, das Land zu kritisieren – weil ich ihm helfen will … Solche Kritik aber zu kritisieren – damit muss man aufhören … dieses Auge um Auge, Zahn um Zahn der gegenwärtigen Politik schaukelt allen Zorn nur noch weiter hoch« (Interview im Oktober 2001), ließ Grass nicht locker und verbat sich jede Kritik, denn das Recht dazu hat nur er. Kritik an ihm ist gotteslästerlich und hat gefälligst aufzuhören. Auch kleine Vergehen bleiben da nicht ungestraft, denn Grass sieht alles. Selbst eine kleine nicht genehme Kritik an einem seiner Bücher in der Frankfurter Rundschau entgeht ihm nicht. Dann muss Grass den Chefredakteur anrufen, ihm den Kopf waschen und sein Abo abbestellen. Genauso macht es ein gro­ßer Autor und Schriftsteller und Kritiker. * Nach der Zerknirschung dann das Helfersyndrom. Und dazu war eine Uminterpretation von Ausch­witz nötig, die Grass Anfang der Neunziger in Angriff nahm, nachdem Jürgen Habermas in der Zeit die Frage gestellt hatte: »Was wird aus der Identi­tät der Deutschen?« Habermas diagnostizierte »fehlenden Nationalstolz« und verschrieb den Deutschen ein bisschen mehr »Verfassungspa­triotismus«. Die »nationale Identität« war damals schwer im Schwange, weil man die frisch da­zugewonnenen Zonis aus den fünf neuen Im­bissbudenaufstellflächen ideologisch unter einen Hut bringen musste, und das ließ sich am besten bewerkstelligen, indem man sich eine Un­menge von Feinden imaginierte, die Rudolf Aug­stein damals in seinen Deutschlandkommen­ta­ren im Spiegel erfand. Da dieses nationale Iden­ti­tätsgefasel aber nicht richtig mit Auschwitz kom­patibel war, meldete sich Grass zu Wort, um die Sache hinzubiegen: »Wir kommen an Ausch­witz nicht vorbei. Wir sollten, so sehr es uns drängt, einen solchen Gewaltakt auch nicht ver­suchen, weil Auschwitz zu uns gehört, bleibendes Brand­mal unserer Geschichte ist und – als Ge­winn! – eine Einsicht möglich gemacht hat, die heißen könnte: Jetzt endlich kennen wir uns.« Abgesehen davon, dass sich das vor dem Hintergrund seiner SS-Zugehörigkeit ganz lustig liest, ist dieses in hohem, weihevollem Ton abgefasste Bekenntnis zu Auschwitz nur vordergründig eines. Gerade dieses orgelhafte, aufdringliche Pochen auf Auschwitz musste einen skeptisch machen. Und zu Recht. Denn »Au­sch­witz als Gewinn« eignete sich im Sinne der von Habermas verteidigten »Einzigartigkeit von Ausch­witz« besser für die unverwechselbare Identitätsausstattung der Deutschen als ein bloß vergleichbares und austauschbares Ereignis, das keinen Anspruch auf Originalität erheben kann und die Deutschen zu bloßen Nach­ahmungstätern stempeln würde, weil laut Nolte die »Asiaten« das Copyright auf den Völkermord hatten und nicht die Deutschen. Nicht umsonst entschied sich auch der Hobbyhistoriker Helmut Kohl im Historikerstreit für diese Version, denn damit war Auschwitz bewältigt. Mit seiner Sakralisierung und von der Aura des Unbegreiflichen umgeben, hatte Auschwitz nur noch eine rituelle Bedeutung. Man konnte sich wieder nationalen Aufgaben zuwenden. Martin Wal­ser meinte das auch: »Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden.« Und so wurde es dann ja auch gemacht. * Grass ist der lebende Beweis dafür, dass öde Literatur in Deutschland und weltweit eine Chance hat. Das liegt jedoch nicht nur am schlechten Literaturgeschmack hunderttausender Leser, sondern auch an den Vermarktungsmechanismen von Literatur, an dem inszenierten und mit dem Literaturbetrieb abgesprochenen Skandal. Nur mit Hilfe feuilletonistischen Flächenbombarde­ments und der Hinterlassung verbrannter Erde ist das Zeug der Oberlangweiler der großdeutschen Literatur, Walser und Grass, unters Volk zu bringen. Grass ist das wieder gelungen, als er »Beim Häu­ten der Zwiebel« en passant erwähnt, bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Der Skandal bestand jedoch nicht darin, dass Grass Mitglied in diesem Verein war. Schließlich stammte er nun mal wie die meisten Deutschen aus einem ordentlichen Nazi-Haushalt, wo die Einberufung in die Elite-Einheit nicht als Schande begriffen wurde, abgesehen davon, dass die SS in der Schluss­phase des Krieges nicht wählerisch war und jeden nahm, den sie kriegen konnte. Sogar Günter Grass. Der Skandal bestand vielmehr in seiner Reaktion auf die Fragen, die sein Geständnis auslöste. Es hatte zwei Möglichkeiten gegeben, auf diese peinliche biografische Episode zu reagieren: Für den Rest des Lebens die Klappe zu halten oder die Karten auf den Tisch zu legen. Grass hat sich für eine dritte und die schlechteste, weil unlauterste Möglichkeit entschieden: Das SS-Kapitel zu verschweigen, sich als moralisches Nachkriegsgewissen der Nation aufzuspielen, seine Mitgliedschaft sechzig Jahre später auszuplaudern und damit ein weiteres Mal öffentliche Aufmerksamkeit abzugreifen. Grass wusste schon während des Krieges, dass er eine Lauf­bahn als Schriftsteller einschlagen wollte und ihm dieses Geständnis in seiner Karriere nicht förderlich wäre. Er hätte vermutlich nicht ganz so viele Preise eingesackt und auch den Literatur­nobelpreis hätte er nicht bekommen. Auch wenn diese Preise nicht schriftstellerische Verdienste, sondern vielmehr das unermüdliche Klappern in der Adabei-Kultur des Literaturbetriebs würdigen, wäre für die schwedische Akademie ein SS-Mann einfach nicht in Frage gekommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte es Grass nicht mal zum Redenschreiber von Willy Brandt gebracht, denn der wäre möglicherweise über die SS-Geschichte nicht sooo glücklich gewesen. Grass verbreitete unter aktiver Mithilfe u.a. von Ulrich Wickert viel Theaternebel um seine Mitgliedschaft bei der SS, aber das Problem ist nicht, dass er Dreck am Stecken hatte, das Problem ist, dass Günter Grass eine Prosa schreibt, die so knarzt, quietscht und knattert, dass man Menschen, die einen Genuss bei dieser Art von Lektüre empfinden, für nicht besonders zurech­nungsfähig halten mag. Seine Leser sind mit einem literarischen Geschmack gesegnet, der in dem nach Bohnerwachs riechenden Treppenaufgang einer Altbauwohnung in den fünfziger Jahren anzusiedeln ist. * Ich habe die ersten fünfzig Seiten der Erinnerungen von Günter Grass gelesen. Das waren fünfzig Seiten zu viel. Aber wa­rum mehr lesen, wenn es weh tut? Warum mehr lesen, wenn man sich schon mit den ersten fünfzig Seiten so gequält hat? Was ist so interessant an den Memoiren von Günter Grass? Dass »die Kapelle der Schutzpolizei muntere Weisen spielte … Mein erster Steinpilz … Als wir Schüler hitzefrei hatten … Als mei­ne Mandeln schon wieder entzündet waren … Als ich Fragen verschluckte … « Hört sich das wirklich so irre spannend an, dass man es unbedingt lesen möchte? Aber bitteschön, dann lässt man eben die »munteren Wei­sen« über sich ergehen und tastet sich weiter nach vorn. »Und auch ich habe, wenngleich mit Beginn des Krieges meine Kindheit beendet war, keine sich wiederholenden Fragen gestellt. Oder wagte ich nicht zu fragen, weil kein Kind mehr?«, schreibt einer, weil immer noch Schriftsteller? Man möchte ihm zurufen, doch endlich zu Potte zu kommen »hinter restlichen Ruinenfassaden«, er aber belämmert uns mit seiner Großtante An­na, die ihn »mit dem unumstößlichen Satz begrüßt: ›Na, Ginterchen, bist aber groß jeworden.‹« »Fünfzig Jahre später, als das, was sich gegenwärtig und notdürftig als ›deutsche Einheit‹ zu behaupten hat, Spuren zu hinterlassen begann, besuchten wir Hiddensee, meiner Ute autofreie Heimatinsel.« Puuuh, geht’s nicht noch ein biss­chen gespreizter? Dort trifft Grass einen Jugend­freund. »Bei Kaffee und Kuchen plauderten wir über dieses und jenes … « Ach, wie interessant, wie geistreich und überaus unterhaltsam. Aufmerken lässt einen dann, dass es danach »noch um einheimische Inselgeschichten [ging], in denen sich Lebende und Tote auf Plattdeutsch verplauderten«. Und später? »Nach kurzem Zögern umarmten sich die Schulfreunde und waren ein wenig gerührt.« Und so labert Grass vor sich hin, breitet seine unglaublich öden Erinnerungen aus, kommentiert sie zwischendrin oberlehrerhaft in der dritten Person und frickelt unermüdlich eine holprige, langatmige und bräsige Prosa zusammen. Da ist kein Rhythmus drin, keine Musik, kein Dampf, keine Spannung, nur der zähe Wille eines Mannes, bis zum bitteren Ende vor sich hin zu schwadronieren. Grass’ Kunst besteht einzig darin, seine Prosa mit barocken Satzkonstruktionen zu befrachten. »Bauern-Barock« nannte die Süddeutsche Zeitung das: »Es wimmelt von Adjektiven. Re­dundanz ist das oberste Prinzip. Diese Prosa hat etwas Krud-Artifizielles, etwas Ausge­schnitz­tes, Manieristisches, pedantisch Groteskes (Grimmelshausen hat ihm eben schon an der Wiege gesungen!). Überhaupt gilt für Grass’ Bücher das Mischungsverhältnis: Auf eine Einheit Denken kommen dreißig Einheiten Bilderwust. (…) Die Lektüre dieser poetischen Essenz ist nur dem Lutschen von Brühwürfeln vergleichbar.« Das ist schön gesagt. Ein verschnürter Koffer, den er auf einem Dach­boden findet, verleitet ihn zu folgender Reflexion: »Unter Gerümpel und zwischen ausrangierten Möbeln wartete ein besonderer Koffer auf mich; so jedenfalls deutete ich den Fund. Lag er unter verschlissenen Matratzen? Tippelte auf dem Leder gurrend eine Taube, die sich durch die Dachluke verflogen hatte? Hinterließ sie, von mir aufgescheucht, frischen Taubenmist? Wurde der verknotete Bindfaden sofort aufgedröselt? Griff ich zum Taschenmesser? Hielt mich Scheu zurück? Trug ich den eher kleinen Koffer treppab und überließ ihn brav der Mutter?« Tja, das sind so Fragen, auf die man schon immer eine Antwort haben wollte. Hätte Balzac die nächste Folge seines Romans in der Zeitung so angekündigt, wäre die Sache schnell beendet gewesen. Spannung ist was anderes. Nur Grass weiß nicht, was das ist. Er weiß nur: So lässt sich ein Buch gut strecken. Das ist Beamtenliteratur vom Feinsten. Und die hat tatsächlich seinen Ursprung in der Biografie von Grass. Mit zehn oder elf treibt er die Schulden ein, die die Kunden seiner Mutter Krä­merladen (um mal in den Zungen Grassens zu sprechen) hinterlassen. Grass wird »zum gewief­ten und unterm Strich erfolgreichen Schuldeneintreiber. Mit einem Apfel oder billigen Bonbons war ich nicht abzuspeisen. Selbst fromme, mit Öl gesalbte Ausreden verfehlten mein Ohr.« Und das ist er immer gewesen: Ein Geschäftsmann, der seinen Kunden einzureden verstand, dass das, was er an Buchstaben zusammenschrubbte, hoch­wertige Literatur sei. Er ist seiner Mutter dankbar, »weil sie mich früh gelehrt hat, sachlich mit Geld umzugehen.« Und wenn man es noch genauer wissen will: »Ich vergaß, beiläufig die häufigen Mandelentzündungen zu erwähnen, die mich vor und nach dem Ende der Kindheit zwar für Tage von der Schule befreit, aber auch meinen aufs Geld versessenen Kundendienst behindert haben.« Tja, er hat es eben nicht vergessen, sondern doch noch beiläufig erwähnt. Lässt sich der Mann auch noch bei einer glatten Lüge erwischen! Wem aber an dieser Stelle nicht längst die Füße eingeschlafen sind, der wird auch die Lektüre eines Telefonbuches aufregend finden. * Sachlich mit Geld umzugehen« ist na­türlich ein Euphemismus. In Wirklichkeit war Grass wohl eher einfach geizig. Das versinnbildlicht folgende kleine Geschichte: Als Grass eine von Reich-Ranicki auf einer Tagung der Gruppe 47 erzählte Episode aus der Besatzungs­zeit der Deutschen später im »Tagebuch einer Schnecke« verwendete, sprach ihn Reich-Ranicki nach Erscheinen des Buches beiläufig darauf an, dass er ja wohl an den Honoraren beteiligt sein sollte: »Grass erblasste und zündete sich mit zitternder Hand eine Ziga­rette an. Um ihn zu beruhigen, machte ich ihm rasch den Vorschlag: Ich sei bereit, auf alle Rechte ein für alle­mal zu verzichten, wenn er mir dafür eine seiner Graphiken schenke. Ihm fiel hörbar ein Stein vom Herzen … « Tolles Geschäft. Noch toller war das Geschäft, als Grass 1,8 Mil­lio­nen Mark für den Literaturnobelpreis ein­sack­te, aber sich den für die Zeremonie vor­geschriebenen Frack von der Theaterschneiderei auf An­weisung ihres Chefs Jürgen Flimm, da­mals Intendant des Hamburger Thalia-Theaters, bauen ließ. Ein Maßfrack kostete damals zwischen 5 000 und 9 000 Mark. Grass spendete 2 500 an die Betriebskasse. (Siehe Rainer Schmitz, a.a.O.) * Nur noch einmal kurz zurück zum Eiertanz, den Grass aufführte, als er auf das späte Geständnis angesprochen wurde, in dem er innere Qualen geltend machte, für die er vorher noch nicht die richtige Ausdrucks- und Verarbeitungsform gefunden habe. Andere hingegen forderte er unumwunden auf, endlich auszupacken, wie am 15. Juli 1969, als Grass dem einstigen SA- und NSDAP-Mitglied Karl Schiller schrieb, er wolle ihn »unumwunden bitten, bei nächster Gelegenheit – und zwar in aller Öffentlichkeit – über Ihre politische Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen. (…) Ich hielte es für gut, wenn Sie sich offen zu Ihrem Irrtum bekennen wollten. Es wäre für Sie eine Erleichterung und gleichfalls für die Öffentlichkeit so etwas wie ein reinigendes Gewitter.« Und als sich der damalige Bundesfinanzminister Karl Schiller erfrechte, seinen Brief einfach zu ignorieren, beschwerte sich Grass am 28. April 1970 darüber, dass Schiller seinen guten Rat einfach in den Wind geschlagen habe. Grass habe lange darüber nachgedacht, »wie es möglich sein kann, dass ein Politiker mit so viel Weitblick und Erfahrung … so verengt reagieren kann«, und da ihm, Grass, »diese Materie nicht unvertraut« sei, vermute er hinter der Haltung Schillers »den berühmt-be­rüch­tigten Hochmut des Wissenden«. Soso. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte diese beiden Briefe von Günter Grass an Karl Schiller. Auf Betreiben von Grass untersagte das Berliner Landgericht der FAZ eine weitere Veröffentlichung dieser Briefe. Ist ja auch ein bisschen peinlich. * Als die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten erschienen und in der muslimischen Welt heftige Reaktionen hervorriefen, war dies natürlich ein Fall für Günter Grass, der wie immer bestens informiert die westliche Welt darüber aufklärte, wie sich die Sache verhielt. »Es war eine bewusste und geplante Provo­kation eines rechten dänischen Blattes«, sagte Grass in einem Interview der spanischen Tageszeitung El Pais. Den Blattmachern sei bekannt gewesen, dass die Darstellung Allahs oder Mohammeds in der islamischen Welt verboten sei. »Sie haben aber weitergemacht, weil sie rechtsradikal und fremdenfeindlich sind.« Vor der Grass’schen Enthüllung hat tatsächlich niemand gewusst, dass die Jyllands-Posten ein rechtes Blatt ist. Woher Grass seine Informa­tion bezogen hat, weiß ich nicht, aber vielleicht hat er sie ja von einer der infamen Karikaturen selbst, die einen kleinen Jungen namens Mohammed zeigt, der auf eine Tafel schreibt: »Die leitenden Redakteure von ›Jyllands-Posten‹ sind ein Haufen reaktionärer Provokateure.« Also, wenn die das schon selber veröffentlichen, dann wird’s ja wohl stimmen. Der Kulturchef von Jyllands-Posten jedenfalls kommentierte den Abdruck der zwölf Karikaturen, die sich vor allem durch ihre Harmlosigkeit auszeichneten: »Einige Muslime lehnen die moderne, säkularisierte Gesellschaft ab. Sie beanspruchen eine Sonderbehandlung, wenn sie auf eine spezielle Rücksichtnahme auf eigene religiöse Gefühle bestehen. Das ist unvereinbar mit einer westlichen Demokratie und Meinungs­freiheit, angesichts derer man sich damit abfinden muss, zur Zielscheibe von Hohn und Spott zu werden oder sich lächerlich machen zu lassen.« Nicht mit Grass, denn weder Mohammed noch Gott noch Grass dürfen verspottet werden. Meinungsfreiheit schön und gut, aber nicht bei religiösen Gefühlen oder Günter Grass. Der Abdruck der Karikaturen lockt zunächst keinen Hund hinter dem Ofen hervor. Nur einen fundamentalistischen Imam, der schon mit der Feststellung aufgefallen ist, Frauen seien »ein Instrument des Satans gegen Männer«. Der macht unter seinen Glaubensgenossen mobil und verlangt, dass »notwendige Schritte« unter­nommen werden müssen, um die Schmähung des Islam zu verhindern. Der Imam ist erstaunlich erfolgreich, wie Henryk M. Broder in seinem Buch »Hurra, wir kapitulieren« beschreibt: »Im Herbst 2005 reist eine Delegation dänischer Muslime in die moslemische Welt, die Rundreise wird von der ägyptischen Regierung gesponsert. Im Gepäck der Imame befinden sich eine Dokumentation, die zwölf Karikaturen aus Jyllands-Posten enthält, dazu drei weitere Zeichnungen, die ein paar Zacken schärfer sind: der Prophet als pädophiler Teufel, mit Schweineohren und beim Sex mit einem Hund. Woher die drei Zugaben stammen, wer sie gemacht beziehungsweise gefunden hat und wie sie in die Dokumentation geraten sind, ist bis heute ungeklärt. Irgendjemand muss ein wenig nachgeholfen haben, um die Reaktionen zu optimieren.« Und das gelingt auch. Im Januar 2006 werden über 100 Millionen Moslems zum Abschluss der Pilgerfahrt nach Mekka per Satellit dazu aufgerufen, sich der »Kampagne gegen den Propheten Mohammed zu widersetzen«. Die Meinungskampagne ist so überwältigend, dass Dänemark international immer mehr unter Druck gerät und fast alle westlichen Länder auf Distanz gehen. Dabei hat die dänische Regierung lediglich zu Protokoll gegeben, dass sie die Karikaturen nicht als strafwürdiges Vergehen ansieht und deren Veröffentlichung durch die Meinungsfreiheit gedeckt ist, in die sich ein Staat gefälligst nicht einmischen sollte. Die Sache geht so weit, dass in Damaskus, Beirut und Teheran die Botschaften Dänemarks angezündet und mit Brandbomben beworfen werden. Von diesen gewalttätigen Reaktionen zeigt sich Grass jedoch wenig überrascht. Es sei nur »die fundamentalistische Antwort auf eine fundamentalistische Aktion«. »Arrogant und selbstgefällig« sei es doch, sich wie die Redakteure der Jyllands-Posten auf die Presse- und Meinungsfreiheit zu berufen. »Wir haben das Recht verloren, unter dem Recht auf freie Meinungsäußerung Schutz zu suchen.« Interessant. Wenn hier jedoch einer die Meinungsfreiheit etwas zu sehr strapaziert hat, dann Grass. Er jedenfalls benötigt bei diesem Gekäse, das er in diesem Fall von sich gab, die Meinungsfreiheit dringender als alle anderen, denn das Abfackeln einer Botschaft dadurch zu rechtfertigen, dass in einem nicht gerade bedeutenden Blatt in einem nicht gerade bedeu­tenden Land ein paar nicht gerade bedeutende Karikaturen erschienen sind, dazu braucht es allerdings eine große Por­tion Meinungsfreiheit, die selbst die Legitimation offenkundig terroristischer Handlungen in Kauf nimmt. Um seinen absurden Äußerungen etwas mehr Plausibilität zu verleihen, empfiehlt Grass, »sich die Karikaturen einmal näher anzuschauen: Sie erinnern einen an die berühmte Zeitung der Nazi-Zeit, den Stürmer. Dort wurden antisemitische Karikaturen desselben Stils veröffentlicht.« Gerade Grass als ehemaliges SS-Mitglied müsste das eigentlich besser wissen. Julius Streicher je­denfalls wäre über diesen Vergleich schwer beleidigt gewesen. Und das zu Recht. * Aber von Julius Streicher lässt sich Günter Grass natürlich nicht einschüchtern. Alles, was Günter Grass nicht in den Kram passt, ist nicht weit entfernt von den antisemitischen Karikaturen im Stürmer. Grass soll nämlich jetzt auch als Jude fertig gemacht werden. Darüber informier­te er die Weltöffentlichkeit in der Zeit, wo man Grass mit seinem Langweilerkollegen Walser drei Seiten zur Verfügung stellte. Die ergriffen die Gelegenheit, um sich in aller Aus­führ­lich­keit auszumäh­ren, und man weiß nicht, ob die Zeit plötzlich glaubt, schriftstellerischen Sozialfällen unter die Arme greifen zu müssen, oder ob die im Feuilleton vielleicht einen an der Waffel haben, anderen guten Autoren und guter Literatur den Platz zu stehlen. Wie auch immer. Bei so viel Raum nahm Grass die Gelegenheit wahr und be­schwerte sich über die Karikatur von Greser & Lenz, eine nette und liebevolle Zeich­nung. »In der FAZ ist eine Karikatur über mich ver­öffentlicht worden, die hatte Stürmer-Quali­tät.« Aha! Na, dann werfen Sie mal einen Blick darauf? Rausgefunden? Wenn Sie wissen, welche Karikatur in der FAZ und welche im Stürmer er­schienen ist, machen Sie doch ihr Kreuz an die richtige Stelle und schicken Sie die Lösung zu Grass nach Lübeck oder zum Steidl-Verlag nach Göttingen. Vielleicht gewinnen Sie was? »Beim Häuten der Zwiebel« mit Widmung vielleicht? Oder den »Butt« als Trostpreis? Nein? Dafür nicht? Meine Güte, Sie sind vielleicht ein undankbares Völk­chen! * Ach so: Was bleiben wird von Günter Grass? Vermutlich seine die Antiquariate über die nächsten Jahrzehnte hinaus verstopfenden Bücher und die »Fragilaria guenter-grassii«. Das ist eine 1992 in der Danziger Bucht entdeckte und bis dahin unbekannte Algenart, die nach ihm benannt wurde. Und wenn jemand nicht so genau wissen sollte, was eine Alge ist: Es ist eine primitive Lebensform. »Einzeller eben«, wie mir mein Neffe, ein Naturwissenschaftler, abschätzig mitteilte. Und das passt ja dann irgendwie auch. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Bittermann, Klaus (Hg.): Literatur als Qual und Gequalle. Über den Kulturbetriebsintriganten Günter Grass. Edition Tiamat, Berlin 2007. Ca. 128 Seiten, 12 Euro. Das Buch erscheint demnächst.
Klaus Bittermann
Klaus Bittermann:
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Dossier
13.09.2007
https://jungle.world//artikel/2007/37/beim-lutschen-des-bruehwuerfels
preeti john
Da die USA Pakistan als Militärbasis benötigen, tolerieren sie die pakistanische Hilfe für Terrorgruppen. Das stößt in Indien auf Verärgerung.
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https://jungle.world//autorin/preeti-john
»leipziger antifa« (lea)
Das breite Bündnis von Antifas mit den Bürgerlichen war ein Misserfolg und hat zur inhaltlichen Unschärfe des Protestes beigetragen.
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https://jungle.world//autorin/leipziger-antifa-lea
helmut strohmaier
Der islamistische Terror in Europa hat auch eine Diskussion um die Sicherheit des Oktoberfestes ausgelöst. Doch als am schutzwürdigsten gelten in München Tradition und Umsatz.
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https://jungle.world//autorin/helmut-strohmaier
leo gärtner und martin schwarz
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https://jungle.world//autorin/leo-gaertner-und-martin-schwarz
Jungle World #15/2010 - Bambule jetzt!
Im dschungel läuft: Nachruf: Malcolm McLaren. Pop: Joanna Newsom. Sport: Total Immersion. Dossier: Volker Surmann
Der zweite Aufstand der Heimkinder 15.04.2010
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Ausgaben
https://jungle.world//inhalt/2010/15
Strandfeeling
Produkte, die wir auch nach dem Kapitalismus nicht missen möchten. »Man kann sich doch auch einfach Sand ins Duschgel schütten«, antworten manche Schlaumeier, wenn man ihnen erklärt, was Duschpeeling ist. Na denn viel Spaß bei dem Versuch! Den Sand nehmen Sie von der nächsten Baustelle, oder was? Oder mal schnell in den Urlaub und die Dünen abgetragen? Und wie mixen Sie den Sand dann ins Duschgel? Mit der Küchenmaschine? Es gibt Duschpeeling fertig abgepackt im Drogeriemarkt um die Ecke zu kaufen. Und zwar in den verschiedensten Ausführungen. Für alle Hauttypen, parfümiert oder unparfümiert. Mit feinstem Seesand von weißen Südseestränden mit türkisem Wasser, Hamamelis und Salbei, mit Reiskleie, hautschützenden Vitaminkomplexen und Sesamöl. Manche lieben am Duschpeeling, dass es sich auf dem Körper anfühlt wie die rauen Hände echter Arbeiter. Andere wiederum können vom feinen Kribbeln, welches die kleinen Körnchen erzeugen, gar nicht genug kriegen. Wieder andere sehnen sich nach einer hautklärenden Dusche, wenn sie von einer rauschenden Party nach Hause kommen. Wer es benutzt, bekommt keine Pickel mehr, die Haut wird babypopoweich, und alle Menschen werden wunderschön. Was daran politisch ist? Na, Duschpeeling ist die Allegorie der Revolution. Man muss zerstören, damit Neues entsteht. Unnachsichtig entfernt das Duschpeeling die unzähligen abgestorbenen Hautschüppchen. Und unter dem Pflaster liegt der Strand. jesko bender
Jesko Bender
Jesko Bender:
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webredaktion
01.12.2004
https://jungle.world//artikel/2004/49/strandfeeling
Bettina Figl
Bei den österreichischen Nationalratswahlen haben die Regierungsparteien gewonnen. Der rechte Populismus verschiedener Parteien kam auch gut an. In Wien protestieren Flüchtlinge für mehr Rechte für Asylsuchende. Die österreichische Regierung kommt ihnen kaum ent­gegen.
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https://jungle.world//autorin/bettina-figl
jan bachmann
Steve Ouma Akoth, ehemaliger Direktor der kenianischen Menschenrechtskommission
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https://jungle.world//autorin/jan-bachmann
rachel knaebel
In Europa gibt es große Vorkommen von Schiefergas. Doch wie sich in den USA bereits zeigte, ist die Förderung des Erdgases umwelt- und gesundheitsschädlich. In Frankreich hat sich das Parlament kürzlich mit der Förderungsmethode befasst.
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https://jungle.world//autorin/rachel-knaebel
tanja kopecky
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https://jungle.world//autorin/tanja-kopecky
robert richter
Hartz IV ist nicht das einzige Übel. Aus der Welt der Maßnahmen berichtet robert richter
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https://jungle.world//autorin/robert-richter
andreas chollet
Die Nutzung der Sonnenenergie für die Stromerzeugung macht große Fortschritte. Thermische Solarkraftwerke erleben eine Renaissance. Und die Idee, einen Verbund regenerativer Energien aus Wasser, Wind, Sonne und Biomasse herzustellen, wird immer realistischer. Von Andreas Chollet Debatte um die EU-Feinstaubrichtlinie von andreas chollet Tagung des Atomforums von andreas chollet Die Gegner der Windenergie gehen in die Offensive. Zumeist mit schlechten Argumenten. von andreas chollet
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https://jungle.world//autorin/andreas-chollet
Der Phrasenprüfer
Fernsehinterviewer, belustigt: »Ist das ein Schraubenzieher in deinem Hosenlatz?« Wau, freundlich: »Das ist noch mehr: ein Phasenprüfer. Den habe ich immer dabei.« Fernsehinterviewer, ungläubig: »Und wozu?« Wau im Gehen: »Falls ich mal telefonieren muß.« Erster Aufzug: Chaos, Hamburg 1987 Featuring: Herwart Holland-Moritz, genannt Wau; Steffen Wernéry, zweiter Kopf des Chaos Computer Clubs; mehrere neue Gesichter Es erinnern sich: Andreas Pfitzmann, Dozent für Systemarchitektur und Datenschutz an der Technischen Universität Dresden; Christian Y. Schmidt, ehemaliger Titanic-Redakteur, der früher die maoistische Rote Fahne verteilte; Klaus Schleisiek, Organisator des ersten Computertreffens; Andy Müller-Maguhn, heute LautSprecher des CCC Es hatte sich erst sehr lange angebahnt, doch dann war alles schnell gegangen. Das CHAOS hatte sich manifestiert, der Apfel der Zwietracht war gerollt worden – und das durch die bundesdeutsche Gesellschaft, diese piefige Untertanenveranstaltung. Der goldene Apfel hatte schon Kriege ausgelöst, indem er drei griechische Schönheiten vor die Frage stellte, welche von ihnen die Schönste sei: Kallisti. Der folgende Streit und der Krieg um Troja wurden zu Literatur. Das ist mit diesem Buch nicht anders, wenngleich es von einem viel unblutigeren Streit handelt. Im Untertanenstaat widmete sich der Apfel nicht »der Schönsten«, sondern er stellte die Frage, wem er sich eigentlich widmen sollte. Die Deutschen, vor allem die jungen Deutschen, merkten, daß sie das nicht wußten und erst einmal unter den schimmligen, braunen Tarndecken nachsehen müßten. So entstand ein Problembewußtsein. Eine Art Sozialtherapie nahm ihren Lauf, die Exhumierung des Verdrängten. Der zentrale deutsche Fetisch, den es zu exhumieren galt, war die Sicherheit, die Ursache für den faulen Frieden vorher, das Bedürfnis, sich in Sicherheit zu wiegen. Daher war die persönlichste Manifestation des CHAOS der gleichnamige Computer Club, dessen LautSprecher mit beinahe missionarischem Eifer darauf bestanden, daß es keine Sicherheit gibt, daß sie nichts weiter als eine nette, aber ebenso trügerische Illusion ist. Sie machten sich daran, Schritt für Schritt zu beweisen, an wievielen Stellen diese Sicherheit trügerisch war. There are no guarantees: wir zeigen euch, was alles nicht stimmt und wieviel Sicherheit euch nur vorgegaukelt wird. Phantombild für die Öffentlichkeit: struppige leichtsinnige Stubenhocker, die fern der Nestwärme deutscher Familien irregeleitet auf dem Weg ins Verbrechen voranschreiten. Von den Kinderzimmern aus wurde auf die Leichen im Reihenhauskeller recht spektakulär aufmerksam gemacht, Probleme wurden verdeutlicht, exemplarisch vorgeführt. Den ersten Coup, der es in die Zeitungen schaffte, hatten die Hacker im technologischen Vorzeigeprojekt der Deutschen Post gedreht. Das Btx-System, das »Volksdatennetz der Zukunft«, mit dem die staatlichen Kommunikatoren die Verheißung auf unbegrenzte und bunte Verschuldung jedes Fernseh- und Telefonbenutzers verbanden, wurde dazu gebracht, eine auffällige Ausbeulung des Kreditrahmens zu demonstrieren. Keine Schwerkriminellen ließen sich hier 135 000 Mark gutschreiben, sondern unscheinbare Jungs mit Heimcomputern. Das ging so: Jede Leitseite im Bildschirmtext verfügte nur über eine bestimmte Menge an belegbaren Zeichen. Wurde ein Overflow produziert, indem alle Zeichen belegt wurden, reagierte das System seltsam. Die Chaoten ließen eine Seite auf diese Weise überlaufen und bekamen im Gegenzug Zugang zum Account der Hamburger Sparkasse (kurz: Haspa), von dem aus nun ein Wochenende lang automatisiert die kostenpflichtige Spendenseite des Chaos Computer Clubs zu 9,97 Mark abgerufen wurde. Die auflaufende Summe ließen sich die Hacker noch bestätigen, wiesen die Zahlung jedoch gleich zurück und zeigten sich am Montag selbst an. So einfach war das damals. Ein Eingriff in die nicht mal freiwirtschaftliche, sondern hoheitliche Dienstleistungsgesellschaft. Nicht gegen IBM oder Microsoft, sondern gegen die Deutsche Post, sozusagen gegen die Central Services aus Terry Gilliams Film »Brazil«. Genau wie es dort dem autonomen Heizungsingenieur Harry Tuttle ergeht, der ohne Genehmigung in monopolisierte technische Anlagen eingreift, stand auch der Chaos Computer Club von nun an unter dem »Verdacht der freischaffenden Subversion«. Für die vielen jungen Deutschen, die sich diesem Projekt der Datenbefreiung verschrieben, hatte das therapeutische Wirkung. Sie lernten die Kraft der Bewußtmachung kennen, lauter Deutsche, deren Taten von Spaß durchdrungen wurden. Dagegenzuhalten sei das Bild von Spaß in Deutschland vorher. Jetzt hatte man Spaß daran, Sicherheitslücken aufzudecken. Es wurden Scherze gemacht, mitten in Deutschland; der befreiende Witz, der hierzulande als unsittlich gilt, fand ein Zuhause. Des groben Unfugs bezichtigt, beharrte er darauf, »feinen Fug« zu machen. Er hieß Wau. Wau Holland. Und da saß er nun in den Clubräumen in der Schwenckestraße 85, inmitten von taz-Stapeln, Kassetten und Ordnern; bürgerlichen Namens Herwart Holland-Moritz, im Begriff, schon lange prae mortem zu einer diesseitigen Legende zu werden, und zwar auf einem völlig unbequemen Stuhl. Der war wie die Kleidung und die gesamte Erscheinung nach dem Prinzip der Aufwandsvermeidung gewählt worden. Mode und Komfort zählten nicht, eigentlich war es sogar egal, ob etwas praktisch war. Hinter einer Zweckentfremdung lauerte bei Wau meist eine originelle Begründung, die wiederum für alles entschädigte. Was zählte, war der freundliche Gesamteindruck. Es »herrschte« Chaos, wie das im Deutschen lustigerweise heißt, aber es handelte sich um nettes Chaos, aufgeräumte Unordnung sozusagen. Obwohl Wau das Gespräch um ihn herum rein ideell zu dominieren vermochte, kam eine optische Prägnanz hinzu, die Werner Pieper als »verwegen … gerade wie ein Piratenkäpt’n« beschrieb. Ungeachtet des Zeitgeistes und der ihn umgebenden eher unauffälligen Nerds wehte mit Wau ein bißchen von den Sechzigern und sehr viel von der untergründigen Hälfte der Siebziger herein, komplett mit schwarzem Bart und Latzhose. Er war fünf Jahre älter als die Ältesten der anderen, hatte schon vor Urzeiten Elektrotechnik, Informatik und Politik studiert, in linken Buchläden gearbeitet und in einer alternativen Softwarefirma programmiert, die sich dem Kommerz zu verweigern versuchte. Was nicht gelang. Als die anderen in der Firma bereit waren, einen Auftrag der Headquarters der US-Army Europe in Heidelberg anzunehmen, sah sich Wau gezwungen zu gehen und sich nach einem Umfeld umzusehen, in dem er vor der Kommerzialisierung sicher wäre. Als er in den frühen Achtzigern in der taz erst den Chaos Computer Club und dann sein Zentralorgan, die datenschleuder, herbeischrieb, wurde ihm klar, daß er sich seine Kreise schaffen mußte – und konnte. Seine Ankündigungen wurden von begeisterten Lesern als real verstanden, die nicht vorhandene Zeitung wollten Hunderte Vorbesteller lesen und einige fanden den Weg zu den informellen Treffen im Hamburger »Schwarzmarkt«. Es waren immer mehr geworden, nach dem Sparkassen-Hack war man auf dem Weg zur Institution. In eine Reihe gestellt mit anderen großen Geistern, fällt auf, daß Waus Ideenrahmen noch zu seinen aktiven Wirkungszeiten zu einer bekannten Organisation wurde. Doch die Anwesenheit des Urhebers verhinderte nicht, daß der Hackerverein schnell an seine Grenzen stieß. Snafu Die Clubräume waren an diesem Abend gut besucht, das Spektrum reichte vom Piloten über einen Schlosser, Leute mit eigenem Laden bis hin zu Arbeitslosen und Studenten. Wau eingerechnet, zwischen 16 und 36 Jahre alt. Wie meistens gab es ein babylonisches Gewirr verschiedener Themen in mehreren Gesprächsrunden, obwohl sich das alles auf höchstens 40 Quadratmetern abspielte. Die Runde um Wau verweilte gerade beim Snafu-Prinzip, das allerdings genau wie die anderen Themen keine Chance hatte, nicht alsbald von höchst wüsten Assoziationsketten wieder verdrängt zu werden. Mit dem Akronym der beliebten US-Army-Diagnose »Situation normal all fucked-up« hatte Robert Anton Wilson einst beschrieben, wie die Kommunikationsstrukturen in vertikalen Organisationen arbeiten. Aus Angst wird in der Rangordnung von unten nach oben positiv ausgefiltert, also gelogen. Je weiter oben sich jemand in der Prestigepyramide befindet, desto verzerrter wird sein Bild von der Welt; wird ihm das klar, kann er es trotzdem kaum abstellen und verfällt der Paranoia. Populäres Beispiel für Snafu ist der über 100jährige Großkapitalist Monty Burns bei den »Simpsons«, dem von seiner Umgebung nur untertänigst begegnet wird und der in einer immer schrulligeren Welt voller Oldtimer und verblichener Präsidenten lebt. Andreas Pfitzmann: Den Technikabteilungen waren die Probleme bewußt. Das heißt aber nicht, daß der Vorstand etwas davon weiß. Auch das hired hacking betrieben die IT-Leute der Firmen und nicht das Management. Keine Firma wollte das an die Öffentlichkeit bringen. Noch ’99 habe ich jemanden aus dem Management einer deutschen Großbank bei einer Sicherheitstagung erlebt, der sagte: »In unserem Kernnetz haben wir noch nie Hackingaktivitäten gehabt.« Da ging ein Riesengelächter los und er verstand es nicht. Er hat es noch mal wiederholt. Darauf meinte ein Kollege: »Gelogen ist nur, wenn’s der andere glaubt.« Das hat der dann überhaupt nicht verstanden. Es ist also immer noch so. Leute, die die Systeme nicht kennen und denen die Rechenzentren- und IT-Leiter vorgaukeln, es sei alles bestens, werden einfach im Brustton der Überzeugung sagen: »Wir haben keine Probleme.« Daraus schlußfolgerte Wilson, daß Kommunikation nur unter Gleichen möglich sei, was unter den Hackern zu einem populären Gedanken wurde. »Wir machen das anders«, hieß es jetzt aus der Runde. »Unter Hackern, die sich an den gleichen Systemen im gleichen Maße festgebissen haben, kann es Gleichheit geben. Eine HackOrdnung.« »Nur die Hacker? Das ist zu eng gedacht«, beschied Wau freundlich. Er knispelte an seiner obligatorischen Dose Weizenbier herum. »Wir laden sie alle ein zum Mitmachen«, schlug Steffen Wernéry vor, der direkt neben Wau saß und von allen im Club als aufgeregter Praktiker und aktionistisches Organisationstalent gefürchtet wurde. Zwischenruf aus der Runde: »Laßt uns die Daten befreien!« Mit einem ketzerischen Augenaufschlag wieder Wau: »Frage: Wem gehören unsere Daten?« Der Ansatz war einprägsam, radikal und unerfüllbar: Alle Information soll frei sein – die Verheißung freien Datenaustauschs inmitten eines globalen Atomkonfliktes im Stand-by-Modus, inmitten einer gespaltenen Gesellschaft, die sich selbst verdaute. Der CCC auf der Seite derer, die nicht im Besitz der Information und der Rechenzeit waren und Anspruch darauf erhoben. Forderungen nach »Umverteilung!« schwangen mit, und die klangen im linksalternativen Milieu Hamburg-Eimsbüttels, in dessen Nachbarschaft sich die Hacker zusammenfanden, immer auch ein bißchen nach »Enteignung!« Wie immer bestrebt, Waus Grundsätzlichkeiten in Greifbares umzusetzen, wiederholte Steffen: »Wir laden sie alle ein. Wer sich vernetzt, ist dabei, ganz einfach.« Wau verfiel in einen prophetischen, warnenden Tonfall: »Auch die Herrschenden müssen das lernen. Snafu heißt, monopolisierte Information ist selbstzerstörerisch. Vorausschauendes Management: Wenn sie nicht untergehen wollen, müssen sich die Konzerne umbauen.« Wau gehörte zu den wenigen Menschen, die einen Doppelpunkt mitsprechen konnten: Er erließ feierlich ein Dekret über die Wirklichkeit. Er hatte sich etwas vorgelehnt und schaute in die Runde, offenbar, um zu ermitteln, wie tief in die Trickkiste zu greifen wäre. Es saßen wirklich recht viele Chaoten herum, viele neue Gesichter dazu. Also Grundsatz: »Es darf nicht nur heißen, laßt uns die Daten befreien, nach dem Motto: Einloggen, Frohloggen, Ausloggen.« Jetzt war klar, wer alles neu war: Sie lachten zahlreich über das gut abgehangene Hacker-Bonmot. Wau hatte die Lacher und so für den Moment die volle Aufmerksamkeit. »Das Snafu-Prinzip kann auf unterschiedliche Weise verstanden werden. Man kann sagen, wir reden nur noch mit Gleichen, mit Gleichgesinnten, und treiben fröhlichen Hacker-Inzest. Ebensogut kann man einfach alle gleichbehandeln, sich an alle wenden, vom Pförtner bis zum Direktor. Oder man kann für Gleichheit sorgen.« Wau lächelte bauernschlau und ließ die Gedanken kurz einwirken, um sie dann zu sortieren: »Gut, für letzteres bekommt man wohl auf die Finger. Wir haben in der Hackerbibel geschrieben: Wenn das rauskommt, wo wir reinkommen, kommen wir da rein, wo wir nicht mehr rauskommen.« Wieder allgemeine Heiterkeit, kannten sie das alles wirklich noch nicht? Egal: »Ja, und der Inzest macht blöde. Wenn ich mir also anschaue, daß sogar mit Leuten wie uns mittlerweile gesprochen wird …« Er lehnte sich wieder zurück und nahm einen Schluck aus seiner Bierdose. Andreas Pfitzmann: Können Sie sich vorstellen, daß Claudia Schiffer Gesundheitsprobleme hat? Und daß Sie davon erfahren? Eine Bank wird genauso ihre Sicherheitsmaßnahmen an der Wirtschaftlichkeit ausrichten. Die Hacker haben an der Stelle einen großen Einfluß darauf, was als wirtschaftlich gilt. Die ethical hackers haben sehr geholfen, die Anforderungen an ein Sicherheitsniveau zu heben. Ähnlich wie die deutschen Kernkraftgegner dafür gesorgt haben, daß wir in der Bundesrepublik weit überdurchschnittlich sichere Kernkraftwerke haben. Stahlgewitter und Knoblauch Zwischen Wau und der abendlichen Besatzung des Chaostreffs lagen nicht einfach irgendwelche Jahre Altersunterschied. Er war zwar erst an die Uni gegangen, als der Pulverdampf der Revolution sich dort schon wieder verzogen hatte; auf diesen folgten jedoch die Siebziger, in denen alle Werte umgewertet wurden, alle Münzen gedreht, alle Fragen gestellt – und meist viel zu schnell beantwortet. Als technikbegeisterter Pfadfinder fand Wau im linken Diskurs keinen richtigen Platz. Die kommunistische Linke, deren Flugblätter er lange sammelte, bestand allenfalls aus Technokraten, die die industriellen Stahlgewitter der Sowjetunion und Chinas anbeteten. Die Ökoszene vertrieb Technik mit Knoblauch und zunehmend auch mit dem Kreuz. Computer galten als Inbegriff der Entfremdung und Kontrolle. Im Diskurs gab es das Schreckbild des verkabelten Menschen, während Wau als geborenes Fernmeldewesen die Technik als Hilfsmittel zur Verständigung betrachtete. Christian Y. Schmidt: Computer waren für uns Teufelszeug, so wie Pornographie. Computer waren die Vorstufe zu 1984. Computer und die Breitbandverkabelung. Da gab’s nur eins: Angreifen und zerstören. Der einzige Rechner, dem ich damals immer wieder begegnete, war der in der Unibibliothek. Ich weiß noch, wie ich Blödmann mir jedes Mal, wenn ich mir Bücher ausgeliehen habe, überlegte, wie man die Anlage wohl sabotieren könnte. Es gab Broschüren, da standen Tipps drin. Zum Beispiel: Kaffee über den Rechner schütten und es wie ein Versehen aussehen lassen. Zig Mal habe ich mir vorgestellt, wie ich den Bibliothekscomputer mit einem Kaffeebecher lahm lege. Die Schwierigkeit war nur, Kaffee in die Bibliothek zu bringen. Das war nämlich verboten. Dazu stand nichts in der Broschüre, und deshalb hat der Bibliothekscomputer auch überlebt. Aber das muß man sich mal vorstellen: Einen Bibliothekscomputer zu zerstören galt damals als fortschrittlich. Eine erste Gemeinsamkeit fand Wau in einem Aufsatz von Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«. Ein damals ganz Linker haute auf den Marxisten herum, die Medien nur als Unterdrückungsmittel sehen konnten. Enzensberger wies nach, daß die Unterteilung in Produzenten und Konsumenten spätestens seit der Erfindung des Rundfunks rein künstlich ist. Moderne Medien, und damit war Anfang der Siebziger noch nicht das Internet gemeint, funktionieren als Sender und Empfänger gleichermaßen. Enzensberger regte eine Selbstorganisation an, einen kollektiven Eingriff in die Medien. Er beharrte darauf, daß Unpolitische dabei bereits viel radikaler vorgehen würden. So stolperte Wau in der Folge über ebensolche Quellen: politisch unscharf oder absichtlich unpolitisch, manchmal pragmatische Anarchisten, meist Bastler. Er abonnierte die Zeitschrift Kompost, in der es um Graswurzel-Bewegungen, Umweltthemen, Spirituelles und ebenso um praktische Kniffe fürs Kommuneleben ging. (Unter einer Tabelle stand zu lesen: »Vor- und Nachteil der Zugtiere: Ein Traktor hält lange, ist aber teuer und nicht fortpflanzungsfähig.«) In Ausgabe 23 ging es bereits um »Wer schützt uns vorm Datenschutz?«; den entscheidenden Trigger bildete jedoch der Beitrag »Computer-Paranoia« in der Nummer 32 aus dem Herbst 1979: »Es gibt da diese Sicherheitsprobleme. Die großen Abruf-Computersysteme sind löchrig wie Schweizer Käse. (…) Für jedes Datenchiffrier-System sitzen irgendwo Programmierer, die den Code knacken können. (…) Wenn im staatlichen britischen Computerzentrum Angestellte schon Chaos auslösten, indem sie einfach den Stecker aus der Dose zogen, welche Möglichkeiten bieten sich dann erst für besser entwickelte Guerilla-Techniken, wenn das Computer-Know-How größeren Kreisen zugänglich gemacht wird?« Den Artikel hatte der spätere Aromatherapeut Frank Fuchs aus dem US-amerikanischen Magazin CoEvolution Quarterly übersetzt, das Waus nächster Schritt ins CHAOS wurde. Um den fraglichen Artikel von Dirk Hanson herum waren Screenshots zu sehen, wuselten einige »Personal Computer Networks« mit kurzer Vorstellung und Kontaktmöglichkeiten, ging es um Vernetzung von Mailboxen. Weiter vorn im Heft wurde herrschaftlicher Eingriff in die Funkmedien behandelt. Goebbels’ Vorrichtung zur Unterbrechung des Radioprogramms in ganz Deutschland für seine Durchsagen war abgebildet, danach wurden einige Funkbasteleien erklärt und Bücher zur »Information Warfare« empfohlen. Wau knüpfte Kontakte, so zu den damals recht anarchistischen US-amerikanischen Grünen, die dann auf dem ersten Chaos-Kongreß vertreten waren. Er abonnierte aus dem Loompanics-Katalog, dem Fachversand für Absurdes und Subversives, das Magazin TAP, die vielleicht klarste Vorlage für die datenschleuder, von Wau selbst doppelsinnig als seine »Einstiegs-Droge« bezeichnet. Wie Klaus Theweleit schrieb, waren die USA zu dieser Zeit um etwa zehn Jahre voraus: TAP – »The Hobbyist Newsletter for the Communication Revolution« – kümmerte sich seit 1973 ums Tappen, also Anzapfen von Telefonleitungen und stieg von da schnell in die klassischen Hackerthemen ein: den Spaß am Umgehen von Kommunikationsblockaden aller Art und die damit verbundene Verantwortung für die gewonnenen Daten. Chaos In den Berliner Redaktionsräumen der taz wurde dann 1981 das erste bundesweite Computertreffen abgehalten, kurz darauf ein ähnliches in München. Der Rahmen bestand eher noch aus einer politischen Idee als einer wirklichen Organisation. Politischer als in den USA ging es hier wohl schon deshalb zu, weil so etwas Unschuldiges wie ein »folder« bei uns gleich Ordner heißt. Klaus Schleisiek: Da war er noch voll drin aus seiner Marburger Zeit. Die Sozialisation hat ihn ja sein ganzes Leben geprägt. Dieser undogmatische Anarcho-Ansatz, dieser Sumpf von sogenannten Unorganisierten, die ganz frech irgendwas vor sich hinmachten. Diese Tradition ist unbedingt auch im CCC drin. Das ist auch die Basis, auf der ich mit Wau zusammengetroffen bin. Ende ’82 verkündete Wau schließlich freudestrahlend, er habe den Chaos Computer Club gegründet. Es regte sich jedoch chaostechnisch noch nicht viel und Wau arbeitete in Hamburg weiter an Satzsoftware, eine Beschäftigung, die später noch wichtiger werden sollte. Als er im November 1983 Steffen kennenlernte, hatte sich im linken Buchladen »Schwarzmarkt« in der Bundesstraße schon ein kleiner Stammtisch gebildet, an dem Paßwörter getauscht wurden. Neu war, daß sich hier nicht die Anhänger eines bestimmten Rechnertyps zusammmenfanden, die bereits ihre eigenen Zeitschriften und Fanclubs hatten, sondern daß übergreifend und über den Computer hinaus gesprochen wurde. Gibt’s den Laden noch? Steffen Wernéry: Nee, den Laden gibt’s nicht mehr. Aber den Typen gibt’s noch, der heißt Jo. Ich kam in eine linke Buchhandlung im Keller, überall Zeitungen, Heftchen und so weiter. Ich habe auch mit Häuser besetzt und kenne die Szene so ein bißchen. Da hieß es: die treffen sich hier irgendwann und eine Adresse gäbe es nicht. Also fuhr ich zum ersten Treffen, vor allem um Kennwörter zu tauschen. Dort saßen jedenfalls vier oder fünf Leute plus Wau, alle am Philosophieren und Diskutieren. Ich bin kein großer Programmierer oder Techniker. Für mich ist ein Computer ein Werkzeug. Ich komme eher von der künstlerischen Seite. Inwieweit ging das damals schon? Steffen: Noch gar nicht. Die erste Möglichkeit, medial zu arbeiten, war Btx. Da konnte man nicht nur als Empfänger rein, sondern auch als Anbieter auftreten, auch wenn es teuer war. Vor allem entdeckte Steffen einige Neuigkeiten während des anschließenden Essens mit Wau beim Griechen »Bacchus« am Schulterblatt. Sie waren sich schnell einig darüber, im Computer ein Medium mit riesigem Potential zu sehen. Steffen hatte mit Video und allgemein mit visueller Darstellung gearbeitet und brannte darauf, den Zeichensatz der elektronischen Medien auszureizen. Wau machte ihn sogleich vorsichtig mit den sozialen Implikationen vertraut. Er sprach von der Möglichkeit der Transparenz, wollte nicht nur selbst Informationen anbieten, sondern andere Computerfreaks mitreißen. Sein Ansatz bestand in einer Art Subkultur, von der die neuen medialen Möglichkeiten benutzt werden sollten, um die vorenthaltenen Informationen aufzuspüren und aufzudecken. Steffen: Wau war der Hardliner. Er sagt, so ist es, und das muß nicht immer kompatibel zum Leben sein. Seine harten Linien ließen sich manchmal sehr schwer umsetzen. Ich habe zehn Jahre die Kunst beherrscht, das so zu bauen, daß wir einen Schritt weiter kommen. Fast drei Stunden referierte Wau bei weiteren Weizenbieren, was er in den letzten Jahren angesammelt hatte. Steffen war von den Perspektiven berauscht und bereit, im Hackerstil Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Er wollte ins Btx-System der Post, um dort zu demonstrieren, wozu das Medium in der Lage war. Zunächst gelang Wau jedoch ein anderer Coup. Eine Vorform der datenschleuder hatte es schon ’81 in Berlin geben sollen, da natürlich konsequenterweise gleich auf Floppy. Hier herrschte aber keine Kompatibilität zwischen Laufwerken und Formaten. 1984 schrieb Wau einfach in die taz, daß es die datenschleuder gibt, woraufhin 800 Bestellungen eingingen. Nun mußte sie gemacht werden, natürlich als vollkompatibles Medium: als gedruckte Zeitschrift, abspielbar auf jedem optischen Biocomputer. In der Nullnummer noch ein einzelnes gefaltetes A4-Blatt, wurde die datenschleuder, kurz ds, sofort zum Objekt der Begierde. Fanpost rauschte in den Schwarzmarkt. Der Stammtisch zog durch verschiedene Kneipen, aus denen er meist wieder rausgeworfen wurde, weil die anderen Gäste mit den Hackern nur wenig zu tun haben wollten. Steffen: Ab der ds2 haben wir sie dann zusammen gemacht, Redaktion, Schreiben. Ab Frühjahr ’85 hatten wir eine eigene Leitseite im Btx, das lief noch über meinen Namen, Verein gab es ja noch nicht. Wir boten Spendenseiten an. Auf’n Knopf drükken, sich flackernde Bilder ansehen für 9,97. Die Seite, mit denen der Hack der Hamburger Sparkasse gemacht wurde. Steffen: Genau. Das hat schon funktioniert. »klack-klack« Zurück in die Schwenckestraße und zu Waus Zug aus der Bierdose. Eines der neuen Gesichter, ein wenig aufmüpfig und auftrumpfend, nutzte die entstehende Pause: »Die reden aber vor allem mit euch, weil ihr die Haspa gehackt habt und sie Schiß gekricht ham.« Wau setzte die Dose ab und grinste schon fast anzüglich: »Das war ein wirkungsvolles Gesprächsangebot unsererseits, das kann man so sagen …« Er fing an zu lachen. »Sie sagen heute noch, wir hätten das damals gar nicht so machen können, wie wir behauptet haben«, sagte Steffen stolz. »Es gibt ein Gutachten vom Hamburger Datenschutzbeauftragten, der das als zuständige Verfolgungsinstanz anderthalb Jahre untersucht hat. Darin steht, unsere Darstellung ist technisch möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich. Das ist nicht reproduzierbar. Nichts anderes haben wir behauptet. Wenn du die Wahrheit wissen willst, mußt du Wau fragen.« Wau lachte immer noch in sich hinein und schüttelte seinen Kopf. Ob sich das auf Steffens Satz bezog, war unklar. Der Neuling winkte ab und sagte: »Ja, vergiß es. Es ist aber schon korrekt, daß ihr für bestimmte Aktionen die Begründungen erst nachgeliefert habt?« Es schien, als ob Steffen sich rechtfertigen müßte: »Bei der Haspa war das eindeutig. Wir hatten vorher den Account vom Fernmeldetechnischen Zentralamt geknackt und wollten den ausplündern, der war aber schon geschlossen worden. Das hat uns geärgert, weil wir zwischen Hack und Zuschlagen die ganze politische und juristische Diskussion hatten. Und dann konnten wir es nicht mehr machen, weil der Account zu war. Deshalb ging das beim Sparkassenhack innerhalb von zwölf Stunden ohne lange Diskussion.« »Wie sah die Diskussion aus?« wollte der Neue wissen. Steffen legte den Kopf zur Seite und wendete seine linke Hand: »Naja, es war eine Ordnungswidrigkeit mit drohender Geldstrafe, also stellte sich die Frage, wer es tut. Lassen wir einen Abgeordneten auf den Knopf drücken?« Jetzt schien sich auch Wau wieder gefangen zu haben und spitzte die Frage zu: »Wie zeigt man, daß das Ding scheiße ist, ohne sich selbst strafbar zu machen?« Die Antwort kannten die meisten schon, der Neue formulierte sie so, wie Steffen sie hören mochte: »Also lieber selber machen und dann massiv Öffentlichkeit.« »Genau«, bestätigte Steffen. »Am Montag haben wir uns selbst angezeigt, das dem Datenschutzbeauftragten vorgeführt und wurden von der Medienwelle erschlagen. Die Post schwankte in ihrer Darstellung, wir bleiben bei unserer. Die Idee war, die Verbraucherverarsche zu sabotieren.« Aus der Hackerbibel I: »Man hat hier gehockt und so einen kleinen Heimcomputer an Bildschirmtext angeschlossen und ’n kleines BASIC-Programm geschrieben und das machte immer ›klackklack, klack-klack‹. Jedesmal, wenn das ›klack-klack‹ machte, waren auf dem eigenem Gebührenzähler 9,97 Mark mehr. Ein sehr verrücktes Geräusch. (…) Wir haben überlegt, vielleicht kommt bei zehntausend Mark ’ne große Alarmglocke in Ulm (Btx-Zentrale, d.S.), weil das ungewöhnliche Beträge sind, und dann rückt hier eine Horde Polizei ein. (…) Wir haben die Software überschätzt. – Aber man muß Bildschirmtext ein Lob machen, weil in dieser Zeit, wo der Abruf lief, nicht ein einziger Systemabbruch passiert ist. (…) Was wir normalerweise sonst bei ähnlichen Arbeiten mit dem Btx-System nicht unbedingt gewohnt sind.« (1) Steffen fixierte den Neuen: »Sicherlich bist du am Ende heute hier, weil wir das vor drei Jahren gemacht haben, oder?« Steffen hatte stets die offensive Tour bevorzugt und mehrere Male Waus Anregungen in Praktisches verwandelt. Wau hatte ganz am Anfang bereits aus dem Loompanics-Katalog Bücher übers Schlösserknacken, das sogenannte Lockpicking, mitgebracht. Es war Steffens Part, diese Ideen später kurzerhand im Sperrsportverein zu organisieren – gewaltfreier Sport, lobte Wau. Der Neue wurde etwas verlegen und gab zu: »Vielleicht wäre ich sonst auch drüber gestolpert, aber ich wußte es als erstes aus dem Spiegel.« Als er merkte, daß das nicht als peinlich galt, stellte er eine weitere Frage: »Aber wenn sie Schiß haben, wolln wir das nicht ausnutzen? Ich meine, könnten wir sie nicht mal richtig unter Druck setzen?« Waus Stirn kräuselte sich und er schien sich an frühere Diskussionen zu erinnern: »Transparenz machen wir, Transparente sollen die anderen machen.« »Ich denke, ihr seid hier so anarchistisch drauf«, wunderte sich der Neue schnell, offenbar zu enttäuscht, um über Waus Satz nachzudenken. »Was wir versuchen«, nagelte Steffen mit dem Finger auf den Tisch, »ist eine Art Gegenöffentlichkeit zu erreichen. Wir wollen die Verantwortung zum Erkennen und Kundtun von Fehlern, um zu vermeiden, daß andere sie noch mal machen.« »Dabei steht immer einer mit runtergelassenen Hosen da«, bemerkte Wau spöttisch, »aber das ist nicht unser Problem, wenn er sich keinen Gürtel umgemacht hat.« Exkurs: Inverser Panoptismus Thomas Barth aus Hamburg hat einige Zeit in der Hackerszene Forschungen angestellt und zu ihrer allgemeinen sozialen Einstellung eine Theorie entwickelt. (2) Sie geht zunächst vom Ordnungssystem der modernen Industriegesellschaften aus, das in der Zeit der Aufklärung entstanden ist. Besonders Michel Foucault untersuchte die Gemeinsamkeiten in der Struktur von Fabriken, Gefängnissen, Irrenhäusern und Schulen. Zunächst traten diese Einrichtungen etwa zeitgleich auf. Ihre Direktoren ordneten das Leben der Insassen totalstmöglich. Um das zu erreichen, wurde schon bei der Architektur dieser Gebäude Wert darauf gelegt, daß sie möglichst vollständig zu überwachen waren. In Idealvorstellungen wurden Röhren und Spiegel so angebracht, daß der Direktor jederzeit in sämtliche Zellen oder Räume Einblick hatte. Umgekehrt waren die Insassen natürlich nicht in der Lage, ihren Beobachter zu sehen. Auf diese Weise sollte sich jeder ständig beobachtet fühlen. Diese Konzeption nennt Foucault Panoptismus. Die massenhafte Verbreitung von Einrichtungen dieser Art trug dazu bei, daß die modernen Kulturen paranoid und schuldzerfressen wurden. Die namenlosen Richter bei Kafka. Big brother is watching you. Der liebe Gott sieht alles. Die Hacker spitzten dieses Problem zunächst zu, um es deutlich zu machen. Sie kultivierten die Paranoia geradezu, erhoben die Möglichkeiten von Überwachung und Kontrolle zum Thema und machten sie in beispielhaften Aktionen sichtbar. Mit ihren gerade vom CCC erhobenen Forderungen drehten sie den Spieß um. Sie verlangten eine »maschinenlesbare Regierung« und verordneten sich später den Grundsatz: »Private Daten schützen, öffentliche nützen.« In den USA hatte diese Entwicklung wie immer schon Jahre zuvor stattgefunden: die Diskussionen um die Ermordung Kennedys und mögliche Geheimdienstverstrickungen waren Anlaß für den Kongreß, 1972 den Freedom of Information Act zu erlassen. Mit der Einschränkung bestimmter Fristen und Sicherheitsstufen können seitdem regierungsoffizielle Dokumente von Bürgern der USA eingesehen werden. Da die deutschen Hacker aus verschiedenen Gründen weit davon entfernt waren, eine gesetzliche Änderung solchen Ausmaßes herbeizuführen, verharrten sie in der Entdeckerposition. Sie benötigten weiterhin Sicherheitslücken oder kleine Skandale, um unzugängliche Informationen zutagezufördern. Watching them watching us, heißt die Formel bis heute. Thomas Barth folgerte, daß sich bei den Hackern ein übermoralischer Standpunkt entwickelte, dem von Greenpeace vergleichbar. Während sie sich selbst für unschuldig und unangreifbar erklärten (Andy Müller-Maguhn: »Im Herzen waren wir unschuldig und rein und haben gesagt: Die doofen Bullen, die doofen Gesetze«), versuchten sie, den »Direktoren« möglichst viele Vergehen nachzuweisen. In der »Hackerbibel« hieß das dann: »Ein ganz klein bißchen verstehen wir uns als Robin Data. Greenpeace und Robin Wood versuchen, Umweltbewußtsein zu schaffen durch Aktionen, die – wenn es nicht anders geht – öffentliches Interesse über bestimmte Regelungen stellen. Wenn wir hören, daß die NUI eines Freundes ›wandert‹, sagen wir es ihm, damit er sie sperren kann. Bei NUIs von Konzernen gehen wir davon aus, daß sie zur Weiterbildung unserer Jugend freigegeben sind. Denn so kann der technologische Rückstand der BRD ein wenig aufgeholt werden.« (NUI ist die Network User Identification zur Einwahl am Übergangsknoten vom Telefonnetz ins Datex-P; »wandern« hieß, wenn sie von mehreren Leuten benutzt wurde, das kam aus dem amerikanischen Slang für leichte Mädchen: »she goes around like a record«; in der Hackers Only Mailbox gab es regelmäßig Todesanzeigen für verblichene NUIs zu lesen, man gab sich Mühe anzuerkennen, was diese NUI gebracht hatte und dankte dem Sponsor.) Für die panoptischen Schulbauten wurde auch gleich ein Beispiel geliefert, das Schülerradio »Pelik-huhn« am Gymnasium Oldenfelde (Rahlstedt): »Über 15 Minuten lang konnten ca. 500 Schüler während der Unterrichtszeit ein buntes Gemisch aus guter Musik und Information genießen. Jeder Raum der Schule ist mit einem Lautsprecher in der Wand versehen«, der »durch die üblichen Pausen- und Feueralarmsignale nicht ausreichend genutzt« sei. »Durch die spezielle technische Situation war es dem erregten Lehr- und Verwaltungskörper nicht möglich, die Ausstrahlung der Sendung in irgendeiner Form zu unterbinden. Wie erwartet und sehr zur Freude der Schüler, agierte er hilflos. Die Hörer genossen die Umkehrung der üblichen Autoritätsverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern, dessen frustrierende Unbedingtheit in der Schule bisher unabänderlich schien.« (3) Anmerkungen (1) Chaos Computer Club: Die Hackerbibel I. Werner Piepers Medienexperimente, Löhrbach 1985 (2) Barth, Thomas: Soziale Kontrolle in der Informationsgesellschaft. Centaurus Verlag, Pfaffenweiler 1997 (3) Chaos Computer Club, a.a.O., S.16 Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Daniel Kulla: Der Phrasenprüfer. Szenen aus dem Leben von Wau Holland, Mitbegründer des Chaos Computer Clubs. Verlag Werner Pieper & The Grüne Kraft. Löhrbach 2003. 140 Seiten, 9 Euro. www.gruenekraft.net Der Autor: Daniel Kulla, geb. 1977, profitierte vom Systemausfall des Jahres 1990, der seinem Verlag den Namen gab (www.systemausfall.de). Er lebt in Berlin.
Daniel Kulla
Daniel Kulla:
[]
Dossier
18.02.2004
https://jungle.world//artikel/2004/08/der-phrasenpruefer
Heimlich, heimlich mich vergiss
Patient schreit unablässig. Dennoch muss ich ihn für eine Weile sich selbst überlassen und gebe ihm bloß die Flasche mit dem Opium-Rhabarbersaft, in der Hoffnung, ihn so für ein paar Minuten ruhigzustellen. Opium und Rhabarber, das ist alles, was ich momentan für Sie tun kann. Er saugt gierig am Gumminuckel der Flasche, während er mich vorwurfsvoll durch die Fenstergläser seiner Brille anstarrt, und mir fällt auf, dass ein weiteres Regiment seiner Haare die gestrige Spezialbehandlung für einen Rückzug hinter die feindliche Stirnlinie genutzt hat. Ich nicke dem Patienten verständnisvoll oder eigentlich eher um Verständnis bittend zu – ich weiß, dass ich als sein Arzt und Referent die Pflicht habe, mich fortwährend um ihn und seine Schreierei zu kümmern. Aber schließlich ist er nur ein Patient von vielen, und vor allem ist es ebenso meine Pflicht, als Referent in eigener Sache den Bericht über mich selbst vorschriftsmäßig bis Ende des Jahres der Klinikleitung einzureichen. Ich drehe dem Patienten also den Rücken zu, und erwartungsgemäß beginnt er wieder zu schreien. Er beginnt zu schreien und ich beginne zu schreiben. Kaum dass ich der Tastatur auch nur die drei Buchstaben des Wortes Ich übergeben kann, muss ich bereits wieder unterbrechen. Schreierei des Patienten nimmt unmenschlichen oder eher übermenschlichen Ausdruck an. Seufzend erhebe ich mich von meinem Schreibtisch und gehe zurück an sein Bett. Seine Flasche ist leer, weshalb er sie wütend gegen die Wand geworfen hat, was ihn sichtlich noch wütender gemacht hat, weil die Plastikflasche im Gegensatz zu ihm einfach nicht kaputtgehen will, und während ich mich, abermals und diesmal bösartigerweise wie eine der Schwestern demonstrativ lang-, länger-, allerlängstmütig seufzend, nach der Flasche bücke, achte ich reflexartig darauf, ihm weder Rücken noch Hinterkopf für einen seiner Faustschläge oder Fußtritte anzubieten. Ich gehe pfeifend in den Flur, um die Flasche an einem der Zapfhähne aufzufüllen, er beobachtet mich durch die Glaswand, wird dabei ruhiger, seine Schreierei mündet in einen hellen, wortlosen Singsang, der schließlich ausrollt in der leisen Brandung seines üblichen verwunderten Gemurmels der Worte Pamplona! Pamplona! Diesmal endlich nimmt er die Flasche mit einem höflichen Nicken entgegen, wackelt leicht mit dem Kopf, als er sie wie eine Jazzklarinette vor seinem Gesicht aufragend an die Lippen setzt und das Mundstück des Gumminuckels mit den Zähnen prüft, dann schließt er genüsslich trinkend die Augen. Ich setze mich wieder an den kleinen Schreibtisch in der Ecke seines Zimmers, und solange er trinkt, beobachte ich ihn über den Rand meines Bildschirms hinweg, mein Kinn gestützt auf die beiden Daumen der über den aufgestellten Ellbogen gefalteten Hände, die wie in einem verzweifelten oder wohl eher frömmlerischen Gebet Mund und Nase bedecken. Die Augen darüber werden langsam glasig, während sie die wiegende Bewegung des Patienten taxieren. Jetzt müsste ich schreiben, wenigstens noch schnell einen ersten Satz, denn er wird gleich zu sich kommen und zu sprechen beginnen. Ich kann zusehen, wie sich die idiotische Entstellung seiner Züge wieder einmal mit erstaunlicher Schnelligkeit auflöst, ein Naturschauspiel wie in einer meteorologischen Animation, der Geist kehrt schrittweise in sein Gesicht zurück, und so schiebe ich meinen Eigenbericht wieder auf. »Sagen Sie, Herr Doktor, habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, dass Sie eine alte ausgelaufene Rotweinflasche sind?« »Sie haben es das ein oder andere Mal erwähnt, Herr Professor.« »Hm ja, mir war auch so. Nun ja, man kann es nicht oft genug sagen. Wo waren wir gestern stehengeblieben?« »Sie haben versucht, mir Ihre Vorstellung von der Astrologie als eines auf die Zukunft projizierten Namensfetischismus darzulegen.« »Ah ja, richtig. Schreiben Sie mit?« »Ja natürlich«, ich wechsele schnell die Datei. »Fahren Sie fort. Ich bin ganz Ohr.« »Ach, Sie verstehen es ohnehin nicht, ihr Ärzte versteht nie etwas von den wesentlichen Dingen des Lebens!« »Mag sein, aber seien Sie unbesorgt, zum bloßen Aufschreiben wird mein Verständnis schon ausreichen.« »Na gut, dann schreiben Sie. Böser Doktor, verschlagenes Aas, elender Hurensohn, Satanssonde! Liebes Buch, liebes gutes Papier!« »Soll ich das … ?« »Nein, natürlich nicht, ich denke noch nach. Früher schien es mir so, als ob die Ambivalenz der Sternbilder je nach der inneren Kultur der Zeit entweder zu Magie, also einer monströsen kultischen Ekstase, geführt hat, oder aber zu einer mathematisch-kontemplativen Diastase, also zu Entformung, Kosmologie. Ja, genau so hat er’s … hab ich’s gesagt. Haben Sie das?« »Ja, ja.« »Entweder Magie, also der Glaube, die Zeichen der Zeit lesen zu können, die Namen beim Wort nehmen, über die Gestaltlosigkeit der Welt triumphieren, mit den kleinen verschmierten Händen am Heiligen herumtappen, oder aber entrückende Durchsicht, Distanz, Abstraktion. Haben Sie das?« »Ja, ja.« »Verstehen Sie es auch?« »Hm … so ungefähr, kommt drauf an, wie’s weitergeht.« »Ja, darauf kommt es euch immer an, immer wissen wollen, wie’s weitergeht, ihr Rattensäue von Ärzten!« Mit seiner von der Schreierei kaputten Stimme lacht er sein kratziges Spottlachen. »Prognose durchaus günstig – Prognose durchaus ungünstig! Je nachdem, wie der Herr Doktor gerade scheißt oder fickt, aber immer wissen wollen, wie’s weitergeht! Aber damit ist jetzt Schluss! Darauf kommt es heute nicht mehr an! Nie mehr!« »Sie beruhigen sich jetzt, Professor, oder ich stecke Sie wieder ins Bett – ohne Rhabarber­opium!« Patient verfällt in Schimpfparoxysmus, brüllt die üblichen gemeinsten Obszönitäten, lässt sich aber durch Androhung von fünftägiger Bettruhe und Vorzeigen der Schlafmittelsonde schnell beruhigen, entschuldigt sich, gibt zu, dass seine Raserei halbe Pose war, und räumt ein, dass der Tag nicht recht geeignet ist für die Fortführung seiner wissenschaftlichen Arbeit. Danach bis zum Abend durchgängig gut, nett und rücksichtsvoll, darf Referenten zum Abendessen auf die große Terrasse begleiten. Da Patient trotz von ihm selbst eingeräumten besseren Wissens in durchgängiger Zwangsvorstellung gefangen, dass in das Essen die moussierten Leichen seiner von der Klinikleitung ermordeten Familienmitglieder gemischt werden, bekommt er neuerdings Vor-, Haupt- und Nachspeise doppelt serviert, so dass er von dem jeweils einen Teller relativ angstfrei essen kann, solange der zweite Teller unberührt daneben steht und Patient sich durch diese List versichern kann, seine Liebsten nicht verspeist zu haben. Nach dem Essen überaus zufrieden und still, nickt mit schräg in die Hand gestütztem Kopf im Takt der leise herüberwehenden Musik, lächelt dankbar in Richtung der Musiker. Unwillkürlich ahme ich ihn nach. Es ist ein unwirklich schöner Maienabend, die Luft ist die leichteste des Jahres, sonnengewärmt und doch frisch, und Fliederduft umhüllt das ganze Haus. Noch immer etwas flach einatmend, lasse ich meinen tagesstieren Blick von der Leine, er lässt sich ins Gras fallen und rollt dann auf der sanften Kaskade der sattgrünen Wiesen hinab ins Tal, wo ich ihn wegen der einsetzenden Dunkelheit aus den Augen verliere. Nun endlich ergreift von meinen Augen ausgehend ein köstliches schwarzes Nichts meinen gesamten Kopf, weshalb ich das Gemurmel des Patienten lange für ein unsichtbares Bächlein halte, bis sich mit seinem lauter werdenden Gerede auch die Leinwand vor mir wieder mit der Abendlandschaft füllt. »Konsequent, konsequent – inkonsequent, inkonsequent! So hat er’s gesagt! So und nicht anders! Pamplona, Pamplona!« »Ja, Herr Professor.« »Herr Doktor, Sie sind ein schlimmer Sünder, wissen Sie das überhaupt?« »Ja, Herr Professor.« »Im Ernst, wollen Sie nicht mir all Ihre Sünden gestehen?« »Ich bin nicht katholisch, Professor, ich glaube nicht an die Beichte.« »Was soll dann aber aus Ihnen werden?« »Das steht in den Sternen.« »Tatsächlich? Ich dachte nicht, dass dort … um Gottes Willen, kommen Sie!« Er springt auf, die Patienten und Ärzte an den Nebentischen sehen mürrisch zu uns herüber, weil er das Streichquartett nun entschieden stört. »Wenn es dort oben noch immer etwas zu lesen gibt – wir müssen das aufzeichnen gehen, kommen Sie, kommen Sie, um Himmels Willen!« »Schschsch, gut, gut, gut«, ich ziehe ihn am Arm wieder herab auf seinen Stuhl, sehe ihn begütigend oder vielleicht eher drohend an. »Ich habe nur gescherzt, verzeihen Sie, das war dumm von mir, ich hätte wissen müssen, dass Sie das aufregen würde. Seien Sie unbesorgt, dort oben steht nichts.« »Aber … aber … «, er nimmt verwirrt seine Brille ab und putzt sie so kräftig mit dem über die Kante herabhängenden Tischtuch, dass ich fürchte, das Fensterglas könnte jeden Moment zerbersten. »Wenn das so ist … was wird dann aus Ihnen?« Ich zucke die Achseln: »Das entscheidet die Klinikleitung. Sobald sie meinen Bericht bekommt.« »Ach, Gott sei Dank!« Er atmet auf und setzt sich dann auch die Brille wieder auf. »Dann hat ja alles seine Ordnung!« »Kommen Sie, Professor, es ist schon spät, ich bringe Sie zu Bett.« »Ach nein, bitte noch nicht! Es ist doch noch früh, kommen Sie, wir wollen uns noch ein wenig ins Gras setzen.« »Na schön, aber nur kurz, ja? Und dann werden Sie ohne Theater ins Bett gehen, verstanden?« »Jaja, ohne Theater, immer ohne Theater … « Er bahnt sich mit herabhängendem Kopf einen unsinnig geschlängelten Weg über die dunkle Holzbohlenterrasse, umrundet manchen Tisch zwei Mal, während ich geduldig am Rand der Terrasse auf ihn warte und ihn dann dort wie üblich an die Hand nehme, weil er den einen ersten Schritt von der Terrasse auf die Wiese hinunter nicht allein machen will. Sobald das geschafft ist, nimmt er Haltung an, die Hände in den Hosentaschen schlendert er mit weltmännisch zurückgebogenem Oberkörper und federnden Knien ein kleines Stück die steile Wiese hinab und lässt sich schließlich zufrieden stöhnend auf seinen Hosenboden nieder. So sitzen wir ein Weilchen schweigend nebeneinander im Gras, die Arme locker um die weitgeöffneten Knie gelegt, beide in dem gleichen hausüblichen Abendanzug, nur dass meiner deutlich besser sitzt, weil ich zwanzig Jahre jünger als er und auch sonst alles bin, was man sein muss, um einen Anzug anständig sitzen zu lassen, was von Vorteil ist, weil die meisten Menschen diese Eigenschaft noch immer mit einer schier unbegrenzten Menge von Kompetenzen und einem positiven Charakterbild verwechseln. »Werden Sie mich in Ihrem Eigenbericht erwähnen, Herr Doktor?« »Nein, warum sollte ich? Ich habe nur über mich selbst Rechenschaft abzulegen.« »Oh, könnten Sie das nochmal sagen, bitte?« Ich tue ihm den Gefallen, was ihn sichtlich beruhigt. Er nickt ein paar Mal langsam und kräftig, um sich mit dieser Bewegung das Gehörte in sein limbisches System zu füllen, von wo aus es mit Hunderten von Schläuchen zur Löschung seiner Schwelängste in seinen ganzen Körper weitergeleitet wird. Während er das Löschwasser rinnen lässt, macht er kleine Zischgeräusche und grinst mich dabei doppeldeutig an. Er schämt sich seiner Obsession für seinen symbolischen Körper und ist zugleich mächtig stolz auf diesen Bilderwahn. Höchste Zeit, dieses abendliche Ritual abzubrechen: »Na, nun ist gut, jetzt halten Sie Ihr Wasser, Professor!« Aber da ist es schon geschehen, ich sehe es an seinem plötzlich gequälten Gesichtsausdruck, und zugleich sehe ich die fluchende Schwester vor mir, die ihm vor dem Zubettgehen wieder die vollgepinkelten Hosen wird ausziehen müssen. Ich klopfe ihm tröstend oder eher hinterhältig auf den Oberarm, um ihn an demselben sogleich hochzuziehen, aber er macht sich schwer und fängt an zu jammern: »Ach nein, bitte bitte, noch nicht ins Bett! Bitte bitte, noch nicht!« »Schluss jetzt, hoch mit … « »Werden Sie in Ihrem Bericht um Vergebung bitten?« »Schluss, verdammt noch … « »Nein, bitte, nur diese eine Frage beantworten! Werden Sie?« Stöhnend lasse ich ihn los und mich selbst zurück ins Gras sinken. Das Tal ist vollkommen in der Dunkelheit verschwunden, aber der Fliederduft ist bei uns geblieben und sinkt diskret neben uns in die nun nicht mehr nur für den Patienten feuchte Wiese. »Nein, ich denke nicht. Das wäre unanständig, scheint mir.« Patient nickt verständnisvoll, seine geistigen Kräfte sind plötzlich alle, wie immer, wenn er mit unfehlbarem Instinkt wittert, dass es auf seine Autorität ankommen könnte, loyal um ihn herum versammelt. Blick und Stimme sind vollkommen klar, nur von einem souverän dosierten Hauch Wehmut durchzogen: »Ja, das würde ich auch so sehen. Mal abgesehen davon, dass es sinnlos ist, ist es wohl tatsächlich auch unanständig oder zumindest unfein, die Sache so offen auszusprechen. Sehen Sie, ein kluger junger Kollege von mir hat einmal gesagt: Man bittet stets um Vergebung, wenn man schreibt. Wozu also noch drauf rumreiten, wie?« »Tja, ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen würde, Herr Professor, aber in jedem Fall ist es wohl unfein. Kann ich Sie dann jetzt endlich ins Bett bringen?« »Ja natürlich, worauf warten wir noch? Ich bin schrecklich müde – ich weiß gar nicht, ob ich den Weg noch schaffe. Helfen Sie mir doch! Warum helfen Sie mir denn nicht, Sie elender Hurensohn! Satanssonde, verfluchte!« »Ja, Herr Professor. Und hoch!« Der Weg ins Bett ist immer der beschwerlichste. Wie ein Säufer hängt Patient an Referent, sodass seine Schlaftrunkenheit mich den ansteigenden Weg zurück nur torkelnd bewältigen lässt. Die kleinen Abendgesellschaften haben ihre Tische vorschriftsgemäß verlassen, nur eine notorisch nachzüglerische junge Patientin in einem weißen asiatischen Seidenkleid schlittert spielerisch ungeschickt, eine Hand in den Nacken ihres Arztes gelegt, der ihre Taille umfasst, über die stumpfen Terrassenbohlen in den gläsernen Bungalow der Klinik zurück. Sie kichern beide leise, bis der Arzt, mein werter Kollege Dr. Dänemark, an der großen Schiebetür angelangt, ihren Arm von seiner Schulter entfernt, mit strenger Miene das Ende des Unsinns anmahnt und die brav oder wohl eher spöttisch nickende junge Frau am Ellbogen gefasst ins Haus bringt, das jetzt in der wunderlich geräuscharm vor sich gehenden Besorgung der Nachtvorkehrungen hell erleuchtet wie ein Lichtquader in der fliederduftigen Dunkelheit schwebt. Stunden später, ich habe außer dem Professor zwei überaus fordernde Patientinnen versorgt, sitze ich auf einem der mitternächtlich verwaisten Flure endlich wieder vor meinem leeren Bildschirm, lausche geistesabwesend oder eher ablenkungssüchtig auf die gedämpften Nachtansagen, die über die zentrale Sprechanlage aus meinem Rechner rieseln, Dr. Holm in den Sprechsaal, bitte, Dr. Holm bitte in den Sprechsaal! Dr. Engelein, bitte zum GV, Dr. Engelein zum GV, bitte!, und versuche dabei, das eine richtige Wort zu finden, den richtigen Ton, und finde ihn natürlich nicht, weil ich ihn zu sehr und also eigentlich auch gar nicht suche. Ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen, als, mag dies auch meine Eitelkeit kränken, auf die hausübliche Berichtseingangsformel zurückzugreifen, und mit einem resignierten Seufzen schreibe ich: Ich erkläre hiermit, dass ich mir vollkommen im Klaren darüber bin, dass die medizinische Arbeit am Menschen, ähnlich wie die Architektur, eigentlich mehr eine Arbeit an einem selbst ist. Ich bitte Sie daher hiermit, in genauester Ansehung meiner Person darüber zu urteilen, inwieweit ich bisher dieser Arbeit habe gerecht werden können. Denn Ihnen allein bin ich offenbar, wie auch immer ich sein mag, Sie allein, als mein ärztliches Innerstes, vermögen mich zu lesen, und so unterbreite ich meinen Bericht Ihrem Angesicht zur Kenntnisnahme, schweigend und auch nicht schweigend: Es schweigt der Mund, es schreit das Herz. »Jaja, die vorgegebenen Worte gehen einem leichter in die Tastatur als die eigenen, wie?« Erschrocken zucke ich zusammen, ich habe Dr. Dänemark nicht kommen hören, er steht hinter mir gebeugt und schaut mit süffisantem Lächeln über meine Schulter auf den Bildschirm. Seine Wange ist so nah an meiner, dass ich sein überfeines Rasierwasser riechen kann, ich atme stockend ein, und er nickt ein paarmal schläfrig lächelnd, bevor er sich schwungvoll wieder aufrichtet und mir schulterklopfend, schon halb im Weitergehen zuruft: »Sie machen das schon ganz richtig, von Stern, halten Sie sich an die Formalien, dann wird’s schon schiefgehen – hat bei mir jedenfalls funktioniert. Ich bin schließlich noch immer hier, wie’s aussieht.« »Ja, danke für den Tipp – gute Schicht noch!« »Ihnen auch, Kollege, Ihnen auch!« Referent schaut Dänemark nach, wie dieser den endlosen Flur scheinbar selbstvergessen pfeifend hinab wandert, und Referent ist fast sicher, dass Dänemark weiß, dass Referent weiß, dass es gefährlicher Unsinn ist, zu glauben, man könne die Klinikleitung mit einem bloßen Formalbericht abspeisen. Leicht verärgert, aber im Grunde eher über meine Unsicherheit als über ihn, schüttele ich den Kopf und schreibe noch schnell den letzten Satz der Standardexposition: Sie vernehmen von mir Wahres nur, wenn Sie zuvor es mir gesagt haben, bevor ich mich zu meinem Kontrollgang aufmache. Die Hände hinter dem übertrieben geraden Rücken gefaltet, gehe ich langsam den Flur auf und ab, drehe den Kopf rhythmisch nach links und rechts und löse so ein wenig die Nackenverspannung. In allen Zimmern ist Ruh, Patienten liegen friedlich schlafend in ihren schönen großen Betten auf dem champagnerfarbenen Seidenbatist, bis auf diejenigen, die Erlaubnis haben, die Laufkur auch nachts abzuhalten. Während ich wie immer mit geschärften Sinnen und geistiger Teilnahmslosigkeit die schlafenden, nur durch die Glaswände getrennten Gesichter betrachte, die als ruckelnde Bilderreihe an mir vorüberziehen und die mir stets im Morgengrauen, wenn ich selbst für zwei Stunden schlafe, das neonblaue Nachbild eines Schlafmusters vor das innere Auge werfen, murmele ich den letzten Satz meiner Berichtseröffnung immer wieder vor mich hin: Sie vernehmen von mir Wahres nur, wenn Sie zuvor es mir gesagt haben. Sie vernehmen von mir … Der Satz mag lediglich als vage Orientierungshilfe oder sogar als bloße Formalie gelten, ich weiß nicht, ob andere, die ihn vor mir niedergeschrieben haben, heimlich über ihn gelacht haben oder nicht. Mir wird nur plötzlich klar, dass er wahr ist, tatsächlich wahr, und so will ich nun geduldig darauf warten, dass man mich wird vernehmen lassen, was ich Wahres werde schreiben können. Diese Entdeckung meiner Hörigkeit im wörtlichsten Sinn oder eher dieser Entschluss zu ihr ist zwar etwas peinlich, weil meinem Selbstbild, das insofern vollkommen mit der Wirklichkeit übereinstimmt, als ihm ausschließlich die tadellose Erscheinung meines Spiegelbilds zugrunde liegt, nicht recht gemäß, aber dann doch ungeheuer erleichternd, und so mache ich mich, nach Abschluss meines Kontrollgangs, auf den Weg in den Sprechsaal, um Dr. Holm abzulösen. Die Rotunde des Sprechsaals, die bei genauerer Hinsicht gar keine Rotunde, sondern ein Achteck ist, dessen Eckgelenke lediglich ein wenig im Fett der baröckelnd gerundeten Wände zwischen ihnen verschwinden, ist wie immer gleißend hell erleuchtet, und die vier hohen, in alle Himmelsrichtungen weisenden Flügeltüren sind so weit geöffnet, dass sie sich in tänzerisch überdehnter Hingabe umgeklappt an die Außenwände des Saals schmiegen, als wolle der Saal den vier in ihn mündenden Himmelskorridoren seine Brüste wie die einer monströs schönen Leiche entgegenstrecken. Wie immer wenn ich, das ikonographische Register meines Standes peinlich befolgend, die Hände souverän fahrlässig in den ausgebeutelten Taschen meines Kittels vergraben, dem Sprechsaal entgegenflaniere, schüttle ich mit herablassend gerührtem Lächeln den Kopf, um zu verhehlen, dass der Anblick des verschmockten Saals mich trotz seiner offenkundigen Lächerlichkeit und trotz all der Jahre, die ich nun schon hier arbeite, jedes Mal mit einem Unbehagen erfüllt, das Angst zu nennen mir zu theatralisch erscheint. Referent darf sich nicht vom Sprechsaal einschüchtern lassen, so steht es sogar in seinem Arbeitsvertrag, in einer eigentlich durchaus überflüssigen Klausel. Referent hat ihn nicht zu fürchten, da er ja schließlich alles über ihn weiß. Im Gegensatz zu den Patienten weiß er, dass die runde Form des Saals, seine Ausrichtung in alle vier Himmelsrichtungen, seine weißrosa muschelgekalkten Steinwände, übrigens die einzig steinernen im ganzen Haus, der seltsam helle Eichenparkettfußboden, die hohen, weißen Holztüren, das blendende Licht, das er pausenlos in die Flure ausstrahlt – dass all das nur zum Schein darauf hindeutet, dass er das lichte Herz der Klinik ist. Mögen die Patienten ihn auch dafür halten, weil sie nie einen vollständigen Überblick über die Station, geschweige denn über die gesamte Klinik gewinnen können, so ist er doch nicht das Zentrum des Hauses, sondern liegt vielmehr im Nordostwinkel der Station. Und anders als die Patienten weiß Referent, dass der Saal keineswegs einzigartig ist, denn alle drei Stationen unserer Klinik haben ihren eigenen Sprechsaal und alle drei Sprechsäle gleichen einander vollkommen. Sollte ich also einmal kopflos durch das Haus irren, wovor mich die Klinik­leitung bewahren möge, und stünde dann plötzlich vor dem Sprechsaal, so vermöchte ich nicht zu erkennen, ob ich mich auf der eigenen Station A oder aber auf B oder C befände. Aber glücklicherweise weiß Referent genau, wo er ist, und da kommt mir auch schon der müde lächelnde Dr. Holm entgegen, die Hände ganz genau so in den Kitteltaschen vergraben wie ich. Einen Meter voneinander entfernt ziehen wir langsam die schwere Rechte aus dem Kittel, und die eine schüttelt die andere, mit dem halben Kreuzstich der Arme nähen wir unsere Figuren aneinander, nachlässig routiniert und doch mit der angedeuteten Kraft verbindlicher Empathie, denn wir mögen uns sehr, jedenfalls mag Referent den anderen Referenten sehr. »Schlimme Nacht, Dr. Holm? Höheres Stimmenaufkommen als gewöhnlich?« »Nein nein, wie üblich, liegt eher an mir. Sehe ich so besonders müde aus?« Er lächelt wohlkalkuliert ironisch, sieht dadurch noch müder und dadurch wiederum ungemein lebendig aus. Er weiß, dass diese Komödie der Müdigkeit, in der er, mechanisch präzise wie ein Glockenspiel, einmal in der Minute den stumpfen Schleier von seinen Augen hebt und dem Gegenüber für einen Moment, der so kurz ist, dass man nie weiß, ob man es wirklich gesehen oder nur geträumt hat, die Monstranz ihres grünen Feuers entgegenhält, wesentlich für seinen notorischen Charme verantwortlich ist. Die meisten Patientinnen sind spätestens nach ein paar Wochen bei uns ganz verrückt nach seinem lässig erschöpften Raubkatzengebaren, selbst die, die eigentlich gar nicht verrückt sind, spielen verrückt in seiner Gegenwart. Es gibt viele, die sich ausschließlich von ihm schocken lassen wollen, und er selbst versucht anstandshalber, sich wenigstens hin und wieder für diese abgeschmackt hysterische Begeisterung zu verachten, oder eher für seine Abhängigkeit von ihr. Seinen allmonatlichen, cognac-initiierten Zerknirschungsschüben sind freilich schon allein dadurch enge Entfaltungsgrenzen gesetzt, dass es nun einmal seine Aufgabe ist, die selten gewordene Spielart von autoerotischer Hysterie zu reanimieren, in der die Probanden glauben, den überflüssigen und reichlich beschwerlichen Umweg einer fremdpersonalen Projektion beschreiten zu müssen, um an ihr Ziel zu gelangen. »Ja, in der Tat, Holm, Sie sehen heute ganz besonders müde aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« »Oh, danke für das Kompliment.« Er zwinkert mir zu und fährt dann ernster fort: »Und vor allem danke, dass Sie mich schon wieder hier ablösen, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« »Keine Ursache, das mache ich wirklich gern. Und außerdem wollte ich die Gelegenheit nutzen, Sie etwas zu fragen … « »Nur zu!« Aber statt zu fragen, drehe ich nur den Kopf etwas beklommen nach rechts und links, wo die Patienten im Bettspalier hintereinander auf dem Flur liegen und den Stimmen lauschen, die leise aus dem Saal kommen, einige stöhnen, manche kichern. Doch die meisten Patienten blicken ausdruckslos in den dunklen Himmel, der durch die Glasdecke auf sie niederzufallen scheint. Holm versteht, zieht mich an der Rechten noch näher an sich heran und fragt mit gedämpfter Stimme: »Sie meinen vertraulich? Es geht um Ihren Eigenbericht, habe ich recht?« »Ja genau. Sie wissen, dass ich ihn jetzt dringend schreiben muss?« »Jaja, Dänemark erwähnte neulich, dass Sie jetzt dran sind. Aber Sie haben ja noch bis zum Jahresende Zeit, oder? Neun Monate, das ist doch locker zu schaffen, das ideale Maß geradezu.« »Siebeneinhalb.« »Naja, immer noch locker. Idiotische Sache, aber da müssen wir nun mal durch. Bisschen mehr Augenringe, Schlaflosigkeit, Stimmen und so weiter, keine schöne Zeit, aber weiß Gott auch kein Martyrium. Schreiben Sie die Sache einfach irgendwie runter, es kommt, wie’s kommt, wie man so sagt. Und die Beurteilungskriterien durchschaut man sowieso nicht, also müssen Sie sich darum immerhin nicht unnütz Sorgen machen.« »Hm, das ist ja ungeheuer erleichternd.« »Jaja, ich weiß, es ist unerfreulich alles in allem, aber so ist es nun mal. Aber Sie hatten eine konkretere Frage … ?« »N-nein, eigentlich nicht, das heißt … ich wollte fragen, ob Sie vielleicht einmal, wenn ich dann ein paar Seiten habe, unter Umständen ein Auge … « »Na, das ist jetzt aber ein schlechter Scherz!« Er lacht nervös auf, lässt meine Hand plötzlich los und vergisst für einen Moment ganz seine laszive Müdigkeit, fängt sich aber augenblicklich wieder. »Wir sprechen ein andermal, die Stimmen warten leider auf Sie.« »Ja gut, ich geh dann mal. Irgendwas, worauf ich … ?« »N-nein, ich glaub nicht. Ach doch – die arme Frau Schneider. Sie sagt, sie träume unablässig, tags wie nachts den Satz Ich möcht’ so gern gen Italien reisen, und sie höre den Satz sowohl aus sich selbst als auch aus dem Saal heraus zu ihr sprechen. Und nun will sie mir weismachen, Sie ahnen es, dass das gen Italien nichts anderes als Genitalien bedeute, logisch. Die Gute besteht also unbedingt darauf, sich unbewusst ins Genitale bewegen zu wollen, immer die alte Leier, so habe man es früher gelesen, schauen Sie in die Enzyklopädie, Herr Doktor, ich hab’s nachgeschlagen, Herr Doktor, gen Italien lässt sich sinnreich nur mit Genitalien übersetzen und so weiter. Aber wir können den Leuten ja nicht jeden Unsinn durchgehen lassen, nur weil er altehrwürdig ist. Nächste Woche muss sie nach Italien reisen, die Klinikleitung hat ihre Entlassungspapiere bereits fertiggemacht und die Flüge und Hotels gebucht, am Montag sitzt unsere arme Frau Schneider in Florenz, mag sie jammern wie sie will. Bis dahin aber wird sie uns noch eine harte Zeit geben.« »Gut, danke für die Warnung.« »Ist doch das Mindeste – noch mal vielen Dank!« »Ich bitte Sie, Dr. Holm!« »Nein, ich bitte Sie, mein lieber Dr. von Stern!« »Nein, aber wirklich, ich bitte Sie, Dr. Holm.« Wir lachen übertrieben laut wie immer, wenn wir dieses blödsinnige Spiel spielen, das keiner von uns beiden nach all den Jahren mehr lustig findet, auf das wir aber aus hygienischen Gründen nicht verzichten wollen. Denn nach dem Lachen können wir jedes Mal tief durchatmen, etwas, was man allein meist nicht mehr schafft, mit offenem, ernstem Gesicht im Spiegelbild des anderen, bis sich die Rippenbögen weiten, und dann verabschieden wir uns mit einem kurz gelächelten Nicken und entfernen uns jeder in seine Destination. Angelika Meiers Debütroman »England« ist 2010 bei Diaphanes erschienen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Angelika Meier: Heimlich, heimlich mich vergiss. Roman. Diaphanes-Verlag, Zürich 2012. 331 Seiten, 22,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.
angelika meier
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Dossier
23.02.2012
https://jungle.world//artikel/2012/08/heimlich-heimlich-mich-vergiss
wolfgang nešković
Der Verfassungsschutz bedarf einer radikalen Umstrukturierung. Abschaffen lässt er sich nicht.
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Nie wieder Deutschland - anders ist Antifaschismus hierzulande nicht machbar. Eine Gegenrede Innenministerium und Rechtsextremisten ziehen alle Register, um gegen eine antifaschistische Demonstration in der thüringischen Stadt vorzugehen Diskussionsbeitrag zu Saalfeld: Gewerkschafts- und Parteikreise ließen sich vom Demo-Verbot kaltstellen
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