title
stringlengths 1
171
| content
stringlengths 2
64.2k
| author
stringlengths 0
192
| description
stringlengths 0
383
| keywords
sequencelengths 0
17
| category
stringclasses 67
values | datePublished
stringlengths 0
10
| url
stringlengths 28
177
|
---|---|---|---|---|---|---|---|
Visionen im Gepäck | Die Resolution war eindeutig. Zum ersten Mal in seiner Geschichte gestand der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen den Palästinensern vorige Woche das Recht auf einen eigenen Staat zu. »Seite an Seite« mit Israel sollten diese in »gesicherten und anerkannten Grenzen leben«. Die USA, die seit Beginn der so genannten Al-Aqsa-Intifada jeden pro-palästinensischen Antrag im Sicherheitsrat mit ihrem Vetorecht verhindert hatten, waren diesmal sogar Initiator des Beschlusses. Israel gerät damit unter starken diplomatischen Druck. Die neue Nahost-Resolution enthält zwar vor allem Appelle an Palästinenser und Israelis, die Gewalt zu beenden, und verweist auf altbekannte Dokumente wie die Uno-Resolution 242 und 338 (»Land gegen Frieden«) sowie den Mitchell- und Tenet-Plan (»Waffenstillstand und Siedlungsstopp«). Doch gerade wegen der vagen praktischen Folgen ist diese Resolution ein geschickter Schachzug seitens der USA. Vor der versammelten Weltöffentlichkeit haben sie ihrem engen Verbündeten Israel verdeutlicht, dass sie es ernst meinen mit ihrem neuen Vermittlungsversuch - ohne sich mit dieser Demonstration zu konkreten Schritten zu verpflichten. Dementsprechend stufte etwa der Informationsminister der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Yassir Abed Rabbo, den Sicherheitsratsbeschluss als »großen Erfolg für die Palästinenser« ein und versuchte gleichzeitig, daraus konkrete Maßnahmen abzuleiten: Eine sofortige internationale Intervention zur Beendigung der israelischen Besatzung sei notwendig, so Rabbo. Dagegen sprach der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Yehuda Lankri, höflich von einer »ausgewogenen Resolution«. Schließlich konnte man in Jerusalem die Signale aus Washington nicht überhören. Nachdem sich bereits in der Vorwoche US-Außenminister Colin Powell kritisch gegenüber den israelischen Militäroffensiven geäußert hatte, war Israels Premier Ariel Sharon bereits von seiner bislang als nicht verhandelbar bezeichneten Bedingung für neue Waffenstillstandsverhandlungen - sieben Tage absolute Waffenruhe - abgerückt. Zudem wurde dem PA-Vorsitzenden Yassir Arafat wieder gestattet, sich innerhalb der Autonomiegebiete frei zu bewegen. Letzte Woche dann monierte US-Präsident George W. Bush höchstpersönlich, die »jüngsten Aktionen« Israels seien »nicht hilfreich« gewesen. Offensichtlich war der Bush-Administration sauer aufgestoßen, dass sie die neue Verhandlungsmission ihres Nahost-Unterhändlers Anthony Zinni auf Bitten Israels um eine Woche verschoben hatte, um dann mit anzusehen, wie Israels Armee die Zeit für die größte Militäraktion seit Ende des Libanon-Kriegs nutzte. 20 000 israelische Soldaten waren in mehrere große Flüchtlingslager in der Westbank und dem Gazastreifen eingerückt und hatten die palästinensische Verwaltungshauptstadt Ramallah nahezu vollständig besetzt. Sie hoben diverse Bombenwerkstätten aus und stellten über ein Dutzend Kassam- und Aqsa-Raketen sicher. Im Zuge der Aktion wurden Hunderte Palästinenser verhaftet, über zweihundert Menschen starben. Auf Kritik stieß dabei vor allem, dass vermehrt palästinensische Zivilisten den Kämpfen zum Opfer fielen. Die USA sahen dadurch ihre Bemühungen torpediert, in der arabischen Welt Bedenken gegen einen möglichen US-Angriff auf den Irak auszuräumen. Mit dieser Mission war bis zum Wochenanfang US-Vizepräsident Richard Cheney in der Region unterwegs, zum Abschluss seiner Reise besuchte er am Montag Israel. Doch selbst prowestliche arabische Staaten wie Jordanien und Ägypten können es sich angesichts des israelischen Vorgehens kaum leisten, über Bagdad zu reden und von Ramallah zu schweigen. Zumal man in der arabischen Welt ohnehin der Auffassung ist, dass nach der saudi-arabischen Initiative die USA und Israel am Zuge seien. Vor diesem Hintergrund rätseln politische Beobachter nun, ob der seit letztem Donnerstag zwischen Israelis und Palästinensern pendelnde Zinni lediglich zur Herstellung eines neuerlichen brüchigen und kurzlebigen Waffenstillstandes entsandt wurde oder ob Zinnis Mission den ersten Schritt zu einem intensiveren US-Engagement mit dem Ziel einer politischen Gesamtlösung des Konflikts darstellt. »Die Frage bleibt: Wie ernst meinen sie es?«, gab sich beispielsweise Uri Avnery skeptisch. Der israelische Friedensaktivist fürchtet, die USA könnten »erneut dem Glauben erliegen, dass hohle Phrasen und Scheinaktivität ausreichen«, um die arabischen Regierungen und ihre Bevölkerungen zu beruhigen. Yossi Alpher, ein früherer Mossad-Stratege, vermutet, dass »die Amerikaner sich nicht die Hände schmutzig machen wollen mit der politischen Seite des Konflikts« und Zinnis Auftrag deshalb auf Sicherheitsfragen beschränkt sein könnte. In der Tat würde dies der bisherigen Nahost-Politik der US-Regierung entsprechen. Bushs Vorgänger William Clinton hatte noch alles daran gesetzt, seine Amtszeit mit einer endgültigen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu krönen und die USA auf diese Weise mit dem Image der Weltfriedensmacht zu schmücken. Doch Clintons Projekt scheiterte im Juli 2000 in Camp David - kurz darauf startete Arafat die al-Aqsa-Intifada. So schien es dem neuen Präsidenten zunächst ratsam, Israelis und Palästinenser auf seiner Agenda ganz nach hinten zu schieben. Nun aber haben Bushs Irak-Pläne offenbar für eine neue Prioritätenliste gesorgt. Ein Indiz dafür ist, dass die USA die neue Uno-Resolution selbst eingebracht haben. Ein anderes, dass Zinni zu Beginn seines Nahost-Aufenthaltes äußerte, er habe »eine Vision und einen Plan« von George W. Bush im Gepäck. Und aus der Umgebung des amerikanischen UN-Botschafters John Negroponte sickerte durch, dass dieser Plan ein Angebot an die Palästinenser enthalte: Die Entsendung US-amerikanischer und möglicherweise auch europäischer Beobachtertruppen zur Absicherung eines Waffenstillstandes. Sollte sich dieses Gerücht erhärten, hätte Yassir Arafat eines seiner wichtigsten Ziele erreicht: die faktische Internationalisierung des Konflikts. Kein Wunder, dass der PA-Vorsitzende nach dem ersten Treffen mit Zinni enthusiastisch Danksagungen an Washington richtete. Israel hingegen erschien zunächst einmal als Bremser, indem es den von Washington geforderten Rückzug seiner Truppen aus den palästinensischen Autonomiezonen nur teilweise umsetzte. Unterdessen wurden die Konflikte auch innerhalb der israelischen Regierungskoalition schärfer. So gerieten Sharon und sein Verteidigungsminister, der Vorsitzende der Arbeitspartei, Benyamin Ben-Eliezer, wegen Meinungsverschiedenheiten über das weitere militärische Vorgehen heftig aneinander. Trotzdem blieb die Arbeitspartei in der Koalition. Die Regierung verlassen hat hingegen das extrem rechte Parteienbündnis National Union/Yisrael Beiteinu. Dass Sharon sich letztlich für die Arbeitspartei und gegen die Rechtsextremen entschieden hat, werten einige israelische Analysten als weiteres Ergebnis des amerikanischen Drucks auf Sharon. Demnach habe Washington dem Likud-Vorsitzenden klar gemacht, dass man erhebliche israelische Zugeständnisse erwartet, die National Union/Yisrael Beiteinu nicht mitgetragen hätte. Angesichts der Kursänderung Washingtons sahen offenbar auch die Staats- und Regierungschefs der EU eine gute Gelegenheit, sich wieder ins Spiel zu bringen. Bei ihrem Gipfel in Barcelona am vergangenen Wochenende verabschiedeten sie eine Entschließung, in der es heißt, der »Einsatz exzessiver Gewalt« gegen Palästinenser könne nicht gerechtfertigt werden. Israel solle internationale Beobachter zur Absicherung eines Waffenstillstandes zulassen und zusammen mit den arabischen Ländern die »einzigartige Gelegenheit« des saudi-arabischen »Friedensplanes« nutzen. Dessen Zukunft könnte sich schon nächste Woche entscheiden. Ob sein Urheber, der saudische Kronprinz Abdullah, beim dann stattfindenden Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut den Vorschlag präzisieren und zur Diskussion stellen wird, hängt maßgeblich davon ab, ob Israel Yassir Arafat zu dem Gipfel ausreisen lässt. Eine weitere Frage, die möglicherweise in Washington statt in Jerusalem entschieden wird. | André Anchuelo | André Anchuelo: | [] | Thema | 20.03.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/12/visionen-im-gepaeck?page=0%2C%2C3 |
Schon wieder ein Schock | Haben Labour für immer mehr Jüdinnen und Juden unwählbar gemacht: Ex-Parteichef Jeremy Corbyn (l.) und Diane Abbott Die Labour-Partei wird von einem Skandal erschüttert, wieder einmal geht es um Antisemitismus. Diane Abbott, Labour-Abgeordnete im britischen Unterhaus, wurde aufgrund ihres Leserbriefs in der Sonntagszeitung Observer von der Fraktion suspendiert. Sie hatte geschrieben, dass Juden, Iren, Sinti und Roma zwar unter Vorurteilen über sie litten, »das sei indes eher so wie die Vorurteile, die auch Weiße mit bestimmten Merkmalen, wie zum Beispiel Rothaarige, erfahren«. Anders als Schwarze, so Abbott weiter, seien sie »nicht ihr Leben lang Opfer von Rassismus«. Der Brief war eine Replik auf einen Artikel über eine kürzlich veröffentlichte Studie zu Rassismus in Großbritannien. Die Empörung darüber war nahezu einhellig. Jon Lansman, ein Mitstreiter Abbotts vom linken Flügel der Labour-Partei sowie Gründer und ehemaliger Sprecher der linken, der Partei nahestehenden Organisation Momentum, unterstützte die Suspendierung und nannte Abbotts Brief »infam«; der bekannte linke Publizist Owen Jones sprach von einem »absoluten Schocker«. Abbott veröffentliche umgehend eine Erklärung auf Twitter: Sie habe aus Versehen einen ersten Entwurf versendet, aber das sei keine Entschuldigung. Sie nehme ihre Aussagen vollständig zurück. Der Board of Deputies of British Jews, eine der größten jüdischen Organisationen in Großbritannien, nannte die Entschuldigung »überhaupt nicht überzeugend«. John McDonnell, von 2015 bis 2020 Abbotts Kollege im Schattenkabinett des damaligen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn und Mitstreiter in der linken Socialist Campaign Group, sprach von einem »schlimmen, schlimmen Fehler«; Corbyn hatte Abbott zuerst als Ministerin für internationale Entwicklung, dann als Sozial- und Gesundheitsministerin und schließlich als Innenministerin ausersehen, McDonnell als Schatzkanzler. Dieser fügte allerdings hinzu: Man müsse bedenken, dass Abbott über Jahrzehnte Rassismus bekämpft und erlebt habe, daher solle man ihre Entschuldigung annehmen. In der Tat richteten sich gegen Abbott einer Studie von Amnesty International zufolge vor den Wahlen 2017 insgesamt fast die Hälfte aller sexistisch und rassistisch beleidigenden Tweets, die an weibliche Abgeordnete adressiert waren. Abbott ist die Tochter jamaikanischer Einwanderer und wuchs im Londoner Stadtteil Paddington auf. Sie studierte in Cambridge, arbeitete später als Pressesprecherin des Londoner Bürgermeisters Ken Livingstone, der 2016 von der Labour-Partei wegen antisemitischer Äußerungen suspendiert wurde – woraufhin Diane Abbott die Behauptung zurückwies, die Partei habe ein Problem mit Antisemitismus. Für die Linken ist die Tatsache, dass Abbott den Antisemitismus – und auch Antiziganismus – eklatant bagatellisiert hat, eher zweitrangig, ihnen geht es um den Einfluss in der Labour-Partei. Nach ihrem Studium arbeitete Abbott unter anderem als Journalistin und engagierte sich dafür, ethnische Minderheiten in der Labour-Partei stärker zu repräsentieren. Seit 1987 vertritt sie den Londoner Wahlkreis Hackney North and Stoke Newington im Parlament, einen Sitz, den sie zuletzt 2019 mit 75 Prozent der Stimmen verteidigte.
In Abbotts Wahlkreis liegt eine der größten orthodoxen jüdischen Gemeinden in Großbritannien. Rabbi Herschel Gluck, der Vorsitzende des Muslimisch-Jüdischen Forums und einer orthodoxen Verteidigungsgruppe der Organisation Shomrim, eine Art Nachbarschaftspatrouille, die durch ihre Präsenz Verbrechen verhindern will, sprach in der Wochenzeitung Jewish Chronicle von dem Schock, den der Brief bei ihm ausgelöst habe, aber auch davon, dass er die Entschuldigung als »aufrichtig« empfunden habe. Ob Diane Abbott wieder als Kandidatin der Labour-Partei antreten wird, ist allerdings fraglich. Der Parteivorsitzende Keir Starmer sagte dem Observer, er sei »schockiert« gewesen, als er sah, was Abbott geschrieben hatte. Die Schnelligkeit, mit der Abbott suspendiert worden sei, zeige Starmer zufolge, »wie sehr sich die Labour-Partei verändert hat« und dass sie »null Toleranz« gegenüber Antisemitismus zeige. Starmer hatte 2020 nach einer Untersuchung der Equality and Human Rights Commission (EHRC) zum Antisemitismus unter seinem Vorgänger Corbyn im Namen der Partei um Entschuldigung gebeten und einen radikalen Kurswechsel versprochen. Dem Bericht zufolge sei die Parteispitze unter Corbyns Führung nicht entschieden genug gegen Mitglieder vorgegangen, die antisemitische Gerüchte verbreiteten, und habe zudem Beschwerden wegen Antisemitismus ignoriert. Mehrere jüdische Labour-Abgeordnete traten damals aus Protest aus der Partei aus. Corbyn kommentierte den EHRC-Bericht damit, dass das Ausmaß des Antisemitismus in der Partei »dramatisch übertrieben« worden sei, von den politischen »Gegnern innerhalb und außerhalb der Partei sowie von vielen Medien«. Daraufhin wurde Corbyns Parteimitgliedschaft suspendiert. Zwar wurde er nach einer Entscheidung des erweiterten Parteivorstands wiederaufgenommen, doch Starmer verweigerte ihm den Wiedereintritt in die Fraktion. Corbyn sitzt nun als fraktionsloser Abgeordneter im Parlament. Ende März dieses Jahres beschloss Labour auf Antrag Starmers auch, dass Corbyn bei den nächsten Wahlen nicht als Kandidat in seinem Wahlkreis aufgestellt wird. Corbyn und seine Unterstützer haben bereits angekündigt, dass er parteilos gegen Labour kandidieren wird. Die Suspendierung Abbotts hat den parteiinternen Richtungskampf verschärft. Für die Linken ist die Tatsache, dass Abbott den Antisemitismus – und auch Antiziganismus – eklatant bagatellisiert hat, eher zweitrangig, ihnen geht es um den Einfluss in der Partei. Starmer hat die einst aufstrebende Parteilinke an den Rand gedrängt und die Kontrolle über den Parteiapparat übernommen, was ihm die Auswahl der Labour-Kandidaten für das Parlament ermöglicht. Dem linken Flügel zugerechnete Abgeordnete wie der ehemalige verkehrspolitische Sprecher Sam Tarry sowie die ehemalige Abgeordnete für den Londoner Wahlkreis Kensington, Emma Dent Coad, werden nicht wieder für Labour kandidieren können. Viele Linke fragen sich, ob mit Abbott nun eine weitere der ihren bei den nächsten Wahlen als Kandidatin gestrichen wird. Die Organisation Momentum, die sich zur Unterstützung Corbyns gegründet hatte, forderte bereits nach der Entschuldigung Abbotts, dass diese wieder in die Fraktion aufgenommen werden solle. Auch Owen Jones plädiert für ihre schnelle Rückkehr. Für Starmer ist es indes eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, zu zeigen, dass er den Antisemitismus in der Partei wirklich in den Griff bekommen hat. | Fabian Frenzel | Fabian Frenzel: In Großbritannien streitet die Labour-Partei wieder über Judenhass in ihren Reihen | [
"Labour Party",
"Großbritannien",
"Antisemitismus"
] | Ausland | 04.05.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/18/schon-wieder-ein-schock?page=0%2C%2C1 |
Die Finne bleibt dran | Es kommt nur auf das richtige Design des Neoprenanzugs an und der Surftrip vor Australien verwandelt sich vom lebensgefährlichen Abenteuer zum Wellenvergnügen. Das versprechen zumindest der australische Unternehmer Craig Anderson und sein Partner Hamish Jolly, die vor wenigen Tagen neue Neoprenanzüge präsentierten, die sie zusammen mit dem Meeresinstitut der University of Western Australia (UWA) entwickelt haben. Sie basieren auf Erkenntnissen über das visuelle System von für Menschen potentiell gefährlichen Haiarten und dienen zur Tarnung oder Abschreckung. Die erfolgreichen Tests mit wilden Haien bezeichnete Jolly als »außergewöhnlich«. Während ein blau-weißer »Tarnanzug« den Träger mit dem Meer verschwimmen lassen soll, signalisiert ein schwarz-weiß gestreifter Anzug Gefahr. Dieses Muster tragen oftmals giftige oder ungenießbare Fische. Der an der Studie beteiligte Professor Shaun Collin von der UWA hat das Verhalten der Haie und die Rolle ihrer verschiedenen Sinne erforscht und hofft dadurch auf einen größeren Schutz für Menschen – aber auch für Haie.
Denn seit September vergangenen Jahres hat Australien die aktive Jagd auf Weiße Haie freigegeben. Ausschlaggebend für diese Entscheidung waren fünf tödliche Haiattacken auf Menschen in einem Jahr. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum starben über 1600 Menschen im australischen Straßenverkehr. Norman Moore vom australischen Fischereiministerium erklärte damals vor laufenden Kameras, wie mit Ködern versetzte Widerhaken den Hai im offenen Meer ertränken sollen, da Haie zur Atmung ständig in Bewegung bleiben müssen. Badespaß geht vor Artenschutz. Der derzeitige Premierminister des Bundesstaats Western Australia, Colin Barnett, ließ im Januar 2013 verlauten, er sei nicht zögerlich, was die Jagd auf Weiße Haie anbelangt. »Ich bin kein Experte, aber es scheint mir, dass die Haipopulation zugenommen hat«, wird er auf news.com.au zitiert. Tatsächlich ist die Population aber stark zurückgegangen. In einer aktuellen Studie des Dyer Island Conservation Trust (DICT) aus Südafrika wird von weit weniger als den im anderen Schätzungen veranschlagten 3 000 bis 5 000 Weißen Haien weltweit ausgegangen. Um nahezu die Hälfte müssten diese Zahlen der Studie zufolge reduziert werden, obwohl der Weiße Hai eigentlich zu den bestgeschützten Haiarten zählt. Er wird seit Jahren auf der roten Liste der Weltnaturschutzorganisation IUCN als »gefährdet« eingestuft. Im Washingtoner Artenschutzübereinkommen (CITES) im Anhang II aufgelistet, benötigt man für ihn wie für viele andere Haie Ein- und Ausfuhrgenehmigungen, deren Vergabe den Bestand nicht gefährden darf. Australien, gleichzeitig eines der Länder mit der höchsten Population an Weißen Haien, gehörte zuvor zu den wenigen Ländern, die das Tier aktiv geschützt haben. Andere regionale Bestände, etwa die Weißen Haie im Mittelmeer, gelten unter Forschern und Naturschützern sogar als »stark gefährdet«.
Die Naturschutzorganisation World Wide Fund For Nature (WWF) hat daran mitgewirkt, dass der Weiße Hai und viele andere Arten in den Anhang II des CITES aufgenommen wurden. Für den Artenschutzexperten des WWF, Volker Homes, steht fest: »Handel nur, wenn genügend Tiere vorhanden sind!« Nachhaltigkeit sei wichtig, Australiens Vorgehen bezeichnet er im Gespräch mit der Jungle World als »falschen Weg«. Der Weiße Hai wird immer seltener.
Während der Weiße Hai als Trophäe und wegen der von ihm vermeintlich ausgehenden Gefahr jahrzehntelang gejagt wurde, wird mit anderen Arten im großen Stil Handel getrieben. Dabei ist seit Jahren das sogenannte Finning Gegenstand heftiger Kritik. Beim Finning werden die Flossen, die auf dem asiatischen Markt als Delikatesse und Heilmittel gelten, vom lebenden Hai abgetrennt. Die verstümmelten Tiere werden ins Meer zurückgeworfen und ersticken qualvoll. Dass diese Prozedur schon seit Jahren die von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aufgestellten Regeln für verantwortungsbewussten Fischfang verletzt, hat insbesondere Länder wie Japan und China kaum interessiert. Dort boomt der Handel mit den geschmacksneutralen und medizinisch wirkungslosen Haifischflossen. Als bei der letzten Artenschutzkonferenz im März 2013 in Bangkok weitere fünf Haiarten unter Schutz gestellt wurden, leisteten mehrere Länder unter Führung von Japan und China heftigen Widerstand. Die IUCN schätzt, dass jährlich zwischen 23 und 73 Millionen Haie getötet werden. Andere Organisationen wie Sea Shepherd sprechen sogar von 100 Millionen getöteten Haien. Der Handel findet nicht selten im Verborgenen statt, halblegal bis illegal. Der Dokumentarfilmer Rob Stewart berichtete, dass er während seiner vier Jahre währenden Dreharbeiten zu dem mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm »Sharkwater« oft nur knapp mit dem Leben davon gekommen sei. Gefahr habe ihm aber nicht von Haien, sondern von Menschen aus der Haiindustrie gedroht, die ihn an Recherchen hindern wollten.
Der Handel ist lukrativ, auch in Europa. Über Jahre gab es hier Schlupflöcher und insbesondere der Blauhai, bekannt durch das charakteristische Umkreisen seiner Beute, machte einen erheblichen Anteil der rund 100 000 Tonnen Hai aus, die jährlich in Europa angelandet wurden. Erst im November 2012 schob die EU mit dem BPrinzip der »Ganzkörperanlandung« dem verschwenderischen Finning einen Riegel vor. In Zukunft dürfen Haie nur als Ganzes eingeführt werden, wodurch das übermäßige Töten von Haien wegen der Flossen aus Kapazitätsgründen eingeschränkt wird. Die Shark Alliance begrüßte diesen Vorstoß als »wichtigen Meilenstein« zur Beendigung des Hai-Finnings.
Der Artenschutz gestaltet sich mühsam, insbesondere dort, wo kaum etwas über Haie bekannt ist. Allein in der Nord- und Ostsee findet man etwa 30 Arten, von denen nicht wenige bedroht sind. Ein Beispiel wäre der Dornhai, der bis zu 1,20 m groß wird. Die IUCN stuft ihn im Nordostatlantik, dessen Nebengewässer Nord- und Ostsee sind, als »vom Aussterben bedroht« ein. Aber selbst bedrohte Arten wie der bis zu zwölf Meter große, Plankton fressende Riesenhai könnten einem in der Nordsee begegnen. Haie, von denen es über 400 Arten gibt, finden sich fast in allen Meeren, sogar im eisigen Polarmeer, wo langsame Sieben-Meter-Riesen wie der Grönlandhai leben. Forscher nehmen an, dass er bis zu 200 Jahre alt werden kann. Das Bild, das von Haien gezeichnet wird, ist zwar schon differenzierter, aber nicht weniger effekthascherisch geworden. Als im Mai ein totes Fünf-Meter-Exemplar des in der Tiefsee lebenden Schlafhais in den Hafen von Mallorca geschleppt wurde, war die Aufregung groß. Die Zeitung Bild zitierte verängstigte Urlauber und bediente alte Klischees. Dass Menschen in den meisten Fällen für Haie nicht als Nahrungsquelle in Frage kommen, da Tiere wie der Weiße Hai fettreiche Beute wie tote Wale, Seerobben und Seelöwen bevorzugen und andere Arten sich von deutlich kleineren Lebewesen ernähren, ist zwar bekannt, wird aber unterschlagen. Fast jeder Angriff eines Hais, über den berichtet wird, wird mit dem Bild eines Weißen Hais illustriert, obwohl diese in den meisten Fällen gar nicht als Angreifer in Frage kommen. Kaum eine Art kommt so oft in den Medien vor wie der Weiße Hai. Aufgrund von Bissfunden an toten Walen schätzt man, dass die Tiere bis zu acht Meter lang werden können. Die bisher größten gefangenen Exemplare sollen 6,40 bis 7,14 Meter gemessen haben. Solche Zahlen beflügeln die Phantasie und führten in den Siebzigern zu grotesken Vorstellungen von Haien wie in Steven Spielbergs »Der Weiße Hai«. Peter Benchley, der mit »Jaws« die Buchvorlage für die Filme lieferte, bereute dies später und setzte sich für den Schutz der Tiere ein. Die durch diese Filme ausgelöste Anti-Hai-Hysterie wirkt bis heutenach.
Doch Haie sind faszinierende Tiere und wichtig für das ökologische Gleichgewicht. Die marinen Ökosysteme sind hochkomplex und für Veränderungen anfälliger als die sich verändernden Ökosysteme an Land. Wenn Stewart in seinem Film feststellt, dass das Tier, das wir am meisten fürchten, auch jenes ist, ohne das wir nicht leben könnten, da ohne es die Meere stürben, ist diese Ansicht genauso episch wie nüchtern. | sebastien nekyia | sebastien nekyia: Haialarm! Einige Arten sterben aus | [] | Lifestyle | 08.08.2013 | https://jungle.world//artikel/2013/32/die-finne-bleibt-dran?page=0%2C%2C1 |
Die goldenen Jahre sind vorbei | »Agua Si, Oro No« (Wasser ja, Gold nein) steht in dicken Lettern auf einem Aufkleber, der an einem Laternenmast im Herzen von Cajamarca prangt. Der Provinzort, rund 700 Kilometer nördlich von Perus Hauptstadt Lima gelegen, ist eines der wichtigsten Bergbauzentren des Landes. Hoch über der alten Kolonialstadt befindet sich die größte Goldmine Lateinamerikas: Yanacocha. Hier werden täglich 600 000 Tonnen Gestein bewegt, um pro Tonne ein knappes Gramm Gold zu gewinnen. Mehr als eine Million Unzen Feingold wurden aus der sich über 251 Quadratkilometer erstreckenden Mine 2005, einem der besten Jahre, gefördert.
Auch 2015 wird die Goldförderung lukrativ sein, die Konzernzentrale rechnet mit rund 900 000 Unzen Feingold, einer ähnlich hohen Fördermenge wie 2013. Dennoch hat die Mine Yanacocha, die von einem Konsortium aus drei Unternehmen betrieben wird, in jenem Jahr ein Defizit erwirtschaftet, wie der peruanische Journalist Raúl Wiener gemeinsam mit dem Bilanzbuchhalter Juan Torres Polo recherchierte. Warum? Weil, so steht es in den Büchern von Minas Buenaventura S.A., Abschreibungen getätigt wurden, die die Bilanz verschlechterten. Hinter dem Posten »Deterioro de activos de larga duración« (Wertminderung langfristiger Aktiva) sei eine Summe von 1 038 548 000 US-Dollar aufgeführt. Damit belief sich der Nettoverlust der Mine auf gut 562 Millionen US-Dollar.
Wie das angesichts eines Goldpreises pro Unze, der derzeit bei über 1 200 US-Dollar liegt und im Bilanzjahr 2013 um die 1 400 US-Dollar pendelte, möglich sei, fragte sich Wiener. Also untersuchte er die Bilanzen des Unternehmens, das seit 1993 die Entwicklung des Verwaltungsbezirks Cajamarca wie kein anderes prägt, noch gründlicher. Das Geschäft mit dem Edelmetall ist für das Minenkonsortium seit dem Erwerb der Konzession sehr einträglich. Es besteht aus dem peruanischen Unternehmen Buenaventura, dem US-amerikanischen Bergbaukonzern Newmont und der International Finance Corporation (IFC). Newmont und Buenaventura halten mit 51,3 beziehungsweise 43,7 Prozent das Gros der Anteile. Die IFC, eine Tochter der Weltbank, hält die restlichen fünf Prozent.
In den rund 20 Jahren der Existenz der Mine war die Goldförderung sehr lukrativ. Nach dem ersten Geschäftsjahr wies die Bilanzsumme der Mine immerhin 41 Millionen US-Dollar aus, 2011 waren es 705 Millionen US-Dollar. Die drei Teilhaber haben allerdings Schwierigkeiten, den Ausbau der riesigen Mine durchzusetzen. Das Ausbauprojekt Conga, in welches das Betreiberkonsortium insgesamt 4,8 Milliarden US-Dollar investieren will, ist umstritten (Jungle World 29/2012). Ohne das Projekt Conga wäre es nicht möglich, die Mine auch mittelfristig als Schwergewicht des peruanischen Bergbausektors zu erhalten, denn die Goldförderung ist seit Jahren rückläufig. Das bestätigten auch Experten des peruanischen Umweltministeriums. Sie kritisierten aber, dass für das Ausbauprojekt insgesamt vier Bergseen trockengelegt und gegen künstliche Wasserreservoirs ausgetauscht werden sollten. Gegen diese Pläne waren vor allem die Bauern aus der Region von Bambamarca und Huasmán auf die Barrikaden gegangen. Sie fürchten nicht nur um ihre Wasserversorgung, sondern protestieren auch gegen die Umwandlung der Lagunen Azul und Chica in Abraumhalden.
Die Proteste waren ausgesprochen erfolgreich. Trotz der Unterstützung der peruanischen Regierung für das gigantische Bergbauprojekt ist es politisch heute kaum noch durchsetzbar. Das belegt nicht nur der anhaltende Widerstand, sondern auch der Ausgang der Kommunalwahlen vom 5. Oktober vergangenen Jahres. Da wurde Gregorio Santos wiedergewählt, der als Chef der Regionalregierung des Verwaltungsdistrikts Cajamarca das Projekt Conga abgelehnt hatte. Santos hatte sich dem Druck der peruanischen Regierung nicht gebeugt und war zu einer Ikone des Widerstands gegen das Bergbauprojekt geworden. Santos’ Wiederwahl sei für Perus Regierung ebenso wie für das Yanacocha-Konsortium eine Niederlage, sagt José de Echave, Bergbauexperte und ehemaliger stellvertretender Umweltminister der ersten Regierung von Präsident Ollanta Humala. »In der Lesart der Regierung hat es 2012 einen Höhepunkt der Konflikte im Kontext des Bergbaus gegeben. Seitdem ist die Zahl der Konflikte rückläufig und darauf setzt die Regierung. Sie hofft, dass Ruhe einkehrt, dass die großen Bergbauprojekte mit etwas Zeitverzögerung anlaufen können«, sagt Echave.
Dies geschah zwar in anderen Regionen wie Espinar, doch in Cajamarca haben sich die Hoffnungen der Regierung und der Bergbauunternehmen nicht erfüllt. Vor zehn Jahren hatte die lokale Bevölkerung, die vor allem von der Landwirtschaft lebt, den Ausbau der Förderung schon einmal aufgehalten, damals rund um den Cerro Quilish. Unter dem Berg vermuten die lokalen indigenen Gemeinschaften eine zentrale Wasserader der Region und die wollten sie nicht in den Händen der Minengesellschaften sehen.
»Die Mine Yanacocha ist längst zur Bedrohung für die Bauern geworden«, erklärt Mirtha Vasquez von der bergbaukritischen Entwicklungsorganisation Grufides. »Die Mine verbraucht dreimal so viel Wasser wie die gesamte Bevölkerung Cajamarcas.« Rund 180 000 Menschen, die in Cajamarca leben, und 30 000 Bauernfamilien rund um die alte Inkastadt konkurrieren mit der Mine um das lebensnotwendige Wasser. Schon drängen neue Bergbauunternehmen in die Region, die nach weiteren Goldadern und Mineralienvorkommen suchen. Über 35 Prozent der Fläche des Verwaltungsbezirks sind durch Konzessionen für den Bergbau reserviert.
Ein riesiges Geschäft, von dessen Erlösen nur wenig in Peru bleibt. Cajamarca ist trotz der Aufnahme der Minentätigkeit die zweitärmste Region des Landes. »Die Bergbaukonzerne zahlen für die Ausbeutung der Bodenschätze keine Gebühren. Einzig eine Gewinnbesteuerung erfolgt, zusätzlich zahlen die Unternehmen eine freiwillige Abgabe«, erläutert der Politiker Marco Antonio Arana. »Das sind paradiesische Verhältnisse im internationalen Vergleich.« Der ehemalige katholische Geistliche ist in die Politik gegangen, um die Bauernorganisationen zu unterstützen, die in der Region die Lagunen gegen den Zugriff der Bergbauunternehmen verteidigen. Dieser Widerstand hat seinen Preis für die Unternehmen. Dazu gehören Entwicklungskosten für das Projekt Conga, aber auch Kosten für bereits erworbene Grundstücke, die ohne Konzessionen für den Bergbau dann deutlich weniger wert sind. Zwar wird das Projekt Conga offiziell nicht weiterverfolgt, allerdings zweifelt kaum ein Experte daran, dass hinter den Kulissen weiter daran gearbeitet wird, denn schließlich verspricht Conga ähnliche Erträge wie Yanacocha in der Vergangenheit. Es geht um Milliarden und das Unternehmen, das Conga umsetzen will, hat auch in den vergangenen Wochen mehrfach bestätigt, dass es weiterhin in Peru investieren will.
Dabei werden allerdings die Investitionen in das Conga-Projekt nicht strikt vom laufenden Betrieb in der Mine Yanacocha getrennt. So würde es schließlich möglich, dass Ausgaben beziehungsweise der Wertverlust des Projekts Conga über die Mine Yanacocha abgeschrieben werden, argumentiert der peruanische Journalist Wiener: »Der Widerstand der Bevölkerung hat dazu geführt, dass der Wert des Conga-Projekts sinkt und das wird in der Bilanz nun aufgeführt.« Weshalb der Posten zuvor nie in der Bilanz auftauchte, kann aber selbst Wiener nicht beantworten. Er wirft den Minenbetreibern vor, die Bilanz bewusst ins Minus zu manövrieren, um keine Steuern zu zahlen. Zudem mutmaßt er, dass erheblich mehr Mittel in das Projekt Conga geflossen sind als angegeben. Folglich hätten sich die Minenbetreiber von Yanacocha verkalkuliert.
Das bestreitet das Minen-Konsortium in einer Presseerklärung. Darin wird behauptet, dass es 2013 175 Millionen US-Dollar an den Staat abgeführt habe. Doch der Staat erstatte die gezahlte Summe zurück, falls die Bilanz negativ ist, wie der Steuerexperte Pedro Francke von der katholischen Universität in Lima gegenüber BBC bestätigte. Das ist bei Yanacocha der Fall. Laut der Erklärung der Unternehmen resultieren die roten Zahlen aus der geringeren Produktion der Mine, dem gesunkenen Goldpreis und den Rückstellungen für Beeinträchtigungen. Ob sich hinter dem letzten Posten die sinkenden Grundstückpreise für die Region von Cajamarca verbergen, lässt das Konsortium im Dunkeln. Auch die Frage, weshalb diese in den Bilanzen von 2011 und 2012 nicht auftauchen, in die von 2013 aber ein Loch von mehr als einer Milliarde US-Dollar reißen, bleibt in der Presserklärung der Minenbetreiber offen.
Der von Wiener geäußerte Verdacht, dass sich die Minenbetreiber arm rechnen, um die peruanische Bevölkerung für ein gescheitertes Bergbauprojekt in die Pflicht zu nehmen, ist durchaus plausibel. Und sicherlich kein Einzelfall bei internationalen Entwicklungsprojekten im Bergbausektor. | Knut Henkel | Knut Henkel: Die größte Goldmine Lateinamerikas in Peru | [] | Lifestyle | 08.01.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/02/die-goldenen-jahre-sind-vorbei?page=0%2C%2C1 |
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen | Es ist schon seltsam. Als die US-Regierung den deutschen Außenhandelsüberschuss kritisierte, waren die Unternehmerverbände empört. »Wir haben deshalb Überschüsse, weil wir so gut sind«, sagte Anton Börner, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). Wer so gut ist, sollte eigentlich auch seine Stromrechnung selbst begleichen können. Doch 2 300 Unternehmen mit besonders hohem Stromverbrauch zahlen nur 0,05 Cent Ökostrom-Umlage pro Kilowattstunde, weniger als ein Prozent dessen, was ein Privathaushalt zahlt. Allein die Tatsache, dass Umweltminister Peter Altmaier mit der EU über einen Abbau dieser Subventionen verhandelt, sorgt für Empörung. »Eine Zusatzbelastung durch eine – wie auch immer geartete – Umlage würde das Fass zum Überlaufen bringen«, sagte Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie.
Falsch ist daher die Behauptung, die Unternehmer wünschten sich einen schwachen Staat. Sie wünschen sich einen starken Staat, der sie nichts kostet, sich aber unermüdlich für ihre Interessen einsetzt – gegenüber der EU, im globalen Wettbewerb, aber auch im Kampf gegen die lästigen checks and balances, die stets auf’s Neue die Geschäftstätigkeit stören. So wird in Großbritannien ein Gesetz diskutiert, das politische Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften erheblich einschränken würde. Aber auch der Rechtsstaat steht zur Disposition, denn immer wieder kommt es vor, dass Gerichte kein ausreichendes Verständnis für unternehmerische Belange aufbringen. Zum Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU, über das derzeit verhandelt wird, soll deshalb das investor-state dispute settlement gehören. Im Streitfall kann sich der Unternehmer demnach an ein geheim tagendes Gremium von Unternehmensanwälten wenden, gegen dessen Entscheidung keine Berufung möglich ist. Baut also ein Investor eine Fabrik in Deutschland und zahlt die derzeit legalen Niedrigstlöhne, kann er die Bundesregierung verklagen, wenn sie einen Mindestlohn einführt, da ihm dadurch Profit entgangen ist. Eine Erhöhung der Ökostrom-Umlage muss sich ein ausländischer Unternehmer dann auch nicht bieten lassen, und man darf annehmen, dass die deutsche Konkurrenz bald ebenfalls ein Verfahren jenseits des Rechtsstaats fordern wird. Nun möchte man glauben, dass keine Regierung so dämlich sein kann, eine solche Regelung zu unterschreiben. Doch sie ist bereits Bestandteil zahlreicher Freihandelsabkommen und stößt auch bei SPD und CDU/CSU bislang nicht auf Kritik. War es bislang Aufgabe des kapitalistischen Staats, unternehmerische Tätigkeit zu schützen und zu fördern, wird er nach internationalem Recht wohl bald auch einen angemessenen Profit garantieren müssen. | Jörn Schulz | Jörn Schulz: | [] | Inland | 14.11.2013 | https://jungle.world//artikel/2013/46/der-rechtsweg-ist-aus-geschlossen?page=0%2C%2C0 |
Tischlein, leck mich! | In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren galt es nicht nur im linksalternativen Milieu, sondern auch auf Soziologentagungen als ausgemacht: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Die Revolution der Mikroelektronik verwandle nicht allein mechanische Schreibmaschinen, sondern auch die Ware Arbeitskraft in einen unverkäuflichen Anachronismus. Die Entkoppelung der Reichtumsproduktion von der Arbeit müsse zu einem grundlegenden gesellschaftlichen »Wertewandel« führen. Allenthalben wollte man bereits eine neue, »postmaterielle Orientierung« (Ronald Inglehart) erkennen. Es schien sich die Entstehung einer »Tätigkeitsgesellschaft« (Ralf Dahrendorf) abzuzeichnen, die bewusst mit dem Primat der Erwerbsarbeit breche. Überflüssige Menschen Ein Vierteljahrhundert später hat sich der erste Teil der Prognose zwar bestätigt, aber nur um die damit verknüpfte Hoffnung gründlich zu blamieren. Unabhängig vom wirtschaftlichen Zyklus wächst die Masse des für das globalisierte Kapital unverwertbaren und damit vom arbeitsgesellschaftlichen Standpunkt überflüssigen Menschenmaterials. Statt mit einer Relativierung des Diktats der Arbeitsgesellschaft ging diese Entwicklung aber mit dessen Verschärfung einher. Noch nie war die Arbeitsgesellschaft so sehr Arbeitsgesellschaft wie heute. Je prekärer langfristig die Perspektive für die Anbieter auf dem Arbeitsmarkt, desto entschiedener fühlt sich jeder verpflichtet, das größte Glück auf Erden im erfolgreichen Management seines »Humankapitals« zu sehen. Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist Wirklichkeit geworden, um aus der öffentlichen Debatte zu verschwinden. Das herrschende Bewusstsein erkennt überall Unflexibilität und Sozialschmarotzertum. Es spricht von »Nieten in Nadelstreifen«, die Unternehmen in Sackgassen geführt hätten, und von verkrusteten sozialstaatlichen Strukturen, die unbedingt aufgebrochen werden müssten. Der nahe liegende Gedanke, der arbeitsgesellschaftliche Imperativ könne das eigentliche Problem sein und nicht die mangelnde Bereitschaft, ihm Genüge zu tun, aber darf nicht mehr ausgesprochen werden. Dass die politische Klasse mit Leerformeln und Lügen hantiert, ist man seit jeher gewohnt. Heute ist sie aber einen Schritt weiter und bezieht sich nur noch halluzinierend auf die soziale Realität. Die Regierung, die Opposition und die assistierenden »Experten« kennen nur noch einen Modus operandi, den Irrealis. Die Dekonstruktivisten haben die Krisenwelt nur weginterpretiert, unter Gerhard Schröder und Peter Hartz wird die Entsorgung der Wirklichkeit zur unmittelbaren materiellen Gewalt. Das weltwirtschaftliche Gefüge kracht, in Deutschland indes hat man davon offenbar noch nichts gehört und führt unverdrossen die denkbar provinziellste Standortdebatte. Seit dem Ende der New Economy wird sichtbar, dass der Arbeitsgesellschaft längst der Boden unter den Füßen weggebrochen ist, die wild gewordenen Reformer indes schwadronieren von neuer Beschäftigung für Hunderttausende. Ausgerechnet in der Rezession soll der erste Arbeitsmarkt jetzt die Menschen aufnehmen, die schon während des kasinokapitalistischen Booms bestenfalls auf dem zweiten noch Platz fanden. Die Regierung erklärt der Arbeitslosigkeit den Krieg, einen Krieg freilich, der, soweit er nicht auf einen Kampf gegen die Arbeitslosen hinausläuft, sich auf seltsame Umbenennungen reduziert. Der Kanzler lässt die Arbeitsämter schließen, um sie als Job-Center neu zu eröffnen. Er kennt keine Arbeitslosen, sondern nur noch Ich-AGs und Angestellte der Personal-Sevice-Agenturen. Dass dabei die Wochenarbeitszeit in der Regel bei null Stunden liegen dürfte, verschwindet im Kleingedruckten. Das Erbe des Kasinokapitalismus Aber nicht nur die politische Klasse flüchtet sich in die Verleugnung der Realität. Insgesamt gilt: Was gestern noch abgedrehte Theorie war, ist heute vulgäre gesellschaftliche Praxis. Nicht dass der auf den Verkäuferverstand zusammengeschrumpfte durchschnittliche Warenverstand die von Jean Baudrillard ausgegebene Parole von der »Substituierung des Realen durch das Zeichen des Realen« schon mal gehört hätte, in Fleisch und Blut übergegangen ist sie ihm dennoch. Er versteht es, alle Wirklichkeit in der Diskurswirklichkeit aufzulösen. Wirtschaft beruhe zur Hälfte auf Psychologie, schallt es aus jedem Kindergarten. Also heißt es positiv denken, auf dass sich die andere Hälfte von alleine finde. Es sind schlechte Zeiten für Satiriker, denn ein Volk von Realsatirikern macht sie überflüssig. Und es sind schlechte Zeiten für Ideologiekritiker, solange Ideologie notwendig falsches Bewusstsein bezeichnet. Denn der Zeitgeist hat viel von einer Gespensterparade, aber wenig mit Bewusstsein zu tun. Dieser amnesisch-halluzinatorische Zustand lässt sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen, sondern nur als Mischung verschiedener Betäubungsmittel und als das Ergebnis eines ganzen Motivcocktails beschreiben. Zu den Hauptzutaten gehört sicherlich das Erbe der kasinokapitalistischen Phase. In den achtziger und neunziger Jahren gelang es der Arbeitsgesellschaft, ihre fundamentale Krise, zumindest für ihr Kernsegment, zu überspielen. Damals brachte sie das Kunststück fertig, den Vorgriff auf künftige Arbeit, Arbeit die realiter nie verausgabt werden wird, zur Grundlage gegenwärtiger Arbeit zu machen. Die Luftschlösser der IT-Branche sorgten nicht nur in den vermeintlichen Zukunftssektoren selbst für einen beispiellosen Boom und für eine ganze Menge lukrativer Jobs. Die von diesen Sektoren getragene Dynamik fiktiver Kapitalverwertung, also die Kapitalisierung ungedeckter Erwartungen, schuf ein erkleckliches wirtschaftliches Wachstum und damit künstliche Beschäftigung. Mit diesem eigentlichen Wirtschaftswunder des 20. Jahrhunderts ist es vorbei. Das materielle Substrat der Simulation ist in Auflösung begriffen, nämlich der in der privaten Kreditschöpfung sich monetarisierende Glaube an die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Damit lösen sich die entsprechenden Bewusstseinsformen aber noch lange nicht in Wohlgefallen auf. In der Wendung zum Halluzinieren erhebt sich das simulative Denken über seinen realen Bedingungszusammenhang und findet einen Ersatz und eine Fortsetzung. Nachdem sich der Traum des neuen Kapitalismus, die Entfesselung der totalen, individualisierten Konkurrenz werde einen ewigen kapitalistischen Frühling bescheren, in den Sektoren der Avantgarde blamiert hat, soll das Phantasma durch die Verallgemeinerung erneuert werden. Wenn unterschiedslos alle, vor allem die vergessenen Verlierer, sich auf die vollständige Selbstzurichtung als Marktsubjekte verpflichten, was bisher das besondere Privileg der so genannten Gewinner war, dann wird alles doch noch gut! Die neuen Selbständigen In der postkasinokapitalistischen Geistertanzbewegung schwingt ein sadistisches Moment mit. Was der »Leistungsträger« sich angetan hat und weiter antut, soll sich gefälligst jeder antun müssen, und zwar - wie die früheren Gewinner immer öfter auch - ohne Gratifikationen. Rache für die geplatzten, von Alpträumen kaum unterscheidbaren Hoffnungen, Rache, egal an wem. Das allein erklärt freilich noch nicht die aberwitzige Bereitschaft, Schnitte ins soziale Netz zu akzeptieren und zu fordern. Wichtiger ist die Autosuggestion. In einer Gesellschaft, deren Mitgliedern die Pose des autistischen Siegers und der Zwang, sich zu verkaufen, zur zweiten Natur geworden sind, verkehrt sich selbst noch die Niederlage zu einem Sieg. Gerade die »neuen Selbständigen« der Avantgardesektoren lehren uns heute, nicht nur im Beruf, auch beim Konsum machten Höchstleistungen in Sachen Flexibilität den wahren Erfolgsmenschen aus. Klassische Arbeitnehmer mögen bei Einkommensverlusten von ein paar läppischen Prozent gleich auf die Barrikaden gehen. Der neue IT-Selbständige bleibt cool und sitzt eine Halbierung seines Einkommens locker aus. Wahrscheinlich würde er selbst noch beim Fressen aus der Mülltonne eine souveräne Figur machen, und mit ihm auch der eine oder andere Autor dieser Zeitung. Die Werbung hat die Zeichen der Zeit längst erkannt. Die Figur des »neuen Loser«, wie ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung nennt, unter allen Umständen fähig sich in eine »Win-Win-Situation« hineinzuphantasieren, macht Karriere. Ikea präsentiert derzeit stolz, wie der Krise angepasstes Wohnen es erlaubt, auf der Grundfläche einer Gefängniszelle problemlos und nett einen Singlehaushalt unterzubringen. Der Elektronikhändler Saturn gibt die Parole aus: »Geiz ist geil«. Noch viel gruseliger als diese ästhetisierenden neoasketischen Darbietungen ist aber, dass sich diese neue Kunst der Autosuggestion im Alltag tatsächlich »eins zu eins« breit macht. Vor zwei Jahren habe ich mich noch auf einer Geburtstagsfeier über einen in der Werbebranche tätigen Gastgeber geärgert, weil er penetrant betonte, keiner der ausgeschenkten Weine habe weniger als 30 Mark gekostet. Man gönnt sich ja sonst nichts, hieß es damals. Einen Konkurs später erzählte derselbe Mensch im selben Duktus am vergangenen Wochenende, dass er die durchaus trinkbaren Weine für die Fete für 1,99 Euro die Flasche erstanden hätte. Die frisch formatierte Bio-Festplatte spuckt jetzt die Information aus: Das Geld, das ich nicht mehr verdiene, habe ich auch noch nie ausgeben wollen. Am linken Katzentisch Im antiken Griechenland bezeichnete der Begriff »Idiot« Menschen, die sich nur um ihre persönlichen Angelegenheiten kümmerten und sich gegenüber allen weitergehenden, die Polis betreffenden Fragen gleichgültig verhielten. Dieser Idiotismusbegriff in seiner alten Bedeutung verdient unbedingt die Wiederentdeckung. Als analytische Kategorie fasst er nämlich präzise die für das postmoderne Subjekt charakteristische Fähigkeit, im Denken alle größeren Zusammenhänge auszublenden und im Fühlen alles eigene, nicht mit dem Standpunkt des Selbstverkäufers vermittelbare Erleben als nicht existent zu behandeln. Der Ausdruck bringt auf den Punkt, was der für gewöhnlich als Individualisierung gefeierte Prozess gesellschaftlicher Gleichschaltung durch Vereinzelung auf der Ebene der Bewusstseinsformen bedeutet. Die Verwandlung der Kirche der Arbeit in die größte Esoteriksekte aller Zeiten und der galoppierende Idiotisierungsprozess schreien geradezu nach einer entschiedenen Gegenpositionierung. Deren erste Aufgaben lägen eigentlich auf der Hand und wären simpel. Sie hätte darauf hinzuweisen, was viele wissen, aber niemand wissen wollen darf: Der Kaiser ist splitternackt. Die Arbeitsgesellschaft ist nicht zu retten, und es gibt auch nicht den geringsten Grund, sie zu retten. Der Zwang, sich zu verkaufen, reimt sich nicht auf Glück und Selbstverwirklichung. Ein gutes Leben fängt dort an, wo das Gewinnergrinsen aufhört. Die vor 20 Jahren abgerissene Debatte um die Krise der Arbeitsgesellschaft wäre wieder zu beleben, aber diesmal nicht, um die Herrschaft der Arbeit zu relativieren, sondern als Angriff auf die Logik der Konkurrenz, der betriebswirtschaftlichen Vernutzung und der Arbeit. Durch die Besetzung der sozialen Frage unter dem Vorzeichen der Kritik an der Arbeit könnte die Linke aus ihrer andauernden Defensive und ihrer Marginalisierung herausfinden. Doch sie versäumt diese Chance. Selbst der Arbeitsreligion verpflichtet, scheut sich der reformistische Flügel davor, die offiziellen runden Tische umzuwerfen, an denen er bestenfalls ein Plätzchen im Kinderstühlchen angewiesen bekommt. Eine noch kläglichere Rolle aber spielt die so genannte radikale Linke. Sie zeigt sich wild entschlossen, im allgemeinen Idiotisierungsprozess weiterhin Avantgarde zu spielen. Im offiziellen Diskurs verschwindet die soziale Wirklichkeit in den unzähligen Talkshows, in denen ernsthaft über absurde Beschäftigungsprogramme diskutiert wird. In der ideologiekritisch orientierten Linken und bei der kulturalistisch-postmodernen Spielart aber kommt die soziale Frage und die eigene Reproduktion schlicht nicht vor. Die Szene setzt sich in der Mehrzahl aus Menschen zusammen, die sich unter prekären Bedingungen über die Runden retten oder einer ungewissen Zukunft entgegengehen. Die Szene-Identität ist aber gerade auch dadurch definiert, dass derlei Fragen nicht als gesellschaftliche, sondern als Privatprobleme zu behandeln sind. Die Sozialromantik der siebziger Jahre ist in ihr Gegenteil umgekippt. Hinter der sozialen Frage lauere angeblich immer schon der Mob. Wer sie stellt, ist im besten Fall Reformist, im schlimmsten Fall begibt er sich in die Nähe des Antisemitismus. Die Krisenschübe des frühen 21. Jahrhunderts sind offenbar nicht geeignet, diesen Mechanismus auszuhebeln, sondern scheinen diese Entwicklung noch zu verstärken. Das Ende der Herrlichkeit der New Economy fällt zeitlich damit zusammen, dass die Zerfallsprozesse, die den Gewaltkern warengesellschaftlicher Subjektivität sichtbar machen, auf den Westen zurückschlagen. Das postmoderne, kulturalistische »Don't worry, be happy« ist damit in der alten Form in Frage gestellt. Die neue Barbarei ist aber nur ein Anlass dorthin zurückzuflüchten, wohin es die auf individuelle Lösungen im Konkurrenzkampf eingeschworenen Szene-Mitglieder angesichts immer ungemütlicher werdender Bedingungen sowieso drängt: auf den Schoß der in Auflösung begriffenen westlichen Normalität. Die Irak-Debatte der Jungle World kann als ein Indiz dafür gelten, wohin der Hase derzeit läuft, in Richtung Irrealis. Für einen Antikapitalismus, der sich und die Kritik der Arbeit ernst nimmt, bleibt da nur eins: Außer dem großen gesellschaftlichen runden Tisch, an dem über die nicht vorhandene Zukunft der Arbeitsgesellschaft verhandelt wird, hat er auch noch den kleinen linken Katzentisch umzuwerfen. | Ernst Lohoff | Ernst Lohoff: Serie zur Hartz-Kommission, Teil IV | [] | Inland | 24.12.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/52/tischlein-leck-mich?page=0%2C%2C2 |
Schnäppchenjäger | Beim Festakt im gotischen Altstadtrathaus von Braunschweig herrschte gute Stimmung. Christian Wulff war in Anekdotenlaune. Der damalige niedersächsische Ministerpräsident wollte vom Ehrengast Gerhard Glogowski wissen, ob es stimme, dass dieser einst damit gedroht habe, alle Schützenvereine zusammenzurufen, um den Umzug des Braunschweiger Löwen nach Hannover zu verhindern. Überschwänglich lobte Wulff seinen Vorvorgänger für »dieses endlose Engagement über Jahrzehnte für seine Stadt«. Auch Oberbürgermeister Gert Hoffmann würdigte die »bleibenden Verdienste« und die »politische Lebensleistung« des frisch ernannten Ehrenbürgers. »Für mich bestand nie ein Zweifel, dass gerade Gerhard Glogowski diese Auszeichnung verdient«, sagte der CDU-Mann.
Die Affären, die Glogowski nach nur 13 Monaten im Amt im November 1999 zum Rücktritt als Ministerpräsident bewegten, waren auf der Veranstaltung am 11. Februar 2008 kein großes Thema mehr. »Niemand behauptet im Rückblick, es sei bei den damaligen Vorgängen um eine Staatsaffäre oder gar strafbare Handlungen gegangen«, nahm Hoffmann, ein früheres NPD-Mitglied, den Sozialdemokraten in Schutz. Glogowski selbst sagte einem Fernsehteam nur patzig: »Wofür sollte ich ein schlechtes Gewissen haben?« Es habe seinerzeit »vielleicht hier und da Fehler und Versäumnisse gegeben«, beschied Wulff milde.
Dass hatte sich einige Jahre zuvor ganz anders angehört. Den damaligen christdemokratischen Oppositionsführer hatte das Verhalten des sozialdemokratischen Amtsinhabers noch kräftig in Rage versetzt. Die Räumungsklage gegen eine alleinstehende Sozialhilfeempfängerin, die mit einem behinderten Kind in einer von Glogowskis Eigentumswohnungen lebte, scherte Wulff nicht so sehr. Ein Sozialromantiker war er schließlich noch nie. Umso empörter reagierte er allerdings auf Berichte, nach denen auf der Hochzeitsfeier Glogowskis in Braunschweig zwei örtliche Brauereien großzügig das Bier gestellt, eine Kaffeerösterei weitere Party-Utensilien spendiert und das Musikprogramm ein Vertreter der Norddeutschen Landesbank besorgt hatte. Auch das Faible Glogowskis für das eigene Portemonnaie schonende Urlaubsreisen geißelte Wulff: »Da gilt der Satz aus jedem Antikorruptionsbericht, dass man private und dienstliche Dinge strikt zu trennen hat.« Es müsse schon »der Anschein von Korrumpierbarkeit, von Abhängigkeiten, von Sponsoring von Politik und Politikern vermieden werden«. Mittlerweile klingen solche Worte aus dem Mund des derzeitigen Bundespräsidenten unfreiwillig komisch. Und wie es scheint, war Wulff auch schon bei dem Festakt vor vier Jahren bewusst, dass seine früheren Maßstäbe, nach denen Glogowski nicht »die Voraussetzungen für die Würde des Amtes des Ministerpräsidenten« erfülle, nicht allzu gut mit seinem eigenen Handeln in Einklang zu bringen sind.
»Die glamouröse Großzügigkeit, mit der führende Politiker anderer europäischer Staaten – es genügt ein Blick nach Frankreich, Italien oder Griechenland – sich selbst und ihren Freunden und Verwandten bedenkenlos die Taschen füllen, ist hierzulande kaum je anzutreffen«, schreibt Christian Bommarius in der Frankfurter Rundschau. Vielmehr käme der politische Skandal in der Bundesrepublik »so gewöhnlich, so kleinbürgerlich und verschwitzt daher wie eine sepiafarbene Karikatur des Spießers«. Sofern es sich nicht um kollektive Beutezüge zur Parteienfinanzierung handele, sondern um einzelne, auf eigene Rechnung agierende Politiker, sei »zumeist weniger Habgier das Motiv, sondern das Kalkül des zu allem entschlossenen Kleinsparers«. Erstaunlich ist dabei, welche Risiken Politiker wie Glogowski und nach ihm auch Wulff einzugehen bereit waren, nur um beispielsweise bei ihrem Urlaub den einen oder anderen Euro zu sparen. Dabei hätten ihnen die Fälle der Ministerpräsidenten Lothar Späth in Baden-Württemberg und Max Streibl in Bayern eigentlich als abschreckende Beispiele dienen können.
Anders als Bommarius vermutet, könnte es sich bei dieser Schnäppchenjägermentalität allerdings weniger um ein nationales als um ein Generationenproblem handeln. Zumindest zu Zeiten von Franz Josef Strauß konnte die Gier deutscher Politiker dem internationalen Vergleich durchaus standhalten. Der Bayer zeichnete sich jedenfalls durch eine phänomenale Begabung aus, Gemein-, Partei- und Eigennutz vorteilhaft miteinander zu verbinden. Eine CSU-Broschüre warb sogar in den siebziger Jahren ohne jedes Arg mit der Geschäftstüchtigkeit ihres Frontmanns: »Der Mehrung seines Vermögens gibt er sich mit demselben Eifer hin, den er in der Politik walten lässt.« Als Strauß 1988 starb, soll er seinen Erben ein enormes Vermögen hinterlassen haben. Wie er das geschafft hatte, darüber gab es immer wieder wilde Gerüchte. »A Hund is er scho!« – in Bayern ist das ein Kompliment. Gestürzt ist Strauß über seine Nehmerqualitäten nie. Der CSU garantierte er absolute Mehrheiten. Auch die Beutezüge zur Parteienfinanzierung sind heute nicht mehr das, was sie früher waren. Zu Zeiten der »Staatsbürgerlichen Vereinigung« (SV) ging es immerhin noch nicht darum, dass Unternehmen ein paar Euro für das eine oder andere Entgegenkommen springen ließen. Stattdessen organisierten die Arbeitgeberverbände nach dem Prinzip »legal – illegal – scheißegal« die Spendenakquise im großen Maßstab – und durften dafür auch bestimmen, wo es langgeht.
An der Spitze der Mitte der fünfziger Jahre gegründeten SV stand die Crème de la Crème des deutschen Kapitals: Für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) waren deren Präsidenten Fritz Berg und Hans Constantin Paulssen an Bord. Der Deutsche Industrie- und Handelstag schickte sein geschäftsführendes Vorstandsmitglied Paul Beyer, auch der Adenauer-Intimus Robert Pferdmenges, Mitgesellschafter des Kölner Bankhauses Sal. Oppenheim jr. & Cie., gehörte zum erlesenen Kreis. Als Vorsitzender des BDI-Rechtsausschusses war Mannesmann-Vorstand Wolfgang Pohle dabei, der spätere Flick-Generalbevollmächtigte und CSU-Schatzmeister. Als erster Präsident fungierte AEG-Chef Friedrich Spennrath, die Geschäftsführung bekam Gustav Stein (BDI) übertragen. Sie alle verband ein großes Ziel: die Bedrohung durch den Kommunismus abzuwehren.
Offizieller Zweck des eingetragenen Vereins war laut Satzung die »Förderung des demokratischen Staatswesens in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere Verteidigung und Festigung der im Grundgesetz verankerten persönlichen und politischen Grundrechte«. Während die in Köln ansässige SV das Inkasso zunächst bei den 50, später den 100 größten Unternehmen und Verbänden der Bundesrepublik übernahm, kümmerten sich regionale »Fördergesellschaften« um kleinere Firmen und Organisationen. Das Zahlungssystem funktionierte nach einem effektiven Prinzip: Unternehmer und Verbände überwiesen monatliche Beiträge an die von den Wirtschaftsverbänden kontrollierten Organisationen. Deren Aufgabe war es, der Union, der FDP, der DP, zeitweise auch noch dem Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) sowie der kurzlebigen FDP-Abspaltung Freie Volkspartei (FVP) laufende Zuschüsse für den Unterhalt ihrer Partei anzuweisen. Außerdem erhielten die Parteien noch üppige »Wahlsonderleistungen«. Die SPD war selbstverständlich von den Segnungen ausgeschlossen.
Für die westdeutsche Wirtschaftselite war das in einer rechtlichen Grauzone angesiedelte Fördermodell attraktiv. Erstens ermöglichte es die erwünschte Anonymisierung des Spendenflusses, da die Zahlungen an die Vereinigungen nicht veröffentlichungspflichtig waren. Zweitens waren die Zuwendungen steuerlich abzugsfähig, die Unternehmen und Verbände holten sich einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Geldes vom Staat zurück. Drittens stärkte das Modell den Einfluss der Manager, sie konnten auf die Parteien Druck ausüben. Um die SPD von der Macht fernzuhalten, war es notwendig, um jeden Preis eine Zersplitterung des bürgerlichen Lagers zu vermeiden. Die Spenden dienten als Disziplinierungsmittel. Wer aus dem Anti-SPD-Block auszuscheren versuchte, dem drohte die Streichung von der Spendenliste. Die nordrhein-westfälischen Liberalen wagten es 1956, die Einheitsfront zu verlassen und mit der SPD sowie dem katholischen Zentrum per konstruktivem Misstrauensvotum den CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold durch den Sozialdemokraten Fritz Steinhoff zu ersetzen. Die Strafe folgte umgehend: Dem FDP-Landesverband wurden die Spenden gestrichen. Die bisherige Geschäftsgrundlage bestehe nicht mehr, ließ die SV die Partei wissen. Die niedersächsischen Freidemokraten erlitten das gleiche Schicksal, nachdem sie sich für eine Koalition mit der SPD entschieden hatten.
Auch nicht linientreue CDU-Landesverbände wurden so abgestraft. Als die CDU in Hessen 1953 ein Wahlbündnis mit der FDP ablehnte, strich die dortige Fördergesellschaft dem Landesverband umgehend die Mittel. Erst als die hessischen Christdemokraten klein beigaben und zur FDP zurückkehrten, wurden die Zahlungen wieder aufgenommen. Empörung über das erpresserische Vorgehen konnte Bundeskanzler Konrad Adenauer nicht nachvollziehen. »Die Fördergesellschaft gibt ihr Geld – und daraus hat sie nie einen Hehl gemacht – nicht etwa aus Freude an Wahlen, sondern sie gibt ihr Geld lediglich, damit die Sozialdemokratie geschlagen wird«, sagte er auf einer Bundesvorstandssitzung im Juli 1953 seinen Parteifreunden.
Die Spendenbeschaffung über die SV und die Fördergesellschaften lohnte sich für Adenauer. 18,5 Millionen Mark investierte die CDU in den Bundestagswahlkampf 1957. Dieser kostspielige Wahlkampf war rein wirtschaftsfinanziert. Die Union deklassierte die SPD und gewann mit 50,2 Prozent der Stimmen zum ersten und bis heute einzigen Mal die absolute Mehrheit. Ihre Blütezeit erlebte die SV in den sechziger und siebziger Jahren. Das Inkassogeschäft lief bestens. Mittlerweile kümmerte sich die Organisation um die Spenden der 125 größten deutschen Unternehmen. Die Geschicke lenkten nach wie vor die beiden BDI-Funktionäre Fritz Berg und Gustav Stein. Dritter im Bunde war der Wirtschaftsprüfer Hans Buwert, auch er ein Gründungsmitglied. Buwert hatte vor 1945 – wie auch Stein – der NSDAP angehört, er war Hauptschriftleiter des NS-Kampfblattes »Die nationale Wirtschaft« gewesen. In der SV waren etliche frühere Nazis am Werk. Deren nationalsozialistische Vergangenheit war den Spitzen von Union und FDP durchaus bekannt, störte sie aber nicht, solange das Geld floss. Und das floss reichlich. Von Deutscher bis Dresdner Bank, von Karstadt bis Kaufhof, von Mercedes bis Porsche, von Hoechst bis Bayer, vom Waschmittelkonzern Henkel bis zur Marmeladenfabrik Zentis – alle leisteten pflichtschuldig ihren Obolus. Insgesamt verzeichnete die SV alleine zwischen 1969 und 1980 Einnahmen in Höhe von etwa 218 Millionen Mark. Dann flog das illegale System auf.
Und heute? Da muss die nordrhein-westfälische CDU während ihrer Regierungszeit potentiellen Sponsoren für 20 000 Euro ein sogenanntes Partnerpaket für den Landesparteitag anbieten – »Einzelgespräche mit dem Ministerpräsidenten und den Minister/innen« inbegriffen. »Rent a Rüttgers«, höhnten Opposition und Medien. Da spendiert Zentis dem CDU-Mann Christian Wulff noch gerade mal einen Ausflug zum Deutschen Filmball 2010 samt Übernachtung im Bayerischen Hof. Irgendwie popelig, oder? | Pascal Beucker | Pascal Beucker: Sponsoring in der Politik | [] | Inland | 16.02.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/07/schnaeppchenjaeger |
Die Einforderung der Zukunft | Die Autonomie der Migration ist heute eine zentrale Frage für die Politik der antirassistischen Linken. Die Theoretiker und Aktivisten Sandro Mezzadra (Bologna) und Brett Neilson (Sydney) diskutieren die Kontrolle über Mobilität als Merkmal des globalisierten Kapitalismus und die Perspektiven, den Fallen der Identitätspolitik zu entgehen und die Autonomie ernst zu nehmen. Brett Neilson: Die Migration ist für die kritische Globalisierungsbewegung zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden. Das war nicht immer so. Auf dem ersten Weltsozialforum in Porto Alegre hatte Migration praktisch noch keine Rolle gespielt. Sandro Mezzadra: Wir müssen uns zunächst fragen, welche Richtung die Bewegungen nach der ersten Explosion Ende 1999 in Seattle genommen haben. Die zentrale Gemeinsamkeit war der Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus und insbesondere gegen die großen Agenturen transnationaler Herrschaft wie Weltbank oder Welthandelsorganisation (WTO). Ich will weder die analytische Bedeutung des Konzepts Neoliberalismus leugnen noch dessen »mobilisierende Kraft«, wenn es darum ging, dem Gegner einen Namen zu geben. Dennoch hat die Kritik am Neoliberalismus, wie sie einflussreiche Publikationen wie etwa Le Monde Diplomatique formulieren, die Tendenz, diejenigen, die unter den Auswirkungen der Globalisierung leiden, als bloße Opfer darzustellen. In diesem Denken sind sie keine Protagonisten, sie werden nicht als gesellschaftliche Subjekte in den gegenwärtigen Prozessen globaler Veränderung gesehen. In dieser Perspektive erscheint Migration als ein Moment in einer Reihe von Katastrophen, die der Neoliberalismus bewirkt. Die Globalisierung erscheint als ein Prozess, der über die Köpfe der Leute hinwegwalzt. Die Kritik nimmt einen nostalgischen Standpunkt ein. Das war die Situation bei den ersten beiden Weltsozialforen in Porto Alegre. Doch dann passierte etwas. Während der Proteste gegen den G 8-Gipfel in Genua im Juli 2001 gab es eine große Demonstration, die MigrantInnen organisiert hatten. In Italien hatte es auch schon in den neunziger Jahren MigrantInnendemos gegeben, aber hier trafen migrantische Basisorganisationen und kritische Globalisierungsbewegungen zusammen. Der Erfolg der Demo in Genua mündete in die anhaltende Mobilisierung gegen das so genannte Bossi-Fini-Gesetz (das schließlich im Sommer 2002 von der regierenden Rechten eingeführt wurde und das den legalen Aufenthalt von MigrantInnen in Italien an den Besitz eines Arbeitsvertrags bindet). Das waren die größten migrantischen Aktionen in Europa seit den Demonstrationen der Sans Papiers in Paris im Jahr 1996. In den Vorbereitungen zum Europäischen Sozialforum (ESF) in Florenz im Herbst 2002 wurde das Thema Migration zentral. Es ist notwendig, die Kritik am Europa von Maastricht (an den »neoliberalen« Prinzipien, die 1991/92 durch den Maastricht-Vertrag die Grundlage für die Wirtschaftsunion legten) zu verbinden mit der Kritik am Schengen-Europa. Denn im Abkommen von Schengen wurde 1985 die Bewegungsfreiheit aller EU-Bürger vereinbart und gleichzeitig die Einrichtung eines neuen Grenzregimes auf den Weg gebracht, das seit 1990 realisiert wird. In Vorbereitung auf die Workshops zum Thema Migration beim ESF ging es uns darum, die Bedingungen einer »Europäischen Staatsbürgerschaft«, die langsam anfängt, Gestalt anzunehmen, anzugreifen und dabei die Grenzen, die diese Staatsbürgerschaft definieren, in Frage zu stellen. Europa durch die Linse der Migration zu betrachten, führt zu ganz anderen Ergebnissen, als mit anderen Konzepten – zum Beispiel Neoliberalismus – oder Praxisformen heranzugehen. Während der neunziger Jahre war ein Kennzeichen der Migrationspolitik auf europäischer Ebene die Harmonisierung der nationalstaatlichen Politiken und Technologien der Grenzkontrolle. Doch werden dadurch die EU-Grenzen nicht das Gleiche wie die Grenzen eines modernen Nationalstaats. Die Fragen europäischer Grenzen und der Beschränkungen der Bürgerrechte in Europa sind wesentlich komplexer. Neilson: Enrica Rigo beschreibt in einem Essay (»Politiche di migrazione«, DeriveApprodi 22/2002), wie eine ganze Reihe von Abschiebeabkommen – zwischen EU-Staaten, etwa Deutschland, und so genannten sicheren Drittländern, wie Polen, zwischen diesen Drittländern und Staaten, die noch weiter von den mächtigen westeuropäischen Ländern entfernt sind, wie der Ukraine – etwas hervorbringt, das sie »Abschiebeströme« nennt. Rigo entschlüsselt in diesen »Strömen« die subjektiven Entscheidungen von MigrantInnen, die nun aus der EU abgeschoben werden. Mezzadra: Im Gegensatz zum instituierten Europa (wie es in Abkommen wie denen von Schengen oder Dublin geschaffen wurde) ist das Europa der Migrationsströme ein globaler politischer Raum. Es ist ein Raum, den die Bewegungen ständig dezentralisieren und provinzialisieren (um einen beliebten Ausdruck der postcolonial studies aufzunehmen). Migrationsbewegungen stellen die Möglichkeit infrage, ein Innerhalb und ein Außerhalb in Europa zu identifizieren, eines der wesentlichen Ziele der genannten Abkommen. Enrica Rigo zeigt, dass es keine einfache Unterscheidung zwischen Europas Innen und Außen geben kann. Es sind Abstufungen: Polen ist weniger außerhalb als die Ukraine. Die Grenzen der EU sind in diesem Sinne flexibler als die des Nationalstaats. Die Flexibilität entspricht der Flexibilität der Migrationsbewegungen. Es geht tatsächlich um eine doppelte Bewegung. Es gibt Migrationsströme, die die Grenzen Europas porös machen, sie machen sichtbar, wie viel Asien es in Europa gibt, wie viel Afrika … Dann gibt es die Regulationsbewegungen, die darauf zielen, die Ströme zu beherrschen, sie durch Strukturen und Verwaltungen einzudämmen. Dazu werden die Techniken und Technologien der Grenze außerhalb der offiziellen EU-Außengrenzen eingesetzt. Beispielsweise ist die Grenze zwischen Deutschland und Polen im Moment eine solche Außengrenze. Statt einfach nur diese Grenze zu verstärken, haben die deutschen Behörden die polnischen in das Grenzmanagement eingebunden. Als »sicheres Drittland« muss Polen alle Flüchtlinge und Migranten aufnehmen, die polnisches Territorium durchquert haben, um Deutschland zu erreichen, und die anschließend aus Deutschland ausgewiesen werden. Polen hat umgekehrt ähnliche Abkommen geschlossen, zum Beispiel mit der Ukraine. Gleichzeitig gibt es jetzt Pläne, in der Ukraine Internierungseinrichtungen zu bauen, wie sie in Polen schon existieren. Der Punkt ist nun, dass diese Schritte der Abschiebung – Deutschland, Polen, Ukraine – den Weg in umgekehrter Richtung gehen, den die MigrantInnen genommen haben. Viele MigrantInnen aus Asien und Afrika erreichen Deutschland heute über die Ukraine. Die Migrationsbewegungen schaffen eine Art neuer Geographie, indem sie die Routen etablieren; die Maßnahmen der Exklusion sind Reaktionen darauf. Neilson: Auch in Australien haben Migrationsbewegungen eine neue Geographie geschaffen, territoriale Ambivalenzen. Das Border Protection Act, das vom Parlament 2001 verabschiedete Grenzgesetz, rechnet bestimmte Territorien nicht mehr zu Australien, insofern Leute mit einem Schiff dort landen. Dadurch sind Orte wie die Christmas- oder die Ashmore-Inseln in gewissem Sinne Nicht-Orte, weder Australien noch Ausland. Nach dem Tampa-Zwischenfall im August 2001 (Australien hatte sich geweigert, den Frachter Tampa mit über 400 Flüchtlingen an Bord einen kontinentalen Hafen anlaufen zu lassen) begann die Regierung, für die Einrichtung von Internierungslagern auf ausländischem Territorium zu zahlen, beispielsweise auf der Insel Nauru, einem pazifischen Kleinstaat, oder auf Manus Island, das zu Papua-Neuguinea gehört. Diese Hochseeinternierungscamps, von privaten Sicherheitsdiensten geführt, sind Ausdruck einer Veränderung von Souveränität. Tatsächlich wird in gewisser Weise Souveränität gehandelt. Umgekehrt scheinen mir die Beziehungen zwischen der EU und Polen oder der Ukraine eher durch politische Macht- als durch Marktverhältnisse gekennzeichnet. Mezzadra: Man kann sicher davon sprechen, dass durch den Export der Grenztechniken ein bestimmter Teil der Souveränität verschoben wird, von Deutschland nach Polen oder in die Ukraine. Für die beiden letzteren hängt die Entscheidung, diese Techniken zu übernehmen, unter anderem mit dem Wunsch zusammen, in die EU zu kommen. Die Voraussetzungen für diese Entwicklungen wurden in den frühen Neunzigern gelegt, im Wesentlichen durch die Bürokratien. Die Verhältnisse sind relativ kompliziert: Das Schengener Abkommen von 1985 wurde zwischen nationalen Polizeiapparaten geschlossen und tatsächlich erst später ins europäische Rechtssystem eingeschrieben. Auf diese Weise entstanden »bürokratische Abläufe«, die teilweise außerhalb der Kontrollsphäre der großen europäischen Institutionen liegen. Am Beispiel der Abläufe zwischen Deutschland, Polen und der Ukraine kann man sehen, wie das System funktioniert. Im Muster des Exports von Grenztechniken findet sich das Gefälle der politischen und ökonomischen Macht wieder (und der Preis der Arbeitskraft ist in Deutschland dreimal höher als in Polen, zehnmal höher als in der Ukraine). Neilson: Du hast vorhin über die Grenzen und die Merkmale des politischen Raums unter den Bedingungen der Globalisierung gesprochen. Es gibt Abstufungen der Externalisierungen, es gibt die Porosität der Grenzen, aber die Externalität verschwindet nie in einem wirklichen Außen. Doch taucht auch die Vorstellung des »Anderswo« auf. Du warst an der Vorbereitung der großen Demonstration am 30. Novermber 2002 gegen das Abschiebegefängnis am Corso Brunelleschi in Turin beteiligt. Der zentrale Slogan der Mobilisierung war »Né qui, né altrove« (»Weder hier noch anderswo«). Was kristallisiert sich darin? Mezzadra: Der Protest in Turin war vermutlich die größte bisherige politische Aktion gegen das System der Internierungs- und Abschiebezentren in Europa. Mit dem Slogan »Né qui, né altrove« wollten wir zunächst unterstreichen, dass wir gegen eine bestimmte Einrichtung an einem bestimmten Ort vorgehen. Aus Sicht der italienischen Regierung ist die Einrichtung in Turin eine, die besonders gut funktioniert. Wir wollten auch speziell in Turin eine Aktion machen, weil in der Stadt aufgrund der Krise von Fiat im Moment vieles in Bewegung ist. Natürlich ist diese Art permanenter kapitalistischer Restrukturierung (und die sie begleitende Prekarisierung der Arbeitskraft) weithin verallgemeinert, doch die Auswirkungen sind in alten, durch eine einzelne Firma geprägten Industriestädten wie Turin besonders akut. Davon ausgehend wollten wir auf die Verbindungen zwischen der Reorganisation des Arbeitsmarkts und der Rolle von Internierungseinrichtungen hinweisen, denn letztlich geht es auch darum, die Mobilität der Arbeitskraft zu beschränken und zu kontrollieren. Um diese Verbindungen verstehen zu können, muss man aber die lokale Situation in Turin hinter sich lassen und den Zusammenhang von kapitalistischer Restrukturierung und Mobilität der Arbeit auf globalem Niveau sehen. Daher die Bedeutung, den Protest der globalen Dimension zu öffnen, sich gegen solche Orte, an denen die Menschen ihrer Rechte beraubt werden, zu stellen – hier und »anderswo«. Neilson: Du sagst, diese Orte berauben Menschen ihrer Rechte. In der Kampagne gegen die Einrichtungen in Italien taucht sehr häufig das Wort »Lager« auf. In Australien werden Bezüge eher zu den Strafkolonien hergestellt, wie sie die Engländer auf dem Kontinent einrichteten, genauso wie zu den verschiedenen Formen von »Camps«, »Missionen« und »Homelands«, in denen später die indigene Bevölkerung interniert wurde. Um die politische Struktur solcher Einrichtungen zu verstehen, berufen sich viele auf Giorgio Agamben und sein Konzept des »nackten Lebens«. Für Agamben ist das »Lager« paradigmatisch. Ist der Begriff des »nackten Lebens« nützlich, um die politische Struktur zu verstehen? Mezzadra: Fangen wir mit der Frage an, ob man den Ausdruck »Lager« verwenden kann. Es ist klar, dass mit dem Ausdruck im Kontext der Kämpfe gegen Abschiebezentren sehr behutsam umgegangen werden muss. Die Gefahr ist, dass es so aussehen könnte, als verwechsle man gegenwärtige Formen globaler Kontrolle mit den Formen, die unter dem Faschismus herrschten. Es ist deshalb notwendig klarzumachen, dass der Ausdruck »Lager« nicht auf die Lager der Nazis zu reduzieren ist. Und auch bei den Lagern der Nazis ist es notwendig zu wissen, dass »Lager« nicht mit »Vernichtungslager« gleichgesetzt werden kann. Die Einrichtung von Camps oder Lagern ist allerdings zugleich Teil der europäischen Kolonialgeschichte. Wenn wir den Ausdruck heute verwenden, dann auch, um die Fortdauer des Kolonialismus und kolonialer Machtbeziehungen in den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Metropolen zu betonen. Ein Lager ist ein administrativer Raum, in dem Frauen und Männer, die kein Verbrechen begangen haben, ihres Rechts auf Freizügigkeit beraubt werden. Die heutigen Abschiebezentren als Lager zu identifizieren, ist deshalb gerechtfertigt. Solche Räume sind nicht verschwunden, sondern haben im ganzen so genannten Westen (und darüber hinaus) eine allgemeine Verbreitung erfahren. Ruft man sich Hannah Arendts Ursprünge totalitärer Herrschaft (1951) in Erinnerung, dann fällt auf, dass sie die Kolonialgeschichte der Lager kennt und das erste Auftauchen solcher Orte in Europa in der Einrichtung der Internierungslager nach dem Ersten Weltkrieg aufspürt. Interniert wurden hier Männer und Frauen, die aufgrund der Veränderungen der politischen Landkarte in Europa keine eindeutige Staatsbürgerschaft hatten: Apatrides, Staatenlose. Um auf Agambens Begriff des »nackten Lebens« zu kommen: Seine Arbeiten stellen eine Reihe von sehr brauchbaren Konzepten zur Verfügung, um die politische Struktur eines Lagers zu verstehen. Ich denke insbesondere an die Beschreibung der merkwürdigen Dialektik von Exklusion und Inklusion, die durch das Lager in Gang gesetzt wird. Ein Subjekt, das durch die Rechtsordnung nicht anerkannt wird (der »illegale Fremde«), wird durch diese Ordnung eingeschlossen (durch die »Inklusion« in der Internierungseinrichtung), um aus dem räumlichen Geltungsbereich, auf den diese Rechtsordnung sich bezieht, ausgeschlossen, ausgewiesen, abgeschoben zu werden. Dieser Beitrag Agambens ist sehr wichtig. Doch Agamben überbewertet den Ausnahmecharakter. Das Problem ist nämlich, dass die Herrschaftslogik, nach der das Lager funktioniert, auch an anderen gesellschaftlichen Orten anzutreffen ist, dass sie tatsächlich die gesamte Gesellschaft durchzieht. Luciano Ferrari Bravo kritisiert Agambens Konzept des »nackten Lebens«, weil es die Frage der Arbeitskraft ausklammert. Er fragt (in Dal fordismo alla globalizzazione, 2001), ob man nicht, um die Logik des Lagers zu verstehen, gerade solche Orte wie Ellis Island untersuchen sollte. Auch Paolo Virno weist (in Il ricordo del presente, 1999) darauf hin, dass das beste Beispiel, um Agambens Konzept zu verstehen, die Arbeitskraft ist, die Arbeitskraft als Potenzialität, wie Marx sie definierte. Solche Ansätze lenken die Aufmerksamkeit auf das grundlegende Verhältnis zwischen heutigen Internierungszentren und der Restrukturierung des Arbeitsmarkts im globalisierten Kapitalismus. Ein Abschiebezentrum ist eine Art Unterdruckkammer, die den Druck, der auf den Arbeitsmarkt wirkt, zerstreut. Diese Orte sind das andere Gesicht der neuen Flexibilität des Kapitalismus, sie sind Orte staatlicher Unterdrückung und eine allgemeine Metapher der despotischen Kontrolle über die Mobilität der Arbeitskraft. Die Despotie ist ein strukturelles Merkmal des »historischen Kapitalismus«. Für mich ist es wichtiger, in dieser Art über die Lager zu sprechen, als in Fortführung der Debatte über das »nackte Leben«. Natürlich ist das Lager ein gewalttätiger Akt der Beraubung, worauf Agamben hinweist. Doch diese Beraubung muss im Verhältnis zu Lebensweisen gesehen werden, die unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus hervorgebracht werden. Wenn, wie oft hervorgehoben wurde, der globalisierte Kapitalismus neue Formen der Flexibilität entstehen lässt, dann zeigen die Bewegungen der MigrantInnen ein subjektives Gesicht dieser Flexibilität. Zugleich werden die Migrationsbewegungen vom globalisierten Kapitalismus ausgebeutet, und Internierungszentren sind in diesem Ausbeutungssystem unverzichtbar. Yann Moulier Boutang hat in De l’esclavage au salariat (1998) darauf hingewiesen, dass Formen der unfreien und versklavten Arbeit historisch eine wesentliche Rolle für die Kapitalakkumulation gespielt haben – und sie immer noch spielen. Weit davon entfernt, Überbleibsel oder vorübergehende Erscheinungen zu sein, die die Moderne hinweggefegt hat oder hinwegfegen wird, sind diese Arbeitsregimes für die kapitalistische Entwicklung konstitutiv. Sie resultieren aus der Notwendigkeit, die Flucht der Arbeitskraft zu kontrollieren und einzuschränken. Der Versuch, die Kontrolle über die Mobilität zu erlangen, ist in dieser Perspektive der Antrieb des kapitalistischen Systems. Das Internierungszentrum heute erscheint als ein Moment in einer langen Reihe von Maßnahmen, die diesem Ziel dienen. Neilson: In deinem Buch Diritto di fuga (2001) unterstreichst du die Notwendigkeit, die Vorstellungen von (Staats-)Bürgerschaft und Bürgerrechten zu überprüfen, um die Migration heute zu verstehen. In Australien ist die Debatte um Bürgerschaft/Bürgerrechte durch die akademische cultural policy-Schule sehr präsent, die das Foucaultsche Konzept der Gouvernementalität weiterzuentwickeln versucht und eine Art intellektuelle Politikberatung für staatliche Institutionen betreibt. Das Feld wurde vom australischen Wissenschaftsrat als Schwerpunkt der Forschung definiert, in den die staatlichen Zuschüsse fließen. Die so genannten citizenship studies wurden zum Mainstream der Politikwissenschaft. Nach den Ereignissen um den Frachter Tampa begannen einige kritische Intellektuelle, das Konzept der Souveränität wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Die australische Regierung hatte wie erwähnt damit begonnen, Internierungslager im Ausland zu finanzieren, die neue Grenzgesetzgebung hatte bestimmte Territorien aus Australien ausgegliedert, und schließlich scheiterte nach zehn Jahren der offizielle »Versöhnungsprozess« mit den indigenen Gruppen, nachdem letztere mit einem neuen Ruf nach Souveränität aufgetreten waren. Mezzadra: Man muss, glaube ich, zwei Aspekte der Bürgerrechte unterscheiden. Der erste ist das Konzept der Bürgerrechte im formalen, institutionellen Sinn, der zweite sieht Bürgerrechte als Formen sozialer Praxis, in der politische und soziale Kräfte zusammenwirken, die die formalen Institutionen der Staatsbürgerschaft infrage stellen. Unter diesem zweiten Aspekt betrachtet, stellt sich mit der Frage der Bürgerrechte auch immer die der Subjektivität. Foucaults Arbeiten, die aufzeigen, wie Subjektivität aus einer Reihe disziplinärer Praktiken konstruiert wird, sind natürlich für eine Kritik der Subjektivität zentral. Doch bleibt die Frage, wie Subjektivität in die politische Theorie einzuführen ist. Das habe ich in Diritto di fuga durch eine radikale Neulektüre eines klassischen Texts versucht, nämlich Thomas Humphrey Marshalls Bürgerrechte und soziale Klassen (1949). Die Bürgerrechte im zweiten Sinn verweisen auf die Migration und auf die MigrantInnen, also auf Leute, die formal nicht als Bürgerinnen und Bürger in einem instituierten politischen Raum anerkannt sind. Migrationsbewegungen sind selbst eine soziale Praxis der Bürgerrechte, die in den vergangenen Jahren beachtlichen Druck auf die Beschränkungen formaler (Staats-)Bürgerschaft ausgeübt hat. In diesem Sinne ist »Bürgerrechte« ein Konzept, das erlaubt, nach den Auswirkungen solchen Drucks auf klassische politische Konzepte wie Souveränität zu fragen. Über Bürgerrechte zu sprechen, bedeutet also keinesfalls, nicht mehr über Souveränität zu sprechen. Vor allem aber ist »Bürgerrechte« das Konzept, das die Subjektivität der MigrantInnen in den Mittelpunkt der politischen Diskussion zu stellen erlaubt. Doch ist die Praxis der Bürgerrechte nicht auf die Migrationsbewegungen beschränkt. Die theoretische und politische Herausforderung besteht darin, die Verbindungen zwischen der Einforderung der Bürgerrechte, wie sie die Migrationsbewegungen vorbringen, und anderen Formen sozialer Praxis, die (formal) nicht als Einforderung von Bürgerrechten auftreten, aufzuzeigen. In sehr vorläufiger Art habe ich diese Verbindung mit dem Begriff der Flucht gefasst. Er bezeichnet das, was den subjektiven sozialen Praktiken der Migrationsbewegungen und Forderungen etwa in der Frauen- oder in der Arbeiterbewegung gemeinsam ist. Damit sollen keine Unterschiede nivelliert werden. Doch eine Verbindung zeigt sich, wenn wir die Mobilität der Arbeitskraft betrachten. Ich möchte noch einmal auf Moulier Boutang verweisen, der die subjektiven Praktiken der Mobilität der Arbeitskraft als den roten Faden herausarbeitet, der sich durch die Geschichte des Kapitalismus zieht. Wir kennen die intensive Debatte über die Flucht der Arbeiter aus den Fabriken, die in den siebziger Jahren geführt wurde, über die Verweigerung der Arbeit, auch in einem ganz banalen Sinn. Die Relevanz dieser Flucht aus der Fabrikdisziplin lässt sich auf der Ebene aktueller Strategien von Management, Kontrolle und Unternehmensorganisation wiederfinden, wie sie Luc Boltanski und Ève Chiapello in Le nouvel esprit du capitalisme (1999) beschreiben. Sie zeigen, wie »Flexibilität«, bevor es zum Zauberwort der Managementideologie wurde, in den siebziger Jahren für das kapitalistische Kommando als Problem auftauchte, nämlich in Gestalt der Mobilität der Arbeitskraft. Die Verweigerung der Frauen richtete sich gegen die Hausarbeit und die patriarchale Familie; es ging um subjektive Entscheidungen und die Aneignung der Mobilität. Die Kategorie der Flucht verbindet diese Praktiken mit der Einforderung der Bürgerrechte – mit dem Anspruch der MigrantInnen auf Selbstbestimmung über die eigenen Bewegungen. Neilson: Die Betonung dieser subjektiven Seite, der Mobilität, stellst du gegen die Tendenzen, Migration in einer vermeintlich objektiven Terminologie zu beschreiben, also etwa durch die push- und pull-Faktoren der Weltwirtschaft, durch demographische Ungleichgewichte etc. Ein wichtiger Aspekt der Objektivierung scheint mir auch der Multikulturalismus zu sein, der die Singularität der migrantischen Erfahrungen reduziert und der die MigrantInnen als RepräsentantInnen einer Kultur, einer Ethnizität oder Gemeinschaft einsetzt. In Australien war der Multikulturalismus seit den siebziger Jahren offizielle Staatsdoktrin. Wie lässt sich die Betonung der subjektiven Seite mit einer Kritik des Multikulturalismus verbinden? Mezzadra: Von der Subjektivität der MigrantInnen zu sprechen, ist sowohl theoretisch als auch politisch relevant. Theoretisch, weil die subjektiven Aspekte der Migration hervorzuheben, bedeutet, die Mainstreamdiskurse zu verlassen, die gerade diese Dimension ausschließen. Man muss von der subjektiven Seite sprechen, um die Entscheidungen zur Migration verstehen zu können, die Entscheidung, widrige Bedingungen an einem bestimmten Ort hinter sich zu lassen. Eine solche Herangehensweise platziert die Migration in den Kontext von Lebensgeschichten, der subjektive Kontext wird deutlich. Das erlaubt, von stereotypen Erzählungen wegzukommen, in denen die Entscheidung zur Migration gleichbedeutend ist mit der Suche nach Freiheit oder mit der Emanzipation. Manchmal ist das der Fall, manchmal nicht. Ein Beispiel: Viele Marokkanerinnen, die Ruba Salih in Italien interviewte (Gender in Transnationalism. Home, Longing and Belonging Among Moroccan Migrant Women, 2003), erzählen, dass sie sich zur Migration entschlossen, weil sie es nicht länger aushielten, in einer extrem patriarchalen Gesellschaft zu leben. In ihrem Fall wäre es berechtigt, über die Migration als Art der Emanzipation zu sprechen. Aber die Entscheidung für das Weggehen hat manchmal ganz banale Gründe, manchmal wirtschaftliche, manchmal existenzielle. Die subjektiven Motive wiegen genauso schwer wie solche, die mehr mit allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen zusammenhängen. Wenn ich die subjektiven Aspekte der Migration betone, dann nicht, um irgendeinen Subjektmythos wiederzuerrichten, eine cartesianische Subjektivität. Ich spreche von Subjektivationsprozessen im gleichen Sinn wie Foucault, zu ihnen gehören Leiden und Unterwerfung ebenso wie Glück. Um zu den eher politischen Fragen zu kommen: Es ist notwendig, sich einzugestehen, dass ein beachtlicher Teil der Solidarität mit MigrantInnen sie als Opfer behandelt, als Leute, die Hilfe und Unterstützung brauchen, Fürsorge oder Schutz. Ohne Zweifel treiben edle Motive eine solche Haltung an, aber sie zeigt auch eine gewisse Ambivalenz. Wenn wir von den subjektiven Aspekten der Migration ausgehen, sind wir eher in der Lage, den paternalistischen Blick abzulegen und die MigrantInnen als ProtagonistInnen in den gegenwärtigen Globalisierungsprozessen zu sehen. Was jetzt den Multikulturalismus angeht, kann man sicher sagen, dass es mit multikultureller Politik nicht allzu viele Erfahrungen in Europa gibt. Der Multikulturalismusdiskurs wurde aus Nordamerika importiert und die öffentliche Debatte hat sich immer sehr eng mit der um Migration verzahnt. Und wie in Nordamerika oder Australien treibt die Debatte ein bestimmter »weißer Fundamentalismus« an, der im Multikulturalismus etwas sieht, das bekämpft werden muss. In Italien haben wir beispielsweise Leute wie Giacomo Biffi, den katholischen Kardinal von Bologna, der findet, dass Einwanderer Christen sein müssen, oder Giovanni Sartori, der mehr oder weniger das Gleiche laizistisch ausdrückt und bestimmte Einwanderer, vor allem die aus »muslimischen Ländern«, als Bedrohung der europäischen Aufklärung ansieht. Angesichts einer Debatte auf diesem Niveau gibt es bei einigen Leuten als Reflex eine spontane Verteidigung des Multikulturalismus, vor allem bei der institutionellen Linken und ihrer Basis. Doch bleibt der Multikulturalismus auch in der Linken ambivalent. Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen MigrantInnen aufgefordert werden, »ihre« Kultur zu repräsentieren, beispielsweise wenn bei der Vorbereitung eines Fests der Vorschlag auftaucht, jede beteiligte »Kultur« solle einen Ort haben, an dem sie sich »ausdrückt«. Das stellt nicht nur verschiedene »Kulturen« an separierten Orten kalt, sondern kulturalisiert und ethnisiert die Leute. Wenn man beteiligte »einheimische« AktivistInnen aufforderte, das Gleiche zu tun, die eigene Kultur zu repräsentieren, würden sie verwirrt reagieren. In der Linken in Europa ist die Lektion der so genannten whiteness studies weithin nicht angekommen: »Weiß sein« ist eine zugeschriebene Identität und keine neutrale oder universale Position. Es gibt weiterhin die Tendenz, eine ethnisierte Partikularität zu identifizieren und sie dem »weißen« Europäer entgegenzustellen. Zudem gibt es die Tendenz, Fragen der kulturellen Anerkennung solchen des gesellschaftlichen Wohlergehens gegenüberzustellen. Eine solche Tendenz ist besonders in einer Zeit beunruhigend, da die Angriffe sich gegen den Wohlfahrtsstaat richten. Dabei geht es nicht um einen »Kampf um Anerkennung«. Ein interessantes Beispiel ist aus der Geschichte des Amts für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt/Main. Als das Amt geschaffen wurde, gingen andere Behörden in der Stadt dazu über, MigrantInnen dorthin zu schicken, auch wenn die Anliegen und Probleme ganz offensichtlich mit anderen Dingen zu tun hatten, mit Arbeit, Wohnen etc. Die Behörden gingen einfach von der Voraussetzung aus, dass MigrantInnen in erster Linie (wenn nicht überhaupt) nur »kulturelle« Probleme haben. Die Beschränktheiten multikultureller Politik zeigen sich, wenn es um das wirkliche Leben und die subjektiven Erfahrungen von MigrantInnen in Europa (und anderswo) geht. Multikulturalismus ist vor allem Identitätspolitik. Unter der Hegemonie des Multikulturalismus werden alle Aspekte und Probleme auf das Problem der Identität reduziert. Und in Europa wird Identität als Frage kultureller Zugehörigkeit begriffen, als etwas, das sich innerhalb definierter, offizieller geographischer Grenzen findet. Identität gilt als gegeben, nicht als geschaffen und veränderbar. Sandro Mezzadra ist Redakteur der Zeitschrift DeriveApprodi (Rom) und lehrt politische Ideengeschichte an der Universität Bologna. Brett Neilson ist Soziologe an der University of Western Sydney. Das Gespräch entstand im Januar in Bologna für die australische Zeitschrift Borderlands (2. Jg. Nr.1/ 2003, www.borderlandsejournal.adelaide.edu.au/vol2no1_2003/mezzadra_neilson.h…). Die redaktionell gekürzte Fassung des Gesprächs veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der Autoren; aus dem Englischen von Thomas Atzert. | sandro mezzadra und brett neilson | sandro mezzadra und brett neilson: | [] | webredaktion | 02.07.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/27/die-einforderung-der-zukunft |
Rückzug im Morgengrauen | Den Anfang machte Superintendent Athar Waheed. »Ich kann nicht irgendwen verhaften«, sagte der zweithöchste Polizist des Distrikts Gujranwala am Mittwoch der vergangenen Woche. »Diese Haftbefehle sind illegal. Die Polizei ist kein Spielzeug, das Politiker gegeneinander benutzen können.« Bis zum Sonntag folgten zahlreiche andere hochrangige Polizeioffiziere, Juristen und Verwaltungsbeamte seinem Beispiel, unter ihnen der Vizegeneralstaatsanwalt und der Generalinspekteur der Polizei der Provinz Punjab. Sie weigerten sich, Befehle auszuführen, oder traten zurück.
Deshalb musste Premierminister Yousuf Raza Gilani am Montagmorgen früh aufstehen. Bereits um 5.45 Uhr verkündete er im staatlichen Fernsehen, die Regierung werde die etwa 60 Richter wieder einsetzen, die der Militärherrscher Pervez Musharraf im November 2007 entlassen hatte, weil sie ihm als politisch unzuverlässig erschienen. Überdies sollen die mehr als 1 000 Oppositionellen, die in der Woche zuvor verhaftet worden waren, freigelassen werden.
Am Montag sollte in der Hauptstadt Islamabad die Abschlusskundgebung des »Langen Marsches« stattfinden, zu dem die Opposition aufgerufen hatte. Ende Februar hatte das Oberste Gericht dem ehemaligen Premierminister Nawaz Sharif und dessen Bruder Shahbaz Sharif die Ausübung öffentlicher Ämter untersagt. Die von Shahbaz Sharif geführte Regierung der Provinz Punjab musste zurücktreten, es kam zu einem Machtkampf zwischen den beiden größten Parteien, der Pakistan Muslim League (PML-N) Sharifs und der Pakistan People’s Party (PPP) von Präsident Asif Ali Zardari. In den Provinzen Punjab und Sindh wurden alle politischen Versammlungen verboten. Nachdem die Regierung alles getan hatte, um eine Eskalation herbeizuführen, erfüllte sie die Hauptforderungen der Protestbewegung und vermied im letzten Moment einen Showdown, bei dem es womöglich an zugriffswilligen Uniformierten gefehlt hätte. Der Grund für den plötzlichen Sinneswandel war offenbar vor allem die Befürchtung, ansonsten die Kontrolle über den Staatsapparat zu verlieren. Überdies hatten sich auch hohe Politiker der PPP von Zardari distanziert.
Diese Wendung erscheint zunächst erfreulich. Die Wiedereinsetzung der entlassenen Richter war die wichtigste Forderung der Demokratiebewegung. Zur Schaffung rechtsstaatlicher Verhältnisse wäre weitaus mehr erforderlich, nicht zuletzt eine Säkularisierung der Gesetze und die Auflösung der Sharia-Gerichte. Doch die Rücknahme der willkürlichen Entlassung ist ein erster Schritt. Überdies gilt der höchste Richter Iftikhar Chaudhry als unabhängig, er verärgerte die Islamisten, weil er Regelungen der Sharia in Frage stellte, und brachte den Sicherheitsapparat gegen sich auf, weil er nach Menschen fahndete, die im Polizei- oder Militärgewahrsam »verschwunden« sind.
Doch in der derzeitigen politischen Konstellation ist die Niederlage der Regierung auch ein Sieg der religiösen Rechten. Der »Lange Marsch« war ursprünglich eine Initiative der Demokratiebewegung, beteiligt waren aber auch islamistische Parteien wie die Jamiat-e-Islami, und die Führung übernahm in der Schlussphase faktisch die PMN-L. Sharif ist eher ein Rechtskonservativer als ein Islamist, doch wollte er im Jahr 1998 der Sharia vollständige Geltung verschaffen und schlug ein Gesetz vor, das die Regierung verpflichtet hätte, die Pakistanis zum fünfmaligen täglichen Gebet zu zwingen. Zudem können viele Pakistanis nicht recht glauben, dass urplötzlich bei so vielen Beamten ein demokratisches Bewusstsein erwacht sein soll, nachdem die Betreffenden unzählige andere Gelegenheiten, sich für den Rechtsstaat einzusetzen, verstreichen ließen. Möglicherweise handelte es sich zumindest teilweise um einen stillen Putsch, mit dem Beamte eine ungeliebte Regierung schwächen oder stürzen wollen.
Auch die PPP ist keine säkulare Partei. Sie koalierte mit den Islamisten und repräsentiert reaktionäre Großgrundbesitzer und Clanführer. Zwei Politiker der Partei Zardaris sollten sich eigentlich wegen der Ermordung von fünf Frauen verantworten müssen, die sich einer Zwangsheirat widersetzt hatten. Vor sieben Monaten dokumentierte die Asian Human Rights Commission den Fall, geschehen ist seitdem nichts.
Der Konflikt zwischen den beiden großen Parteien ist vor allem ein Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen der Oligarchie, die über Klientelnetze ihre Anhänger mobilisieren, vom Straßenhändler bis zum Staatsanwalt. Es gibt zwar keinen eindeutigen Beweis dafür, dass Zardari Einfluss auf das Oberste Gericht nahm. Dessen Entscheidung disqualifizierte jedoch seinen wichtigsten Konkurrenten und verschaffte ihm die Kontrolle über den nun von einem PPP-Gouverneur regierten Punjab, die am stärksten industrialisierte und bevölkerungsreichste Provinz Pakistans. Einen solchen Affront konnte die PMN-L nicht hinnehmen.
Gänzlich unberechtigt war das Urteil nicht. Shahbaz Sharif wurde seines Amtes wegen Kreditbetrugs enthoben, ein nach Maßstäben der pakistanischen Politik allerdings eher geringfügiges Vergehen. Die Beteiligung hoher Politiker an Gewaltverbrechen ist nicht selten. Zardari, der wegen seiner Anteilnahme an den Geschäften anderer »Mister Ten Percent« genannt wird, ließ auch einmal einem Schuldner eine Bombe mit Fernzündung umschnallen, um dessen Zahlungsmoral zu heben.
Nawaz Sharif, damals Premierminister, untersagte im Oktober 1999 einem Zivilflugzeug die Landung in Pakistan, weil neben 200 Passagieren auch Generalstabschef Pervez Musharraf an Bord war, den er nicht mehr ins Land lassen wollte. Sharif ließ die Landebahn in Karachi mit Lastwagen blockieren, obwohl der Treibstoff knapp wurde. Das Flugzeug konnte auf einem anderen pakistanischen Flughafen sicher landen, das Militär nutzte die Gelegenheit für einen Putsch. Sharif wurde wegen »Entführung« vor einem der »antiterroristischen« Sondergerichte verurteilt, die unter seiner Herrschaft eingerichtet worden waren.
Es gilt als sicher, dass Chaudhry eine Amnestievereinbarung, die Zardari mit Musharraf ausgehandelt hat, widerrufen wird. Damit wäre wohl auch die Präsidentschaftswahl ungültig, denn die Kandidatur Zardaris war nur durch diese Vereinbarung möglich. Sharif muss jedoch damit rechnen, dass Chaudhry das Urteil gegen ihn und seinen Bruder bestätigt. Unklar ist, ob die Chance, sich als Anführer der Demokratiebewegung zu profilieren, so verlockend war, dass Sharif trotz der Risiken nicht widerstehen konnte, oder ob der durchtriebene Politiker bereits eine Idee hat, wie er die Richter kaltstellen kann, wenn sie ihm gefährlich werden. Die Militärführung beschränkte sich darauf, die Verhandlungen zwischen den Parteispitzen zu überwachen. Seit Jahrzehnten folgt die pakistanische Politik einem einfachen Muster. Hat eine zivile Regierung sich hinreichend diskreditiert, übernimmt das Militär die Macht. Ist der Militärherrscher allzu unbeliebt geworden, ziehen sich die Offiziere zurück, überwachen jedoch weiterhin die Tätigkeit der Regierung. Präsident Zardari hat sich schneller diskreditiert, als selbst die meisten seiner Feinde vermutet hätten. Doch die Erinnerung an Musharraf, dessen Rücktritt im August vergangenen Jahres mit Freudentänzen auf den Straßen gefeiert wurde, ist wohl noch zu frisch, als dass die Generäle sofort wieder einen der ihren an die Macht bringen wollten. | Jörn Schulz | Jörn Schulz: Der Machtkampf in Pakistan | [] | Ausland | 19.03.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/12/rueckzug-im-morgengrauen?page=0%2C%2C3 |
Die heimgesuchte Kernfamilie | Die neue Clarice Starling. Der FBI-Agentin Lee Harker (Maika Monroe) ist nicht wohl zumute Die Urteile der Fachwelt fallen alles andere als positiv aus. So wies etwa das Cinematic Serial Killer Project, eine Forschungsgruppe der Chicago School of Professional Psychology, im September in einem kurzen Arbeitsbericht darauf hin, dass Filme über Serienmörder zur Legendenbildung beitrügen: Dass solche Täter ausschließlich weiß, männlich, psychopathisch, lustgetrieben oder auf eine bestimmte Mordwaffe fixiert seien, wie es in Spielfilmen überwiegend dargestellt werde, entspreche nicht den Tatsachen. Das Magazin Psychology Today kritisiert das Genre des Serienkillerfilms dafür, der Öffentlichkeit »mit sensationsgierigen, stereotypen Darstellungen« ein falsches Bild zu vermitteln. Es hält fest: »Trotz der in jüngster Zeit gewachsenen Erkenntnisse über Serienmörder halten sich viele gesellschaftliche Mythen über diese hartnäckig. Dazu gehören: Sie sind böse Genies (die meisten sind von durchschnittlicher Intelligenz); sie sind alle Männer (ungefähr 15 Prozent der Serienmörder sind Frauen); und sie sind dysfunktionale Einzelgänger (viele haben Familien und genießen in ihrem Umfeld hohes Ansehen).« Die Haupthandlung von »Longlegs« spielt in den neunziger Jahren, in denen »Das Schweigen der Lämmer« in die Kinos kam, und die Ausstattung des Films ist durchaus zeitgetreu. Solche Vorwürfe muss sich »Longlegs« nicht gefallen lassen. Geht es den Kritikern vom psychologischen Fach vorwiegend um die fehlende Tatsachentreue filmischer Darstellungen von Serienkillern, so wartet der Film des Regisseurs Osgood »Oz« Perkins mit einem denkbar unrealistischen Mehrfachmörder auf, dessen Erscheinung und Fähigkeiten wirken, als seien sie nicht von dieser Welt. Longlegs, so der Name dieser unheimlichen, von Nicolas Cage gespielten Figur, sorgt auf rätselhafte Weise dafür, dass Familienväter im trauten Heim ihre Kinder und Frauen auf grausame Weise ermorden und sich dann selbst töten. Er hinterlässt dabei weder Spuren seiner DNA noch eines gewaltsamen Eindringens in die Häuser. Doch stets findet sich am Ort des Blutbads ein Zettel, auf dem seltsame Symbole und der Name »Longlegs« stehen. Die junge FBI-Agentin Lee Harker (Maika Monroe, bekannt aus »It Follows«) wird wegen ihrer Intuition, die ebenfalls nicht von dieser Welt zu sein scheint, zu den Ermittlungen im Fall Longlegs hinzugezogen. Im Lauf der Geschichte, die Perkins in drei Kapiteln erzählt, tut sie, was Beamte in solchen Filmen eben tun müssen: Sie begutachtet Fotos verstümmelter Leichen, besichtigt finstere Tatorte, entschlüsselt Symbole, löst Zahlenrätsel und begegnet dem Bösewicht schließlich von Angesicht zu Angesicht – womit die Geschichte allerdings längst nicht endet, weil das Grauen der Agentin nähersteht, als diese und die Zuschauer anfangs ahnen. Junge FBI-Agentin jagt Serienkiller – diese Prämisse ist aus »Das Schweigen der Lämmer« bekannt. In dem mit allerlei Oscars ausgezeichneten und auch kommerziell überaus erfolgreichen Film von 1991 muss Jodie Foster als Agentin Clarice Starling das Morden des Serientäters »Buffalo Bill« (Ted Levine) beenden. Sie erhält dabei Hilfe von dem ebenso genialen wie furchterregenden Psychiater Hannibal Lecter (Anthony Hopkins), der im tristen Keller einer forensischen Institution eingesperrt ist, weil zu seinem bevorzugten Speiseplan neben Favabohnen und Chianti auch menschliche Leber gehört. Regisseur Perkins macht keinen Hehl aus dem großen Vorbild. Die Haupthandlung von »Longlegs« spielt in den neunziger Jahren, in denen »Das Schweigen der Lämmer« in die Kinos kam, und die Ausstattung des Films ist durchaus zeitgetreu. Wie Agentin Starling muss sich Agentin Harker im männlich dominierten FBI beweisen. Und wie Starling muss sich Harker ihrem Kindheitstrauma stellen, das anhand des obskuren Sozialverhaltens und der seltsamen Beziehung der Figur zu ihrer Mutter (Alicia Witt) von Beginn an angedeutet wird. Doch während die von Jodie Foster gespielte Beamtin sich in einer Art therapeutischer Sitzung mit dem kannibalischen Psychiater Lecter ihren unaufgelösten inneren Konflikt von der Seele redet, helfen in »Longlegs« keine Worte und auch keine Gebete mehr, an die Mutter Harker ihre ermittelnde Tochter wiederholt erinnert. Waffengewalt setzt dem inneren und äußeren Schrecken ein Ende. Der entscheidende Unterschied zwischen »Das Schweigen der Lämmer« und »Longlegs« liegt jedoch in der Ausgestaltung der Figur des Serienkillers. Buffalo Bill, zutiefst verunsichert in seiner geschlechtlichen Zugehörigkeit und seinem sexuellen Begehren, mordet auf der Suche nach seiner Persönlichkeit – dass es sich hierbei um eine Pathologisierung gesellschaftlicher Minderheiten handelt, wurde von Homosexuellen- und Trans-Gruppen kritisiert, vom Autor der Romanvorlage, Thomas Harris, jedoch bestritten. Longlegs hingegen personifiziert das unerklärliche Böse, das die vermeintliche Idylle der US-amerikanischen Kernfamilie heimsucht. Damit ähnelt er eher un- beziehungsweise übermenschlichen Horrorfiguren wie Michael Myers und Freddy Krueger. Menschlich (und gut) ist lediglich sein Musikgeschmack: Longlegs steht auf T. Rex und Lou Reed. Dass man es also weitaus mehr mit einem Horrorfilm als einem Polizeithriller zu tun hat, macht Perkins auch mit anderen Elementen deutlich: Diabolische Schemen tauchen im Hintergrund auf und verschwinden wieder, rot glühende Augen starren unter schwarzen Schleiern hervor, blutige Visionen blitzen in der Handlung auf. Zudem spricht Longlegs im Zusammenhang mit seinen Taten von seinem »Freund im Keller«. Bei diesem handelt es sich – die Indizien verdichten sich auch dank der Erwähnung einschlägiger Stellen aus der Offenbarung des Johannes (»Ich sah aus dem Meer ein Tier aufsteigen, das zehn Hörner und sieben Köpfe hatte und auf seinen Hörnern zehn Diademe«) – wohl um den Leibhaftigen selbst. Die okkult-satanistischen Elemente spiegeln dabei den christlich-religiösen Wahnsinn, der in den Gebetsaufforderungen der Mutter der weiblichen Hauptfigur und in den Fernsehpredigern aufscheint, deren Sendungen in Wohnzimmern verfolgt werden. Perkins, der bereits für seinen Film »The Blackcoat’s Daughter« von 2015 gute Kritiken erhielt, überzeugt mit »Longlegs« auch als Horror-Stilist. Die Tongestaltung zehrt mal unterschwellig, mal laut an den Nerven. Die Rückblenden im kleinen 4:3-Bildformat erzeugen eine angestaubt-drückende Atmosphäre. Der magische Realismus der großformatig gedrehten Haupthandlung entsteht vorwiegend durch die exzellente Kameraarbeit von Andrés Arochi. Die Kamera lauert, schleicht sich an, verfolgt oder verharrt auch zwischendurch zu lange auf Details, so dass sich der Eindruck einstellt, die Bilder enthielten mehr, als sie zeigen. Maika Monroe entwickelt in der Rolle der verhaltensgestörten Polizistin ihre eigene unheimliche Ausstrahlung. Dieses »Mehr« ist der eigentliche Schrecken des Films: Zu sehen gibt es schreckliche Häuser, schreckliche Wälder, schreckliche Einöde, schreckliche Väter, schreckliche Mütter, schreckliche Kindergeburtstage, schreckliche Puppen und nicht zuletzt einen schrecklichen Serienmörder. Erst nach etwa 45 Minuten zeigt Perkins den zuvor nur in Detailansicht präsentierten Longlegs komplett. Nicolas Cage spielt die Figur in dem für ihn typischen Overacting, grotesk überzeichnet und mit einer enervierenden Singsangstimme. Bestens zur Seite steht ihm Maika Monroe, die in der Rolle der verhaltensgestörten Polizistin ihre eigene unheimliche Ausstrahlung entwickelt. Der Schrecken steckt darüber hinaus in den familiären Beziehungen, die der Film entfaltet. Das wird schon sehr früh deutlich: In einer Szene unterhält sich Harker mit ihrem Vorgesetzten, Agent Carter (Blair Underwood), einem Familienvater, über die Taten der Manson Family, deren Mitglieder auf Geheiß ihres Anführers Charles Manson Ende der Sechziger eine Reihe brutaler Morde verübten. Sie stellt dabei fest: »Manson hatte Komplizen. Er hatte eine Familie.« Familie als Komplizenschaft – diese Feststellung erweist sich im Verlauf der Handlung als überaus bedeutsam. Eine besondere familiäre Beziehung kann übrigens auch Regisseur Osgood Perkins vorweisen: Er ist der Sohn von Anthony Perkins, der in »Psycho« aus dem Jahr 1960 die Figur des Norman Bates spielte – einen der bekanntesten Serienmörder der Filmgeschichte. Longlegs (USA 2024). Buch und Regie: Osgood Perkins. Darsteller: Maika Monroe, Nicolas Cage, Blair Underwood, Alicia Witt. Filmstart: 8. August | Markus Ströhlein | Markus Ströhlein: Der Horrorfilm »Longlegs« ist eine Hommage an »Das Schweigen der Lämmer« | [
"Kino",
"Film",
"Krimi",
"Thriller",
"Horror",
"Nicolas Cage"
] | dschungel | 30.07.2024 | https://jungle.world//artikel/2024/31/horrorfilm-longlegs-schweigen-der-laemmer-die-heimgesuchte-kernfamilie?page=0%2C%2C0 |
Küssen verboten | Quietschige Stimmen, wüste Grimassen, ständiges Geschrei, Gezappel und schwindelerregendes buntes Durcheinander – es gibt sicher genug Gründe, um kein Fan von Animationsfilmen für Kinder zu sein. Vielleicht musste auch Noura bint Mohammed al-Kaabi schon viel zu oft nervtötende Filme mit dem eigenen oder fremdem Nachwuchs ansehen. Persönliche Abneigung dürfte dennoch nicht den Ausschlag für das jüngste Verbot eines Animationsfilms gegeben haben, das sie schließlich nicht ihren Kindern, sondern einem ganzen Staat verordnete: Al-Kaabi ist seit Juli 2020 Ministerin für Kultur und Jugend der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Die Medienaufsichtsbehörde ihres Ministeriums twitterte am Montag ein rot eingekreistes und durchgestrichenes Porträt der Hauptfigur Buzz Lightyear aus dem Animationsfilm »Lightyear« und schrieb, der Film sei »nicht für die öffentliche Vorführung in Kinos in den VAE lizenziert, da er gegen die Medieninhaltsstandards des Landes verstößt«. Die Behörde bestätigte auf Nachfrage von Twitter-Nutzern, dass alle Filme, die landesweit in Kinos gezeigt werden sollen, vor der öffentlichen Vorführung einer Bewertung unterzogen würden, um die »Sicherheit der in Umlauf gebrachten Inhalte gemäß der entsprechenden Altersklassifizierung zu gewährleisten«. Werden in dem Raumfahrtabenteuer »Lightyear« etwa Menschen ausgepeitscht, gekreuzigt, exekutiert oder werden ihnen Gliedmaßen amputiert, wie es im Strafrecht der VAE für bestimmte Vergehen – etwa vor- oder außerehelicher Sex – vorgesehen ist? Nein. Die Action im Film ist natürlich viel harmloser als die Realität in dem autoritären Sharia-Staatenbund. Vermutet wird, dass die Behörde Anstoß an einem Kuss zwischen der Filmfigur Alisha Hawthorne und einer anderen weiblichen Figur genommen hat, mit der diese in einer Beziehung lebt. Laut Strafgesetz sind in den VAE homosexuelle Handlungen strafbar, allerdings nur die zwischen Männern. Dass (homosexuelles) weibliches Begehren und Sexualität in der misogynen Gesellschaft überhaupt als solche anerkannt werden, mag da fast als Fortschritt gelten. Es tut sich also etwas in al-Kaabis VAE. Eine erste Astronautin haben die VAE mit Noura al-Matrooshi seit 2021 auch. Nur beim Küssen anderer Raumfahrerinnen darf sie sich wohl noch nicht filmen lassen. | Nicole Tomasek | Nicole Tomasek: Das Jugendministerium der VAE unter Noura bint Mohammed al-Kaabi verbietet einen Kinderfilm | [
"VAE"
] | Hotspot | 16.06.2022 | https://jungle.world//artikel/2022/24/kuessen-verboten |
Kein Papier ist auch keine Lösung | Nicht links, nicht rechts, sondern vorne und dabei auch noch totaaaal engagiert und transparent und überhaupt: Das alles sollte sie sein, die neue orangefarbene Partei, die vor ein paar Jahren gegründet wurde. Ein paar gewonnene und ein paar mehr verlorene Wahlen später zeigte sich, dass ein bisschen auf Twitter herumzunörgeln und in innerstädtischen Fußgängerzonen Tapeziertische aufzubauen nicht ganz für massenhafte Wählereuphorie reicht. Zumal dann nicht, wenn die Abgeordneten der Partei unermüdlich für Skandale und Skandälchen sorgen. Ein besonders putziger Eklat ereignete sich vor rund einem Jahr, als der NRW-Landtagsabgeordnete Robert Stein Gebühren für ein rund sechs Wochen zu spät zurückgebrachtes Stadtbücherei-Buch nicht zahlen wollte und auf offiziellem Briefpapier der Partei erklärte, die Mahnpraxis sei »unmenschlich«. Jetzt hat der Kreistag Waldeck-Frankenberg mit dem hippen Politik-2.0-Stil der Piraten zu tun bekommen: Sascha Brandhoff, politischer Geschäftsführer des Landesverbandes Hessen und Abgeordneter in besagtem Kreistag, hat offenbar keine Lust mehr auf die Volksvertreterei. Zu den letzten Sitzungen des waldeck-frankenbergschen Parlaments war er schon nicht mehr erschienen, was irgendwann dazu führte, dass man, also die Verwaltung, nach ihm suchte, um zu hören, was denn los sei. Und feststellte, dass der Mann weggezogen war. Per E-Mail teilte er dann mit, dass er sein Mandat niederlege – sein Nachrücker kann den freigewordenen Platz allerdings nicht besetzen, weil ein formelles Rücktrittschreiben erforderlich ist, auf das man in Waldeck-Dingens bislang vergebens wartete. Vielleicht kann dem unwilligen Abgeordneten ja Robert Stein ein bisschen offizielles NRW-Landtagsbriefpapier ausleihen. | Elke Wittich | Elke Wittich: Das Medium | [] | dschungel | 11.07.2013 | https://jungle.world//artikel/2013/28/kein-papier-ist-auch-keine-loesung?page=0%2C%2C0 |
Nachrichten aus der Garage | Zwei Monate nach der Übernahme der Deutschen Lehrerzeitung (DLZ) durch den Reinhardt Becker Verlag aus Velten schien im Dezember letzten Jahres das Traditionsblatt vor dem Aus zu stehen (Jungle World berichtete). Nachdem der brandenburgische Verleger weder Gehälter noch den Postvertrieb bezahlt hatte, wurde die Zeitung nicht mehr ausgeliefert. Anfang Januar flatterte den Abonnenten der DLZ nun eine neue Ausgabe in die Briefkästen. Das frühe Revival der Zeitung läßt sich leicht erklären. Bei der angeblich neuen Nummer handelt es sich jedoch um die Dezember-Ausgabe, die von den Mitarbeitern zwar noch fertiggestellt, wegen der ausstehenden Gehälter aber nicht mehr in Druck gegeben wurde. In den Besitz der Druckvorlagen gelangte Becker vermutlich durch einen freien Mitarbeiter. Ihm wäre damit eine aussichtsreiche Karriere im Hause Becker so gut wie sicher, gäbe es überhaupt ein solches Verlagshaus. Bislang residiert der Kleinverlag in einer ausgebauten Garage in Velten bei Berlin. Wegen unbezahlter Mietrechnungen hat Becker in den ehemaligen Redaktionsräumen der DLZ im Medienzentrum Treptower Park mittlerweile Hausverbot. In der nun erschienenen Ausgabe wird weder der Konflikt noch die Tatsache erwähnt, daß die im Impressum aufgeführten Redakteure nicht mehr für die DLZ arbeiten, sondern gegen den neuen Verleger vor dem Arbeitsgericht klagen. Becker kündigt dagegen in seinem Editorial für Ende des Monats eine "Jubiläumsausgabe" zum 40jährigen Bestehen der DLZ an. Die geplante Jubelnummer allerdings wird der Kleinverleger in Heimarbeit selbst vollschreiben müssen. | : | [] | dschungel | 15.01.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/03/nachrichten-aus-der-garage?page=0%2C%2C3 |
|
»Die Natur kennt keine Moral« | Haben Sie den Film »Die Reise der Pinguine« schon gesehen? Nein, ich habe bisher nur davon gehört, auch davon, dass die Bibelschwinger in den USA ihn lieben. Können Sie sich das erklären? Sind Pinguine wirklich solche aufopfernden, treuen Familientiere, als die sie infolge des Films von christlichen Fundamentalisten in den USA bewundert werden? Ich weiß nicht, wie die Pinguine in dem Film dargestellt werden, aber die Forschung hat einige Dinge zu Tage befördert, wonach klar sein dürfte, dass Pinguine nicht unbedingt einem christlich-fundamentalistischen Weltbild entsprechen. In einem Zoo in Bremerhaven wurde beispielsweise Homosexualität bei Pinguinen festgestellt. Außerdem ist es eine der wenigen Tierarten, bei der so etwas wie Prostitution nachgewiesen wurde. Adéliepinguine, das ist eine kleinwüchsige Art, die an der Antarktis lebt, bauen kleine Nester aus Steinchen. Es gibt allerdings Populationen, die an Stränden leben, wo ein Mangel an solchen Steinen herrscht. Da machen die Weibchen folgendes: Sie lassen sich von dem Pinguinmännchen ihrer Wahl begatten, und nebenher bandeln sie mit anderen Männchen an. Aber nur in der Absicht, von denen Steinchen zu bekommen, die sie dann mit nach Hause zu ihrem Gatten nehmen. Also ein eindeutiger Fall von Sexualität in Spekulation auf materielle Vorteile. Das kann Gott doch nicht gewollt haben! Man kann ganz grundsätzlich sagen: Das alte Argument, irgendetwas sei wider die Natur, ist völliger Unsinn. Durch die Zunahme der Feldforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als immer mehr Forscher in unwegbaren Gebieten die Tiere genau beobachtet haben, ist eine Behauptung nach der anderen widerlegt worden. Es gibt sehr wohl Homosexualität und Masturbation in der Tierwelt, ja, es gibt eigentlich jede Variante der Sexualität, die man sich nur vorstellen kann. Und die Sexualität der Tiere dient auch beileibe nicht nur der Fortpflanzung. Sie hat auch eine ganz starke soziale Komponente. Inwiefern? Einerseits geht es um Bindungen, die so gepflegt werden, andererseits auch um Hierarchien. Bei Pavianen zum Beispiel gehört es zum Alltag, dass sie sich gegenseitig aufreiten. Das ist eine Dominanzgeste, die zwischen beiden Geschlechtern stattfindet und so aussieht wie ein kurzer Sexualakt, und die dazu dient, Hierarchiefragen innerhalb der Gruppe zu klären. Ist die Natur denn moralisch völlig verkommen? Der naturalistische Trugschluss ist in jeder Hinsicht Quatsch. Die Natur kennt keine Moral, und sie sich als Vorbild zu nehmen, egal, ob das in einem Nazi-Sinne geschieht, also dass der Stärkere den Schwächeren vernichten oder dominieren müsse, oder im Sinne von Veganern und Tierrechtlern, die meinen, alle müssten ganz furchtbar lieb zueinander sein, das ist alles Bullshit. Aus der Natur lässt sich so ziemlich alles und immer auch das Gegenteil herleiten. Gottesanbeterinnen fressen nach dem Sexualakt ihr Männchen auf, das sollte man sich auch nicht unbedingt zum Vorbild nehmen, denke ich. Die Natur steht für sich. Wie erklären Sie sich die heftige Debatte in den USA, warum fahren die Evangelikalen so sehr auf die Pinguine ab? Ich habe gelesen, dass da auch fickende Pinguine zu sehen sind. Vielleicht ist das für diese armen Leute endlich mal die Chance, etwas Sex im Kino zu sehen. Was wäre denn für bibeltreue Konservative ein besseres Maskottchen? Vielleicht Elefanten? Die gelten ja als schwerfällig und beharrlich. Aber dann müssten die erst mal das Matriarchat einführen, denn die Bullen haben bei den Elefanten wenig zu sagen. Die Herden werden von alten erfahrenen Weibchen geführt. Gerade gestern war ich im Zoo von Tel Aviv und habe durch Zufall das Vorspiel eines Sexualaktes bei Elefanten gesehen, und ich fürchte, allein der Anblick würde fromme Gemüter heftig erschüttern. Es wurde auch schon mal beobachtet, dass ein Elefant mit Hilfe seines Rüssels masturbiert hat. Warum eignen sich Pinguine so gut als Kassenschlager? Pinguine sind aufrecht gehend und erinnern so an Menschen, auch durch diese Art »Frack«, und es sind einfach unglaublich süße Vögel. Ich habe auf den Falklandinseln einmal Tage inmitten einer riesigen Pinguinkolonie verbracht und war sehr beeindruckt davon, wie sich diese Tierchen abrackern. Die führen ein so wahnsinnig hartes Leben. Wie die da die Klippen runterklettern auf ihren zwei Watschelfüßen und dann erst einmal eine Schar Seelöwen durchtauchen müssen, die sie fressen wollen, um dann 300 Kilometer zu irgendwelchen Fischgründen zu schwimmen und wieder zurück, die Klippen wieder hoch, während in der Zwischenzeit Raubmöwen auf ihr einziges Junges lauern, das sie dann füttern müssen – und das Tag für Tag, das hat mir einigen Respekt abgenötigt. Aber ein christlicher Fundamentalist bin ich dadurch nicht geworden. Finden Sie es problematisch, dass Pinguine so vermenschlicht werden? Ich bin kein Fan von Anthropomorphisierungen, aber wenn es den Tieren zugute kommt und sie in Ruhe gelassen werden und es dazu führt, dass die Menschen einen gewissen Respekt vor der Natur entwickeln, dann finde ich das in Ordnung. Es ist doch schön, dass sich das Verhältnis der Menschen gegenüber diesen Tieren so positiv geändert hat. Das war ja nicht immer so. Bevor in Pennsylvania Erdöl entdeckt wurde, gehörten Pinguine zu den Tieren, mit denen in Europa die Lampen brannten und die Maschinen geschmiert wurden. Die sind zu Millionen eingekocht worden. Auf den Falklandinseln habe ich noch die alten Kessel gesehen, in denen man die Vögel damals gekocht hat. Ist es denn grundsätzlich die Nähe zum Menschen, die bestimmte Tiere so beliebt macht? Beim Affen ist es die Nähe, beim Hund – ich bin selbst Hundebesitzer – ist es einfach so, dass es sonst kein Tier gibt, das sich so stark für Menschen interessiert. Beim Delphin ist es das ewige Lächeln, das ihm ins Gesicht geschrieben ist. Ist der Delphin denn ein lustiger Typ? Delphine sind sozial nicht zu empfehlen. Die sind ziemlich brutal untereinander und begehen Massenvergewaltigungen. Können Sie sich vorstellen, dass der Film in Deutschland eine ähnliche Debatte auslösen wird? Das kann ich nicht sagen. Die Evangelikalen haben in Deutschland ja nicht so eine Bedeutung, und in sexueller Hinsicht – in anderen Bereichen ist es andersherum – ist man hier ja etwas weniger verklemmt. Ich denke, der Film wird einfach Erfolg haben als schöner Tierfilm. Ich werde ihn mir auch ansehen. Der Journalist Michael Miersch ist Tierfilmer und Autor des Lexikons »Das bizarre Sexualleben der Tiere« (Eichborn 1999). Gemeinsam mit Dirk Maxeiner bestreitet er eine wöchentliche Kolumne in der Tageszeitung Die Welt. | Ivo Bozic | Ivo Bozic: | [] | dschungel | 12.10.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/41/die-natur-kennt-keine-moral?page=0%2C%2C2 |
»Die Opfer haben keine Priorität« | Álvaro Jiménez ist der Direktor der Campaña Colombiana Contra Minas (CCCM) In fast allen der 32 Verwaltungsbezirke Kolumbiens liegen Minen. Niemand weiß, wie viele es sind. Im vergangenen Jahr wurden zwei Pilotprojekte zur gemeinsamen Minenräumung von der Armee und der Guerilla Farc initiiert. War diese vertrauensbildende Maßnahme ein Erfolg? Ja, das Ziel, Vertrauen zwischen Armee und Farc zu schaffen, wurde genauso erreicht wie das, Vertrauen in der Bevölkerung für den Friedensprozess aufzubauen. Parallel dazu wurde die Hoffnung gesät, dass es möglich ist, Dörfer und auch ganze Regionen von Minen zu befreien. Daran haben viele Menschen lange Zeit genauso wenig geglaubt wie daran, dass Armee und Farc wirklich zusammenarbeiten können. Dass es möglich ist, hat sich aber sowohl in Orejón, einem Dorf im Verwaltungsbezirk Antioquia, als auch in Santa Helena in Meta gezeigt und wurde landesweit positiv zur Kenntnis genommen. Was lässt sich aus dem erfolgreichen Pilotprojekt lernen? Die Minen sind ein gravierendes Problem für die Bevölkerung in der Region, aber nicht das einzige. Die Bauern in der Region haben ihre Probleme klar benannt: das Fehlen von Straßen, so dass Produkte nicht zum nächsten Markt transportiert werden können, das Fehlen von staatlicher Präsenz, von Bildungs- wie Gesundheitseinrichtungen. Sie fordern mehr staatliche Unterstützung. So hat das Pilotprojekt größere Tragweite bekommen, denn nun geht es in beiden Regionen darum, den sozialen Wandel voranzutreiben. Die Postkonfliktphase hat dort schon begonnen. Waren die Farc wirklich in der Lage, den Experten der Armee und der norwegischen Minenräumorganisation People’s Aid detaillierte Informationen über die Position von Minen zur Verfügung zu stellen? Ja, das Farc-Kommando war gut vorbereitet und das Pilotprojekt hat dafür gesorgt, dass sich die Lebensqualität für die Zivilbevölkerung in der Region verbessert hat. Die Leute können sich sicherer in ihrem Dorf und dessen Umgebung bewegen, es war möglich, mit Armee und Farc über ihre Situation zu diskutieren und über die eigene Zukunft nachzudenken. Das sorgt für einen Schub. Waren die Erwartungen in den beiden Pilotregionen hoch? Es gab viele Leute, die gehofft haben, mit der Minenräumung würden sich alle ihre Probleme von heute auf morgen lösen. Das ist vermessen, aber auch kolumbianisch. Die Realität sieht anders aus. Wir haben es in Kolumbien mit strukturellen Problemen zu tun, der jahrzehntelangen Abwesenheit von staatlichen Institutionen in mindestens 30 Prozent des Territoriums. Das lässt sich nicht von heute auf morgen ändern, das braucht Zeit. Gibt es Entwicklungskonzepte für diese Regionen? Die gibt es eben nicht. Da sind weitere staatliche Initiativen nötig. Ich glaube, dass es nicht allein um fehlende Mittel geht, sondern auch um die Abstimmung zwischen lokalen, regionalen und nationalen Akteuren und die Artikulation der Organisationen vor Ort. Nahe Orejón, einer der beiden Pilotregionen, gibt es zum Beispiel auch paramilitärische Präsenz. Das sorgt natürlich für Angst im Dorf, wenn dort Farc-Guerilleros mit der Beseitigung von Minen beschäftigt sind. In Santa Helena, im Departamento Meta, dort wo das andere Pilotprojekt lief, gab es dieses Risiko nicht – das ist ein reines Farc-Gebiet ohne paramilitärische und auch ohne jede staatliche Präsenz. Hat die Bevölkerung dort an den Staat appelliert, tätig zu werden? Genau, und auch dort sind die Ergebnisse ausgesprochen positiv. Die Minenräumungsphase ist abgeschlossen, das Pilotprojekt eigentlich beendet, aber offiziell eben noch nicht abgenommen. Gleichwohl drängt die lokale Bevölkerung darauf, dass es weitergeht. Wie wird es weitergehen und wann? Es gibt einen Plan, der vorsieht, dass in Kolumbien bis 2021 alle Minen geräumt werden. Dieser »Nationale Plan gegen Minen« lässt sich aber nur umsetzen, wenn in den Regionen, in denen die Minen geräumt werden sollen, keine Kampfhandlungen stattfinden. Das ist aber längst nicht überall der Fall, denn nach wie vor gibt es die Guerillas ELN (Ejército de Liberación Nacional) und EPL (Ejército Popular de Liberación) und die paramilitärischen Gruppen. Mit dem ELN sollen die Verhandlungen zur Niederlegung der Waffen in Quito stattfinden, mit dem EPL gibt es bisher keine Verhandlungen. Die Nachfolgeorganisationen der Paramilitärs werden als »kriminelle Banden« bezeichnet, doch eine klare Bekämpfungsstrategie gibt es nicht. Diese Konstellation erschwert das Räumen der Minen. Gibt es weitere Regionen, in denen das Räumen weitergehen soll? Ja, es handelt sich um 42 Gemeinden, das sind rund 30 Prozent der mit Minen verseuchten Gebiete, und diese Vereinbarungen sind mit den Farc in Havanna getroffen worden, sie sind Bestandteil des Friedensabkommens. Das muss nun vom Parlament implementiert werden. Die Zahl der Minenopfer ist sehr hoch. Erhalten sie die Beachtung und die Hilfe, die ihnen zusteht? In Kolumbien gibt es mehrere wesentliche Probleme für die Opfer von Minen. In vielen Regionen fehlen die staatlichen Institutionen, um den Opfern zu helfen und sie zu versorgen. Immerhin gibt es Garantien und Nothilfezusagen, aber die psychologische Betreuung, die Therapien, die medizinisch-orthopädische Hilfe müssen von den Opfern erstritten werden. Es ist unstrittig, dass Kolumbien in den vergangenen zehn, 15 Jahren beachtliche Fortschritte gemacht hat, aber wir sind noch weit davon entfernt, die Zielvorgaben zu erreichen. Die nächste Etappe muss die Erfüllung der Gesetze sein. Ich persönlich denke nicht, dass es ein Problem der Mittel ist, vielmehr ist es ein Problem der internen Abstimmung und des politischen Willens. Wir sind ein Land mit ausreichend Ressourcen, aber es gibt ein Verteilungsproblem. Also müssen die Mittel besser kanalisiert werden? Genau. Die Opfer haben keine Priorität, oft erreichen sie die Mittel nicht und oft sind es Nichtregierungsorganisationen, die helfen, wo staatliche Institutionen durch Abwesenheit glänzen. Darauf müssen wir mehr Aufmerksamkeit richten. Welche Rolle spielen die Paramilitärs? Setzen sie ebenfalls Minen ein? Die Paramilitärs haben Minen eingesetzt und nach deren Demobilisierung und dem Auftauchen der Nachfolgeorganisationen, der sogenannten bandas criminales emergentes oder »Bacrim«, wissen wir vom Einsatz von Minen in zwei Regionen des Landes: im Süden des Departamentos Córdoba und im Bajo Cauca Antioqueño. Da geht es um die Kontrolle bestimmter Landstriche, die strategische Relevanz haben, und dort wollen die Paramilitärs Aktionen von Armee und Polizei vermeiden. Unstrittig ist jedoch, dass es die Farc und der ELN sind, die Minen in erster Linien nutzen. Welches sind die Departamentos, in denen die meisten Minen ausgebracht wurden? Wir registrieren vor allem die Opfer. Aus diesen Zahlen kann man das zwar ableiten, aber genau wissen wir es nicht, weil die Opferzahlen nicht alle Facetten des Problems wiedergeben. Unstrittig ist, dass viele der 11 386 Opfer von Antipersonenminen, die bis Ende 2015 registriert wurden, aus bestimmten Departamentos kommen: aus Antioquia, Meta, Santander, Bolívar, Putamayo, Caquetá und Nariño. Das heißt aber nicht, dass wir wissen, wo Minen sind und wo nicht und was die Dimension des Problems ist. Oftmals sind die Angaben unvollständig, fragwürdig oder sogar falsch. Das ist ein Problem und der zentrale Grund, weshalb wir nicht darüber spekulieren, wie viele Minen in Kolumbien liegen könnten und was die Räumung der Minen kosten würde. Warum engagieren Sie sich für die Beseitigung der Minen? Was ist Ihre persönliche Motivation? Ich musste im Jahr 2000 aus Medellín nach Bogotá fliehen. Paramiltärs waren mir auf den Fersen und in Bogotá musste ich mich neu orientieren. Schließlich erhielt ich einen Anruf von einer Bauernorganisation, mit der ich schon einmal gearbeitet hatte. Also fuhr ich in die Region von El Bagre in Antioquia und begann, mich mit dem Problem der Antipersonenminen vertraut zu machen. Das ist für mich ein überaus spannendes Thema, weil es dabei auch immer um den Bürgerkrieg, das Auftreten der bewaffneten Akteure und die sozialen Konflikte geht – all das unter dem Dach einer internationalen Kampagne. Das sorgt auch für etwas Sicherheit. | Knut Henkel | Knut Henkel: Álvaro Jiménez, Politologe, über Antipersonenminen in Kolumbien | [
"Kolumbien"
] | Interview | 02.02.2017 | https://jungle.world//artikel/2017/05/die-opfer-haben-keine-prioritaet?page=0%2C%2C0 |
Jungle World #26/2008 - Bissu schwül oder was? | Im dschungel läuft:
A Gun For Jennifer, Frauenstudium, Bradford James Cox, Josef Winkler, Anton Pannekoek | Homophobie unter Türken und anderen Deutschen 26.06.2008 | [] | Ausgaben | https://jungle.world//inhalt/2008/26 |
||
Im Waschsalon | Kreuzberg ist in etwa so reizvoll wie das Thema Waschsalon - oder noch schlimmer: Musicals in und über Waschsalons. Aber ein Slogan hier gleich um die Ecke konnte einen schon stutzen lassen: "Stoppt den Terror gegen Obdachlose und Junkies im Waschsalon". Meine Güte, was ist denn jetzt los? Der Sache mußte auf den Grund gegangen werden, auch weil sich die Wäsche nicht von allein wäscht. Im Waschsalon ist aber alles friedlich. Kein Gezeter, kein Alkoholmißbrauch, null Aggression. Etwa wie auf den Fluren während des Unterrichts: Ab und zu kommt jemand und fragt nach diesem oder jenem. So auch hier. Der eine erklärt es dem anderen. Der wiederum führt den nächsten ein und so weiter, bis alle Maschinen laufen. Der eine liest einen Roman, der andere legt sich einfach auf den Tisch und döst, einer steht draußen und raucht, wieder andere sind wo auch immer hingegangen. Wie in der U-Bahn weiß jeder, wie er sich zu verhalten hat. Man hat viel zu viel Zeit, und dann gehen einem Gedanken über Gott und die Welt durch den Kopf, so als wäre man selbst das Wartezimmer. Zum Beispiel: Was eß ich denn heute? - Komischer Typ. - Leg' ich die Wäsche hier zusammen oder woanders? - Die haben alle keine Waschmaschine? - Hoffentlich ist das Wasser okay. - Wenn ich Dienstag nicht fertig bin, was mach ich denn dann? Nee, Dienstag muß ich fertig sein, sonst wird das alles viel zu streßig. - Könnte mal die Berliner abonnieren, muß ich bloß rechtzeitig wieder abbestellen, vergeß ich eh, also laß ich's besser. Obwohl, so ganz ohne Zeitung? - Eigentlich ist es nur gerecht, wenn die beiden jetzt auch Bomben haben. Dann passiert vielleicht mal was. - Im Verschwenden von schönen Tagen bin ich wirklich gut. - Komischer Typ. Wenn der jetzt gleich wissen will, wo er bezahlen muß ... nee, hat er schon selbst begriffen. - Also, was war jetzt noch? - Komischer Roman. Die kann sich jetzt doch gar nicht konzentrieren. Ups! Ja, ja, ich guck dich auch nicht mehr an. - Mmmh, mmmh, mmmh, my, my, hey, hey ... "Nein, erst die Wäsche in die Maschine und dann da bezahlen." - Scheiße, wo kommt denn der Siff her, muß unbedingt Schuhe putzen. - Einen Spiegel brauch' ich auch noch, kann ja nicht ewig ohne aus dem Haus gehen. Gibt's auch am Kiosk, ha, ha, ha. Blöder Witz. Wirklich blöder Witz. - Hey, hey, my, my ... "Ne, gehört nicht mir nicht. Können Sie nehmen." - Also, eigentlich haben die hier bestimmt ihre eigenen Gesetze. Na ja, nur weil sie aus dem selben Land sind, müssen sie einander ja nicht unbedingt grün sein. Sind bestimmt in der Mafia. - Dümm, dödödödö, dödödödümm, Jooohnny Rottenn, Jooohnny Rottenn ... Vielleicht Pizza? Obwohl: hatte ich auch gestern. Was für'n Streß! - Wenn die Dinger jetzt kontaminiert sind, wer will dann noch demonstrieren? Total geniale Idee, wenn's wahr ist, aber den Jungs kann man ja alles zutrauen. Alte Säcke. Aber schön für die Polizisten. Oh, das ist zu hart. Gott sieht alles. Hmmm, hmmm, it's more dümdüdümmdümm than dümdümdümdüm, dömmdömm, dömm dömm ... Na wie lange noch? O no! Na ja. - Ach ja! Heute ist ja Deutschland gegen Kolumbien. Ach! Das wird sowieso wieder total langweilig. Aber vielleicht gibt's ja Krach. Auch eher unwahrscheinlich. Wie die bei der Presse das bloß aushalten ohne Zoff? Sind ja total aufgeschmissen, he, he, kriegt Berti volle Kanne zurück. Oh, fertig! | simon hannover | simon hannover: Alternative Lebensformen | [] | Inland | 03.06.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/23/im-waschsalon?page=0%2C%2C0 |
Razzia bei Bürgerrechtlern | Razzia bei Nobelpreisträgern. Zwei russische Polizisten vor dem Büro der Organisation Memorial in Moskau, 21. März 2023 In Moskau begann vergangene Woche der kalendarische Frühling mit einer Reihe von Hausdurchsuchungen bei Mitarbeitenden der Organisation Memorial. In neun Wohnungen – darunter die einer nahen Verwandten – und in den Büroräumen suchte die Polizei nach kompromittierendem Beweismaterial und beschlagnahmte Computer, Handys und Kommunikationsmittel aller Art. Es folgten Vernehmungen im Rahmen eines Anfang März eingeleiteten Strafverfahrens wegen »Rehabilitierung des Nationalsozialismus«. Das ist ein starker Vorwurf auf absolut fragwürdiger Grundlage. Dass es sich hierbei um einen Vorwand handelt, um Memorial in der Öffentlichkeit zu diskreditieren und Zugang zu Dokumenten und Privaträumen zu erhalten, ist naheliegend. Anlass für das scharfe Vorgehen bot den Behörden der Umstand, dass sich in der von Memorial über viele Jahre erstellten historischen Datenbank über Opfer politischer Gewaltherrschaft der Sowjetunion unter den über drei Millionen Einträgen Namen von drei Personen finden, die niemals rehabilitiert wurden und den russischen Behörden zufolge Nazi-Kollaborateure gewesen sein sollen. Zwei der drei Namen finden sich sogar in einem offiziellen Gedenkbuch der Republik Tatarstan, das unter Mitwirkung der lokalen Behörden einschließlich der Leitung der Polizei- und Sicherheitsorgane entstanden war. Trotzdem war Ende 2021 bei der Staatsanwaltschaft eine Beschwerde der Organisation »Veteranen Russlands« eingegangen wegen der Namensnennung in einer bereits zuvor erschienenen Publikation von Memorial, woraufhin Memorial beim Föderalen Sicherheitsdienst (FSB), dem russischen Inlandsgeheimdienst, eine Anfrage nach der Strafakte der betreffenden Personen stellte. Bislang hatten Memorial-Historiker lediglich Kenntnis von dem Strafrechtsparagraphen, nach dem diese verurteilt worden waren. Nicht bekannt ist außerdem, aus welchem Grund die zuständige Staatsanwaltschaft deren Rehabilitierung verweigert hatte. Bei der dritten Person handelt es sich um einen Deutschen, der im Zuge einer der stalinistischen »Säuberungsaktionen« deportiert worden war. Einzig aus diesem Grund fand er Eingang in die Memorial-Datenbank. Dass ein Gericht gegen ihn 1954, also Jahre nach der Deportation, ein Urteil wegen NS-Kollaboration gefällt hatte, war Memorial nicht bekannt. Die Durchsuchungen und Vernehmungen verliefen unter Missachtung geltender Vorschriften. Anwälte erhielten keinen Zugang, Vernehmungsprotokolle wurden nicht ausgehändigt. Als eine der Befragten, Aleksandra Poliwanowa, um eine Kopie bat, erhielt sie nach eigenen Angaben lediglich die Rückmeldung, wenn sie angeklagt werden wolle, könne sie gerne eine bekommen. Bislang richten sich die Ermittlungen gegen unbekannt, so dass alle von dieser Strafsache Betroffenen vorerst als Zeugen eingestuft werden. Nachdem Poliwanowa mit Journalisten gesprochen hatte, verhängten die Behörden prompt gegen alle an dem Ermittlungsverfahren Beteiligten ein Verbot, sich dazu zu äußern. Gegen Oleg Orlow, Vorstandsmitglied bei Memorial International und Leiter des Menschenrechtszentrums von Memorial, wurde indes noch am selben Tag ein Strafverfahren wegen wiederholter »Diskreditierung« der russischen Streitkräfte eingeleitet. Grund dafür war ein Beitrag auf seiner Facebook-Seite mit einem zuvor auf dem französischen Online-Portal Mediapart veröffentlichen Artikel, in dem Orlow den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine heftig kritisiert. Zwar befindet sich der Menschenrechtler auf freiem Fuß, aber unter der Auflage, Moskau nicht zu verlassen. Im Vorwurf der »Rehabilitierung des Nationalsozialismus«lässt sich ein Vorwand vermuten, um Memorial zu diskreditieren und Zugang zu Dokumenten und Privaträumen zu erhalten. Ende 2021 hatte Russlands Justiz ein Verbot gegen drei Memorial-Organisationen verhängt – Memorial International, das Menschenrechtszentrum und den Vereinsableger in Perm, dennoch ging die Arbeit in anderer Form weiter. Im Dezember erst bekam die Organisation den Friedensnobelpreis verliehen. Memorial ist ein weitverzweigtes Netzwerk und in Perm gelang es nach der Auflösung, innerhalb kurzer Zeit einen neuen Verein zu registrieren. Doch bereits Mitte März nahm die Polizei dort ebenfalls Durchsuchungen und Vernehmungen vor. Ausstellungsmaterial, Technik und weitere Gegenstände wurden ohne Quittung oder Protokoll beschlagnahmt, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter über zwei Tage in Gewahrsam festgehalten. Die Nachfragen der Polizei betrafen in erster Linie den Verbleib des Archivs der Organisation. Außerdem interessierte sich die Polizei für den ehemaligen Leiter von Memorial in Perm, Robert Latypow, der sich im Ausland aufhält. Nach der zwangsweisen Auflösung des Ortsvereins sollte das gesamte Permer Archiv an Memorial in Moskau zur Aufbewahrung geschickt werden. Dort kam es jedoch nicht an. »Vermutlich wurde das Archiv auf dem Weg beschlagnahmt«, sagte Latypow der Jungle World. »Was genau mit ihm passiert ist, klären wir noch.« Als vor knapp elf Jahren in Russland das Gesetz über sogenannte ausländische Agenten in Kraft trat, schien es für als regimekritisch angesehene Gruppen noch Optionen zu geben, trotz der immer weiter verschärften Vorgaben und trotz ihres Status als »ausländischer Agent« weiterzuarbeiten. Doch inzwischen greift der Staatsapparat härter durch. Gleichzeitig mit den neuerlichen Attacken auf Memorial hat das Justizministerium die Auflösung des Moskauer Sowa-Zentrums beantragt hat. Sowa dokumentiert seit über 20 Jahren Fälle von rechter Gewalt und kritisiert die Anwendungspraxis der russischen Gesetze gegen »Extremismus«. | Katja Woronina | Katja Woronina: Russlands Behörden werfen Memorial »Rehabilitierung des Nationalsozialismus« vor | [
"Russland",
"Menschenrechte",
"Memorial"
] | Ausland | 30.03.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/13/razzia-bei-buergerrechtlern?page=0%2C%2C2 |
Nachhaltig aufsteigen | »Jetzt heißt es fünf Jahre parteifrei weiterdenken«, twitterte Hannes Rockenbauch noch im Mai vergangen Jahres, als er für das parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) in den Stuttgarter Stadtrat gewählt wurde. Von wegen. Gerade einmal ein Jahr später möchte der bekannte Stuttgart-21-Gegner bei den Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg für die Linkspartei kandidieren. »Ich habe Lust dazu«, antwortete der 34jährige auf die Frage der Taz, wie es zu diesem Sinneswandel gekommen sei. Als einer der schärfsten Kritiker von Stuttgart 21 wurde er bei den »Schlichtungsgesprächen« 2010 auch bundesweit bekannt. Nun möchte er noch weiter hinaus. »Die Ausbeutung von Mensch und Natur lässt sich nicht auf kommunalpolitischer Ebene überwinden«, stellte er in der Taz fest. Es habe 2011 zwar einen Personal-, aber keinen Politikwechsel gegeben, klagte er über die grün-rote Landesregierung. Deshalb sei eine neue politische Kraft wie »Die Linke« im Landtag nötig, sagte er der Stuttgarter Zeitung. Die Linkspartei erhofft sich durch den charmanten, aber angriffslustigen Kandidaten mehr Zuspruch. Bei der letzten Landtagswahl erhielt die Partei lediglich 2,8 Prozent der Stimmen, in aktuellen Umfragen kommt sie an die Fünfprozentmarke. Seine Meinung zur Partei habe sich geändert, weil sich auch die Partei geändert habe, sie sei der richtige Partner für Basisbewegungen, gegen SPD und Grüne, die sich mit ihrer Politik immer mehr der konservativen CDU näherten, so der Ingenieur für Architektur und Stadtplanung.
Damit mag er recht haben, »der Hannes«, aber Kritik kommt auch aus den eigenen Reihen. SÖS ist jeglicher Parteipolitik abgeneigt, unterstützt den Kommunalpolitiker der Wochenzeitung Kontext zufolge jedoch, solange er nicht Minister wird und sich weiterhin für die ökologischen und sozialen Richtlinien von SÖS einsetzt. Rockenbauch könnte wohl ganz verschiedene Gruppen für sich gewinnen. Er beteiligte sich an vielen Demonstrationen, soll auch Widerstand gegen die Polizei geleistet haben. Nachdem er gegen einen Pegida-Aufmarsch demonstrierte, wurde er von einem AfD-Stadtrat gar mit »Linksfaschisten« in Verbindung gebracht. Mit seinem Einsatz für die Rettung des Kopfbahnhofs in Stuttgart, der ihm zufolge für »Identität, Geschichte und Heimat« stehe, kann Rockenbauch aber womöglich auch heimatverbundene Baden-Württemberger überzeugen. | hellen bircok | hellen bircok: | [] | Inland | 18.06.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/25/nachhaltig-aufsteigen |
Paperwall | Die Berliner Zeitung mache keine Schlagzeilen mehr, sondern sorge für welche, spotteten am vergangenen Donnerstag Journalisten auf einer Betriebsversammlung im Pressehaus an der Karl-Liebknecht-Straße. Wieder einmal wabern Gerüchte durch die Presselandschaft, die Zeitung solle verkauft werden. »Wir erfahren das immer nur von anderen Kollegen in anderen Blättern und nie im eigenen Haus«, so ein Redakteur. Die Betriebsratsvorsitzende Renate Gensch fasst das Problem so zusammen: »Der Verlag hat kein Konzept.« Dass es Zeitungsverlegern mitunter an Ideen fehlt, ist nichts Neues. »Hat der Verleger Publikumsinstinkt? Er bildet sich das fast immer ein. Ich glaube nicht recht an diesen Instinkt - dazu haben die Herren zu viele Misserfolge«, stellte Kurt Tucholsky bereits 1932 fest. Über einen Verkauf soll mit dem Konzern der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), dem Verlag der Süddeutschen Zeitung und mit dem Tagesspiegel-Verlag Holtzbrinck verhandelt worden sein. Einst hatten die Medienmanager von Gruner + Jahr (G+J) in Hamburg, einem Tochterunternehmen Bertelsmanns, mit der Berliner Zeitung Großes vor: Das Blatt sollte zur »Hauptstadtzeitung« werden. Der damalige Mitherausgeber Erich Böhme träumte von einer deutschen Washington Post. Etwa 60 Millionen Mark kostete die aufwendige Renovierung. Der amerikanische Zeitungsdesigner Robert Lockwood verpasste dem ehemaligen Ostblatt ein neues Layout. Vor dem Regierungsumzug wurden Journalistinnen und Journalisten aus allen Teilen der Republik zur Berliner Zeitung gelockt, die dem behäbig daherkommenden Tagesspiegel Paroli bieten wollte. Etwa 210 Redakteurinnen und Redakteure sollten die Meinungsführerschaft in der Hauptstadt herbeischreiben. Das war vor etwa drei Jahren, Meldungen vom Berliner Zeitungsmarkt klangen damals nach Kriegsberichterstattung. Da war vom »Aufrüsten« die Rede, die »Schlacht um Berlin« tobte, um die »Vormachtstellung« wurde gerungen. Ein Zweikampf Berliner Zeitung gegen Tagesspiegel wurde ausgerufen. Bis aus dem einstigen SED-Blatt tatsächlich die Hauptstadtzeitung geworden sei, müsse man Geduld haben, sagte der Chefredakteur Martin E. Süskind bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren: »Tageszeitungen entwickeln sich langsamer als Magazine.« Da müsse schon in Zeiträumen von »fünf bis acht Jahren« gedacht werden. Der frühere G+J-Vorstandsvorsitzende Gerd Schulte-Hillen sprach von einem »Marathonlauf«, auf den sich der Verlag, der mit Hochglanzmagazinen viel Erfolg, aber im Tageszeitungsgeschäft keine Erfahrungen hat, eingelassen habe. Der im Westen viel, im Osten kaum gelesene Tagesspiegel konterte. Mario Garcia, so etwas wie der Oberguru des Zeitungsdesigns, liftete das Blatt vorsichtig, und der Teilzeittalker und Macher der Seite drei der Süddeutschen Zeitung, Giovanni di Lorenzo, wurde nach Berlin geholt, um den Tagesspiegel mit frischen Ideen zu versorgen. Unter seiner Leitung soll die Arbeit dermaßen Spaß machen, dass kein Redakteur mehr in den Urlaub fahren mag, wurde aus der Redaktion im Stadtteil Tiergarten berichtet. Mit derzeit knapp 130 000 Exemplaren konnte der Tagesspiegel seine Auflage geringfügig steigern, die der Berliner Zeitung sank auf nunmehr 204 000 Exemplare. Um die 1,8 Millionen Berliner Haushalte (bei 3,4 Millionen Einwohnern) konkurrieren sechs lokale, drei kleine und sechs große überregionale Blätter: die Berliner Ausgabe von Bild, die ebenfalls zum Springer-Verlag gehörende B.Z. sowie die G+J-Boulevardzeitung Berliner Kurier und die »seriösen« Titel Berliner Zeitung (G+J), Morgenpost (Springer) und Tagesspiegel (Holtzbrinck). Zusammen bringen diese big six knapp eine Million Zeitungen an die Leserschaft. Die ebenfalls in Berlin beheimateten Blätter Neues Deutschland (im Eigentum der PDS), taz (die tageszeitung, Genossenschaft) und Die Welt (Springer) werden insgesamt von gut 40 000 Menschen gekauft. Die überregionalen Blätter Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung , Handelsblatt, Financial Times Deutschland und Frankfurter Rundschau setzen zusammen etwa 35 000 Exemplare ab. Auch die überregionalen Blätter wollten am Berlin-Boom partizipieren und stockten ihre Hauptstadtredaktionen auf. Die FAZ ist mit gut 40 Journalisten in Berlin vertreten, und jeden Tag gibt es die Berliner Seiten als eigenständiges Buch. Für die SZ arbeiten etwa 35 Journalisten, und täglich gibt es eine Berlinseite, von der der Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner behauptet, sie werde von »Berlin-Hassern« vollgeschrieben. Die FR ist bescheidener, hat nur ungefähr 15 Redakteurinnen und Redakteure in Berlin und bringt eine wöchentliche Hauptstadtseite. Es stellt sich allerdings die Frage, wer das alles lesen soll. Aus Berlin kam nie - auch nicht in den viel beschworenen goldenen Zwanzigern - ein meinungsführendes Blatt. Vielmehr wurde von Zeitungsmachern ein Berlin-Hype herbeigeschrieben, der reinem Wunschdenken entsprang. Marktforscher geben zu Protokoll, dass Zeitungsleser treue Menschen sind. Branchenbeobachter sprechen von der »Zeitungsmauer«, die sich unsichtbar durch Berlin ziehe. Dem Tagesspiegel gelang es nicht, in den östlichen Markt einzubrechen, als einstige Ostzeitung schafft die Berliner Zeitung nicht den Sprung in den Westen. Nach Auskunft von Süskind beschäftigt das Blatt derzeit noch rund 150 Journalisten und schreibt weiterhin rote Zahlen. Wie alle Betriebe Bertelsmanns ist auch die Hauptstadt-Dependance von Gruner + Jahr, der Berliner Verlag, in Profitcenter aufgegliedert. Hoch ertragreich sind die Druckerei und der Kurier. Seit jeher subventionieren kluge Verleger ihre Zeitungen, indem sie mit profitableren Druckererzeugnissen den nicht so profitablen, aber prestigeträchtigen Journalismus stützen. Diese Art der Finanzierung, die vielen Blättern das Überleben ermöglicht, haben die Manager in Gütersloh abgeschafft. Schließlich soll Bertelsmann in den nächsten vier Jahren an die Börse. Bereits Ende November 1996 schrieb die Neue Zürcher Zeitung über den Berliner Zeitungsmarkt, der bevorstehende Regierungsumzug habe »die Lust auf ehrgeizige publizistische Projekte« geweckt und zugleich »die Verkaufsleute unter den Verlagsmanagern in Erregung« versetzt. Gleichwohl merkt der Autor an, mitunter seien in den Redaktionsstuben »Grübler, Klageweiber, Angstbeißer und Visionäre« an der Arbeit, die eine ewige »Nabelschau« betrieben. Um die Zeitungen wirklich interessant und spannend zu machen, müsse an einer »Wiederauferstehung« der Reportage und des Reporters gearbeitet werden. Ihren Reporterpool hat die Berliner Zeitung aber gerade aufgelöst. | günter frech | günter frech: Krise der Berliner Zeitung | [] | Lifestyle | 27.06.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/26/paperwall?page=0%2C%2C3 |
Die Virenbande bekämpfen | »Die Krankheit bekämpfen, um den Patienten zu retten«, riet Mao Zedong. Die Methoden seiner Erben sind umstritten, auch Polizisten auf dem Tiananmen-Platz in Peking tragen vorsorglich Mundschutz Für viele es ist der wichtigste Feiertag des Jahres: China beging vergangene Woche das Frühlingsfest oder Mondneujahr. Am Neujahrsabend strahlt das Staatsfernsehen traditionell eine Frühlingsgala aus, das Programm ist eine Mischung aus Comedy, Musik und nationalistischer Propaganda. Mit über einer Milliarde Zuschauern ist es jedes Jahr eines der größten Fernsehereignisse nicht nur in China, sondern weltweit. Dieses Jahr wurde der Gala kurzfristig ein weiterer Programmpunkt hinzugefügt: eine Ermutigungseinlage für die mit dem Coronavirus infizierten Personen und die unter Quarantäne gestellten Einwohnerinnen und Einwohner der zentralchinesischen Millionenstadt Wuhan. Sechs bekannte Moderatoren und Nachrichtensprecher des Staatssenders CCTV bekundeten einer nach dem anderen ihre Unterstützung für die »Engel in Weiß« und die in der Provinz Hubei eingeschlossenen Menschen. Diese seien nicht allein, das ganze Land stehe hinter ihnen, so eine der Moderatorinnen. Ihr Kollege beschwor eine globale Schicksalsgemeinschaft und rief die Staaten der Welt dazu auf, China zu vertrauen, dann werde schon alles gut werden. Unter der »entschlossenen Führung der Parteizentrale« werde man den Kampf gegen das Virus mit Sicherheit gewinnen. Die Abschottung einer Millionenstadt wie Wuhan ist in der Geschichte der Volksrepublik ohne Beispiel und sorgte für panische Reaktionen in der Bevölkerung. Von einem entschlossenen Krisenmanagement konnte allerdings bis vor kurzem keine Rede sein. Noch am selben Tag, dem 24. Januar, hatte die Chinesische Volkszeitung, die offizielle Zeitung der Kommunistischen Partei Chinas, einen Artikel über die neuesten Entwicklungen in Wuhan ans Ende der Seite vier verbannt, hinter eine Reihe euphorischer Berichte über die Arbeit der Partei und die landesweiten Vorbereitungen auf das Frühlingsfest. Tatsächlich reagierte die Zentralregierung erst sehr spät auf die eskalierende Situation in und um Wuhan. Auch die in der Nacht zum 23. Januar kurzfristig angeordnete Quarantäne konnte die Verbreitung des Virus nicht mehr verhindern. Auf einer am Sonntag einberufenen Pressekonferenz musste Zhou Xianwang, der Bürgermeister Wuhans, zugeben, dass vor der Quarantäne bereits fünf Millionen Menschen die Stadt verlassen hatten, fast die Hälfte der elf Millionen Einwohner. Die meisten von ihnen sind wohl schon früh in ihre Herkunftsdörfer zurückgekehrt, um die Feiertage mit der Familie zu verbringen. Einige nutzten aber auch die acht Stunden zwischen der Ausrufung und dem Inkrafttreten der Quarantäne, um aus der Stadt zu fliehen. Einer im Medizinjournal The Lancet veröffentlichten Studie chinesischer Forscher zufolge traten bereits am 1. Dezember beim ersten bekannten Patienten Symptome des neuartigen Coronavirus auf. Erst einen Monat später informierten die chinesischen Behörden die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über die zu dem Zeitpunkt bekannten 27 Fälle. Es dauerte weitere drei Wochen, bis die Zentralregierung die Schwere der Situation erkannte und Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriff. In der Zwischenzeit verpassten lokale Behörden Ärzten und Pflegepersonal in den betroffenen Gebieten ein Redeverbot und drohten mit Strafen, sollten Informationen über die Ausbreitung der Lungenkrankheit an Medien gegeben oder online geteilt werden. So wurden am 1. Januar acht Internetnutzer von der Polizei in Wuhan beschuldigt, falsche Informationen über das Virus verbreitet und die Gefahr schlimmer dargestellt zu haben, als sie sei. Das ist eine Standardanschuldigung, um öffentliche Kritik an der Regierung bereits im Keim zu ersticken. Wegen der Nachrichtensperre und der Unterdrückung von Online-Diskussionen kam die Quarantäneanordnung für viele Anwohnerinnen und Anwohner völlig überraschend. Die Abschottung einer Millionenstadt wie Wuhan ist in der Geschichte der Volksrepublik ohne Beispiel und sorgte für panische Reaktionen in der Bevölkerung. Vor allem in den ersten Tagen der Quarantäne zwängten sich Erkrankte massenhaft in die überfüllten Gänge der lokalen Krankenhäuser – ein perfekter Nährboden für eine rasante Ausbreitung einer Viruserkrankung. Gleichzeitig sorgten Hamsterkäufe dafür, dass Mundschutze und viele Lebensmittel schnell ausverkauft waren. Das Problem erst zu leugnen und dann zu »extremen Maßnahmen« zu greifen, wenn es zu groß wird, sei »typisch für das autoritäre Regime«, so der Soziologe Ho-Fung Hung von der John Hopkins University zur Jungle World. So sei die Gelegenheit versäumt worden, die Ausbreitung des Virus früh abzuhalten, während der Nutzen der Quarantäne nach der Verbreitung der Krankheit zweifelhaft sei. Der Pekinger Anwalt Chen Qiushi beschreibt in seinem Videoblog, wie er die Lage vor Ort erlebt. Er hält sich dabei auch mit Kritik an der Regierung nicht zurück. In einer Chat-Gruppe von Anwohnerinnen und Anwohnern versuchte Chen am Wochenende eine Hilfslieferung nach Wuhan zu organisieren, die erhoffte Unterstützung blieb jedoch aus. Keines der über 100 Gruppenmitglieder war bereit, die Hilfslieferung stellvertretend entgegenzunehmen. Die Gesellschaft Chinas sei wie ein Teller Sand, ohne jegliche Kohäsion, so Chen in einem am Montagmorgen veröffentlichten Video. Dies hänge auch damit zusammen, dass die chinesische Regierung gesellschaftliche Selbstorganisation ablehne und unterdrücke. Chen war am Neujahrsabend mit einem der letzten Schnellzüge nach Wuhan gereist und berichtet seitdem als Bürgerreporter von dort. Patrick Poon, ein China-Experte von Amnesty International, beobachtet die Lage in Wuhan derweil über die sozialen Medien. »Auf Twitter berichten viele Personen aus Wuhan davon, dass sie sich von der Regierung alleingelassen fühlen«, sagt Poon der Jungle World. Nicht nur Wuhan sei mittlerweile wie eine Geisterstadt, auch die Situation in der näheren Umgebung sei sehr besorgniserregend. »Viele Bewohner gehen große Risiken ein, um die Wahrheit über die Situation vor Ort aufzudecken.« Ohne die sogenannte Great Firewall, das chinesische Programm zur Internetüberwachung und -zensur, zu umgehen, könne der einfache Bürger kaum etwas über die tatsächliche Situation in Erfahrung bringen. Dennoch nutzen viele Menschen auch chinesische soziale Medien, um ihren Sorgen und ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Vor allem die Kritik am Krisenmanagement des Bürgermeisters von Wuhan und des Gouverneurs der Provinz Hubei wird immer lauter. Aber warum lassen Chinas sonst so strenge Zensoren Kritik an der Lokalregierung überhaupt zu? Poon glaubt, dass die laxe Haltung der Behörden nur vorübergehend sei. Die Regierung sei derzeit zu sehr damit beschäftigt, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, und komme mit dem Löschen von Inhalten nicht hinterher. Vieles deutet darauf hin, dass Xi Jinping, der chinesische Staatspräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei, bereit ist, die Lokalregierung für das anfangs mangelhafte Krisenmanagement verantwortlich zu machen. In einem Interview mit dem Staatsfernsehen hat Bürgermeister Zhou bereits schwere Fehler eingeräumt. Xi, der üblicherweise für sein Mikromanagement bekannt ist, versucht derweil, sich vor Kritik zu schützen. Die am Sonntag ins Leben gerufene Führungsgruppe zur Bekämpfung des Coronavirus untersteht daher nicht etwa ihm selbst, sondern der gemeinsamen Führung des Ständigen Ausschusses des Politbüros unter Vorsitz des Ministerpräsidenten Li Keqiang. Dieser hatte unter der Führung Xis bisher weitgehend ein Schattendasein geführt. Für Xi sei die Rollenverteilung nützlich, urteilt Ho-fung Hung, doch habe nur dieser »die höchste Autorität, alles Notwendige anzuordnen«. Auch wenn die chinesischen Behörden derzeit Kritik in Maßen zulassen, so erinnert Poon doch daran, dass China in der Vergangenheit oft auf einen passenden Moment gewartet habe, um mit seinen politischen Gegnern abzurechnen: »Ob Kritiker diesmal bestraft werden, bleibt abzuwarten.« Coronaviren können eine schwere Erkältung, Bronchitis oder Lungenentzündung verursachen. Die Lungenkrankheit Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom (SARS) geht ebenfalls auf Coronaviren zurück. An der SARS-Pandemie 2002/2003, die in Südchina begann, starben weltweit 774 Menschen. Die WHO bezeichnet das neuartige, für den jüngsten Ausbruch verantwortliche Coronavirus als 2019-nCoV. Bis Anfang dieser Woche sollen mindestens 100 Menschen daran gestorben sein, über 4 500 gelten als infiziert. | David Demes | David Demes: Das Krisenmanagement zur Eindämmung des Coronavirus ruft in China Kritik hervor | [
"China"
] | Ausland | 30.01.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/05/die-virenbande-bekaempfen |
Der vergessene Ozean | Die Achsen der Guten. Teile eines alten britischen Militärlasters in der Wüste nahe des Gilf-Kebir-Plateaus Es gibt wohl kaum ein historisches Sujet, das medial so präsent ist wie der Zweite Weltkrieg. Die Doku-Kanäle des Fernsehens jedenfalls müssten ihr Programm ohne die Verwertung von Wehrmacht und Weltkrieg deutlich einschränken. In den zwei Wochen um die Osterfeiertage liefen dort nicht weniger als 112 Beiträge, in deren Ankündigungen der Name Hitler vorkommt, darunter reißerisch Aufgemachtes wie »Geheimakte Hitler: Diktator auf Drogen«, aber auch Seriöses wie die Reihe »Wendepunkte des Zeiten Weltkriegs«. Es scheint also, als ob alles bekannt und gesagt wäre und in stetem Strom recycelt würde. Doch dieser Eindruck täuscht. Dass die gängige Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg dessen globale Dimension regelrecht verfehlt, zeigt deutschsprachigen Lesern nun einer, der schon des Öfteren deren Denkgewohnheiten erschüttern konnte: Dan Diner, der Moderne Geschichte an Jerusalems Hebräischer Universität lehrt und Wendungen geprägt hat wie die, dass der Nationalsozialismus einen »Zivilisationsbruch« darstelle und der Holocaust »kein Narrativ, sondern eine Statistik« habe. Diners neues Buch wird seinem programmatischen Titel »Ein anderer Krieg« jedenfalls vollauf gerecht und das nicht nur, weil es im Kontext des großen Kriegs einen, wie Diner ihn nennt, »kleinen Krieg« behandelt, den verschachtelten Dreierkonflikt im britischen Mandatsgebiet Palästina zwischen der Mandatarmacht, dem jüdischen Gemeinwesen und der alles andere als homogenen Gruppe der ansässigen Araber (den Begriff »Palästinenser« hat die PLO erst 1964 als Bezeichnung der Angehörigen eines eigenen »Volks« gekapert). Was die Analyse so außergewöhnlich macht, ist vor allem, mit welch weit ausholender Bewegung und welch sicherem Gespür für hintergründige Zusammenhänge Diner sie angeht: Seine Anordnung folgt nicht der üblichen chronologischen und geographischen Einteilung, die beim Kriegsverursacher Deutschland (oder auch Japan) ihren Ausgang nimmt und der Richtung der Raub- und Vernichtungszüge folgt; Diner ordnet das Kriegsgeschehen vielmehr aus dem Blickwinkel des von Deutschland und Japan gleichermaßen – wenn auch nicht in gleichem Maße – Angegriffenen, der zwar letztlich siegte, aber um den Preis seines Untergangs, weshalb seine Rolle im Krieg aus den Augen geraten ist: des britischen Empire. Und diese Anordnung ist triftig, denn sie beleuchtet den Zwischenraum der prominenten Kriegsschwerpunkte Atlantik und Pazifik: den indischen Ozean mitsamt seinem, wie Diner sagt, »nordafrikanischen und mittelöstlichen Saum«. Die Kontrolle über diesen Raum war für das Empire enorm wichtig, um seine ökonomische Lebensader abzuschirmen, die Verbindung zwischen den britischen Inseln und Indien, der mit Abstand wichtigsten Kolonie: zu Wasser durch den Suez-Kanal, zu Land über Persien und Mesopotamien nach Alexandria und Haifa. Die Im Norden des Mandatsgebiets gelegene Hafenstadt bezeichneten die italienischen und deutschen Piloten, die sie 1941 intensiv bombardierten, wegen ihrer Raffinerien als »englische Tankstelle«. Großbritannien musste seine koloniale Ressourcen in einem lange nicht mehr gekannten Maß beanspruchen, um der Aggression der Achsenmächte standzuhalten. In den Kolonien hasste man die Briten dafür und sympathisierte mit jenen, die sie doch erst zu diesen Maßnahmen genötigt hatten. Diner zeigt, dass für die Logistik der Alliierten im Zweiten Weltkrieg die britische Kontrolle über den indischen Ozean und die an ihn angrenzenden Gebiete in gleich dreierlei Hinsicht entscheidend war: Erstens sorgten angloindische Truppen für die dringend benötigte Versorgung und Verstärkung der britischen 8. und 9. Armee, die in Ägypten und der Levante den Durchbruch der Wehrmacht zu wichtigen Raffinerien und Ölverbindungen und nicht zuletzt die Ausdehnung der »Endlösung« auf das Mandatsgebiet Palästina verhinderten. Zweitens ermöglichte die indische Verbindung die Versorgung der nationalchinesischen Armee Chiang Kai-sheks, die starke japanische Kräfte band und dadurch half, den Umschwung im Pazifik-Krieg einzuleiten. Und last but not least ermöglichte erst die Sicherung des »persischen Korridors« und die durch ihn erfolgende Lieferung Zehntausender US-amerikanischer Flug- und Fahrzeuge an die Sowjetunion die erfolgreiche Gegenoffensive der Roten Armee (die »Stalinorgeln« waren auf Lastwägen US-amerikanischen Typs montiert). Dabei zeigt sich auch etwas, was Diner, wenn auch in zurückhaltendem Ton dargelegt, gleichfalls erkennen lässt: wie verhängnisvoll die sich anbahnende Entkolonisierung mit dem Zweiten Weltkrieg verschlungen ist. Zur Sicherung des Korridors mussten die Briten gleich zwei pronazistische, postkoloniale Regimes stürzen, die im Irak beziehungsweise im Iran die Macht ergriffen hatten und von Deutschland mit Waffen beliefert wurden. Die Sympathien der anti- und postkolonialen Bewegungen und Regimes, die im Empire agierten oder sich frisch von diesem losgesagt hatten, lagen bei Deutschland (in Indien auch bei Japan) – nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch weil diese als Vorbilder dafür erschienen, wie man unter Verzicht auf demokratische und aufklärerische Umwege und mit brachialer Gewalt die alten Mächte herausfordern und bezwingen kann. Der Sturz des irakischen Diktators Rashid Ali im Mai 1941 – auch da mag das Vorbild erkennbar sein – endete für die Juden Bagdads in einem unerhört blutrünstigen Pogrom, dem sogenannten Farhud. Die Gesamtkonstellation, die die Aggression der Achsenmächte Deutschland, Italien und Japan ursächlich herbeigeführt hatte, war fatal: Großbritannien musste seine kolonialen Ressourcen in einem lange nicht mehr gekannten Maß beanspruchen, um dieser Aggression standzuhalten. In den Kolonien hasste man die Briten dafür mehr denn je und sympathisierte mit jenen, die sie doch erst zu diesen Maßnahmen genötigt hatten; eine Verkehrung, die bis heute übel nachwirkt, wenn etwa eine postkolonial gestimmte indische Journalistin die bengalische Hungersnot 1943 als britischen »Holocaust« bezeichnet. In den Jahren, in denen immer klarer wurde, dass Deutschland und Italien Krieg wünschten, veränderte sich auch die Lage an der östlichen Mittelmeerküste, wo das Empire nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs ein Schutzmandat des Völkerbundes für Palästina übernommen hatte, ein Gebiet, das die heutigen Territorien Jordaniens und Israels umfasste. Das war strategisch folgerichtig mit Blick auf die Sicherung der indischen Verbindung, aber nicht nur dadurch motiviert: Das Vereinigte Königreich war dem zionistischen Anliegen einigermaßen gewogen und hatte den Pionieren, die auf Grundlage der alteingesessenen jüdischen Gemeinde, dem Yishuv, in Palästina eine jüdischen Heimstätte aufbauen wollten, in der sogenannten Balfour-Deklaration 1917 sein Wohlwollen zugesichert. Doch dieses währte nicht allzu lange: Die Zahl jüdischer Einwanderer stieg, die Araber sahen sich im Hintertreffen und sympathisierten in nicht unbedeutender Zahl mit den künftigen Achsenmächten, die nicht nur das Empire herausforderten, sondern auch den Juden feindlich gesinnt waren – gute Voraussetzungen für die Agitation des Mufti von Jerusalem, der die Wiederkehr alter islamischer Größe an der Seite Hitlers versprach und nicht zuletzt in Bagdad Gehör fand. In den Jahren ab 1935 tobte ein regelrechter arabischer Aufstand im Mandatsgebiet, den die Briten mit Härte bekämpften, zu einem Zeitpunkt, als Großbritanniens Rüstung immer weiter hinter die Deutschlands zurückfiel, denn das Land kürzte in der Weltwirtschaftskrise das Verteidigungsbudget zugunsten der Wirtschafts- und Sozialressorts. Die Folge war die Appeasement-Politik in Europa und in gewisser Weise auch in der arabischen Welt: Um bei den Muslimen und ihren Anführer nicht noch mehr Loyalität zu verlieren, begrenzte Großbritannien die jüdische Einwanderung immer stärker, je nötiger sie andererseits wurde, weil statt freiwilliger Pioniere nun notgetriebene Flüchtlinge ins Mandatsgebiet kommen wollten. Premierminister Neville Chamberlain legte im April 1939 dar, warum Großbritannien sich gezwungen sah, die Zusagen der Balfour-Deklaration zurückzunehmen: Es sei unabdingbar, »die muslimische Welt auf unserer Seite zu haben. Wenn wir gezwungen sind, eine Partei vor den Kopf zu stoßen, dann sollten das eher die Juden als die Araber sein.« Die imperiale Verteidigung ging also auch auf Kosten des zionistischen Vorhabens. Längst war ab 1935 der kleine Krieg im Mandatsgebiet, der Dreierkonflikt, entbrannt – und doch wurde seine Austragung noch einmal aufgeschoben. Der unerwartete Kollaps Frankreichs und die deprimierende Lage der britischen Streitkräfte in den Jahren bis 1942 brachte den Yishuv noch einmal an die Seite der Mandatarmacht, ging es doch spätestens seit Erwin Rommels Vorstoß auf den Suez-Kanal um das blanke Überleben der Juden in Palästina. Als deutsche Panzer nur noch 250 Kilometer von Palästina entfernt waren, herrschte im Yishuv berechtigte Angst vor dem Untergang; die schlechtbewaffneten jüdischen Streitkräfte von Palmach und Haganah bereiteten sich schon auf ein apokalyptisches letztes Gefecht in den Carmel-Bergen gegen die Deutschen vor. Auch diese trafen für sie typische Vorbereitungen: In Athen arbeitete der Sonderstab F der Wehrmacht an der Kooperation mit der »arabischen Freiheitsbewegung«, während die SS Vorbereitungen für den Genozid an jenen traf, die Tom Segev später als die überlebende »siebte Million« bezeichnen sollte. Erst die Siege von el-Alamein und auch in Stalingrad brachten die Wende im Krieg – fortan zeichnete sich ab, dass die Deutschen ihn verlieren würden, wenn auch noch nicht, wann. Der nationalsozialistische Behemoth nutzte die verbleibende Zeit, um die Vernichtung möglichst vieler Juden über jede militärische Notwendigkeit zu stellen. Der Yishuv hingegen, in dem das, was die Deutschen gerade taten, erst langsam bekannt wurde und schlicht jenseits des Vorstellbaren zu liegen schien, legte den Grundstein für die Gründung Israels. Und das Empire? Dessen Auflösung begann nahezu mit dem Tag, als es nicht mehr gebraucht wurde, um die Achsenmächte zu besiegen. 1947 kündigte Clement Attlee, der Winston Churchill 1945 als Premierminister abgelöst hatte, den britischen Rückzug aus Palästina an, und entließ im selben Jahr Indien und Pakistan in die Unabhängigkeit. Dan Diner: Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935–1942. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021, 352 Seiten, 34 Euro | Uli Krug | Uli Krug: In seinem Buch »Ein anderer Krieg« stellt Dan Diner den Zweiten Weltkrieg aus einer insbesondere deutschen Lesern ungewohnten Perspektive dar | [
"Zweiter Weltkrieg",
"Dan Diner",
"Geschichte",
"Holocaust"
] | dschungel | 06.04.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/14/der-vergessene-ozean?page=0%2C%2C0 |
Wo? | Deutschland. Wo, ja wo überhaupt machen wir jetzt unsere Revolution? Das wird ein echtes Problem in Deutschland. In Stuttgart müsste man aufpassen, dass man bei der Revolution nicht zu laut ist, sonst fühlen sich Natur und Anwohner gestört. In Hamburg hätten alle Angst, wir Revolutionäre wollten jetzt die Anwohner weggentrifizieren. Und in Berlin machen ja irgendwelche Gruppen längst jede Woche Revolution, da würde uns also niemand mehr ernstnehmen. Es ist so einfach also nicht mit der Revolution, aber immerhin haben wir mal wieder darüber geredet. AHA | : | [] | dschungel | 24.02.2011 | https://jungle.world//artikel/2011/08/wo?page=0%2C%2C3 |
|
Nüchtern aufs Eis | Als Norwegen im Jahr 1995 den Zuschlag für die Eishockey-Weltmeisterschaft 1999 erhielt, war man in dem kleinen Land mit knapp vier Millionen Einwohnern stolz. Und erhoffte sich neben steigenden Touristenzahlen auch positive Auswirkungen auf die eigenen Kufen-Cracks, die im Gegensatz zu denen des Nachbarlandes Schweden, die hin und wieder sogar Weltmeister werden, notorisch erfolglos sind. Für den finanziell schwachen Eishockeyverband würde auch noch etwas abfallen, deswegen war man drei Jahre lang hochzufrieden. Im August dieses Jahres stellte sich dann heraus, daß Norwegen die Eishockey-WM eigentlich gar nicht ausrichten darf, weil die Modalitäten der Austragung gegen die herrschenden Gesetze verstoßen. Denn der internationale Eishockey-Verband hat einen Sponsoring-Vertrag mit der deutschen Brauerei Warsteiner, die ihr Logo bei der WM natürlich auch vertreten sehen möchte. Das ist nach den Gesetzen des Gastgeberlandes jedoch illegal. Die christlich-konservative norwegische Regierung hat sich besonders dem Kampf gegen den Alkohol verschrieben. Die Norweger dürfen offiziell starken Alkohol wie Wein und Schnaps nur in staatlichen Läden zu horrenden Preisen (ein Glas Bier kostet in Kneipen zirka 10 Mark) kaufen, trotzdem haftet dem Konsum immer noch etwas Verbotenes an. Trinken in der Öffentlichkeit ist verboten. Wirte, die Betrunkene bedienen, können ihre Lizenz verlieren, der Zoll macht regelrecht Jagd auf aus dem Sommerurlaub heimkehrende Norweger, die mehr als die erlaubte Menge von zwei Litern Bier und drei Flaschen Wein aus dem Ausland einführen wollen. Ein Abgeordneter der regierenden Christlichen Volkspartei KRF erntete vor zwei Monaten für seinen Vorschlag, einen Totenkopf-Aufkleber auf Weinflaschen anzubringen, nicht etwa Hohn und Spott, sondern viel Zustimmung. Alkohol rangiert nach Auffassung der in Norwegen sehr starken christlichen Fundamentalisten in puncto Gefährlichkeit nur ganz knapp hinter Heroin. Um besonders die Jugend vor den Folgen des Alkohols zu schützen, verfügte man im vorigen Jahr ein Werbeverbot für Alkohol - ohne daß sich Protest regte. Während das geplante Verbot von Tabakwerbung in den EU-Staaten auf heftigen Widerstand der Zigarettenindustrie und Werbebranche stößt, gibt es in Norwegen keine Lobby, die sich gegen das Alkoholwerbeverbot stark machen könnte. Bierwerbung war dort einfach nicht besonders präsent. Bei Sportveranstaltungen schon gar nicht, dort ist der Alkoholausschank, wenn nicht gleich verboten, dann mindestens verpönt. Bisher hatte man sich in ähnlichen Fällen in Norwegen mit Tricksereien beholfen: Als Liverpool im vorigen Sommer zu einer im Fernsehen übertragenen Norwegen-Tournee anreiste, handelte es sich eigentlich auch um ein ungesetzliches Unternehmen. Die Trikots der Engländer zierte nämlich das Logo der Sponsorenfirma Carlsberg, die ganz eindeutig Bier herstellt. Die norwegische Gesetzeslage sorgte zwar in Großbritannien für hämische Schlagzeilen, leuchtete jedoch auch den Liverpooler Verantwortlichen ein, die ihre Sporthemden so veränderten, daß sie zwar für das alkoholische Getränk warben, die Reklame jedoch nicht nach Werbung aussah: "Probably" stand schließlich nur auf den Trikots. Daß dies "Probably the best beer in the world" und auf den Carlsberg-Slogan anspielte, verstand jeder. So einfach wird dies aber bei der Eishockey-WM nicht gehen, denn Warsteiner will auf jeden Fall sein Logo und nicht kodierte Reklame präsentiert sehen, zumal die Firma den großen Erfolg ihres Bieres - 550 Millionen Liter werden jährlich in 70 Länder exportiert - auch auf die massive Präsenz des Unternehmens bei Sportveranstaltungen zurückführt. Warsteiner sponsert u.a. den Formel 1-Fahrer Mika Häkkinen, eine eigene Serie von 60 Tennisturnieren in Deutschland, ist Partner des Internationalen Ski-Verbandes Fis, und damit bei allen Fis-Weltcup-Rennen präsent, und ist seit Jahren einer der Haupt-Sponsoren der jährlich ausgetragenen Eishockey-Weltmeisterschaften. Bislang ohne Probleme, und das soll auch so bleiben: "Entweder ist Warsteiner auch bei der WM in Norwegen dabei, oder die Veranstaltung wird an ein anderes Land gegeben", erklärte Hannes Ederer, einer der Funktionäre des Internationalen Eishockey-Verbandes IIHF die Entschlossenheit des IIHF, nicht auf den Haupt-Sponsoren zu verzichten. "Wir möchten Norwegen die WM nicht wegnehmen, sind allerdings gleichzeitig an die bestehenden Verträge mit unseren Sponsoren gebunden." Das bringt das Ausrichterland nicht nur in eine ziemlich peinliche Lage, sondern auch in finanzielle Nöte. Thomas Almskog vom Organisationskomitee gab an, daß man schon mindestens eine Millionen Mark investiert habe, die man nur dann zurückerhalte, wenn man die WM auch tatsächlich ausrichten könne - die Gewinne sind schon fest eingeplant. Man hofft auf eine Ausnahmegenehmigung, denn "unsere Bewerbung für die Eishockey-WM geschah unter anderen Voraussetzungen. 1995 war das Gesetz gegen die Alkoholreklame noch nicht in Kraft". Den norwegischen Funktionären aller Sportarten wird langsam klar, welche Auswirkungen das Werbeverbot auf den Sport haben könnte. "Wenn jetzt die Politik nicht einlenkt, dann können wir uns genausogut gleich vom internationalen Sport verabschieden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir ohne Ausnahmeregelungen für Großereignisse jemals wieder Ski-Weltmeisterschaften, Langlauf-Rennen oder ähnliches veranstalten können", sagte Bj¿rn Ruud, der Präsident des norwegischen Eishockey-Verbandes, dessen Ausnahme-Antrag aus diesem Grunde u.a. auch vom norwegischen Leichtathletik-Verband unterstützt wird. Man hofft, daß sich das Ministerium bis Ende September entschieden haben wird, denn dann findet die IIHF-Sitzung statt, auf der endgültig über die WM 1999 entschieden wird. Dabei kann man die eigene Regierung nicht auf internationale Präzedenzfälle hinweisen, denn Frankreich, wo Alkoholreklame ebenfalls untersagt ist, verbietet grundsätzlich Stadionwerbung für Bier etc. und verbot bei der Fußball-WM in diesem Sommer sogar Budweiser, einem der Haupsponsoren des Internationalen Fußballverbandes Fifa, die öffentliche Werbung. Auch ausländische Vereine, die auf ihren Trikots für einen Alkohol herstellenden Sponsor werben, werden gezwungen, die Reklame zu entfernen - ansonsten dürfen sie nicht antreten. Die norwegischen Sportfunktionäre haben allerdings noch Hoffnung: Die Regierungskoalition, die mit einer Mehrheit von nur 25 Prozent regiert und der in allen Umfrageergebnissen kaum Chancen auf Wiederwahl eingeräumt werden, kann es sich kaum leisten, die Sportfans des Landes durch ihr Beharren auf das Gesetz zu verprellen. Denn der IIHF hat schon erklärt, daß Norwegen nur dann automatisch qualifiziert sei, wenn es die WM auch tatsächlich ausrichte - sich zu qualifizieren ist für das Eishockey-Nationalteam aber traditionell gar nicht so einfach. Verstärkt wird das Dilemma für die regierenden Alkoholgegner noch dadurch, daß der Nachbar Schweden schon signalisiert, die WM 1999 ausrichten zu wollen. Und eine Regierung, die das zuläßt, wird schon gar nicht wiedergewählt. | Elke Wittich | Elke Wittich: | [] | Sport | 02.09.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/36/nuechtern-aufs-eis?page=0%2C%2C0 |
Tod in Dessau | No Justice. Ein Mann beim Protest zum Gedenken an Oury Jallohs Tod am 7. Januar in Köln »Oury Jalloh – das war Mord«: Dieser Satz begegnet einem seit Jahren auf Plakaten, Häuserwänden und Demonstrationen. Vor 17 Jahren verbrannte Oury Jalloh in einer Gefängniszelle in Dessau. Der 36jährige Mann aus Sierra Leone soll der Polizei zufolge auf einer Matratze gefesselt worden sein und habe diese dann selbst in Brand gesteckt. Um das zu schaffen, musste er zunächst ein Loch in die Matratze bohren, um an entzündbares Material zu gelangen. Das Feuer sei dann minutenlang nicht bemerkt worden. Der Feuermelder habe zwar angeschlagen, sei dann aber ausgeschaltet worden, weil es zuvor Fehlmeldungen gegeben habe. So weit die Version der damals diensthabenden Polizeibeamten. Vergangene Woche wurde einmal mehr ein Gutachten veröffentlicht, das nahelegt, dass diese Geschichte nicht stimmen kann. In Auftrag gegeben hatte es die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh (IGOJ) bei dem britischen Brandsachverständigen Iain Peck. Dieser hatte die Zelle, in der Jalloh zu Tode kam, originalgetreu nachgebaut. So konnte gezeigt werden, dass die Brandspuren, die damals an Jallohs Leiche festgestellt wurden, so nur entstehen konnten, wenn sein Körper mit einer brandbeschleunigenden Flüssigkeit übergossen worden war. Sollte das stimmen, ist davon auszugehen, dass Polizeibeamte Jalloh in Brand steckten. Jalloh soll vor seinem Tod schwer verletzt gewesen sein. Ihm seien unter anderem Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen worden. Von Anfang an gab es erhebliche Gründe, an der offiziellen Version der Polizei zu zweifeln. Schon bei einem ersten Verfahren 2008 am Landgericht Dessau warf der Vorsitzende Richter der Polizei »Schlamperei« und »Falschaussagen« vor, diese seien »erschreckend«. Es habe keine »Chance auf ein rechtsstaatliches Verfahren, auf die Aufklärung des Sachverhaltes« gegeben. »Diese Verhandlung ist gescheitert«, hieß es in der Urteilsverkündung. In einem Revisionsverfahren 2012 wurde der Dienstgruppenleiter, der in jener Nacht in der Polizeiwache Dienst hatte, wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Er musste eine Geldstrafe in Höhe von 10 800 Euro zahlen. Schon seit dem ersten Gerichtsverfahren setzt sich die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh dafür ein, den Fall aufzuklären. Das neueste Gutachten von Iain Peck ist bereits das dritte, das die IGOJ in Auftrag gab. 2013 hatte sie 30 000 Euro gesammelt, um einen britischen Brandgutachter zu engagieren. Dieser war nach monatelanger Arbeit ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass die Brandspuren an Jallohs Leiche nur durch den Einsatz mehrerer Liter einer brandbeschleunigenden Flüssigkeit zu erklären seien. Auch die in den Gerichtsakten dokumentierte Obduktion der Leiche habe entsprechende Hinweise ergeben. So sei in den Zellen der Leiche eine Konzentration von Blausäure festgestellt worden, die nur durch Brandbeschleuniger habe entstehen können. Als Reaktion auf das Gutachten hatte die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau damals neue Ermittlungen aufgenommen. Der Leiter der Staatsanwaltschaft, Folker Bittmann, stellte im Laufe dieser Ermittlungen die Vermutung auf, Jalloh könne von Polizisten verbrannt worden sein. Diese hätten womöglich vertuschen wollen, dass sie ihn schwer misshandelt oder sogar vorher schon umgebracht hatten. Diese These stellt Bittmann in einem Aktenvermerk auf, der unter anderem der Mitteldeutschen Zeitung vorlag. Dass Jalloh eine Schädelfraktur hatte, als er starb, war schon bekannt, seit die Anwälte Jallohs bei dem ersten Gerichtsverfahren eine zweite Obduktion erzwungen hatten. Bittmann hatte sogar Polizeibeamte genannt, die als Verdächtige in Frage kämen. Ihr Motiv könnte gewesen sein, so hieß es in Bittmanns Vermerk, Ermittlungen zu zwei anderen Todesfällen zu verhindern, die sich in derselben Polizeistation ereignet hatten. Der erste Fall trug sich 1997 zu. Hans-Jürgen Rose wurde um ein Uhr morgens von Polizisten aufgegriffen, weil er betrunken Auto gefahren war. Zweieinhalb Stunden später wurde er entlassen; noch einmal eineinhalb Stunden später wurde er mit schweren inneren Verletzungen an einer Straßenecke aufgefunden. Kurz danach starb er. Die Mitteldeutsche Zeitung berichtete 2018, dass alle Akten im Zusammenhang mit dem Fall Hans-Jürgen Rose verschwunden seien. Der zweite Fall ereignete sich in genau jener Zelle, in der Oury Jalloh verbrannte. 2002 war der Obdachlose Mario Bichtemann zur Ausnüchterung in diese Zelle gesperrt worden. Kurz darauf wurde er mit einem Schädelbasisbruch tot auf dem Boden aufgefunden. Der Staatsanwalt Folker Bittmann schien zumindest dem Verdacht nachgehen zu wollen, dass Jalloh von Polizisten ermordet worden war. Doch konnte er die Ermittlungen nicht zu Ende führen. 2017 entzog ihm die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg den Fall und übergab ihn an die Staatsanwaltschaft Halle (Saale). Diese stellte kurz darauf das Verfahren ein. Wenig später berichtete das ARD-Magazin »Monitor« unter Berufung auf Akten der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau, dass »mehrere Sachverständige aus den Bereichen Brandschutz, Medizin und Chemie« den Unterlagen zufolge mehrheitlich zu dem Schluss gekommen seien, »dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als die lange von den Ermittlungsbehörden verfolgte These einer Selbstanzündung«. Die Vermutung, dass Polizisten Jalloh verbrannten, um zu vertuschen, dass sie ihn schwer misshandelt hatten, wurde 2019 durch ein weiteres forensisches Gutachten untermauert, das ebenfalls von der IGOJ in Auftrag gegeben worden war. Das Gutachten wurde zwar nicht veröffentlicht, lag aber unter anderem der Taz vor. Erstellt hat es der Rechtsmediziner und Radiologie-Professor Boris Bodelle vom Universitätsklinik Frankfurt. Der Taz zufolge sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass Jalloh vor seinem Tod schwer verletzt gewesen war. Ihm seien unter anderem Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen worden. Zwei externe juristische Berater, die von der Thüringer Regierungskoalition aus CDU, SPD und Grünen beauftragt wurden, kamen dennoch zu dem Schluss, dass die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Halle »nachvollziehbar und angesichts der Beweislage sachlich und rechtlich richtig« war. Auch das Oberlandesgericht Naumburg erklärte 2019 die Entscheidung der Staatsanwaltschaft für rechtmäßig. Dagegen legte die Anwältin des Bruders von Oury Jalloh 2019 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Die Entscheidung steht noch aus. Sollte sie negativ ausfallen, plant die IGOJ, gemeinsam mit Jallohs Familie am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen. Bei dem ersten Verfahren im Jahr 2008 hatte der Richter den Eltern von Oury Jalloh 5 000 Euro angeboten, weil er absehen konnte, dass es wegen mangelnder Beweise zu keiner Verurteilung kommen würde. So wolle er zumindest ein wenig »Rechtsfrieden« herstellen. Die Eltern lehnten ab. »Wir wollen kein Geld, sondern, bei allem Respekt vor dem Gericht: ein Urteil«, erklärte der Vater Jallohs damals. Noch besteht eine geringe Hoffnung, dass es dazu einmal kommen könnte. Am 1. November ist in Wuppertal ein 25jähriger Mann im Gewahrsam der Polizei gestorben. Er war zuvor festgenommen worden, weil er einen handgreiflichen Streit mit einer Frau gehabt haben soll. Dabei soll es sich um seine Schwester gehandelt haben. Bei einer Blutabnahme soll der 25jährige das Bewusstsein verloren haben, kurz darauf sei er gestorben. Zunächst hatte die Polizei den Todesfall nicht öffentlich gemacht, Medien hatten nicht darüber berichtet. Am Samstag kursierte dann auf der griechischen Version der Website Indymedia ein Video, das die Festnahme des jungen Mannes zeigen soll. Dieser soll aus Griechenland stammen. Das Video zeigt, wie Polizeibeamte den Mann zu Boden ringen, während die filmende Frau sie anfleht, ihn in Ruhe zu lassen, er sei nur ein Kind. Erst nachdem das Video im Internet kursierte, fragte ein Journalist der Tageszeitung ND bei der Staatsanwaltschaft Wuppertal an und berichtete am Sonntag von dem Todesfall. Der Tageszeitung hatte die Staatsanwaltschaft mitgeteilt, man habe einen »internistischen Notfall« mit Todesfolge nicht für »medienrelevant« gehalten. Deshalb sei der Todesfall nicht öffentlich gemacht worden. Im Jahr 2019, dem letzten Jahr, für das es vollständige Zahlen gibt, sind insgesamt 140 Menschen »im Justizvollzug« gestorben. Darin enthalten sind auch natürliche Todesursachen. In 58 Fällen wird jedoch als Todesursache Suizid aufgeführt. Dies ging aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion »Die Linke« vom vergangenen Juli hervor. Die Todesursache »Unfall« wird im Jahr 2019 für zwei Todesfälle aufgeführt, im Jahr 2020 für fünf – wobei für 2020 noch keine Zahlen aus Nordrhein-Westfalen vorliegen. | Johannes Simon | Johannes Simon: Ein neues Gutachten im Todesfall Oury Jalloh bestärkt Zweifel an der offiziellen Version | [
"Oury Jalloh"
] | Inland | 11.11.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/45/tod-dessau?page=0%2C%2C1 |
»Zeugt nicht von verlegerischem Ehrgeiz« | Um was geht es in Matthias Döpfners Ankündigungen? Es geht um drei Dinge: erstens um die Transformation der Zeitungstitel von einem starken papier- und druckgestützten Standbein zu einem zukünftig viel stärkeren Digitalstandbein. Zweitens geht es um die Frage, welches Personal man hierfür benötigt und wie Journalismus im Digitalen zukünftig gemacht werden soll. Drittens geht es um die besondere Situation der Axel Springer AG, die mit Kohlberg Kravis Roberts (KKR) seit 2019 einen sehr starken Gesellschafter hat, der als Finanzinvestor für seine Kunden hohe Renditen erwartet. Das, was jetzt verkündet wurde, hat unseres Erachtens weniger mit den ersten beiden Fragen zu tun als damit, dass man die Rendite auf Kosten des publizistischen Angebots erhöhen möchte. Das ist die Entscheidung, die wir kritisieren. Verdi vergleicht die Situation bei Axel Springer mit der Situation bei Bertelsmann, dessen CEO Thomas Rabe eine ähnliche Ankündigung machte. Ist so eine starke Profitorientierung im Journalismus derzeit üblich? Es ist wichtig zu sagen, dass es sowohl bei Gruner und Jahr als auch bei Springer nicht um Titel geht, die nicht profitabel sind. Es gibt keine finanzielle Not. Beide Verlagshäuser verzeichnen höhere Renditen, als sie beispielsweise im Einzelhandel oder im produzierenden Gewerbe üblich sind. Das liegt auch daran, dass insbesondere Axel Springer ein Digitalangebot entwickelt hat, das mit relativ geringen Kosten auskommt und in dem die Abonnementszahlen wachsen. Auch der Spiegel-Verlag, an dem Bertelsmann beteiligt ist, macht, wie viele andere Verlage, gute Gewinne. Das macht es noch schwieriger, die Entscheidungen von Springer und Bertelsmann nachzuvollziehen, weil es im Kern Entscheidungen gegen journalistische Vielfalt sind, die nicht gerade von verlegerischem Ehrgeiz zeugen. Springer begründet den Schritt aber dezidiert nicht mit gemachten Verlusten, sondern damit, zukünftige Verluste im Print zu vermeiden. Ist das nicht eine finanzielle Not? Wir bestreiten überhaupt nicht, dass die gedruckten Zeitungen immer weniger Bedeutung haben werden. Verdi hat sogar schon lange die Verlage dazu ermahnt, weniger Gratisangebote im Digitalbereich anzubieten. Unser Problem besteht vielmehr darin, dass Matthias Döpfner die Strategie mit Wortwolken begleitet wie Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, es im Kern aber eine Entscheidung bleibt, mit weniger Menschen Journalismus zu machen. Das ist keine Frage ob Papier oder Digital, sondern eine, mit wie vielen Leuten man arbeiten möchte. Ich denke, da sind Zweifel angebracht, ob man mit weniger Personal das Gleiche wird leisten können. Welche Folgen hat das für die Menschen, die im Journalismus arbeiten? Wir verzeichnen allgemein in den letzten 20 Jahren einen Personalrückgang von 25 Prozent in der Branche. Auch die Aufträge an freie Journalisten werden deutlich zusammengestrichen. Das führt dazu, dass Fachjournalisten von ihrer spezialisierten, hochwertigen und für die Verlage so wichtigen Arbeit nicht mehr leben können und zum Beispiel in die PR oder ins Veranstaltungswesen abwandern. | Jens Winter | Jens Winter: Matthias von Fintel, Verdi-Sprecher, über die Pläne der Axel-Springer-Verlagsgruppe | [
"Small Talk"
] | Small Talk | 09.03.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/10/zeugt-nicht-von-verlegerischem-ehrgeiz?page=0%2C%2C1 |
Wer mag schon Montage? | Tücke der Technik. Statt zuverlässig Kaffeemaschinendinge zu tun, braucht so ein sensibles Gerät zuweilen erstmal gutes Zureden durch den Profi Der ganz große Nachteil davon, montags am Leben zu sein, ist, dass ständig irgendwas passiert, das einen vom Kolumnisieren abhält. Und zwar irgendwas im Sinne von »Och nöööö« und »Na super, das jetzt auch noch«, das auf der Stelle geregelt gehört, und zwar noch vor dem ersten Kaffee. Auf Twitter wird derweil über »Sprechorte« verhandelt, was Jargon für – ach egal, für die allgemeine und besondere Blödianigkeit der Welt ist jetzt keine Zeit, denn natürlich hat nun auch noch die Kaffeemaschine Ansprüche. Moderne Kaffeemaschine geht nämlich so: Statt mehr oder weniger still und zuverlässig Kaffeemaschinendinge zu tun, teilt sich das Gerät ständig ungefragt mit. Und dann muss man auf der Stelle Sachen tun wie Kaffeebohnenreste entfernen, Wasser nachfüllen, den Entkalkungsvorgang beginnen. Weil es ja offenkundig nicht möglich ist, dass das Teil in seinem Mitteilungsfenster hilfreiche Hinweise wie »Noch zwei Tassen Kaffee, dann ist das Wasser alle« gibt, sondern es erst dann Alarm schlägt, wenn gar nichts mehr geht. Moderne Kaffeemaschine geht nämlich so: Statt mehr oder weniger still und zuverlässig Kaffeemaschinendinge zu tun, teilt sich das Gerät ständig ungefragt mit. Was irgendwie auch wieder zur Weltlage passt, beziehungsweise passen würde, wenn man Zeit hätte, darüber nachzudenken, aber jetzt verdammt noch mal nicht, weil, jetzt muss nämlich herausgefunden werden, warum die EC-Karte gestern nicht funktionierte, obwohl man nachgerade vorbildlich sofort die richtige Zahlenkombination wusste und nicht erst zwei Mal aus Versehen den Code fürs Handy eingegeben hatte. Kaffee, endlich Kaffee. Und dann feststellen, dass die Karte noch ein bisschen blöder ist als die Kaffeemaschine, weil sie nämlich am Vortag nicht etwa einen schrecklichen Defekt hatte, sondern bloß keine Lust zu funktionieren. Passiert halt manchmal, kann man nix machen, liegt vielleicht am Wetter oder auch nicht, heißt es dazu bei der Kartenexperten-Hotline, wo man natürlich ewig in der Warteschleife herumhängen musste, bevor jemand dranging, der dazu auch noch so gar nicht beeindruckt vom großen Problem war. Wenigstens ein bisschen Mitgefühl wäre schön gewesen, aber nein, dies ist einer dieser Montage. Bah. | Elke Wittich | Elke Wittich: Jammernde Küchengeräte und »Sprechort« als Jargon für die Blödianigkeit der Welt | [
"Das Medium"
] | dschungel | 20.07.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/29/wer-mag-schon-montage?page=0%2C%2C1 |
Bäuerinnen bevorzugt | Eine Ausstellung über eine deutsche Künstlerin zu machen, die zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wohl den Höhepunkt ihrer Karriere erlebte: Die Magenschmerzen bahnten sich schon vor Beginn der Recherche an.« Das Unbehagen, das die Studentin Sonja Weishaupt in ihrem Aufsatz äußert, der Teil der Textsammlung zur Ausstellung »Menschenbild und Volksgesicht. Porträtfotografie zwischen Konstruktion und Propaganda« ist, verspürt man zunächst auch als Besucher. Man ist doch ein wenig misstrauisch, zu gegenwärtig sind noch die zahlreichen Versuche, die Regisseurin Leni Riefenstahl zu rehabilitieren und sie zur einer letztlich unpolitischen »reinen« Künstlerin zu erklären. Fast stellt sich Erleichterung ein, wenn man feststellt, dass im Museum Europäischer Kulturen in Berlin dann doch keine affirmative Bilderschau gezeigt wird, sondern dass eine sensible und kritische Einbindung der Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus in ihren Entstehungskontext erfolgt. Seit dem Jahr 2003 forschten 22 Studierende der Europäischen Ethnologie an der Berliner Humboldt-Universität am Beispiel der Fotografin Erna Lendvai-Dircksen (1883 bis 1962) zum Thema Porträtfotografie im Nationalsozialismus. Das Ergebnis ist weniger eine lückenlose Werkschau als eine künstlerische und historische Bearbeitung des Materials. Bereits am Eingang erwartet den Besucher eine großformatige Fotocollage des Künstlers Marcel D’Apuzzo mit dem Titel »Die Taufe – Vereinsheim für Jedermann«. Eine Gruppe von alten und jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft steht vor dem Eingang eines Landgasthofs, man sieht im Hintergrund eine Collage mit Schwarz-Weiß-Fotografien von blonden Mädchen, entschlossenen Landarbeitern und zerfurchten Gesichtern alter Bäuerinnen. Es sind Bilder aus dem Werk »Das Deutsche Volksgesicht« von Lendvai Dircksen, das von der Künstlerin selbst als ihr »Lebenswerk« bezeichnet wurde. Hier fotografierte sie ab 1932 vermeintlich unberührte Landstriche des so genannten großdeutschen Reiches und ihre Bevölkerung. Daraus entstanden in reger Abfolge Bildbände. Ob sie die Bevölkerung in Niedersachsen, Kurhessen, Norwegen oder Tirol ablichtete, stets betitelte Lendvai-Dircksen ihre Bilder mit aussagekräftigen Überschriften: »Oberharzer Holzfäller und seine Frau, die Mutter von elf schönen und tüchtigen Kindern« etwa oder »Hünengrab auf der Wurster Geest«. Immer war es die Fotografin selbst, die die Begleittexte zu den Fotos verfasste und so Bild und Text zu einer völkischen Gesamtaussage verschmolz. Etwa 20 Bildbände mit einer Gesamtauflage von 250 000 Exemplaren machten ihr Werk zu einem der meistverkauften im Nationalsozialismus. Außerdem fanden Arbeiten Lendvai-Dircksens rege Verwendung in Illustrierten, als Zigarettenbildchen oder in Sammelbänden. Dass die Fotos – trotz der vermeintlichen Besonderheit der fotografierten Gegenden und ihrer Einwohner – nur sehr wenig variierten, macht die Installation »Vorbildliche Körper: Ideale und Typisierungen« im ersten Raum der Ausstellung deutlich. 25 Bilder der Fotografin bedecken hier fast die gesamte Wand. Aufgereiht sind sie nach thematischen Gesichtspunkten: »Blonde Kinder«, »Fernblick«, »Deutsche Arbeit«, »Trachten« und »Gesichtslandschaften«. Man könnte beim besten Willen nicht sagen, wo sie aufgenommen worden sind. Die dazugehörigen Texte kann sich der Betrachter über Kopfhörer anhören, was eine gewisse Intimität gegenüber dem Gegenstand erzeugt. In eine ähnliche Richtung verweist das Video »Die Bilderflut der Erna Lendvai-Dircksen« von Marcel D’Apuzzo, bei dem die Aufnahmen der Fotografin übereinander gelegt wurden, jetzt in Zeitraffergeschwindigkeit am Zuschauer vorbeirasen und jede Besonderheit der Bilder zum Verschwinden bringen. Eine Ausnahme innerhalb der völkischen Eintönigkeit der Porträtfotografie Lendvai-Dircksens bildet neben den eher schulmädchenhaften Frühwerken aus dem Berliner Lette-Verein sicherlich die Serie »Reichsautobahn. Mensch und Werk«, die sie 1937 als Auftragsarbeit ausführte. Hier gelingt der Künstlerin, die sich ansonsten um den Bauern und seine Scholle kümmerte, tatsächlich eine Gratwanderung. Wäre diese Serie nicht ganz unmittelbar an die nationalsozialistische Herrschaft geknüpft – über 150 000 Arbeiter litten zu dieser Zeit schon an Erschöpfungszuständen, und vermehrt wurden auch Zwangsarbeiter herangezogen –, würde sie fast schon Bewunderung verdienen: Der Bauer, dessen Landschaft durch die Straße eigentlich zu Schaden kommt, zieht hier friedlich mit einem Pflug, der zu dieser Zeit eigentlich schon gar keine Verwendung mehr erfuhr, unter der Autobahnbrücke her. Neben dem Asphalt grasen genügsam die Schafe. Trotz einer lupenreinen nationalsozialistischen Überzeugung besaß die Fotografin die Fähigkeit zu taktischem Agieren. Diese Flexibilität bewahrte sich Erna Lendvai-Dircksen auch in der Zeit nach dem Krieg. In einem Brief von 1952 teilte sie mit, dass sie den »nordischen Rassefimmel nie mitgemacht« habe, und organisierte in den Folgejahren weitere Ausstellungen mit alten und neuen Bildern. Aus dem »Volksgesicht« wird nun das »Menschenbild«. Damit ist vielleicht die Schwäche der Ausstellung angesprochen. Denn solche Äußerungen wie auch die Rezeption von Lendvai-Dircksen als »Altmeisterin der Fotokunst« in der BRD in den sechziger Jahren werden zwar dokumentiert, eine Verarbeitung der Kontinuitäten gelingt jedoch bedauerlicherweise kaum. Die Arbeiten, die sich selbst ein »neues« Bild der Deutschen schaffen wollen, sind entweder wirr, wie das grellbunte Acrylbild »Das deutsche Volksgesicht« von Pavel Forman, wo sich neben Joseph Ratzinger unter anderem Roberto Blanco mit rotem Hitler-Bärtchen findet, oder sie feiern Bilder des Multikulti. | Jessica Zeller | Jessica Zeller: | [] | dschungel | 03.08.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/31/baeuerinnen-bevorzugt?page=0%2C%2C2 |
Der Herr des Feuilletons | Noch immer kann man seinen Twitter-Account einsehen. Frank Schirrmacher postete dort bis zu seinem Tod täglich Nachrichten, oft setzte er drei bis vier Tweets an einem Tag ab. Immer wieder ging es um das Internet, seltener um Opern oder Bücher. Sein letzter Tweet zeigte seine Sorge angesichts der vorrückenden Isis-Einheiten im Irak: »Bilanz des Krieges gegen den Terror: Der Irak fällt in die Hände von Leuten, die selbst AlKaida zu extrem sind.« Dazu ein Link auf einen Artikel im Guardian. Von der Nachricht seines plötzlichen Todes im Alter von nur 54 Jahren zeigten sich selbst jene berührt, die seinem machtbewussten Auftritt wie seinen feuilletonistischen Einlassungen zu allem Möglichen ausgesprochen kritisch gegenüberstanden.
Schirrmacher war einer der jüngsten Redakteure in der Geschichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, er war der jüngste Leiter des Literaturressorts, als Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki, er war der jüngste Leiter des Feuilletons, als Nachfolger von Joachim Fest, der ihn 1984 als Hospitanten in das Blatt geholt hatte, und er war 20 Jahre lang Mitherausgeber der Zeitung, deren heutiges Erscheinungsbild er wesentlich geprägt hat. So fällt es fast schon schwer, den Zeitpunkt seines Todes nicht in Verbindung mit dem derzeit vorbereiteten Umbau in der Zeitung bringen: Der als besessen geltende Journalist erleidet einen Herzinfarkt in einer Zeit, in der die FAZ in ihrer bisherigen Form auf den Prüfstand gestellt wird. Der Verlag hat sich »Berater« ins Haus geholt, die Antworten auf die Printkrise suchen sollen. Entlassungen und eine »Verschlankung« der Redaktion sind wahrscheinlich. Schirrmacher hat stets für »sein« Feuilleton, aber auch für das gesamte Blatt gekämpft und sich vor seine Leute gestellt, wenn es darum ging, eine personell gut ausgestattete Redaktion gegen die Einfälle der Geschäftsführung zu verteidigen. Er liebte dabei, ganz Patriarch, offensichtlich jene, die er antrieb. Ganz im Sinne seiner Redakteure äußerte sich Schirrmacher noch in der vergangenen Woche. Der Spiegel zitierte ihn in der Woche seines Todes mit diesem Satz: »Unser Readerscan widerlegt die Behauptung, der moderne Leser wolle nur noch einen schnellen Überblick und kurze Artikel, zumindest für die FAZ total.« Die finale Auswertung ist für Juli angekündigt, es ist schwer vorstellbar, dass das Feuilleton durch den Tod Schirrmachers nichts von seiner bislang starken Position innnerhalb des Blattes einbüßen wird.
Selbst ein Journalistenkollege wie Gustav Seibt, der zeitweilig als Literaturchef im Ressort tätig war und die FAZ nicht zuletzt wegen Unstimmigkeiten mit Schirrmacher verlassen haben soll, kommt ins Schwärmen über den Verstorbenen. Das Ansehen, das dieser unter Feuilletonisten und Medienleuten genießt, speist sich nicht zuletzt daraus, dass Schirrmacher das deutschsprachige Feuilleton und die Rolle des Feuilletons schlechthin verändert hat. Erst vor wenigen Wochen gelang es ihm, das Kulturressort innerhalb des Blattes zu adeln, indem er das Feuilleton der FAZ in das zweite Buch der Ausgabe rückte: nach der Politik zwar, aber vor der Wirtschaft. Das wäre bis in die neunziger Jahre undenkbar gewesen; die Kultur war dem Kampfblatt der deutschen Marktradikalen bis dato immer nur schmückendes Beiwerk gewesen.
Ende der neunziger Jahre hatte Schirrmacher, der das gesamte Feuilleton der FAZ gerne von Berlin aus produziert hätte, die »Berliner Seiten« ins Leben gerufen, die bis 2002 produziert wurden. Mit dieser Beilage sollten Leser und Leserinnen in der immer wichtiger werdenden Hauptstadt gewonnen werden, doch fand man kaum Lokalnachrichten in dieser »Lokalausgabe«, sondern vielmehr eine feuilletonische Betrachtung der Stadt. Das neue, aufregende Berlin aber, in dem lauter neue Tucholskys und Kracauers flanierten, hatte sich der zu dieser Zeit bereits in Potsdam lebende Schirrmacher wohl nur erträumt. Zwischen Spandau und Köpenick jedenfalls war es nicht zu finden. Die »Berliner Seiten« fanden einen Nachfolger, der weitaus erfolgreicher wurde – die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die seit dem September 2001 bundesweit erscheint und inzwischen eine deutlich höhere Auflage als die täglich erscheinende FAZ hat. Das zuvor nur in der Rhein-Main-Region erschienene Sonntagsblatt wurde unter Schirrmachers Leitung knallbunt umgestaltet und mit einem grundsätzlich ironischen Ton versehen. Die FAS schaut in all ihren Ressorts mit spöttischer Distanz auf den Lauf der Welt, in großen Reportagen und Dutzenden von Glossen wird das Publikum unterhalten.
Auch in das althergebrachte FAZ-Feuilleton brachte Schirrmacher Bewegung, mehr Unterhaltung, mehr Lebensweltliches, das Themenspektrum wurde breiter. Neben den gelehrten Aufsätzen zu Goethe, Rubens und Beethoven standen jetzt naturwissenschaftliche Diskussionen, Rezensionen zu Popmusik, Kritiken zu HBO-Serien wie »Sex and the City«. Schirrmachers persönliche Mission war es, dramatische Entwicklungen vorherzusehen, in der Demographie, in der Medizin oder der digitalen Kultur, und Alarm zu schlagen. Er lobte, mahnte und kämpfte dabei nicht selten mit der deutschen Sprache, für deren exzellente Beherrschung ihm dennoch ein Preis verliehen wurde. Schirrmacher engagierte sich für seine Zeitung und wurde zu so etwas wie ihrem Gesicht – er war derjenige, den auch jene kannten, die die FAZ nicht einmal gelegentlich zur Hand nahmen.
Schirrmacher reichte es aber nicht, nur für die FAZ zu stehen, er wollte zunehmend für sich selbst stehen. So verlegte er sich darauf, nebenher und unter Ausnutzung seiner Medienmacht Bestseller zu schreiben, Bücher, die von Bild bis Bunte, von Focus bis Stern gelobt wurden und an denen selbst die mit der FAZ verfeindete Süddeutsche Zeitung nicht vorbei kam. Sein Buch »Das Methusalem-Komplott« behandelt die drohende »Überalterung der Gesellschaft«, in seinem Buch »Minimum« machte er sich Sorgen über den Fortbestand der Familie als »Keimzelle der Gesellschaft«, in »Payback« sah er im Internet einen Angriff auf die Grundlagen der Kultur, in »Ego. Das Spiel des Lebens« schließlich schrieb er allerhand Unsinn zu der an sich schon haarsträubenden These, dass die Banker mit Hilfe der im Kalten Krieg entwickelten Spieltheorie uns alle in zwei Personae aufspalteten, deren eine dann schwerst manipuliert würde. Mit diesem Buch gewann er viele kopflose Linke für sich, die danach lechzten, dass ein Prominenter auch einmal ein bisschen Kapitalismuskritik übt.
Schirrmacher war allerdings selbst dann, wenn er zugab, dass »die Linke« in einigen Punkten recht habe, und Peter Hacks mit den Worten »Er ist unser« feierte, stets der konservative Anhänger von Stefan George, Thomas Mann und Gottfried Benn. Wenn er Günter Grass in einem Interview das Bekenntnis entlockte, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, so ging es ihm auch darum, einen eitlen Sozialdemokraten zu blamieren. Martin Walser hingegen wurde von Schirrmacher stets hofiert. Zwar kritisierte er dessen antisemitisch gefärbtes Buch »Tod eines Kritikers«, da Walser damit Reich-Ranicki diffamiert hatte, aber das hatte keine Konsequenzen. Bereits Walsers berüchtigte Rede in der Paulskirche wurde von Schirrmacher mit Beifall aufgenommen. Schirrmacher fürchtete die Macht der Frauen, über Liz Mohn, Friede Springer, Ulla Berkéwicz und Sabine Christiansen schrieb er: »Eine Telefonistin, ein Kindermädchen, eine Schauspielerin und Schriftstellerin und eine Stewardess definieren das Land.« Thilo Sarrazin gab er eine Bühne – und verriss ihn zugleich, Sarrazins allzu eitles Geraune war dem Bildungsbürger, den Schirrmacher gern spielte, zu niveaulos.
Mit seinem plötzlichen Tod hat er eine weitere große Kampagne im Feuilleton ausgelöst. Das hätte Frank Schirrmacher vermutlich gefallen. | Jörg Sundermeier | Jörg Sundermeier: Zum Tode von Frank Schirrmacher | [] | dschungel | 19.06.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/25/der-herr-des-feuilletons?page=0%2C%2C0 |
»Gelebt wie verrückt« | Undatierte Aufnahme von einer der zahlreichen Lesungen, an denen Peggy Parnass teilgenommen hat Eine Stelle, die mich im Film beeindruckt hat, ist eine Szene aus einer Talkshow, in der du inmitten von Offizieren und jungen Soldatinnen der Bundeswehr sitzt und für Pazifismus eintrittst.Das vergesse ich nie! Da hatten sogenannte Feministinnen dafür geworben, dass Frauen Soldatinnen werden können, im Namen der Gleichberechtigung. Und wo immer sie auftraten, um zu erklären, wie nötig die Beteiligung von Frauen an der Bundeswehr für die Gleichberechtigung sei, habe ich erklärt: Ich will auch Gleichberechtigung, aber nicht Frauen rein, sondern Männer raus aus der Armee. Das ist meine Gleichberechtigung. So will ich das haben. Die anderen haben leider gewonnen.Und da gab es diesen Fernsehabend, mit lauter schicken jungen Mädchen, kleinen Jungs, alle in Uniform, und so fand die Debatte statt. Es freut mich sehr, dass dies im Film mit drin ist, den die beiden gemacht haben, Jürgen Kinter und Gerhard Brockmann.Du bist aber im Film auch zu sehen, wie du dich an einer Demonstration beteiligst, die sich gegen die Beteiligung von Frauen an der Bundeswehr gerichtet hat …Ja, überhaupt gegen die Bundeswehr. Die Demo habe ich angeführt. Du hast als Kind zu einer Zeit, als ihr noch als Familie in Deutschland zusammen gelebt habt, die Nazis erlebt?Ja, da war schon alles klar, es war kein Geheimnis. Ich wusste, dass sie uns umbringen wollten: Nicht Krieg, sondern Mord. In einem Text beschreibst du, wie ihr als Familie in ein Schwimmbad gegangen seid – ihr konntet nur heimlich reingehen und mit der Angst, erwischt zu werden.Alles, alles, was wir machten war verboten. Meine süße kleine Mutti, die hat vieles gemacht, weil sie wollte, dass wir auch Spaß haben. Dabei wusste sie, dass es schlimme Folgen haben würde, wenn wir erwischt worden wären. Wir durften gar nichts: nicht ins Kino, nicht in Schwimmbäder, nicht ins Theater. Wir durften nicht auf einer Parkbank sitzen, das war für Juden und Hunde verboten. Wir durften überhaupt nichts. Da war eine lange Schlange, wir kamen gut durch, haben schön gebadet. Aber als wir drin waren, wussten wir auch: Wir müssen hier ja wieder raus. Und Mutti war als Jüdin zu erkennen mit ihren schwarzen Locken. Ja, mit ihren schönen großen Augen, ihrem schönen Mund, mit vollen Lippen. Da war die Angst, die wahnsinnige Angst. Wir durften auch nicht Eis essen. Da kam immer der Eiswagen: »Eis, Eis«, Klingelingeling. Da haben wir Eis geholt, in einer Waffel, einer Doppelwaffel; unten eine Waffel, dazwischen Eis, drüber auch eine Waffel. Wunderbar, aber das war natürlich auch verboten. Sie hat es trotzdem gemacht, damit wir Eis essen konnten. Dann kam die Trennung von der Mutter.Für sie muss das die absolute Hölle gewesen sein. Ihre einzigen Kinder, der vierjährige Junge, der blonde Lockenkopf, und ich. An mir hatte sie keine Freude, ich habe immer gekotzt, nach jeder Mahlzeit. Ich konnte nicht essen und war sehr ernst. Es gibt keine Kinderfotos von mir, auf denen ich lache oder lächele – es gab ja gar nichts zu lachen. Das kam erst später, dann hatte ich eine wilde und fröhliche Zeit, viel später. Da habe ich dann drauflosgelebt wie verrückt, aber erst Jahrzehnte später. Deine Mutter hat euch dann nach Schweden geschickt?Sie hat uns in den Zug gesetzt und so getan, als sei das eine Ferienreise, und in einem halben Jahr würde sie nachkommen. Ich wusste, sie kann nicht nachkommen. In Schweden habe ich dann noch etwas versucht. Ich bin zum König gegangen, weil ich dachte, der hat hier das Sagen. Bis zu einem Adjutanten habe ich mich vorgeschrien und vorgeheult. Keiner wollte mir glauben, was in Deutschland los ist, ich habe es denen erzählt: Dass sie meine Eltern retten müssen, weil die sonst umgebracht werden. Schreckliche Phantasien hat das Kind, dachten die. Aber irgend etwas ist durchgedrungen, sie haben sich immerhin an meinen Vormund gewandt. Die dachten erst, der hätte mich geschickt, aber der hatte keine Ahnung. Später, als ich erwachsen war, haben mich Leute angesprochen: Bist du nicht das Kind, damals mit dem kleinen Bruder zum König gegangen ist? Damals sah es einen Moment so aus, weil das so unerwartet und ungewöhnlich war, dass sie sich tatsächlich einsetzen wollten. Aber dann brach der Krieg aus, das war genau zu dem Zeitpunkt. Da ging gar nichts mehr. Mein Vater war sowieso schon weg, der war ja mit dem Polentransport weggeschickt worden. »Wir durften gar nichts: nicht ins Kino, nicht in Schwimmbäder, nicht ins Theater. Wir durften nicht auf einer Parkbank sitzen, das war für Juden und Hunde verboten.« Nur noch eure Mutter war mit euch in Hamburg?Ja, und ihre Schwester mit ihrer Familie. Ja. Da lebten die ja alle noch. Pudl, unser Vater, hatte eine riesengroße Familie. Die waren zwölf Kinder. Alle umgebracht. Über 100 Verwandte von mir wurden vergast, erschossen, von den Nazis ermordet. Die Geschwister meines Vaters habe ich gar nicht kennenlernen können, die lebten in Wien. Kamen aus Polen, Tarnopol. Sind nach Wien ausgewandert, vor langer Zeit. Alle umgebracht. Bis auf einen Onkel, der ist nach London ausgewandert, lange vor dem Krieg schon. Bei dem haben wir dann auch zusammen drei Jahre in London gelebt. Gady, mein Bruder, blieb in London. Wir waren staatenlos geboren. Eine einzige Scheiße, so wie für die, die jetzt herkommen, keine Nationalität haben, oder sich nicht ausweisen konnten. Wir waren immer überall illegal, hatten gar keine Rechte, gar nichts. Als Kind nannten wir ihn Bübchen, jetzt heißt er Gady. Gady hat jetzt zwei Nationalitäten, er ist Engländer und Israeli. Und ich habe eine ergaunert, ich bin Schwedin. Dass hat das Leben sehr vereinfacht. Aber vorher war es schwer. Wann bist du schwedische Staatsbürgerin geworden?Danach. Nach dem Ende des Kriegs?Ja. Lange danach. Aus London bin ich zurück nach Schweden. Da habe ich immer jemanden zum Heiraten gesucht. Einer hat mich angezeigt bei den Behörden, weil ich mich weigerte, mit ihm zu schlafen. Ich sei eine Abenteurerin, die eine Scheinehe eingehen will. Dadurch wurde alles sehr kompliziert. Dann half mir aber ein Kollege. Ich schrieb damals für ein kommunistische Tageszeitung Filmkritiken, Filme waren mir wichtig. Dadurch konnte ich immer gratis ins Kino. Und die Straßenbahnfahrt haben die ersetzt. Ansonsten hatten die kein Geld dafür. Die Zeitung hieß Ny Dag, Neuer Tag. Der Kollege war der Musikkritiker bei der Zeitung und sah, dass nichts klappte: Einer holte seinen Großvater zum Heiraten aus dem Altersheim, aber der starb dann schlagartig, bevor es zu einer Heirat kam. Alles ging schief, da meinte der Kollege: Das kann ich doch machen. Er fand das sehr praktisch, denn er war sehr sexy, sah gut aus, hatte viele Frauen, viele Geliebte. Und dann konnte er immer sagen: Ich würde dich ja so gerne heiraten, aber ich bin schon verheiratet. Eben in der Scheinehe mit mir. Die Abmachung war, dass sobald ich einen Pass hatte, zum ersten Mal, dann käme sofort die Scheidung. Aber sechs Jahre lang hat er sich geweigert, sich scheiden zu lassen. Das war sehr unbequem, denn damals konnte der Ehemann bestimmen, ob man reisen darf, was man überhaupt darf. Den habe ich zwar nie mehr gesehen, ich war ja weg aus Schweden, aber der hat sich andauernd eingemischt. Das Leben war sehr kompliziert. Jetzt bin ich eine große, blonde Schwedin (lacht). »Als ich nach Deutschland kam, bin ich sofort in die damals bestehende Jüdische Gemeinde und in die IDK, die Internationale der Kriegsdienstverweigerer, eingetreten. Sofort. Und immer Mitglied geblieben.« Dann bist du nach Hamburg gegangen?Ich bin auf der Durchreise hier hängengeblieben. Ich war in London gewesen, wollte zurück nach Schweden, hatte aber keine Wohnung. Damals musste man sich eintragen in eine Liste, um eine Wohnung in Schweden zu bekommen. Die Wartezeit auf eine freie Wohnung betrug sieben Jahre. Ich hatte überhaupt nichts, war auf dem Rückweg nach Schweden. Auf der Durchreise durch Hamburg wollte ich meine Cousine Urselchen besuchen, die ich elf Jahre nicht gesehen hatte. Die war wie ein Zwilling für mich, als wir klein waren. Ich war nur ein paar Monate älter, wir waren jeden Tag zusammen. Sie hatte einen nichtjüdischen Vater, deshalb war sie nicht umgebracht worden. Als wir festgenommen wurden, nachdem unser Vater schon weg war in Polen … ach, ich habe keine Lust, darüber zu reden. Aber nach drei Tagen bin ich dann bei meiner Cousine ins Bett gekrochen, da sagte Urselchen: Du bist nicht da, du bist nicht da; du bist doch tot, du bist doch tot. Du bist nicht da, du kannst nicht da sein. Sie sagte völlig unter Schock: Du bist doch tot. Und Urselchen besuchte ich wieder auf der Durchreise. Sie sagte: Morgen fängt die Uni an – ihr erster Tag an der Uni. Da sagte ich: Ich komme mit, ich will bei dir sein. Am ersten Tag schon habe ich Leute kennengelernt, natürlich. Die fanden mich sehr ungewöhnlich, denn ich war sehr frei aufgewachsen, und hier waren die noch sehr spießig. Da hatte ich schnell viele Studenten um mich, (Peter) Rühmkorf, (Klaus Rainer) Röhl, (Dick) Busse … Mit ihnen zusammen habe ich dann eine Theatergruppe, eine Studentenbühne gegründet. In die bestehende durfte ich nicht rein, und die anderen auch nicht, wenn sie zu mir hielten. So haben wir ein eigenes Kabarett gegründet, das hieß die »Pestbeule«. Dahinten hängt ein Plakat. Da über den Fotos von Rosa Luxemburg und Ulrike Meinhof?Das Plakat hat Röhl mir mal geschickt. Da war ich allerdings schon in Paris, als das rauskam. Da bin ich in Paris hängen geblieben. Aber ich hatte davor eine Wohngemeinschaft mit denen vom Studententheater. Es war eine sehr schöne Zeit, eine hoffnungsfrohe Zeit. Hattest du zu der Zeit des Studententheaters schon Kontakt zu deiner Tante Flora und deinem Onkel Rudi Neumann?Nein, da noch nicht. Die waren da noch nicht in Deutschland. Die waren nach der Zeit in den KZ erst fünf Jahre in Belgien, wo sie auch aufgeflogen waren mit ihrer kommunistischen Widerstandsgruppe. Dadurch kamen sie nach Auschwitz und Buchenwald. Sie wurden verpfiffen. Kamen dann wieder nach Brüssel, wo sie ein Kinderheim leiteten. Sie sagten später, dass sei die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Es war ein Heim für Kinder, die verstreut in den Wäldern lebten, jüdische Kinder. Völlig verwahrlost, völlig kaputt. Fünf Jahre haben sie das Heim geleitet, dann wurde es aufgelöst, die Kinder wurden nach Amerika, nach Palästina geschickt. Sie wussten nicht wohin und kamen nach Hamburg zurück, wo sie ursprünglich mal hergekommen waren. Dann haben wir uns erst kennengelernt. Auf Demos. Wir haben uns auf jeder Demo getroffen. Dadurch waren wir uns sehr nah. War das in den Zeiten der Ostermärsche?Weiß ich nicht so genau. Beim Ostermarsch war ich von Anfang an dabei. Ich kann das zeitlich nicht einordnen. Es war die Zeit der Proteste gegen die Wiederbewaffnung und Atomwaffen …Ja, gegen die Bundeswehr, natürlich. Zur Bundeswehr bin ich gegangen, als die anfingen, Akademiker auszubilden. Da haben wir uns in die noch leere Bundeswehrhochschule reingesetzt für einen Tag und dagegen protestiert. Als ich nach Deutschland kam, bin ich sofort in die damals bestehende Jüdische Gemeinde und in die IDK, die Internationale der Kriegsdienstverweigerer, eingetreten. Sofort. Und immer Mitglied geblieben, obwohl ich aus der Gemeinde mehrfach austreten wollte, aber aus irgendeiner Sentimentalität heraus bin ich immer noch drin. Aus eigentlich überhaupt keinem Grund, denn Sentimentalität ist nicht das, was ich gut brauchen könnte. Vor einiger Zeit hast du an der Veranstaltung zur Umbennung einer Straße im Flora-Neumann-Straße teilgenommen. Deine Tante Flora und dein Onkel Rudi Neumann haben die Ehrung selbst nicht mehr erlebt. Wer waren die beiden für dich?Sie waren wunderbare Menschen, die nach allem, was sie erlebt hatten, Menschen weiter liebten. Immer Anteil nahmen. Die hatten immer viele Leute um sich herum. Wenn da jemand rumgejault hat, er sei erkältet, sagten sie gleich: »Oh, du Armer, bist du erkältet.« Sagt sie, die halb totgeschlagen worden war. An der alles kaputtoperiert worden war. Er, völlig kaputtgeschlagen, alles zu Bruch gehauen, alles: »Pass auf, dass es keine Grippe wird, ich mach dir eine Hühnersuppe.« Leck mich doch am Arsch! (Peggy Parnass zeigt an die Wand gegenüber.) Das ist Peter Weiss dort neben mir auf dem Foto. Da sitzen wir da, wo wir jetzt gerade sind. Hier haben wir auf der Bettkante gesessen. Peter Weiss ist ja in Schweden geblieben.Ja. Er kam immer mal wieder her. Er rief mich an, als mein Buch »Prozesse« erschienen war, wir kannten uns bis dahin nicht. Er meinte, er hätte gerade mein Buch gelesen, würde mich gerne treffen und mit mir reden. Oh ja, gerne, erwiderte ich. Dann kam er ab und zu, er wohnte dann in einem Hotel hier um die Ecke am Hauptbahnhof, im Reichshof. Damit er nah dran ist und wir uns unkompliziert treffen können. Dann war ich einmal, als wir verabredet waren, bei einer Freundin, die weiter weg wohnte, und kam ins Hotel, wo Peter Weiss auf mich wartete. Ich sollte ihn abholen, kam aber zehn Minuten zu spät. Sonst bin ich immer überpünktlich. Er saß kreidebleich im Foyer, schlotternd, und schrie: »Dass du mir das antust, dass du mich hier alleine lässt mit all den ganzen Deutschen! Du hast mich mit denen allein gelassen!« Da habe ich erst mitgekriegt, wie verstört er noch war. So brach das aus ihm heraus. Und das, obwohl es ein internationales Hotel ist. Wir gingen dann sofort. Es dauerte eine Stunde, bis er wieder normal sprechen konnte. Wir sind schon reichlich kaputt. Und so ging es auch meinen Freunden Georg Stefan Troller und Ralph Giordano. Beide so erfolgreich geworden, so bewundert, so umschwärmt, Frauen standen immer Schlange. So berühmt durch ihre Arbeit, aber tief drin so verstört, und immer noch das kleine Kind, das anerkannt werden möchte. Die Erfahrung als Kind, wenn der beste Freund, die beste Freundin plötzlich nicht mehr mit dir spielen will. »Warum?« – »Weil du Jude bist!« Das sitzt so tief, das ist nicht zu verwinden. Überhaupt nicht. Da hilft nichts. Wie war dein Verhältnis zu Ralph Giordano?Ich hatte auch mal Krach mit ihm. Aus politischen Gründen natürlich. Das, was uns verband, ist die Verfolgung. Das ist die Basis. Was uns trennte, ist der Blick auf Israel und die Palästinenser. Da war die Frage: weitere Auseinandersetzung oder gar nicht mehr darüber reden – nie wieder über Politik. Dann gut Freund sein, so dass wir miteinander essen gehen können. Wenn Giordano nach Hamburg kam, sind wir essen gegangen. Oder wenn Troller kam, etwa zu Buchvorstellungen. Ganz einfach, dass diese massive gemeinsame Basis immer noch da ist, das Drumherum habe ich ausgeblendet. Dafür habe ich mich dann entschieden. Immer wenn Giordano nach Hamburg kam, rief er vorher an, lud mich zum Essen ein. Bei mir konnte er sich dann beim Essen ausweinen. Du hast mal das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen...… aber erst mal ein Jahr lang abgelehnt. Und dann haben Troller aus Paris und Giordano aus Köln angerufen: »Peggyleinchen, sei doch nicht so, es ist doch jetzt alles anders. Es hat sich alles geändert, es sind doch nicht mehr die gleichen Leute. Und wir haben doch auch erst gezögert und uns das überlegt, aber dann doch zugesagt. Es ist doch sehr nett.« Dann habe ich mich überreden lassen nach einem Jahr Ablehnung. Ich habe zugesagt, aber es am Tag danach schon wieder bereut. Und es nie wieder angeguckt. Was schön war: Damals war Karin von Welck als Kultursenatorin für die Verleihung an mich zuständig, mit ihren schönen großen Augen. Ihre Funktion war, es mir dranzumachen. Da war sehr viel Presse. Sie hat immerhin, als sie es mir angelegt hat, den ganzen Presseleuten gesagt: Wenn sie wüssten, wie schwer es war, Peggy dazu zu kriegen, das überhaupt anzunehmen. Die hat kein Geheimnis daraus gemacht. Warum hast du die Annahme des Bundesverdienstkreuzes bereut?Ich will damit nichts zu tun haben. Was weiß ich, wer das alles verliehen gekriegt hat im Laufe der Zeit. Bestimmt keine Freunde von mir. Obwohl, Esther Bejarano hat es auch bekommen, ein zweites erhöhtes irgendwie. Da war ich dabei, und Esther sagte zu mir: »Du, Peggy, muss ich mich jetzt beim Senat bedanken?« Da bin ich wütend geworden: »Nein, Esther, das musst du ganz bestimmt nicht, die können sich bei dir bedanken, dass du es überhaupt angenommen hast.« Das hat mich so in Rage versetzt. Das fehlt noch! Vielleicht wollten Ralph Giordano und Georg Stefan Troller, dass du das Bundesverdienstkreuz annimmst, um zu zeigen, dass es auch Antifaschistinnen gibt in Deutschland?Nein. Eine Auszeichnung von den Deutschen dafür bekommen, dass ich Antifaschistin bin? Ganz bestimmt nicht! Dafür gibt mir niemand einen Preis oder ein Lob oder einen Dank. Nein, dass nun wirklich nicht. Nein, das habe ich bekommen, obwohl ich Antifaschistin bin. Nicht weil ich ich bin, sondern obwohl ich ich bin. Peggy Parnass – Überstunden an Leben. Filmvorführung und Gespräch mit Peggy Parnass. Samstag, 22. April, 20 Uhr, Polittbüro, Steindamm 45, Hamburg. »Never teach history without telling a story«. Ein Abend mit Esther Bejarano und Peggy Parnass. Dr.-Alberto-Jonas-Haus, Karolinenstraße 35, Hamburg. 24. Mai, 19 Uhr. | Gaston Kirsche | Gaston Kirsche: Peggy Parnass im Gespräch über das Filmporträt »Überstunden am Leben« | [
"Peggy Parnass",
"Überlebende der Shoah"
] | dschungel | 05.04.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/14/gelebt-wie-verrueckt?page=0%2C%2C0 |
»Es wird etwas häufiger gebetet« | Die rund 2,5 Millionen Bürger türkischer Abstammung in Deutschland sind in den vergangenen fünf Jahren religiöser und konservativer geworden. Das geht aus einer soeben veröffentlichten Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien hervor. Dabei wurden im Juni 1 000 türkischstämmige Migranten nach ihren religiösen Einstellungen und Gepflogenheiten befragt. Martina Sauer ist Leiterin der Abteilung für empirische Sozialforschung des Zentrums für Türkeistudien. Mit ihr sprachen Heike Runge und Kerstin Eschrich. Ihre aktuelle Studie fragt nach den religiösen Haltungen und Organisationsstrukturen der türkischen Community in Deutschland. Wie würden Sie die Ergebnisse zusammenfassen und bewerten? Sichtbar ist, dass sich mehr türkeistämmige Migranten als früher religiös definieren. Wir haben zum Beispiel gefragt, wie hoch man den Grad der eigenen Religiosität einschätzt, und es haben sich mehr als früher als »eher« oder »sehr religiös« bezeichnet. Wir haben aber auch nach der religiösen Praxis gefragt, und bei der hat sich relativ wenig verändert. Es wird etwas häufiger als früher gebetet. Doch es besteht kein Hinweis darauf, dass fundamentalistische Haltungen oder Organisationen an Einfluss gewinnen oder mehr Mitglieder haben. Eine kleine problematische Gruppe gibt es natürlich, aber man kann nicht sagen, dass es eine breit angelegte Fundamentalisierung gibt. In Deutschland und anderen westlichen Ländern gibt es schon lange eine säkulare Tendenz. Aber in der Umfrage spiegeln sich auch bei Menschen, die seit über 20 Jahren hier sind, die Diskussionen über Atheismus nicht wider. Fast 80 Prozent dieser Gruppe bezeichnen sich als sehr bzw. eher religiös. Die starke Religiosität hat damit zu tun, als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft zu leben und als religiöse Gruppe unter einem Generalverdacht zu stehen. Viele besinnen sich dadurch stärker auf ihre Kultur und Religion. Die kulturelle Identifizierung ist in der Diaspora oder Minderheitenposition sowieso immer stabiler als in der Mehrheitsgesellschaft. Man kann bei allen Minderheitengruppen feststellen, dass stärker an Traditionen festgehalten wird als im Ursprungsland. Erklärt das auch die deutlich gestiegene Zahl der Befürworter der Verschleierung? Während im Jahr 2000 nur 27 Prozent der Befragten das Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit befürworteten, waren es im Juni 47 Prozent. Das sind die Einstellungen, die hinter dem Ganzen stehen. Daran merkt man schon, dass da eine konservativere Haltung zu finden ist als früher. Ich kann mir vorstellen, dass die Diskussion nach dem 11. September um den Islam, um den Krieg in Afghanistan und den von den Medien heraufbeschworenen »Clash of Civilizations« manche Muslime, die vorher nicht ausgesprochen religiös waren, dazu gebracht hat, sich stärker als Muslime zu sehen und zu geben. Durch diese Diskussion ist die Auseinandersetzung der Muslime mit sich selbst und ihrem Glauben in Gang gesetzt worden. Der Islam wird zudem heute mehr als früher als etwas Bedrohliches dargestellt. Das bringt viele dazu, in einer Trotzreaktion auf ihrer muslimischen Identität zu beharren. Die Studie zeigt auch, dass unter jüngeren Muslimen der dritten Generation eine Polarisierung entsteht. Sie wollen entweder gar nichts mit Religion zu tun haben, oder sie wenden sich radikaleren Organisationen zu. Es gibt einen leichten Trend dahin, dass junge Migranten, wenn sie sich organisieren – und sie organisieren sich seltener als früher –, eher dazu neigen, zum Beispiel zu Milli Görüs zu gehen. Aber es handelt sich um eine ganz kleine Gruppe der jungen türkeistämmigen Migranten. Von allen Befragten, die in einem Moscheeverein organisiert sind, sind nur acht Prozent bei Milli Görüs, das entspricht zwei Prozent der türkeistämmigen Muslime. Welche Ergebnisse der Studie deuten Sie positiv in Richtung einer Integration? Positiv ist, dass man sich den Zusammenschluss aller Vereine und damit eine starke Vertretung in Deutschland wünscht, dass der Religionsunterricht in Schulen gewünscht wird und nicht den Moscheen oder den Moscheevereinen überlassen werden soll. Das sind ganz deutliche Zeichen der Integration. Allerdings Integration verstanden als Einbindung in die Gesellschaft bei Beibehaltung der religiös-kulturellen Eigenarten. Die Hälfte aller Befragten wünschen sich immerhin eine Ausbildung der Imame in der Türkei, und rund 66 Prozent Türkisch als Unterrichtssprache. In der Türkei wird das ganze islamische Leben vom Staat organisiert und kontrolliert. Das verhindert in den Augen der Türken den Einfluss fundamentalistischer Strömungen, weil die Türkei ein Staat ist, der die Trennung von Staat und Religion propagiert und keinen fundamentalistischen Islam vertritt, sondern einen sehr weltlichen. Das wünschen sich auch die deutschen Türken. In Deutschland kann jeder Verein Ausbildungen für Imame anbieten, und niemand kann das kontrollieren. Der starke Wunsch nach Religionsunterricht auf Türkisch ist in der Tat ein Problem. Ich glaube, dass viele Türken den Islamunterricht nicht als reinen Religionsunterricht verstehen, sondern eher als eine Art Kulturunterricht, und der beinhaltet eben auch die türkische Muttersprache. Außerdem fanden religiöse Handlungen bisher immer auf Arabisch oder Türkisch statt. Vielen kommt es komisch vor, das auf Deutsch zu hören. Stützt die Studie die Einschätzung vieler Soziologen, dass Ausschreitungen wie in Frankreich in Deutschland nicht zu befürchten sind? Unsere Studie gibt zu den Ausschreitungen in Frankreich keine Hinweise, weil diese nichts mit Religion zu tun haben, sondern mit sozialer Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Ich glaube nicht, dass die Leute, die da Autos anzünden, religiös motiviert sind. Und bei allem, was man in Deutschland an der Integration und der Integrationspolitik kritisieren kann, sind die Verhältnisse doch bei weitem nicht so wie in Frankreich. Die französischen Vororte kann man nicht mit Kreuzberg oder Köln-Mühlheim gleichsetzen. In der Studie werden Muslime zu muslimischen Themen befragt, nicht aber zu Themen, die in der deutschen Gesellschaft Teil einer religiösen Debatte sind, zum Beispiel die Homo-Ehe, Sex vor der Ehe, Verhütung. Warum tauchen diese Themen in der Studie nicht auf? Das gehört doch auch in den religiösen Diskurs. Das ist Teil christlicher Auseinandersetzung, nicht aber muslimischer. Das sind keine Themen, die in der muslimischen Gesellschaft diskutiert werden. Da werden ganz andere Themen diskutiert, wie z.B. das Kopftuch, der Religionsunterricht oder die Frage, wer sie im deutschen System politisch repräsentieren soll. Verhütung ist zum Beispiel im Islam kein Thema, weil sie nicht verboten ist. Vorehelicher Geschlechtsverkehr natürlich, aber der ist verboten – Punkt. Darüber wird nicht diskutiert, ob das erlaubt sein sollte. Für junge Muslime sind das keine Themen? Davon sind wir noch relativ weit entfernt. Es geht momentan noch um das Kopftuch – vom Ablegen des Kopftuchs zum vorehelichen Geschlechtsverkehr wäre es ein Riesenschritt für die Muslime. So weit ist es noch nicht. | heike runge und kerstin eschrich | heike runge und kerstin eschrich: | [] | Interview | 23.11.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/47/es-wird-etwas-haeufiger-gebetet?page=0%2C%2C3 |
Spielend indoktrinieren | Bundesweit beobachten Sicherheitsbehörden eine Neuerung innerhalb salafistischer Verbände. Weite Teile ziehen sich in Kleingruppen und geschlossene familiäre Strukturen zurück. Ein Grund dafür sind die vielen Vereinsverbote in den vergangenen Jahren. Mit dieser Strategie wollen die Salafisten solche Repressionsmaßnahmen in Zukunft umgehen. Anstatt sich im Vereinsregister einzutragen, treten die Islamisten den Rückzug ins vermeintlich Private an. Die Indoktrination von Kindern und Jugendlichen in diesen weitgehend isolierten Familienzusammenhängen stellt ein wachsendes Problem dar, das die Behörden mit Sorge verfolgen. So berichtete der Leiter des Staatsschutzes der Frankfurter Polizei, Wolfgang Trusheim, von Einzelfällen, in denen Kinder Terroristen in Kampfmontur gemalt oder vom Leben als Jihadist fantasiert hätten. »Sie bekommen zu Hause eingetrichtert, dass sie andere Kinder nicht akzeptieren sollen, weil sie Ungläubige seien«, zitiert ihn die »Hessenschau«. Trusheim rechnet mit einer neuen Generation gewaltbereiter Salafisten, die bereits in jungen Jahren zum Hass auf Andersgläubige erzogen würden. Dazu passt, dass in Köln Recherchen des WDR zufolge zur Indoktrination von Kindern salafistisches Spielzeug hergestellt und zum Kauf angeboten wird. Gesichtslose Puppen, die aussehen wie islamistische Kämpfer, und weibliche Figuren mit voller Verschleierung werden über soziale Netzwerke unter dem Namen »Jundullah« (Soldaten Gottes) vertrieben. Ziel sei, so die Herstellerin auf Facebook, »dass unsere kleinen Löwen und Löwinnen bereits beim Spielen die natürliche Schamhaftigkeit kennenlernen«. Solches Spielzeug erinnert den Islamwissenschaftler Elhakam Sukhni, Dozent an der Universität Köln, an den »Islamischen Staat«. In dessen Herrschaftsgebiet sollten Kinder ebenfalls mit speziellem Spielzeug die Geschlechterrollen erlernen und zu Kampfbereitschaft erzogen werden. Auf unterschiedlichen Internetportalen gibt es zudem ein breites Angebot an salafistischen E-Books und sogenannten Dawa-Clips, also Missionierungsvideos, auch für Kinder und Jugendliche. So bietet das Portal »Way to Allah« Bücher wie »Sunna für Kinder«, »Minilexikon für junge Muslime« und »Islam für Kinder« inklusive Malbuch an. Puppen, die aussehen wie islamistische Kämpfer, und weibliche Figuren mit voller Verschleierung werden über soziale Netzwerke unter dem Namen »Jundullah« (Soldaten Gottes) vertrieben.
Reuters Die darin vermittelten Inhalte wie den Kopftuchzwang für junge Mädchen kritisiert die Islamismusexpertin Sigrid Herrmann-Marschall im Gespräch mit der Jungle World. »In der fortgesetzten und ausweglosen Indoktrination von Kindern, wie sie bei Salafisten nicht selten erfolgt«, sieht sie »das psychische Kindeswohl gefährdet«. Der Islamwissenschaftler Kaan Orhon von der Beratungsstelle Hayat für islamistisch indoktrinierte Jugendliche und deren Angehörige, sieht in dieser Entwicklung »für alle, die sich mit dem Bereich Prävention und Deradikalisierung befassen, eine Herausforderung für die Zukunft«. Im Sommer geriet eine Kindertagesstätte in Mainz in die Schlagzeilen, weil die Verfassungstreue des Trägervereins in einem vom rheinland-pfälzischen Landtag angeforderten Zweitgutachten angezweifelt wurde. Der 2009 eröffnete, erste muslimische Kindergarten in diesem Bundesland weist dem neuen Gutachter, dem Bayreuther Religionswissenschaftler Christoph Bochinger, zufolge »Bezüge zur Muslimbruderschaft und ihren Organisationseinheiten in Deutschland« auf. Darüber hinaus wurden »in geringerem Maße auch Bezüge zum Salafismus in seiner gewaltfreien Ausprägung festgestellt«. Nach der Veröffentlichung des Gutachtens, das eigentlich prüfen sollte, ob einige muslimische Verbände als Glaubensgemeinschaften anerkannt werden sollen, prüft nun das Landesjugendamt, ob der Trägerverein »die erforderliche Zuverlässigkeit für die Erlaubnis zum Betrieb einer Kindertagesstätte auch weiterhin mitbringt«. Nach Ansicht von Hermann-Marschall sorgen solche Projekte auch dafür, »dass Kinder aus diesem Umfeld kaum herauskommen können«. In Sachsen verbot das Oberverwaltungsgericht im vergangenen Jahr den Betrieb eines salafistischen Kindergartens in Leipzig. Der Prediger Hassan Dabbagh wollte mit einer von ihm geführten Gesellschaft einen Kindergarten an der al-Rahman-Moschee in der Leipziger Roscherstraße eröffnen. In dem Urteil heißt es, Dabbagh habe Eltern empfohlen, ihre Kinder frühzeitig eng an die salafistische Moschee heranzuführen: »Ihre Kinder sollen zu Hause schlafen und sollten so viel wie möglich zu Hause bleiben, um sie vor den Einflüssen der schlechten Umwelt draußen zu beschützen.« Der Imam soll auch in Freitagspredigten vor der pluralistisch-demokratischen Gesellschaft gewarnt und in einem Gebet Schmähungen gegen Juden, »Feinde des Islams«, »Ungläubige« und »Ketzer« ausgesprochen haben. Auf Erfahrungen wie in Mainz und Leipzig reagieren die Salafisten offenbar mit einem Rückzug aus dem öffentlichen Raum. Das mindert ihren gesellschaftlichen Einfluss, entzieht sie im als privat deklarierten Raum aber auch jeglicher Beobachtung. | Ralf Fischer | Ralf Fischer: Viele Salafisten ziehen sich in familiäre Strukturen zurück | [
"Salafismus",
"Islamismus"
] | Inland | 18.10.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/42/spielend-indoktrinieren?page=0%2C%2C0 |
Into the Maelstrom | Eines Tages werden wir an unseren ureigenen Gedanken und Gefühlen einen winzigen Hinweiszettel entdecken, worauf steht: »Made In Germany. Bis 40 Grad. Nicht schleudern. Nicht bügeln.« Das wäre dann, wenn sie es zu sehen im Stande wären, ein Problem der »Antideutschen«, nicht meines. Ich habe mir lieber, weil ich die Antwort kenne und im zweiten Absatz verraten kann, die Frage vorgelegt, ob Neil Youngs Verse »I'm singin' this borrowed tune / I took from the Rolling Stones / Alone in this empty room / Too wasted to write my own« zu übertreffen sind. Wie denn? Bin ich verzagt? Ist Gott doch nicht tot? War Nietzsche bloß ein schlechter Marxist? Haben die Sparks nicht bereits 1994 mit ihrer Zeile »What's apropos for me, may for thee be blasphemy« bewiesen, dass sie die einzige Popgruppe der Welt sind, die Lord Byron gelesen hat? Viermal nein. Und deshalb dichten diese Alleszermalmer: »I confess that this is really not my song / I bought it in Hong Kong.« It's a knock-out von Tsui Hark, ein knock-off der Sparks, ein eleganter Schlag, ein listiger Raubzug. Ich frage mich, wie oft uns schon das Plastik von der Plattheit, das Schöne des Schäbigen von der Schäbigkeit der Schönheit erlöst hat, der Kapitalismus von den Antikapitalisten? Denken wir nur einen Augenblick an das industrialisierteste Album der Sparks, »No. 1 in Heaven«, 1980 produziert von Giorgio Moroder. »Tryouts for the human race, from Burlington to Bonn / Ah, we are a quarter billion strong«. Es muss das Jahr gewesen sein, in dem die Androiden, eine menschliche Reservearmee, hinauszogen in die Welt. »We must, we must, we must leave from here«. Dazu bemerkt James S. im Gästebuch der »Official Burlington County Web Site»: »Great job Burlington I'm proud of You. I left 20 years ago and it is really great to waltz down memory lane.« Und das Ganze unterlegt mit diesem unvergleichlich monotonen Propellergeräusch (wenn ein Hubschrauber über uns kreist, sag ich: »Horch, ein Moroder!«), Donna Summer plus Intelligenz, Depeche Mode minus Pubertät. Ron und Russell Mael, die Sparks, haben schon vor 30 Jahren ihren Altersstil gefunden und seither immer nur verfeinert. Die Ironie der Ironie besteht darin, dass sie sich stets selbst ironisieren muss, sonst saturiert sie. Sie leitet sich ab von »to iron«. Nicht bügeln! Heavy Metal. Daher die künstlichen Gitarren, die ins Tuntige transponierten Rockersprüche (»All you need are / Balls«) und daher am Schlagzeug Tamera Glover. Die Maels sind keine males. Pop ist immer erstens Parodie von Rock und zweitens Parodie von Pop. Parodie oder Plagiat? Vielleicht ist das hier einerlei. An den Melodien klebt ein kleines Hinweisschild »Made In Hong Kong«. Die Lyrics sind so »phony« (»Still phony rhymes with phony«), dass man denken könnte, die Maels könnten sie ausgeheckt haben, um sich selbst aufzulösen. Das ist die Bewegung der Ironie, fortschreitende Auflösung, doch es bleibt merkwürdigerweise immer etwas übrig, schlangenhafte Bewegung. »Scheherazade, direkt von Eva abstammend, war vielleicht die Erbin jener sieben Körbe voller Songtexte, die Letztere, wie wir alle wissen, unter den Bäumen im Garten Eden fand« (Edgar Allan Poe, »Thou Art the Man«). »All I want are illusions / Scheherazade, no conclusions« (Ron und Russell Mael). Wir müssen von hier abhauen, und das gilt ja zu jeder Zeit an jedem Ort auf der Welt. Das Sparks-Studio in Los Angeles habe ich mir als einen Fuchsbau vorgestellt, dabei ist es nichts als das Wohnzimmer von Russell Mael. Jeder einzelne Ton verleugnet das, indem er klingt wie frisch aus Hong Kong reimportiert. »Scheherazade, there's a sameness / To the world in its plainness / But your worlds are on fire / Filled with lust / Filled with liars.« Ironie ist Flucht vor der sameness. Ironischerweise klingt alles gleich. Melodien wie bunte Spielzeugautos, ich verliere nie die Lust, mich mit ihnen zu amüsieren. Die Lügenerzählerin Scheherazade im Song der Sparks ist konsequenterweise ihre Biographin Amelia Cone. Eine nervöse Welt der Lügner und der Lüge also, dafür zwei weitere Belege: Immerzu regnet es in den Songs der Sparks; kalifornische Ironie. Immerzu hat jemand Angst; kalifornische Psychologie. Es zeugt von großer Abgeklärtheit, das Fürchten lehren zu wollen. Russell Maels Stimme in der Originalversion von »Angst In My Pants« (1982) wohnt ein Schauder inne, in der plagiierten Version von 1997 erschaudert man, weil sie ihn verloren hat. Nun werden in »Balls« die Anzeichen der nahenden Katastrophe in erschreckender Klarheit benannt. Die Blicke sind stumpf geworden, die Hunde tragen Maulkörbe, jeder zieht die Schuhe aus, bevor er das Parkett betritt, aus den offenen Fenstern dringt gedämpft Chopin und manchmal nur das leise Wählgeräusch einer Telefonanlage. »It's the calm before the storm / Something big is coming soon, something that will change your tune / False sense of security, shown to be a forgery«. Wer sich der Bewegung der Ironie hingibt, der pflegt den Umgang mit dem Schein und mit der Angst gleichermaßen. Eine Art von sich selbst erneuernder Hysterie als heroischer Lebensstil (»Increasing heartbeat / As twenty cannibals have hold of you / They need their protein just like you do«). Freud wurde von seinen Hysterikerinnen erzogen, der Synthie-Pop von den hysterischen Sparks. Nicht immer ist das Erziehungsziel erreicht worden, versteht sich. Halten wir uns in diesem Fall an die Eltern. Schein, Ironie, Angst, habe ich da nicht noch etwas vergessen? Spaß vielleicht? Die Abenteuer der Aeroflot? Das No-Sex-Movement? Junggesellen-Maschinen? »Although it's not completely clear / It's educational.« Keine Konklusionen. »Kircher und andere stellen sich in der Mitte des Mahlstrom-Kanals einen Abgrund vor, der mitten durch den Globus geht und an einer weit entfernten Stelle mündet (...). Diese Meinung, an sich idiotisch, war es, der sich meine Imagination, als ich hinabblickte, augenblicklich anschloss« (Edgar Allan Poe, »Into the Maelstrom«). Ist es da verwegen anzunehmen, dass zwischen dem Wohnzimmer von Russell Mael und dem seiner Antipoden in Hong Kong eine direkte Verbindung besteht? Sparks: »Balls«. Strange Ways Records
Sparks: »No. 1 In Heaven«. Oasis Records (1999 wieder veröffentlicht auf Repertoire Records) | Stefan Ripplinger | Stefan Ripplinger: Neue Platte der Sparks | [] | dschungel | 06.09.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/36/maelstrom?page=0%2C%2C1 |
Die Entdeckung der Langsamkeit | Im August dieses Jahres feierten rund 50 000 Menschen in San Francisco »Slow-Food Nation«, das größte Festival der internationalen Slow-Food-Bewegung in den USA. Überzeugte Feinde der Fast-Food-Kultur, selbsternannte Retter des guten Geschmacks, Bio-Bauern und umweltbewusste Weltbürger trafen sich, um die aus Italien stammende Slow-Food-Bewegung zu unterstützen, um zu lernen, was man mit Kartoffeln alles machen kann, um an Gurken zu riechen, Kürbisse zu berühren und gemeinsam zu essen.
Erst vor wenigen Jahren ins Leben gerufen, feiert die Slow-Food-Bewegung mittlerweile Triumphe. Dabei wird die bewusste Opposition zu Fast Food nicht nur mit »Esskultur« verbunden, sondern oft mit dem US-amerikanischen Lebensstil assoziiert. Deshalb steht Slow Food mit seiner Glorifizierung regionaler Produkte für einen europäischen Lebensstil, der mit Essen ein »Geschmackserlebnis« verbindet und nicht die schnelle Beseitigung von Hunger.
Seit einigen Jahren hat sich aus der Slow-Food-Bewegung ein neuer Trend entwickelt: die »langsame Stadt«. Immer mehr kleinere Städte in Europa nennen sich cittá slow, eine Kombination aus dem Italienischen (città = Stadt) und dem Englischen (slow = langsam). In den cittá slow sollen die »urbane Langsamkeit« und »eine bessere Lebensqualität« gefördert werden, dabei sind die »Wahrung und Stärkung einer Regionalkultur« die wichtigsten Ziele, wie man in der Selbstdarstellung der Vereinigung Cittaslow (internationaler Vereinigung lebenswerter Städte) erfährt, die 1999 im italienischen Orvieto gegründet wurde. Und in der Charta von Cittaslow wird erklärt: »Die Entwicklung der Städte und Gemeinden stützt sich unter anderem auf die Fähigkeit, eine eigene, typische Besonderheit entwickelt zu haben und diese zu vertreten, eine eigene Identität zu wahren, die auch nach außen hin erkennbar ist und im inneren Kern gelebt wird«.
Um ins Netzwerk der langsamen Städte aufgenommen zu werden, muss eine Stadt einer Prüfungskommission beweisen, dass sie beispielsweise eine konsequente Umweltpolitik betreibt, die die Landschaft und das Stadtbild erhält, dass sie die lokalen Produkte und Produktionsweisen fördert und dass sie sich darum bemüht, den motorisierten Verkehr und Lärm zu vermindern. 2007 hatten bereits 90 Städte in mehreren europäischen Ländern für sich in Anspruch genommen, eine città slow zu sein. Zur ersten deutschen »langsamen Stadt« wurde 2001 Hersbruck bei Nürnberg. Hier will man sich positiv auf seine Geschichte beziehen. Deshalb gibt es dort auch das Denkmal eines Italieners, der 1944 im Lager Hersbruck war, einer Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg. »Wer sich auf seine Geschichte beruft, muss auch ihre düsteren Seiten akzeptieren«, erklärte Hersbrucks Bürgermeister im August 2007 dem Wirtschaftsmagazin Brand eins. »Tradition, Heimat, Werte, das klingt muffig und reaktionär. Doch es kann auch ganz modern sein. Dann heißt es cittàslow«, schrieb der Autor des Artikels, Gerhard Waldherr.
Ähnlich unbefangen akzeptiert man die »düsteren Seiten« der Geschichte auch in einer anderen deutschen città slow, und zwar im südbadischen Waldkirch, 15 Kilometer von der Universitätsstadt Freiburg entfernt, idyllisch am Hausberg Kandel gelegen. »Wichtig ist doch: Wo komme ich her, was sind meine Wurzeln? Wenn ich das weiß, dann lerne ich meine Stadt, meine Heimat schätzen, dann ist der Mensch im Einklang«, wird Waldkirchs Bürgermeister Richard Leibinger im selben Artikel zitiert.
Tradition, Heimat, Werte – was heißt das? Was sind die »Wurzeln« in Waldkirch, einem wirklich schönen Städtchen mit etwas mehr als 20 000 Einwohnern, denen es mehrheitlich recht gut geht, denn in Baden-Württemberg und Bayern gibt der Arbeitsmarkt noch wesentlich mehr her als in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern.
Wer von Freiburg aus mit dem Auto in die Stadt fährt und nicht den Umgehungstunnel nimmt, der die Autofahrer weiter hinten im Tal wieder ausspuckt, entdeckt zu seiner Rechten auf einem Hügel das alles überragende »Heldenkreuz«. Man muss aber schon näher rangehen, um die Inschrift des riesigen Betonkreuzes zu erkennen. Und die lautet: »1914-1918 Unsern Helden 1945«. Gegenüber, auf der linken Seite des Tals, thront die Ruine einer Burg. Von hier aus fiel das Geschlecht der Ritter von Schwarzenburg einst über Durchreisende her. Es waren Raubritter, aber die Waldkircher haben sich das niedlich umgedeutet und kindgerecht aufgearbeitet. Ein Ritterpfad führt heute auf die Burg und soll den Kleinen »ritterliches Verhalten« nahe bringen. Darunter stellt man sich in Waldkirch aber etwas vor, was der historischen Wahrheit diametral entgegengesetzt ist. Mit historischen Wahrheiten tut man sich auch ansonsten recht schwer in Waldkirch. Bisweilen stört der im Städtchen ansässige Militärhistoriker Dr. Wolfram Wette die Ruhe. Mit Studien über den »Hitler von Waldkirch« beispielsweise, den SS-Standartenführer Karl Jäger, der für die Ermordung von 138 272 litauischen Juden verantwortlich war. Bisweilen ist es auch die Geschichts-AG am hiesigen Geschwister-Scholl-Gymnasium, die darauf hinwies, dass in Waldkirch noch am 10. und 11. April 1945 Deserteure hingerichtet wurden, dass es Zwangsarbeiterlager gab und dass im Rathaus noch heute Wandgemälde aus der Zeit des Nationalsozialismus prunken, die nach langen Diskussionen immerhin mit aufklärenden Schildchen versehen worden sind. 1996, noch vor der Diskussion über die Bilder im Rathaus, hatte ein »Arbeitskreis Widerstand und Arbeitergeschichte«, bestehend aus vier jungen Leuten, das Buch »Widerstand und Verfolgung in Südbaden« vorgelegt.
Die Aufarbeitung der weniger schönen Seiten an der Heimat hat man in Waldkirch also Jugendlichen überlassen. Die Erwachsenen pflegen derweil die Tradition, beispielsweise mit dem Waldkircher Karneval, der Fastnacht, die hier »Fasnet« genannt und vom Karnevalsverein Krakeelia organisiert wird, der auch eine Chronik ins Netz gestellt hat. Krakeelia wurde 1865 gegründet, erfahren wir da, und stieg 1882 mit einem »Großen Zigeuner Aruck« richtig ein, man organisierte einen Zigeunerzug und ein Zigeunerlager bzw. das, was man sich darunter vorstellte. Am Fastnachtsmontag 1890 dann »hielt seine Hoheit der Sultan von Dares-Salaam mit seinen vier Lieblingsweibern feierlichen Einzug«. Und 1897 durften die Waldkircher über das Thema »Afrika in Waldkirch« herzlich lachen: »Aus der Fülle des Gebotenen soll der Wagen mit dem Sultan von Großpopo, der, umgeben von einem gutausgestatteten Harem, huldvollst von seinem Throne die Gäste begrüßte, erwähnt werden.« Es gab eine »Kannibalenfamilie« und eine »Kolonialschule« mit einer siebten und achten »Negerknabenklasse«. Doch vom Zigeunerthema kam Krakeelia nicht richtig los: 1925 gab es erneut einen großen Zigeunereinzug in Waldkirch.
Natürlich ist es nicht legitim, heutige Befindlichkeiten und politische Korrektheit auf das 19. und 20. Jahrhundert zu übertragen, dennoch hätte die Krakeelia das eine oder andere kritische Wort über diese kolonialen und postkolonialen Männerphantasien ins Netz stellen können. Etwas sei nicht deshalb automatisch gut, nur weil man es schon lange macht, hat Kurt Tucholsky einmal treffend bemerkt, denn man kann auch sehr lange etwas falsch machen. Und nicht einmal, dass man es schon sehr lange macht, stimmt in diesem Fall: Die wichtigste Waldkircher Fasnetfigur, der Bajass, wurde erst 1933 eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt flohen viele aus Deutschland. Manche von ihnen gelangten in den italienischen Ort Positano. Auch Positano ist heute eine langsame Stadt, eine città slow, die sich auf ihre Traditionen beruft. Ein Aspekt der Vergangenheit wird dabei aber gerne ausgeklammert: »Positano war letzte Station für Emigranten«, das schrieb die erst aus Deutschland und dann aus Österreich vertriebene Schriftstellerin Elisabeth Castonier in ihren Memoiren. Und: »Sehen Sie aufs Meer«, hatte ihr eine Freundin während ihres Aufenthaltes geraten, »zählen Sie die Delphine – es ist unser letzter Friedenssommer. Denken Sie nicht an den Kerl.«
Der »Kerl« war Adolf Hitler, vor dem sich eine beträchtliche Anzahl deutscher Intellektueller nach Positano geflüchtet hatte. Unter anderem die Schriftstellerin Joe Lederer, der Schriftsteller Armin T. Wegner und seine jüdische Frau Lola Landau, die jedoch rechtzeitig nach Palästina ging. Zu Recht, denn, wie Castonier weiter berichtet: »Bei mir erschien eines Tages dieser Mann mit einem Polizeihund, donnerte gebieterisch an meine sonnenmorsche Haustür und erklärte, er wollte ›Ordnung halber‹ eine Liste der Auslandsdeutschen aufsetzen.« Castonier verfügte wegen einer Ehe über einen dänischen Pass. Aber: »Andere Emigranten, denen er ihre Pässe ›zur Einsicht‹ abforderte und die bereits ein J auf der ersten Seite eingestempelt hatten, reisten in panischer Flucht ziellos ab.«
In Waldkirch feierte man derweil den Karneval, bis der Zweite Weltkrieg dem Städtchen den Spaß verdarb. Doch noch heute endet die Fasnet, indem man am Dienstag vor Aschermittwoch eine »Hexe« aus Stroh verbrennt. Nicht nur das stößt mancher Nichtwaldkircherin und auch dem einen oder anderen Mann als wenig geschmackvoll auf. Schließlich wurden tatsächlich in dieser Gegend noch 1 760 Männer und Frauen als »Hexen« verbrannt.
Doch wer über diese Menschen etwas erfahren oder an andere Opfer erinnert werden möchte, beispielsweise an diejenigen, die sich dem Nationalsozialismus entgegengestemmt haben, muss in Waldkirch lange warten. Von offizieller Stelle hört er derweil was von Drehorgeln, für die der Ort berühmt ist. Die Gräber der Drehorgelhersteller auf dem alten Friedhof wurden gar mit biografischen Texttafeln versehen.
Es blieb dem Arbeitskreis Widerstand und Arbeitergeschichte überlassen, beispielsweise an Carla Cuntz zu erinnern, eine Waldkircher Kommunistin, die sich 1927 für die Kinderheime der Roten Hilfe engagierte und dabei mit solch illustren Leuten wie Max Brod, Martin Buber, Albert Einstein, Anette Kolb, den Brüdern Heinrich und Thomas Mann sowie Heinrich Zille in Kontakt kam.
Bisweilen nimmt sich auch mal ein Regional-schriftsteller eines vergessenen Menschen an, an den zu erinnern würdig ist. So hat der Autor Manfred Abosch an den ersten Ehemann der Carla Cuntz erinnert: Der Waldkircher Rechtsanwalt Erwin Willi Sebald Cuntz gründete im Jahr 1910 den Waldkircher Schachclub, was dieser auf seiner Homepage auch lobend erwähnt, war darüber hinaus aber auch Kriegsdienstverweigerer (und wurde als solcher psychiatrisiert), Freidenker, Armenanwalt und Vizepräsident der Ido-Weltsprachenbewegung, einer Weiterentwicklung des Esperanto. Der Mann mit den anarchistischen Tendenzen starb 1977, im Alter von 99 Jahren, in Freiburg.
Die Cuntzes sind Stiefkinder des Städtchens, an die von offizieller Seite nicht erinnert wird. Stiefkinder eines sehr katholischen Städtchens übrigens. Wer hier Bürgermeister werden will, muss – wie Meinrad Bumiller, der 2007 versucht hat, den seit mehr als 20 Jahren regierenden Richard Leibinger vom Thron zu stoßen – bereits auf der Homepage darauf verweisen, dass er römisch-katholisch ist. Privatsache eigentlich, während über das lange ansässige St. Michael, das ehemalige Heim für so genannte schwererziehbare Mädchen, das einige Schwestern vom Orden zum Guten Hirten bis weit in die siebziger Jahre hinein führten, nichts zu erfahren ist. Die città slow Waldkirch ist eine Stadt für ältere Mitbürger, die ihre Ruhe haben wollen. Für das selbstverwaltete Jugendzentrum, das sich Jugendliche in den siebziger Jahren erkämpft hatten, war nach der Jahrtausendwende im Stadtkern von Waldkirch kein Platz mehr. Es musste in einen Vorort umziehen, damit die Jugendlichen niemanden stören. Und: Waldkirch ist eine geschlossene Stadt. Fremde mag man, wenn sie Geld haben und den Tourismus ankurbeln. Auf das in der alten Feuerwache untergebrachte Asylbewerberheim wurde im Januar 1992 jedoch ein Brandanschlag verübt, der einen jungen Mann mit schweren Verbrennungen und 19 Leichtverletzte zurückließ.
Tradition und Heimat! So viel zu den Werten der langsamen Stadt Waldkirch, die, aus der Distanz betrachtet, nicht nur »muffig und reaktionär klingen«, sondern es vielleicht auch sind. | Birgit Schmidt | Birgit Schmidt: Langsame Städte | [] | Reportage | 11.12.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/50/die-entdeckung-der-langsamkeit?page=0%2C%2C0 |
Sicherheit plus X | Wer hätte das gedacht. Sogar der Bundesgrenzschutz (BGS) braucht dringend mehr Geld. Anlässlich des Festakts zum 20. Ordentlichen Bundesdelegiertentag des Bundesgrenzschutzverbands (BGV), der am 19. September im DBB-Forum in der Berliner Friedrichstraße stattfand, reichte der stellvertretende Bundesvorsitzende, Rüdiger Reedwisch, schon einmal den Klingelbeutel herum. »Die Kollegen gefährden ihre Gesundheit in verschimmelten Diensträumen. Hier gibt es noch viel zu verbessern.« Doch der Berliner Senator für Inneres, Ehrhart Körting (SPD), machte in seinem Grußwort schnell deutlich, dass es an diesem Vormittag durchaus um mehr gehen sollte, als nur um die nötige Renovierung der einen oder anderen Bahnhofswache. Nichts weniger als »die Herausforderung der inneren Sicherheit in einem erweiterten Europa« stand zur Debatte. Angesichts der zu erwartenden »Schleusung« von »illegalen« russischen Einwanderern in Folge der Ost-Erweiterung der Europäischen Union (EU) werde es für den BGS in Zukunft »an Arbeit nicht mangeln«, bemerkte Körting süffisant. Der BGV, die Gewerkschaft des Bundesgrenzschutzes, betonte in einer Presseerklärung, zur effektiven Bekämpfung »der grenzüberschreitenden Kriminalität« und der »irregulären Migration« in Europa sei eine »Fortentwicklung des Bundesgrenzschutzes zu einer Bundespolizei BGS« nötig. Diese neue »Bundespolizei« müsse erweiterte Befugnisse im Rahmen eines neudefinierten »Grenzschutzes unter europäischen Vorzeichen« erhalten. So sollen etwa die »lagebildabhängigen Kontrollen zur Bekämpfung der illegalen Einreise«, die der Paragraf 22 Absatz 1a des BGS-Gesetzes vorsieht, erleichtert werden. Polizeiliche »Zugriffe« könnten dann schneller und unkomplizierter durchgeführt werden. Geplant sind zudem verschiedene »Aufgabenvermehrungen«, etwa im Bereich der Luftsicherheit, der Bahnpolizei, beim Schutz von Bundes- und Verfassungsorganen bis hin zur Sicherung der Seegrenzen durch den BGS. Damit soll dieser zukünftig die »alleinige Zuständigkeit an den EU-Außen- und Binnengrenzen« erhalten und stärker als bisher in einen »gesamteuropäischen Grenzschutz« integriert werden. Schließlich will man seine bestehenden Kompetenzen an den östlichen Grenzen Deutschlands nicht verlieren, wenn diese mit den EU-Beitritten Polens und Tschechiens zu Binnengrenzen der EU werden. Der einstimmig zum Vorsitzenden des BGV wiedergewählte Knut Paul versuchte diese Reformvorschläge in seiner Rede nicht etwa mit Hinweisen auf den rechtsextremistischen Terror zu begründen. Vielmehr verwies er darauf, dass »ethnische Zentren« Illegalität wie von selbst erzeugten: »Unter 100 000 Türken in Berlin fallen 10 000 Illegale kaum noch auf.« Stolz zitierte Paul eine Statistik, wonach derzeit auf hundert Personenkontrollen durch den BGS eine Festnahme eines »illegalen Einwanderers« falle. Dies sei ein hoher Erfolgswert, an den es in Zukunft anzuknüpfen gelte. Die vom BGS erwünschte neue Superpolizei soll die »Sicherheitsarchitektur in Europa« maßgeblich verändern. Wohl deshalb konnten sich die Veranstalter des diesjährigen Festakts des BGV über ein erhöhtes Interesse der politischen Prominenz freuen. Als Vertreter des Innenministers Otto Schily (SPD) ergriff der Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Lutz Diwell (SPD), das Wort, und sogar Petra Pau (PDS) war als Mitglied des Deutschen Bundestages zur sichtlichen Belustigung vieler uniformierter Herren erstmals auf einer Veranstaltung des BGV zugegen. Während der Bundestagsabgeordnete Hartmut Koschyk (CSU) die Bundesregierung für ihre Streichungen besonders im Sozialhaushalt des BGS angriff und versprach, die Union werde sich weiter intensiv dafür einsetzen, den »BGS für Europa tauglich zu machen«, verwies Diwell darauf, dass Deutschland Dank der »SPD-Sicherheitspakete I und II immer noch eines der sichersten Länder Europas« sei. Dies werde gerne »kleingeredet«. Man dürfe die bewilligten Zuwächse im Haushalt des BGS nicht übersehen oder gar als selbstverständlich betrachten. Schließlich befinde sich die ganze Welt in einer wirtschaftlichen Krise. Das hielt den stellvertretenden Bundesvorsitzenden des Deutschen Beamtenbundes (DBB), Peter Heesen, nicht davon ab, die sozialpolitischen Forderungen des BGV zu unterstreichen. Heesen wies den Vorwurf zurück, der Beamtenbund sei geprägt von »Betonmentalität und Besitzstandsdenken«. Allein die Gewerkschaften seien heute noch in der Lage, den sozialen Frieden zu wahren und das Nachdenken über die Kernfragen einzufordern: »Welchen Staat wollen wir eigentlich? Was sind seine künftigen Aufgaben? Wer soll sie erledigen? Wie müssen die Menschen, die diese Aufgaben erfüllen, behandelt werden?« Die Sparmaßnahmen der Bundesregierung seien »perspektivlos«. Statt die dringenden Probleme zu lösen, wisse »offensichtlich keiner derer, die am öffentlichen Dienst herumreformieren, wohin die Reise eigentlich gehen soll.« Vollkommen unerträglich sei das »Reformgequatsche« der Grünen, weshalb Heesen die anwesende grüne Bundestagsabgeordnete Silke Stokar mit der direkten Frage konfrontierte: »Könnte es sein, dass das Adjektiv grün neuerdings zum Synonym des Adjektivs dumm avanciert ist?« Und er meinte nicht die zahlreichen grünen Uniformen der Anwesenden. Stokar versuchte, dieser Attacke in ihrem Grußwort etwas entgegenzusetzen. Die Grünen seien keineswegs »dumm«, vielmehr fungiere gerade ihre Partei als »Reformmotor im öffentlichen Dienst«. Unter den spöttischen Lachern des Saalpublikums betonte Stokar, dass sich die bereits beschlossenen Mehrausgaben für den BGS auf 90 Millionen Euro beliefen. Diese Zahl belege, wie ernst die Bundesregierung den Themenbereich der inneren Sicherheit nehme. Dennoch monierte Stokar, die Bedeutung der geplanten »Bundespolizei BGS« sei noch nicht geklärt. Die Erweiterung der Kontrollbefugnisse, etwa im Bereich der Bahnhöfe, sei strittig. Schließlich zeigten die Beispiele größerer Bahnhöfe wie in Hannover oder Leipzig, dass diese öffentlichen Bereiche nicht mehr länger typische Brennpunkte der Kriminalität seien, sondern sich zu normalen Erlebnis- und Einkaufszentren der Städte wandelten. Dafür erntete Stokar nur Kopfschütteln. Zum Abschluss spielte das BGS-Orchester Berlin, das die Veranstaltung mit klassischen Evergreens begleitet hatte, die Nationalhymne. Der gesamte Saal erhob sich, um einzustimmen. Auch Petra Pau. Doch die lautesten Sänger trugen grüne Uniformen. | Jan Süselbeck | Jan Süselbeck: | [] | Inland | 24.09.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/39/sicherheit-plus-x |
Konstruktiver Dialog | »Die Europäische Union hat die US-Regierung über eine wesentliche Änderung bezüglich ihrer Kontakte zur Hamas informiert«, teilte die israelische Botschaft in Berlin in der vergangenen Woche mit. »Die Entscheidung, die die Amerikaner überraschte, erlaubt es EU-Diplomaten unter dem Rang eines Botschafters, Gespräche mit der Hamas zu führen. Sie reflektiert eine politisch-strategische Wende in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt und fordert von der Hamas keinerlei Entgegenkommen.« Am Samstag erklärte nach Angaben der konservativen Jerusalem Post der Hamas-Führer Mahmoud Zahar, er habe sich am Freitag mit einem deutschen Beamten in Gaza-Stadt getroffen; dieser habe in Ramallah auch mit dem Hamas-Chef Sheik Hasan Youssef gesprochen. Außerdem hätten Hamas-Führer in der vorigen Woche mit einer norwegischen Delegation konferiert. Die linksliberale Ha’aretz erklärte dazu in einem Editorial vom Sonntag: »Die Hamas hält Abbas (dem Präsidenten der palästinensischen Nationalbehörde) eine geladene Schusswaffe an den Kopf und setzt Drohungen ein. Unter diesen Bedingungen ist es eine große Versuchung, mit der Hamas ohne die Vermittlung von Abbas zu sprechen, um sowohl Informationen zu sammeln als auch an Einfluss zu gewinnen; aber das ist eine Illusion. Die Hamas hat langfristige Ziele, die die Etablierung eines muslimischen religiösen Staats in ganz Palästina bedeuten, d.h. auf den Ruinen des Staates Israel.« carlos kunze | Carlos Kunze | Carlos Kunze: | [] | webredaktion | 22.06.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/25/konstruktiver-dialog |
Die Gemüsekrise | Anstehen für Auberginen. Der religiöse und nationalistische Diskurs in der Türkei verschärft sich vor den Wahlen, auch um von der Wirtschaftskrise abzulenken An Gegnern mangelt es der türkischen Regierung nicht. Kurdische Separatisten bekämpft sie ebenso rücksichtslos wie Anhänger der Gülen-Bewegung und kritische Journalisten. Doch seit die Preise für Zwiebeln, Auberginen und Tomaten deutlich steigen, hat sie einen weiteren, hinterhältigen Feind entdeckt: den Gemüseterrorismus. Im Januar waren Lebensmittel mehr als 30 Prozent teurer als im Vorjahr, einzelne Gemüsesorten sogar bis zu 200 Prozent. Verantwortlich dafür sind nach Meinung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Zwischenhändler. »Wir werden jenen eine Lehre erteilen, die Nahrungsmittelterror verbreiten«, drohte er. Der türkische Finanzminister Berat Albayrak, Schwiegersohn Erdoğans, hatte kürzlich ebenfalls zum Kampf gegen die »Lebensmittelterroristen« aufgerufen. Spezialeinheiten der Polizei suchen die Märkte nach überteuerten Waren und vermeintlichen Spekulanten ab. Zugleich haben kommunale Verwaltungen einen eigenen, staatlich subventionierten Gemüsehandel eingeführt. Günstige Gurken und Zwiebeln gibt es jetzt in Istanbul beispielsweise an den Ständen der Marktverwaltung auf dem Taksim-Platz zu kaufen. Die Lira verlor bis Ende des vergangenen Jahres rund 30 Prozent an Wert, während die Inflationsrate insgesamt auf 20 Prozent stieg. Dass diese Maßnahmen helfen, den rasanten Anstieg der Lebensmittelpreise zu beenden, darf allerdings bezweifelt werden. Vor allem der Kursverfall der türkischen Lira hat die Kosten für Saatgut, Dünger und Transport erheblich nach oben getrieben – diese Kosten werden von den Produzenten an die Konsumenten weitergebenen. Auch in anderen Bereichen ist die türkische Wirtschaft mit erheblichen Problemen konfrontiert. So ist die Arbeitslosenquote in der Türkei Ende 2018 auf 13,5 Prozent gestiegen, den höchsten Wert seit neun Jahren. Allein im vergangenen Jahr verloren rund einen Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz. Weil die Preise und die Arbeitslosigkeit steigen, schwächelt auch der Binnenkonsum. Das Land konnte zwar 2018 noch ein Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. Seit Herbst vergangenen Jahrs ist die Wirtschaftsleistung jedoch so stark zurückgegangen, dass sich die Türkei nun in einer Rezession befindet. Auch die Baubranche schrumpfte vergangenes Jahr um fast neun Prozent. Dabei symbolisierte gerade sie lange Zeit den eindrucksvollen Aufschwung der türkischen Wirtschaft. Die riesigen Infrastrukturprojekte dienten Erdoğan als Symbol seiner erfolgreichen Wirtschaftspolitik und als Ausdruck seiner ehrgeizigen politischen Ambitionen. Die zahlreichen neuen Straßen, Brücken, Tunnel oder Flughäfen bescherten märchenhafte Wachstumszahlen und trugen durch die Schaffung von Beschäftigung zu einem breiten Wohlstand bei. Viele Türkinnen und Türken konnten sich nun zum ersten Mal in ihrem Leben ein Auto oder eine Wohnung leisten. Erdoğans Plan war denkbar einfach. In Reaktion auf die Finanzkrise fielen ab 2008 die Zinsen weltweit auf ein historisch niedriges Niveau, zugleich suchten internationale Investoren händeringend nach neuen Anlegemöglichkeiten. Die Regierung in Ankara nutzte die billigen Kredite für milliardenschwere Staatsaufträge, die einen Wirtschaftsaufschwung auf Pump ermöglichten. Von den enormen staatlichen Investitionen profitierten vor allem regierungsnahe Konzerne, so dass sich bald eine regelrechte Klientelstruktur etablierte. Die staatliche Wirtschaftspolitik folgte dabei immer den politischen Prämissen des Präsidenten, der genau weiß, dass sein politischer Aufstieg vor allem seinen wirtschaftlichen Erfolgen geschuldet ist. Das Erfolgsmodell bekam die ersten Kratzer, als sich im vergangenen Jahr die Zinspolitik der US-amerikanischen Zentralbank änderte. In dem Maße, wie die US-Leitzinsen stiegen, verteuerten sich auch die Kredite auf den internationalen Finanzmärkten. Hinzu kam, dass die zunehmend autokratisch agierende Regierung Zweifel bei Investoren weckte. Der gescheiterte Putschversuch im Sommer 2016 und seine Folgen ließen das Vertrauen der Anleger in die Türkei als politisch stabiles Schwellenland schwinden. Die autoritäre staatliche Wirtschaftsplanung, die den Aufschwung jahrelang begünstig hatte, erwies sich nun als Problem. Die Zinserhöhungen sorgten für steigende Preise. Normalerweise schreitet in einem solchen Fall die Nationalbank ein und erhöht die Leitzinsen. Damit verteuern sich zwar Kredite, aber die Geldentwertung wird gebremst. Steigende Zinsen wollte die Regierung Erdoğan aber unter allen Umständen verhindern, um ihre Wirtschaftspolitik nicht ändern zu müssen. Immer wieder kritisierte Erdoğan den Leiter der Zentralbank und setzte ihn unter Druck. Als wenig hilfreich erwiesen sich auch die Spannungen mit den USA, die zeitweise den Kursverfall der türkischen Lira noch beschleunigten. Als sich schließlich die türkische Notenbank dazu durchringen konnte, die Leitzinsen in mehreren Schritten zu erhöhen, war es fast zu spät. Die Lira hatte bis Ende des vergangenen Jahres rund 30 Prozent an Wert verloren, während die Inflation auf um 20 Prozent gestiegen war. Für die Bevölkerung hat diese Entwicklung dramatische Folgen. Viele Betriebe können ihre Kredite nicht mehr bedienen und müssen schließen. Selbst solvente Firmen investieren nicht mehr, weil sie sich die Kredite nicht mehr leisten können. Insgesamt sind türkische Unternehmen mit über 200 Milliarden Dollar verschuldet. Ebenso stieg die private Verschuldung, weshalb größere Anschaffungen immer häufiger vermieden werden. Allein der Verkauf von Neuwagen ist innerhalb eines Jahres um fast 60 Prozent eingebrochen. Die Krise wirkt sich auch auf prestigeträchtige Regierungsprojekte aus. So verzögerte sich die Inbetriebnahme des neuen Flughafens in Istanbul. Statt der vertraglich vorgesehen sechs bis sieben Millionen Passagiere pro Monat wurden dort im Januar nur 90 000 Reisende abgefertigt. Die Regierung steckt in einem Dilemma. Wegen des Wertverfalls der Lira hat Finanzminister Albayrak strikte Ausgabendisziplin angeordnet. Großzügige Staatsaufträge und neue Investitionsprogramme sind daher kaum mehr möglich. Für Erdoğan wird die Wirtschaftskrise zu einem ernsthaften Problem. Aktuellen Umfragen zufolge sind 70 Prozent der Wähler mit der Wirtschaftspolitik der Regierung unzufrieden.
Die türkische Regierung reagiert auf die Krise in gewohnter Weise. Laut Albayrak hat die Wirtschaft bereits das Schlimmste überstanden. Die Ursache der Krise sieht er vor allem in spekulativen Attacken aus dem Ausland auf die türkische Währung, die durch das entschlossene Handeln der Regierung abgewehrt worden seien. Erdoğan hatte die Bevölkerung auch dazu aufgerufen, Devisen in Lira umzutauschen, um die nationale Währung zu unterstützen. Ein Aufruf, dem freilich nur wenige folgten. Mittlerweile hat sich die Lira zwar wieder stabilisiert und auch die Inflation nimmt zwar nicht weiter zu, verharrt aber auf einem hohen Niveau. Ein Ende der Krise ist jedoch noch lange nicht in Sicht. Um die Rezession zu überwinden, ist die Türkei auf externe Finanzierungsquellen angewiesen. Erdoğan hat zwar bislang kategorisch ausgeschlossen, beim Internationalen Währungsfond Hilfszahlungen anzufragen. Am Ende könnte ihm jedoch nichts anderes übrigbleiben. Eine Gemüsepolizei wird ihm jedenfalls nicht dabei helfen, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. | Anton Landgraf | Anton Landgraf: Wohlstand für alle versprach Erdoğan – die Wirtschaftskrise kommt ungelegen | [
"Türkei"
] | Thema | 28.03.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/13/die-gemuesekrise |
Spiel mir das Lied vom Dschungel | An den Rändern des Regenwaldes im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul gibt es keine schöne Landschaft mehr. Es ist, wie es der Regisseur Marco Bechis in seinem Film »Birdwatchers« zeigt, eine Todeszone für die Ureinwohner, deren Lebensareal täglich verkleinert wird. Denn der Wald wird gerodet, um immer mehr Ackerfläche zu gewinnen. Die Weltbevölkerung wird zusehends größer, und so lässt sich mit dem Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen viel Geld verdienen.
Für den Gegensatz zwischen Regenwald-Indianern und weißen Großgrundbesitzern am Rande – oder vielmehr im Zentrum der Globalisierung – findet Bechis gleich zu Beginn seines Films sehr starke Bilder: Die weißen Jugendlichen hängen am Pool herum und schlürfen kalte Limonade. Die roten Jugendlichen hängen am nächsten Baum, mit einem Strick um den Hals. Aus lauter Perspektivlosigkeit haben sie Selbstmord begangen.
Immer wieder lässt der Regisseur konkrete Tatsachen aufeinanderprallen und versieht alles in diesem Film mit einem »Ja, aber«. Die titelgebenden Vogelbeobachter etwa sind Touristen, die kommen, um auf »Birdwatching«-Touren die bunten Vögel des Amazonas zu suchen. Die Ureinwohner zählen sich, ganz wörtlich, eher zu den »bunten Vögeln« als zu den Menschen in den Booten. So probieren sie einfach mal aus, ob man die Besucher mit Pfeil und Bogen erlegen kann.
Vom Regenwald leben können die Indianer immer weniger. Man hat sie in Reservate wegsortiert, wo man sie – nicht mal immer mit böser Absicht – zu ordentlichen Staatsbürgern machen will. Die Indianer sollen die Geschäfte nicht stören und ein billiges Reservoir von Putzkräften und Erntearbeitern darstellen. Die einfachen Polizisten wirken ratlos, wenn sie vor Ort Konflikte schlichten sollen.
»Birdwatchers« erzählt die Geschichte einer Indianerfamilie, die vom Leben im Reservat genug hat und versucht, wieder frei zu leben. Gemeinsam besetzen die Familienmitglieder eine Ackerfläche des Grundbesitzers. Die Indianer reklamieren ein Areal für sich, das ihnen Jahrhunderte lang gehört hatte. Die Bauern nehmen ebenso das Recht für sich in Anspruch, dass dies nun ihr Grund ist. »Wir stellen die Nahrungsversorgung in den Ballungszentren sicher. Soll man die Leute hungern lassen? Wir leben schon seit 60 Jahren hier«, ruft einer der Grundbesitzer den Indianern zu. »Und wir schon 500«, rufen sie zurück.
Der Landbesitzer reagiert beinahe hilflos: Er lässt einen Wohnwagen auf das Feld stellen und darin einen Wachposten zurück. Zwar ist dieser Wächter bewaffnet, aber auch nicht der hellste. Mit der ältesten Kriegswaffe der Welt, der Aussicht auf Sex, wird er überlistet. Bald gehört seine Knarre den Indianern.
Der Übertölpelte nimmt es nicht mal krumm. Da er nun seine Tage mit den Indianern verbringt, sogar auf sie angewiesen ist, was Kontakte und Wasser angeht, erscheinen sie ihm immer weniger unfreundlich.
Diese Zusammentreffen lässt Bechis ebenso kommentarlos stehen wie die Gruppendynamik unter den Indianern. Bei diesen geht es um Fragen wie: Soll man sich als Hilfskraft andienen oder nicht? Diese Frage spaltet die Jungen und die Alten. Wenigstens kann man sich für den Lohn etwas zu essen kaufen. Hier prallt die globalisierte Kultur mit ihren Markenturnschuhen und Kommunikationstechniken auf eine prä-agrarische Bevölkerung.
Zwischen den Konfliktlinien wartet Bechis unvermittelt mit einer Romeo-und-Julia-Geschichte auf. Der junge Indianer Osvaldo (Abrísio da Silva Pedro) fasziniert die Tochter des Farmers Lia (Alicélia Batista Cabreira). Osvaldo fackelt nicht lange, sich die Moderne anzueignen. Alsbald fährt er mit Lias Motorrad durch die Gegend. Eine Liebe mit wenig Zukunft, das ist sicher. Aber eine Annäherung ist sie allemal wert.
Trotzdem kommt es nicht zu so etwas wie einer friedlichen Koexistenz zwischen Bauern und Indianern. Alsbald geht es um den Kampf zwischen beiden Lagern, der brutal, hinterlistig und mörderisch ausgetragen wird.
Der Regisseur lässt sich bei der Darstellung der gewalttätigen Übergriffe jedoch nicht dazu verleiten, einseitig und plakativ Position zu beziehen. Vielmehr versucht er abzubilden, was sich in den Sonderwirtschaftszonen abspielt und welche Bedrohungen hier gegeneinander stehen. Das Schicksal der Farmer ist ihm dabei nicht egal. Aber er stellt klar, das allein schon ihre Lebensweise das Ende der Kultur der Indianer bedeutet.
Regisseur Marco Bechis wurde 1955 in Santiago de Chile als Sohn einer Chilenin und eines Italieners geboren. Er wuchs in Buenos Aires auf. Als linker Aktivist und Grundschullehrer geriet er während der Militärdiktatur in ein Folterlager und Gefängnis. Nach seiner Freilassung emigrierte er zunächst nach Italien.
In New York arbeitete er als Fotograf und Video-Künstler und entwarf 1982 in Zusammenarbeit mit Amnesty International die Video-Installation »Desaparecidos« (»Die Verschwundenen«), in der er sich mit der argentinischen Militärdiktatur und seinen eigenen Erlebnissen beschäftigt.
Das Thema Ungerechtigkeit ließ ihn dabei immer wieder absurde Konstellationen entwerfen, um die Fronten verschiedener Konflikte darzustellen. Diese können auch durchaus mal mitten durch ein und dieselbe Person verlaufen. So zum Beispiel in dem 1999 produzierten autobiografischen Spielfilm »Junta«, in dem eine junge Studentin zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur von der Geheimpolizei verschleppt wird. Plötzlich sitzt sie ihrem schüchternen und in sie verliebten Mitbewohner gegenüber – er arbeitet als Verhör-Spezialist.
Die Grenzen des wahnhaft Absurden lotet Bechis auch in »Birdwatchers« aus. Für eine realistische Darstellung der Konflikte arbeitete er mit den Indianern vor Ort zusammen. Auf deren Frage, wie man sich das denn vorzustellen habe mit der Schauspielerei, zeigte er ihnen Sergio Leones »Spiel mir das Lied vom Tod«. Er habe damit demonstrieren wollen, dass es weniger auf Dialoge als auf wortlose Aktion ankomme.
Mit diesem Ansatz konnten die Akteure offensichtlich etwas anfangen. »Birdwatchers« ist nicht weniger karg und roh in der Darstellung menschlicher Beziehungen als der legendäre Italo-Western von Sergio Leone.
Nichtsdestotrotz lässt Bechis keinen Zweifel daran, wem seine Sympathien gehören: mehr den bedrohten als den genmanipulierten Lebensformen. »Birdwatchers« (Brasilien 2008), Regie: Marco Bechis. Darsteller: Abrísio d Silva Pedro, Alicélia Batista Cabreira u.a. Start: 16. Juli | Jürgen Kiontke | Jürgen Kiontke: Über den Film »Birdwatchers« | [] | dschungel | 16.07.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/29/spiel-mir-das-lied-vom-dschungel |
Kennen Sie Jörg Haider? | Kennen Sie das Video "Dr. Jörg Haider - Ein Mann geht seinen Weg", mit dem die österreichische FPÖ für sich wirbt, indem sie die Dynamik der Marke Reebok mit der Figur ihres Führers Jörg Haider verbindet? Dieses Video ist uns vor Jahren zur Kenntnis gebracht worden. Wissen Sie, wer Jörg Haider ist? Ich bin durch Fernsehberichte informiert, so daß ich einen ungefähren Eindruck habe. Jedenfalls ist es niemand, der in irgendeiner Weise für den Namen Reebok stehen könnte. Im Abspann des Films bedankt sich die FPÖ für die "freundliche Unterstützung" von Reebok. Hat die Firma Reebok Herrn Haider für dieses Video mit ihren Produkten ausgestattet? Reebok Austria hat Herrn Haider für dieses Video Produkte der Firma zur Verfügung gestellt, das geschah allerdings ohne Wissen von Reebok International. Wer bei Reebok Austria hat das arrangiert? Mike Schlabitz, der Generalmanager in Österreich. Ist er noch bei Reebok Austria beschäftigt? Nein, als wir herausfanden, daß Herr Haider mit Teilen unserer Kollektion bemustert worden war und unsere Produkte in dem Video gezeigt wurden, haben wir Herrn Schlabitz gebeten zu gehen. Damit war die Sache für uns bereinigt. Wann war das? Im November 1994, soweit ich mich erinnere. Ist Ihnen bekannt, daß die FPÖ von dem Video 500 000 Stück hat herstellen lassen und daß es nach 1994 nachproduziert worden ist? Und daß es auch zu den Parlamentswahlen 1998 eingesetzt werden soll? Und zwar immer noch mit dem Hinweis im Nachspann, daß dieser Film "mit freundlicher Unterstützung" von Reebok entstanden ist? Das höre ich jetzt das erste Mal. Hatte Ihr österreichischer Generalmanager Verbindungen zur FPÖ? Keine Ahnung. Reebok Austria dürfte nicht entgangen sein, daß das Video noch im Verkehr ist. Und dort dürfte man auch wissen, mit wem man es bei Herrn Haider zu tun hat. Es ist uns nicht gelungen, eine Stellungnahme ihrer österreichischen Tochter zu erhalten. Gibt es etwas zu verbergen? Das ist Ihre Interpretation, und ich werde mich hüten, das zu kommmentieren. Die Angelegenheit ist keine österreichische. Das ist eine Sache des Mutterunternehmens. Hat Reebok Austria irgendwelche vertraglichen Verbindungen mit der FPÖ? Meines Wissens nicht. Jedenfalls hat es im Fall Haider-Schlabitz keinerlei schriftliche Abmachungen gegeben, daß etwa Reebok-Produkte in diesem Video gezeigt würden. Nach unserem besten Wissen und Gewissen ist auch kein Geld für irgendein Product Placement geflossen. Es gehört zur Philosophie von Reebok International, daß unser Unternehmen sich außerhalb der USA nicht in politischen, religiösen oder irgendwelchen weltanschaulichen Bewegungen engagiert. Tatsache aber ist, daß zwar Ihr österreichischer Generalmanager gehen mußte, das Video aber bleiben durfte und weiter für Reebok-Produkte werben konnte. Wenn es keinerlei vertragliche Verpflichtungen gegeben hat, warum tut sich Reebok dann so schwer, gegen den Einsatz dieses Videos vorzugehen? Das kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Ich weiß von dieser Geschichte erst, seit Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Ich bin kein Jurist und weiß deswegen auch nicht, ob wir irgendwelche Möglichkeiten haben, gegen dieses Video vorzugehen. Unsere Rechtsabteilung in Europa wird diese Angelegenheit jetzt prüfen. | george burns | george burns: Dave Fogelson, Sprecher von Reebok International, Boston,USA | [] | Thema | 04.09.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/36/kennen-sie-joerg-haider?page=0%2C%2C2 |
Allah sucht Wohnung | Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowski (SPD) war völlig entnervt. »Verantwortungslos« nannte er die Journalisten des Spiegel und der Berliner Morgenpost. Die Zeitungen hatten berichtet, dass die radikal islamische Organisation Hizbollah (»Partei Gottes«) den Aufbau eines Schulungszentrums in Berlin plane. Der Komplex solle eine Koranschule und einen Kindergarten einschließen, hatte die Sprecherin des Verfassungsschutzes in Berlin, Isabelle Kalbitzer, darüber hinaus verkündet und damit den Gerüchten neue Nahrung gegeben. Und schon war die Rede von einem »deutschen Hauptquartier der Hizbollah« in der Hauptstadt. Bei Buschkowski stand das Telefon nicht mehr still. Im Gespräch mit Jungle World zeigte sich Kalbitzer dann allerdings ebenso erbost über die Presseberichte wie der Neuköllner Bürgermeister, vor allem über die entsprechende Meldung der Berliner Zeitung, die ihre »vertrauliche Information unerfreulicherweise veröffentlicht« habe. Dort, wie auch zuerst im Spiegel, war vermutet worden, dass das geplante Zentrum der Hizbollah im Berliner Stadtteil Neukölln entstehen könnte. Die Berliner Morgenpost glaubte sogar, die genaue Lage zu kennen: die Neuköllner Finowstraße. Kalbitzer aber dementierte. Der Standort des zu »bundesweiten Zwecken« im Aufbau befindlichen Quartiers sei überhaupt nicht eindeutig nachgewiesen. Die Hizbollah sei in Berlin zudem »schon länger nicht mehr aufgetreten«, meinte Kalbitzer beschwichtigend und bekräftigte: »Wir haben keine Hinweise darauf, dass hier Gewalttaten geplant sind.« So wenig man weiß, eines weiß man: Auch wenn es »sicher extremistische Strömungen« in der Hizbollah gebe, deretwegen das »Frühwarnsystem Verfassungsschutz« die Organisation beobachte, in der Hauptstadt entstehe allenfalls ein »rein ziviles Zentrum«. »Außerdem sind das ja nicht alles Terroristen. Diese Menschen wollen in der Regel nur in Ruhe beten, bestenfalls sammeln sie Spenden.« Kalbitzers Wort in Allahs Ohr. Angesichts der Rasterfahndungen an den Berliner Universitäten, bei denen Tausende unbescholtener Studenten nur wegen ihrer Nationalität und ihres Studienfaches in der Folge des 11. September als Terroristen verdächtigt wurden, verblüfft diese tolerante Haltung. Vor allem, wenn man bedenkt, von wem hier eigentlich die Rede ist. Die Hizbollah mit ihren rund 800 Mitgliedern ist in Deutschland zwar nicht verboten. Doch die militante, antisemitische Gruppe hat sich dem Kampf gegen Israel bis zur »Herrschaft des Islam« über Jerusalem und bis zur völligen »Vernichtung des jüdischen Staates« verschrieben. Die 1982 gegründete libanesische Vereinigung wird von den USA als eine von 28 terroristischen Organisationen der Welt eingestuft. Die US-amerikanische Regierung forderte den Libanon deshalb zuletzt auf, die Vermögenswerte der dort ansässigen »Partei Gottes« zu beschlagnahmen. Dies lehnte Beirut ab und verwies empört darauf, dass die Hizbollah einen »Befreiungskampf« führe. In Berlin zählt die Hizbollah nach dem Verfassungsschutzbericht etwa 150 Mitglieder, im allgemeinen geht man hier von 4 250 »islamisch-extremistischen« Personen aus. Und einiges spricht dafür, dass der Berliner Verfassungsschutz in seinen jüngsten Verlautbarungen nach den Gerüchten über das Hizbollah-Zentrum taktiert hat. Vor allem das Dementi Kalbitzers, es sei gar nicht sicher, dass das Berliner Zentrum in Neukölln entstehe, sollte wohl die entstandene Aufregung mildern. Doch bei der geheimnisvollen Immobilie, über die die Hauptstadtpresse in der vergangenen Woche spekulierte, könnte es sich tatsächlich um ein Gelände in Neukölln handeln, und zwar in der Reuterstraße. Hier befindet sich bereits die Imam Reza Moschee, in der schiitische Muslime verkehren, die mit ihren Sympathien für die Hizbollah nicht hinter dem Berg halten. Zumindest zeigt sich mehr und mehr, dass der bisherige Grundsatz der Hizbollah, in Deutschland nicht offen aufzutreten, keineswegs mehr jederzeit zu gelten scheint. Schon auf der pro-palästinensischen Demonstration am 13. April in Berlin, bei der heftige antisemitische Parolen skandiert und Steine auf die britische Botschaft geworfen wurden, war zu beobachten, dass die Organisation verstärkt neue Mitglieder unter Jugendlichen sucht und findet (Jungle World, 17/02). Die Zielgruppe sind hier sozial benachteiligte Jugendliche, die mit martialischen Bildern und einem heroischen Kampfethos geködert werden sollen. Ein entsprechendes Forum sind die jährlich im Dezember stattfindenden Jerusalem-Demonstrationen am so genannten Quds-Tag, die den Jugendlichen jenen fundamentalistischen Stolz vermitteln sollen, der sich in militärischem Gebaren manifestiert. Durch die starke Emotionalisierungskraft solcher Veranstaltungen soll im besten Fall erreicht werden, dass sich orientierungslose junge Männer entschließen, in der »Heimat« am Kampf gegen den »Pseudostaat« Israel teilzunehmen, wie das Internet-Forum www.muslim-markt.de Israel nennt. Auf den Vorwurf der taz, die Website stehe der »Partei Gottes« nahe, entgegnete muslim-markt: »Dass wir in die Nähe der ehrenhaften Hizbollah gerückt werden, ehrt uns zwar sehr, so eine Ehre steht uns Hobbyaktivisten aber bedauerlicherweise nicht zu.« Zwar sind kleine Zentren, wie das jetzt in Neukölln geplante, nicht neu. Die zunehmende Fanatisierung, die zuletzt auf den antiisraelischen Demonstrationen in Berlin zu beobachten war, weckt aber die Aufmerksamkeit für derartige Überlegungen in den örtlichen Gemeinden und Moscheen. Bürgermeister Buschkowski jedoch will auch weiterhin nichts davon wissen. Er spricht von einem »Sommerloch«, mit dem die Presse zu tun habe, und gibt an, er wisse lediglich von einem »muslimischen Zentrum«, welches in der »Nähe der iranischen Botschaft« entstehe. Er spreche weder mit der Polizei noch mit dem Verfassungsschutz. »Und wenn ich Ihnen sage: Neukölln braucht keine Fundamentalisten, es braucht Integration, dann folgern Sie wieder, ich wisse doch etwas!« Wie heißt es so schön: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Und was ich weiß, manchmal auch nicht. | Jan Süselbeck | Jan Süselbeck: Gerüchte um Hizbollahzentrum | [] | Inland | 03.07.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/27/allah-sucht-wohnung?page=0%2C%2C0 |
Damenwahl | »Sie hat mich eben gefragt, ob ich tanzen möchte, da hab ich nein gesagt. Das ist mir ’n bisschen peinlich, ich sage sonst nie nein. Wir hatten vorhin aber schon mal getanzt, aber ein zweites Mal ... «, sage ich schuldbewusst zu Henrik, der heute DJ in der Villa Neukölln ist. »Meinst du die da? Mit der tanze ich sowieso nicht. Die folgt überhaupt nicht. Das geht gar nicht«, antwortet er, vermutlich damit ich mich besser fühle. »Mir ist das aber normalerweise egal, wie gut jemand tanzt. Das ist doch erst mal voll das Geschenk, wenn sich mir eine Person überhaupt anvertraut und von mir führen lässt. Ich finde das nicht in Ordnung, so picky zu sein. Vor allem nicht als Mann, weil Frauen immer in der Überzahl sind und wir als Männer fast ausnahmslos begehrte Tanzpartner sind«, sage ich, während Henrik auf seine Playlist guckt. »Ja, aber mit ihr macht es einfach keinen Spaß. Die hüpft da immer irgendwo in der Gegend ’rum. Da kann sie auch gleich allein tanzen.« »Ich will aber nicht so streng sein«, antworte ich, denke aber: Henrik hat recht. Mit ihr macht es keinen Spaß. Zu Beginn des Abends hatte ich zuerst mit Manuel getanzt. Er ist groß und hat eine gute Körperhaltung und -spannung. Mit ihm macht es Spaß zu tanzen. Erst führe ich, dann führt er und so wechseln wir uns immer weiter ab. Ich folge etwas besser. Es sieht sicher eleganter aus, wenn der kleine Mann sich an den großen schmiegt. »Guck mal da, das süße schwule Pärchen«, sagen die Frauen vielleicht, die gerade zusehen. »Oder sind sie nicht schwul? Jedenfalls süß, wie sie zusammen tanzen, und schön, dass es ihnen egal ist, was alle anderen denken.« Aber es ist ihnen ja gar nicht egal! Zumindest mir nicht. Ich bin mir der Wirkung bewusst. Natürlich macht es auch einfach nur Spaß, zusammen zu tanzen, aber ich weiß doch ganz genau, dass ich gerade Punkte sammele bei den Frauen. Es ist ein ganz billiger Trick. Nachdem ich mit Henrik gesprochen habe, gehe ich nach draußen und rauche die erste Zigarette der Saison. Kurz darauf kommt auch meine abgelehnte Tanzpartnerin raus. »Darf ich mich zu dir setzen?« fragt sie. »Natürlich. Sehr gern«, antworte ich. Während sie sich eine selbstgedrehte Zigarette zurechtkrümelt, sagt sie: »Ich war gerade auf einer sechswöchigen Kur, deswegen hatte ich keine Zeit zu tanzen.« »Weshalb warst du denn zur Kur?« »Burnout. Aber Burnout darf man nicht sagen. Burnout wird vom Jobcenter nicht anerkannt. Es muss Erschöpfungsdepression heißen. Ich hab lange gekämpft bis ich das durchgekriegt habe.« Die Frau sieht immer noch erschöpft aus. Als hätte sie die Frage nach ihrer Erschöpfung schon oft beantwortet, fügt sie hinzu: »Ich habe zwei Pflegekinder im Teenageralter, die ich allein erziehe. Das schlaucht ganz schön.« »Mir ist das zuerst total schwer gefallen, mich überhaupt führen zu lassen«, sagt sie. »Na klar! Ich bin auch nicht geboren worden, um zu führen«, erwidere ich. »Daran musste ich mich auch erst gewöhnen. Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ich lieber zuerst gefolgt. Als ich vor acht, neun Jahren angefangen habe, wurde uns Männern das aber gar nicht angeboten. Heute gibt es Tanzkurse, in denen von Anfang an beide Rollen vermittelt werden. Als Leader musst du ja die ganze Zeit aufpassen. Ich wäre als folgende Person gern mal weggedöst, weil die Kurse nun mal vor allem auf die Leader ausgerichtet sind.« »Mir ist das am Anfang total schwer gefallen, aber mittlerweile mag ich das sehr gern«, sagt sie und ich glaube ihr. Sie lässt sich schwer führen, weil sie zu wenig tanzt. Sie kommt und geht auch immer alleine. »Machst du denn noch Tanzkurse?« frage ich. »Nein. Hab ich alles schon gemacht. Jetzt will ich nur noch tanzen.« »Aber die Kurse sind wichtig. Da kannst du leicht Leute kennen lernen und dich anfreunden. Mit denen gehst du dann tanzen. So entsteht Community.« »Tanzen macht mir auch Spaß. Aber es fällt mir manchmal ganz schön schwer, mich aufzuraffen, um zum Tanzen zu gehen. Dann komme ich und sitze rum, weil mich niemand auffordert. Als ältere Frau wirst du nicht so oft aufgefordert. Also muss ich selbst auffordern. Aber daran hab ich mich schon gewöhnt … « Irgendwie nervt mich ihr Gejammer und ich will dem etwas Positives entgegensetzten. »Die ganze Welt ist gestresst. Aber ich will das nicht. Ich habe keinen Stress, weil … «. Aber weiter komme ich nicht, weil sie mich plötzlich schroff unterbricht: » … weil du dich immer nur um dich selbst gekümmert hast!« »Würde ich so nicht sagen … «, antworte ich. Und setzte gleich hinzu: »Ich kümmere mich sehr um meine Freundin. Wir sind seit 22 Jahren zusammen. Sie ist seit 15 Jahren Lehrerin und seitdem halte ich ihr den Rücken frei und kümmere mich um den Haushalt. Ich koche, kaufe ein, wasche die Wäsche und putze die Wohnung. Meine Freundin hat noch nie Wäsche zusammengelegt und wie die Waschmaschine funktioniert, weiß sie auch nicht.« Jetzt hab ich sie. Noch so ein billiger Trick. Ein Tantentäuschertrick, wie meine Freundin es nennt. »Oh, das ist ja toll«, sagt die erschöpfte Frau lächelnd. | Andreas Michalke | Andreas Michalke: Der analoge Mann | [] | dschungel | 09.05.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/19/damenwahl?page=0%2C%2C3 |
Rechts über Bord | Was immer jeder einzelne Anhänger der Piratenpartei unter der von dieser propagierten »Postideologie« versteht – selbst aus »postideologischer« Sicht der Piraten dürfte die vergangene Woche nicht optimal verlaufen sein.
Es begann mit einem Interview von Andreas Popp, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Piraten, in der Jungen Freiheit, dem kurz darauf ein ausgefüllter Fragebogen des Parteivorsitzenden Jens Seipenbusch in derselben Zeitung folgte. Wieder einen Tag später annoncierten die Piraten begeistert die Wahlempfehlung, welche die »Freien Wähler Düsseldorf« abgegeben hatten, zu ihren Gunsten. Die »Freien Wähler« wurden gegründet von Torsten Lemmer, ehemals Manager der Naziband Störkraft und zuletzt im Mai 2009 wegen Volksverhetzung verurteilt. Man kenne »diesen Herrn« nicht, sagte dann der für die Veröffentlichung der Empfehlung verantwortliche Pressesprecher der Piraten Nordrhein-Westfalens – übrigens ein christlicher Lebensschützer – der Jungle World. »Aha, hm, da werde ich mich mal informieren.« Ob er es inzwischen geschafft hat, den Namen Lemmer zu googeln, ist unbekannt – die stolze Presseerklärung findet sich jedenfalls immer noch auf der Website der Partei.
Aber zurück zur »Postideologie«: Gegen Ende voriger Woche dämmerte es selbst der Piraten-Führung, dass die so gern beschworene vorurteilsfreie Offenheit gegenüber allen politischen Richtungen irgendwie auch bedeuten sollte, dass man nicht nur mit Rechten spricht. Und so rief man zwecks eines Ausgleichs im postideologischen Ping-Pong bei der Jungle World an und bat darum, interviewt zu werden. Vielleicht ist den Piraten immer noch nicht klar, wie glücklich sie darüber sein können, dass aus dem Gespräch mangels Interesse der Jungle World nichts wird. Denn bei der Basis, die schon die halbherzige Entschuldigung von Andreas Popp für sein Interview in der Jungen Freiheit mehrheitlich als Kapitulation vor dem unsäglichen Zeitgeist der political correctness empfand, hätte man sich gewiss empört, von den eigenen Helden in einem linken Blatt lesen zu müssen.
Das könnte durchaus daran liegen, dass die Klientel der Partei – jedenfalls die, die sich öffentlich äußert – zu großen Teilen aus Nazi-Nerds und Stammtischschwaflern mit IT-Kenntnissen besteht, die sich gegen das »ausgelutschte Links-Rechts-Schema« verwahren, weil sie ihren Stammtisch-Pragmatismus und ihr Lamento über »die da oben«, die alle »korrupt« seien, für »postideologisch« halten. Dass die Pressestelle der Piratenpartei im Büro des ehemaligen SPD-Abgeordneten Jörg Tauss residiert und der Pressesprecher der Piraten von diesem vor zwei Monaten auf Staatskosten als Mitarbeiter engagiert wurde, wird dagegen als gute Idee gefeiert.
Die Zeitung, die zuerst hierüber berichtete, wurde von Piraten mit Protestmails eingedeckt. Wegen »unsachlicher Berichterstattung«. Da zeigt sich dann, wie es um das Demokratieverständnis und die Vorstellung von Meinungsfreiheit bei den Piraten steht. »Unsachlich« ist da alles, was ihnen nicht passt, und gegen solche »Auswüchse« vorzugehen, gehört zur Lieblingsbeschäftigung der Piraten. Zum Beispiel indem sie Twitter-Mobbing gegen missliebige Journalistinnen wie Julia Seeliger organisieren, die es gewagt hatte, in der Taz kritisch über rechte Tendenzen bei den Piraten zu berichten. Oder indem sie das eigene Forum mit flammenden Anklagen gegen den »faschistischen PC-Terror« vollschreiben, der doch tatsächlich vorschreibe, das Wort »Schwarze« statt »Neger« zu verwenden. Oder indem sie über Flashmobs am Wahlsonntag nachdachten, die wohl aus Parteimitgliedern bestehen sollten, die mit Piratenpartei-T-Shirts uniformiert vor den Wahllokalen in Stellung gehen sollten. Kleinliche Einwände wie der, dass so etwas an die Hitlerjugend erinnere, die seinerzeit Wähler terrorisierte, machen in diesem Milieu nur wenig Eindruck. Wegen der »Postideologie« wahrscheinlich.
Um sich klarzumachen, was das postideologische Geschwafel im realen Leben bedeuten könnte, reicht es übrigens, sich eine Abordnung der Piratenpartei auf offiziellem Staatsbesuch vorzustellen. In Polen. Oder in Israel. | Elke Wittich | Elke Wittich: Über die »Postideologie« der Piratenpartei | [] | Thema | 24.09.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/39/rechts-ueber-bord?page=0%2C%2C3 |
Jenseits aller Grenzen | Schon das gewöhnliche Camping ist keine luxuriöse Sache. Noch weniger komfortabel, wenn auch politisch nicht falsch, sind die No-Border-Camps, die aus Protest gegen das rassistische europäische Grenzregime durchgeführt werden. Die zusätzlichen Strapazen entstehen zum Teil aus der unaufgeforderten Mitwirkung der Polizei, aber auch, wie das Camp in Strasbourg zeigte, aus dem Eigensinn der No-Border-Aktivisten. War die Polizei bis zur ersten Demo am 24. Juli recht zurückhaltend, ging sie, nachdem einige Leute ein paar Banken entglast hatten, mit Gummigeschossen und Tränengas vor. Zuvor hatten einige Demonstranten versucht, eine Synagoge zu beschmieren, was nur durch das beherzte Eingreifen anderer Teilnehmer und nach einigen Rangeleien verhindert werden konnte. Nicht aufgehalten wurde eine Gruppe von Deutschen, die ein antifaschistisches Denkmal zur Befreiung Strasbourgs von der deutschen Besatzung mit »Non à la guerre« beschmierten. Eine gelungene Fortsetzung jenes Camps, bei dem deutsche Linke an der polnischen Grenze mit dem Vertriebenenmotto »Keine Grenze ist für immer« aufliefen. Nach dieser Demo verhängte der Präfekt ein Demoverbot im Stadtgebiet, wo in den folgenden Tagen ein polizeiliches Großaufgebot patrouillierte und vermeintliche Teilnehmer des Camps in ihre Zelte zurückschickte. Und dort wurde es richtig kuschelig. Zuvor hatte man Pressevertreter vom Gelände verbannt, vermutlich das Beste, was die Organisatoren für ihre Publicity tun konnten. Denn die »Kapitalismus-freie Zone«, die man dort ausgerufen hatte, war allemal dazu geeignet, in den Medienberichten die Aktivisten weder als Menschen mit seriösem Anliegen, noch als gewalttätige Chaoten, sondern als esoterische Spinner erscheinen zu lassen. Da wurde ökologisch korrekt in Erdlöcher geschissen, da heulten Teilnehmer gemeinsam den Mond an, da wurde ein Workshop zum Thema »Anarchistische Spiritualität« angeboten. Sicher, es gab auch Diskussionen zu vernünftigen Fragestellungen. Aber wie wirkt ein Angebot, bei dem man zwischen dem Widerstand von Illegalisierten und religiösem Klimbim wählen kann? Einen beängstigenden Einblick in die Utopien dieser Linken bot auch das Essen: Linsensaufstrich für alle zum Frühstück etwa. Sogar vom Verbot des Konsums mitgebrachter Marmelade wird berichtet. Gegen eine Kritik an dieser geschichts- und begriffslosen Idealisierung von selbst gewählten Slumverhältnissen zu »gelebter Utopie« ließe sich einwenden, diese krude Bauwagenromantik sei vielleicht bei der Veranstaltung in Strasbourg besonders ausgeprägt gewesen, aber nicht aussagekräftig für alle Grenzcamps und keineswegs charakteristisch für alle Teilnehmer. Völlig indiskutabel aber ist es, wenn aus einer linken Demo heraus versucht wird, eine Synagoge zu attackieren. Dass andere Teilnehmer dies durch ihr entschlossenes Eingreifen verhindern konnten, ist zwar löblich. Aber es genügt eben nicht, wie es die meisten Beiträge im deutschen Indymedia tun, diesen Übergriff nachträglich zu verurteilen. Eine antirassistische Veranstaltung muss nach einer derartigen Grenzüberschreitung an diesem Punkt eine messerscharfe Trennlinie ziehen. Sie kann nicht, wie in Strasbourg geschehen, ohne jede Diskussion einfach zum wohligen Wir-gegen-die-Bullen zurückkehren. Spätestens seit der UN-Konferenz von Durban droht der Antirassismus als Strategie des Antisemitismus vereinnahmt zu werden. Daran, wie die antirassistische Bewegung dieser Herausforderung begegnet, wird sie sich künftig messen lassen müssen. Übrigens, liebe Grenzcamper: Dass das Leben in nicht wetterfesten Behausungen, das Scheißen in Erdlöcher, die ewige Linsenpampe und die Überwachung des Elends durch eine rigide Dorfmiliz zu den guten Gründen zählen, die Menschen zur Flucht nach Europa treiben, wäre doch auch mal einen Gedanken wert. | Deniz Yücel | Deniz Yücel: No-Border-Camp in Strasbourg | [] | Ausland | 07.08.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/32/jenseits-aller-grenzen?page=0%2C%2C2 |
Der stolze Junge | Nun gibt es doch immer mehr Verurteilungen wegen des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Damals hatten Tausende Anhänger Donald Trumps versucht zu verhindern, dass Joe Biden zum Präsidenten ernannt wird. Mit dabei waren die Proud Boys, ein kleiner rechtsextremer Männerclub, der fanatisch hinter Donald Trump steht – und hinter dessen Behauptung, dass ihm der Wahlsieg »gestohlen« worden sei. »Tut, was getan werden muss«, schrieb an jenem Tag Henry »Enrique« Tarrio, der damalige Anführer der Proud Boys, an seine Anhänger. Er selbst war damals nicht in Washington, D.C., weil ein Gericht ihm die Anreise verboten hatte. Trotzdem wurden er und drei weitere Mitglieder der Gruppe vergangene Woche von einem Geschworenengericht verurteilt, unter anderem wegen »aufrührerischer Verschwörung«. Tarrio stammt aus Miami, wo die Proud Boys besonders stark sind. Sie profitieren davon, dass es in Südflorida viele konservative und rechte Latinos gibt, deren Vorfahren oft aus Kuba oder Venezuela eingewandert sind. Die Proud Boys wollen nicht als Rassisten gelten, sie bezeichnen sich als »westliche Chauvinisten«. »Der Westen ist das Beste«, lautet einer ihrer Slogans. Die Urteile gegen die Proud Boys fallen zeitlich zusammen mit einer anderen Nachricht, die vergangene Woche für Schlagzeilen sorgte: Das Medienunternehmen Vice steht offenbar vor dem Bankrott. Der Gründer der Proud Boys, der kanadische Podcaster und Comedian Gavin McInnes, war 1994 einer der drei Gründer von Vice, erst im Jahr 2008 stieg er dort aus. McInnes selbst behauptet, dass er den Stil der Zeitschrift in ihrer Frühphase, als sie zur globalen »Hipster-Bibel« aufstieg, maßgeblich erfunden habe. Und das ist gar nicht so unplausibel, bedenkt man, wie bemüht »politisch inkorrekt« oder zumindest zynisch der Humor von Vice damals war. Bei den Proud Boys gab es zu Beginn ebenfalls noch Spuren von Humor. Der Club konnte in seinem adoleszenten Männlichkeitswahn fast als Satire auf reaktionäre Männer verstanden werden. So besagte eine Regel zum Beispiel, dass ein neues Mitglied, um aufgenommen zu werden, von mindestens fünf Proud Boys verprügelt werden muss – und zwar so lange, bis es fünf Cornflakes-Marken aufzählen kann. Doch was auch immer McInnes damals im Sinn hatte: Herausgekommen ist ein rechtsextremer Schlägertrupp. | Johannes Simon | Johannes Simon: Henry »Enrique« Tarrio, Anführer der Proud Boys, wurde wegen des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021 verurteilt | [
"USA",
"proud boys"
] | Hotspot | 11.05.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/19/der-stolze-junge?page=0%2C%2C0 |
Die Wehrpflicht muß weg! | Die Wehrpflicht ist aus sicherheitspoliticher Sicht schon lange nicht mehr zu rechtfertigen. Doch die Vorstellung, daß die Wehrpflicht zum unverzichtbaren Kernbestand deutschen Militärs gehört, ist - auch unter Linken - immer noch weit verbreitet. Und weil es sicherheitspolitisch nur noch schwer zu vermitteln ist, warum man alljährlich 400 000 junge Männer zur Musterung zitiert, werden andere Legenden bemüht. Eine Allianz unterschiedlichster politischer Couleur erwartet von den Wehrdienstleistenden oft nicht weniger, als das Militär zu zivilisieren, die Demokratieverträglichkeit zu steigern, es in die Gesellschaft einzubinden sowie den Rechtsruck, den Staat im Staat - und als neueste Variante - den Einsatz der Bundeswehr Out-of-area zu verhindern. Selbst der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, Volker Rühe, beschwört die Wehrpflicht mit der Begründung, daß uns andernfalls eine Berufsarmee französischen Zuschnitts ins Haus stünde, die nur noch eines im Sinn hätte: weltweit zu intervenieren. Wer tatsächlich glaubt, daß ein zehn Monate dienender Wehrpflichtiger einen kontrollierenden Einfluß auf die Bundeswehr ausübt oder über den Einsatz der Bundeswehr befindet, leidet unter Realitätsverlust. Diese Aufgaben obliegen dem Parlament, der Wehrbeauftragten, der Bundeswehrführung, den militärischen Vorgesetzten und der Öffentlichkeit. Statt Zivilisierung erleben wir in jüngster Zeit genau das Gegenteil. Immer häufiger brechen bei jungen Soldaten zivilisatorische Dämme. Der oberste Deichgraf wird die Geister, die er mit der Propagierung internationaler Militäreinsätze und mit seinen Werbespots rief, nicht mehr los. Die meisten rechtsradikalen Ausschreitungen, die in der Öffentlichkeit publik wurden, sind bekanntlich von Wehrpflichtigen begangen worden. Angespornt durch den militärischen Alltag, eine demokratieferne Traditionspflege, die kriegsnahe Ausbildung und das Gefühl einer unheimlich starken, omnipotenten Truppe anzugehören, verlieren einige ihre zivilgesellschaftlichen Hemmungen. Wer vor diesem Hintergrund davor warnt, die Wehrpflicht abzuschaffen und auf die alljährliche Einberufung von 150 000 Männern besteht, macht den Bock zum Gärtner. Für die Grünen gehört die Abschaffung der Wehrpflicht, gerade unter dem Blickwinkel der permanenten handwerklichen und ideologischen Militarisierung, zu den politischen Urforderungen. Wehrpflicht bedeutet, daß jeder Mann, sofern er von der Bundeswehr nach deren eigenen, durchaus flexibel gehandhabten Kriterien für kriegsverwendungstauglich befunden wurde, sich unter Androhung von Zwangsmaßnahmen die Fähigkeit und Bereitschaft zum Töten aneignen muß. Auf diese Weise hat allein die Bundeswehr bisher mehr als acht Millionen Männer zur militärischen Gewaltanwendung vorbereitet. Wenn wir uns als Bündnisgrüne gegen die Wehrpflicht aussprechen, dann deshalb, weil niemand das Recht hat, andere Menschen zu zwingen, aktiv zur Tötung und Vernichtung anderer beizutragen. Die bis heute ungebrochene Regel: "Wenn der Staat das Leben fordert, so muß das Individuum es geben" (Hegel), hat die Massenschlachten der Vergangenheit und die Kriege der Neuzeit erst ermöglicht. Von diesem Verfügungsrecht des Staates müssen wir weg. Den "ewigen Frieden" werden wir damit zweifellos nicht erreicht haben. Während die Abschaffung des Krieges und die Auflösung der Armeen eine langfristige Menschheitsaufgabe ist, ist die Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland in reale Reichweite gerückt. Diese Gelegenheit muß entschiedener als bisher genutzt werden. Elementar für den friedenspolitischen Erfolg ist die Verknüpfung mit einer deutlichen Verringerung des Personalumfangs der Bundeswehr. Umgekehrt gilt: Ohne die Bereitschaft zum Verzicht auf die Wehrpflicht, wird es keine weitere Reduzierung der Bundeswehr mehr geben. Darüber müssen sich die Wehrpflicht-Dogmatiker im klaren sein. Die gegenwärtigen Verhandlungen über die Anpassung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa eröffnen die Chance, den Streitkräfteumfang auch europaweit zu reduzieren. Die Bundesrepublik muß unseres Erachtens hierzu deutliche Abrüstungsangebote machen. Eine Bundeswehr mit eng begrenztem defensivem Schutzauftrag und einem Drittel der jetzigen Stärke von 340 000 Mann, wie z. B. von den kritischen Soldaten des Arbeitskreises Darmstädter Signal vorgeschlagen, wäre zweifellos ein gewaltiger Abrüstungserfolg. Die Abschaffung der Wehrpflicht wird zu einer der zentralen Aufgabe der nächsten Bundesregierung werden. Umso wichtiger ist es, daß sich auch Kirchen, Gewerkschaften, Friedensbewegte u.a. aktiv und konstruktiv in die Diskussion "Was kommt nach der Wehrpflicht" einschalten. Aus bündnisgrüner Sicht kommt es darauf an, daß die Abschaffung der Wehrpflicht und die Reduzierung der Bundeswehr gleichzeitig von anderen friedensförderlichen Maßnahmen begleitet wird. Hierzu gehören u.a. die Begrenzung des militärischen Auftrags der Bundeswehr, eine bessere politische und öffentliche Kontrolle sowie Befreiung von kriegsverherrlichendem und antidemokratischem Traditionsballast. Eine kleinere, überwiegend aus Zeit-, statt Berufssoldaten bestehende Freiwilligenarmee wäre auch leichter zu kontrollieren und gesellschaftlich zu integrieren. Außerdem würden wichtige Ressourcen frei, die für den Auf- und Ausbau einer Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung genutzt werden könnten. Die Abschaffung der Wehrpflicht ist eine friedenspolitische Chance. Wir sollten sie nutzen. Winfried Nachtwei, MdB Bündnis 90/Die Grünen, ist Mitglied im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages | winfried nachtwei | winfried nachtwei: | [] | Disko | 13.11.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/46/die-wehrpflicht-muss-weg |
Sexismus ohne Sex | Es ist nicht wahr, daß Männer an den extra für sie hergestellten Druckerzeugnissen nur die Hochglanzbilder nackter Frauen interessieren und der redaktionelle Teil genausogut aus einem kurzen Editorial bestehen könnte, das einfach nur "Viel Spaß beim Wichsen" wünscht. In der ersten deutschen Ausgabe des US-amerikanischen Männermagazins Hustler erklärt Chefredakteur Uwe Hasenfuß (ja!), worauf er und sein Team besonderen Wert legen: Jeden Monat "unverbrauchte Reportagen, kontroverse Meinungen und ehrliche Interviews, ohne lange um den heißen Brei herumzureden". Und natürlich? "Und natürlich große und saftige Fotos von Frauen ohne Filter und Weichzeichner." Um dieses einzigartige Konzept zu entwickeln, hatte man sich viel Zeit genommen, insgesamt fünf Monate, die sich jedoch gelohnt haben, denn viele gute Ideen konnten entwickelt werden, z.B. eine Witz-Seite. "Hustler Humor" wird mit einer auf der Toilette sitzenden, lachenden Comicfigur illustriert, die darauf hinweist, daß die folgenden Witze Witze sind. "'Angeklagter, was haben Sie denn gedacht, als Sie der Frau unter den Rock gegriffen haben?' 'Ich dachte, mir frißt ein Pferd aus der Hand.'" Die Rubrik "Flash for Cash", in der "Ladies" 200 Mark mit Nacktfotos verdienen können, ist von der Redaktion - es kommt eben auch auf die Kleinigkeiten an - eigens mit dem Signet "Bärenjagd" geschmückt worden, einem Bärenfell, vor dem eine nackte Frau steht. Einfühlsame Texte ("Angela ist eine Hausfrau, die's exotisch mag. Sie träumt von einem flotten Dreier mit ihrem Ehemann 'und einem anderen'. (...) Außerdem bringt sie ihrem Sohn 'neue Dinge' bei. Kein Zweifel, als Lehrerin wäre Angela vielen anderen vorzuziehen.") umrahmen die Schnappschüsse, zusammen ergänzen sie sich zu optischen Höchstgenüssen. Den Wunsch eines Lesers: "Ich hoffe, daß dank Euch der Winter 'heiß' bleibt", wird der Hustler ganz sicher erfüllen können. Offen und unverklemmt ist auch das Interview. Für diesen wichtigen Bestandteil des Heftes gelang es den Hustler-Redakteuren, in Budapest einen ganz besonders raren Gesprächspartner zu treffen, den Schauspieler Ben Becker, der "den amerikanischen Hustler kennt, schätzt und schon seit Jahren Stammleser ist", außerdem gerade nichts Besseres zu tun hatte. Becker ist ein Glücksgriff, weil er genauso offen, unverklemmt und humorvoll ist wie Hustler und im Gespräch betont, wie toll es ist, daß er endlich mal offen und unverklemmt reden darf. Und was nervt Becker sonst noch? "Ich nenne es mal die faschistoiden, elitären Tendenzen in unserer Kapitalgesellschaft. (...) Wenn ich da vorne die Pepsi-Reklame sehe, im ehemals sozialistischen Budapest, da geht's irgendwie schon los." Von ähnlich analytischer Qualität sind die "Wahlbeobachtungen" in der Kolumne "Tony, der Hustler". Fragestellung: "Wer regiert den Puff Deutschland?" - "Packt es der Bordellier Kohl noch einmal?" Wir lesen zum Thema Kohl: "Nun juckt die Prostata; viermal hat er's gepackt, wird er auch zum fünften Mal einen hochkriegen, fragt sich der geneigte Freier." Und antwortet: "Na ja, ein schmutziges Geschäft ist es auf jeden Fall, und wer glaubt, daß sich für ihn als zahlender Gast in der Szenerie viel ändert, bloß weil er sich am Wahltag einen intimen Besuch in der 'Solokabine' leistet, hat die Gesetze der organisierten Sexindustrie nicht begriffen." Eine Analyse, die sich vorher gewaschen hat, und vor der man den Hut ziehen muß. Aber Hustler möchte seinen Lesern auch Entspannung bieten: Michelle etwa, "Hustler Honey Oktober Michelle", die man für drei Mark 63 pro Minute auch anrufen oder im Heft dabei bestaunen kann, wie sie sich auf den Seychellen "erst vorsichtig und dann ganz (...) der Kraft des Wasserfalls" hingibt. Eine Variation des Themas findet sich ein paar Seiten weiter unter der gewagten Überschrift "Hot in Miami", wobei der Kenner sich weniger auf Suzan konzentrieren sollte als auf die zebragemusterte Couch, die von Februar bis März 1982 unglaublich in war. Danach zierte an Sperrmülltagen die damalige Zebrasofa-Produktion die Straßenränder deutscher Kleinstädte - sie wiederentdeckt und vor dem Vergessen bewahrt zu haben, ist wohl das einzige Verdienst der deutschen Hustler-Crew. | Kim Bönte | Kim Bönte: | [] | Lifestyle | 28.10.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/44/sexismus-ohne-sex?page=0%2C%2C2 |
Auf dem Sonderweg der Moderne | Tragische Verblendung im Sinne des griechischen Dramas spricht aus einem Brief, in dem der Schriftsteller Friedo Lampe im Dezember 1943 an seinen Freund Johannes Pfeiffer über die Bombardierung Leipzigs durch britische Flieger schrieb: »Das ganze Verlagsviertel ist ja zerstört, die Universität, die deutsche Bücherei, alles aufgebrannt. Das gab es schon einmal: Alexandria.« Die berühmteste Bibliothek der hellenistischen Welt in Alexandria gilt der Überlieferung als universaler Wissensspeicher der antiken Welt. Sie soll, so beschreiben es einige antike Autoren, bei einem auf Befehl Julius Caesars gelegten Feuer im 1. ahrhundert v. . . abgebrannt sein; ein großer Teil der wissenschaftlichen und literarischen Bestände einer ganzen Epoche schien für immer verloren gegangen zu sein. Lampes Analogie zeugt von Verblendung, weil derselbe, der hier über einen Verlust alexandrinischen Ausmaßes klagt, sich in den Jahren zuvor als Bibliotheksmitarbeiter und Lektor am Aussortieren von im Nationalsozialismus unerwünschten Büchern und an der vorauseilenden Zensur von Neuerscheinungen beteiligt hatte. Von der Fülle der Weimarer Literatur, die in ihrer Gesamtheit zur Not »alexandrinisch« genannt werden könnte, war 1943 in Leipzig nicht mehr viel übrig: Was da abbrannte, waren Institutionen des verarmten und durchideologisierten Literaturbetriebs des Nationalsozialismus. Und doch kann man einen Wahrheitskern in Lampes Worten anerkennen: Sie zielen letztlich nicht auf eine Fülle an Büchern, die sich mit jener der Bibliothek von Alexandria messen könnte, sondern auf das eine, das eigene Buch, Lampes Erzählband »Von Tür zu Tür«, der gerade in Leipzig gedruckt wurde. In Lampes Literatur ist in gewisser Weise alexandrinische Fülle in einem Maß aufgespeichert, das den Literaturbetrieb im Nationalsozialismus überstieg: auf inhaltlicher, aber besonders auf der Ebene der Ästhetik. Lampes ganz eigener Erzählstil greift auf kinematographische Verfahrensweisen zurück, trägt die Züge der technischen Moderne und nimmt Formelemente der ersten Avantgarden um 1900 und der zeitgenössischen internationalen, vor allem US-amerikanischen Moderne auf. Dazu gesellen sich in Lampes erstem Roman »Am Rande der Nacht« Elemente des modernen Stadtlebens, unter anderem Homosexualität, Sadomasochismus und ein Flirt zwischen einem Schwarzen und einer Weißen, die im Februar 1934, wenige Monate nach der Publikation, zum reichsweiten Verbot führten. Seit der Jahrtausendwende hat der Wallstein-Verlag in verdienstvollen Neuauflagen Lampes Werk neu herausgebracht und in zwei Bänden Briefe und andere Dokumente publiziert. Nun hat Johann-Günther König die erste Biographie des Schriftstellers vorgelegt. Lampe, geboren 1899, stammte aus Bremen, aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Aufgrund einer Gehbehinderung wurde er weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg als Soldat eingezogen. Königs sorgfältig recherchierte Biographie zeichnet das Bild eines schon früh für Literatur begeisterten Schülers und eines Studenten der deutschen Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte, der sich für die deutschsprachige Literatur seiner Zeit – besonders für Hofmannsthal und die Expressionisten – ebenso wie für die europäische und US-amerikanische interessierte, aber auch für die deutschsprachige Literatur seit dem Barock. Dabei betont König besonders den Einfluss Stefan Georges und seines Kreises, der sowohl in ästhetischer als auch in ideologischer Hinsicht große Bedeutung für eine ganze Generation bürgerlicher Intellektueller hatte. Über das Verhältnis zur Bremer Räterepublik und überhaupt zur Linken schweigen sich die Quellen weitgehend aus, was König in aufschlussreicher Weise mit Geschehnissen kontrastiert, mit denen Lampe nachweislich in Berührung gekommen war. Der Einfluss Georges und seines mit Homoerotik liebäugelnden Kreises ist sicherlich auch deshalb so deutlich, weil sie für Lampes Homosexualität die Rolle eines Modells spielen konnten. Ihr widmet die Biographie ein eigenes Kapitel, das die Homosexualität aus den Quellen – es sind in diesem Fall hauptsächlich retrospektive Aussagen von Freunden und Bekannten – klar herausarbeitet, aber auch darauf aufmerksam macht, dass explizite Selbstaussagen nicht erhalten sind. Lampe hat ein Leben geführt, das wohl auch von Kontakten mit Strichjungen, aber vor allem von großen Männerfreundschaften geprägt war, deren Bandbreite von schwärmerischer Liebe, die in Freundschaft mündet (Walter Hegeler), über intellektuelle Weggenossenschaft (Johannes Pfeiffer) bis zu einer Art Vater-Sohn-Beziehung (Peter Voß) reichte. Freilich spielen viele langjährige Beziehungen zu Frauen (von der Jugendfreundin Hertha Hegeler bis zur späten Freundin Ilse Molzahn) eine mindestens ebenso große Rolle in dieser Lebensgeschichte. Von Lampes eigener literarischer Produktion ist erst etwa ab der Mitte von Königs Buch die Rede. Auf das Jahr 1931 datiert die damals zwar nicht veröffentlichte, aber erhaltene Erzählung »Am dunklen Fluß« – ein fulminanter Auftakt, eine Prosa, die die Leserin soghaft in ihre Welt hineinzieht und in den Bann der zwischen faszinierend-anziehend und unheimlich changierenden Stimmung schlägt. Die Erzählung ist geprägt vom Konflikt zweier Brüder, eines vitalen USA-Auswanderers und eines musikalisch-trübsinnigen daheimgebliebenen Arbeitslosen. Weder das Hierbleiben noch das Weggehen erscheint am Ende als Option, der deutschen Trübsal steht eine fragwürdig wirkende US-amerikanische Alternative gegenüber, die von fern an Kafkas »Amerika«-Romanfragment erinnert. Lampes Œuvre ist schmal geblieben – in den dreißiger Jahren nahm ihn die Lektoratsarbeit stark in Beschlag, unter anderem für Hans Falladas Veröffentlichungen im Rowohlt-Verlag – und er hatte, wie er selbst schrieb, immer »Pech mit meinen Büchern«. Der Romanerstling »Am Rande der Nacht« wurde im Nationalsozialismus verboten, der zweite Roman »Septembergewitter« blieb weitgehend unbeachtet, und »Von Tür zu Tür« erschien erst nach seinem Tod – er wurde am 2. ai 1945 aus ungeklärten Gründen von sowjetischen Soldaten erschossen. Der Literaturwissenschaft gilt Lampe als ein zukunftsweisender Autor, der für die bundesdeutsche Nachkriegsliteratur eine vielleicht nicht sofort ins Auge springende, aber doch nicht zu unterschätzende Bedeutung hatte. So hob schon 1957 Wolfgang Koeppen Lampes Technik des Verwebens simultan ablaufender Handlungsstränge hervor und nannte ihn »auf eine stille Art avantgardistisch« und sein Werk ein »Lehrbuch für junge Schriftsteller«. Die Bedeutung Lampes besteht in dieser Sichtweise, vor allem auch in der des von König zitierten Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering, darin, einen »Sonderweg der Moderne« gegangen zu sein, der charakterisiert sei von einer Mischung aus avantgardistischer Formsprache und »romantischer Traumpoesie«. Lampes Werk hat demnach eine bedeutende literaturgeschichtliche Funktion, insofern es einen anders gearteten Anschluss an die ästhetische Moderne beinhaltet als den des literarischen Exils – für die postnazistischen bundesdeutschen Schriftsteller wohl oft eine attraktivere Option als die Anlehnung an die Exilschriftsteller, die vielfach als Verräter und Drückeberger denunziert wurden. Den Angriff Thomas Manns auf die in der postnazistischen Literatur verbreitete selbstgerechte Haltung – »In meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an« – wehrten Walter von Molo und Frank Thieß mit dem Gegenvorwurf ab, aus der angeblichen Bequemlichkeit des Exils das katastrophale Geschehen beobachtet zu haben, und stellten Mann den Kampfbegriff der »Inneren Emigration« entgegen. Diesen dreisten Versuch der Selbstviktimisierung und -heroisierung führt König zu Beginn der Biographie als einen wichtigen Faktor ein, der dazu beigetragen habe, eine differenzierte Betrachtung der im Nationalsozialismus erschienen Literatur zu verhindern. Tatsächlich ist seine Biographie frei von apologetischen Zügen. Vielmehr arbeitet sie deutlich heraus, auf der Basis welcher intellektueller Voraussetzungen Lampe an welchen Stellen im Nationalsozialismus mitgetan hat, sei es bei der sogenannten Gleichschaltung der Volksbibliotheken, sei es als Lektor, der auf Falladas Werk im Sinne der Einpassung in den nationalsozialistischen Literaturbetrieb einwirkte, sei es als einer, der für die Shoah noch nicht einmal eine Andeutung übrig hatte. Mitgetan hat er – und das sollte deutlicher benannt werden, als König das tut – auch im Bereich der literarischen Produktion. 1941 veröffentlichte Lampe in der propagandistischen Wochenzeitung Das Reich die Erzählung »Alexanderschlacht«, in der sich ein vom bürgerlich-belanglosen Leben in einem Kurort abgestoßener junger Mann in die Schlacht bei Issos von 333 v. u. Z. hineinträumt, in der Alexander der Große den Perserkönig Dareios III. besiegte – »die besten Krieger Europas gegen die Weichlinge Asiens«. Sterbend empfängt der Träumer Alexanders Dank, währen um ihn herum »Heil Alexander, heil Alexander, Sieg!« gerufen wird. Offensichtlich ist Lampes literarische Produktion nicht frei von nationalsozialistischen Zügen. Zu einem differenzierten Bild dieser merkwürdigen literarischen Erscheinung gehört es auch, die Kontamination der Literatur durch die mörderische NS-Ideologie zu erforschen und anzuerkennen. Denn die glatte Entgegensetzung von Moderne und Nationalsozialismus ist nicht haltbar. Der Nationalsozialismus muss als genuin modernes Phänomen begriffen werden. Und das bedeutet auch, dass die ästhetische Moderne unter postnazistischen Bedingungen nicht mehr als per se progressiv verstanden werden kann. Johann-Günther König: Friedo Lampe. Eine Biographie. Wallstein-Verlag, Göttingen 2020, 390 Seiten, 28 Euro | Benedikt Wolf | Benedikt Wolf: Eine Biographie über den Schriftsteller Friedo Lampe | [] | dschungel | 20.05.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/20/auf-dem-sonderweg-der-moderne |
Tuzla Calling | Die größten Proteste in der Geschichte des jungen Balkanstaats Bosnien-Herzegowina begannen vorige Woche im nordbosnischen Tuzla. Nachdem etwa 1 000 Arbeiter innerhalb kürzester Zeit ihre Stelle verloren hatten, zogen sie am 4. Februar vor das Regierungsgebäude des Kantons und forderten Sozialleistungen und ein Eingreifen der Regierung. Die Arbeiter waren zuvor monatelang nicht bezahlt worden, einige angeblich vier Jahre lang. Unternehmen wurden meist für eine geringe symbolische Summe privatisiert, ausgeschlachtet und gingen dann innerhalb kürzester Zeit bankrott. Die Privatisierungen zu beenden und rückgängig zu machen, ist eine der Hauptforderungen der Demonstrierenden.
Armut und Korruption sind die Ursachen des Protests. Innerhalb kürzester Zeit gab es Demonstrationen im gesamten Land. Vermummte Anhänger des Fußballvereins Sloboda Tuzla stürmten am Donnerstag voriger Woche das Gebäude der Regionalregierung in Tuzla und setzten es in Brand. Die Feuerwehr konnte den Brand nicht löschen, weil die Demonstrierenden die Wege blockierten. Etwa 5 000 Menschen jubelten vor dem brennenden Gebäude, die Polizei ließ sie gewähren und sicherte stattdessen umliegende Gebäude. Die Polizeikräfte sind aufgefordert, die Lage ruhig zu halten und möglichst keine Eskalation zu provozieren. In mehreren Städten solidarisierten sich die Polizisten mit den Demonstrierenden, in anderen kam es hingegen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am Tag darauf wurde in Sarajevo der Sitz des Präsidiums von Bosnien-Herzegowina in Brand gesteckt. 34 Demonstranten wurden daraufhin festgenommen. Die meisten davon waren junge Menschen aus der schrumpfenden Mittelschicht Bosniens. Nach weiteren Protesten wurden die Festgenommenen am Sonntag allesamt wieder auf freien Fuß gesetzt. In Mostar wurden die Zentralen der nationalistischen Parteien, der kroatischen HDZ und der bosniakischen SDA, in Brand gesteckt. Die beiden Parteien leben seit nunmehr 20 Jahren davon, Ressentiments gegen die jeweils anderen sogenannten ethnischen Gruppen zu schüren. Das politische System ist so aufgebaut, dass jeder Posten im Staat nach einem Proporz vergeben wird, was Korruption und nationalistische Parteien begünstigt. Im Zuge der Proteste kam es zu einer Reihe von Rücktritten. Suad Zeljković, Vorsitzender der Kantonsregierung in Sarajevo, bemerkte nach seinem Rücktritt: »Ab morgen können all jene, die so gerne plündern, eine glücklichere Zukunft Sarajevos aufbauen.« Die Demonstrierenden fordern den Rücktritt der gesamten Regierung. »Wir tragen die ganze Schuld«, kommentierte Željko Komšić, Vertreter der kroatischen Bevölkerung im dreiköpfigen Staatspräsidium, die Ausschreitungen. Bakir Izetbegović, der Vertreter der Bosniaken, forderte rasche Neuwahlen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Er tat dies, weil auch Neuwahlen keine ernsthafte Gefahr für die nationalistischen Parteien darstellen, solange sich am politischen System nichts Grundlegendes ändert. Auf Seiten der serbischen Nationalisten werden die Proteste als Bedrohung empfunden. Sie wünschen keine stärkere Integration ihres Teilstaats in den bosnischen Gesamtstaat. Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, wittert gar eine Verschwörung gegen die serbische Entität. Viele Serbinnen und Serben in Bosnien-Herzegowina würden sich weiterhin lieber heute als morgen aus der »Zwangsehe« verabschieden. Die größten Proteste fanden in den Städten mit bosniakischer Bevölkerungsmehrheit statt, aber auch in den Städten mit serbischer Bevölkerungsmehrheit kam es zu Demonstrationen gegen die Regierung. Proteste gab es bald im ganzen Land.
Bosnien-Herzegowina ist weit davon entfernt, so wie Serbien Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen. Erst kürzlich fror die EU Hilfsgelder in Höhe von 45 Millionen Euro ein, weil sich die Parteien nicht auf eine notwendige Verfassungsreform einigen konnten. Einige Zeitungen berichten schon von einem »bosnischen Frühling«, dafür ist es freilich noch zu früh. | Krsto Lazarević | Krsto Lazarević: Soziale Proteste in Bosnien-Herzegowina | [] | Ausland | 13.02.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/07/tuzla-calling?page=0%2C%2C2 |
In Teufels Küche | Manhattan - der Ort, wo die Welt zu Ende ist; kein Mecha kam je zurück«, erklärt Sexroboter Jude Law seinem sehr jungen Freund. David ist auf das Alter von elf Jahren programmiert. Beide sind Mechas, industriell gefertigt. Beide sind im Sperrgebiet, und sie sind nicht kaputt. »Wenn das Ende kommt, sind nur wir Mechas übrig, deswegen töten sie uns.« »Sie« - das sind die Organischen, die Industriellen, die Mütter zu Haus und die Väter in den Bürotürmen, die Menschen. Und sie sind mit ihrer Mechas verachtenden Politik gescheitert. Spielberg, der Prophet, zeigt uns in seinem Film die Bilder, die wir vor einer Woche im Fernsehen gesehen haben - die Einzelheiten stimmen nicht genau überein, denn die Filmwolkenkratzer sind geknickt und nicht pulverisiert, aber der apokalyptische Staub, der die Skyline verdämmert, ist total gut getroffen. Ein Timing, das höchste Bewunderung verdient. In der Vorstellung saßen am Starttag zwar nur drei Zuschauer, von denen zwei eine halbe Stunde zu spät gekommen waren. Dafür aber schluchzte das Paar herzerweichend, stellvertretend für die, die nicht gekommen waren. Hatte die Promotion versagt? Selbst in unseren liebsten Tageszeitungen hatten sich bedeutende Leute die Finger wund geschrieben, wie denn nun die Anteile von selig Kubrick und lebend Spielberg am Film zu sortieren seien. Wen interessiert's? Dieser werkanalytische Seminarkram ist doch nur was für Lehrbeauftragte und den Fachbereich 9. Auf dieser Schiene könnte man, wenn man wollte, auch ohne weiteres zurückfahren ins deutsche Melodram des Faschismus. Hat nicht das Haupt der Sippe Jan Harlans, des ausführenden Produzenten, das Juden verachtende Melodram »Jud Süß« gedreht? Und ist Veit Harlans DNA irgendwie in Hollywood reaktiviert? In »A.I.« geht's ja um die Technik, per Haar eine Endzeit später, den dazu gehörenden Menschen zu aktivieren. Wenn wir also die werkanalytische Tour fahren, dann wollen wir registrieren, dass der Harlan-Spross und Kubrick, der das »A.I.«-Projekt entwickelt hatte, jahrzehntelang verschwägert, befreundet und Arbeitskollegen waren. Für Georg Seeßlen sind Harlans Filme »Muster des deutschen Melodrams«. In der Reichswasserleiche Kristina Söderbaum sei die gemeinsame Mutter-Figur von Melodram und Nazi-Ideologie gefunden; die faschistische Metaphorik des melodramatischen Genres brauche die Reichswasserleiche, die Frau, die angebetet, geschändet, ertränkt und wieder verehrt werde - stets unerreichbar, aber immer begehrenswert; die Söderbaum, so wie sie in »Jud Süß« und den anderen Filmen Harlans inszeniert werde, erfülle das Frauenideal des Faschismus. Sagt Seeßlen. Und gerade im Manhattan-Finale steigert sich das Schluchzen des Heteropaares grandios, wenn unsere Filmheldin, eine blaue Fee, eigentlich eine Madonna, im Hudson-River liegt, angebetet und angehimmelt, soweit das in 50 Meter Tiefe geht, vom kleinen Mecha, der den biblischen Namen David hat. Auch haben wir erfahren, dass die Endzeit von Manhattan vor 2000 Jahren war, damals sehnten sich alle Unterdrückten nach einem Erlöser. Der dann auch kam. »A.I.« ist ein altneues Melodram der funktionierenden Art, jedenfalls für Freunde der guten alten dänischen Küche. Ich weiß noch, wie wir mit Till und Björn, elf Jahre alt, in Thisted im Restaurant saßen. Wir wollten uns was leisten. Erbsen, Kartoffeln, dann Fleisch, lecker, jeder Teil warb für sich, und dann im Moment, in dem wir zu Gabel griffen, kam die Riesenkelle braune Soße drüber, dann noch eine und noch eine. So etwa müssen Sie sich vorstellen, was die Filmmusik mit »A.I.« macht. Aus Knackigem wurde Melo-Mampf. Ich frage mich die ganze Zeit, ob Sie von mir erwarten, dass ich den Plot erzähle. Aber das würde ich auch beim Ring des Nibelungen nicht machen. Deswegen bleibe ich beim Musikgeschluchze und wie es sich in der großen Proloshow vornehm zurückzieht. Die Tonspur wird dem anderen Lager überlassen. Die Metal-Band Ministry (echt!), Pioniere des Goth, stimmen bösartig aggressiv auf die Sado-Spiele in der voll besetzten Fun-Arena ein. Wir kommen jetzt in diesem Text nach einem ziemlichen Umweg wieder zurück nach Manhattan, wo es wie nach einem Terroranschlag aussieht. Da Spielberg offensichtlich auch in analytischer Hinsicht hellseherische Kräfte gehabt hat, lernen wir, dass erstens die Welt aus der Perspektive Manhattans in zwei Lager aufgeteilt ist (Menschen und Nichtmenschen, also Mechas), und zweitens dass, was in Manhattan passiert ist, weiter nichts war als eine Reaktion auf die globale Repression. Zwar wird es nicht explizit gesagt, dass es Notwehr war, wenn sich diejenigen, die weltweit auf dem Schrottplatz entsorgt werden, endlich gegen die wehren, die Euthanasie- und Tötungsprogramme auflegen, um Markt und Macht zu sichern, und dabei noch in Discos ekelhafte Musik hören. Aber wir kriegen Spielbergs Gedanken - er schrieb das Drehbuch -, dass es recht war, Manhattan auszulöschen, in Bild und Ton sehr melodiös mit, und ich weiß nicht, was Kissinger dazu sagen wird. Wer also in das für Mechas gesperrte, aber jetzt menschenfreie Endzeitmanhattan eindringt, ist unser ungleiches Mechapaar. Mit einem Flugzeug fliegen sie auf den einzigen Büroturm zu, der noch die vertikale Lage einnimmt. Unsere lieben Roboter fliegen in die Fassade rein, wir kennen die Bilder, aber es rummst nicht, denn die beiden landen in einer Empfangshalle. Eine kleine Abweichung, aber dann wieder ein stimmiges Bild; Klein-David stürzt sich vom Wolkenkratzerdach in die Tiefe. Er springt, »um seinen Traum zu verwirklichen«, wie es - leicht schwülstig - im Dialog heißt. Aber nochmal: Wieso ist in Spielbergs »A.I.« Manhattan, das Zentrum der USA und damit des Globus, »das Ende der Welt« geworden? Verantwortlich scheint jemand vom Schlage Bushs zu sein, dessen schurkische Ökologie-Verweigerung zum Schmelzen des Polareises und zur Sintflut geführt hat. - Man mag es kaum glauben, in einem Mainstreamfilm diesen Gedanken ausgeführt und bebildert zu bekommen, aber so ist es. Manhattan war der Sitz des Bösen geworden, und die Strafaktion ist Natur der Sache. Das Drehbuch gibt sich große Mühe, uns plausibel zu machen, dass die Menschen-Apokalypse hausgemacht war und der Menschenuntergang gerecht. Ist also David ein klammheinlicher Taliban? Das eben nicht. Der Knabe hat zwar biblische Größe; nach mythischen 2 000 Jahren - inzwischen hatte eine Eiszeit mit den Organischen endgültig Schluss gemacht -, wird er von extraterristischen Erdforschern wieder aufgetaut, alles liebevolle E.T.s, Erwachsene inzwischen, man hält einander an den Händen, ist edel, hilfreich und, schluchz, gut. Der Mecha David, der kleine Underdog, ist bei ihnen gut aufgehoben, er suhlt sich im Prunkbett einer Business-Suite, die lieben Aliens haben auf ihre Art rekonstruiert, was sie auf der Spurensuche gefunden haben. Sie sind die besseren Menschen. Wir kommen jetzt zur Ethik. Den Manhattanmenschen, die als Ökoschurken und wahre Terroristen entlarvt worden waren, wird nun vorgeworfen, aus rationalem Kalkül und Menschen verachtendem Kosten/Nutzen-Denken family values sowie sonstige Werte missachtet zu haben. Damit wird die aktuelle Ideologie im Bushland bedient, und es mag ein wenig mit der Zerstörung der Manhattanskyline versöhnen. Obwohl, so schlimm war das ja auch wieder nicht, fiktional, weil vom Kinomedium der Schaden bekanntlich eingeübt war. Was gab's noch und noch für Crashs und Tower-Gekrümel in den S.F.-Filmen der letzten Zeit. Als ob man das Debakel hätte beschwören wollen; es war ja gradezu eine unerhörte Ausnahme gewesen, dass die Affen, ja die vom anderen Planeten, das Weiße Haus ohne Gebäudeschaden übernommen hatten. Und nochmal: Die E.T.s, die von ihrem Planeten, sind dabei, den Globus Erde wieder neu zu erschaffen, von Null an. Ist es so, dass uns, und damit meine ich Manhattan, nur noch Leute vom ganz anderen Lager helfen können, vom anderen Stern? Spielberg, Spielberg, du kommst in Teufels Küche. Aber, und nun nehme ich zum Schluss noch mal den moralischen Faden auf: Wie sieht die intakte US-Idealfamilie aus? Die Frau macht im 300-Quadratmeter-Bungalow die Betten, der Mann sitzt am PC im Büro, das Kind schläft in einem Designerbett, eher in einem Flugzeugrumpf, sicher gibt's das schon auf dem Markt, abends zieht Mutter das weiße lange Abendkleid an, und wenn Papi gut gelaunt ist, gibt er ihr einen Klaps auf den Hintern. Ja, so soll es wieder werden! Dahin wollen wir zurück! Denn der Filmplot berichtet von bedenklichen ethischen Deformationen: Die Menscheneltern, die den voll funktionsfähigen Mecha-Sohn als Spielzeug in ihren Schoß aufgenommen hatten, setzen ihn, lästig geworden, wie in einem dieser regressiven Märchen im Wald aus, wo die Räuber sind. Grausam ist das, David wollte nur Mutterliebe, aber es war einmal. »A.I. - Künstliche Intelligenz«; USA 2001. R: Steven Spielberg; D: Jude Law, Haley Joel Osment. Bereits angelaufen. | Dietrich Kuhlbrodt | Dietrich Kuhlbrodt: Steven Spielbergs »A.I.« | [] | dschungel | 19.09.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/38/teufels-kueche?page=0%2C%2C2 |
Rettet den Schöffen | Allzu schlimm scheint es nicht zu sein, wenn deutsche Jugendliche einen Ausländer fast zu Tode prügeln. Diese Schlussfolgerung legt zumindest das Verhalten des Münchner Amtsgerichtes nahe, vor dem seit dem 27. September gegen fünf Neonazis verhandelt wird, die im Januar in der bayerischen Landeshauptstadt am Rande einer Geburtstagsparty einen Griechen fast totgeschlagen und die ihm zu Hilfe eilenden Türken zum Teil schwer verletzt haben. Denn dem Gericht liegt vor allem das Wohlergehen der Täter am Herzen.
Schon am ersten Verhandlungstag schloss die Jugendkammer des Amtsgerichts die Öffentlichkeit von dem Prozess aus. Dass die wegen versuchten Mordes angeklagte Marie-Anna von Papen zur Tatzeit erst 17 Jahre alt war und nun wegen des Medienrummels um ihre Zukunft fürchtet, war für das Gericht Grund genug, diese Maßnahme zu treffen. Überdies sei zu befürchten, dass die wegen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung Angeklagten Christoph Schulte (20), Dominic Brodmerkel (19), André Kühr (19) und Norman Bordin (25), sich durch Imponiergehabe vor Publikum schaden könnten.
Um ihre Zukunft müssen sich eher das Opfer des Übergriffs und diejenigen fürchten, die ihm an jenem Abend halfen. Nicht nur, dass sie damals schwere Verletzungen erlitten, ihr Privatleben wurde in den Medien durchwühlt und ihre Identität der Öffentlichkeit preisgegeben. Außerdem stellten Neonazis Fotos der Helfer ins Internet. Einer musste sein Geschäft wegen der Bedrohung durch Neonazis aufgeben, ein anderer verlor wegen der rassistischen Berichterstattung in den Medien seinen Job. Die Angst der Betroffenen ist berechtigt. Als einer von ihnen als Zeuge vor Gericht gegen die Neonazis aussagte, wurde er kurz darauf auf der Straße von Skins angepöbelt. Kurz vor Prozessbeginn wurde ein weiterer Helfer von zwei Skinheads vor seiner Wohnung mit einem Messer verletzt.
Nun muss auch noch an der Objektivität eines der Laienrichter gezweifelt werden. Der Schöffe Peter Knott ist seit 1993 Mitglied der Republikaner, einer Partei, die der Verfassungsschutz seit Jahren als übersteigert nationalistisch und fremdenfeindlich einstuft und ihr deshalb eine feste Rubrik im jährlichen VS-Bericht reserviert. Einen Befangenheitsantrag der Staatsanwaltschaft wies das Gericht am Mittwoch der vergangenen Woche jedoch mit der Begründung zurück, die Partei sei schließlich nicht verboten.
Knott hatte eingeräumt, Mitglied der Republikaner zu sein und behauptet, keine Parteiämter auszuüben, sondern nur gelegentlich Veranstaltungen der Partei zu besuchen. Einen Einfluss auf die Objektivität Knotts sieht das Gericht offenbar nur dann gegeben, wenn er seine Fremdenfeindlichkeit auch aktiv zum Ausdruck bringt. Dann werde »eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gegebenenfalls auch ohne Antrag von Amts wegen erfolgen«, sagte der Vorsitzende Richter Werner Ulrich. Der umstrittene Schöffe darf nun also über das Urteil für die Neonazis mitentscheiden.
Ein Teil der Verteidiger zeigte sich keineswegs verwundert über die Parteizugehörigkeit Knotts, im Gegensatz zum Staatsanwalt, der erst während des Prozesses davon erfahren hatte. Der als Neonaziverteidiger hinreichend bekannte Dortmunder Rechtsanwalt André Picker, der Marie-Anna von Papen vertritt, warf dem Staatsanwalt wegen seines Befangenheitsantrages vor, er habe ein »kleines Defizit im Demokratieverständnis«.
Dass von Papen, die einer Augenzeugin zufolge beim Überfall auf den Griechen »Schlag ihn endlich tot!« gerufen hatte, der rechten Szene angehört, bestreitet Picker vehement. Allerdings spricht nicht nur die Bekanntschaft mit dem Skinhead Christoph Schulte, sondern auch ihr weiterer Bekanntenkreis Bände. Marc Strothe, Burschenschafter aus Bielefeld und ehemaliges Mitglied der 1992 verbotenen Nationalistischen Front, der ebenfalls zum Prozess erschienen war, gab vor der Presse an, mit Papen befreundet zu sein.
Rechtsanwalt Picker bestreitet schließlich auch, dass es sich bei der Geburtstagsfeier an jenem Abend im Münchner Lokal Burg Trausnitz überhaupt um ein Treffen von Neonazis gehandelt habe. Die damals anwesende Riege aus dem so genannten Nationalen Widerstand widerlegt dies jedoch. Eingeladen hatte unter anderem das Mitglied der rechtsextremen Burschenschaft Danubia, Reiner Mehr, der auch die Website des Nationalen Widerstands Bayern betreibt. Papen wurde von dem mutmaßlichen Haupttäter Christoph Schulte begleitet, der in diesem Prozess des versuchten Mordes angeklagt ist. Der 19jährige gehört nach Informationen der Antifa-Zeitschrift Der Rechte Rand zu den Kadern der Freien Kameradschaften in Nordrhein-Westfalen und trat bei den Kommunalwahlen 1999 im Märkischen Kreis für die NPD an.
Auch der älteste Angeklagte, der 25jährige Norman Bordin, ist kein Unbekannter. Gemeinsam mit dem auf der Party ebenfalls anwesenden langjährigen Aktivisten und Mitglied des neonazistischen Freizeitvereins Isar 96 e.V. (FZV), Manfred Eichner, hat Bordin das Aktionsbüro Nationaler Widerstand Freilassing ins Leben gerufen.
In zwei vorangegangenen Prozessen wurde bereits gegen sieben tatbeteiligte Skinheads verhandelt, wobei je zwei von ihnen zu Bewährungsstrafen bzw. zu Haftstrafen von über einem Jahr verurteilt wurden. Im zweiten Prozess musste zwar das Verfahren gegen den Danuben Reiner Mehr mangels Beweisen eingestellt werden und ein anderer kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Das FZV-Mitglied Björn Christopher Balbin wurde aber zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt.
Wenn auch die Strafen nicht besonders drastisch ausgefallen sind, ist während der bisherigen Prozesse gegen die Verantwortlichen des Übergriffs im Januar doch vor allem deutlich geworden, dass das neonazistische Netzwerk der freien Kameradschaften auch in Bayern längst Fuß gefasst hat. | liane m. dubowy | liane m. dubowy: Skinhead-Prozess in München | [] | Antifa | 17.10.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/42/rettet-den-schoeffen?page=0%2C%2C0 |
Neue Patrioten | Mit Tränen in den Augen kommentierte Pinto Portas, der Vorsitzende des rechtspopulistischen Partido Popular (PP/CDS), den Ausgang der Parlamentswahlen am vorletzten Sonntag. Dies sei »ein historischer Tag für Portugal«, sagte er mit erstickter Stimme. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren sei der Weg offen für eine konservative Mehrheit im Lande. Und zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren gibt es nun - mit der FPÖ in Österreich und der Allianza Nazionale in Italien - eine rechtspopulistische Regierung in Europa. Die Kommunisten (CDU) erzielten hingegen mit knapp sieben Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit dem Ende der faschistischen Diktatur. Die Volkspartei, die wie die meisten anderen Parteien des Landes erst nach der Nelkenrevolution von 1974 gegründet worden war, war schon Anfang der achtziger Jahre für kurze Zeit an einer Regierung mit dem PSD beteiligt. Damals machte das Bündnis soziale Errungenschaften der Revolution, wie etwa die Landreform, rückgängig. Wenig später rückte der PP noch weiter nach rechts. Mit Slogans wie »Portugal den Portugiesen« zog die Partei in die folgenden Wahlkämpfe. Auch in den vergangenen Wochen war die schlichte Botschaft von Portas nicht zu überhören: Ein kräftiger Arm mit geballter Faust zierte die Plakate der Partei. Die Rechtspopulisten setzen sich unter anderem für ein Verbot der Abtreibung und eine härtere Flüchtlingspolitik ein und versprechen, die portugiesischen Interessen in der EU besser wahrzunehmen. Und auch ihr künftiger Koalitionspartner sparte nicht mit kräftigen Parolen. Das Vaterland und die Familie seien seine wichtigsten Werte, verkündete José Manuel Durão Barroso, der Vorsitzende des PSD und künftige Ministerpräsident. »Mein Mann hat mich gelehrt, was Patriotismus ist«, zitierte die in Lissabon erscheinende Tageszeitung Público aus einer Wahlkampfrede seiner Ehefrau. Die plötzliche Konjunktur von so idealistischen Werten wie Familie und Vaterland hat allerdings einen ausgesprochen materialistischen Hintergrund. Die neue Regierung übernimmt von ihren sozialistischen Vorgängern einen völlig desolaten Haushalt. Das Land ist, gemeinsam mit Deutschland, in der EU der Spitzenreiter bei der Staatsverschuldung, das Wirtschaftswachstum ist so niedrig wie sonst nirgends in der Union. Barroso verspricht nun einen rigiden Sparkurs, weniger Steuern für Unternehmer, die Privatisierung von Staatsbetrieben - kurz: das ganze Repertoire neoliberaler Ökonomen. Doch der große Aufschwung wird vermutlich auch mit diesem Programm kaum zu erreichen sein. Im vergangenen Jahrzehnt hat Portugal von den umfangreichen EU-Subventionen und den nachholenden Konsumbedürfnissen seiner Bewohner, die ebenfalls zumeist mit der Kreditkarte finanziert wurden, profitiert. Der ehemaligen sozialistischen Regierung ist es mit der Konjunktur auf Pump immerhin noch gelungen, einige soziale Mindeststandards einzuführen. Nicht unerheblich für ein Land, das nach wie vor die größten Einkommensunterschiede, die höchste Kindersterblichkeitsrate und die niedrigste Lebenserwartung innerhalb der EU aufweist. Mittlerweile sind die Kredite verbraucht, und von Brüssel ist auch nicht mehr viel zu erwarten. Im Zuge der geplanten Ost-Erweiterung werden die Zuwendungen drastisch gekürzt, zudem liegt Portugal nicht nur geografisch weit entfernt von den neuen Märkten im Osten. Die Botschaft von Pinto und Barroso, dass es nichts mehr zu verteilen gibt, haben auch ihre Wähler verstanden. Wenn es knapp wird, dann sollen Flüchtlinge draußen bleiben und Frauen zurück an den Herd. Und für die künftigen Verteilungskämpfe in der EU wünschte sich die Mehrheit der Portugiesen eine Regierung, die ihre nationalen Interessen vertritt. Den starken Arm, den sie wollten, haben sie nun bekommen. | Anton Landgraf | Anton Landgraf: Regierungswechsel in Portugal | [] | Ausland | 27.03.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/13/neue-patrioten?page=0%2C%2C2 |
thorsten fuchshuber und danièle weber | In Luxemburg und Belgien fanden die Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Ardennenoffensive statt. von thorsten fuchshuber und danièle weber Die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum D-Day laufen in der Normandie auf Hochtouren.
Zwischen Battlefield-Tours und Vergangenheitsaufarbeitung finden deutsche Reservisten
auch ihren Platz. von thorsten fuchshuber und danièle weber, le havre Ein Gespräch mit theodor bergmann über den 17. Juni, seine Biografie als Jude und Kommunist
in Deutschland und die Irrwege des Sozialismus | [] | https://jungle.world//autorin/thorsten-fuchshuber-und-daniele-weber |
||||
Präsenz der Abwesenheit | Am S-Bahnhof Botanischer Garten gibt es ein kleines Geschäft mit Kurzwaren. Wenn man eintritt, wird man von der etwa 50jährigen Verkäuferin freundlich bedient. Sie ist modisch gekleidet und bietet weit mehr feil als nur Garn und Knöpfe: Damenkonfektion zum Beispiel, »auch Zwischengrößen«. Die Zeit scheint stehen geblieben, man glaubt sich um 60 Jahre zurückversetzt. Ursprünglich war das kleine Kaufhaus in Berlin-Steglitz seit den zwanziger Jahren in jüdischem Besitz. Das Warenangebot des mittelständischen Familienbetriebs erfreute sich reger Nachfrage. Kaufhaus Boga hieß das Geschäft, das noch zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft die Existenz für die Familie von Berthold Silberstein sicherte. Der Sohn eines jüdischen Bäckermeisters und Gastwirts wurde 1885 in Braunschweig geboren und war Frontsoldat im Ersten Weltkrieg. Sein Engagement für das deutsche Kaiserreich nützte ihm aber wenig, als die Nazis an die Macht kamen, die die Silbersteins ausgrenzten, verfolgten und schließlich ermordeten. Die Geschichte der Familie Silberstein ist nur eine von vielen, die in der Ausstellung »Juden in Steglitz« aufgezeigt werden. Dem Historiker Dieter Fitterling ist es gelungen, jüdische Spuren im Bezirk aufzuspüren. Besonders freut er sich über eine kleine Sensation, die er den Besuchern präsentieren kann: Noch im Oktober 1938, die Nürnberger Rassegesetze waren längst in Kraft, warb eine Zeitungsanzeige für Silbersteins Betrieb. In der Nacht des 9. November 1938 wurden dann die Schaufenster zerstört, der Laden geschlossen und Berthold Silberstein in Sachsenhausen interniert. Einen Monat später wurde er entlassen, die Arisierung seines Betriebes bedeutete für den Kaufmann , seine Frau und seine Kinder Fred und Hansi Silberstein den wirtschaftlichen Ruin und persönliche Demütigung. Die Tochter musste das Lyceum verlassen und von da an eine jüdische Schule besuchen. Im Oktober 1942 folgte die Einweisung in eine so genannte Judenwohnung in der Holsteinischen Straße - und die Abordnung zur Zwangsarbeit. Berthold Silberstein arbeitete für den Bautrupp der Deutschen Reichsbahn, seine Frau als Löterin bei der AEG Kabelwerke Oberspree. Schließlich wurde das Ehepaar am 17. März 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Von dort brachte sie 18 Monate später ein Deportationszug nach Auschwitz, wo sie getrennt und später ermordet wurden. Ihre Kinder überlebten die Shoah: Für den Sohn Fred begann nach der Schließung der jüdischen Schulen im Alter von 14 Jahren die Zwangsarbeit im SS-Arbeitslager am Wannsee. Bei der so genannten Fabrik-Aktion verhafteten ihn im Februar 1943 Gestapo und Berliner Polizei an seinem Arbeitsplatz und deportierten den jungen Mann nach Auschwitz. Auch Freds Schwester Hansi kam ins Konzentrationslager. Sie arbeitete in Auschwitz-Birkenau auf der Zahnstation. Die Geschwister wussten allerdings nichts über den Verbleib des jeweils anderen, ebenso wenig über die Deportation der Eltern. Die 19jährige Hansi schickt am 25. August 1943 eine - in der Steglitzer Ausstellung dokumentierte - Karte an die Eltern »mit freundlichen Grüßen nach Berlin«. Absender: »Hansi Silberstein, Lager Birkenau« Erst in Neuseeland trafen Fred und seine Schwester sich wieder. Dort, am anderen Ende der Welt, lebt Fred Silberstein heute. Am 20. Juli allerdings wird er noch einmal den Wohnort seiner Jugend aufsuchen, um zum Abschluss der Ausstellung »Juden in Steglitz« als Zeitzeuge über die Geschichte seiner Familie zu sprechen. Der Historiker Fitterling begleitet die Ausstellung mit Vorträgen über jüdische Juristen in Steglitz. In Steglitz praktizierten auch die Ärzte James Fraenkel, Max Goldstein und Alfred Lilienfeld. Fraenkel betrieb in Lankwitz das Sanatorium Berolinum, die beiden anderen eine Nervenheilanstalt in Lichterfelde. Weitere Bürger von Prominenz: der Gartenbauarchitekt Ludwig Lesser und Otto Morgenstern, Leiter des Lichterfelder Gymnasiums. Eine herausragende Rolle spielte Lydia Rabinowitsch-Kempner, die sich als zweite Professorin in der Geschichte Preußens der Bakteriologie widmete und unter anderem auch mit Robert Koch zusammenarbeitete. Ihr Sohn, Robert Kempner, flüchtete vor den Nazis in die USA, kehrte aber später für kurze Zeit nach Deutschland zurück: Als Jurist leitete er die Anklage bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Die schrittweise Deportation und Auslöschung der Juden war zugleich das Aus des progressiven Bürgertums der Jahrhundertwende im Bezirk Steglitz. Das jüdische Leben war hier vielfältig. So gab es ab 1878 den orthodoxen Religiösen Verein Jüdischer Glaubensgenossen und 1909 wurde die liberalere Israelitische Religionsgemeinschaft Groß-Lichterfelde-Lankwitz gegründet. Im Jüdischen Religionsverein Friedenau-Steglitz von 1911 sammelten sich Geschäftsleute, kleine und mittlere Beamte, Ärzte und Rechtsanwälte, um eine reformierte Gemeinde. Noch 1933 zählte sie insgesamt 3 186 Mitglieder. Zusätzlich gab es religiös ungebundene Juden, die meist mit sozialrevolutionären Ideen sympathisierten. Auch Rosa Luxemburg lebte zeitweise in der unmittelbaren Umgebung - an der Straßenbahnstation Südende. In der Wrangelstraße befand sich die Jüdische Blindenanstalt, außerdem gab es mehrere Wohlfahrtseinrichtungen der 1922 gegründeten B'nai-Brith-Logenvereine. So gab es eine Wohlfahrtsküche und einen Kinderhort in der Handjerystraße. In der Düppelstraße stand die Synagoge der ehemals blühenden Gemeinde. Heute sind nur wenige Überreste des Gebäudes erhalten, das Grundstück ist im Besitz eines Privatmannes. Nur eine Spiegelwand auf dem Marktplatz am Rathaus Steglitz kündet heute von der Präsenz der Abwesenheit des deutschen Judentums im Südwesten Berlins. Auf ihr sind die Namen von Deportierten aus dem Bezirk aufgelistet. Ihre Länge entspricht übrigens exakt der Länge der ehemaligen Synagoge in der Düppelstraße. »Juden in Steglitz« - noch bis zum 20. Juli im Heimatmuseum Steglitz, Drakestraße 64a. Öffnungszeiten montags 16-19 Uhr, mittwochs 15-18 Uhr, sonntags 14-17 Uhr oder nach Voranmeldung unter Telefon 832 86 63 Veranstaltung mit Fred Silberstein: »Wie ich Auschwitz überlebte - und weiter«, in Verbindung mit der Initiative Haus Wolfenstein am 20. Juli 2000 im Heimatmuseum Steglitz, 19.30 Uhr | frank scheerer | frank scheerer: Ausstellung »Juden in Steglitz« | [] | Inland | 12.07.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/28/praesenz-der-abwesenheit?page=0%2C%2C0 |
Spart zwei, drei, viele Milliarden | Die deutsche Industrie setzt offenbar alles daran, die nächste Verhandlungsrunde über eine Entschädigung früherer NS-Zwangsarbeiter platzen zu lassen. Zwei Wochen vor dem Treffen der deutschen Vertreter mit der vom US-amerikanischen Vize-Außenminister Stuart Eizenstat geleiteten Delegation der Opferverbände und ihrer Anwälte wollen die deutschen Unternehmen von höheren Zahlungen in den Entschädigungsfonds weiter nichts wissen. Nachdem der Beauftragte der Bundesregierung für die Verhandlungen, Otto Graf Lambsdorff, letzte Woche noch erklärt hatte, dass er sich um eine Aufstockung des bisherigen Angebots von sechs Milliarden Mark bemühe, lehnte der Sprecher der Unternehmer-Stiftungsinitiative, Wolfgang Gibowski, eine Erhöhung erneut ab. Es sei "unverantwortlich, jetzt von einer höheren Summe zu reden, wo wir bislang noch nicht einmal die geplanten vier Milliarden zusammenbekommen haben". Die US-amerikanischen Anwälte und die Opferverbände hatten bereits bei der letzten Verhandlungsrunde in Washington das deutsche Angebot als völlig unzureichend zurückgewiesen (Jungle World, Nr. 41/99). Dass es auch Lambsdorff nur darum geht, mögliche negative Folgen eines Scheiterns der Verhandlungen von den deutschen Unternehmen abzuwenden, machte jetzt die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita öffentlich: "Die Beschäftigung von Ostarbeitern in der deutschen Landwirtschaft ist eine natürliche historische Erscheinung. Sie haben schon immer so gearbeitet und tun dies sogar heute", zitierte die Zeitung den deutschen Verhandlungsleiter. Schließlich arbeiteten auch jetzt noch, so Lambsdorff bei den Gesprächen in Washington, über 80 000 Polen in der deutschen Landwirtschaft - was dafür spreche, dass es sich dabei um den "dauernden Ausdruck derselben historischen Erscheinung" handele. | : | [] | Inland | 03.11.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/44/spart-zwei-drei-viele-milliarden?page=0%2C%2C0 |
|
Zwischen Bond und Badewanne | Zugegeben: James Bond, MacGyver oder dem A-Team wäre in einer solch brenzligen Situation bestimmt noch was eingefallen. Doch den beiden Slowenen eben nicht, die da am 6. Januar 1998 auf kroatischem Staatsgebiet mit ihrem grünen Mini-Van von der kroatischen Polizei wegen eines harmlosen Verkehrsdeliktes aufgehalten worden waren. Da die beiden keine harmlosen Ausflügler und der grüne Mini-Van kein spießiges Familienvehikel war, zog die kleine Amtshandlung weitreichende diplomatische Konsequenzen nach sich. Offenbar hatte die kroatische Polizei zwei Mitarbeiter des slowenischen Geheimdienstes erwischt und ein Auto, das ebenso gut aus der technischen Abteilung des legendären Mister Q hätte stammen können. Der Mercedes war voll bestückt mit High-Tech zum Abhören des militärischen Funkverkehrs Kroatiens, und die Fahrer hatten offenbar den Auftrag erhalten, die kroatische Armee auszuspionieren. Schon wenige Tage nach ihrer Inhaftierung wurden die glücklosen Agenten wieder des Landes verwiesen, der Mercedes allerdings blieb in Kroatien. Erst im April dieses Jahres brachte ihn der kroatische Premier Ivica Racan seinem slowenischen Amtskollegen Janez Drnovsek als Gastgeschenk mit. Bei der definitiven Grenzziehung zwischen den beiden Staaten, die die Regierungschefs damals in die Wege leiteten und Mitte Juli vereinbarten, dürfte auch der grüne Mini-Van eine ziemlich gewichtige Rolle gespielt haben. In Ljubljana nämlich erzählen sich Beobachter die Geschichte von einem ziemlich durchtriebenen Deal zwischen Kroatien und Slowenien. Weil der kroatische Geheimdienst schon jahrelang versucht hatte, eine derartige mobile Spionagestation nachzubauen und dabei immer wieder scheiterte, hätten die Slowenen den Kroaten das Vehikel freiwillig so lange überlassen, während diese ihnen bei der Grenzziehung entgegenkamen. Der Vermittler in dieser seltsamen Affäre um Spionage und High-Tech soll Deutschland gewesen sein, denn die gesamte technische Ausrüstung ist deutscher Herkunft. Doch weil es selbst der Regierung Helmut Kohls nicht gerade opportun erschien, solches Equipment 1997 an Franjo Tudjman zu liefern, könnte man damals gemeinsam mit den beiden Adria-Staaten die Posse mit dem Van eingefädelt haben. Tatsächlich gab sich Kroatien bei den Verhandlungen über die endgültige Grenze ziemlich moderat. Slowenien, das nur über 46 Kilometer Küste verfügt, wurde ein zwei Meilen breiter Seekorridor zu internationalen Gewässern zugestanden, dafür musste es auf Teile der »slowenischen Riviera« rund um das Städtchen Piran verzichten. »Kompromisse sind notwendig, um etwas zu erreichen. Natürlich verliert man auch bei Kompromissen, aber Kroatien hat bei den Verhandlungen mit Slowenien mehr gewonnen«, feixte der kroatische Staatspräsident Stipe Mesic - vielleicht im Hinblick auf den Gewinn deutscher Wertarbeit im Spionage-Sektor. Doch die nationalistische Opposition in Kroatien ist trotzdem gegen den Deal und spricht von einer »Schande« für das Land. Einen Ausweg aber hätte es ohnehin nicht gegeben. Kroatien wie Slowenien stehen bei der EU im Wort, die eine weitere Integration der beiden Staaten nur nach einer Beilegung des Grenzstreits in Aussicht stellt. Nach dem Beschluss der Regierungschefs im Juli steht nun noch die Zustimmung der Parlamente aus. | oliver weiss | oliver weiss: Streit um die slowenisch-kroatische Grenze | [] | Inland | 22.08.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/34/zwischen-bond-und-badewanne?page=0%2C%2C0 |
Geliebte, | gerade habe ich »Geliebte« hingetippt, da springt eine verschmitzte Büroklammer der Firma Microsoft auf meinen Bildschirm und fragt: »Anscheinend möchten Sie einen Brief schreiben. Brauchen Sie Hilfe?« Ja, ich brauche Hilfe, denn Liebesbriefe gehen nicht so leicht von der Hand wie Glossen für die Jungle World. Aber ich wundere mich doch, dass mir bei dieser Operation am offenen Herzen erst Hans Eichel, dann Horst Köhler und jetzt auch noch eine Klammer helfen wollen. Wie kommen die denn darauf? Die kennen dich doch gar nicht! Ehrlich, der Finanzminister und der Präsident haben mir aufgetragen, dir zu schreiben, und die Klammer scheint mit ihnen im Bunde zu sein. Verblüfft es dich denn nicht, dass du, nachdem ich dir jede Nacht wenigstens drei stürmische E-Mails und zwei Dutzend schwülstige SMS geschickt habe, nun eine mit »Word for Windows« geschriebene snail mail erhältst? Schau dir mal das Kuvert an. Fällt dir nichts auf? Da klebt doch eine Wohlfahrtsmarke. Damit hat die Klammer nichts zu tun, das war Eichels und Köhlers Idee. Jeder Liebesbrief, meinen sie, solle zugleich ein »Liebesbrief für Deutschland« sein. Wenn ich dich liebe, meinen sie, solle ich auch ganz Deutschland lieben und, statt mit 55, mit 80 Cent frankieren. 55 Cent habe ich für dich ausgegeben, 25 für die andern 79 999 998 Deutschen. Jeder von ihnen kann sich nun über 0,000000003 Cent freuen. Und das ist auch noch aufgerundet. So sehr liebe ich dich, so wenig die andern. Aufgerundet. Leicht ist es mir dennoch nicht gefallen. Denn es ist furchtbar schwer, sich zu entscheiden. 2004 ist die Sondermarke »50 Jahre Wunder von Bern« herausgekommen. Vermutlich ist das diejenige, die Eichel und Köhler am besten gefällt. Aber hätte ich sie guten Gewissens aufkleben können? Ich glaube doch nur an ein einziges Wunder. Es ist nicht das von Bern, sondern das von Berlin-Neukölln, weil du eines Tages bei Aldi hinter mir in der Schlange standest und gefragt hast: »Willst du die ganze billige Eiskrem alleine futtern?« Ja, das waren deine ersten Worte, sie sind für immer in meine Seele graviert. Bloß weil die Post die Wohlfahrtsmarke »Ein halbes Jahr Wunder bei Aldi« noch nicht herausgegeben hat, konnte ich doch nicht mit den Fußballern ankommen. Immerhin stehen noch mehr Marken zur Auswahl. Lassen wir mal die für die Jugend beiseite; »Katzenkinder mit Wollknäuel«, »Sich putzende Katze«, »Schlafende Katze« oder gar »Mutter mit Kind«, all diese Motive scheinen mir nicht ganz für einen feurigen Liebesbrief zu passen. Und sie passen auch gar nicht zu dir. »Katze, ihre Krallen wetzend« oder »Katze, Aldi-Eis schleckend«, das wäre es gewesen. Gibt es aber nicht. »Polare Zone«, »Gemäßigte Breiten« – unsere Liebe scheint mir weder frostig noch lauwarm zu sein. Deshalb eben »Wüste«, Wohlfahrtsmarke mit Zuschlag, 55 + 25 Cent. Fühl dich ruhig angesprochen, du wüste, wüste Frau. Dennoch, etwas will mir an der ganzen Geschichte nicht schmecken. Ich entrichte freiwillig meine Liebessteuer an den Präsidenten und ans Finanzministerium, aber ich finde, wer Köhler heißt, sollte nicht den Glauben an Deutschland propagieren, wer Eichel heißt, sollte sich nicht auch noch zum Zuhälter machen. Und eine Klammer sollte nicht den Don Juan spielen. Was meinst du? Viele heiße Küsse auf dein kühles Schleckermäulchen, dein stefan | : | [] | Inland | 13.10.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/42/geliebte?page=0%2C%2C2 |
|
lisa doppler | Nach wochenlangen gewalttätigen Demonstrationen, die sieben Menschen das Leben kosteten, fanden im Senegal die Präsidentschaftswahlen statt. Nicht nur die institutionellen Parteien protestieren gegen den alten Präsidenten, sondern auch eine neue politische Bewegung, die von Rappern angeführt wird. | [] | https://jungle.world//autorin/lisa-doppler |
||||
Alles im grünen Bereich | Von einer "Öko-Katastrophe" könne man nicht sprechen, allenfalls von eventuellen Kontaminationen an einzelnen Standorten. Klaus Töpfer (CDU), ehemaliger Bundesumweltminister und jetziger Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms, macht sich keine Sorgen um die ökologische Situation Jugoslawiens. Erstmal müsse man die Fakten wissen, dann kann man ja immer noch weiter sehen. Deshalb erstellen 14 Wissenschaftler und andere Experten derzeit einen "neutralen und wissenschaftlich glaubhaften Bericht" über das Ausmaß der Umweltkatastrophe in Jugoslawien, wie die Financial Times berichtete. Die bisher vorliegende Ergebnisse der Untersuchung belegen eine gefährliche Kontamination weiter Gebiete des Landes, die auf den Einsatz von Granaten, die je 275 Gramm angereichertes Uran enthielten, zurückzuführen ist. Die Nato hatte die Anwendung dieser Granaten, die zum Zerstören von Panzern und Bunkern benutzt wurden, bestätigt. Von nicht-nuklearen Verseuchungen am stärksten betroffen sind die Gewässer Jugoslawiens, besonders die Donau. Durch die Bombardierung eines Chemiewerks, einer Raffinerie und einer Kunstdüngerfabrik in der 70 000-Einwohner-Stadt Pancevo wurden mindestens 25 000 Tonnen Benzin verbrannt. Die Nachrichtenagentur AP spricht von 1 400 Tonnen freigewordenem krebserregendem Vinylchlorid, das zum Teil durch Verbrennung in das noch giftigere Phosgen verwandelt wurde. Über hundert Tonnen Quecksilber und ebensoviel Natronlauge gelangten in die Donau, nebst anderer Chemikalien wie z.B. Salpetersäure. Die Zahl der Fehlgeburten in Pancevo ist stark angestiegen, mindestens 100 Menschen wurden vergiftet. | : | [] | Ausland | 28.07.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/30/alles-im-gruenen-bereich |
|
»So etwas darf sich nie wiederholen« | Sie sagten kürzlich, der Hass gegen Israel sei unerträglich geworden. Wie genau nehmen Sie die Lage wahr?
Wir erleben momentan leider erneut, dass eine Eskalation im Nahost-Konflikt zu Demonstrationen führt, auf denen sich blanker Israel-Hass entlädt und teils offen antisemitische Parolen gerufen werden. Als Linker meine ich, dass jede verständliche Friedenssehnsucht – wozu es auf der Welt ja viele Anlässe gibt – die unzweideutige Abgrenzung gegenüber Antisemitismus braucht. Wer von Israel als »Apartheidstaat« redet oder sagt, die Lösung des Nahost-Konflikts liege allein in der Verantwortung Israels, der muss sich über die Anschlussfähigkeit gegenüber antisemitischen Argumentationsmustern oder Akteuren nicht wundern. Zum Teil regiert dann der offene, blanke und gewaltsame Antisemitismus, wie nach der Demonstration in Essen am 18. Juli, als »Adolf Hitler« oder »Tod den Juden« skandiert wurde. Da gibt es nichts zu relativieren.
Aber Ralf Michalowsky, der Vorstandsprecher des Landesverbandes der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen, tat genau das: relativieren. Obwohl der Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn gemahnt hatte, dass sich Ereignisse wie in Essen nicht wiederholen dürften.
Höhn hatte bereits vorab die Genossinnen und Genossen gebeten, diese Demonstration abzusagen. Wenn man eine Kundgebung mit einer derart einseitigen Parteinahme im Nahost-Konflikt organisiert, dann kann man nicht verhindern, dass Antisemiten diese Bühne nutzen. Und genau das ist ja auch eingetreten. Dass Michalowsky nach seinem Manuskript zunächst vorhatte, Israel als Apartheidstaat zu bezeichnen, und es dann doch nicht getan hat, zeigt, dass er sich offenbar bewusst ist, dass es ein Problem gibt. Jedoch sprach Bilal Wilbert vom »Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit«, einer offenkundig islamistischen Gruppierung. Er erklärte in seiner Rede, dass das Problem ausschließlich darin bestehe, dass Israel als jüdischer Staat im Nahen Osten überhaupt gegründet wurde. Wenn das auf einer Veranstaltung passiert, die von der »Linken« organisiert, angemeldet und moderiert wird, dann ist das ganz klar ein Vorstoß gegen die Grundsätze, die wir in unserem Programm festgehalten haben. Ich hätte mir gewünscht, dass das auch offen als Fehler bezeichnet und reflektiert worden wäre. Ich bleibe dabei: So etwas darf sich nie wiederholen!
Gegen Höhn und seine Kritik haben sich allerdings mehrere bekannte Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, darunter Sahra Wagenknecht und Ulla Jelpke, mit Michalowsky solidarisiert und das Vorgehen gerechtfertigt.
Ich unterstelle mal, dass sie schlecht informiert waren. Wir haben auf der anderen Seite, worüber ich froh bin, sehr klare Positionierungen von vielen Landesspitzen aus West und Ost, auch von Jugendorganisationen. Es gibt zum Glück inzwischen sehr viele Leute, die nicht bereit sind, so etwas unwidersprochen zu lassen.
Aber ist das nicht das Minimum dessen, was man erwarten kann – Leuten zu widersprechen, die sich, zum Teil nicht zum ersten Mal, mit ihrem Handeln explizit gegen die geltende Beschlusslage der Partei wenden?
Auf die nachvollziehbare Anteilnahme am Leid in diesem Konflikt erfolgen einseitige Parteinahmen, und ebenso projizieren sich in diese Debatten dann antisemitische Deutungsmuster und Stereotype. Wir erleben immer wieder, dass Menschen dann feinsäuberlich zwischen Antizionismus und Antisemitismus unterscheiden und behaupten, beides hätte überhaupt nichts miteinander zu tun. Antisemitismus ist, wenn ich Menschen jüdischen Glaubens übel nehme, was ich anderen nicht übel nehme – beispielsweise die Staatsgründung Israels. Für mich ist klar, dass eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus nicht erst da beginnt, wo einer »Hängt die Juden« brüllt. Insofern bin ich froh, dass sich schnell relativ viele Linke zu Wort gemeldet und gesagt haben: »Nicht in meinem Namen!« Auch die gemeinsame Äußerung der Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger sowie des Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi betrachte ich als klare Absage an derartige Aktivitäten.
Die Stellungnahme von Partei- und Fraktionsführung kam allerdings erst vier Tage nach den Vorfällen in Essen.
Gut, alle drei Vorsitzenden waren im Urlaub. Da ist es für mich sehr nachvollziehbar, dass sie etwas zeitversetzt reagieren. Entscheidend ist, dass sie sich geäußert haben. Gysi hatte sofort klargestellt, dass angesichts der Erfahrung der Shoah und des Scheiterns jeglichen Emanzipationsversuchs von Juden innerhalb europäischer Nationalstaaten Antizionismus keine Option für Linke sein kann. Das müssen wir in unserer Partei immer wieder deutlich machen.
Wenn man sich die Namen derjenigen anschaut, die auffällig werden, die sich mit der Hamas gemein machen, dann sieht man, dass es bei den meisten nicht das erste Mal ist. Die geltende Beschlusslage in puncto Antisemitimus und Existenzrecht Israels wird von diesen Leuten also offenbar bewusst ignoriert. Muss die Partei da nicht mehr tun, als nur zu widersprechen?
Das tut so niemand. Das Problem sind Grauzonen, krude Allianzen bei einfachen Weltbildern und Solidarisierungen, bis hin zu Querfrontambitionen Einzelner. Ich glaube, dass die Auseinandersetzung noch nicht beendet ist, dass sich auch der Parteivorstand erneut damit befassen und Position beziehen muss. Das Interessante ist ja, dass auch Ralf Michalowsky und andere für sich in Anspruch nehmen, komplett auf der Basis des geltenden Programms zu handeln, und selbst die Erklärung der drei Vorsitzenden als Unterstützung für sich begriffen haben. Auf dieser Basis ist es natürlich schwierig, zu diskutieren. Auf der anderen Seite kommt immer wieder die Angst durch, angesichts etwa der Hetze von Bild gegen den Islam durchaus nachvollziehbar, dass eine klare Positionierung als Entsolidarisierung mit Muslimen begriffen werden kann, dass man möglicherweise antimuslimischem Rassismus den Boden bereitet.
Was ja unterstellen würde, dass alle Muslime Antisemiten sind.
Richtig. Und das ist natürlich gefährlicher Unsinn. Wir werden genauso dagegen aufstehen, wenn Reaktionäre in Deutschland die traurigen Ereignisse zum Schüren des Hasses gegenüber Muslimen instrumentalisieren.
2011 gab es gegen Hermann Dierkes, den früheren Duisburger Kreisverbandsvorsitzenden, immerhin mal ein Parteiausschlussverfahren, weil Dierkes zum Boykott israelischer Waren aufgerufen, das Existenzrecht Israels eine läppische Frage genannt und Terroranschläge gerechtfertigt hatte. Ende 2012 wurde das Verfahren aber ohne Ausschluss eingestellt.
Andere Ausschlussverfahren waren erfolgreich. Aber es gibt bei einem solchen Verfahren zu recht hohe Hürden und es entscheiden unabhängige Gremien darüber. Das finde ich angesichts der Geschichte der SED richtig. Es ist eine Ultima Ratio. Wenn allerdings offener Antisemitismus vertreten wird, muss es zwingend Ausschlüsse geben. Für mich steht aber die politische Auseinandersetzung, die Aufklärung im Vordergrund. Denn selbst wenn ich mit Ordnungsmaßnahmen hantiere, bleibt ja die Tatsache bestehen, dass ein Teil der deutschen Gesellschaft wie auch meiner Partei die Trennung zwischen Antisemitismus einerseits und einer klugen friedenspolitischen Position andererseits nicht immer hinbekommt.
Aber jenseits der Frage, wo genau der Antisemitismus beginnt, stellt sich doch die Frage, wie man als Linker auf die Idee kommen kann, auf Demonstrationen gemeinsam mit der Hamas zu marschieren, die als Organisation ja nicht nur für Antisemitismus steht, sondern auch für andere Sachen, die Linke eigentlich bekämpfen wollen, wie etwa religiöser Fanatismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie?
Das müsste man dann mal diejenigen Linken fragen, die meinen, das tun zu müssen. Ich käme nicht auf die Idee, Hamas oder Hizbollah als Verbündete zu betrachten. Ich glaube im Gegenteil, dass jede emanzipatorische Position die Zusammenarbeit und Identifikation mit solchen Gruppen per se verbietet.
Bei der Landtagswahl in Thüringen im September könnte Bodo Ramelow möglicherweise erster Ministerpräsident der Linken werden.
Das hoffe ich doch!
Aber es mehren sich die Stimmen, besonders aus der SPD, die antisemitische »Dummköpfe« in der Linkspartei kritisieren und als mögliches Koalitionshindernis betrachten.
Diese Form von Selbstgerechtigkeit finde ich persönlich abstoßend. Es mag ja sein, dass es in der SPD nicht die Schärfe in diesen Debatten gibt, aber sie soll einfach mal bei sich gucken. Die SPD ist genau wie wir ein Spiegel der deutschen Gesellschaft. Das gilt auch für die anderen Parteien, die sind davon auch nicht frei. Ich finde es ziemlich bigott, hier die Forderung nach bekenntnishaftem Ablass mit der Regierungsfrage zu verknüpfen. Wenn wir über den Apartheidvergleich von Ralf Michalowsky sprechen, sollte nicht vergessen werden, dass der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel vor nicht allzu langer Zeit ganz ähnliche Äußerungen gemacht hat. Uns Linken muss es völlig unabhängig von der Frage möglicher Regierungsbeteiligungen darum gehen, klare Trennlinien Richtung Antisemitismus hinzubekommen. Ich warne vor Selbstgerechtigkeit in dieser Debatte. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. | André Anchuelo | André Anchuelo: Klaus Lederer im Gespräch über den Umgang der »Linken« mit antisemitischen Vorfällen | [] | Thema | 07.08.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/32/so-etwas-darf-sich-nie-wiederholen?page=0%2C%2C2 |
Sonderforschungsbereich Krieg | Schon in der Woche vor Weihnachten gab es für Antimilitaristen an der Universität Köln eine wirklich schöne Bescherung. Bei den Wahlen zum Studierendenparlament stand auch eine sogenannte Zivilklausel zur Abstimmung. Diese soll in die Grundordnung der Hochschule aufgenommen werden und besagt folgendes: »Die Universität wirkt für eine friedliche und zivile Gesellschaftsentwicklung. Sie ist selbst eine zivile Einrichtung, betreibt keinerlei Militär- oder Rüstungsforschung und kooperiert nicht mit Einrichtungen des Militärs oder der Rüstungsindustrie.« Knapp zwei Drittel der Wahlbeteiligten sprachen sich für diese Selbstverpflichtung aus. Die Sorge über eine zunehmende Militarisierung des Wissenschaftsbetriebs ist alles andere als unbegründet. Die Universität Köln ist ein bedeutender Ort für die »Wehrmedizin«. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion vom Oktober vorigen Jahres kooperiert die Hochschule sowohl mit dem Institut für Pharmakologie und Toxikologie als auch mit dem Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr. Die Aufgabe der beiden Militäreinrichtungen besteht darin, Abwehrmaßnahmen gegen Angriffe mit biologischen oder chemischen Kampfstoffen zu entwickeln. Die Abwehr wird regelmäßig während entsprechender Manöver trainiert. Bei einer solchen Gelegenheit kamen unter anderem Milzbranderreger und Senfgas zum Einsatz, wie die Bundeswehr-Wochenzeitung Aktuell berichtete. Die Auswirkungen, die Senfgas auf den Menschen hat, werden einer Erhebung der in Tübingen beheimateten Informationsstelle Militarisierung (IMI) zufolge an der Universität Köln erforscht.
Die am dortigen Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie tätigen Wissenschaftler sind nicht nur um die physische, sondern auch um die psychische Gesundheit der an Kriegseinsätzen beteiligten deutschen Soldaten besorgt. Wie einer an dem Institut betreuten Dissertation zu entnehmen ist, haben sie den ursprünglich im Auftrag von Wohlfahrtseinrichtungen und Polizei entwickelten »Kölner Risikoindex« (KRI) »für die Verwendung in der Bundeswehr angepasst«. Der KRI soll eigentlich erfassen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Opfer von Gewaltkriminalität an einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung erkranken. Weiter heißt es in der Doktorarbeit: »Ziel war die Erstellung eines Systems der zielgruppenorientierten Einsatznachsorge zur Prävention psychischer Folgeerkrankungen nach traumatischen Erlebnissen, insbesondere während Auslandseinsätzen. (…) Die Autoren entwickelten ein System zur Einsatznachsorge, das unter anderem die Anwendung des Kölner Risikoindex-Bundeswehr (KRI-Bw) als Screeninginstrument zur Entscheidungshilfe für weitere Nachsorgemaßnahmen beinhaltet.«
Die Militarisierung des Bildungsbetriebs – gerne euphemistisch als »zivil-militärische Zusammenarbeit« bezeichnet – lässt sich nicht nur in Köln beobachten. Die Kriegsforschung ist mittlerweile weit verbreitet, betroffen sind nicht nur natur- und ingenieurswissenschaftliche Fachbereiche, sondern ebenso die Sozialwissenschaften. Als Reaktion darauf haben Studierende und Beschäftigte an zahlreichen Universitäten Arbeitskreise zum Thema gebildet, so in Tübingen, Stuttgart, Frankfurt am Main, Kassel, Braunschweig und Gießen. Unter dem Motto »Nein zur Militarisierung von Forschung und Lehre« ist für Mai ein internationaler Kongress an der Technischen Universität Braunschweig geplant. Unterstützung kommt inzwischen sowohl von den Gewerkschaften Verdi und GEW als auch von der Linkspartei, selbst die Jungsozialisten in der SPD solidarisieren sich mancherorts mit den Studierenden. Als Vorbild für die Proteste gilt das Engagement von Studierenden und Beschäftigten in Karlsruhe. Dort schlossen sich das Kernforschungszentrum Karlsruhe und die Universität im Jahr 2009 zum »Karlsruher Institut für Technologie« (KIT) zusammen. Bei der Gründung des Kernforschungszentrums 1956 wurde festgelegt, dass dieses ausschließlich »friedlichen Zwecken« zu dienen habe. Nach dem Willen der Studierenden und Beschäftigten soll das auch für das neu geschaffene KIT gelten. Im Januar 2009 sprachen sich in einer Urabstimmung zwei Drittel der beteiligten Studierenden für eine entsprechende Regelung aus.
Die diesem Votum zugrunde liegende Befürchtung, am KIT könne künftig Nuklear- und Waffenforschung unter einem Dach stattfinden, ist begründet: So beteiligt sich etwa das Institut für Nachrichtentechnik mit seiner Forschung im Bereich des »Software Defined Radio« an der Entwicklung eines Breitbandkommunikationssystems für die Bundeswehr. Für die deutsche Armee ist das »Gefecht mit verbundenen Waffen« von großer Bedeutung, weshalb alle an Kriegseinsätzen im Ausland beteiligten Teilstreitkräfte – Heer, Luftwaffe und Marine – sowohl untereinander als auch mit dem Potsdamer Einsatzführungskommando dauernd in Verbindung stehen müssen. Ziel ist die »Informationsüberlegenheit im Gefechtsfeld«, die Nachrichtenübermittlung gilt als »entscheidender Faktor in der Kriegsführung«, wie die Bundeswehr auf ihrer Website »streitkraeftebasis.de« ausführt. Karlsruher Wissenschaftler arbeiten gemeinsam mit der deutschen Armee auch an der Entwicklung von unbemannten Landfahrzeugen – in einem eigens von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingerichteten »Sonderforschungsbereich«. Doch selbst wenn der Kampf für Zivilklauseln in Karlsruhe und anderswo erfolgreich sein sollte, bleibt Skepsis geboten. Zahlreiche deutsche Universitäten verfügen bereits über Selbstverpflichtungen dieser Art und betreiben trotzdem weiterhin Kriegsforschung. Der Akademische Senat der Universität Bremen etwa verweigerte bereits 1986 »jede Beteiligung an Wissenschaft und Forschung mit militärischer Nutzung bzw. Zielsetzung«. Er forderte die Mitglieder der Universität auf, »Forschungsthemen und -mittel abzulehnen, die Rüstungszwecken dienen können«.
Gleichwohl wurde ein Großteil der Grundlagenforschung für das Satellitensystem »SAR-Lupe«, das der Bundeswehr die weltumspannende Spionage auch bei schlechten Witterungsbedingungen ermöglicht, von der Universität Bremen übernommen. Der Bereich Bildverarbeitung des Technologie-Zentrums Informatik (TZI) kümmerte sich zum Beispiel um die »Objekterkennung« aus der Luft. Im November vergangenen Jahres stiftete das Unternehmen OHB System, das von der Bundesregierung den Auftrag für die Entwicklung der »SAR-Lupe« erhalten hatte, eine Professur für Raumfahrttechnologie an der Bremer Universität. Die Hochschule hatte sich schon vorher erkenntlich gezeigt: Im August 2009 erhielt das Ehepaar Christa und Manfred Fuchs, das den Konzern OHB aufgebaut hatte, den Titel »Ehrenbürger und Förderer der Universität Bremen«. | Peer Heinelt | Peer Heinelt: Über zivil-militärische Zusammenarbeit an Hochschulen | [] | Inland | 06.01.2011 | https://jungle.world//artikel/2011/01/sonderforschungsbereich-krieg?page=0%2C%2C3 |
100 Tage für den dirty Job | Ein ebenso angeschlagener wie übellauniger Premierminister war Anfang der vorigen Woche im französischen Fernsehen zu bewundern. Selbst die Abgeordneten der konservativen Regierungsfraktionen konnten sich bei der lustlos heruntergeleierten Regierungserklärung von Jean-Pierre Raffarin nur mühsam zum Applaudieren bequemen. Präsident Jacques Chirac hat Raffarin am 31. März, drei Tage nach der jüngsten Wahlschlappe der Konservativen in fast allen französischen Regionen, im Amt bestätigt. Der Karikaturist von Le Monde zeichnete den Premierminister daraufhin als Napoléon Bonaparte. Napoléon I. war von seinem Exil auf der Insel Elba nochmals für 100 Tage zurückgekehrt, bis es in Waterloo mächtig schepperte. Auch Raffarin hat nun erst einmal 100 Tage Zeit bekommen. Er soll jetzt in wenigen Monaten den schmutzigen Job zu Ende bringen, nämlich den Abriss bedeutender Teile der sozialen Sicherungssysteme. Genau deswegen hat Chirac seinen zutiefst unpopulären Premier im Amt bestätigt. Denn wozu sollte er noch einen anderen »verheizen«? In wenigen Wochen wäre er genauso unbeliebt. Die wesentlichen Erwartungen hat Raffarin jetzt in seiner Antrittsrede bestätigt. Wenn die Franzosen unzufrieden sind, dann »wegen der Langsamkeit« bei der Durchsetzung so genannter Reformen. Im Grunde ihres Herzens wollen die Franzosen nämlich noch mehr neoliberale »Reformen«; sie wissen es nur noch nicht. Jene des Gesundheitswesens, bekräftigte Raffarin, wird noch in diesem Sommer durchgezogen. Ferner werden die Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF in den Privatsektor überführt. Das riecht förmlich nach sozialen Konflikten. Chirac denkt bereits an die Zeit nach Raffarin. Denn das Staatsoberhaupt versucht sich als angeblich jenseits der Niederungen der Tagespolitik stehend zu präsentieren. In seiner Fernsehansprache an die Nation am Tag nach der Regierungsumbildung versprach Chirac gar, einige der umstrittensten sozialen Kürzungen der letzten zwölf Monate zu revidieren. Das betrifft die Arbeitslosen, aber auch die intermittents du spectacle, die prekären Kulturschaffenden, die seit neun Monaten gegen die drakonische Beschränkung ihrer spezifischen Sozialversicherung kämpfen. Auch die Wissenschaftler, die vor kurzem durch spektakulären Protest Aufmerksamkeit erregten (Jungle World, 13/04), sollen beruhigt werden. Die im Staatshaushalt 2004 vorgenommene Umwandlung mehrerer Hundert fester Forscherstellen in Zeitverträge soll zurückgenommen werden. Chirac hat den Blick schon auf 2007 gerichtet; dann will er erneut für das Präsidentenamt kandidieren. In den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit soll ein gemäßigterer Gang beim Sozialabbau eingelegt und eine populärere Regierung eingesetzt werden, wahrscheinlich unter seinem Spezi, dem ehemaligen Außenminister Dominique de Villepin, der jetzt Innenminister ist. Seinen gefährlichsten Rivalen hofft Chirac bis dahin neutralisiert zu haben. Nicolas Sarkozy konnte drei Jahre lang im Innenministerium punkten, mit viel Aktionismus, ständiger Präsenz in den Medien und einem Haufen Geld, das ihm zur Einstellung zusätzlicher Polizisten zur Verfügung gestellt wurde. Jetzt darf er sich als »Superminister« für Wirtschaft, Finanzen und Industrie bewähren und wird wohl bald einsehen müssen, dass man mit starken Sprüchen zwar Law and Order markieren, aber leider keine Wirtschaft ankurbeln kann. Nicht nur einer wird vielleicht bald sein Waterloo erleben. | Bernhard Schmid | Bernhard Schmid: | [] | Ausland | 14.04.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/16/100-tage-fuer-den-dirty-job?page=0%2C%2C0 |
Ist das Laminat? | Eigentlich hatte man gedacht, es sei eine ausgesprochen erwachsenene Entscheidung, die Wahl der Wohnung nicht länger von der Beschaffenheit des Bodenbelags abhängig zu machen. Mit anderen Worten: Man fand, die Zeit sei reif, sich für eine praktische Neubauwohnung am Stadtrand zu entscheiden, deren Nachteil natürlich ist, dass sie keinen Holzboden hat. Dennoch fand man, dass die citynahe Altbauwohnung mit den abgezogenen Dielen mittlerweile völlig überschätzt werde und der sogenannte Neubau auch seine Reize habe. Wozu gibt es schließlich Laminat?
Das Verlegen in der neuen Wohnung war dann kein Spaß, aber mit dem Ergebnis war man hochzufrieden. Man lebt jetzt praktisch wieder im Altbau mit Holzfußboden. Nur sehr viel billiger. Ein bisschen gereizt reagiert man allerdings, wenn Freunde mit Stuckwohnung und Parkett zu Besuch kommen und mit gesenkter Stimme fragen: »Ist das Laminat?«
Im Baumarkt hatte man uns gesagt: »Sie müssen das Laminat schwimmend verlegen. Auf die Dehnungsfuge achten. Das Holz arbeitet noch.« Arbeitendes Holz, das hörte sich gut an.
Eine fachkundige Freundin zerstreute alle Illusionen: »Es ist fotografiertes Holz.«
Vernichtender konnte das Urteil über den Boden gar nicht ausfallen. Unser Laminat soll das neue Arschgeweih sein, ein Symbol des gesellschaftlichen Niedergangs? Man lebt auf einem Unterschichtensymbol, auf einem Bodenbelag, der so verachtungswürdig ist wie Analogkäse? Aber wisst ihr was, Parkettfetischisten? Es ist okay! | Heike Karen Runge | Heike Karen Runge: | [] | dschungel | 16.05.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/20/ist-das-laminat?page=0%2C%2C0 |
»Wie eine Festung« | Wie war Ihr Eindruck vom Arbeitskampf?
Es ist sehr positiv, dass in Deutschland die Organisierung der Amazon-Mitarbeiter gelungen ist und sie mehrmals in den Streik getreten sind. In Italien ist uns das bisher nicht gelungen.
Was sind dort die Probleme?
Die meisten Amazon-Beschäftigten in Italien haben extrem befristete Verträge, was eine Organisierung sehr schwer macht. Zudem ist das größte italienische Amazon-Werk in Piacenza wie eine Festung ausgebaut, so dass wir nicht mit den Beschäftigten sprechen können.
Haben Sie in Leipzig auch kritische Eindrücke gesammelt?
Mir ist negativ aufgefallen, dass bei der Streikversammlung nur Gewerkschaftsfunktionäre und nicht die Beschäftigten zu Wort kamen. Zudem gab es keine Versuche, die Beschäftigten, die sich nicht am Streik beteiligten, am Betreten des Werkes zu hindern. Auch LKW konnten während des Streiks ungehindert auf das Gelände fahren und es verlassen. Es gab weder Blockaden noch Versuche, mit Flugblättern für den Streik zu werben.
Konnten Sie Kontakte mit den Kollegen knüpfen?
Wir haben auf der Streikversammlung über die Basisgewerkschaft SI Cobas und die Arbeitskämpfe in der italienischen Logistikbranche informiert und eine mit viel Applaus bedachte Solidaritätserklärung verlesen.
Könnten sich die transnationalen Kontakte verstetigen?
Bei konkreten Streikaktionen ist es einfach, Solidarität auszudrücken und mit den Kollegen in Kontakt zu kommen. Viel schwieriger sind offizielle Verbindungen zwischen den Gewerkschaften. Das liegt daran, dass die DGB-Gewerkschaften nur Kontakte zu den großen offiziellen Gewerkschaftsbünden in Italien unterhalten. Mit denen ist eine Zusammenarbeit bei der Firma DHL möglich. Doch in der Regel bekämpfen sie die Basisgewerkschaft SI Cobas in der Logistikbranche und haben sich sogar in einem Brief an die Logistikunternehmen beschwert, dass sie mit uns einen besseren Tarifvertrag als mit ihnen abgeschlossen haben. Dabei ist dieser Erfolg das Ergebnis unserer kämpferischen Gewerkschaftspolitik. | Peter Nowak | Peter Nowak: | [] | Inland | 09.04.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/15/wie-eine-festung?page=0%2C%2C1 |
Kosmopolitismus auf den Rängen | In Barcelona gibt es zwei große, traditionsreiche Erstliga-Vereine: Der eine ist ein globaler Großclub mit allen Insignien des späten Spätkapitalismus, der also das Streben nach Hypereffektivität mit Traditionspflege aus zweiter Hand kombiniert, der, kurz gesagt, die sattsam bekannte »Mia-san-mia«-Mentalität auf katalanisch verkörpert. Der andere, nun ja, der geht schon mal fast pleite, hat sich bereits in der zweiten Liga wiedergefunden und die beiden europäischen Endspiele, die er erreicht hat, jeweils unglücklich und für die Fans traumatisch verloren; er ist also ein typischer Vertreter jener Vereine, die mit der schönen neuen Sky-Uefa-Realität von heute – wenn überhaupt – nur noch hechelnd Schritt halten können und eigentlich wissen, dass sie schon allein die Möglichkeit des Gewinns einer nationalen Meisterschaft – sei es die spanische oder die katalanische – für die nächsten Jahrhunderte abschreiben können. Die Rede ist einerseits vom strahlenden FC Barcelona, dem Zentrum des katalanischen Nationalstolzes und Heimatverein Pep Guardiolas, des prominentesten Separatisten-Fürsprechers und fleischgewordenen Projektleiters. Und andererseits vom RCD Espanyol Barcelona, einem der ältesten Fußballclubs Spaniens, in dessen Chronik gerade einmal vier nationale Pokalsiege verzeichnet sind. Trotz des in Katalonien mittlerweile fast schon provokant anmutenden Vereinsnamens »Espanyol« und auch trotz aller anderern Zutaten für eine erbitterte Lokalrivalität, wie man sie aus München, Hamburg oder Manchester kennt, gibt es eine solche erbitterte Feindschaft in Barcelona nicht. Dafür ist Espanyol einfach zu irrelevant und eben auch nicht so verwachsen mit dem katalanischen Nationalstolz, für den die von Generation zu Generation vererbte Mitgliedschaft beim FCB steht und der die dazugehörige Dauerkarte für Camp Nou als vorläufigen Personalausweis des zukünftigen unabhängigen Kataloniens betrachtet.
Gerade das macht Espanyol und seine Zuschauer, die meistenteils aus den umliegenden Trabantenstädten Barcelonas stammen, so sympathisch, vor allem, wenn man als Nicht-Katalane in der Stadt zu weilen gezwungen ist. Denn Espanyol bietet Fußball, wie er mittlerweile schon fast zur nostalgischen Erinnerung geworden ist: Gerade in den Jahren nach 1997, nachdem Espanyol sein angestammtes Vereinsgelände samt Stadion veräußern musste, um die Liquidation des Vereins zu verhindern, und man deswegen im städtischen Olympiastadion spielte, war es so, wie Fußball eigentlich sein sollte. Man überlegte sich am Abend vorher, dass man Lust auf einen Kick verspürt, taperte eine halbe Stunde vor Anstoß zum Stadion, kaufte sich ein Ticket ohne Schwarzmarkt-Hysterie und bekam in der Pause günstiges Bier am ranzigen Tresen – blieb also verschont von Glam-Hype und Shopping-Mall-Atmosphäre, wie sie in Camp Nou herrschten. Und nicht zuletzt traf man dort auch andere Ausländer, gerne und häufig Briten, die dieselben Vorzüge Espanyols, die den Verein grundlegendend vom FC Barcelona unterscheiden, ebenfalls zu schätzen wussten. Auf den Rängen jedenfalls war Espanyol immer schon kosmopolitischer als der weltberühmte Nachbarklub, wenn auch auf dem Rasen eher Spanier als Holländer am Werk waren – aber Nicht-Katalanen gelten vielen in Barcelona ja ohnehin als Ausländer – ob sie nun aus Amsterdam oder Alicante kommen, spielt dabei keine große Rolle.
Ob es so leger und weltoffen auch heute noch bei Espanyol zugeht, weiß ich nicht, denn ich bin noch nicht im neuen, vereinseigenen Stadion Cornellà-El Prat gewesen, das der Verein 2009 bezog. Was die spanische Vergangenheit angeht, trifft der Vorwurf des Franquismus den Club sicherlich, denn es ist nicht zu leugnen, dass Espanyol in den Franco-Jahren der Club war, den gerade die unteren Ränge des Beamten- und Polizeiapparates favorisierten. Der Caudillo selbst aber – und das wird gern vergessen – favorisierte den FCB und versah ihn mit seiner Gunst. Dazu kommt noch, dass der franquistische Apparat als Aufstiegschance für die in der Stadt traditionellerweise wenig repräsentierten suburbanen Schichten fungierte; wie viele tatsächlich überzeugte Faschisten sich damals unter den öffentlich Bediensteten im alten Espaynol-Stadion Estadi di Sarrià befanden, bleibt offen. Nach dem, was man so hört, soll sich aber auch Espanyol in den letzten Jahren dem Sog des Separatismus nicht mehr in dem Maße entzogen haben wie früher. Wie dem auch sei: Im Olympiastadion bei Espanyol zeigte Barcelona seine mit Abstand gastfreundlichste und weltoffenste Seite – das lobend herauszuheben, war mein Anliegen. | Uli Krug | Uli Krug: Espanyol – die weltoffene Alternative | [] | Disko | 15.10.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/42/kosmopolitismus-auf-den-raengen?page=0%2C%2C1 |
Erdoğans Korridor | Finger in die Luft – das Handzeichen des »Islamischen Staats«. Säkular sind die mit der Türkei verbündeten syrischen Kämpfer jedenfalls nicht eingestellt »Wir sind nach Afrin gekommen, um gegen den türkischen, faschistischen Staat zu kämpfen.« Der YPG-Kämpfer spricht Englisch mit starkem französischem Akzent. Gemeinsam mit sieben teils vermummten Männern blickt er in die Kamera, reckt die rechte Faust in den verregneten Januarhimmel Nordsyriens und ruft: »Wir werden niemals aufgeben. Biji Rojava!« Das Propagandavideo wurde am Freitag vergangener Woche vom YPG Press Office ins Internet gestellt. Sechs Tage zuvor hatte die Türkei im Rahmen der »Operation Olivenzweig« begonnen, die kurdischen Gebiete im Norden Syriens unter Feuer zu nehmen. Die Darstellung des Konflikts im zweieinhalbminütigen Clip der Propagandaabteilung der Volksverteidigungseinheiten (YPG) ist eindeutig: Eine internationale Kämpferschar verteidigt das demokratische Experiment in Rojava gegen die hochgerüstete Armee des türkischen Despoten Recep Tayyip Erdoğan. Auf den Schlachtfeldern entlang der türkisch-syrischen Grenze stellt sich die Situation etwas anders dar. Tatsächlich kämpfen hier in den letzten Januartagen kurdische YPG-Kämpfer aus der Türkei und aus Syrien gegen mehrheitlich arabische Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA). Der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge befinden sich 8 000 bewaffnete YPG-Kämpfer in Afrin, ausgerüstet mit US-Waffen, erbeuteten syrischen Panzern, Artillerie sowie Panzerabwehrraketen. Die Offensive gegen die YPG wird von der türkischen Luftwaffe und Artillerie unterstützt. Angeführt wird die Bodenoffensive jedoch von rund 10 000 Kämpfern der FSA, die gegen das Assad-Regime kämpften, nun jedoch zur Speerspitze der türkischen Sache in Syrien gemacht wurden. Ziel der türkischen Militäroffensive ist die Errichtung eines 20 Kilometer breiten Korridors entlang der türkischen Grenze zu Syrien. Bislang standen diese Gebiete unter der Kontrolle der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), einer Allianz verschiedener Milizen, die von der kurdischen YPG dominiert wird. Noch im Januar hatten die USA angekündigt, eine Grenztruppe von 30 000 Mann unter Beteiligung der SDF aufzubauen. Hochgerüstete kurdische Truppen an der Grenze zur Türkei? Für Erdoğan eine Horrorvorstellung. Mehr als 10 000 Kämpfer stellte die FSA jetzt unter türkisches Kommando – Hunderte von ihnen sollen in den vergangenen Monaten in Flüchtlingslagern auf türkischem Boden rekrutiert worden sein. »Ein Land, das wir unseren Verbündeten nennen (die USA, Anm. d. Autors) baut eine Terrorarmee an unseren Grenzen auf«, urteilte der türkische Präsident. Seine Folgerung: »Wir müssen sie strangulieren, bevor sie überhaupt geboren wird.« Dass die Türkei früher oder später im Norden Syriens intervenieren würde, war absehbar. In der Tat befinden sich in den Reihen der YPG zahlreiche Kämpfer der kurdischen PKK, die seit Jahrzehnten einen blutigen Kampf in der Türkei führt. Rund die Hälfte der in Syrien getöteten YPG-Kämpfer sind einem Bericht des Think Tanks Atlantic Council zufolge Kurden aus der Türkei. 2014 und 2015 wurden sie vom türkischen Grenzschutz geradezu nach Syrien durchgewinkt, um dort gegen den Islamischen Staat (IS) zu kämpfen. Nach der Niederlage des Kalifats in Raqqa ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die kampferprobten Einheiten neue Angriffsziele suchen. Die Türkei konnte nun die marode FSA für ihre Kampagne in Afrin gewinnen. Die Rebellen waren über Jahre der stärkste militärische Widersacher des Assad-Regimes im Norden Syriens. Doch mittlerweile ist die FSA in einem erbärmlichen Zustand. Von allen internationalen Verbündeten verlassen und intern zersplittert, steht sie kurz vor der Niederlage. Das ursprüngliche Ziel, den syrischen Diktator Bashar al-Assad aus dem Land zu vertreiben, ist in unerreichbare Ferne gerückt. Die Allianz mit der Türkei und der Kampf für deren Interessen ist für die Kommandeure der einzige Weg, um das eigene Überleben zu sichern. »Die Syrer haben keinen Einfluss mehr auf die Entscheidungen, die in Syrien getroffen werden«, sagte im Januar ein FSA-Kommandeur im Gespräch mit dem britischen Guardian. »Es wird eine internationale Schlacht. Weder das Regime noch die Opposition haben etwas zu sagen. Aber wir haben niemand anderen als die Türkei.« Mehr als 10 000 Kämpfer stellte die FSA jetzt unter türkisches Kommando – Hunderte von ihnen sollen in den vergangenen Monaten in Flüchtlingslagern auf türkischem Boden rekrutiert worden sein. Ein Propagandacoup, der suggerieren soll, dass es sich hier nicht nur um eine türkische Intervention handele. Auf den Uniformen und Militärfahrzeugen der FSA prangt nun neben der Flagge Syriens auch der weiße Halbmond des Sponsors aus dem Norden. Die Türkei konnte den Konflikt zwischen FSA und den kurdischen Milizen nutzen, die sich seit Jahren feindselig gegenüberstehen. | Thomas Kieschnick | Thomas Kieschnick: Welches Ziel hat die türkische Militäroffensive und wer profitiert davon? | [
"Kurden",
"Syrien",
"Türkei",
"Erdoğan",
"Russland"
] | Thema | 01.02.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/05/erdogans-korridor?page=0%2C%2C0 |
In Espenhain streikt niemand mehr | Die Plackerei im Recyclingbetrieb SRW Metalfloat geht weiter. An den Arbeitsbedingungen hat sich nichts geändert Der lange Streik ist vorbei: 180 Tage lang hatten die Beschäftigten des Schrottrecyclingunternehmens SRW Metalfloat in Espenhain, 20 Kilometer südlich von Leipzig, die Arbeit niedergelegt. Sie kämpften für einen Tarifvertrag. Die Geschäftsführung der Muttergesellschaft Scholz Recycling weigerte sich aber, mit der IG Metall darüber zu verhandeln. Deshalb dauerte der Arbeitskampf so lange – und deshalb beendeten die Beschäftigten ihn am 13. Mai. Die Arbeit beim Recyclingunternehmen ist schweißtreibend: Manche »Schrotter« bedienen Maschinen, andere fahren Stapler, viele sortieren von Hand Metallabfälle nach gut zwei Dutzend Metallsorten und Legierungen. Dabei stehen oder sitzen sie an einem Fließband in Sortierkabinen aus Blech. Im Winter ist es eiskalt und im Sommer kann es mehr als 40 Grad heiß werden. Laut ist es überall. Durch die Luft fliegt Metallstaub, die Sortierer hantieren mit gesundheitsgefährdendem Material. Und für diese Plackerei erhalten die Leute kaum mehr als den Mindestlohn. Viele gehen trotz Vollzeitarbeit mit weniger als 2.000 Euro netto nach Hause, rund 600 Euro weniger als Beschäftigte in vergleichbaren Betrieben. Seit vergangenem Jahr kämpften sie in Espenhain für einen Tarifvertrag und forderten acht Prozent mehr Lohn, eine Erhöhung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds auf je 1.500 Euro und eine Senkung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 38 Stunden. Sondierungen mit dem SRW-Geschäftsführer Thomas Müller gab es bereits im Frühjahr 2023, danach einen ersten Verhandlungstermin. Dann übernahm die Mutterfirma Scholz Recycling mit Sitz im schwäbischen Essingen die Verhandlungen. Seit 2016 gehört sie zur Chiho Environmental Group, einem global agierenden börsennotierten Schrottrecyclingunternehmen aus Hongkong. Im August 2023 verhandelte die IG Metall erstmals mit Scholz Recycling – ohne Ergebnis. Seitdem ging die Geschäftsführung auf kein Angebot der Gewerkschaft ein. Nach mehreren Warnstreiks traten über 100 Beschäftigte am 8. November schließlich in den unbefristeten Streik. »Mit einem Arbeitgeber, der Gewerkschaften, Mitbestimmung und Rechtssicherheit ablehnt, ist keine verantwortungsvolle sozialpartnerschaftliche Lösung möglich.« Michael Hecker, IG Metall Leipzig Im Kern geht es in diesem Konflikt nicht um die moderate Lohnerhöhung, für die die »Schrotter« kämpfen. Da sind sich beide Seiten einig. Frank Elsner, Sprecher von Scholz Recycling, sagt der Jungle World: »Was das Entgelt, das Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie die Wochenarbeitszeit angeht, lagen wir im August 2023 nicht weit auseinander. Der Streitpunkt war der Tarifvertrag.« SRW Metalfloat besteht darauf, nicht mit der IG Metall, sondern mit dem Betriebsrat Löhne und Wochenarbeitszeit zu vereinbaren. »Das entspricht nicht Recht und Gesetz in der Bundesrepublik«, erklärt Michael Hecker, Verhandlungsführer und Zweiter Bevollmächtigter der IG Metall Leipzig, im Gespräch mit der Jungle World. »Das Entgelt und die Wochenarbeitszeit können nicht mit dem Betriebsrat vereinbart werden. Verbindlich ist nur ein Tarifvertrag zwischen Unternehmen und Gewerkschaft.« So steht es im Betriebsverfassungsgesetz. Im Zweifel kann man sich nur den in Tarifverträgen festgelegten Lohn einklagen – das wissen auch die »Schrotter«. Je länger der Arbeitskampf dauerte, desto größer wurde das öffentliche Interesse: Vor dem Werkstor stand bis Ostern ein Streikcontainer, der durchgängig von den Streikenden besetzt war. Die vom Rauch der Feuertonne schwarz gefärbte Fahne der IG Metall am Streikcontainer wurde zum Symbol für das Durchhaltevermögen der Beschäftigten. Allerlei Prominenz schaute bei der Streikversammlung vorbei, darunter die IG-Metall-Vorsitzende Christiane Benner, die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), Gregor Gysi (Linkspartei), die Grünen-Co-Vorsitzende Ricarda Lang und die beiden SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken. 79 Bundestagsabgeordnete forderten in einem offenen Brief, die Beschäftigten endlich nach Tarif zu bezahlen. Teams zahlreicher Medien fuhren ins sächsische Espenhain. Selbst die New York Times berichtete. Gewerkschafter überbrachten Solidaritätsschreiben und Spenden an die Streikenden. Zum 100. Streiktag betonte Kathrin Kroll, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende von SRW Metalfloat, wie wichtig die Unterstützung war: »Besonders die hohe Solidarität aus vielen Teilen der Republik macht uns sprachlos und stärkt uns den Rücken.« Der letzte Akt in diesem langen Schauspiel begann am 6. Mai. Die »Schrotter« wollten den Streik unterbrechen und wieder an die Arbeit gehen. Im Gegenzug erwarteten sie von der Geschäftsführung, dass sie sich auf Gespräche über einen Tarifvertrag einlässt. Die aber reagierte ganz anders: Am Morgen fanden die Beschäftigten einen Aushang am Werkstor, der mitteilte, dass sie ausgesperrt werden. Das heißt, dass das Unternehmen die Beschäftigten nicht an die Arbeit gehen lässt – und ihnen keinen Lohn zahlt. Dieses Mittel des Arbeitskampfs wurde früher häufiger eingesetzt, um die Kosten eines Streiks für die Gewerkschaften in die Höhe zu treiben, weil sie mehr Leuten Streikgeld zahlen müssen – oder um den Konflikt zwischen streikenden Gewerkschaftsmitgliedern, die Streikgeld erhalten, und streikbrechenden Nichtmitgliedern, die kein Streikgeld, bei einer Aussperrung aber auch keinen Lohn mehr erhalten, zu verschärfen. Seit den achtziger Jahren sind Aussperrungen in der Bundesrepublik aber selten geworden. SRW Metalfloat sperrte allerdings nicht alle Beschäftigten aus, sondern nur diejenigen, die Anfang Mai im Streik waren. Das Unternehmen begründete diesen Schritt damit, dass die Streikenden nicht kurzfristig wieder in den Betrieb integriert werden könnten. Deren Verhandlungsführer Hecker widerspricht im Gespräch mit der Jungle World: »Wir haben Vorschläge gemacht, wie der Wiedereinstieg der Kolleginnen und Kollegen reibungslos gelingen kann. Diese wurden ausgeschlagen. Das Unternehmen wollte die Eskalation.« Vor sieben Jahren war Sachsen noch Schlusslicht unter den Bundesländern - für gerade mal 39 Prozent aller Beschäftigten galt ein Tarifvertrag. Mittlerweile sind es 43 Prozent. Am 13. Mai stimmten schließlich die streikenden »Schrotter« in einer Urabstimmung dafür, den Streik zu beenden. »Wir sind aus einer Position der Stärke in den Streik getreten und haben ihn aus einer Position der Stärke beendet«, sagt Hecker der Jungle World. Die Beschäftigten standen bis zum Ende zusammen. Dass der Streik dennoch beendet wurde, erklärt er so: »Mit einem Arbeitgeber, der Gewerkschaften, Mitbestimmung und Rechtssicherheit ablehnt, ist keine verantwortungsvolle sozialpartnerschaftliche Lösung möglich.« Wie aber lassen sich Unternehmen in die Tarifbindung bringen, die Gewerkschaften prinzipiell nicht als Verhandlungspartner anerkennen wollen? Darüber wird nicht nur die IG Metall noch mehr diskutieren müssen. Denn einige Unternehmen verhalten sich ähnlich gewerkschaftsfeindlich – Amazon, Tesla und Lieferando sind die bekanntesten Beispiele. Und wie geht es für die »Schrotter« weiter? Das Unternehmen kündigte an, die Streikenden ab dem 21. Mai nach und nach wieder in den Betrieb einzugliedern. »Die Kolleginnen und Kollegen sind sehr gefasst. Sie wissen, was sie wert sind«, erzählt Hecker im Gespräch mit der Jungle World. Viele der vormals Streikenden wollen nicht mehr in den Betrieb zurückkehren, sondern in Betriebe mit Tarifbindung wechseln. Davon gibt es allmählich mehr. Vor sieben Jahren war Sachsen diesbezüglich noch Schlusslicht unter den Bundesländern, für gerade mal 39 Prozent aller Beschäftigten galt ein Tarifvertrag. Mittlerweile sind es 43 Prozent. Der Grund dafür: Beschäftigte, die gewerkschaftlich aktiv werden und streiken. | Lucas Rudolph | Lucas Rudolph: Knapp ein halbes Jahr lang waren Beschäftigte eines Recyclingunternehmens im Arbeitskampf | [
"Streik",
"Arbeitskampf",
"Leipzig",
"Sachsen",
"IG Metall"
] | Inland | 23.05.2024 | https://jungle.world//artikel/2024/21/arbeitskampf-ig-metall-sachsen-espenhain-streikt-niemand-mehr?page=0%2C%2C0 |
Der Lohn ist nicht genug | Der Streik geht weiter. Zurzeit gibt es keine Verhandlungsperspektive«, sagt José Lopez Feijóo, der gerade aus einer Vollversammlung gekommen ist, am Telefon der Jungle World. Er ist Präsident der »Gewerkschaft der Metallarbeiter des großen ABC«. ABC heißt der Industriegürtel um die Metropole São Paulo. Das Kürzel steht für die Vorstädte Santo André, São Bernardo und São Caetano. Etwa 33 Prozent des brasilianischen Bruttoinlandprodukts werden im Staat São Paulo erwirtschaftet, das meiste davon in der Hauptstadt und im ABC. Unzählige Fabriken stehen in diesem Ballungsgebiet, sie produzieren Konsumgüter und Zwischenprodukte. Fast alle Automobilkonzerne, die in Brasilien bauen lassen, haben dort eine Fabrik. So auch Volkswagen do Brasil. Und da wird derzeit gestreikt. Dabei geht es nicht um die Löhne. Die wurden nämlich bereits festgelegt. »Die Lohnerhöhung haben wir bereits für den Staat São Paulo ausgehandelt. Sie gilt für alle Autofabrikanten. Dieses Jahr haben wir eine inflationsbereinigte Lohnerhöhung von 3,7 Prozent erreicht«, erzählt Feijóo. Mit jedem einzelnen Automobilkonzern muss allerdings der PLR ausgehandelt werden. Das ist die »Partizipation an Gewinnen und Resultaten«, die jährlich ausgezahlt wird. Im vergangenen Jahr bekamen die VW-Arbeiter umgerechnet etwa 1 550 Euro Gewinnbeteiligung. Für dieses Jahr fordern sie rund 2 000 Euro. Die Geschäftsleitung wollte aber nur etwa 1 660 Euro auszahlen. Die Belegschaft blieb unbeugsam und trat Ende September in den Ausstand. Zeitweise streikten fast 18 000 der 22 300 Beschäftigten von VW do Brasil. Für die Arbeiter bei VW bedeutet der PLR ein wichtiges Zusatzeinkommen. »Im Durchschnitt verdient ein Fabrikarbeiter bei VW do Brasil weniger als umgerechnet 1 000 Euro im Monat, etwa 900 Euro brutto. Das ist deutlich weniger als die Löhne bei VW in Europa, obwohl wir genauso produktiv arbeiten«, sagt Feijóo. Da die Gewinnbeteiligung von der Produktion abhängig gemacht wird, kann der PLR von Fabrik zu Fabrik variieren. Deshalb sind die Streiks in der Motorenfabrik in São Carlos und der Montageanlage in Taubaté bereits abgeschlossen. »In São Carlos hat schließlich die Geschäftsleitung in eine realistische Erhöhung des PLR von 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingewilligt. Das Gleiche gilt für Taubaté«, erklärt Feijóo. In der größten und ältesten Fabrik von VW do Brasil, der Anlage Anchieta in São Bernardo, sieht das anders aus. Nilton Júnior, der Personalchef von VW do Brasil, argumentiert, dass VW in den letzten fünf Jahren nur Verluste gemacht habe. Zwar hat er mittlerweile einer Erhöhung des PLR auf 1 840 Euro zugestimmt, doch soll dieser Betrag an eine Produktion von 217 000 Autos gekoppelt werden. »Es ist völlig unrealistisch, dass wir noch 217 000 Autos bauen. Eine realistische Schätzung besagt, dass in diesem Jahr höchstens 206 000 Autos produziert werden können. Das würde nur einen PLR von 1 750 Euro bedeuten«, meint Feijóo dazu. Deshalb habe sich die Belegschaft von Anchieta dazu entschieden, weiter zu streiken. Da die Fabrik Anchieta auch andere Anlagen von VW mit Motoren und Gangschaltungen beliefert, gefährdet der dortige Ausstand die Produktion anderswo. Und so gibt sich José Lopez Feijóo siegessicher. Schließlich haben die Gewerkschafter in den letzten Jahren schon einiges erreicht: »Im Jahr zuvor konnten wir für São Carlos eine Anhebung des PLR um 40 Prozent durchsetzen. Mit den 33 Prozent mehr in diesem Jahr bedeutet das eine Erhöhung der Gewinnbeteiligung um über 80 Prozent innerhalb von zwei Jahren.« | Thilo F. Papacek | Thilo F. Papacek: | [] | Ausland | 19.10.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/42/der-lohn-ist-nicht-genug?page=0%2C%2C3 |
Rache am Paten | Es geht auch ohne Koks und Red Bull. Jurij Uschakow, Wladimir Putin, Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache (v. l. n. r.) bei einem Treffen in der Wiener Hofburg im Juni 2018. Am 20. Mai leitete die österreichische Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) ein Ermittlungsverfahren gegen Johann Gudenus und andere verdächtige Funktionäre der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) ein. Drei Tage zuvor war das Video öffentlich worden, in dem der damalige FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache und der damalige FPÖ-Fraktionsvorsitzende Gudenus einer vermeintlichen russischen Oligarchin angeboten hatten, ihr im Gegenzug für an den Behörden vorbeigeschleuste Parteispenden überbezahlte Staatsaufträge zuzuschanzen und sie sogar an einer eventuellen Privatisierung des österreichischen Trinkwassers zu beteiligen. Die WKStA ermittelt wegen des Verdachts auf Untreue, Anstiftung zur Untreue und Vorteilsnahme zur Beeinflussung. In rechtsextremen Kreisen stößt das Anbiedern an Russland auf wenig Zustimmung. Neben dem inzwischen zurückgetretenen Gudenus haben die Ermittler auch den FPÖ-Abgeordneten Markus Tschank im Visier, der verdächtigt wird, über den Verein »Wirtschaft für Österreich« illegale Parteispenden abgewickelt zu haben. Das könnte jener Verein sein, den Strache im Video als eine Art Waschmaschine für Großspenden anpries. Ob auch gegen Strache selbst ermittelt wird, war zu Redaktionsschluss nicht bekannt. In den Akten ist nur von »weiteren Personen« die Rede. Derweil ermittelt die Wiener Staatsanwaltschaft auch gegen mutmaßliche Auftraggeber und Akteure des Videos. Bei diesen soll es sich um einen Wiener Rechtsanwalt, einen Detektiv sowie zwei Männer aus der Security-Branche handeln, die aus »persönlicher Rache« und »Abneigung gegen die FPÖ-Politik« gehandelt haben sollen, wie mehrere österreichische Zeitungen kolportierten. Die Zeit, die eigenen Angaben zufolge in Kontakt zu den für das Video Verantwortlichen hatte, berichtet, einige seien »enttäuschte Anhänger der FPÖ«. Von Bedeutung könnte sein, dass eine der Personen, die der Erstellung des Videos bezichtigt werden, bosnischer Staatsbürger ist. Bei der »Oligarchennichte« aus dem Video soll es sich um eine bosnische Studentin der Agrarwissenschaften mit lettischem Pass gehandelt haben. Einer der Männer aus der Leibwächterszene hat bosnische Eltern. Schon lange gärt es in der FPÖ wegen deren ostentativer Parteinahme für Serbien und die bosnischen Serben. 2018 heiratete Gudenus Tajana Tajčić, eine angeblich aus Kroatien stammende Serbin. Unter den Gästen bei der Hochzeit in Banja Luka befand sich auch Milorad Dodik, der die autonome Teilrepublik Republika Srpska als Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina vertritt. Dieser ehrte Gudenus wenige Monate später mit einem Orden für die »Verdienste um die Republik Srpska«. Gudenus und sein Freund Strache hatten die FPÖ auf einen eindeutig proserbischen und prorussischen Kurs gelenkt, was den Rechtsextremen zwar eine überaus treue Wählerschaft unter Exil-Serben und deren Nachkommen in Österreich bescherte, aber nicht von allen in der FPÖ gerne gesehen wurde. Zur Zeit der jugoslawischen Sezessionskriege hatten österreichische und deutsche Neonazis auf der Seite Kroatiens gegen die serbischen Truppen gekämpft. Auch das Anbiedern an Russland stößt nicht überall in der FPÖ und mit der FPÖ verbundenen rechtsextremen Kreisen auf Zustimmung. Um das alles zu verstehen, muss man sich die Entwicklung der FPÖ in den vergangenen 20 Jahren ansehen. Gudenus reiste oft nach Moskau. Er lernte Russisch und knüpfte Kontakte zu Politikern und Ideologen. Im Oktober 2004 lud die »Aktionsgemeinschaft für demokratische Politik« (AFP, auch Arbeitsgemeinschaft für demokratische Politik), eine Scharnierorganisation zwischen dem neonazistischen Untergrund und formal demokratischen rechtsextremen Parteien, nach Feldkirchen zu ihrer jährlichen »Politischen Akademie«, in jenem Jahr unter dem Motto »Neues von der Überfremdungsfront«. Hauptredner war der SS-Veteran und mehrfach vorbestrafte Neonazi Herbert Schweiger, der sein »Nationales Manifest für Europa« präsentierte. Im Gespräch mit zwei Journalisten der Austria Presse Agentur, die sich in die Veranstaltung einschleusen konnten, schwärmte Schweiger von Wladimir Putin. Der sei »die letzte Hoffnung der weißen Rasse« und der einzige Staatschef, der »nicht unter der Kontrolle der Juden« stehe. Nur eine »großrassige Zusammenarbeit aller weißen Völker« unter Russlands Führung könne eine Renaissance völkischer Politik einläuten, und Deutschland brauche dringend eine neue Partei, »eine Alternative, eine Alternative für Deutschland«, wie Schweiger sie, über sein Weinglas gebeugt, taufte. Als sich dies zutrug, war Gudenus Leiter der Wiener Jugendorganisation der FPÖ und organisierte antisemitische Vorträge, in denen unter anderem der angebliche »Staatsterrorismus« Israels angeprangert wurde. Die FPÖ unterhielt enge Beziehungen zum Iran, den ba’athistischen Regimes in Syrien und dem Irak Saddam Husseins sowie zu Muammar al-Gaddafi in Libyen – lauter geopolitische Verbündete Russlands. 2006 verkaufte das der FPÖ nahestehende Periodikum Zur Zeit T-Shirts mit dem Konterfei des damaligen iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad und der Aufschrift »A World without Zionism«. Gudenus reiste in jenen Jahren oft nach Moskau, wo er an der Lomonossow-Universität Russisch lernte und Kontakte zu Politikern und Ideologen der Partei des russischen Präsidenten Wladimir Putin knüpfte. Die Begeisterung, die Putin von Rechtsextremisten entgegengebracht wird, hat ideologische wie auch finanzielle Gründe. Europäische rechtsextreme Parteien haben plumpem Antisemitismus zumindest offiziell eine Absage erteilt – allerdings schlossen sich Gudenus und andere FPÖ-Politiker der Kampagne gegen George Soros an, die dem jüdischen Großspender unterstellt, die »nationale Identität« durch die Förderung der Migration zerstören zu wollen. Der neue Hauptfeind ist jedoch »der Islam«, und in Putin, der in Tschetschenien islamistische Aufstände mit Massenmord und Flächenbombardements niederschlug, sehen die Rechtsdxtremen ein Vorbild für ihre eigenen Vernichtungswünsche. Israel erklären sie in projektiver Manier neuerdings zu einem Frontstaat des »Abendlandes« gegen »den Islam«. Zudem beeindruckt die rechten Demokratieverächter, wie Putin mit Dissidenten und Konkurrenten umspringt. Putin brachte nach Abschluss eines blutigen Verteilungskampfs zwischen Oligarchen wie ein Mafia-Pate die Rackets unter Kontrolle. Wer ihn herausforderte, landete je nach Einschätzung seiner Gefährlichkeit im Exil, im Gefängnis oder im Leichenschauhaus. Wie schon die klassischen Mafiosi gibt sich Putin den Schein der Frömmigkeit und des Bewahrers alter Werte, weswegen er nicht nur zur Beichte geht, sondern seine Herrschaft mit Versatzstücken klerikalfaschistischer Ideologie versieht. Schließlich setzt Putin sich global für rechte Parteien und Bewegungen ein, in erster Linie um von rechtsstaatlichen Prinzipien geprägte geopolitische Konkurrenzmächte wie die Europäische Union zu schwächen oder am besten zu zerschlagen und die Demokratie zu diskreditieren. Manchen bietet Russland Geld oder geheimdienstliche Hilfe. Mit der FPÖ hat Putins Partei »Einiges Russland« 2016 einen Kooperationsvertrag geschlossen, ein Ziel ist die Erziehung der jungen Generationen »im Geiste von Patriotismus und Arbeitsfreude«. Die ältere Generation darf aber offenbar auch mal trinkfreudig einen draufmachen. Im Ibiza-Video kann man an Strache und Gudenus beobachten, was die Faszination dieser Leute für Putins Russland ausmacht. Missliebige Journalisten? Entlassen! Öffentliche Güter und Steuergelder? Gehört alles uns! Der Rechtsstaat? Den tricksen wir schon aus! Und dann regt man sich, im grindigen T-Shirt Kette rauchend vor einer Batterie von Schnapsflaschen und Koks-Lines, noch über die »Dekadenz des Westens« auf. Die Szene passt zu den Verbindungen der FPÖ zur Halbwelt der Zuhälter, Spieler, Söldner und windigen Geschäftsleute. Bereits Jörg Haider hatte solche Verbindungen, doch ihm war seine sexuelle Orientierung zum Verhängnis geworden, die dem »Ehrenkodex« der Mafiosi und kleinen Gangster zuwiderlief. Deswegen wurde er von Strache verdrängt und deswegen hielt Gudenus noch 2016 flammende Vorträge in Russland gegen die »Homosexuellen-Lobby in der EU«. Was Strache und Gudenus derzeit befürchten müssen, ist, sofern sich die bisherigen Ermittlungsergebnisse bestätigen, aber die altbekannte Tatsache, dass die Bande eine Bande bleibt und sich im Falle finanzieller oder persönlicher Zwistigkeiten auch der Methoden der Bande bedient, um Rache an den Paten zu üben. | Bernhard Torsch | Bernhard Torsch: Die »Ibiza-Affäre« und ihre Hintermänner | [
"FPÖ",
"Österreich",
"Ibiza-Gate"
] | Ausland | 06.06.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/23/rache-am-paten?page=0%2C%2C3 |
Coup mit Ansage | Man war offensichtlich gewarnt: Als sich in der Nacht zum 8. Januar nahe der Residenz des Präsidenten von Côte d'Ivoire Putschisten und regierungstreue Soldaten Feuergefechte lieferten, hielt sich Staatschef Laurent Gbagbo bereits seit zwei Tagen in seinem Herkunftsort im Südwesten des Landes auf. Entsprechend schnell wehrten loyale Truppen die Attacken auf strategische Punkte in der Hauptstadt Abidjan ab. Einigen der nach Presseinformationen etwa 1 000 Angreifer gelang es zwar zunächst, das staatliche Rundfunkgebäude unter ihre Kontrolle zu bringen. Bereits am Morgen des nächsten Tages jedoch erklärte Innenminister Emile Boga Doudou den Putschversuch für gescheitert. Umgehend beschuldigte seine Behörde Nachbarländer sowie die nordivorische Opposition um die Partei Rassemblement des Républicains (RDR) der Verwicklung in den Coup. Gbagbo machte ausdrücklich den RDR-Vorsitzenden Alassane Ouattara, der sich derzeit in Frankreich aufhält, für den Umsturzversuch verantwortlich. Die regierungsnahe Zeitung Notre Voie veröffentlichte auf ihrer Titelseite einen Steckbrief, in dem auf die Ergreifung von sechs Verdächtigen - alle aus dem Norden des Landes - eine Belohnung von umgerechnet 14 000 US-Dollar ausgeschrieben ist. Den Schuldzuweisungen folgte während der nächsten Tage die Jagd auf vermeintliche Ausländer und Oppositionelle, die bereits den Verlauf der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober und Dezember geprägt hatte. Unterstützer der Regierungspartei Front Populaire Ivoirien (FPI), deren Vorsitzender Gbagbo ist, griffen Ladenbesitzer aus Nachbarländern an. In einigen überwiegend von Immigranten bewohnten Stadtteilen Abidjans errichtete der Mob Straßensperren. Wie eine nigerianische Tageszeitung berichtete, flohen wegen der rassistischen Ausschreitungen Tausende Nigerianer aus dem Land. Die Wahlfarce im Oktober vergangenen Jahres, in deren Verlauf die seit Dezember 1999 amtierende Militärjunta von General Robert Guei abgelöst wurde, hatte Gbagbo in das höchste Staatsamt katapultiert. Als Guei die Wahl annullieren wollte, stellte sich nach Massenprotesten der größte Teil der Armee hinter Gbagbo. Dessen Unterstützer lieferten sich in den folgenden Tagen heftige Straßenschlachten mit der Opposition, die Neuwahlen forderte, da ihre Kandidaten ausgeschlossen waren. Bis zu 200 Menschen - überwiegend Anhänger der RDR - wurden getötet. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht erhebt Human Rights Watch (HRW) im Zusammenhang mit den damaligen Ausschreitungen schwere Vorwürfe gegen Teile der Sicherheitskräfte. »Wir haben unwiderlegbare Beweise dafür, dass Regierungskräfte unbewaffnete Zivilisten brutal angegriffen haben«, so ein Sprecher der Afrika-Abteilung von HRW. Paramilitärische Einheiten und die Polizei hätten, teilweise gemeinsam mit FPI-Anhängern, willkürliche Massenverhaftungen und Erschießungen vorgenommen. In den Gefängnissen wurden, so berichteten Überlebende, die Inhaftierten schwer gefoltert. Nach den Gewalttaten versuchte sich die neue Regierung zwar in Versöhnungsgesten, doch dabei blieb es. Mit dem Ausschluss Ouattaras auch von den Parlamentswahlen im Dezember setzte der neue Präsident die extrem nationalistische Linie der Ivorité, die schon seine Vorgänger Guei und Bédié verfolgt hatten, fort (Jungle World, 43 und 45/00). Sie richtet sich vor allem gegen die zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs ins Land geholten Arbeitsimmigranten aus ärmeren Nachbarländern. Doch auch Bewohner des strukturell benachteiligten Nordens werden im Süden des Landes verachtet, da sie angeblich nicht der ivorischen Nation angehören würden. Der Norden reagierte auf die zunehmende Diskriminierung mit einem Wahlboykott. In Ouattaras Herkunftsregion Kong fanden überhaupt keine Wahlen statt, denn alle Regierungsbeamten waren im Dezember aus dem Gebiet vertrieben worden. Im Parlament mit seinen 225 Sitzen besteht nun ein Patt zwischen der FPI (96 Abgeordnete) und der ehemaligen Staatspartei Parti démocratique de Côte d'Ivoire (PDCI, 94 Abgeordnete); die restlichen Mandate gingen an kleine Parteien und Unabhängige. Die Rückkehr zur Zivilregierung könnte sich wegen der verstärkten Bildung lokaler Milizen als kurzes Intermezzo erweisen. General Guei, von Gbagbo quasi amnestiert, schart in seinem Herkunftsort im Westen des Landes loyale Truppen um sich. Er soll nach Informationen der Zeitschrift Africa Confidential Unterstützung von liberianischen Söldnern erhalten. Ibrahim Coulibaly, ein ehemaliger Verbündeter des Generals, wird beschuldigt, mit Hilfe aus Burkina Faso im Norden des Landes Bewaffnete zu organisieren. Die grenzüberschreitenden Allianzen sind allerdings kein neues Phänomen. So nahm vor elf Jahren der brutale Feldzug Charles Taylors in Liberia seinen Anfang im Westen von Côte d'Ivoire. Die Rohstoffe aus Liberia, dessen Präsident Taylor wurde, fanden unter anderem in der grenznahen ivorischen Stadt Danane ihre Käufer. Auch in der RDR bevorzugen offenbar einige Fraktionen die militärische Option. Während ein Teil der Führung Ouattaras finanzielle Möglichkeiten schätzt, halten andere Aktivisten den Kurs des Vorsitzenden für zu legalistisch. Bereits in den Straßenkämpfen des vergangenen Jahres verteidigten Jäger aus dem Norden, so genannte Dozos, das Anwesen Ouattaras und dienten als Leibwächter. »Die Dozos könnten sich wie die Kamajors in Sierra Leone schnell in einer gefürchteten Miliz formieren«, meint Africa Confidential. Gbagbo hingegen ist bei der Verwirklichung seiner staatsmännischen Ambitionen von Mathias Doué abhängig. Die ehemalige Nummer vier der Junta von Robert Guei fungiert inzwischen als Armeegeneral und hat die Aufgabe, das gespaltene Militär zusammenzuhalten. Sollte die xenophobe Mobilmachung einen offenen Bürgerkrieg provozieren, könnte die Armee unter seiner Führung wieder die Staatsgeschäfte übernehmen. | Ruben Eberlein | Ruben Eberlein: Machtkampf in Côte d'Ivoire | [] | Ausland | 24.01.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/04/coup-mit-ansage?page=0%2C%2C2 |
Olivgrün statt rosarot | Wie man Grundsatzpositionen zu Gunsten "realpolitischer Sachzwänge" verwässert, kann man nicht nur von den Grünen lernen. Nachdem bereits die Bundestagsfraktion der PDS dem Vorschlag ihres Vorsitzenden Gregor Gysi gefolgt war, Uno-Kampfeinsätzen im Einzelfall zuzustimmen (Jungle World, 44/99), hat nun auch der Bundesvorstand der Partei den Schwenk hin zu grüner Sicherheitspolitik abgesegnet. In der Vorstandssitzung Anfang vergangener Woche wurde der entsprechende Antrag mit drei Gegenstimmen angenommen. Ob die PDS-Basis den Beschlüssen ihrer Oberen ebenso folgt wie die Grünen, muss sich noch herausstellen. Die PDS Chemnitz jedenfalls folgt nicht: "Die Genossen wollen eine Diskussion in der Partei, sie wollen mit entscheiden und nicht aus der Zeitung über Beschlüsse von Fraktion oder Bundesvorstand erfahren." Auch das Jugendbündnis Solid der Partei lehnte den Beschluss ab und forderte ein Festhalten an zivilen Konfliktschlichtungsmodellen. Es wurde auch gefordert, einen Sonderparteitag zu dem Thema einzuberufen. | : | [] | Inland | 10.11.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/45/olivgruen-statt-rosarot?page=0%2C%2C3 |
|
Die Erfindung des globalen Protests | Demonstrationen, auf denen es auch schon einmal zu Revolverschüsse kam, Streikaktionen, empörte Aufrufe, demolierte Kirchen, Soldaten, die Botschaften schützen mussten – in der zweiten Oktoberhälfte vor 100 Jahren waren die Zeitungsspalten voll von solchen Meldungen. Begonnen hatte es mit einem Justizmord. Als der spanische Pädagoge und Freidenker Francisco Ferrer am 13. Oktober in Barcelona vor das Erschießungskommando trat, soll er noch ausgerufen haben: »Zielt gut, meine Kinder! Ihr könnt nichts dafür! Ich bin unschuldig! Es lebe die Moderne Schule!« Ferrer, dessen Konzept der »Escuela Moderna« wichtig für die libertäre Pädagogik wurde, wurde nach seiner Hinrichtung über Nacht zu einer Symbolfigur des Kampfes für die säkulare Moderne und ihres emanzipatorischen Ethos.
Im Sommer 1909 war es in Barcelona nach Lohnstreiks und Reservisteneinberufungen für einen Kolonialfeldzug in Nordafrika zu einem spontanen Aufstand gekommen, der erst durch einen Militäreinsatz niedergeschlagen werden konnte. Ferrer, an den Ereignissen vermutlich wirklich unbeteiligt, war als angeblichem prominentem Rädelsführer vor einem Militärtribunal unter offensichtlicher Umgehung rechtsstaatlicher Normen der Prozess gemacht worden. Der Grund war seine dezidiert antiklerikale Propaganda, die er durch Flugschriften sehr publikumswirksam verbreitet und die ihn für das monarchistisch-kirchliche Establishment Spaniens zu einer regelrechten Hassfigur gemacht hatte. Womit die spanische Regierung offensichtlich aber nicht gerechnet hatte, war das Ausmaß des internationalen Widerspruchs, den der schnell durchgezogene Prozess hervorrief. In Europa breitete sich nach Bekanntgabe der Hinrichtung umgehend ein wahrer Flächenbrand des Protestes aus, Militanz und Empörung wuchsen plötzlich ebenso in den Gassen italienischer Kleinstädte wie auf den Boulevards von Paris. In Parlamenten und Zeitungsspalten gab es erregte Debatten, während sich in Richtung der jeweiligen spanischen Vertretungen Demonstrationszüge formierten. Wenn man nicht zum nächsten spanischen Konsulat vordrang, waren katholische Kirchen die nächstliegenden Ziele.
Das Zentrum der Proteste war Paris, wo schließlich über 100 000 Menschen dem zentralen Demonstrationsaufruf folgten, auch in London auf dem Trafalgar Square versammelte sich eine ähnlich große Menschenmenge. In Italien brachen noch vor der Bekanntgabe des Urteils Streiks aus, in Rom musste nicht nur die spanische Botschaft, sondern auch der Vatikan militärisch geschützt werden.
Im österreichischen Triest, einem weiteren Brennpunkt der Unruhen, hagelte es von Dächern und aus Fenstern Steine auf das Militär, und in Toulon stürmten Hafenarbeiter zum Gesang der »Internationale« die Kathedrale. Auch außerhalb Europas kam es zu Unruhen, vor allem in Nord- und Südamerika, wo es viele südeuropäische Emigranten gab. Zeitungen in Buenos Aires forderten zum Boykott spanischer Waren und Dampfer auf, in Montevideo antwortete die Polizei mit Schüssen, als vor der spanischen Botschaft Steine flogen. Kundgebungen wurden aber auch aus Alexandria und Kairo gemeldet.
Die Haute École Francisco Ferrer in Brüssel veranstaltete anlässlich des 100. Todestags ihres Namensgebers eine Konferenz und zeigte eine Ausstellung. Ansonsten wurde des Jubiläums kaum gedacht, obwohl die Proteste wohl das erste Beispiel für linke internationale Aktionen waren. Durch die neuen Kommunikationsmedien Telegraf, Telefon und Massenpresse verbreitete sich die Nachricht nicht nur umgehend, die Berichterstattung über länder- und sogar kontinentübergreifende Proteste war zweifellos beflügelnd. Jedes Land besaß dabei sein eigenes Protestprofil, das galt auch für Deutschland. Hier war der Protest vor allem ein geistiger. Es kam zwar zu Demonstrationen in Berlin mit kleineren Ausschreitungen, und die Märkische Volkszeitung berichtete empört: »Der Berliner Mob, halbwüchsige Burschen und Rowdies aller Art fehlten nicht bei diesen ›Demonstrationszügen‹. (…) Es kam zu Zusammenstößen mit der Schutzmannschaft. Die Menge schrie: ›Nieder mit den Pfaffen!‹, sang die Marseillaise, sozialdemokratische Lieder und skandierte aus Leibeskräften.« Aber meist blieb es bei von Sozialdemokraten und Freidenkervereinen organisierten Veranstaltungen in überfüllten Sälen und von Schriftstellern inszenierten Feuilletonmanifesten.
In Deutschland wie auch anderswo entluden sich dabei in dem Maße, in dem man die Empörung über die Hinrichtung Ferrers auf die eigenen Verhältnisse übertrug, jeweils auch innenpolitische Spannungen. In Berlin hieß so die Losung der SPD: »Gegen die Pfaffen und die mit ihnen verbündeten Junker!« War in Deutschland vor allem der Nachklang des Kulturkampfs gegen den Katholizismus zu spüren, knüpfte der Protest gegen die Hinrichtung Ferrers in Frankreich an die immer noch angeheizte Stimmung wegen der Dreyfus-Affäre und der strikten Säkularisierung des Schulsystems an, so wie in Italien die Frontstellung des noch recht jungen Nationalstaats gegenüber dem Vatikan eine wichtige Rolle spielte. Als Republikaner, Atheist und Aufklärer wurde Ferrer dabei von Liberalen und Freidenkern verstanden, als Revolutionär mit einer wachsenden Nähe zum Anarchismus von der Linken. Gemeinsam war man sich – noch – einig in der Verteidigung des Säkularismus und des Fortschritts. Die katholische Presse griff derweil die Liberalen an, die es, so der katholische Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger, der später in der Weimarer Republik selbst als vorgeblicher »Erfüllungsgehilfe« der Versailler Verträge von Rechtsextremisten ermordet wurde, wagten, Ferrer, »diesen Mordbuben, Juden, Anarchisten und Freimaurer«, zu verteidigen, der ordnungsgemäß verurteilt worden sei. Von antiklerikaler Seite wurden dagegen immer wieder die Jesuiten und ihre dunklen Machenschaften ins Spiel gebracht. Antisemitismus und Verschwörungstheorien, auch hierbei war die Ferrer-Debatte stilbildend, sollten nun nicht mehr aus dem Repertoire politischer Auseinandersetzungen in der Moderne wegzudenken sein.
Die Frage, ob es unhintergehbare Normen eines »zivilisierten« Europa gibt oder das Prinzip der Nichteinmischung zu beachten sei, war in den Debatten vor 100 Jahren ein weiterer Streitpunkt, der bis heute virulent geblieben ist. Wobei sich das bürgerlich-liberale Lager damals gerade auch in Deutschland mit vehementen Anklagen gegen den Mord an Ferrer noch uneingeschränkt offensiv gab. In Leitartikeln des Berliner Tageblattes oder der Frankfurter Zeitung, der Vorgängerin der FAZ, konnte man lesen, Ferrer sei wegen seiner freien Meinungsäußerung hingerichtet worden, eine Schmach, die dem 20. Jahrhundert leider nicht erspart worden sei. Über Spanien hieß es: »Aber für einen solchen Staat ist kein Platz mehr in der Reihe menschlich-gesitteter Gemeinschaften.«
Jenseits des direkt angegriffenen katholischen Lagers – ein offenerer, dann sogar mitunter linkskatholischer Zug kam hier erst in den zwanziger Jahren zum Tragen – blieb es allein den extrem Konservativen oder ausgesprochen Reaktionären überlassen, auf Nichteinmischung zu pochen oder gar die Vorgänge in Spanien zu rechtfertigen. Der Linken wiederum wäre es damals noch nicht eingefallen, Kultur, staatliche Souveränität oder gar Religion entschuldigend ins Feld zu führen. | Oliver M. Piecha | Oliver M. Piecha: Zum 100. Jahrestag der Hinrichtung des antiklerikalen spanischen Pädagogen Francisco Ferrer | [] | Ausland | 22.10.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/43/die-erfindung-des-globalen-protests?page=0%2C%2C3 |
Tödliche Beziehungen | Fabiana wurde gewürgt, niedergestochen, mit Benzin überschüttet und lebendig verbrannt. Der Mord an der 16jährigen Schülerin durch ihren ein Jahr älteren Freund erschütterte die italienische Öffentlichkeit. Ihre Beerdigung wurde vergangene Woche zum Staatsakt. Noch am selben Tag ratifizierte das italienische Parlament die Konvention von Istanbul, eine im Mai 2011 vom Europarat ausgearbeitete Vereinbarung zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Ziel der Konvention ist es, durch Prävention, Betreuung und Rechtsbeistand die Hilfe für Frauen zu verbessern.
Das Verbrechen an Fabiana ist kein Einzelfall. Seit Beginn des Jahres zählt die Hilfsorganisation »Telefono Rosa« mehr als 30 ermordete Frauen. 2012 kamen in Italien offiziell 124 Frauen durch ihren gegenwärtigen oder ehemaligen Partner zu Tode. Einer im Dezember 2012 veröffentlichten Studie über den »Feminizid in Italien« zufolge sind Frauen, die sich von ihren Partnern trennen, besonders gefährdet. Sie werden nicht nur von ihren verlassenen Männern bedroht, auffallend hoch ist auch die Zahl der Mütter, die von ihren Söhnen ermordet wurden. Die Untersuchungsergebnisse erfuhren große mediale Aufmerksamkeit. Bekannte Journalistinnen und Journalisten regten mit eigenen Buchpublikationen und Theatervorstellungen eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Gewalt, die Mädchen und Frauen jeden Alters und Bildungsgrads und unabhängig von sozialer, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit in Italien erfahren, an, um einer Verharmlosung des Themas entgegenzuwirken.
Anfang Mai mischte sich auch die Parlamentspräsidentin Laura Boldrini in die Debatte ein. Nachdem sie eine Verschärfung der strafrechtlichen Verfolgung von antisemitischen und rassistischen Hetzkampagnen im Internet angemahnt hatte, wurde sie insbesondere von rechten Gruppen in sozialen Medien sexistisch beschimpft, in Fotomontagen verunglimpft und offen mit dem Tod bedroht. Daraufhin forderte sie in einem Interview mit der Tageszeitung La Repubblica, auch die mediale Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Ihre Äußerungen wurden als hilfloser Vorstoß gegen die mutmaßliche Regellosigkeit im Internet verlacht oder als Angriff auf die Meinungs- und Netzfreiheit empört abgelehnt. Boldrini wiederum wies den Vorwurf, sie fordere Zensur, zurück, es gehe ihr nicht um neue Verbote, sondern um eine längst überfällige Debatte über den Umgang mit Frauen in der italienischen Gesellschaft. Zusammen mit der Gleichstellungsministerin Josefa Idem lud sie Mitte Mai verschiedene Vereine, die sich für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten engagieren, zu einem runden Tisch. Beraten wurde über die Notwendigkeit, eine parlamentarische Untersuchungskommission zum Feminizid in Italien einzurichten und eine Task Force mit der Ausarbeitung von Anti-Gewalt-Programmen zu beauftragen. Denn mit der Unterzeichnung der Istanbuler Konvention verpflichtet sich Italien, Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen nicht nur strafrechtlich zu bekämpfen, sondern vor allem auch die wohlfahrtsstaatlichen Angebote und Hilfsmaßnahmen für Frauen zu verbessern. Doch die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Kampf für mehr Selbstbestimmung von Frauen. In den vergangenen Jahren mussten einige Frauenhäuser und viele lokale Frauenberatungszentren wegen chronischer Unterfinanzierung schließen. Andererseits haben sich mittlerweile katholische Träger oder rechtskonservative Gruppen der in den siebziger Jahren in feministischer Selbstverwaltung gegründeten Beratungsstellen bemächtigt. Dies hat gravierende Folgen für die Realisierung bereits erkämpfter Frauenrechte. Nach Angaben der staatlichen Gesundheitsbehörde verweigern in vielen Regionen über 85 Prozent der Ärzte aus Gewissensgründen die Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen, so dass in einigen Provinzen Italiens kaum noch Möglichkeiten zu einem rechtlich abgesicherten Abbruch bestehen. Deshalb nimmt die Zahl der illegalen Abtreibungen zu und mit ihr die der deswegen strafrechtlich verfolgten Frauen. Doch anstatt den Schwangerschaftsabbruch durch strukturelle Eingriffe nach Gesetz 194 aus dem jahr 1978 zu garantieren, beteiligte sich beispielsweise Roms Bürgermeister Gianni Alemanno erst vor wenigen Tagen an einem »Marsch für das Leben« von Abtreibungsgegnern.
Linke Aktivistinnen kritisieren die parteiübergreifenden Absichtserklärungen zur Bekämpfung der Morde an Frauen. Sie halten den inflationär gebrauchten Begriff des Feminizid für falsch, weil er die Diskussion von den Tätern und dem Tatort Familie ablenke. Wieder einmal werde weder über männliche Sexualität diskutiert, noch würden die familiären Geschlechterrollen in Frage gestellt. Stattdessen werden Frauen weiterhin in die Opferrolle gedrängt. Damit einher gehe häufig eine moralische Verurteilung von Frauen, für die sich weibliche Freiheit nicht im Kampf um rechtliche Anerkennung erschöpft. So schwinge in der Klage über die »Krise der Familie«, der es nicht mehr gelinge, wirtschaftliche Notlagen und sozialpolitische Härten auszugleichen, oftmals der Vorwurf mit, Frauen würden ihre traditionelle Aufgabe der Fürsorge nicht mehr erfüllen. In Umkehrung dieser Argumentation deuten Feministinnen, die wegen ihrer Kritik an dieser Rollenzuschreibung als radikal gelten, die männliche Gewalt als Ausdruck einer Krise des heterosexuellen Männlichkeitsideals, als Reaktion auf die weibliche Aufkündigung der patriarchalen Geschlechterordnung. Sie sehen die Ursachen der entfesselten Aggression der Männer in einem Bruch des traditionellen Gender-Regimes. Allein auf juristischem Wege ist dem nicht beizukommen. | Catrin Dingler | Catrin Dingler: Gewalt gegen Frauen in Italien | [] | Ausland | 06.06.2013 | https://jungle.world//artikel/2013/23/toedliche-beziehungen?page=0%2C%2C3 |
Die Saat des Bösen | Monsanto ist böse und die Zwillingsschwester von TTIP. Beide leben in den USA und holen zum entscheidenden Schlag gegen die europäische und vor allem deutsche Scholle aus. Sie wollen gentechnisch verändertes Saatgut verbreiten und bessere Bedingungen für die Kapitalverwertung schaffen. Mehr säen, mehr ernten, mehr verdienen. Mehr Hunger in der Welt inbegriffen. Was hätte also dagegen gesprochen, kürzlich in irgendeiner Stadt in der Nähe beim Marsch gegen Monsanto mitzumachen und gemeinsam mit Tausenden Gleichgesinnten in Deutschland gegen die Eindringlinge von drüben zu protestieren? Und man stelle sich mal vor, der Firmensitz von Monsanto wäre in Tel Aviv. Dann würden glatt doppelt so viele demonstrieren. Da haben Monsanto und Israel Glück gehabt.
Ich habe an dieser Anti-Monsanto-Demonstration noch nie teilgenommen. Zum einen ziemt es sich nicht, als aktiver Fußballfan den letzten Spieltag seines Teams zu verpassen, auch wenn er bedeutungslos scheint und es angeblich nur noch um die goldene Ananas geht. Es geht immer mindestens um die Ehre und die Zukunft. Kein Fußballspiel ist umsonst.
Ja, es stimmt, Monsanto überschwemmt den Markt mit gentechnisch verändertem Saatgut, das immun gegen das eigene Totalherbizid mit dem Wirkstoff Glyphosat ist. Dabei schreckt der Konzern nicht vor halbseidenen Machenschaften zurück. Jahrelang verklagte er den kanadischen Rapsbauern Percy Schmeiser, weil auf dessen Feldern Samen des patentierten Monsanto-Gen-Raps gefunden wurden, die auf einem Nachbarfeld gepflanzt worden waren. Samen werden eben durch Wind und Vögel ordentlich in der Umgebung verteilt. Aber Monsanto behauptete, Schmeiser habe sich durch unlizenzierten Anbau das geistige Eigentum des Konzerns angeeignet und solle dafür zahlen. Er zahlte nicht, Monsanto klagte und bekam mal recht, mal unrecht und auf jeden Fall dauerhaft eine negative Presse. Der Kapitalismus in den USA muss besonders schlimm sein – das glaubt die Agraropposition hierzulande deshalb zu wissen. Doch dieselben Lichtgestalten, denen Monsanto und die USA als das Böse gelten, halten ihren Mund, wenn es um deutsche und europäische Saatgutschweinereien geht oder wenn die EU und die deutsche Regierung eine knallhart neoliberale Agrarpolitik betreiben – ganz ohne die USA und ohne TTIP.
Auch zu den 1997 in Deutschland eingeführten Nachbaugebühren – SPD, FDP, CDU und die damalige PDS, heute »Die Linke«, waren dafür – schweigen sie. Bauern müssen Nachbaugebühren zahlen, wenn sie aus der Ernte Saatgut zur Aussaat im nächsten Frühjahr zurückbehalten wollen. Jedes Jahr aufs Neue, obwohl sie das Saatgut zur Aussaat regulär bezahlt haben. Das ist eine wundersame Geldvermehrungsmaschine. Dabei könnte ein Fonds das Problem lösen. Alle Bauern zahlen dort ein und Bauern, Politik und NGOs entscheiden, ausgehend von der Prämisse, Saatgut sei Gemeingut, in welche Saatgutzüchtung Geld investiert wird. Seit 1997 tobt dazu eine heftige politische und juristische Auseinandersetzung, die nichts mit Monsanto und den USA zu tun hat, sondern mit den in der EU festgelegten kapitalistischen Verwertungsregeln.
Ich und meine Mitstreiter von der Aktion 3. Welt Saar begannen 1999, zu diesem Orchideenthema zu publizieren und die dramatische Folgen der gewerblichen Aneignung von Saatgut für die Welternährung darzustellen. Das jahrhundertealte Bauernprivileg, Saatgut zur Aussaat im nächsten Jahr zu behalten, sichert die Ernährung. Wir machten den Vorschlag, die Saatgutfirmen, die mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Bauernverbandes von Bauern Nachbaugebühren verlangten, sollten selbst Nachbaugebühren an Peru und Bolivien zahlen, woher die Kartoffel stammt. Überraschenderweise hörte niemand auf uns. Wahrscheinlich stecken die USA dahinter. Es kann nur so sein.
Auch die zum Teil verzweifelten Proteste der europäischen Milchbauern gegen eine neoliberale EU-Politik, die eine extreme Erhöhung der Milchmenge und damit verbunden eine drastische Reduzierung der Zahl der Höfe bezweckt, interessiert kaum jemanden. Es hat schließlich nichts mit Monsanto zu tun und noch dazu handelt es sich meist um konventionelle Bauern, die recht marktkonforme Lösungen für eine Mengenbegrenzung vorschlagen. Der Romantikfaktor der Proteste gegen die Nachbaugebühren und für eine andere Milchpolitik ist gleich null. Nix Monsanto, nix USA, nix bio, nix klein-klein.
Landwirtschaft interessiert manche in der Agraropposition nur, wenn Monsanto und die USA im Spiel sind. Das ist Kapitalismuskritik mit nationalem Einschlag. Aber was machen diese Leute, wenn Bayer ernst macht und Monsanto kauft? Da bin ich klar im Vorteil, da ich das Romantikdefizit bei meiner Arbeit im Garten ausgleichen kann. Ich tue dort nichts Abstraktes, sondern etwas Konkretes, Handfestes für die Ernährung der Menschheit, für die Welt und für mich natürlich. Drunter mache ich es als Kleingärtner nicht. | Roland Röder | Roland Röder: Krauts und Rüben, Teil 5: Milch und Monsanto | [] | Inland | 02.06.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/22/die-saat-des-boesen?page=0%2C%2C3 |
All that Jazz | Was suchst du?« fragen die Händler am Sonntag auf der Plattenbörse, als ich mich durch ihre Kisten arbeite. Zögernd, aber ehrlich sage ich immer: «Jazz-Singles.« Ich zögere, weil ich die Antwort kenne: »Nee, hab ich nicht.« Ich konkretisiere: »Nicht so ein Gedudel, sondern Jazz zum Tanzen!« Die Antwort ist erneutes Kopfschütteln. Und dennoch ziehe ich dann aus ihren Kisten genau die Jazz-Singles heraus, die ich gesucht habe. Es ist eben nicht die Art von Musik, die die Händler für Jazz halten. Unter Jazz verstehen sie Miles Davis, also modernen Jazz, diese Sitzmusik. Dixieland, Swing, Rhythm & Blues, Soul, Funk, also die ganze Bandbreite jazzverwandter Tanzmusik, gilt nicht als Jazz. Aber vielleicht ist das auch ganz gut so.
Nachdem ich nämlich meine Runde gemacht hatte und schon am Ende der Börse auf den Ausgang zuging, sah ich in einer Ecke einen Stand, der ein paar hundert Singles für einen Euro pro Stück anbot. Und in diesen Kisten fand ich dann gleich 30 Jazz-EPs. EP bedeutet Extended Play, es sind Singles mit vier Titeln drauf. Labels wie Storyville, Brunswick, Coral, Verve, Metronome und Good Time Jazz veröffentlichten in den fünfziger und sechziger Jahren sowohl neuen Jazz als auch Aufnahmen aus der frühen Geschichte des Jazz. Diese Wiederveröffentlichungen von Jazz-Größen aus New Orleans wie King Oliver, Louis Armstrong und Sidney Bechet und den Swingbands von Coleman Hawkins und Artie Shaw liebe ich besonders, vielleicht gerade, weil sie bei Jazz-Sammlern nicht besonders hoch im Kurs stehen. Die Sammler haben offensichtlich keine Ahnung. Sidney Bechet hat zum Beispiel nie eine schlechte Platte aufgenommen. Es lohnt sich immer, eine Platte von ihm mitzunehmen.
Mit meiner Begeisterung für Singles mit New-Orleans-Jazz stehe ich allein auf weiter Flur. Zum Glück bin ich jedoch mit meiner Auffassung von Jazz nicht ganz allein. So veröffentlicht das britische Label Jazzman seit Mitte der neunziger Jahre Spielarten des tanzbaren Jazz: Soul, Funk, Latin Jazz und Rhythm& Blues. Zunächst gab es nur Wiederveröffentlichungen auf dem Label. Besonders zu empfehlen sind hier die in der Reihe »Jukebox Jam« erschienenen Repros von klassischen Rhythm & Blues-Singles. Jazzman veröffentlicht mittlerweile aber auch viele zeitgenössische Gruppen und Künstler, wie die britische Greg Foat Group. Deren jüngst erschienene Zehn-Zoll-Platte »Girl and Robot with Flowers« erinnert an Library Music. Library Music ist ursprünglich Musik, die für Musikarchive aufgenommen wurde, bezeichnet aber auch ein seltsames Genre, das klingt, als hätten alte Jazzer versucht, bekifft Psychedelia zu machen. Library Music ist funky, aber auch jazzy. Die Aufnahmen sind schwer gefragt von bestimmten Sammlern und DJs auf der Suche nach obskuren Breaks. Die Greg Foat Group ist auch schwer funky und jazzy. Selbst wenn sie über weite Strecken improvisieren, was das Zeug hält, spielen sie immer noch definitiv coole Tanzmusik. | Andreas Michalke | Andreas Michalke: | [] | dschungel | 22.11.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/47/all-jazz?page=0%2C%2C1 |
Der Weg ist das Ziel | Unter Experten wie Laien verbreitet sich derzeit eine Theorie: Donald Trump ist ein gefährlicher Irrer. Eben deshalb aber ist er in der Lage, mit anderen gefährlichen Irren wie Kim Jong-un und den iranischen Ayatollahs fertig zu werden. Diese sind nun erstmals mit jemandem konfrontiert, der das Spiel in ihrem Stil spielt: unberechenbar, lauthals prahlend, auf Risiko – aber mit ungleich größeren Ressourcen zu seiner Verfügung.
So reizvoll diese Theorie erscheinen mag, ist sie doch derzeit allenfalls eine vage Spekulation. Zweifellos ist Trump erfolgreich in der disruption, der Zerstörung etablierter Geschäftsmodelle in Diplomatie und Ökonomie. Weniger klar ist in den meisten Fällen, welches neue Geschäftsmodell er an die Stelle des alten setzen will. Zu bedenken ist in der Trumpologie auch, dass die Washington Post dem US-Präsidenten 3001 falsche oder irreführende Aussagen (Stand: Ende April) nachgewiesen hat. Redet er vorgeblich über den Iran, kann man also keineswegs sicher sein, dass er tatsächlich den Iran meint. Trumps Kritik am Atomabkommen ist nicht von der Hand zu weisen: Es sieht keine ausreichenden Kontrollen vor, bindet das iranische Regime nur bis zum Jahr 2025 und berücksichtigt weder dessen Raketenprogramm noch die Interventionen in Syrien, dem Irak und dem Jemen. Dennoch haben Kritiker des Abkommens wie Verteidigungsminister James »Mad Dog« Mattis immer betont, dass mit einem Ausstieg der USA nichts gewonnen sei. Mattis hofft nun, die US-Regierung werde gemeinsam mit den europäischen Verbündeten ein neues, umfassenderes und den Iran stärker einschränkendes Abkommen aushandeln können. Danach sieht es derzeit aber nicht aus, und Trump hat dazu beigetragen, dass die Verhandlungsbereitschaft der EU geringer ist denn je. Statt die Vorgaben für ein erweitertes Abkommen öffentlich zu nennen, ein Ultimatum zu setzen (oder, freundlicher ausgedrückt, einen Zeitrahmen anzugeben) und so die EU-Regierungen zu einer Sachdebatte zu zwingen, hat Trump die beiden einflussreichsten europäischen Politiker empfangen und dann durch seine schnelle und kompromisslose Entscheidung desavouiert. Man darf dem US-Präsidenten zumindest so viel politisches Verständnis zutrauen, dass er die Gesetzmäßigkeiten nationalistischer Reaktionen kennt und weiß, dass die europäischen Politiker nun kaum umhinkommen, Stärke zu demonstrieren. Dass Richard Grenell, der US-Botschafter in Deutschland, deutsche Unternehmen aufforderte, ihr Engagement im Iran zu reduzieren, war wohl nicht der Anfängerfehler eines Rüpels, der die diplomatischen Gepflogenheiten nicht kennt – Grenell arbeitete acht Jahre lang als US-Pressesprecher bei den Vereinten Nationen. Wie zu erwarten war, empören sich nun die Patrioten von der Linkspartei bis zu den Unternehmerverbänden und fordern, dass »unsere« Iran-Geschäfte vor den Amerikanern geschützt werden müssen – selbstverständlich nicht um des Profits, sondern um des Friedens willen. Eben diese Reaktion könnte erwünscht gewesen sein. Nur wenn die US-Sanktionen global durchgesetzt werden, haben sie eine Wirkung. Mit Strafzöllen einen Handelskrieg zu provozieren, ist ein mühseliges Geschäft des tit for tat, zudem auch noch eines, bei dem über öde Zahlenkolonnen gestritten wird – zu langweilig für den durchschnittlichen Trump-Anhänger. Werden hingegen Strafmaßnahmen gegen europäische oder chinesische Firmen, die mit dem Iran Geschäfte machen, mit Strafmaßnahmen gegen US-Firmen beantwortet, ist man mittendrin in einem emotionalen nationalistischen Streit; es geht um die nationale Sicherheit, die Ehre der Nation, man muss Stärke zeigen und darf sich von denen da drüben nichts gefallen lassen. Trump kann sich darauf verlassen, dass europäische und chinesische Politiker das Spiel mitspielen werden. Die beiden wichtigsten Konkurrenten, die EU und China, gegen sich aufzubringen und so den Trend zum Handelskrieg zu verstärken, könnte das Hauptziel Trumps sein. Das muss nicht bedeuten, dass ihm der Iran egal ist. Verdächtig ist jedoch, dass Trump sich weiterhin ziert, einer längeren US-Truppenpräsenz in Syrien zuzustimmen, obwohl das Pentagon und Mattis sie befürworten und es keinen öffentlichen Druck gibt, die mit etwa 2 000 Soldaten recht kleine Truppe abzuziehen. Nur diese Präsenz aber ermöglicht eine Eindämmung der iranischen Aggression und nur eine Garantie, dass die USA nicht umstandslos abziehen, sichert ihnen unentbehrliche lokale Verbündete. Auch bezüglich des Iran selbst bleibt unklar, worauf Trump hinauswill. Die Demokratisierung wäre der einzige zuverlässige Weg, das militärische Atomprogramm zu beenden, dies hat sich bereits in Südkorea, Argentinien und Südafrika gezeigt. Eine Verschärfung der Wirtschaftskrise könnte zu erneuten Aufständen im Iran führen. Doch hat der ansonsten nicht für seine verbale Zurückhaltung bekannte US-Präsident nie den regime change im Iran propagiert, sich allgemein aber immer wieder gegen eine Förderung der Demokratie als außenpolitisches Ziel ausgesprochen. Wahrscheinlicher als dass Trump doch noch einen brillanten Plan präsentiert, auf den niemand außer ihm gekommen wäre, ist daher, dass seine Politik der disruption weniger auf den Iran als auf den Welthandel zielt. | Jörn Schulz | Jörn Schulz: Der Ausstieg der USA aus dem Iranabkommen muss nicht unbedingt mit dem Iran zu tun haben | [
"Iran",
"Atompolitik",
"USA",
"Donald Trump"
] | Ausland | 17.05.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/20/der-weg-ist-das-ziel?page=0%2C%2C3 |
Streiken lohnt sich | Den Arbeitgebern den Marsch geblasen: Die Gewerkschaften betrachten den Tarifabschluss als Erfolg Die schnelle Einigung kam überraschend. Am Samstag trafen sich die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes vertreten durch Verdi, und die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), der alle Bundesländer außer Hessen angehören, zum dritten Mal, um über einen neuen Tarifvertrag für die Beschäftigten in den Landesbehörden und -dienststellen zu verhandeln. In den ersten beiden Verhandlungsrunden konnte kein Ergebnis erzielt werden, die Ansichten lagen weit auseinander. Bis 2006 wurden die Tarife der Beschäftigten der Länder gemeinsam mit denen des Bundes und der Kommunen ausgehandelt. Die Tarifgemeinschaft wurde jedoch von Arbeitgeberseite aufgekündigt, die Tarifverhandlungen der Länder finden seither separat statt. In den Bundesländern gestalteten sich die Verhandlungen für die Gewerkschaften sowohl wegen der geringen gewerkschaftlichen Organisierung als auch wegen des geringeren Drucks, den Streiks in Landesämtern und -behörden entfalten können, üblicherweise schwierig. An den Tarifauseinandersetzungen beteiligen sich immer mehr junge und weibliche Beschäftigte. Kompliziert waren die Verhandlungen auch deshalb, weil es nicht nur um mehr Geld für alle geht, sondern auch um eine neue Eingruppierung der einzelnen Beschäftigten in die Lohntabelle. Die neue Entgeltordnung für die kommunalen Beschäftigten macht auch entsprechende Veränderungen bei den Länderbeschäftigten erforderlich. Wegen der Komplexität der Regelungen und der Vielzahl an Tätigkeitsmerkmalen, die der Einordnung in die verschiedenen Entgeltgruppen zugrunde liegen, waren Vorgespräche zur Veränderung der Entgeltordnung in den Ländern gescheitert. Zudem lag vor Beginn der dritten Verhandlungsrunde kein Angebot der Arbeitgeber vor, die gefordert hatten, das Tarifergebnis müsse »kostenneutral« sein. Die Beschäftigten sollten die Lohnerhöhungen einzelner Berufsgruppen also durch den Verzicht anderer selbst finanzieren. Für die Gewerkschaften, deren Basis vor allem in den unteren und mittleren Lohngruppen liegt, war das ein inakzeptabler Vorschlag.
Angesichts des Fachkräftemangels in einigen Bereichen des öffentlichen Dienstes standen die Landesregierungen allerdings auch unter Druck, Zugeständnisse wenigstens bei Akademikern und Spezialisten zum Beispiel in der Pflege oder dem IT-Bereich zu machen. Die Gewerkschaften hatten sich dagegen zum Ziel gesetzt, die Einkommensunterschiede innerhalb der Belegschaft nicht noch zu vergrößern, sondern im Gegenteil vor allem die Beschäftigten mit unteren und mittleren Einkommen besserzustellen. Die etwa eine Million Tarifbeschäftigten der Länder forderten für einen zwei Jahre laufenden Tarifvertrag sechs Prozent mehr Lohn, mindestens aber 200 Euro im Monat und eine Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 100 Euro. Daneben sollten in der Krankenpflege die Werte der sogenannten Pflegetabelle um 300 Euro angehoben werden. Das Tarifergebnis gilt auch für die 1,2 Millionen Beamten in den Ländern und Kommunen, auf deren Bezüge das Ergebnis im Normalfall übertragen wird, sowie etwa eine Million Pensionäre. Vor der letzten Verhandlungsrunde hatten die Gewerkschaften den Druck nochmals deutlich erhöht. Lange Zeit galten die Warnstreiks der Landesbeschäftigten wegen des geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrads als Pflichtübung ohne große Auswirkungen. Doch wegen der wachsenden gewerkschaftlichen Einbindung der sozialen Berufe, die vor allem durch die Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst 2015 nochmals gestiegen ist, beteiligen sich immer mehr junge und weibliche Beschäftigte an den Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst. Bereits bei der Tarifrunde der Kommunen im Frühjahr vergangenen Jahres waren es vor allem junge Menschen, insbesondere aus den sozialen Berufen, die für bessere Arbeits- und Lohnbedingungen auf die Straße gingen und mit medienwirksamen Aktionen auf ihre Forderungen aufmerksam machten. Nun hat die neue Streikbewegung nun auch die Länder erreicht. So folgten nicht nur weitaus mehr Streikende als in den vergangenen Jahren dem Aufruf der Gewerkschaften zu Arbeitsniederlegungen, auch die Arbeitskämpfe waren deutlich intensiver. Statt zu kurzen Warnstreiks wie in vergangenen Tarifrunden kam es in der vergangenen Woche zu ganz- und teils mehrtägigen Ausständen auch in sensiblen Bereichen. So legten am Dienstag in Bayern 7 000 Beschäftigte die Arbeit nieder, an den Universitätsklinken in München, Regensburg und Erlangen wurde sogar zwei Tage lang gestreikt. Zahlreiche Stationen mussten geschlossen und OP-Termine verschoben werden. In Berlin traten Lehrer und Erzieher ebenfalls zwei Tage nacheinander in den Ausstand. Etwa die Hälfte der landeseigenen Kitas blieb vollständig geschlossen. An den Schulen fielen weit mehr als 20 000 Unterrichtsstunden ersatzlos aus. Insgesamt legten in Berlin etwa 16 000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Auch in den anderen Bundesländern beteiligten sich Zehntausende an den Warnstreiks. Als das »beste Ergebnis im Länderbereich seit vielen Jahren« pries der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske das am Wochenende ausgehandelte Ergebnis. »Aus unserer Sicht ein fairer Tarifabschluss«, sagte der Verhandlungsführer der TdL, Berlins Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD). Diese Ansicht teilen wohl nicht alle Landesregierungen, Kollatz gelang es jedoch, die erforderliche Mehrheit von 60 Prozent zu erhalten. Kostenneutral ist der Abschluss für die Länder nicht, einer vorläufigen Schätzung zufolge müssen sie sieben Milliarden Euro mehr aufwenden. Tarifabschlüsse sind komplex, bekannt sind bislang nur die wichtigsten Punkte. Die Beschäftigten erhalten acht Prozent mehr Lohn, allerdings verteilt auf drei Erhöhungen in 33 Monaten. Jeder Beschäftigte soll mindestens 240 Euro mehr bekommen, für Pflegekräfte in Krankenhäusern gibt es eine zusätzliche Lohnerhöhung von 120 Euro. Eine Neuordnung und Verbesserung der Entgeltordnung konnte die Gewerkschaft nur für einzelne Berufsgruppen durchsetzen. Bsirske hat mit seiner Einschätzung wohl recht, allerdings vor allem weil die vorherigen Abschlüsse sehr dürftig ausgefallen waren. Dass es diesmal besser lief, liegt wohl an der, dass etwas gegen den Pflegenotstand und den Erziehermangel unternommen werden muss. Außerdem sorgt die lange Laufzeit nach der unerwartet großen Streikbeteiligung nun fast drei Jahre für Ruhe in den Landesbehörden. SPD-geführte Landesregierungen wollten wohl zudem einen allzu großen Widerspruch zur programmatischen sogenannten Linkswende der Partei vermeiden. Ausgezahlt hat sich aber auch die größere Kampfbereitschaft der Beschäftigten. | Stefan Dietl | Stefan Dietl: Der jüngste Tarifabschluss im öffentlichen Dienst ist relativ gut ausgefallen | [
"Arbeitskampf",
"Arbeit",
"Gewerkschaften"
] | Inland | 07.03.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/10/streiken-lohnt-sich?page=0%2C%2C3 |
Als die Worte laufen lernten | Gut gegen Böse oder Schwarz gegen Weiß oder Dumm gegen Klug oder Reich gegen Arm oder Alt gegen Neu oder Alice Schwarzer gegen Verona Feldbusch. Mal hocken die Gäste auf raketenförmigen Stühlen, umringt von Feinden, mal sitzen sie auf Kanapees mit Armkontakt, mal lümmeln sie an Stehtischen vor hüpfenden Moderatorinnen oder fläzen in großer Runde mit Bedienung. Die Talkshow, meint Amelie Fried, »funktioniert nach dem Kasperletheaterprinzip – alle Typen müssen vertreten sein«. Warum und für wen, das war am Anfang völlig unklar. »Wir machen heute eine so genannte Talkshow«, sagte Dietmar Schönherr bei der Premiere von »Je später der Abend« am 4. März 1973. »Was sie ist, das wissen Sie nicht und wir auch nicht so genau.« Aber es gab zum Glück die berühmten Vorbilder aus den USA, und irgendwie wollte man so was ähnliches auch im deutschen Fernsehen probieren. »Broadway Opera House«, »Today«, »The Home Show« und »Merv Griffin Show« hießen dort die Gesprächsrunden der fünfziger Jahre. Und sie waren zunächst fast so zahm wie Dietmar Schönherrs Plagiat auf West drei. Keine Spur von Streit, nur Privates aus dem Leben von Schauspielern, Buchautoren und Leuten, die was erlebt hatten. Das ist langweilig, befanden aber die Zuschauer nach nur zwölf Folgen und der WDR ersetzte den Moderator. Auch in Neubesetzung zu bieder, befand vier Jahre später die ARD und beendete die ins Erste gerückte Sendung. Da aber hatten sich die Zuschauer bereits an die Talkshow gewöhnt, schalteten immer öfter ein, sodass sich das Format immer mehr Sendeplätze eroberte. »NDR-Talkshow« und »III nach neun« waren erste Publikumsmagneten des Genres, Alfred Biolek avancierte ab 1976 zum Startalker, mit »Bürger fragen – Politiker antworten« hatte das ZDF die Privatsphäre der Karl Schillers oder Romy Schneiders verlassen, 1981 mischte das ZDF in der Live-Diskussion »5 nach zehn« erfolgreich Banales mit Relevantem. 1989, mit dem RTL-Schocker »Der heiße Stuhl«, landete die Talkshow schließlich dort, wo sie sich noch heute befindet: im telegenen Orbit des anything goes. Kein Thema, das nicht diskussionswürdig wäre, keine Skurrilität, die nicht ein Forum erhielte, kein noch so großer Depp, der nicht dank seines gepiercten Genitals, irgendeiner sonderbaren Sammelleidenschaft oder grenzenloser Faulheit im Fernsehen landen könnte. Dass die Talkshow Konventionen zumindest angreifen sollte, stand von Beginn an fest. Ebenso klar war aber auch, dass dies im Rahmen der guten Sitten zu geschehen hatte. Weil sich mit nichts so schnell und so gut provozieren ließ wie mit Sexthemen, wurden immer mehr erotische Dinge besprochen. Völlig unvergesslich, wie Nina Hagen in ihren obligatorischen Leggings plötzlich demonstrierte, was man unter klitoraler Stimulation zu verstehen hat. Aber auch mit politischen Statements konnte man kurzfristig berühmt werden und schließlich mit allem und jedem. Wenn Inge Meysel über ihr erstes Mal erzählte oder Beate Uhse Präser-Wasch-Stationen vorführte, gab es in den aufmüpfigen Siebzigern lediglich aus Bayern Proteste. Aber das Unerwartete und immer auch leicht Peinliche gehört seit Anbeginn des Laberfernsehens dazu. Die nicht mehr ganz so verklemmte Gesellschaft wollte ein enthemmteres Fernsehen mit sexy Gästen. Es begann vergleichsweise seriös, z.B. wenn die Ex-Kommunardin Uschi Obermayer ihre Model-Karriere rechtfertigen musste und mit leichter Häme des Establishments kämpfte, ging dann über in offenen Voyeurismus, als sich Pornostars die Klinken der Studios in die Hand drückten. Stets zählte vor allem der hübsch verpackte Thrill, aber so wie in der US-amerikanischen »Morton J. Downsey Show«, wo sich schon mal schwarze Bürgerrechtler mit Neonazis in SS-Tracht prügeln, scheppert es im deutschen Fernsehen nie. Aber doch ein wenig. Legendär sind hierzulande die Szenen mit der Abtreibungsgegnerin Karin Struck, die ihren spektakulären Abgang aus der NDR-Talkshow mit fliegenden Gläsern garnierte, die aggressive Demontage Jörg Schönbohms durch den Konflikt-Talker Michel Friedman oder die provozierte Ausblendung von Margarethe Schreinemakers. Ansonsten geht es darum, billig Sendezeit zu füllen. Im Boom-Jahr 1996 gab es 60 verschiedene Formate. Doch damit war der Markt ausgereizt, und das große Talkshowsterben setzte ein. Arabella Kiesbauer mit 2 000 oder Hans Meiser mit 1 700 Sendungen sind Ausnahmen, Knallchargen wie der unsäglich fröhliche Ricky, nach dessen Auftritten man sich auf Beerdigungen wünscht, verschwanden dagegen schnell wieder aus dem Programm. Zurück bleibt nach derlei Reinigungsprozessen via Einschaltquote etwas, das allgemein viel zu wenig geschätzt wird: eine immense Vielfalt, Sendungen für alle Bildungsgrade. Das so genannnte Confrontainment findet dummdreist in den vielen Daily-Talks oder versiert bei Friedman statt, im Late-Night-Sektor existiert der Klamauk eines Götz Alsmann, familiär geht es zu bei Biolek und investigativ bei Sandra Maischberger. Die klassische Talkrunde gibt es als Promikreis in »III nach neun« oder in der »NDR-Talkshow«, als Dauerwahlkampfsendung bei Sabine Christiansen, als Flieges Bekenntnisevent, im »Doppelpass« auf DSF oder in den vielen regionalen Gesprächskreisen in den Dritten. Wie ernst die Talkshow gerade als Multiplikator zu nehmen ist, beweist ein simpler Fakt der Fernsehgeschichte: Aus Angst vor öffentlicher Systemkritik gab es in der DDR bis 1989 keine Live-Talkshow. Erst Wochen vor der Maueröffnung startete das Jugendfernsehen elf99 mit »sams-Talk« einen ersten Versuch, der in den folgenden Monaten zahlreiche Nachahmer fand. »Damals herrschte im Fernsehen die blanke Anarchie«, erinnert sich der erste DDR-Talkmaster Hellmuth Henneberg an die letzten Tage der Ost-Sender. Bereits Mitte 1990 gab es ein knappes Dutzend Formate. Dabei ist völlig ungeklärt, wann Talkshow beginnt, wann in einer Show das Gespräch wichtiger ist als das Drumherum. Bei »Wetten dass« wird getalkt, im aktuellen Sportstudio, selbst in den Tagesthemen. Dennoch würde kein Mensch dies alles als Talkshow umschreiben. Waren Werner Höfers »Internationaler Frühschoppen« oder Margret Dünsers »VIP-Schaukel« nicht schon Talkshows der frühen Jahre? Was ist mit der »Aktuellen Schaubude«? Sie galten nicht als Talk, weil noch kein Name gefunden war, kein Etikett. Erst als uns Dietmar Schönherr das Wort »Talkshow« beibrachte und es uns schüchtern mit »Rederei« übersetzte, begann das Talkshow-Zeitalter in Deutschland. Und seitdem wird geredet. | Jan Freitag | Jan Freitag: | [] | Lifestyle | 05.03.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/10/als-die-worte-laufen-lernten |
Positiv denken | Bereits ein flüchtiger Blick auf die verfahrene Situation im Nahen Osten kann Diplomaten die gute Laune verderben. In den palästinensischen Gebieten herrscht fast ein Bürgerkrieg, der moderate Präsident Mahmoud Abbas verhandelt seit fast einem Jahr über eine Koalition seiner Fatah mit der Hamas und scheint doch keine nennenswerten Fortschritte zu erzielen. Auch auf der israelischen Seite ist es um die politische Stabilität nicht besonders gut bestellt. Nachdem Generalstabschef Dan Halutz wegen seiner Rolle im unglücklich verlaufenen Libanon-Krieg seit einem halben Jahr in der Kritik gestanden war, gab er nun auf. Seine »Auffassung von Verantwortung« dränge ihn, sein Amt aufzugeben, schrieb er in einem drei Seiten langen Rücktrittsgesuch. Nun wird darüber spekuliert, ob Halutz mit seiner Entscheidung einen Dominoeffekt auslösen könne. Schließlich hatte er den Libanon-Krieg nicht alleine geführt. Immerhin 85 Prozent der Israelis sind der Meinung, dass Verteidigungsminister Amir Peretz sich die »Auffassung von Verantwortung« des ehemaligen Armeechefs zu eigen machen und sein Ministerium räumen sollte. Um Ministerpräsident Ehud Olmert, der sich seit Monaten weitgehend erfolglos um ein neues politisches Programm bemüht, steht es in den Umfragen nicht viel besser. Zu allem Überfluss wurde nun auch noch eine strafrechtliche Untersuchung wegen Unregelmäßigkeiten bei der von ihm initiierten Privatisierung einer Bank gegen ihn eingeleitet. Die Konfliktparteien scheinen im Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, als dass sie sich einem Friedensprozess widmen könnten. Es wirkte deshalb geradezu erfrischend, wie positiv US-Außenministerin Condoleezza Rice die Situation im Nahen Osten sieht. Nachdem sie gegen Ende ihrer Nahost-Reise einen Vorschlag von Abbas, inoffizielle Gespräche über den endgültigen Status eines Palästinenserstaats zu führen, geradezu begeistert unterstützt hatte, tischte sie den Journalisten ein hoffnungsvolles Szenario auf. Die Situation sei viel besser als zu Zeiten der Verhandlungen von Camp David im Sommer 2000, denn Abbas sei viel pragmatischer als der undurchsichtige Yassir Arafat. Selbst der Einbindung der Hamas in das politische System kann Rice etwas Positives abgewinnen. Ihre »Unfähigkeit zu regieren« habe die Terrororganisation dazu gebracht, sich einigen »sehr schwierigen Entscheidungen« zu stellen, während sie zuvor einfach jedes mögliche Abkommen mit ihren Anschlägen verhindern konnte. Und schließlich glaube doch wohl niemand daran, dass Ariel Sharon und seine Likud-Partei vor sechs Jahren ein Abkommen zur Gründung eines Palästinenserstaats unterstützt hätten. Heute dagegen stünde das politische System Israels vereint hinter der Idee einer Zweistaatenlösung. Man mag den Enthusiasmus der Außenministerin für übertrieben halten, ganz Unrecht hat sie nicht. Sicher bleibt fraglich, ob mit Olmert und Abbas ausgerechnet zwei Politiker Frieden schließen werden, die sich mehr schlecht als recht an der Macht halten. Dennoch ist die Ausgangslage kaum schlechter, als sie es vor Beginn der al-Aqsa-Intifada war. So verwundert es auch nicht, dass Rice einen Vorschlag ihrer israelischen Kollegin Zipi Livni rundheraus ablehnte. Sie halte es für keine sinnvolle Idee, zuerst einen palästinensischen Staat in vorläufigen Grenzen zu gründen, sagte Rice. Die Verhandlungen über das vorläufige Staatsgebiet seien komplizierter als jene über die endgültigen Grenzen. Offenbar ist Rice davon überzeugt, dass alle Parameter für eine Lösung des Nahost-Konflikts längst bekannt sind und nur noch in Verhandlungen von mutigen Politikern kodifiziert und anerkannt werden müssten. Dass es um den Frieden mit Israels nördlichem Nachbarland Syrien nicht viel anders steht, machte ein Bericht der Zeitung Ha’aretz in der vergangenen Woche deutlich, auch wenn Ministerpräsident Olmert sich über die Bemühungen eines ehemaligen israelischen Diplomaten wenig schmeichelhaft äußerte: Alon Liel habe wohl »mit sich selbst Verhandlungen geführt«. Olmert will dem in Privatverhandlungen entstandenen Entwurf für ein mögliches Friedensabkommen mit Syrien keine Bedeutung beimessen und betont, dass die Regierung davon nichts gewusst habe. Zwei Jahre lang hatte Liel sich immer wieder mit dem in Washington lebenden Ibrahim Suleiman getroffen, zuletzt während des LibanonKriegs im Sommer 2006. Die Ergebnisse haben beide festgehalten: Israel solle die Golanhöhen räumen, bekomme aber das alleinige Recht über das Wasser im See Genezareth und im Jordan. Das Grenzgebiet werde demilitarisiert, Syrien stelle seine Unterstützung der Hizbollah und der palästinensischen Terrororganisationen ein. Zudem solle auf einem großen Teil des Golan ein Park eingerichtet werden, den Israelis auch weiterhin ohne Visa betreten können. Über ähnliches wurde bei zahllosen gescheiterten Verhandlungsrunden immer wieder diskutiert. Die Meinungen sind seit Jahrzehnten klar definiert: Syrien fordert eine Rückgabe der gesamten Golanhöhen, die Israel 1967 erobert hat. Israel will zumindest jene paar Quadratkilometer am See Genezareth nicht zurückgeben, die Syrien im Krieg von 1948 erobert hat. Den Syrern leuchtet diese Logik nicht ein, da Israel seinerseits die 1948 eroberten Gebiete längst annektiert hat. Immer wieder scheiterten die Verhandlungen an Diskussionen über israelische Warnposten auf syrischem Territorium, der Forderung nach einer demilitarisierten Zone bis in die Nähe von Damaskus oder einfach dem verletzten arabischen Stolz des syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad. Eine neuartige Lösung wie die von Suleiman und Liel bietet sich also an. Trotzdem lehnte die israelische Regierung im vergangenen Sommer den syrischen Vorschlag ab, die Verhandlungen auf einer offiziellen Ebene zu führen. Man wolle Präsident George W. Bush nicht verärgern, indem man Kontakte zu einem »Schurkenstaat« unterhalte, hieß es zur Begründung. Doch im politischen Establishment der USA gewinnen jene an Einfluss, die sich von Verhandlungen mit »Schurkenstaaten« mehr versprechen als von der bislang praktizierten Isolationspolitik. Syrien sei bereit, sich »ohne Vorbedingungen« an den Verhandlungen zu beteiligen, erklärte vor kurzem Riad Daoudi, ein hoher syrischer Regierungsberater. Man könne dann über alles reden, auch über die »syrischen Beziehungen« zum Iran und der Hamas. Bereits Ariel Sharon versuchte vergeblich, Bush davon zu überzeugen, dass die Demokratisierung der arabischen Länder erhebliche Risiken berge. Weder Ägypten noch Jordanien sind Demokratien, doch vielleicht ließ sich gerade deshalb mit beiden Ländern ein Friedensabkommen schließen. Ein vertrauter Diktator ist der israelischen Regierung immer noch lieber als eine demokratisch legitimierte, aber womöglich fundamentalistische und unberechenbare Regierung. Der Wahlsieg der Hamas hat diese Sichtweise nur noch bestärkt. | Michael Borgstede | Michael Borgstede: | [] | Ausland | 24.01.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/04/positiv-denken?page=0%2C%2C2 |
»Das beste Mittel für Betrug sind Wahlcomputer« | Wer kann garantieren, dass George W. Bush bei seiner ersten Wahl in Florida tatsächlich 537 Stimmen mehr erhielt als Al Gore? Dass im Jahr 2002 die SPD tatsächlich 6 027 Stimmen mehr errang als die CDU und infolgedessen beanspruchen konnte, den Bundeskanzler zu stellen? Dass Romano Prodis Mitte-Links-Bündnis den Vorsprung von 0,07 Prozent hatte, die genügten, um Silvio Berlusconi abzulösen? Könnten Wahlcomputer derlei Ungewissheiten verhindern? Der »Diskordische Evangelist« Tim Pritlove vom Chaos Computer Club teilt diese Einschätzung nicht. In seinem Weblog »The Lunatic Fringe« veröffentlichte er einen Text mit dem Titel »Wahlcomputer müssen sterben!« Mit ihm sprach Daniel Kulla. Nach der Diskussion über Wahlbetrug in Mexiko und vor den Wahlen im Kongo wird der Ruf nach »sicheren Wahlen« laut. Als Lösung gelten elektronische Mittel. Was halten Sie davon? Technik kann dazu beitragen, Prozesse transparenter zu machen oder zu beschleunigen. Bei Wahlen stellt sich allerdings die Frage, ob die Anwendung elektronischer Mittel nicht zu Lasten der Überprüfbarkeit geht. Dass Firmen hierin ein Geschäft sehen, macht die Sache nicht sicher und zuverlässig. Allein der Begriff »Wahlmaschinen« ist irreführend. Die Funktion einer Brotschneidemaschine ist leicht ersichtlich, die Funktionen eines Computers kann heute nicht mal ein Heer von Mitarbeitern von Intel zuverlässig nachvollziehen. Niemand kann ernstlich garantieren, dass ein Computer bei einer Wahl das tut, was man von ihm erwartet. Die Hersteller dieser Computer werben damit, dass sie den Vorgang vereinfachten, insbesondere bei schwierigen Verfahren wie dem Kumulieren oder Panaschieren, also der Stimmabgabe für einzelne Kandidaten einer Liste bzw. einzelne Kandidaten verschiedener Listen. Grundsätzlich ist die Stimmabgabe mit einem Stift und einem Kreuz an Einfachheit kaum zu überbieten. Jeder kann einen Bleistift führen und weiß, wie das klingt und wie es sich anfühlt. Das Ergebnis ist für jeden überprüfbar: ein Kreuz auf dem Papier. Und nicht nur der Wähler hat ein Feedback der Stimmabgabe, sondern jeder kann sich in seinem Wahlkreis – wie es beim Lotto so schön heißt – »vom ordnungsgemäßen Ablauf« überzeugen. Beim Computer ist das völlig anders. Der Tastendruck erzeugt zwar ein Feedback, aber keine Bestätigung, dass die Eingabe wirklich zur Kenntnis genommen wurde. Die Maschine mag das vorgaukeln, überprüfbar ist es nicht. Ließe sich dieses Problem nicht durch technische Verbesserungen beheben? Sicherlich lassen sich Teile des Vorgangs noch verändern, aber was ist denn überhaupt das Problem? Der Vorgang ist doch schon stark reduziert: Man wählt eine Partei oder einen Kandidaten mit einem Zettel, komplexere Formen der Zustimmung sind nicht vorgesehen. Ist nun mit diesem System irgendwas kaputt, was mit Computern repariert werden muss? Nein, im Gegenteil, Zeit und Geld sind gut investiert, wenn es ein nachprüfbares Resultat gibt. Vielleicht geht es aber nicht vorrangig um Vereinfachung für die Wählenden, sondern um eine Vereinfachung und Verbilligung. Der Einsatz von Computern macht einen Vorgang nicht unbedingt billiger. Computer ermöglichen Dinge, die es ohne sie nicht gäbe, zum Beispiel das Internet. Wahlen hingegen funktionieren auch ohne Computer. Dafür handeln wir uns eine neue Dimension von Manipulierbarkeit ein. Natürlich führen Stimmzettel zu geringen Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung. Wer aber das Gesamtergebnis beeinflussen will, muss an vielen Orten auf viele Menschen Druck ausüben, die wirklich etwas mitbekommen haben. Bei einem völlig digitalisierten Verfahren muss man gar keinen Druck ausüben, es reicht, auf die Technik zuzugreifen. Der zuständige Ausschuss des rheinland-pfälzischen Landtages hat eine Klage gegen den Einsatz von Computern mit der Begründung abgewiesen, dass es sich bei der Manipulation um einen bloßen Verdacht handelt und keine verstärkte Begünstigung von Manipulation nachgewiesen werden konnte. Durch die Umfragen vor den Wahlen ist vom Computer recht genau bestimmbar, wo sich Manipulation dank knapper Entscheidungen leicht durchführen lässt, also wenn nur wenige Stimmen manipuliert werden müssen. Auf diese Art wird der bloße Verdacht zerstreut, und es kommt gar nicht erst zur Überprüfung. Das beste Mittel für Betrug sind Wahlcomputer. Geprüft werden die Computer in Deutschland von wenigen Mitarbeitern der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, die sich gar nicht alle Komponenten vornehmen können. Von der Software ganz zu schweigen, die die Module dann ausliest, die Informationen weiterleitet, in Datenbanken überführt und schließlich das Ergebnis präsentiert. Überall können Fehler auftreten, da braucht es keine Absicht. Ist es auch ein bisschen Affekt, wenn du als Nerd gegen den Einsatz von Computern auftrittst? Ich sehe da keinen Widerspruch, da gerade der Chaos Computer Club von Anfang an unterschieden hat zwischen nützlicher und bedrohlicher Technik. Mit einem Baseballschläger kann ich Sport treiben oder Leute umbringen. Beim Computer ist nun nicht mehr jedem leicht begreiflich, wie Chancen und Risiken verteilt sind. Deshalb ist der Computerfreak in einer besonderen Verantwortung. Kann die Möglichkeit von Betrug auch ohne Einsatz von Computern reduziert werden? Es ist einfach kein technisches Problem. Ein systematischer Wahlbetrug, wie es ihn beispielsweise in Weißrussland gab, entsteht aus der gesellschaftlichen Situation. Gerade an dieser Möglichkeit der zentralen Kontrolle ändert sich durch Computer nichts. Du warnst in deinem Blog davor, dass mit dem Einsatz der Computer auch Hacker zur Manipulation ermuntert werden. Mit Hackern meine ich »Menschen mit hohem technischen Sachverstand«. Nehmen wir das Beispiel Spam-Mails, wo eine wechselseitige Aufrüstung stattfindet. Einerseits versucht man, sich dagegen zu schützen, auf der anderen Seite locken die schnell verdienten beträchtlichen Geldbeträge junge technisch Sachverständige, Umgehungen zu finden. Diesen Mechanismus können wir aus der Demokratie nur raushalten, indem wir auf den Einsatz von Wahlcomputern verzichten. Jenseits der parlamentarischen Prozedur werden derzeit auch die Möglichkeiten der direkten Demokratie im Internet diskutiert. Gibt es damit ähnliche Probleme? Die Beteiligung aller über das Internet ist ein romantisches Bild. Doch es verlangt auch die maximale Offenlegung der Identität und der Entscheidung. Das jetzige Wahlsystem erlaubt die weitgehend anonyme Stimmabgabe. Ich bezweifle, dass das im Internet auch garantiert werden kann. Es gibt nach fünfzehn Jahren noch immer keinen Bezahlstandard, an dem ja großes Interesse von allen Seiten besteht. Ich denke, vor den nächsten Schritten müssen wir Computer und Internet weiter ins Selbstverständnis der Gesellschaft einbeziehen. Das Internet ist ein Ort der Meinungsbildung. Gewählt werden sollte jedoch auf Papier. Ist das noch das diskordische Denken, das sich in anarchistischer Weise über den Parlamentarismus lustig macht? Mit der Wahl drücken wir das einzige dem Staatsbürger verliehene Recht in der Demokratie aus, nämlich darüber zu entscheiden, wer die Delegation erhält, politische Macht auszuüben. Die abgegebene Stimme ist der wertvollste Bestandteil der Demokratie. Diese Realität akzeptiere ich. Wenn diese Stimmabgabe nicht mehr überprüfbar ist, wird das Wesen der Demokratie zerstört. | Daniel Kulla | Daniel Kulla: | [] | Interview | 26.07.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/30/das-beste-mittel-fuer-betrug-sind-wahlcomputer?page=0%2C%2C1 |
Bier statt Schokolade | Und wenn man sich in der heutigen Welt auf nichts mehr verlassen kann, so doch auf die Reinheit der deutschen Biere. Bei Schokolade sieht es da schon anders aus. Waren seit den siebziger Jahren andere Fette als Kakaobutter in der guten alten Schoki verboten, so ist jetzt ein Fremdfettanteil von fünf Prozent erlaubt. Weil andere tropische Fette (zum Beispiel Kokosnußöl) nur ein Zehntel soviel kosten wie Kakaobutter, könnten mit diesem Beschluß die Exporte der afrikanisch-karibisch-pazifischen Länder um 200 000 Tonnen fallen. Als Entschädigung soll das Verbot dienen, Sonnenblumen- und Sojaöl zur Herstellung von Schokolade zu verwenden. Bleibt nur noch der Griff zur Flasche. | : | [] | Ausland | 07.07.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/27/bier-statt-schokolade?page=0%2C%2C3 |
|
Rechtsextremismus ist Regierungssache | Die Konferenz »Die Zukunft Europas« in Budapest, zu der unter anderem der Popstar der US-Rechten, Milo Yiannopoulos, eingeladen ist, wurde verschoben Während seines Besuchs bei der CSU-Landesgruppe am 5. Januar übte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán harsche Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik: In Europa hätten Spitzenpolitiker vielerorts nicht das gemacht, was das Volk gewollt habe; er hingegen habe die Grenzen geschützt. 2018 müsse zum »Jahr der Wiederherstellung des Volkswillens« werden. Orbáns Kritik richtete sich vor allem gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die regierungsnahe ungarische Medien gelegentlich als ehemalige jungkommunistische Agitprop-Politikerin bezeichnen. Dagegen lobte der ungarische Ministerpräsident die CSU und ihren Vorsitzenden Horst Seehofer. Um den sogenannten Volkswillen und den Grenzschutz soll es bald auch in Budapest gehen. Ursprünglich vom 23. bis 25. Januar sollte dort eine internationale Konferenz mit dem Titel »Die Zukunft Europas« stattfinden. Finanziert wird diese Veranstaltung unter anderem vom ungarischen Außenministerium. Organisator ist die »Öffentliche Stiftung für mittel- und osteuropäische Geschichts- und Gesellschaftsstudien«. Ihre Leitung wurde von der ungarischen Regierung eingesetzt, von der die Stiftung auch ihre Mittel erhält. Generalsekretärin ist die Orbán-Vertraute Mária Schmidt. Kurzfristig gaben die Veranstalter am Dienstag bekannt, die Konferenz erst im Mai abhalten zu wollen, also nach den ungarischen Parlamentswahlen im April. Die Veranstalter schreiben über die Konferenz: »Auf die vier Visegrád-Länder (Tschechien, Polen, Slowakei und Ungarn) wartet eine herausragende Rolle bei der Ausgestaltung der Zukunft unseres Kontinents.« Ganz im rechtsextremen Jargon bemitleiden sie sich selbst als Opfer des »Kampfs von Kulturen in Europa« und fragen: »Können die Zensur, die Brandmarkung Andersdenkender, der immer stärker werdende kulturelle Selbsthass besiegt werden? Wird Europa der neue Schmelztiegel werden? Opfern wir aus kulturellem Schuldbewusstsein oder aus purer Berechnung das Christentum, unsere Freiheit, unsere Lebensart?« Auf der Konferenz soll auch über »geopolitische Herausforderungen«, »die Zukunft der künstlichen Intelligenz« und »die Visegrád-Staaten als wirtschaftlicher Motor Europas« debattiert werden. Für große Aufmerksamkeit sorgte die Wahl des Hauptredners am Eröffnungstag: Der Blogger und Journalist Milo Yiannopoulos sollte eigentlich sprechen. Der britische Antifeminist, selbsternannte »rechte Bastard« und antimuslimische Kulturkrieger gelangte als Redakteur des rechtsextremen Nachrichtenportals Breitbart News zu einiger Berühmtheit. Im Oktober 2017 wurde ein E-Mail-Verkehr zwischen Yiannopoulos und seinen damaligen Breitbart-Kollegen bekannt, in dem der Journalist wiederholt auch Neonazis und Anhänger einer white supremacy um Ideen für Publikationen gebeten hatte. Im Oktober 2017 wurde ein E-Mail-Verkehr zwischen Yiannopoulos und seinen damaligen Breitbart-Kollegen bekannt, in dem der Journalist wiederholt auch Neonazis und Anhänger einer white supremacy um Ideen für Publikationen gebeten hatte.
Nachdem die Einladung von Yiannopoulos öffentlich geworden war, brach bei ungarischen Regierungsanhängern ein Sturm der Entrüstung los – nicht etwa wegen der politischen Ansichten des Referenten, die ja ganz auf deren Linie liegen, sondern wegen dessen sexueller Orientierung. Yiannopoulos lebt offen homosexuell. Zudem sagte er in einem Interview, sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Männern und 13jährigen Jungen könnten einvernehmlich sein. Das ist offenbar zu viel für das ungarische Publikum. Die Veranstalter nahmen das Programm der Konferenz vorläufig von ihrer Website, noch bevor sie diese auf Mai verschoben haben. Am zweiten Konferenztag soll den bisherigen Plänen zufolge der Soziologe Frank Furedi, einen Vortrag halten, der Autor des im August 2017 erschienenen Buchs »Populism and the European Culture Wars: The Conflict of Values between Hungary and the EU«. Er flüchtete nach dem gescheiterten Aufstand in Ungarn 1956 mit seinen Eltern nach Kanada und lebt seit 1969 in England, wo er an der Universität Kent lehrte. In den siebziger Jahren war er Gründer und Vorsitzender der trotzkistischen Revolutionary Communist Party. Zurzeit schreibt der emeritierte Professor für das britische Online-Magazin Spiked, auf dem rechtslibertären bis rechtspopulistischen Blog »Achse des Guten« veröffentlichte er Beiträge als Gastautor. Als er sich voriges Jahr längere Zeit in Budapest aufhielt, stellte Furedi auf seinem Blog fest: »Jegliche Äußerung nationaler Gefühle, nationalen Stolzes oder Bewusstseins wird heute von EU-nahen Medien als eine Form von Ausländerfeindlichkeit verurteilt. Nationale Identität wird als erster Schritt auf dem Weg zu Rassismus, Faschismus und schließlich zum Holocaust dargestellt.« Auf der Konferenz möchte er die ungarische Regierung »von einem liberalen Standpunkt aus« verteidigen. Am selben Nachmittag soll nach bisherigem Informationsstand auch Götz Kubitschek, der Leiter des rechtsextremen Verlags Antaios, Herausgeber der Zeitschrift Sezession, Ideologe der deutschen Neuen Rechten und Freund der AfD, einen Vortrag über »Migration, Ansiedlung und die Zukunft« Europas halten. Zudem sollen der ungarische Außenminister Péter Szijjártó und Tamás Deutsch, ein Europaabgeordneter der ungarischen Regierungspartei Fidesz, auf der Konferenz sprechen. Deutsch ist als Referent zum Thema »künstliche Intelligenz« vorgesehen – ungarische Regierungskritiker sagen scherzhaft, künstliche Intelligenz sei angesichts seines Mangels an Verstand die einzige Hoffnung des Politikers. Die Einladung Rechtsextremer wie Kubitschek und Yiannopoulos sowie eines Soziologen wie Furedi, der rechtspopulistische Thesen verbreitet und die rassistische und antisemitische Politik der ungarischen Regierung verteidigen möchte, zeigt erneut, wie es um deren Politik tatsächlich steht. Lange Jahre hat die Fidesz-Regierung Partnern im Ausland eingeredet, sie sei der Garant dafür, dass die rechtsextreme Partei Jobbik nicht an die Macht gelange. Doch in dieser Zeit wurde Fidesz selbst rechtsextrem, während Jobbik versucht, ihr rechtsextremes Erscheinungsbild zu schönen. Im April soll in dem Land ein neues Parlament gewählt werden. Fidesz führt einen permanenten Wahlkampf unter anderem mit der Fortsetzung der antisemitischen Kampagne gegen den Investor George Soros, dem unterstellt wird, jährlich eine Million Flüchtlinge nach Europa bringen zu wollen. Wie auch immer die Wahl ausgehen wird: Die Konferenz passt zur Stimmung im Land. | Karl Pfeifer | Karl Pfeifer: In Ungarn will eine regierungsnahe Stiftung mit prominenten Rechtsextremen konferieren | [
"Ungarn",
"Milo Yiannopoulos",
"Neue Rechte"
] | Antifa | 11.01.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/02/rechtsextremismus-ist-regierungssache |
Das kleinere Übel siegt heimlich | Am vergangenen Freitag votierte das russische Parlament dann doch für das kleinere Übel und wählte Sergej Kirijenkow zum Ministerpräsidenten. Angesichts der Drohung von Präsident Boris Jelzin, im Falle einer dritten Ablehnung seines Kandidaten die Duma aufzulösen, stimmten nur 25 der insgesamt 450 Abgeordneten gegen Kirijenkow. 251 bestätigten den Jelzin-Zögling, alle übrigen glänzten durch Abwesenheit. Die Kommunistische Partei wie die liberale Jabloko-Fraktion boykottierten die Abstimmung, nachdem ihr Antrag auf einen offenen Urnengang zuvor abgelehnt worden war. Bei den ersten beiden Abstimmungen, bei denen die Kirijenkow-Gegner eine deutliche Mehrheit verzeichneten, war offen abgestimmt worden. | : | [] | Ausland | 29.04.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/18/das-kleinere-uebel-siegt-heimlich?page=0%2C%2C2 |
|
Kanu in Turbulenzen | Das südafrikanische Parlament verabschiedete im vergangenen Jahr 80 Gesetze, in Sambia waren es immerhin 40. Die Abgeordneten Kenias dagegen stimmten nur über zehn Gesetze ab. »So viel Freizeit wie die Parlamentsmitglieder genießen, ist nicht notwendig«, kritisierte Zachary Ogongo, Mitglied eines Tribunals, das die Arbeitsbedingungen der Abgeordneten untersucht. Zu dessen Empfehlungen, die am Dienstag vergangener Woche veröffentlicht wurden, gehört die Verdopplung der Sitzungsdauer auf drei Tage pro Woche. Allerdings ist der mangelnde Eifer bei der Gesetzgebung nicht allein eine Frage der Arbeitsmoral. Die seit der Unabhängigkeit von 1963 regierende Partei Kanu hat auch nach der Abschaffung des Einparteienstaates im Jahr 1991 versucht, die politische Bedeutung des Parlaments gering zu halten. Ihre Führung ist dafür bekannt, sich neben der gewaltsamen Verfolgung von politischen Gegnern auch vorzüglich auf deren Kooptation zu verstehen. Doch was im März dieses Jahres zu einem vorläufigen Ende gebracht wurde, wird wohl als Glanzstück des aus dem Amt scheidenden Präsidenten Daniel Arap Moi und seiner Entourage in Erinnerung bleiben: Die National Development Party (NDP), 1997 als zweitstärkste Oppositionspartei ins Parlament gewählt, erklärte ihre Selbstauflösung und trat geschlossen in die Kanu ein. Raila Odinga, ihr ehemaliger Vorsitzender, der in den achtziger Jahren ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis saß, fungiert jetzt als Generalsekretär der New Kanu. Die perfekt inszenierte Vereinigung formalisiert die seit einigen Jahren bestehende Zusammenarbeit. Bereits im Juni 2001 stiegen Odinga und ein weiterer Funktionär der NDP zu Ministern unter Moi auf. Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Ende dieses Jahres setzt nun das Gerangel um die lukrativsten Regierungsposten ein. Als Hauptpreis winkt das Amt des Staatsoberhauptes. Die Kanu hat allen Grund, einige ihrer ehemaligen Widersacher ins Boot zu holen. Mit der langsamen, aber stetigen wirtschaftlichen Talfahrt verschlechtern sich die Lebensbedingungen für den Großteil der Bevölkerung. Die ohnehin horrende Einkommenskluft zwischen wenigen Spitzenverdienern und vielen Armen vergrößerte sich seit Anfang der achtziger Jahre weiter. Korruption im großen Stil, vor allem in Verbindung mit der Privatisierung staatlicher Unternehmen, faule Kredite der einheimischen Banken und die nur unwillig vorangetriebene ökonomische Liberalisierung zogen seit Anfang der neunziger Jahre immer wieder Kreditsperren der internationalen Finanzorganisationen nach sich. Fallende Erlöse aus landwirtschaftlichen Exporten und der Abschwung im Tourismussektor beschleunigen den Niedergang der Wirtschaft. Entsprechend unpopulär ist das Regime bei denjenigen, die aus dem weit verzweigten Patronagenetz der Kanu herausfallen und nicht in den Genuss klientelistischer Zuteilungen kommen. Bereits bei den Wahlen von 1992 und 1997 konnte sich die Partei nur mit Hilfe von gewaltsamen Umsiedlungen, der Repression durch private Milizen und dank einer zersplitterten Opposition an der Macht halten. So genannte ethnische Auseinandersetzungen in der Provinz Rift Valley wurden in der Vergangenheit nach Einschätzung von Menschenrechtlern von Teilen der Staatsklasse angezettelt. Einflussreiche Politiker - vor allem, aber nicht ausschließlich aus den Reihen der Regierungspartei - rekrutieren Milizen aus der ständig anwachsenden Schar perspektivloser junger Männer der städtischen Slums. Die Schlägertrupps mit Namen wie Taliban, Bagdad Boys oder Jeshi la Mzee (Armee des weisen Alten) terrorisieren und töten politische Opponenten, stören Wahlveranstaltungen und verwandeln ganze Regionen in »No-Go-Areas«. 18 dieser Gangs verbot kürzlich eben die Regierung, deren Mitglieder für die informelle Militarisierung verantwortlich gemacht werden. »Peace, Love and Unity« verspricht die Kanu auf ihrer Website. Doch trotz einer betont nationalen Rhetorik ist die Politik in Kenia seit der Unabhängigkeit in hohem Maße ethnisiert. So wird die Vereinigung der Kanu und der NDP nicht als opportunistisches Machtstreben regionaler Eliten, sondern als Block gegen die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe, die Kikuyu, interpretiert. Bewohner der westlichen Landesteile wählten 1997 überwiegend die NDP. Die alte Kanu konnte vor allem auf die Unterstützung etlicher unter der Bezeichnung Kalenjin zusammengefasster kleinerer Bevölkerungsgruppen, der Luhya sowie der Einwohner des Nordwestens und der Küstenregion zählen. Auch bei der verbliebenen Opposition bestimmt, unter umgekehrten Vorzeichen, die Sorge über ethnische Befindlichkeiten das Bild. Zwar einigten sich drei größere Parteien kürzlich auf die Formierung einer Nationalen Allianz für den Wandel (NAC). Doch bei der Besetzung des gemeinsamen Schattenkabinetts wurden der oppositionsnahen Tageszeitung Daily Nation zufolge vor allem diejenigen berücksichtigt, die nicht aus den regionalen Hochburgen der Parteien kommen. »Qualifikation, Sachverstand, Kompetenz, Erfahrung oder Eignung für eine spezielle Aufgabe spielen keine Rolle«, heißt es in einem Kommentar, der überschrieben ist: »Keine Partei kann dem Balanceakt entgehen.« Die außerparlamentarischen Gegner des Regimes Moi sind vor allem mit der Diskussion konstitutioneller Fragen im Rahmen einer derzeit laufenden Verfassungskonferenz beschäftigt. Seit 1991 wurden zahlreiche Nichtregierungsorganisationen gegründet. Sie sind jedoch stark von Zuwendungen ausländischer Spender abhängig und kaum in der Bevölkerung verankert. Der zentrale Gewerkschaftsverband Cotu konnte sich von der staatlichen Bevormundung bis heute nicht lösen. Kritik aus Washington, Brüssel, London oder Berlin muss der seit 24 Jahren regierende Moi im Gegensatz zu anderen afrikanischen Autokraten derzeit kaum fürchten. Denn zum einen gilt das repressive Regime angesichts des kompletten Zusammenbruchs staatlicher Strukturen in Ländern wie Somalia und Kongo-Kinshasa sowie der Massenmorde in Ruanda und Burundi mittlerweile wieder als Hort der Stabilität. Zum anderen ist Kenia ein nur schwer zu ersetzendes Aufmarschgebiet für einen möglichen Militäreinsatz gegen in Somalia vermutete Terroristencamps. Anfang Februar nahmen 3 300 Marinesoldaten der USA an einer Militärübung an der kenianischen Küste teil. Ein Teil von ihnen ist in den US-Basen in Kenia stationiert. Auch 160 deutsche Marineflieger befinden sich mit drei Seefernaufklärern in Mombasa. Sie sollen den größten Marineeinsatz Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützen, der momentan am Horn von Afrika stattfindet. Dort patrouilliert ein deutscher Flottenverband aus drei Kriegsschiffen, Schnellbooten und Versorgern mit 1 800 Bundeswehrsoldaten. Die Regierungsallianz kann sich unter diesen Bedingungen berechtigte Hoffnungen auf den Machterhalt machen. Die Voraussetzung ist allerdings, dass sie bis zu den Wahlen überlebt. Denn innerhalb der Partei sind altgediente Veteranen aus den Tagen des Einparteienstaates bereits in Aufruhr. Sie fürchten wohl nicht ohne Grund, von den aufstrebenden Neulingen der NDP und einer als »young turks« bezeichneten Gruppe meist 40jähriger Aufsteiger von Mois Gnaden an den Rand gedrängt zu werden. Dem weise Alte wird das nicht ungelegen kommen. | Ruben Eberlein | Ruben Eberlein: Wahlkampf in Kenia | [] | Ausland | 30.04.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/18/kanu-turbulenzen?page=0%2C%2C0 |
Der Sport zum Jägerzaun | Meine Freunde haben eine Kegelbahn in Berlin-Wedding reserviert. Ausgerechnet Kegeln, der Sport zum Jägerzaun und Dackel. Höre ich das Wort »Bundeskegelbahn«, denke ich unwillkürlich an die holzgetäfelte Vereinsheimspießigkeit der westdeutschen Nachkriegszeit. Leider kannten die Freunde mein dunkles Geheimnis: Ich war als Kind mal in einem Kegelverein. Da war ich so um die zehn Jahre alt. Ein Schulfreund hatte mich mitgenommen und mir hatte es tatsächlich Spaß gemacht. Das war wirklich bemerkenswert, wenn ich bedenke, dass ich zu denjenigen Menschen gehöre, die Sportunterricht hassten und bis heute mit jeder Art von Sportlichkeit auf dem Kriegsfuß stehen. Die Kegelbahn meiner Kindheit befand sich in einem freundlichen, modernen Gebäude, das gar nichts von der eingangs erwähnten Miefigkeit hatte. Wir kamen einmal die Woche, wechselten in unsere Sportklamotten und ließen uns von unserem Jugendtrainer die Technik erklären: drei Schritte Anlauf, sowas ähnliches wie eine halbe Hocke, damit der ausgestreckte Arm knapp über dem Boden ist und die Kugel möglichst gerade auf die schmale, gewölbte Bahn setzen kann. Ich glaube, mir hatte das damals deshalb gefallen, weil ich offiziell behaupten konnte, dass ich einen Sport ausübe, der sich für mich gar nicht wie Sport und die damit einhergehenden Zumutungen und Erniedrigungen anfühlte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in dem Verein Mitglied war (nicht sehr lange), und überhaupt erinnere ich mich nicht mehr an besonders viele Details, außer dass ich beim Weihnachtskegeln Vereinsmeister im Liegestütz-Kegeln wurde und einen Fußball mit den Autogrammen der damaligen Fußballnationalmannschaft gewann, der mir wenig später geklaut wurde. Als ich ihn zurück bekam, war er abgewetzt und wertlos, weil damit gebolzt worden war. Ein Fußball hatte mir das Herz gebrochen. Und ich lernte, dass es Vorteile für den Seelenhaushalt hat, sich emotional nicht dem Fantum hinzugeben.
Zum Glück gibt es beim Kegeln keine Fans oder gar Hooligans, dafür aber einen Verein mit Kegelbahn in jedem Dorf. Ab der Kreisstadt aufwärts ist es dann meist eine »Bundeskegelbahn«, was bedeutet, dass die Bahn genormt und von Sachverständigen abgenommen wurde, so dass sich Turniere auf ihr spielen lassen. Außerdem gibt es dann Umkleiden und Duschen, schließlich geht’s um Sport.
Umgekleidet oder nicht, die Deutschen lieben das Kegeln wie ihre Klassik – schließlich waren bereits Goethe und Schiller begeisterte Kegler. Wann und wo genau der Sport erfunden wurde, ist unklar, aber die ältesten Darstellungen sind über 5 000 Jahre alt und stammen aus Ägypten. Kultiviert wurde das Kegeln hierzulande aber erst im Mittelalter – und dann auch gleich wieder verboten, da es beim Kegeln weniger um den Sport ging als um die Wetten, die sich darüber abschließen ließen: Kegeln war vor allem ein Glücksspiel, bei dem die Teilnehmer sich um eine Menge Geld bringen konnten. Jahrhundertelang kam kein Jahrmarkt ohne Kegelbahn aus. Und Mönche, denen das Spiel eigentlich verboten war, kultivierten es als »Heidentöten«, bei dem die Kegel für Götzen und Dämonen standen, die es umzulegen galt.
Das ging so, bis die Gründerzeit kam und die Leute anfingen, für praktisch jede bekannte Sportart Vereine zu gründen, wie wir sie heute kennen. Wetten werden beim Kegeln seit damals keine mehr abgeschlossen, stattdessen gibt es heutzutage eine Bundesliga, die Turniere austrägt. Mehr als 170 000 Mitglieder hat der Deutsche Kegler- und Bowlingbund, der dieses Jahr ein rundes Jubiläum feiert: 130 Jahre Vereinskegeln in Deutschland. Während beim Spitzensport Mannschaften von sechs Personen auf mehreren Bahnen gegeneinander antreten und Punkte in langen Tabellen sammeln, bis ein Meister gekürt ist, geht es beim Freizeitkegeln mehr um Spaß – und der darf gerne derbe sein. Beliebt ist dort das Figurenkegeln: Die Kegel sind rautenförmig aufgestellt und wenn ganz bestimmte Kombinationen stehenbleiben, gibt das besonders viele Punkte oder zumindest eine Runde Schnaps. Bleibt beispielsweise nur der allervorderste Kegel stehen, nennt sich das ein »Pastörchen«. Bleiben alle stehen außer demjenigen genau in der Mitte, so handelt es sich um einen »Königsmord«. Und wer es schafft, genau so zu kegeln, dass nur die beiden vorderen Flanken der Raute stehen bleiben, hat einen »Kackstuhl gebaut«.
Zurück in den Wedding: Da stehen wir also und ich werde das erste Mal seit mehr als 30 Jahren kegeln. Die Bahn ist im Keller einer Kneipe, es riecht nach kalter Asche und schalem Bier. An der Wand hängt ein Hirschgeweih und wir werden im Verlauf des Abends das Bild komplettieren, indem wir Biertisch und Aschenbecher zum Überquellen bringen. Schon ist es wieder da, dieses Gefühl, einen Sport zu treiben, der sich nicht wie Sport anfühlt. Und in unserem Fall auch wenig mit Sport zu tun hat. Mit einer Hand oder mit beiden Händen, mit viel und wenig Anlauf oder einfach aus dem Stehen rollen meine Freunde ihre Kugeln, bis ich an der Reihe bin und versuche, mich an die vor vielen Jahren erlernten Bewegungsabläufe zu erinnern. Das ist gar nicht so einfach, unter anderem, weil mir die Anlaufstrecke viel zu kurz vorkommt. Schließlich bin ich kein Steppke mehr, sondern einsachtzig. Verstohlen beobachte ich die andere Gruppe auf der Bahn nebenan, die gottseidank genauso lächerlich performt wie wir. Die Kegelbahn scheint ein Ort zu sein, wo man sich hemmungslos zum Horst machen kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.
Um es kurz zu machen: Meine Freunde holen mit ihrem Dilettanten-Freestyle schamlos und fröhlich viele Punkte, während ich vollkommen ablose. Im krampfhaften Bemühen, auch ja die richtige Technik anzuwenden, setze ich die Kugel immer wieder in die Rinne. Und ein schöner Drall will mir überhaupt nicht gelingen. Entweder ich werfe die Kugel mit zuviel Wucht, so dass sie glatt durchschlägt und nur wenige Kegel mitnimmt, oder ich werde zu vorsichtig, wodurch die Kugel zu lasch einschlägt. Dabei wirft sie zwar mehr Kegel um, kann aber keine Kettenreaktion mehr auslösen. Ändere ich den Winkel, landet die Kugel in der Seitenrinne. Es ist zum Haareraufen.
Aber hey: Dazu gibt’s Bier. Das hilft, langsam gewinne ich ein Gefühl für die Bahn und werde allmählich besser. Reihum kegeln wir, während ein Bier nach dem anderen geleert wird und der Raum irgendwann zugequarzt ist. Ob wir dabei einen »Königsmord« begehen oder einen »Kackstuhl« bauen, weiß ich gar nicht. Ich kann nicht drauf achten, weil ich eine Mission habe und das Feld langsam von hinten aufrolle. Hätten wir nur eine Runde mehr gespielt, hätte ich garantiert den Abend gewonnen (Standardspruch), schließlich hatten meine Freunde ja nur Anfängerglück. Am Ende bin ich aber nur Dritter. Während wir beratschlagen, wann wir die Bahn das nächste Mal mieten oder ob wir nicht doch lieber Bowling ausprobieren möchten, beschleicht mich ein gruseliges Gefühl. Das hat richtig Spaß gemacht. Muss ich jetzt Angst haben, dass doch noch Doppelhaushälfte, Dackel und Jägerzaun auf mich warten? Oder wird – gar nicht unwahrscheinlich – Kegeln der nächste große Hipstertrend in Berlin? Dann denke ich an »The Big Lebowski«: Ja, Kegeln kann genauso cool sein wie Bowling, und dazu lecke ich erotisch an der Kugel. | Enno Park | Enno Park: »Ausprobiert«, Teil 5: Kegeln | [] | Sport | 12.03.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/11/der-sport-zum-jaegerzaun |
Der Charme der Inquisition | Am 5. Januar demonstrierten die Studenten der Teheraner Universität für die Verbesserung ihrer sozialen Lage und demolierten die Fensterscheiben eines studentischen Wohnhauses. Auch Stimmen des Protestes wurden laut, die ein Ende der herrschenden Despotie im Land forderten. Das islamische Regime habe Millionen für die Konferenz der islamischen Länder (OIC) ausgegeben, könne aber die elementaren Bedingungen eines studentischen Lebens nicht gewährleisten, geschweige denn die sozialen Probleme der Gesellschaft lösen. Der iranische Präsident Chatami vermag der Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht mehr durch prosperierende wirtschaftliche Verhältnisse entgegenzuwirken. Er weiß um die Gefahren, die eine konsequente US-Politik für die Diktatur der islamischen Republik bringen könnte. Das Stichwort der US-Strategie heißt (noch) "double containment", Eindämmung des Iran und des Irak. Chatami kennt auch die möglichen Folgen, die eine strikte Einhaltung des D'Amato-Gesetzes mit sich bringen könnte. Dieses vom US-Kongreß beschlossene Gesetz sieht wirtschaftliche Sanktionen gegen Firmen vor, die Investitionen von mehr als 40 Millionen Dollar in Iran und Libyen tätigen. Nach US-Gesetzgebung sind die Sanktionen gegen den französischen Konzern Total, der einen Zwei-Milliarden-Dollar-Gasdeal mit den Mullahs abschloß, noch offen. Dies ist ein deutliches Anzeichen für den US-europäischen Handelskrieg, den iranische Politiker zu nützen wissen. Lediglich die Stabilisierung der Wirtschaft kann die Mullahdiktatur retten, und warum nicht mit dem Teufel verhandeln, wenn es um den eigenen Vorteil geht, dachte sich schon Khomeini. Im übrigen hatte die Clinton-Administration laut NZZ vom 10. Januar Chatami unmittelbar nach seiner Wahl Gesprächsangebote über den Schweizer Botschafter in Teheran unterbreitet. Die Ergebnisse der Islamischen Weltkonferenz zeitigen eine gute Zwischenbilanz, um die Machtposition des Iran in der islamischen Welt auszubauen. Die sogenannten Hardliner im Iran, die eine kulturelle "Verwestlichung" der Gesellschaft verhindern wollen, aber eine gelenkte kapitalistische Entwicklung befürworten, wissen, daß Chatami letztlich auch ihre Interessen verteidigen wird. Immerhin hat Chatami in seiner Zeit als Kulturminister (1982 bis 1992) die Islamisierung, d.h. die Säuberung der gesamten iranischen Gesellschaft aktiv vorangetrieben. Um die akuten Schwierigkeiten in der Wirtschaft zu bewältigen, ist das Mullahregime auf den Ausbau von Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland angewiesen. Das größte Hindernis auf diesem Wege aber ist die gegenwärtige US-Politik. Eine Normalisierung der iranisch-amerikanischen Beziehungen wird somit zur Grundvoraussetzung einer ungestörten Wirtschaftsentwicklung des iranischen Staates. Höchste Zeit also für Chatami - der von der westlichen Presse als große Reformhoffnung aufgebaut wird, während Politik und Wirtschaft nach dem Öl und einer Öffnung des iranischen Marktes lechzen - versöhnliche Signale über den großen Teich zu senden. Und deshalb stoppen die sogenannten Hardliner, die sonst schnell zur Lynchjustiz greifen, ihren freundlichen Kampfgenossen Chatami auch nicht, wenn er, wie vergangene Woche, im "kulturimperialistischen" TV-Sender CNN spricht, wo er zudem der Unabhängigkeitserklärung der USA Respekt erwies - um zu verdeutlichen, daß seine religiöse Diktatur ebenfalls respektiert werden müsse. Chatami bediente sich des persischen Taarof, d.h. Höflichkeitsfloskeln. Er nutzte CNN, um die US-Bevölkerung mit Engelszungen anzusprechen und sich so vermittelt an die Politiker des "großen Satans" zu wenden. Schon Khomeini traf gerne die Unterscheidung zwischen Volk und Regierung, um im übrigen zu versichern, daß es um die Macht im Gottesstaat gehe und nicht um Gott. Nun spricht Chatami von einem "Dialog zwischen Zivilisationen und Nationen" - als ob nicht kürzlich laut der iranischen Nachrichtenagentur Irna ein Importeur von Satellitenschüsseln verhaftet und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden wäre. Chatami schlägt vor, das Modell der deutsch-iranischen Beziehungen - Kinkels und Schmidbauers sogenannten kritischen Dialog - als Vorbild für eine Normalisierung der Beziehungen zu nehmen. Als ob die gezielte Hinrichtung von über 100 Persönlichkeiten im europäischen Ausland und der Türkei, die Ermordung von Tausenden von Oppositionellen, Zwangsverschleierung, Vielehe und Zeitehe, das Gesetz der Apostasie, d.h. das Recht zur Ermordung von Menschen, die keine Muslime mehr sein wollen, nicht zu den großen Kulturleistungen des Mullahregimes gehörten. In dem CNN-Interview sagt er auch noch, daß Menschen, die an den Koran glauben, nie in Morde an Unschuldigen verwickelt sein können. Ohne es auszusprechen, rechtfertigt er damit die Morde an den iranischen Oppositionellen im Berliner Restaurant Mykonos, zu deren Urhebern der religiöse Führer Chamenei und verschiedene Minister gehören. Allein, solche "Feinheiten" halten Kinkel und Co. nicht davon ab, an einer Neuauflage des "kritischen Dialogs" zu arbeiten. | Wahied Wahdat-Hagh | Wahied Wahdat-Hagh: | [] | Ausland | 15.01.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/03/der-charme-der-inquisition?page=0%2C%2C2 |
Um Würste herum | Will man, nur weil man sich gerade in Südwestfalen aufhält, sein straffes Sportprogramm unterbrechen? Die Antwort ist natürlich ein klares Nein. Also mache ich mich kundig, arbeite einen Plan aus und packe meine Schwimmsachen: Donnerstag, 17 bis 18 Uhr Damenschwimmen (ab 16 Jahre). Ich betrete die Schwimmhalle um 16.55 Uhr. Irgendetwas ist anders als sonst. Es dauert einen Moment, bis ich weiß, was es ist: Der Geräuschpegel stimmt, aber nichts bewegt sich. Etwa 40 nicht mehr ganz junge Damen befinden sich im Becken und betreiben Aqua-Standing. Ich nähere mich langsam dem Becken, steige vorsichtig ins Wasser, um nicht zu viele Wellen zu machen. Die Schwimmbrille baumelt um meinen Hals, die einzige ihrer Art im ganzen Raum. Das Becken ist klein, 25 Meter Länge inklusive Nichtschwimmerbereich, der durch ein Seil abgetrennt ist, zehn Meter Breite. Die Frauen, die sich nicht am Beckenrand oder im Nichtschwimmerbereich unterhalten, paddeln unmerklich auf bunten Schaumstoffwürsten umher, mit denen sie jeweils eine Gesamtbreite von etwa zwei Metern erreichen. Fünf von ihnen könnten somit das Becken komplett sperren. In der Regel treiben aber Zweier- bis Vierergrüppchen durch die kaum bewegten Fluten, besprechen die jüngsten und die kommenden Arztbesuche und recken die bemützten Köpfe so weit wie möglich aus dem Wasser. Ich überlege, ob ich den Belegungsplan des Schwimmbads richtig gelesen habe. Hieß es dort wirklich »ab 16 Jahre«? Nicht etwa »ab 60 Jahre«? Oder bezog sich die Altersangabe auf die Bademützen? Sobald ich meine Schwimmbrille aufsetze und ein paar Züge schwimme, komme ich mir vor wie Franziska van Almsick. Pfeilschnell scheine ich mich durchs Wasser zu bewegen, jedoch immer wieder jäh gestoppt von Barrieren aus Damenkörpern und Schaumstoffwürsten. Sie lassen mich nicht durch, treiben mich in Sackgassen. Stop & Swim. Erhöhtes Damenaufkommen auf den nicht vorhandenen Bahnen. Immer wieder stoße ich gegen ein Damenbein. Meine Rüpelei ist mir peinlich, ich versuche, hinter der Chlorbrille freundlich zu lächeln, um das erschrockene Gesicht vor mir zu beruhigen. Die Verzweifelung treibt mich an den Beckenrand. Ich überlege, ob ich meiner Qual ein Ende bereiten soll, will dann aber doch noch nicht aufgeben. Schließlich fällt mir auf, dass nach mir keine weitere Dame das Bad betreten hat. Und dass es nach einer halben Stunde merklich leerer wird. Ich schöpfe Hoffnung; die Strecken, die ich ungehindert schwimmen kann, werden länger. Um 17.35 Uhr ist noch eine Handvoll Bademützen im Wasser, die Schaumstoffwürste stapeln sich am Beckenrand. Fünf Minuten später plaudert nur noch eine Dame mit dem Bademeister, ich habe alles für mich, bin glücklich, fühle mich wie ein Fisch im Wasser. Naja, fast. Zum Schwimmen ist das Wasser nämlich eigentlich viel zu warm. Und überhaupt ist die Freude kurz. Um 17.45 Uhr werde auch ich freundlich aufgefordert, das Becken zu verlassen, weil der Schwimmverein, der ab 18 Uhr dran ist, nicht nur das Wasser, sondern auch die Umkleidekabinen für sich haben soll. Andere Bäder, andere Sitten. regina stötzel | Regina Stötzel | Regina Stötzel: | [] | Sport | 22.10.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/43/um-wuerste-herum?page=0%2C%2C1 |
Auf der Suche nach der Augenhöhe | »Wir sind viele, Hunderttausende, vielleicht Millionen.« Aussagen solcher Art sind derzeit eher von Rechten und Rechtsextremen zu hören. So wollen diese die Mehrheit für sich ausrufen und neue Anhänger gewinnen. Die AfD erzielte zwar nicht die Mehrheit, aber immerhin hohe Wahlergebnisse. Ein weiteres Indiz für die derzeitige rassistische Stimmung in erheblichen Teilen der Bevölkerung ist die Zahl rechtsextremer Propagandadelikte und Gewalttaten, die im Jahr 2015 bundesweit den bislang höchsten Stand erreichte. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, trafen sich am vergangenen Wochenende Dutzende Flüchtlingsinitiativen im rechten Vorzeigebundesland Sachsen. Im Einladungstext hieß es: »Wir sind viele, Hunderttausende, vielleicht Millionen.«
»Die zahlreichen Willkommensbewegungen haben die Menschen in einer Größenordnung aktiviert, die es seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat«, sagte Johnny Butzmann. Er gehört zu dem Initiativkreis, der den Kongress »Welcome 2 Stay« in Leipzig veranstaltete. Diesen Menschen, die Butzmann dem »gesellschaftlichen Lager der Solidarität« zurechnet, sei es jedoch seit dem vergangenen Jahr – in dem je nach Blickwinkel der »Sommer der Migration« oder der Höhepunkt der »Flüchtlingskrise« stattfand – nicht gelungen, gemeinsame politische Handlungsmöglichkeiten zu finden. »Diese Sprachlosigkeit, Zersplitterung und Handlungsunfähigkeit wollen wir überwinden.«
Zahlreiche Vertreter von Organisationen aus ganz Deutschland und darüber hinaus waren angereist, darunter Hilfs- und Beratungsinitiativen, klassische NGOs und Antira-Gruppen sowie Vertreter der Partei »Die Linke« wie Katja Kipping. Die Veranstalter zählten am Ende etwa 800 Teilnehmer. Einen Schwerpunkt bildete die Frage, wie Flüchtlinge besser in die Lage versetzt werden könnten, ihre Interessen selbständig zu artikulieren und in die öffentliche Debatte einzubringen. Soll beispielsweise in deutschen Talkshows über Anschläge auf Asylunterkünfte gesprochen werden, nehmen Migrationsforscher oder gar AfD-Politiker auf dem Podium Platz, selten jedoch Flüchtlinge. Auch in kleineren Diskussionsrunden ist dies regelmäßig zu beobachten.
Elias Perabo von »Adopt a Revolution« beklagte auf dem Kongress etwas anderes: »Die Leute kommen hochpolitisiert in Deutschland an und stoßen hier auf ein bürokratisches System, das sie entpolitisiert.« Von vielen Flüchtlingen auf den Podien und in den Workshops wurde das bestätigt. Bevormundende Gesetze, die etwa die Reise- und Partizipationsmöglichkeiten stark einschränken, führten zu einer solchen Entpolitisierung.
Ein aus dem Irak geflohener Mann, der sich seit neun Monaten in Deutschland aufhält, machte zudem auf sprachliche Barrieren aufmerksam, die viele seiner Bekannten auch von einem Besuch des Kongresses abgehalten hätten. Er selbst habe bislang noch keinen Deutschkurs besuchen können, obwohl er es wolle. Problematisiert wurden auch die Abhängigkeitsverhältnisse in vielen sogenannten Willkommensinitiativen. Asylsuchende haben dabei im Verhältnis zu den finanziell und rechtlich bessergestellten Unterstützern oftmals den Status von Hilfsempfängern. Perspektivisch müsse sich dies ändern, sagte ein Mann, der sich über ein Jahrzehnt lang auf der Flucht befand. »Wir wollen mit den Willkommensinitiativen in gegenseitigem Respekt und auf Augenhöhe zusammenarbeiten.«
Viele Diskussionen liefen an diesem Wochenende unter dem Stichwort »Vernetzung«, so etwa in einem gemeinsamen Workshop der Leipziger Gruppe »Antifa Klein-Paris« und der überregionalen Bündnisse »Aufstehen gegen Rassismus«, »Blockupy« und »Nationalismus ist keine Alternative« (Nika). Die letztgenannte Gruppe beteiligte sich Anfang Mai an den Protesten gegen den Bundesparteitag der AfD in Stuttgart und den Neonaziaufmarsch der Kleinstpartei »Der III. Weg« in Plauen. Dabei war zunächst umstritten, wer Teil antirassistischer Bündnisse sein könne, wenn diese nicht ihre Glaubwürdigkeit verlieren wollen. Während es sich bei Nika um eine Antifa-Kampagne handelt, beteiligen sich bei »Aufstehen gegen Rassismus« auch Personen und Gruppen aus dem bürgerlichen Milieu. Für Beobachter dieses Workshops schälte sich am Ende eine mehrheitsfähige Sichtweise heraus: Der Protest dürfe sich nicht nur gegen AfD und Pegida richten, sondern müsse auch die rassistische Gesetzgebung und deren Unterstützung durch etablierte Parteien adressieren.
Sonstige gemeinsame Forderungen wurden auf dem Kongress in Leipzig nicht beschlossen. Für Anfang September ist ein zweites Treffen in Berlin angesetzt. Für das betreffende Wochenende plant auch »Aufstehen gegen Rassismus« eine Demonstration gegen die AfD. Ob sich radikale Linke und engagierte Bürgerliche auf eine gemeinsame Strategie zur Stärkung von Flüchtlingen und gegen die rechte Offensive einigen können, dürfte sich auch an diesem Termin zeigen. | René Loch | René Loch: Der Kongress „Welcome 2 Stay“ in Leipzig | [] | Inland | 16.06.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/24/auf-der-suche-nach-der-augenhoehe?page=0%2C%2C0 |
Der Adelstitel des Bürgertums | Es war schon im Terminkalender eingetragen: Am kommenden Dienstag eröffnet Bildungs- und Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) in Köln die Didacta eröffnen. Ihre Rede versprach einigen Unterhaltungswert. In diesem Jahr wurde als einer der Schwerpunkte der europaweit größten Bildungsmesse angekündigt: »Abschreiben unerwünscht! Wissenschaftliches Fehlverhalten in Hochschule und Schule«. Mit ihrem Rücktritt am Samstag hat sich Schavan diese Peinlichkeit erspart. Ihr Amtsverzicht folgte den Gesetzmäßigkeiten des politischen Geschäfts. Auch wenn sie nach wie vor den Plagiatsvorwurf vehement bestreitet – nachdem der Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ihr vorige Woche den Doktorgrad wegen »vorsätzlicher Täuschung« entzogen hat, war die 57jährige Christdemokratin sieben Monate vor der Bundestagswahl am 22. September zu einem Problem für die schwarz-gelbe Koalition geworden. »Meine Entscheidung resultiert aus genau der Verantwortung, aus der heraus ich mich bemüht habe, mein Amt zu führen«, sagte Schavan. Zum Abschied zitierte sie ihren einstigen politischen Mentor Erwin Teufel: »Zuerst das Land, dann die Partei und dann ich selbst.« Sie habe »ihr eigenes persönliches Wohl hinter das Wohl des Ganzen« gestellt, lobte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre enge Vertraute, deren Rücktritt sie nur »sehr schweren Herzens angenommen« habe. Den Eindruck, es hätte eine Alternative gegeben, vermittelte Merkel nicht. Dabei hat Schavan eigentlich nur Pech gehabt. Auch wenn sie sich in ihrer Dissertation »Person und Gewissen« recht freizügig aus der Sekundärliteratur bedient hat und ihr deswegen ein allzu freier Umgang mit den Usancen des Wissenschaftsbetriebs vorgeworfen werden darf: Wenn die Universität Düsseldorf die gleichen Maßstäbe angelegt hätte wie die Universität Potsdam bei ihrer Bewertung des Falls des noch bis nächste Woche amtierenden niedersächsischen Kultusministers Bernd Althusmann (CDU), hätte Schavan nicht viel zu befürchten gehabt. Gegenüber der Textcollage, die ihr Parteifreund 2007 als Promotionsarbeit abgegeben hatte, erscheint ihre 33 Jahre zurückliegende Arbeit geradezu als Beispiel guter wissenschaftlicher Praxis. Trotz einer Reihe von »Mängeln von erheblichem Gewicht« durfte Althusmann seinen Titel – und damit auch sein Ministeramt – behalten. Doch einheitliche Verfahrensregeln und Maßstäbe gibt es nicht. Jede Hochschule darf nach ihren eigenen Regeln und in eigenem Ermessen entscheiden, weswegen die Verwaltungsgerichte auch regelmäßig den Entzug eines Doktortitels bestätigen, wie erst kürzlich die Unternehmerin und FDP-Beraterin Margarita Mathiopoulos erfahren musste. Der akademische Grad spielt in der deutschen Politik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Während in den USA im derzeitigen Kabinett Barack Obamas zwei Mitglieder promoviert haben, führen in Merkels Bundesregierung zwei Drittel der Ministerinnen und Minister einen Doktortitel. Was allerdings nicht unbedingt Ausdruck von akademischer Exzellenz ist. Wer sich beispielsweise die Dissertationen von Guido Westerwelle oder Kristina Schröder anschaut, merkt schnell, dass deren wissenschaftlicher Wert in keinem Verhältnis zu dem Renommee steht, das sich die Verfasser vom Erwerb des Titels versprechen durften. Der Doktor ist in Deutschland so etwas wie der Adelstitel des Bürgertums. Als Distinktionsmittel signalisiert er die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite. Schließlich bringen es nur 2,3 Prozent eines Jahrgangs bis zur Promotion. Das bedeutet auch, dass diejenigen, die es geschafft haben, sich ihre hart erarbeiteten Doktortitel nicht einfach abwerten oder gar lächerlich machen lassen wollen. Trotzdem ist es beeindruckend, welchen Eifer die Angehörigen der deutschen Bildungsaristokratie an den Tag legen, um Plagiateure, die sich ihrer Ansicht nach unverdient in ihre Reihen geschummelt haben, zur Strecke zu bringen. Wäre die Empörungsmaschinerie der Akademikerzunft doch immer schon auf so vollen Touren gelaufen! Diejenigen, die ihren Doktor zwischen 1933 und 1945 unter höchst zweifelhaften Umständen gemacht hatten, konnten solche Erregungszustände nie hervorrufen. Das dürfte kaum am fehlenden Internet gelegen haben. Nazi zur rechten Zeit gewesen zu sein, das war für die deutsche Elite einfach kein Problem. So scherte es niemanden, dass der erste Bundesbildungsminister, der 1969 ernannte, mittlerweile parteilose Hans Leussink, seinen Doktor 1941 als NSDAP-Mitglied im Dritten Reich gemacht hatte. Zwischen 1949 und 1991 bekleideten insgesamt 25 ehemalige NSDAP-Mitglieder ein Ministeramt auf Bundesebene, nur zwei von ihnen – die Vertriebenenminister Theodor Oberländer und Hans Krüger (beide CDU) – kostete ihre Vergangenheit letztlich doch noch das Ministeramt. Über eine Jahrzehnte zurückliegende Dissertation stolperte in der bundesdeutschen Geschichte vor Schavan nur der niedersächsische Justizminister Hans Puvogel. Als 25jähriger Student und Parteigenosse hatte der spätere Christdemokrat 1937 an der Universität Göttingen mit einer »rassehygenischen« Arbeit unter dem Titel »Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher« promoviert. Darin postulierte Puvogel »die Förderung einer gesunden Rasse durch Ausmerzung minderwertiger und verbrecherischer Elemente«. Das kostete ihn zwar 1978 sein Ministeramt, seinen Doktortitel konnte er indes behalten. Das dürfte Annette Schavan trotz ihrer gerichtlichen Bemühungen nicht vergönnt sein. Sie sei »ein spätes Opfer des SPD-Bildungswahns«, urteilt Tilman Krause in der Welt. »Was soll man aber von einer Frau halten, die, aus einfachen Verhältnissen kommend, promovieren will um jeden Preis, hauptsächlich aber ohne vernünftig studiert zu haben?«, fragt der aus besserem Hause stammende leitende Literaturredakteur. »Der Ausverkauf von Bildung, der naive Glaube, jeder könne ein Intellektueller sein und der Aufstieg ins Bildungsbürgertum lasse sich in zwei, drei Jahren bewältigen – all diese törichten Illusionen sind auf sozialdemokratischem Mist gewachsen.« Krause machte seinen Dr. phil. übrigens 1991 an der an der Freien Universität Berlin, jener Hochschule, die vor fünf Jahren Schavan zur Honorarprofessorin im Fach Katholische Theologie bestellt hat. Fast acht Jahre amtierte Schavan als Bundesbildungsministerin, so lange wie keiner ihrer Vorgänger. Dass sie in ihrem Amt viel bewegt hätte, behaupten nicht einmal wohlwollende Kommentatoren. Davor war sie zehn Jahre Kultusministerin in Baden-Württemberg, in Erinnerung bleibt, dass sie in dieser Zeit Rolf Hochhuths »Eine Liebe in Deutschland« von der Pflichtlektüreliste für das Abitur an den beruflichen Gymnasien streichen ließ. Das Buch hatte 1978 den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger das Amt gekostet, dessen Rolle als »furchtbarer Jurist« (Hochhuth) während der NS-Zeit es öffentlich machte. Schavans formale Begründung für die Streichung war, es gebe zu dem historischen Roman »zu wenig Sekundärliteratur«. Befriedigt kommentierte die FAZ, der Deutschunterricht sei »nicht Schutthalde aller früheren gesellschaftlichen Skandale«. Im Streit um die Plagiatsvorwürfe gegen Schavan bezog kaum eine Zeitung so eindeutig und so vernichtend Stellung wie die FAZ. Auf die Idee, Filbinger sollte sein 1939 erworbener Doktorgrad aberkannt werden, ist das Zentralorgan der konservativen Intelligenz nie gekommen. | Pascal Beucker | Pascal Beucker: Der Doktortitel als Distinktionsmerkmal | [] | Inland | 14.02.2013 | https://jungle.world//artikel/2013/07/der-adelstitel-des-buergertums?page=0%2C%2C3 |
Kevin nicht allein zu Hause | Die Idee bot sich wohl an: Um die formale Gründung des Kreisverbandes der Piratenpartei in Heidenheim (Baden-Württemberg) zu gewährleisten, wurden Familienmitglieder und Freunde rekrutiert – und so konnten am 4. Februar problemlos alle erforderlichen Ämter besetzt werden.
Was Kevin Barth, der frisch gewählte Vorsitzender des neuen Verbandes, nicht ahnte: Er sollte eine der kürzesten Amtszeiten in der Geschichte der Bundesrepublik absolvieren. Kurz nach der Wahl tauchte nämlich ein Tweet von ihm auf, den der 22jährige am 23. Januar verfasst hatte: »Ok. Ich bin also Antisemit, weil ich die israelische Kackpolitik und den Juden an sich unsympathisch finde, weil er einen sinnlosen Krieg führt.« Nach drei Tagen, in denen unter anderem die Verwandtschaftsverhältnisse im Kreisverband und weitere ähnliche Äußerungen durch Blogger öffentlich gemacht worden waren, trat Barth schließlich zurück – gerüchteweise erst auf Drängen des Landesverbandes. Immerhin dürfte das sogenannte »Kevingate«, wie der Skandal auf Twitter genannt wurde, auch endgültig mit der von Piraten-Mitgliedern immer wieder geäußerten Überzeugung Schluss machen, dass eine organisierte Unterwanderung durch Neonazis nicht möglich sei. Viel zu liberal sei man, und außerdem herrsche Meinungsvielfalt, was zwangsläufig dazu führe, dass Rechtsextreme sich in der Partei ganz sicher nicht wohlfühlten, lautet das entsprechende Argument. Barth ist jedoch nicht der erste, der mit Nazisprüchen auffiel und die Piraten trotzdem als seine natürliche politische Heimat ansah. Was auch an den Aufnahmekriterien liegen dürfte: Neue Mitglieder würden, sagt der Pressesprecher Christoph Lang der Jungle World, nicht routinemäßig überprüft, indem man beispielsweise ihre Namen googelt, um mögliche rechtsextreme Verbindungen zu finden: »Eine ›Gesinnungsdatenbank‹ von Menschen werden wir daher nicht anlegen.« Eine Eine durch »Onlinerecherche« gewonnene Information sei zudem »immer nur eine Aussage Dritter, die verändert und manipuliert werden kann«, und komme einer »Vorverdächtigung« gleich. Außerdem habe die Partei kein Naziproblem: »Bislang sind dies lediglich vier Personen von derzeit fast 21 000 Parteimitgliedern«, sagt Lang. Barth ist jedoch nur der neueste, wie auf Twitter gern gewitzelt wird, »in einer langen Reihe von Einzelfällen«. Ein Parteiausschlussverfahren werde »aktuell vom Landesvorstandes evaluiert«, so Lang. Dass dies für Barth kein Grund sein muss, sich Sorgen zu machen, zeigt ein sich seit mehr als zwei Jahren hinschleppendes anderes Verfahren: Das seit Juli 2009 immer wieder angekündigte Parteiausschlussverfahren gegen den Holocaustrelativierer Bodo Thiesen wurde mittlerweile vom Landesschiedsgericht Rheinland-Pfalz abgewiesen. Daraufhin hatte das Bundesschiedsgericht das Verfahren an sich gezogen. Ein erster Termin scheiterte jedoch daran, dass Thiesens Anwalt Knud Petzel, Mitglied der Piratenpartei und des Vereins Väteraufbruch, nicht anwesend war. In einem anderen Fall wurde noch kein Ausschlussverfahren eingeleitet: Matthias Bahner, ein ehemaliges NPD-Mitglied mit guten Kontakten zum rechtsextremen »Heimatbund Pommern«, ist weiterhin Pirat und sitzt nach wie vor für die Partei im Kreistag von Vorpommern-Greifswald. Auch Sven Knurr, der zeitweise Mitarbeiter der virtuellen Bundesgeschäftsstelle der Partei war, muss anscheinend keinen Ausschluss befürchten, obwohl er sich für eine von der NPD initiierte Petition zur Freilassung Horst Mahlers stark gemacht hatte – ebenso wie Andre Stüwe, der 2010 als Landesvorsitzender von Sachsen die zugesagte Unterstützung der Piratenpartei für »Dresden nazifrei« zurückgezogen hatte und kurz darauf in einem Blogkommentar behauptete, der »Spiegel gehört indirekt Israel und hat somit selbst das Anliegen, dem Iran zu schaden«. Und Piraten, die öffentlich Sätze wie »Zionisten und Antiislamisten schwafeln wieder Amok auf Twitter gegen die Piraten« verbreiten oder »Demos gegen Linksextremisten« fordern, dürfen ebenfalls Mitglieder bleiben. Es herrscht ja schließlich Meinungsfreiheit. | Elke Wittich | Elke Wittich: Ein Antisemit als Pirat | [] | Inland | 16.02.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/07/kevin-nicht-allein-zu-hause?page=0%2C%2C1 |
Lieber flanieren! | Die Waffen zu schärfen, um sie gegen die Widrigkeiten der Verhältnisse zu richten, ist neben der Hingabe an Sex, Drugs and Rock'n Roll die einzig sinnvolle Beschäftigung vernünftiger Menschen. Darum liest man als wissbegieriger Mensch auch schlaue Bücher und liebt die leidenschaftliche Diskussion mit Freunden. Man ist ständig auf der Suche nach mehr. Zweimal jährlich erwischt einen zu Semesterbeginn die universitäre Bescherung. Dank einer schwer zu erklärenden Gedächtnisschwäche ist die Vorfreude immer wieder groß. Man wälzt erwartungsvoll die Vorlesungsverzeichnisse und stößt auf die aufregendsten Themen. Die Zahl der Gegenstände, mit denen man sich beschäftigen möchte, steigt unaufhörlich, und der eigene Stundenplan wird immer unübersichtlicher. Man ahnt bereits, dass man sich zu viel aufbürdet, doch nirgends will man Abstriche machen. Das geballte Wissen der vergangenen Jahrhunderte will schließlich entdeckt werden. Man zählt die Tage, bis die Uni ihre Pforten öffnet und kann es kaum noch erwarten. Sich der Uni dann räumlich zu nähern, ähnelt jedoch eher dem Gang zum Zahnarzt. Man weiß, was einem blüht, aber man kann nicht umkehren. Zu diesem Zeitpunkt überwiegt noch die Illusion, man könne in den Seminaren etwas lernen und in mitreißenden Diskussionen dem Sinn des Weltgeschehens auf die Schliche kommen. Spätestens mit dem Beginn der ersten Seminarsitzung bricht diese Illusion dann in sich zusammen. Bereits mit der Vorstellung des Seminarplans offenbart sich das ganze Grauen. Die Gegenstände werden so zerstückelt, dass es einem fast körperliche Schmerzen bereitet. Den Regeln der Wissenschaft folgend, werden so genannte Begriffe isoliert und feinst ziseliert. Dann werden diese merkwürdigen Konstrukte mit einer Prise Empirie vermischt, und fertig ist das neue Wissen. Manche Kommilitonen schaffen es sogar, über Immanuel Kant und Karl Marx hinauszugehen. Innerhalb weniger Minuten vertreten sie gegensätzliche Thesen und heben die Widersprüche nicht theoretisch, sondern praktisch auf, indem sie deren Exisenz schlichtweg ignorieren. Das fällt auch nicht weiter auf, solange der Jargon stimmt. Man kann den dumpfesten und blödsinnigsten Mist erzählen, wenn man es nur versteht, sein Publikum mit großartigen Worthülsen zu beeindrucken. Dann lauscht es ehrfürchtig. Auch die Freude, den Zwängen des Arbeitsmarktes für die Zeit des Studiums enthoben zu sein, ist eine trügerische, zumal den meisten dieses Vergnügen ohnehin nicht zuteil wird. Und die Zwänge der Uni sind nicht minder unangenehm, wenn auch weniger offensichtlich. Es mag einem gelingen, seine Seminare in den Nachmittag zu legen, was nachtaktiven Menschen wie mir sehr entgegenkommt. Dennoch ist man dem Apparat hilflos ausgeliefert. Man kann unvorbereitet zu den Seminaren erscheinen. Dadurch schafft man sich den Raum und die Zeit, eigenen Interessen nachzugehen. Oder man bereitet sich vor und wird mit schlechten Texten malträtiert. Bei guten Texten muss man miterleben, wie ihnen in den Seminaren jeglicher Gehalt geraubt wird. Scheitert der Versuch, dem kritischen Gedanken in einer Seminardiskussion zu seinem Recht zu verhelfen, einmal nicht, so wird diesem seltenen Glück ein jähes Ende bereitet. Die Zeit ist um, in der nächsten Woche folgt ein anderes Thema. Und trotzt man der mechanisierten Wissensakkumulation heldenhaft einige Erkenntnisse ab, so kann man immer noch an der bürokratischen Verwaltung seiner Wissenskarriere scheitern. Der Schein zählt, das ist die oberste Maxime. Als politischer Raum wird die Uni seit 1968 romantisiert. Die glorreichen Zeiten der Studentenbewegung gab es nicht wegen, sondern trotz des akademischen Rahmens. Die Starrheit des universitären Systems widersprach den gesellschaftlichen Anforderungen damals wie heute. Und jede Protestbewegung kriegt, was sie verdient. Heute sind das mehr Bleistifte für alle und Noten für die Dummheit statt Mittel für den Umsturz. Jeder Kinobesuch mit einem anschließendem Kneipengespräch unter guten Freunden ist erhellender als ein dröges Referat über die Kulturindustrie. Und vergnüglicher sind die Kneipen allemal. | astrid geiermann | astrid geiermann: Vor dem Beginn des neuen Semesters | [] | Disko | 25.09.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/39/lieber-flanieren?page=0%2C%2C0 |
Liebe aus Projektion | Wir leben in keinen sonderlich schönen Zeiten. Mord und Totschlag auf allen Fernsehkanälen, kein Tag, an dem nicht irgendwo ein neuer Konflikt ausbricht oder ein alter Konflikt sich in Erinnerung ruft, keine Stunde, in der nicht irgendwo Menschen umgebracht werden, und niemand weiß genau, warum. An wen soll man sich wenden? Welche starke Schulter bietet Schutz vor dem Ungemach, das von allen Seiten droht? An wen soll man sich vor allem als Linker wenden? Heute, da die kommunistischen Parteien ihren Namen kaum mehr verdienen und auch sonst die revolutionären Perspektiven nicht gerade an der nächsten Straßenecke warten? Es ist eine tiefe Verzweiflung, die im Herzen vieler Linker schlechte Stimmung verbreitet, und man kann es ihnen oft nicht einmal wirklich verübeln, wenn sie darüber den Kopf verlieren. Okay, sagen sich diese Linken dann, die Welt ist schlecht und kompliziert, bleiben wir mal bei den einfachen Weisheiten. Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Alles, was ihm schadet, ist gut. Und wenn sich dieser Gedanke erst einmal durchgesetzt hat, ergibt sich der Rest fast von selbst. Auf einmal ist man gar nicht mehr so alleine, auf einmal gibt es wieder Länder, Regierungen, Staatsmänner, auf die man sich beziehen kann. Auf einmal ist die Welt nicht mehr ganz so schrecklich, weil man eine starke Schulter gefunden hat. Anders lässt sich die Entstehung von Sätzen wie den folgenden wohl kaum erklären, geschrieben von Deniz Yücel in einem Diskobeitrag über die Friedensbewegung (Jungle World, 44/02): »Wenn am kommenden Wochenende in New York, Los Angeles und anderen US-amerikanischen Städten einige Hunderttausend Menschen gegen den Irakkrieg demonstrieren, spricht nichts dagegen, dass sie die gleichen politischen Fehler begehen und sich ähnlich infantiler Formen bedienen werden wie ihre deutschen Freunde. Dass solche Massenmanifestationen überhaupt möglich sind, zeigt, dass es sich bei den USA, anders als es ihre linken Gegner in aller Welt glauben, um eine funktionierende bürgerliche Gesellschaft handelt, in der die Regierung einen Krieg führen oder vorbereiten kann, ohne dass die Bevölkerung sich zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenfinden muss. Was die US-Amerikaner wiederholt demonstriert haben, bleibt in Deutschland ein undenkbarer Vorgang.« Es sind Sätze, die so viele Fragen aufwerfen, dass man über Nebensächlichkeiten wie die, wie wohl erwachsene Protestformen aussehen mögen, gerne hinwegsieht. Es sind Sätze, die so hanebüchen sind, dass sich für einen Augenblick die schwarze Verzweiflung über den Zustand der Welt, die man ja mitunter auch im eigenen Herzen findet, beiseite schiebt und einen fast eine gewisse Erleichterung darüber verspüren lässt, dass die deutsche Linke so marginalisiert ist, dass sie sich in so kleinen Zeitungen wie der Jungle World austoben muss. So kommt es zumindest zwischen deutschen und amerikanischen Linken zu keinen größeren Verstimmungen. Auch ihrem Gelächter muss man sich nicht stellen, und man braucht ihnen auch nicht zu erklären, dass das, was sie da tun, vor allem eines demonstriert: die Existenz einer »funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft« in den USA. Ihre Regierung könne schließlich einen »Krieg führen oder vorbereiten, ohne dass die Bevölkerung sich zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenfinden muss«. Mit etwas Humor wäre ein »schön, dass uns das mal jemand anderes sagt, als immer nur unsere eigene Regierung« wahrscheinlich die beste Antwort. Aber die amerikanische Linke bekommt von all dem ja nichts mit. Nun ist es ohnehin ein Argument, dessen Logik nicht wirklich einleuchtet. Wo möchte man hin, wenn man gegen die deutsche Friedensbewegung in Anschlag bringt, ihr Counterpart in den USA begehe zwar die »gleichen politischen Fehler«, aber immerhin sei ihr Tun ein Beweis dafür, dass es sich bei den USA um eine »funktionierende bürgerliche Gesellschaft« handle? Soll hier eine Norm gesetzt, ein Anker ausgeworfen werden, um sich darin zu bestätigen, dass die Welt doch nicht völlig aus den Fugen geraten ist? Wenn die bürgerlichen Gesellschaften noch funktionieren, dann kann ja auch der Kommunismus nicht mehr weit sein, und solange sich diese Gesellschaften auf dem Boden der ehemaligen Alliierten befinden (früher wurde in ähnlichen Fällen auch gerne Frankreich als Beispiel herangezogen, seit Le Pen dort in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gelangt ist, hat es etwas an Beliebtheit eingebüßt), so lange ist auch klar, dass die Ereignisse in Deutschland wieder einmal dem üblen deutschen Bedürfnis nach einem Sonderweg geschuldet sind, der ja bekanntermaßen immer ins Desaster führt. Das Problem ist nur, dass erstens die USA keine »funktionierende bürgerliche Gesellschaft« sind und zweitens, selbst wenn sie es wären, mit dieser Erkenntnis nichts gewonnen wäre. Tatsächlich werden die Proteste gegen den Krieg in den USA nicht unterdrückt, die Regierung kann bislang sogar ganz gut damit leben. Aber das dürfte als Kriterium ja wohl kaum ausreichen. Im Gegenteil. Dass die Antikriegsbewegung in den USA einen solchen Zulauf hat und in der Lage ist, Hunderttausende von Menschen nach Washington zu mobilisieren - obwohl sie von den Mainstream-Medien weitgehend ignoriert wird -, liegt genau daran, dass bis weit ins liberale Lager hinein das Gefühl vorherrscht, eben in keiner »funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft« zu leben. Es ist müßig, die zahlreichen Gründe aufzuzählen, die dieses Gefühl nähren, genauso kann man all die Artikel lesen, die in den vergangenen Monaten auf den International-Seiten dieser Zeitung über die Internierungen von muslimischen Migranten oder über den umfangreichen Abbau von Bürgerrechten veröffentlicht wurden. Vielleicht nur so viel. Der US-Ökonom Paul Krugman stellte vor einigen Wochen im Magazin der New York Times in einem langen Essay unter dem Titel »The End of Middle-Class America (and the Triumph of the Plutocrats)« die These auf, dass die USA sich in einem zweiten »Gilded Age« befänden. Die gegenwärtige Verteilung des Reichtums entspreche ziemlich genau jener Epoche der Industriebarone, Stahl- und Eisenbahnmagnaten vom Ende des 19. Jahrhunderts. »Die 13 000 reichsten Familien in Amerika haben mittlerweile ein Einkommen, das dem der 20 Millionen ärmsten entspricht. Dieses Einkommen ist 300 Mal so hoch wie das einer amerikanischen Durchschnittsfamilie.« Mit diesem Geld kann man sich Einfluss kaufen. Und dafür muss man gar nicht den Präsidentschaftswahlkampf und die Verbindungen der Regierung Bush zur Ölindustrie als Beispiel heranziehen. Der gerade zu Ende gegangene Wahlkampf um den Gouverneursposten im Staat New York kostete rund 120 Millionen Dollar. Geld, das die Kandidaten fast ausschließlich als Spenden bekommen haben. Wer kein Multimillionär ist, aber trotzdem in der Politik etwas werden möchte, sollte reiche Freunde haben. Wenn das eine »funktionierende demokratische Gesellschaft« ist, was ist dann die Bundesrepublik, eine Wohlfühldemokratie? Doch selbst wenn die Umstände ganz anders wären, was hätte man mit diesem Argument für die Situation in Deutschland gewonnen? Nichts. Mit der Kategorie der »funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft« ist es eben schwer, einen Blumentopf zu gewinnen. Sie macht vielleicht die Welt, in der man lebt, etwas wärmer, wiegt einen in der Illusion, dass es vielleicht doch irgendwo den good guy geben möge, den man dann gegen diesen merkwürdigen Papiertiger ins Feld führen kann, als den Yücel die deutsche Friedensbewegung schildert, jene Mischung aus »Grünen und DKP, Poplinken und Antiimps, Möllemann und Mahler«. Aber für das, was linke Kritik eigentlich leisten sollte, nämlich eine Kritik an bürgerlichen Herrschaftsformen, ist nichts erreicht. Denn anstatt diese Herrschaftsform zu kritisieren, was ihre Aufgabe wäre, wird sie in diesem Fall affirmiert. Und eine Linke, die sich darauf kapriziert, macht sich selbst überflüssig. Die bürgerliche Herrschaft zu legitimieren, dass können die regierenden Konservativen in Washington sicherlich besser als einige Linke aus Berlin. Es gibt viele Gründe, gegen Deutschland zu sein, was auch immer man darunter nun genau verstehen mag. Genug auf jeden Fall, um auf eine wenig durchdachte und vor allem auf Projektionen beruhende Liebe zum politischen System der USA verzichten zu können. Wem tatsächlich daran liegt, das zu kritisieren, was als »Empire« bezeichnet wird, der sollte schleunigst anfangen, über seinen kleinen nationalen Sandkasten hinauszuschauen. Mit einer Kritik, die immer einen good guy benötigt, um ihn gegen die eigene Regierung in Stellung zu bringen, sei es »Milosevic«, sei es »Israel« oder sei es die »funktionierende bürgerliche Gesellschaft« der USA, macht man sich bestenfalls lächerlich. | Tobias Rapp | Tobias Rapp: USA vs. Irak | [] | Disko | 06.11.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/45/liebe-aus-projektion?page=0%2C%2C1 |
Just Another Manic Monday | Am 21. September trafen sich Protagonisten und Kritiker der Montagsdemonstrationen in der Redaktion der Jungle World und diskutierten über die Perspektiven der Bewegung. Das Gespräch moderierte Stefan Wirner. Stefan Wirner: Welche Perspektiven hat der Widerstand gegen Hartz IV? Peter Grottian: Wir hatten keine Kultur des Sozialprotests, außer der des gewerkschaftlich organisierten. Die Montagsproteste waren ein undogmatischer Aufbruch von unten, dessen die Parteien sich nicht bemächtigen konnten. Sie waren im Osten sehr stark mit der Vorstellung verbunden, doch etwas an den Hartz-Gesetzen ändern zu können. Diese Vorstellung war sehr unrealistisch, nach den kosmetischen Korrekturen ist jetzt die Enttäuschung groß, dass die Hartz-Gesetze nicht so einfach zu verhindern sind. Das weist auch auf Defizite hin, dass Alternativen zu Hartz nicht sichtbar geworden sind. Auch das Verhältnis von Massenmobilisierung und Aktionen des zivilen Ungehorsams ist überhaupt nicht ausgelotet. Helge Meves: Eine Kultur des Sozialprotests gibt es in diesem Land in der Tat nicht. Deswegen war es für mich überraschend, dass sich dieser Protest unabhängig von Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen entwickelt hat. Das zeigt für mich zweierlei. Einmal, dass die bestehenden politischen Institutionen nicht in der Lage sind, mit solchen Formen der Auseinandersetzung umzugehen, und zweitens, dass bei den Menschen durchaus ein Interesse besteht, sich in die Politik einzubringen, aber nicht in den Institutionen, die momentan ein Politikangebot unterbreiten. Die quasi anarchistische Entwicklung dieser Demonstrationen ist ein Hinweis darauf, dass die Menschen sich durchaus selbst organisieren können. Es sollte aber auch nicht überraschen, dass solche lockeren Bündnisse nicht die Stetigkeit haben, wie man es von sozialen Bewegungen her kennt. Georg Müller: Für uns ist entscheidend, ob sich Leute aus den derzeitigen Protesten in eine subversive Richtung bewegen und zu anderen Aktionsformen übergehen. Dazu müssten zuerst mal der Ruf nach Arbeit und die Selbstinszenierung als Volk aufhören. Euch geht es dagegen darum, neue parlamentarische Alternativen anzubieten, bei Peter Grottian geht es in Richtung Zivilgesellschaft. Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft betrachten solche Kräfte nicht als strategische Bündnispartner, sondern als Gegner, weil sie die herrschenden Verhältnisse von unten erneuern und nicht perspektivisch überwinden wollen. An Alternativen besteht leider überhaupt kein Mangel, wenn man etwa die völlig illusorischen Pläne für kreditfinanzierte Beschäftigungsprogramme nimmt. Von der MLPD mit ihrem Slogan »Neue Politiker braucht das Land« bis zur Wahlalternative oder Grottians Vorschlägen handelt es sich um gefährliche Scheinalternativen, weil sie die Verhältnisse zementieren. Grottian: Was ist denn so gefährlich daran? Müller: Deinen Vorschlag für so genannte Bettel-Demonstrationen etwa finde ich unverfroren. Dass sich die Empfänger des Arbeitslosengeldes II noch möglichst lumpig anziehen und in die Reichenviertel in den Grunewald gehen sollen, um die Reichen an ihre soziale Verantwortung zu erinnern, hat eine volksgemeinschaftliche Stoßrichtung. So werden spektakuläre Scheinkonflikte inszeniert, die am Ende nur die bestehende Ordnung festigen sollen. Uli Krug: Wir haben in Deutschland auf jeden Fall keine Geschichte militanter Interessenvertretung. Wenn man an die Rede von der »Mitnahme-Mentalität« denkt, die Schröder vor kurzem hielt, fällt doch auf, wie der Vorwurf, der auf den Montagsdemos laut wurde, spiegelbildlich zurückgegeben wurde. Beide fühlen sich belogen und betrogen, das Personal des Staates von den Leistungsempfängern, die Leistungsempfänger von dem Personal des Staates. Eine emanzipatorische Kraft kann ich da nicht erkennen, während der autoritäre Staat in einem Maße, wie es seit dem Reichsarbeitsdienst nicht mehr geschah, in das Private der auf seine Alimentierung Angewiesenen eingreift. Andererseits wollen diejenigen, die protestieren, zur Aufrechterhaltung des Systems beitragen, haben also nichts gegen den Staat einzuwenden und fordern von ihm die Wiedereinführung eines hypertrophen öffentlichen Dienstes. Ich kann nicht erkennen, wie die Interessen von Langzeitarbeitslosen sich darin ausdrücken. Eigentlich müsste sich ihr Protest gegen die Wiederauflage des Reichsarbeitsdienstes richten und rückhaltslos die kritisieren, die am Modell des gespaltenen Arbeitsmarktes ein Interesse haben: an der Sozialpartnerschaft in den großen Betrieben und dem bewussten, kalkulierten Ausschluss der anderen. Wenn das passieren würde, würde sich zwischen den Gewerkschaften und den so genannten Sockelarbeitslosen ein sehr fundamentaler Interessensunterschied ergeben. Grottian: Die Alternativen für eine konkrete Utopie sind: Die eine Forderung ist ein bedingungsloses Grundeinkommen, das etwas anderes ist als die Sozialhilfe; die zweite Forderung ist ein Programm, das der Selbstsuche und der Selbstbestimmung von einer Million Arbeitsplätzen dient und eine Möglichkeit eröffnet, ganz andere Tätigkeitsfelder zu beschreiten, und das sich gegen die Vorstellung richtet, dass Wachstum Arbeitsplätze schafft. Das sind Alternativen, die das Gesicht des Kapitalismus ändern könnten. Wirner: Stellt Hartz IV nicht auch ein Modell eines Grundeinkommens dar? Grottian: Hartz IV ist die Ekstase von ökonomischer, politischer und bürokratischer Herrschaft als persönliche Zurichtung. Deshalb fordere ich ein bedingungsloses Grundeinkommen statt Sozialhilfe. Der Repressionscharakter der Sozialhilfe muss gesehen werden. Wir wollen keine ABM-Verwahranstalten, wir zwingen euch nicht zu Billigjobs, sondern wir haben eine produktive Perspektive von Arbeit und Grundeinkommen als zwei Elemente einer Perspektive. Meves: Die überhitzten Reaktionen auf die Proteste haben gezeigt, dass man ein Problem hat, weil im Unterschied zu den Demonstrationen am 1. November vorigen Jahres oder am 3. April dieses Jahres eben nicht die üblichen Verdächtigen an der Spitze der Demonstrationen standen, sondern Akteure auftraten, die das selbst organisiert haben und auch kurzfristig nicht einzubinden waren. Wir wollen deutlich machen, dass die sozialstaatlichen Modelle Westeuropas sukzessive zerstört werden und dass es da etwas zu verteidigen gibt.Bestimmte Bereiche der Gesellschaft wie Bildung, Kultur und Kunst und auch bestimmte wirtschaftliche Formen wie etwa Genossenschaften waren nicht der Kapitallogik unterworfen und von daher Gegengewichte, Freiräume und Bedingungen für Sozialstaatlichkeit zugleich. Sie sollen jetzt vor allem durch Privatisierungen der Kapitallogik unterworfen werden. Der Protest dagegen richtet sich gegen die Verhältnisse und ist, wie überhaupt jeder Protest gegen die neoliberale Politik, antisystemisch und per se antikapitalistisch. Wirner: Was ist antisystemisch an der Gründung einer neuen Partei? Meves: Wir von der Wahlalternative wollen, dass Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Verbände, Globalisierungskritiker, die in den vergangenen Jahren sukzessive aus der parlamentarischen Politik hinausgedrängt wurden, wieder hineingeholt werden. Derzeit haben wir im Bundestag vier Fraktionen, die im Wesentlichen einer Meinung sind und nur darüber streiten, ob das Arbeitslosengeld in Höhe von 311, 345 oder 370 Euro bezahlt werden soll. Es gibt keinen politischen Raum mehr, die Konflikte in der Gesellschaft, wie etwa zwischen Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Arbeitslosenverbänden, auszutragen. Deshalb muss er neu organisiert werden. Müller: Du willst die Keime eines Protestes, der ohnehin in weiten Teilen zu kritisieren wäre, wieder auf die herrschenden Institutionen verpflichten. Es geht um das genaue Gegenteil, es geht um die Eskalation der Konflikte. Grottian: Mach doch einmal ein Angebot an subversiven Kampf- und Konfliktformen, die grundsätzlich anders sind und das System in Frage stellen. Müller: Die unüberbrückbaren Unterschiede liegen bereits darin, wie man überhaupt agieren will. Du betätigst dich als Robin Hood im Staatsdienst und hinterfragst deine eigene Funktion als Wissenschaftler überhaupt nicht. Alle deine Vorschläge berufen sich auf die Autorität der Wissenschaftler und Experten, die die Betroffenen animieren sollen, indem sie ihnen die Machbarkeit vermeintlicher Alternativen wissenschaftlich beweisen. Das ist eine vollkommen paternalistische Haltung. Wir können und wollen nicht als kritischer Zirkel die Aktion der Proletarisierten insgesamt substituieren. Man kann nur historisch untersuchen, etwa am Kampfzyklus von 1968 bis in die späten siebziger Jahre in einigen europäischen Ländern und den USA, wie sich so etwas wie Klassenautonomie, eine militante antagonistische Bewegung entwickeln kann. Das würde zunächst mal heißen, mit Vereinen wie der Wahlalternative, Gewerkschaften oder PDS zu brechen und autonome Formen der Selbstorganisation zu entwickeln. Zu behaupten, man könne einerseits die kapitalistische Warenproduktion intakt lassen, andererseits solle jeder für seine selbstbestimmte Tätigkeit und ein menschenwürdiges Leben Geld vom Staat bereitgestellt bekommen, ist eine infantile Sandkastenvorstellung. Die Aufgabe wäre im Gegenteil zu zeigen, dass das nicht zusammengeht und die Verhältnisse abgeschafft werden müssen, was nichts zu tun hat mit einem abstrakten Revolutionsfetisch. Es heißt zur Zeit natürlich zu überlegen, wie man Hartz IV praktisch angreifen kann. Ein Ziel wären die Wohlfahrtsverbände, die die Ein-Euro-Jobs anbieten. Mein Eindruck ist, dass man in dieser Runde wirklich ein Dreamteam hat. Auf der einen Seite diejenigen, die vom Neoliberalismus reden und die europäischen Sozialsysteme abfeiern, auf der anderen Seite eine antideutsche Fraktion, die nur die Vorzeichen dieser Analyse umdreht: hier der prima Liberalismus der USA, dort der volksgemeinschaftliche Sozialstaat. Aber hier wie da geht es darum, das Anspruchsniveau der Arbeiterklasse insgesamt abzusenken. Uli Krug wärmt dagegen die Tellerwäscherideologie auf. Ihr von der Bahamas verkennt das Ausmaß autoritärer sozialstaatlicher Kontrolle in den USA, wo es mit den community jobs sehr wohl staatliche Zwangsdienste für Unterstützungsempfänger gibt. Und ihr verkennt, dass hierzulande die Leute aus staatlicher Unterstützung in den freien Arbeitsmarkt rausgeekelt werden sollen, als Ich-AGs, durch mehr Sanktionen oder indem einfach der Kreis der Leistungsempfänger reduziert wird. In Eurem Fall hat die Regierung ausnahmsweise Recht, wenn sie sagt, die Leute sind nur deshalb gegen Hartz IV, weil sie es nicht verstanden haben. Krug: Peter Grottian hat ein vordergründig antistaatliches Programm entworfen: Grundeinkommen statt Sozialhilfe. Der Teufel schleicht sich aber rein, wenn du von gesellschaftlich sinnvollen Arbeitsplätzen sprichst. Wer bestimmt den Nutzen in einer Gesellschaft außer dem Organisator der Gesellschaft, d.h. in Deutschland der Sozialstaat? Im Prinzip wird die Staatsunmittelbarkeit dieses Arbeitsbeschaffungsprogramms in keiner Weise durchbrochen. Es geht nicht darum, amerikanische Verhältnisse als Ersatz für den Kommunismus oder die klassenlose Gesellschaft zu propagieren. Es geht um die Vorurteile, die etwa auf den Anti-Hartz-Demos, aber auch auf den Pro-Saddam-Demonstrationen zum Ausdruck kamen und kommen. Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen dem angelsächsischen Konzept, wie es Heiner Geißler nennt, und der europäischen Soziallogik, wie Helge Meves sie nennt. Es soll in keiner Weise beschönigt werden, dass es in den USA kommunale, spätliberale work house-Maßnahmen gibt. Dennoch sind die Konzeptionen sehr unterschiedlich. In den USA fehlt bis heute ein zentraler, staatlich kontrollierter Arbeitsdienst. Der Unterschied besteht darin, dass in den USA der Staat, wiewohl er natürlich autoritäre Züge hat, als Kompensator auftritt und nicht als Organisator, d.h. dass ich dort einen schlecht bezahlten Job finden kann, und für den Fall, dass das Geld zu wenig ist, ich eine Kompensation erhalten kann. Der Unterschied zu Hartz IV ist, dass ich hierzulande als Einzelner in diese Neuauflage des Reichsarbeitsdienstes gezwungen werde, um danach in Clements Ein-Euro-Jobs auf das Gemeinwohl verpflichtet zu werden. Die Kennzeichnung von Hartz IV als Teil einer neoliberalen Agenda geht völlig fehl. Hartz IV ist klassisch antiliberal. Wenn Helge Meves darauf hinweist, dass das Ökonomische das Politische verdrängt, sage ich, dass in Deutschland das Politische das Ökonomische verdrängt, also dass der Staat in seiner Funktion als Organisator und als moralische Appellationsinstanz der einkommensschwachen Schichten eher den sozialen Raum okkupiert als umgekehrt. Insofern wäre Hartz IV eben nicht als neoliberales oder angelsächsisches Projekt zu kritisieren, sondern als ein urdeutsches. Müller: Der Begriff des Neoliberalismus ist insgesamt fragwürdig. Der derzeitige Rüstungskeynesianismus der USA ist zum Beispiel ganz sicher nicht neoliberal. Die Gruppe von Uli Krug schreibt in ihrer Analyse, es gebe hier keine industrielle Reservearmee, weil alle am Tropf des Sozialstaats hingen, und klagt im Jargon der Unternehmerverbände über Tarifkartelle, unter denen die Langzeitarbeitslosen angeblich leiden. Aber Hartz IV zielt gerade darauf ab, einen Niedriglohnsektor zu etablieren und den nichtentlohnten Teil der Arbeiterklasse wieder stärker als industrielle Reservearmee ins Spiel zu bringen, indem die Sozialleistungen reduziert werden. Die jüngsten Abschlüsse bei Daimler stehen genau in diesem Zusammenhang. Und vor ein paar Jahren hat Hartz bei VW mit dem Modell 5 000 x 5 000 genau gegen den gespaltenen Arbeitsmarkt gehandelt, von dem Uli Krug spricht: Tarifstandards aufgebrochen und 5 000 Arbeitslose eingestellt. Eure Kritik geht vollkommen an den tatsächlichen Entwicklungen vorbei. Krug: Du verstehst nicht den Unterschied zwischen einem kommunalen worker regime und einem zentralstaatlichen Arbeitsdienst. Müller: Die werden hier ja auch kommunal organisiert. Krug: Aber eben staatlich kontrolliert. Der Privatunternemer wird hier Subunternehmer des Staates. Es wird ein Drohpontenzial aufgebaut, aber keine industrieelle Reservearmee. Solange die Sozialpartnerschaft so wie jetzt funktioniert, ist das überhaupt nicht vonnöten. Hier wird der staatliche Knüppel gezeigt, der aber nur zum Einsatz käme, wenn die Sozialpartnerschaft in den Betrieben tatsächlich beendet wäre. Und darauf besteht im Moment keine Hoffnung. Grottian: Der Vorwurf, meine programmatischen Vorstellungen wären ein Staatsprogramm, ist falsch. Der Charme des Vorschlags besteht ja gerade darin, dass die Tätigkeiten, ob es sich um neue berufliche Felder oder Dienstleistungen handelt, von staatlicher Seite finanziert werden, aber die Arbeitsplätze nach einem selbstbestimmten Verfahren besetzt werden. Gegen eine sozialpolitische Schweinerei ist Widerstand zu organisieren: egal ob Schwarzfahren für ein Sozialticket oder die Lahmlegung von Arbeitsagenturen. Müller: Wir haben gegen solche Proteste auch nichts einzuwenden, im Gegenteil wäre es schön, wenn auch die Wohlfahrtsverbände endlich in die Zange genommen würden. Aber wir sind keine Animateure, die sich um die Betroffenen kümmern wie das Sozialforum, wo im zivilgesellschaftlichen Vorhof der Macht die Betroffenen wieder in die politische Kommunikation hereingeholt werden sollen, indem man ihnen völlig illusorische Alternativen von staatlich finanzierter Selbstbestimmung unterjubelt. Es ist grotesk zu meinen, man könne innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion den Arbeitszwang durch ein Grundeinkommen aushebeln. Grottian: Aber wie können die Menschen dazu gebracht werden, über andere Strategien nachzudenken? Was wären die Ansatzpunkte dafür? Müller: Die Ansatzpunkte lauten: Sand ins Getriebe, und auch Sand ins Getriebe des falschen Bewusstseins. Also nicht zuletzt kommunistische Kritik an Vorstellungen, wie sie von der Wahlalternative oder den Sozialforen vertreten werden. Grottian: Aber es nützt nichts, mit seiner radikalen Kritik in einem abgeschlossenen Zirkel von Leuten zu bleiben. Sand im Getriebe? Das ist phantasielos unkonkret. Krug: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine staatliche Finanzierung von Programmen geben geben kann, die gleichzeitig auf staatliche Steuerung verzichten. Mir scheint, dass die Aktionen derzeit im Tanz der Verhältnisse nur das Bein mitschwingen. Meves: Neoliberale Politik nimmt eine demokratiezerstörende Wirkung nicht nur in Kauf, sondern sie zielt darauf. Deshalb finde ich jedes politische Engagement erstmal emanzipatorisch. Und es wäre ein Fehler, wenn wir die Parlamente aus dem politischen Raum einfach ausschlössen und meinten, unsere Arbeit wäre erfolgreicher, nur weil wir die Parlamente nicht nutzen. Krug: Ich finde nicht jedes politische Engagement per se emanzipatorisch. Der Hass auf die Politiker, der sich bei den Montagsdemonstrationen Bahn gebrochen hat, scheint mir nur ein anderer Ausdruck des grotesk-infantilen Glaubens an die Steuerungsfähigkeit von Politik zu sein. Das ist ein zutiefst autoritäres Bewusstsein, das tatsächlich auf den hofft, der nicht nur Politiker ist, sondern Führer. Der mit einem Schlag die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus aus dem Alltagsleben der Leute entsorgt. Grottian: Wenn wir es nicht schaffen, Alternativen zu formulieren und Formen des zivilen Ungehorsams mit einer klaren Perspektive zu entwicklen, dann wird es nach der Demo vom 2. Oktober ganz still. Meves: Man wird sehen, was die Leute aus den Montagsdemos mitgenommen haben. Ob sie nun denken, das hat überhaupt keinen Sinn, oder ob sie denken, dass es eine Möglichkeit gibt, sich zu organissieren. Ob und wie die Erfahrungen genutzt werden, wird auch davon abhängen, was es für Angebote zum Weitermachen, zum Verändern der Gesellschaft gibt. Als Teil der gesamten Opposition gegen neoliberale Politik machren wir dafür ein Angebot. Müller: Es wäre viel gewonnen, wenn wir dazu beitragen könnten, dass so etwas wie ein gesellschaftliches Lager der Negation entsteht, das den staatlichen Pol, den hier Grottian und Meves vertreten, und den marktliberalen Pol, für den Krug spricht, als zwei verschränkte Teile einer verkehrten Gesellschaft zurückweist. | : | [] | Thema | 29.09.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/40/just-another-manic-monday?page=0%2C%2C1 |
|
Esmeralda muss tanzen | Die Rassisten sind gerührt. Das Opfer von morgen lädt heute zum Tanz. Am Lagerfeuer erklingen die Lieder, die jeden ergreifen. Selbst den ganz harten Kerlen, die eigentlich lieber mit der Eisenstange oder dem Baseballschläger auf Menschenjagd gehen, kommen dann die Tränen - so sieht es zumindest Udo Jürgens: »Spiel, Zigan, spiel, denn so zum Tanzen zwingen und zum Weinen bringen kann ein anderer Klang sie nie.« Auch Esmeralda muss musikalisch sein. Zusammen mit ihrem Ziegenbock Djali lebt die Tänzerin im Paris des frühen 19. Jahrhunderts. Sie kleidet sich bunt, trägt große Ohrringe, ihre Bluse ist tief ausgeschnitten. Deswegen wird sie verfolgt, da der Stadtrichter Frollo in ihr und den anderen Zigeunern der Stadt eine Gefahr für die Allgemeinheit sieht. Esmeralda wehrt sich, findet Verbündete und siegt am Ende über den Reaktionär Frollo. Damit sie weiter tanzen kann. So will es zumindest die Walt-Disney-Produktion »Der Glöckner von Notre Dame«. Wer aber viel musiziert und tanzt, hat anschließend Hunger. Zum Glück ist der Grill gut bestückt, die passende »Zigeunersauce« steht schon bereit. Diskriminierung sei das nicht, erklärt die Firma Kraft Jacobs Suchard, im Gegenteil. Man müsse den Produktnamen »Zigeunersauce« positiv begreifen: »Ethnic Food sind Lebens- und Nahrungsmittel, die aus bestimmten Ländern kommen.« Und weiter: »In diesem Sinne entsprechen die Zutaten der Zigeunersauce den traditionellen Essgewohnheiten dieser Bevölkerungsgruppe.« So würden die Zigeuner wohl immer weiter aufspielen, tanzen und Gegrilltes mit Zigeunersauce essen, wenn sie nicht weiterziehen müssten. Schließlich handelt es sich doch um ein Volk in »Aufbruchstimmung« (Brigitte), und »je mehr Zigeuner sesshaft werden, desto weniger verstehen sie sich aufs Musizieren«, lehrte schon 1976 der Spiegel unter dem Titel »Eingemeindet, ausgefiedelt«. Diese Zigeunerstereotype hat nun der Soziologe Wulf D. Hund in dem Buch »Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie« gesammelt. Acht Autorinnen und Autoren beschäftigen sich mit verschiedenen Formen der Reproduktion von Stereotypen in Kunst, Politik und Medien. Allen gemeinsam ist, dass sie sich aus dem Kanon rassistischer Vorurteile vor allem jene Stimmen ausgesucht haben, die behaupten, es gut zu meinen, und gegenüber ihrem Objekt wohlwollend auftreten - sei es der mit dem Antirassismus-Label versehene Film »Glöckner von Notre Dame«, die liberale Presseberichterstattung zu einer Protestaktion von Sinti und Roma 1989 in Hamburg oder der von Brigitte präsentierte Gipsy-Look, der die »Romantik wie aus der Schatzkiste« betont. Es ist diese Romantik, die vor allem die PR-Agenturen hat aufmerksam werden lassen. Wird sie mit werbewirksamen Begriffen wie Freiheit, Mobilität und Nonkonformismus verknüpft, so lässt sich mit ihr die kaufkräftige Zielgruppe der 18- bis 30jährigen ansprechen. Deshalb muss der Zigeuner auch rasch wieder die Feststellbremsen seines Wohnwagens lösen, den Grillrost einpacken und auf die Reise gehen. Das ist dumm für jene, die an ihrem vor 30 Jahren errichteten Eigenheim die Bremse nicht mehr finden oder die den Einbauherd beim besten Willen nicht aus der Etagenwohnung bekommen. Zu den propagierten freien Zigeunern ohne festen Wohnsitz und ohne ein garantiertes Arbeitsverhältnis hat die überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Sinti und Roma noch nie gehört. Aber wen interessiert schon die so wenig romantische Normalität? Für Wulf D. Hund zeigt die »gut gemeinte, auf Absatzförderung und nicht auf Imageschädigung zielende Werbung« aber auch, »dass die rassistischen Klischees entlehnte Romantik nicht allein zu haben ist. Sie bildet nur den Teil eines Stereotyps, das neben dem romantischen auch ein ethnisches und ein soziales Element enthält.« Zwar kommt das ethnische Element nicht ohne Versatzstücke der Rassennomenklatur aus, doch wurden naturalistische Zuschreibungen und Konstruktionen längst von kulturalistischen ersetzt. Dies wird besonders in Mamo Barans Beitrag »Vom Nomadenvolk zur ethnischen Minderheit« deutlich. Der Autor zeichnet anhand schleswig-holsteinischer Landtagsdebatten zur Minderheitenpolitik die kulturelle Rekonstruktion von Zigeunerstereotypen nach. Ein Vertreter des Deutschen Städtetages regt an, »den genauen Weg dieser Familien und Sippen« zu verfolgen, um so eventuell das Sozialhilferecht revidieren zu können. Ein Abgeordneter weiß, dass für »Zigeuner Lesen und Schreiben keine selbstverständliche(n) Kulturtechniken« seien, in den Schulen des Landes gebe es deswegen immer wieder Probleme. Die Polizei registriert indes auffällig gewordene Sinti unter dem Kürzel »HWAO« - »Häufig wechselnder Aufenthaltsort«. Auch die Verbindung des ethnischen mit dem sozialen Element des Zigeunerstereotyps wird in diesem Kapitel genau analysiert. Ein Abgeordneter versucht die Unterbringung von Sinti und Roma in unbeheizbaren Wohnungen zu rechtfertigen: »Ich habe gehört (...), dass damals mit Ihnen abgesprochen worden sei, so eine Art offene Feuerstelle und keine Heizung vorzusehen. Ist das richtig?« Für einen Sprecher der Sinti und Roma bleibt nur noch festzustellen, »dass man gern mit der Mystik der Zigeuner, mit ihrer eigenen Kultur argumentiert, wenn es darum geht, die Leute irgendwo zu benachteiligen«. Die drei Elemente des rassistischen Zigeunerstereotyps - das romantische, das ethnische und das soziale - in wechselnden Anordnungen und in unterschiedlichen Bereichen sichtbar gemacht zu haben, ist wohl das größte Verdienst des Buches. Schließlich wird so noch einmal deutlich, dass »sich rassistische Akkorde jederzeit in einer anderen Lage spielen lassen« (Hund). Und Esmeralda muss dazu tanzen. Wulf D. Hund (Hg.): Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie. Diss, Duisburg 2000, 138 S., DM 18 | Maik Söhler | Maik Söhler: »Zigeunerbilder« | [] | dschungel | 23.08.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/34/esmeralda-muss-tanzen?page=0%2C%2C1 |
Mein Klagenbuch | Liebe Freunde! Lange Zeit habe ich dieses Feuilleton gemieden, doch es ist an der Zeit, die Heimreise anzutreten. Denn wieder einmal fand stockend Vorlesen mit allerhand gesetzten Kunstpausen in Klagenfurt statt. Ich jedoch fasse mich kurz, da es Ihnen sicher nicht zusagen würde, wenn ich ohne Unterlass radischbrechen würde. Zum besseren Verständnis dieses Textes will ich Ihnen erläutern, wie ich mich auf ungeheuerlich irritierende Kulturspektakel wie das in Klagenfurt vorbereite. Zunächst war ich auf dem Karneval der Kulturen in Berlin, da ich es nicht vermochte, den Menschen, die mich gegen meinen Willen dort hinschleppen wollten, Paroli zu bieten. Dort hatte es eine Unmenge Fahrzeuge. Am Besten gefiel mir der »Isch-komme-Kreuzschbersch-bin-isch-Aggro-wa«-Wagen, der von jugendlichen osmanischen Übeltätern bevölkert war, die wie amerikanische Filmschauspielerinnen ihre Arme in den Hüften oder auch vor der Brust verschränkt hatten und Gesichter schnitten, dass man Furcht in sich aufsteigen fühlte. Des Weiteren stieß mir ein Fahrzeug von amnesty international übel auf. Mittels saublöder Plakate trudelten offenbar dem THC-Genuss zugetane Weibchen diesem hinterher. Auf den Plakaten stand »Ich kann die Gefühle einer Frau nicht nachvollziehen, aber die eines politischen Gefangenen, der in den Arsch gefickt wird und im Knast sitzt und darauf wartet, dass man ihn elektrokutiert« oder so ähnlich. Keine Ahnung haben diese Bestien wahrscheinlich von der Gefangenschaft, denn sonst wüssten sie nämlich, dass man im Gefängnis sicherlich nicht T-Shirts mit Fingerfarben beschmiert, wie sie es offenbar getan hatten, um zum Ausdruck zu bringen, dass Kreativität ganz toll ist. Immerhin hat die Bratwurst auf dem Karneval der Kulturen nur einen Euro gekostet, und die Hippies, die sich der Jonglage hingaben, saßen entfernt auf einer von Hunden zerschissenen Wiese und nervten nicht, da man Abstand hielt. Ein Herr in einen pfauenartigen Ensemble auf Stelzen verlor währenddessen nonstante pede das Gleichgewicht und zerschellte in der am Wegesrand aufgestellten Menge. Blöde gegrinst hat er. Gegrinst wie ein Honigkuchenpferd, das in die Leimfabrik geführt wird. Immerhin hat er sich nicht weh getan. Nach dem Karneval der Kulturen war ich in Erlangen und trank Bier im Schwarzen Ritter. Da hat es Damen, die Rum-Sitzungen zur Kultur erheben. So war ich dann auch gewappnet, mir den Bachmannliteraturwettbewerb aus Klagenfurt anzuschauen, der wieder einmal zur Unzeit auf 3sat lief. Dort hatte es Herrschaften, die jedem Text vorwarfen, er sei nicht durch und durch durchkonstruiert, ergo keinerlei Literatur, und höchstens ein bejammernswert substanzloser Versuch, eine auf bloßem Erzählen basierende Heldensage zu schreiben. Und dann kam so ein Herr und beschrieb eine Hutablage, dass es zum Erbarmen war, und die Jury jubelte und krähte: brillant, echte und wahre Literatur sei das und wirkliche Narration. Dann las eine Frau so einen Schwurbel von Guantanamo vor, und es war öde, und die Jury sagte: »Es ist öde«, was ja absolut richtig war, und dann sagte sie auch noch, »Sie haben das ja gar nicht selber erlebt, Sie törichte Bestie«. Die Autorin gab klein bei, und das Preisgeld blieb aus. Ich aber schrie vor dem Fernseher: »Kafka, die heilige Kuh des Literaturbetriebes, hat ja auch alles selbst erlebt. Der war ja Hungerkünstler und sein Papa ist zerbrochen wie ein zu oft getragener Krug und in Scherben zersprungen, als er ihm die Meinung sagte, und in einen Käfer hat er sich verwandelt, dieser Kafka, und ovalrunde Platten gesehen, die laut einem Polizeibericht nicht existieren dürften. Außerdem hatte Hemingway Feste gefeiert, und Goethe hatte sich ein Blei zwischen die Glubscher gesetzt, und Schiller mit Feldherren gebechert und Früchte vom Haupt Minderjähriger expediert mit flinker Bogensehne, und Grass hat unterm Rock seiner Großmutter gehaust und die Nazis mittels eines unvollkommenen Drumsets in den Wahn getrieben, und Thomas Mann hatte Tuberkulose geschoben und eine gehörige Naphtalinsucht betrieben und im Lungenhospiz einen Großteil seines Lebens verschwendet, und schwul war er auch nicht. Ihr Bestien, ihr törichten Bestien!« Ich verstaute die Ärmchen in der Hüfte wie eine amerikanische Filmschauspielerein und stimme »Kä Sera« an. »Ihr Bestien!« wiederholte ich und meinte doch nur Frau Radisch, die den Gegenranicki gab und tobte und unwetterte und polemisierte und nicht sehen wollte und lamentierte und beinahe so selbstverliebt war wie O.W. Fischer am Strande von Santa Monica. Diese Radisch ist böse. Ich schaltete um und sah mir stattdessen lieber »Punkt 12« auf RTL an, wo Frau Burkard Meldungen verlas, die von solcher Unsinnigkeit waren, dass man meinen mochte, das sei alles kafkaesk. Doch das war die Wahrheit, und die seltsamen Meldungen waren mir beinahe lieber als das Gewäsch einer Radisch. Alle Texte in Klagenfurt beschrieben nur Nazithemen, und man meinte, man schaue das ZDF, das ja ein einziges NS-Fernsehen ist: Hitlers Frauen, Hitlers Eisenbahn, Hitlers Hunderl usw. Ich schaltete erneut um und war heilfroh, als im ZDF ein Spielfilm kam, mit einer amerikanischen Filmschauspielerin, die die Hände in die Hüften stützte und sagte, sie wolle doch einmal sehen, was es mit der Angelegenheit auf sich habe und ob der feine Herr sich es nicht noch einmal überlegen wolle. Immerhin gab es neben Klagenfurt kein weiteres Ereignis, das meine Aufmerksamkeit verlangte. Außer dieser EM, wo Herr Calmund von »Stahlhelm auf, Dreck fressen, kämpfen!« lamentierte und dabei daherkam, als schaue er lieber Tintorettos weißbärtigem Manne nach, als Ruckreden zum Besten geben zu wollen. Egal, unsere Jungens haben nichts Falsches getan. Da hatte die große Fußballkunst eben ein einziges Mal Pause. Haben das Tor nicht getroffen, aber alles versucht und gelten nun als Versager, unsere Ballackrobaten und Konterkahnkinder, die unseren Respekt allein dafür verdienen, dass sie nicht wie die von Calmund geforderte Wehrmacht einherritten und Staaten des verfeindeten / befreundeten Auslandes niederrangen. | naatz (der) | naatz (der): | [] | dschungel | 07.07.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/28/mein-klagenbuch?page=0%2C%2C0 |
Nicht auf der Agenda | München. Mehr Polizeipräsenz, mehr Videoüberwachung! Das fiel den Vertretern von FDP, Grünen und der »Linken« beim Fernsehgipfel als Konsequenz für den Überfall am vergangenen Wochenende in München ein. Nachdem ein Mann in der S-Bahn einer Gruppe von Kindern geholfen hatte, wurde er von zwei Jugendlichen zu Tode geprügelt. Roland Koch hatte voriges Jahr einen ähnlichen Vorfall, ohne Todesfolge, unter dem Stichwort Jugendgewalt zum rassistischen Wahlkampfthema gemacht. Problematische Teenager mit deutschem Pass stehen bei den Politikern wohl nicht auf der Agenda. Man führt lieber die Sicherheitsdebatte, denn Videokameras sind billiger zu haben als Bildung und staatliche Jugendförderung. mm | : | [] | Inland | 17.09.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/38/nicht-auf-der-agenda?page=0%2C%2C1 |
|
Aufgeklärt strafen | Nachdem Äthiopien und Eritrea ihren Grenzkrieg am 12. Dezember des vergangenen Jahres mit einem Friedensvertrag beendet hatten, begann in Eritrea erstmals eine offene politische Debatte. Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1991 behielten die Eritreer ihre Kritik für sich, sie gaben der aus der ehemaligen Guerillabewegung hervorgegangenen Regierung ihr Vertrauen und Zeit für den Wiederaufbau ihres zerstörten Landes. Nun aber wurde in den Kaffeehäusern eifrig darüber diskutiert, wie die Zukunft aussehen sollte. Vor allem die für Dezember versprochenen Wahlen beschäftigten die Leute, obwohl es dieses Mal kein Mehrparteiensystem geben würde. Und schon früh feuerte der eritreische Präsident Isaias Afeworki den Direktor der für die Erstellung des Wahlgesetzes zuständigen Kommission, weil er den vorgeschlagenen Text zu liberal fand. Im Frühsommer fand sich Afeworki plötzlich im Zentrum der Kritik. Bemerkenswert war, dass die härtesten Kritiker aus seiner eigenen Partei kamen, der regierenden Einheitspartei Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ). 15 prominente Mitglieder, die meisten von ihnen ehemalige Minister, drängten den Präsidenten, sich an demokratische Verfahrensweisen zu halten. Ihrer Ansicht nach beanspruchte Afeworki zu viel Macht und schloss das Kabinett von wichtigen Entscheidungen aus. Afeworki riet seinen Kritikern, sich zurückzuhalten, und drohte: »Ihr macht einen Fehler.« Fast sofort enthob er sie ihrer Posten, im Herbst wurden elf von ihnen verhaftet, allen Kritikern wurden die Diplomatenpässe entzogen. Drei Dissidenten hielten sich zu dieser Zeit im Ausland auf, einer konvertierte wieder in die Reihen der Regierung. Afeworki entschied auch, alle privaten Zeitungen zu verbieten. Die Presse war in den Monaten zuvor ein Forum für politische Diskussionen geworden. Ein Dutzend Journalisten wanderte hinter Gitter, andere flohen in den Sudan. Afeworkis Vorgehen gegen die Reformer in Eritrea führte zu einer diplomatischen Krise, als der italienische Botschafter Anfang Oktober ausgewiesen wurde, weil er eine Protestnote der EU gegen die Verhaftungen abgegeben hatte. Die EU reagierte mit einem Rückzug ihrer Botschafter. Einige eritreische Politiker und Diplomaten traten aus Protest gegen die Repressalien zurück. Derei Mohammed Debas, ein ehemaliger Direktor der Amerika-Abteilung im Außenministerium, erklärte in einem Brief, mit dem er seinen Rücktritt begründete, er habe genug davon, »Handlungen unserer Regierung zu verteidigen, die nicht verteidigt werden können«. Seine Arbeit sei der nutzlose Versuch, gegenüber erfahrenen ausländischen Diplomaten »die lächerlichen Rechtfertigungen für die Verhaftung ehemaliger Minister und Mitglieder der Nationalversammlung, die Verhaftung von Ältesten und Studenten, Mitarbeitern der US-Botschaft und Journalisten, die Entlassung des Obersten Richters, die Abschaffung der freien Presse« zu vertreten. Außer PFDJ-Dissidenten und Journalisten wurden vor allem Studenten verhaftet. Bereits vor dem Sommer war Semere Kesete ins Gefängnis gekommen, nachdem er eine kritische Rede auf der Abschlussfeier gehalten hatte. Daraufhin weigerten sich 2 000 Studenten, an den jährlichen obligatorischen Sommerarbeitsprogrammen teilzunehmen, bei denen sie gegen Verpflegung Bäume pflanzen und Straßen reparieren. Sie wurden ebenfalls inhaftiert und nahe der brütend heißen Hafenstadt Massawa am Roten Meer interniert. Zwei Studenten starben an einem Hitzschlag. Die harte Reaktion schon auf harmlose Äußerungen scheint mit der Sorge Afeworkis zusammenzuhängen, dass konkurierrende Politiker der PFDJ ihm die Macht streitig machen könnten. Darauf deutet auch die Entwicklung im benachbarten Äthiopien, dessen Premierminister Meles Zenawis mit ähnlichen Problemen konfrontiert ist. Das halbe Zentralkomitee seiner Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF), der führenden Fraktion in der Regierung, rebellierte gegen seine Politik. Zwölf prominente Politiker kritisierten den Friedensvertrag mit Eritrea, ihrer Ansicht nach hätte Zenawi den Nachbarstaat, der sich 1991 mit dem Einverständnis der äthiopischen Regierung für unabhängig erklärt hatte, wieder annektieren sollen. Zenawi ließ sie und ihre Familien wegen Korruption verhaften. Nach einem halben Jahr Gefangenschaft wurden sie Ende Oktober angeklagt. Unter ihnen ist auch der ehemalige äthiopische Ministerpräsident Tamrat Layne. Er wurde bereits wegen Korruption zu 18 Jahren Haft verurteilt, das Vorgehen gegen ihn wird weithin als politisch motiviert gesehen. Layne wurde als potenzieller Nachfolger Zenawis betrachtet. Auch drei der eritreischen Dissidenten wurden als mögliche Nachfolger Afeworkis gehandelt: Mesfin Hagos, der ehemalige Verteidigungsminister, Haile Woldensae, ein ehemaliger Außenminister, und Petros Solomon, einst Minister für Fischerei. Hagos ist der einzige von ihnen, der nicht verhaftet wurde, da er sich in den USA aufhielt. In den Kaffeehäusern und Bistros der Haupstadt Asmara sind die politischen Debatten nun weitgehend verstummt. Die Wahlen haben ihre Bedeutung verloren, wenn sie überhaupt stattfinden werden. Von den Verhaftungen wurden die meisten Eritreer überrascht. Die offizielle Erklärung, dass die Dissidenten sich zum Sturz des Regimes verschworen hätten, wird nur von wenigen geglaubt. Gerüchten zufolge leidet Afeworki unter Verfolgungswahn. Tatsächlich ist seine Macht nicht akut bedroht, Kritiker wie Unterstützer meinen, er habe diese Art der Repression nicht nötig. Der eritreische Präsident wird von vielen noch immer als eine Art »aufgeklärter Diktator« gesehen. Allerdings scheint es überwiegend die ältere Generation zu sein, die Afeworki noch immer unterstützt. Die Jugend sieht Freiheit und Demokratie nicht als eine ausländische Angelegenheit, sondern als etwas, das auch in Eritrea möglich sein sollte. Neget, eine 17jährige in Asmara, präsentiert beim Verkauf von Kartoffeln unaufgefordert ihre politischen Beobachtungen: »Alle jungen Leute hassen die Regierung, aber erzählen sie meinem Vater nicht, dass ich das gesagt habe.« | martin stolk | martin stolk: Verhaftungen vor den Wahlen | [] | Ausland | 12.12.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/50/aufgeklaert-strafen?page=0%2C%2C3 |
Nährboden für Veränderung | Internationale Fördergelder haben einen Preis: Die Gründerin der Industree Foundation, Neelam Chhiber, mit Ivanka Trump und dem im März zurückgetretenen Leiter der US-Entwicklungsbehörde USAID, Mark Green, im Juli 2019 Die zweite Phase der Coronakrise hat begonnen. Globale Wertschöpfungsketten der Nahrungsmittelindustrie zerreißen. Produzentinnen und Prozenten fehlt der Zugang zu Absatzmärkten, die durch die Restriktionen abgeriegelt sind. Auf der anderen Seite stehen hungrige Menschen, die sich nicht mehr genügend Lebensmittel leisten können. Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt seit dem 12. Juni nicht mehr nur von der Gesundheitsbedrohung durch die Virusinfektion, sondern auch vor Gefahren, die durch die Begleiterscheinungen der Pandemie entstehen. Vor allem für Frauen sei die Versorgungslage kritisch, so die WHO. Der Agrarsoziologe Haroon Akram Lodhi schätzt, dass etwa drei Viertel der Nahrungsmittel weltweit von Frauen produziert werden. In den ländlichen Regionen des indischen Bundesstaats Uttar Pradesh zeichnet sich dieser Zusammenhang zwischen Genderdiskriminierung und eingeschränktem Zugang zu Nahrungsmitteln besonders deutlich ab. Insbesondere die Stadt Muzaffarnagar ist von den religiösen Unruhen der vergangen Jahre geprägt. Hier gründete die Aktivistin Pratibha Rani 1991 ein Kollektiv zur Selbstorganisation von Frauen. Daraus ist ein Netzwerk zahlreicher Selbsthilfegruppen in der Region entstanden. »Wir sind eine Gruppe von Frauen aus den untersten Schichten, vor allem Dalits (Unberührbare) und Musliminnen«, berichtet sie. »Die Familienmitglieder arbeiteten meist als Tagelöhnerinnen und Tagelöhner auf den Feldern anderer. Falls Frauen überhaupt das Haus verlassen und arbeiten durften, haben sie kaum halb so viel verdient wie Männer. In den knapp 30 Jahren, in denen wir uns für mehr wirtschaftliche und soziale Unabhängigkeit eingesetzt haben, hat sich aber einiges verbessert.«Doch die Krise droht diese Fortschritte zunichte zu machen: »Alle haben ihre Einkommen verloren. Viele Mädchen haben die Schule abgebrochen und wurden früher verheiratet, weil ihre Familien es sich nicht mehr leisten konnten, sie zu ernähren.« Wenn es jetzt weniger Nahrungsmittel gebe und vor allem frisches Gemüse fehle, bekäme der Ehemann traditionell immer zuerst zu essen. Ein Mädchen in der Familie könne glücklich sein, wenn etwas für sie übrigbleibt. Weil viele Männer nun ohne Arbeit zu Hause säßen, habe die häusliche Gewalt extrem zugenommen – oftmals sei Alkohol im Spiel. Die meisten Betroffenen trauten sich aber nicht, das zu melden, denn sie hätten Angst, komplett ohne Versorgung dazustehen, wenn sie so etwas ansprechen. Dazu käme, dass Frauen derzeit viel mehr Arbeiten verrichten. Neben der Hausarbeit bestellen nämlich viele ihre eigenen Felder, um die Familien zu versorgen.Das ist die Strategie der Wahl, um Schwankungen im Haushaltsbudget auszugleichen: unbezahlter Arbeitseinsatz von – in der Regel weiblichen – Familienmitgliedern. Die Grenzen zwischen der Arbeit, die in die Produktion von Waren einfließt, und der Hausarbeit verlaufen in der Landwirtschaft besonders unscharf – insbesondere wenn Haushalte sich teilweise durch eigenen Anbau selbst versorgen. Der Agrarsoziologe Haroon Akram Lodhi an der Trent University im kanadischen Peterborough schätzt, dass etwa drei Viertel der Nahrungsmittel weltweit von Frauen produziert werden. Reproduktionsarbeit bedeutet also nicht nur Kinderbetreuung, Pflege und Putzen, sondern auch die Bereitstellung von Nahrungsmitteln. Durch diese unscharfen Trennungen ist die Haushaltsorganisation direkt in weitreichende Wertschöpfungsketten eingebunden. Weltweit agierende Lebensmittelkonzerne profitieren von dieser Form von Arbeits- und Familienorganisation, die Frauen in Billiglohnländern marginalisiert. Gibt es auch eine globale Lösungsstrategie? Könnten etwa die zusätzlichen 1,5 Milliarden Euro, die der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller ausgeben will, oder die 215 Millionen US-Dollar an Schuldenerlass für eine Reihe der ärmsten Länder durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds etwas an der aktuellen Situation ändern? Man ist sich in diesen Institutionen durchaus bewusst, dass sich etwas bei der Verteilung und Produktion von Lebensmitteln ändern muss. Es kann aber nicht darum gehen, so schnell wie möglich den vorher herrschenden Zustand wiederherzustellen. Die indische Umweltaktivistin Vandana Shiva sagt: »Frauen tragen in erster Linie den Übergang von industrieller globaler Massenproduktion hin zu diversen regionalen Ökosystemen. Im globalen Warenaustausch werden landwirtschaftliche Güter auf ihre profitbringenden Eigenschaften reduziert, aber es sollte darum gehen, Lebensmittel nicht als bloße Waren, sondern als essentiell für unsere Versorgung mit Nährstoffen zu begreifen.« Der von Shiva vertretene Ökofeminismus geht in Indien auf die Chipko-Bewegung in den siebziger Jahren zurück. Diese Initiative gegen die kommerzielle Abholzung in der Region Uttarakhand am Fuße des Himalaya-Gebirges wurde vor allem von Frauen geprägt. Derzeit leitet Shiva die Navdanya-Farm in Dehradun, die sich vor allem um den Erhalt lokalen Saatguts bemüht, um so eine Abhängigkeit von kommerziellen Hybridsaaten der Konzerne zu vermeiden. Ob indessen eine stärkere Dezentralisierung der Produktion alle Probleme lösen würde, ist fraglich. Die Rückbesinnung auf Traditionen mag beim Anbau manchmal Sinn ergeben, aber wenn es um gesellschaftliche Konventionen geht, ist derlei meist fragwürdig. Statt die Trennung einer als natürlich angesehenen ursprünglichen Landwirtschaft von einer zerstörerischen kapitalistischen Moderne anzustreben, sollte es vielmehr darum gehen, patriarchale Strukturen zu überwinden – insbesondere durch die Ausweitung der Kontrolle von Frauen über die Lebensmittelproduktion. Diese stärkere Unabhängigkeit ist aber nur möglich, wenn Frauen eigene finanzielle Ressourcen besitzen. Genau hier setzen selbstorganisierte Genossenschaften an: Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Industree Foundation aus Bangalore. Die Organisation verbindet lokale Produktionseinheiten mit globalen Auftraggeberinnen und -gebern. Durch bessere Ressourcenverteilung und mehr Mitsprache sichert sie den Genossinnen und Genossen eine bessere Verhandlungspositionen in der globalen Wertschöpfung. Die Krise wird von der Industree Foundation vor allem als Möglichkeit begriffen. »Bei den meisten unserer Produzentinnen und Produzenten handelt es sich um Frauen, die derzeit die Alleinverdienenden der Familie sind, da die meisten männlichen Verwandten ihren Job verloren haben. Wir haben außerdem Schulungen durchgeführt, wie man Masken herstellt«, berichtet Akila Lean, Sprecherin der Organisation. Damit könnten während der Krise Einkommen gesichert und Ersparnisse angelegt werden, um sie später in die eigenen Betriebe zu investieren. Die derzeitigen Maßnahmen zielten also darauf ab, Geschlechternormen und Rollenverteilung in den Haushalten langfristig zu verändern. Auch Pratibha Rani aus Muzaffarnagar erkennt neue Möglichkeiten: »Weil in den meisten Ortsteilen bereits Frauengruppen bestanden, konnten wir die Lebensmittelverteilung in der Krise schnell organisieren und auch sicherstellen, dass die Unterstützung bei den Frauen tatsächlich ankommt.« Sie ist nicht allein: Im Nachbarort Shamli organisiert Sudha Rani Pakete für die Notfallversorgung. Diese besteht nicht nur aus Lebensmitteln, auch Damenbinden und andere sanitäre Produkte gehören dazu. Als Leiterin von Genossenschaften in der Region weiß Rani, dass nicht allen patriarchalen Politikern ihre Arbeit gefällt: »Wir haben auch an die ärmsten Familien Lebensmittel verteilt, daher fragten sie: Warum gebt ihr solchen Menschen überhaupt Pakete?« Viele derjenigen, die im Dorf einflussreich seien, hätten etwas dagegen, wenn sich etwas an den bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen ändere. Großgrundbesitzer fürchteten, dass ihnen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stünden, wenn die Ärmeren unabhängiger wären. Rani hat mit Krediten der Genossenschaft einen Kosmetiksalon eröffnet. »Mein Mann ist als Fahrer beschäftigt und wollte zuerst nicht, dass ich arbeite, aber als der Laden Profite abwarf, war er zufrieden. So geht es vielen Ehemännern.« Auch jetzt finden noch immer wöchentliche Treffen aller Gruppenmitglieder mit Masken und Sicherheitsabstand statt. »Gerade jetzt ist es wichtig zusammenzustehen.« Hunger als Waffe
Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht. Gemäß Artikel 11 des UN-Sozialpakts ist jeder Staat verpflichtet, das Recht auf angemessene Nahrung sowie das Recht, frei von Hunger zu sein, zu garantieren. Laut Welthungerindex steigt die Zahl der unterernährten Menschen jedoch und liegt derzeit wieder auf dem Niveau von 2010. Zu den wichtigsten Ursachen für den Anstieg des Welthungers zählen die Zunahme langwieriger bewaffneter Konflikte – wie im Jemen, im Südsudan, in Syrien, Nigeria und der Zentralafrikanischen Republik – sowie schlechte Regierungsführung, etwa in Venezuela. Lebensmittel zu unterschlagen, zu vernichten oder zurückzuhalten ist in vielen Konflikten eine gegen die Bevölkerung gerichtete Kriegsstrategie. Auch versuchen Kriegsparteien häufig, humanitäre Hilfeleistungen umzulenken, zu behindern oder zu zerstören, um Menschen auszuhungern. Im »Kompass 2020 – Bericht zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik« der Welthungerhilfe heißt es dazu: »Dies schwächt die Reaktionsmaßnahmen der internationalen humanitären Gemeinschaft, zwingt die humanitären Hilfsorganisationen häufig dazu, ihre Programme aufgrund der Sicherheitsbedenken auszusetzen, kostet wertvolle Reaktionszeit, verschärft die prekären Bedingungen für die Zivilbevölkerung vor Ort und hat zur Folge, dass Einsätze scheitern.« Hunger wirke sich auf Männer anders aus als auf Frauen, bestätigt die Welthungerhilfe. Gesundheitsprobleme bei Müttern und erhöhte Müttersterblichkeit seien eine Folge von Ernährungsunsicherheit. In Zeiten der Knappheit schränke geschlechtsspezifische Vorzugsbehandlung den Zugang von Frauen und Mädchen zu Nahrungsmitteln ein. JuHo | Catharina Hänsel | Catharina Hänsel: In Indien kämpfen Frauen um einen besseren Zugang zu Nahrungsmitteln | [
"Nahrungsmittelkrise",
"Ernährung",
"Gendergap",
"Genossenschaft"
] | Thema | 25.06.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/26/naehrboden-fuer-veraenderung?page=0%2C%2C3 |
Zu Gast bei Türken | Zwischen den Kneipen »Am Kreuzberg« und dem »Alptraum« stehen ein paar Glatzköpfe und pöbeln sich gegenseitig an. Alle Gaststätten rund um den Kreuzberg, die mit dem Schild »Gepflegte Biere« und einer Fahne von Hertha BSC werben, sind von den Fans und Hooligans des BFC Dynamo besetzt. Im nahe gelegenen Kreuzberger Katzbachstadion wird an diesem Samstag das Spiel der Oberliga Nordost-Nord zwischen dem BFC Dynamo und Türkiyemspor Berlin ausgetragen. Vor dem Eingang zum Stadion steht ein für die Oberliga ungewöhnlich großes Polizeiaufgebot, sabbernde Polizeihunde drücken ihre Nasen an die Wagenscheiben. Die Fans des BFC werden durch den Haupteingang ins Stadion geschleust, die Fans der Gastgeber dürfen lediglich einen Seiteneingang benutzen, der ansonsten als Notausgang dient. Während dort aber nur vereinzelt ein paar Familien mit Kindern, Antifas und ein Dutzend Männer eintrudeln, füllen sich die Ränge der Gäste viel schneller. Die vom Stadionsprecher später verkündeten 461 zahlenden Zuschauer setzen sich offenbar aus 400 Fans des BFC und 61 von Türkiyemspor zusammen. In den ersten Minuten des Spiels herrscht im Stadion eine bedrückende Stimmung. Eisige Stille herrscht in der Kurve der Glatzen. Haben einige der BFC-Fans am Vorabend zu lange Führers Geburtstag gefeiert? Oder sind sie von dem Anblick der gegenüberliegenden Tribüne verstört? Mit ihren Deutschland-Fahnen und -kappen behängt, schauen die BFCler in Kreuzberg nicht etwa auf Fahnen mit Antifa-Emblem oder Halbmondstickerei, sondern auf zwei Deutschland-Flaggen. Mehmet Matur, der Integrationsbeauftragte des Berliner Fußballverbands, hat sie mitgebracht. Die ungewöhnliche Aneignung erklärt er so: »Wenn die da drüben sagen: ›Ausländer raus!‹, antworten wir: ›Wir sind Deutschland!‹« Bereits in der achten Minute geht Türkiyemspor in Führung. Doch die wenigen Fans der Gastgeber können nur für spärlichen Beifall sorgen. Dafür versetzen die Gäste sich selbst in immer bessere Stimmung. Neben ihren Transparenten, auf denen das Vereinsmotto »Euer Hass macht uns stärker« zu lesen ist, entrollen sie ein kleineres Plakat mit der Aufschrift »Danke Schweiz!« Traditionelle Sprüche wie »Abschieben!« und »Pass auf! Der Ali steht hinter dir!« werden mit neuem Material wie »Schwesternmörder« und »Rütli-Schüler« angereichert. Für die Spieler von Türkiyemspor gehören diese Beschimpfungen zwar zum Fußballalltag, da der Verein im Nordostdeutschen Fußballverband einer der wenigen nicht ostdeutschen Mannschaften ist, doch der BFC ist in Deutschland der Verein mit den meisten Hooligans der »Kategorie C«, eine polizeilich verliehene Auszeichnung für allzeit gewaltbereite Fußballfans. »Die ›Asylanten-Rufe‹ sind für uns wie Zucker!« sagt der Manager Fikret Ceylan. Das Team ist häufig erheblich heftigeren Angriffen ausgesetzt. So wurde etwa während des Hinspiels ein Spieler von Türkiyemspor von einem Stein getroffen, der aus der Fankurve des BFC geworfen worden war. Doch nicht nur bei Spielen gegen den BFC Dynamo sind Spieler und der Anhang von Türkiyemspor rassistischen Attacken ausgesetzt. Auch im Nordostfußballverband und in den politischen Gremien der Sportabteilungen des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg hat es der Verein nicht leicht. Der erfolgreichste, 1978 gegründete Kreuzberger Fußballclub erhält als einziger deutscher Verein in der Oberliga keinen eigenen Rasenplatz, um darauf zu trainieren. Das Sportamt Kreuzberg befürchtet, dass der Rasen kaputt ginge, wenn das Training der Oberligamannschaft von Türkiyemspor im Katzbachstadion ausgetragen werde. Auch Manager Ceylan, der sichtlich darum bemüht ist, seinen Verein als unpolitisch darzustellen, versteht nicht, warum der Club noch immer eine besondere Behandlung erfährt. »Die Leute müssen endlich anerkennen, dass wir ein Berliner Verein sind«, betonen er und Dogan. »Bei uns wirst du keine türkischen Fahnen sehen«, sagt dieser. Das war nicht immer so. Jedoch hat sich unter dem derzeitigen zweiten Vorsitzenden, Remzi Kaplan, einem der größten Dönerproduzenten Europas, die Fraktion in der Vereinsführung durchgesetzt, die sich weniger mit der türkischen Fahne als mit dem Berliner Bären identifiziert, die beide das Vereinswappen schmücken. Das Spiel am Samstag endet unentschieden 1:1. Während Türkiyemspor einige gut herausgespielte Torchancen unglücklich vergibt, ist der BFC nur ein einziges Mal in der Lage, die häufig chaotische Abwehr von Türkiyemspor zu überwinden. Die Ränge leeren sich schnell, aber die »dritte Halbzeit« fällt diesmal aus. Der Grund dürfte darin liegen, dass den ostdeutschen Hooligans ganz einfach die Gegner fehlen. Mitten in Kreuzberg steht eine Horde Glatzen, und keiner kümmert sich um sie. Szenenwechsel. Bereits seit Stunden sitzen die meisten türkischen Fußballfans in Wettbüros und Vereinslokalen, um sich das Istanbuler Derby Fenerbahce gegen Galatasaray über Satellit anzuschauen, das für die türkische Meisterschaft vorentscheidend ist. Das Vereinshaus von Türkiyemspor am Kottbusser Tor quillt über. Hundert Leute stehen und sitzen in dem kleinen Laden und feiern ausgelassen den Sieg von Fenerbahce. »Das ist viel wichtiger als Türkiyemspor!« sagt ein Vereinsmitglied. Das Satellitenfernsehen ist ein Grund, warum die Spiele von Türkiyemspor so schlecht besucht sind. Aber für die meisten Besucher ist der Verein sowieso nur noch ein Überbleibsel aus besseren Tagen: Anfang der neunziger Jahre stand man kurz davor, in die zweite Bundesliga aufzusteigen. Der Aufstieg wurde zwar knapp verpasst, aber der DFB schuf die »Lex Türkiyem«. Da in einer Bundesligamannschaft in der Regel nur vier nicht europäische Spieler unter Vertrag genommen werden dürfen, wurde der »Fußballdeutsche« erfunden: Wer fünf Jahre in einer deutschen Vereinsmannschaft gekickt hat, gilt als deutscher Fußballer, auch wenn er keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Dennoch wurde kein einziger ehemaliger Spieler von Türkiyemspor je in einen Bundesligaclub geholt. Als Spieler des Kreuzberger Vereins kann man in Deutschland bis heute nichts werden. Eine Reihe von Spielern ist deshalb auch in die Türkei gegangen. Einer von ihnen, Ümit Karan, hat es in die »Süper Lig« gebracht. Seit einiger Zeit steht er bei Galatasaray unter Vertrag, er wurde sogar in den türkischen Nationalkader berufen. »Früher wären wir mit 200 Mann vor das Stadion gezogen und hätten gewartet, dass die Nazis rauskommen!« raunt uns ein 30jähriger Fan von Galatasaray vor dem Vereinslokal zu. »Die Türken von heute gibt’s hier gar nicht mehr!« Zumindest für die Anhänger von Türkiyemspor scheint dies zuzutreffen. Anfang Juni versucht der Verein ein weiteres Mal, seine internationale Bedeutung unter Beweis zu stellen. Statt der türkischen Nationalmannschaft wurden über 80 Türkiyem-Vereine von New York bis Sydney, die allesamt Nachfolger der Kreuzberger Pioniere sind, eingeladen, an der »Türkiyem-WM« in Berlin teilzunehmen. | Doris Akrap | Doris Akrap: | [] | Sport | 26.04.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/17/zu-gast-bei-tuerken |
Ein wenig Caritas | Der Gipfel in Heiligendamm war noch nicht vorbei, da begann bereits das große Jammern. Nach seinem Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel habe er sich völlig deprimiert gefühlt, heulte der Musiker und »Live-Aid«-Aktivist Bob Geldof in die Mikrofone. Von der Verdoppelung der Entwicklungshilfe für Afrika, die die G8-Staaten vor zwei Jahren bei ihrem Treffen im schottischen Gleneagles versprochen hatten, bleibe nichts übrig. In Heiligendamm gebe es »kein Geld, sondern nur Papiere und leere Worte«. Ähnlich beurteilen die meisten NGO die Ergebnisse des Gipfels von Heiligendamm. Die in der Hungerbekämpfung tätige Organisation Oxfam rechnet vor, dass die angekündigten Zahlungen der G8-Staaten in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2010 keine weitere Hilfe bedeuten würden. Im Gegenteil. Die G8 würden damit sogar weit hinter ihre Vereinbarungen von Gleneagles zurückfallen. Damals hat man versprochen, die Entwicklungshilfe jährlich um 50 Milliarden US-Dollar zu erhöhen. Bislang ist man diesen Zusagen nur sehr halbherzig nachgekommen. Hält diese Entwicklung an, werden in drei Jahren trotz der neuen Zusagen rund 30 Milliarden US-Dollar zu dem ursprünglichen Ziel fehlen. Auch um den deutschen Beitrag ist es nicht besser bestellt. Ursprünglich wollte die Bundesregierung ihre Entwicklungshilfe auf 0,51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Nach Angaben von Oxfam dürfte der Anteil in den kommenden drei Jahren bei 0,22 Prozent und damit um fünf Milliarden Euro unter den Vorgaben bleiben. Dabei ist die Aufregung um das Geld nicht einmal entscheidend. Ob am Ende ein paar Milliarden Dollar fehlen oder die Finanzminister der reichsten Länder doch noch widerwillig einen größeren Scheck ausstellen – an der grundlegenden Misere in Afrika wird dies wenig ändern. Die strukturellen Ursachen für das soziale und wirtschaftliche Desaster in Afrika wurden in Heiligendamm nicht einmal angesprochen. Denn so viel Almosen und Spenden kann es gar nicht geben, um die Verluste aufzuwiegen, die zum Beispiel durch den europäischen und nordamerikanischen Agrarprotektionismus verursacht werden. So sind europäische Agrarprodukte wegen ihrer großzügigen Subventionierung in Afrika konkurrenzlos billig, während afrikanische Exporte in Europa keine Chance haben. In Kamerun etwa erhöhte sich die Einfuhr von tiefgefrorenen Hühnern aus Europa von 900 Tonnen im Jahr 1996 auf über 22 000 Tonnen im Jahr 2003. Dies führte dazu, dass von den rund 100 Geflügelbetrieben in Kamerun gerade mal acht übrig blieben und Tausende Arbeitsplätze verloren gingen. In anderen afrikanischen Staaten spielen sich ähnliche Prozesse ab, unabhängig davon, ob es der Export von Tomaten, Baumwolle, Weizen oder Milchprodukten ist, der die Schäden anrichtet. 60 Jahre Entwicklungshilfe und die zahlreichen Programme für Schuldenerlass haben die Situation in Afrika kaum verbessert. Oft sind mit den finanziellen Hilfen nur die korrupten Eliten gestützt worden. Nicht selten floss das Geld umgehend zurück in den Norden, weil die afrikanischen Machthaber damit Panzer und Granaten kauften. Schließlich sind die G8-Staaten gemeinsam mit ihren chinesischen Gästen nebenbei die größten Waffenhändler der Welt. Die Mehrheit der G8-Staaten hat kein wirkliches Interesse an einem umfangreichen Einsatz in Afrika und einer grundlegenden Änderung der wirtschaftlichen Beziehungen. Ein wenig Caritas muss eben reichen, lautet die Botschaft von Heiligendamm. Wer mehr erwartet hat, darf gemeinsam mit Bob Geldof jammern. | Anton Landgraf | Anton Landgraf: | [] | Thema | 13.06.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/24/ein-wenig-caritas?page=0%2C%2C0 |
Agil gegen Whistleblower | Der Stuttgarter Staatsanwalt Peter Vobiller hat sich reichlich Zeit gelassen. Im April 2010 hatte der Freiburger Antimilitarist Jürgen Grässlin Anzeige gegen das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch erstattet. Erst fünfeinhalb Jahre später, im November 2015, erhob der Strafverfolger Anklage gegen sechs ehemalige Mitarbeiter des Unternehmens, weil dessen G36-Sturmgewehre in mexikanische Bundesstaaten geliefert worden waren, für die es keine Ausfuhrgenehmigung gab.
Hätten nicht einige Journalisten Beweis für Beweis zusammengetragen, wäre die Firma wohl nie für diese illegalen Exporte strafrechtlich belangt worden. Denn die Reporter waren es, die die entscheidenden Hinweise lieferten: Filmaufnahmen von Polizisten, die das G36 in den fraglichen Regionen trugen, Schreiben des mexikanischen Verteidigungsministeriums, Gerichtsakten. Vobillers Behörde war indes nicht einmal auf die Idee gekommen, beim Kunden in Mexiko-Stadt nachzufragen, wohin die Gewehre denn gegangen seien. Dort hätte man die deutschen Ermittler freimütig darüber informiert, dass etwa die Hälfte von insgesamt 10 000 gelieferten Waffen genau dort gelandet sind, wo sie nie hätte landen dürfen: in den Bundesstaaten Guerrero, Chiapas, Chihuahua und Jalisco.
Wesentlich agiler wurden die Strafverfolger in den vergangenen Monaten. Kaum waren interne Dokumente veröffentlicht worden, die eine Verstrickung des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) und des Bundesausfuhramtes (Bafa) in den Deal nahelegen, leitete Vobiller Ermittlungen ein – gegen einige der Journalisten, die den Fall recherchierten. »Wir prüfen, ob die Veröffentlichung interner Dokumente strafbar ist«, sagte Behördensprecher Jan Holzner.
Die Vorwürfe richten sich gegen die Autoren der Dokumentation »Tödliche Exporte – Wie das G36 nach Mexiko kam«, die im vergangenen September im Rahmen eines Themenabends in der ARD ausgestrahlt wurde. Betroffen sind auch eine Webdokumentation sowie Beiträge in politischen Magazinen. Für das Gesamtprojekt wurde das Team des Münchner Filmemachers Daniel Harrich mit dem diesjährigen Grimme-Preis für besondere journalistische Leistungen ausgezeichnet. Darüber hinaus ermitteln die Behörden wegen des Buchs »Netzwerk des Todes«, das im Heyne-Verlag erschienen ist. Mittlerweile liegt das Verfahren bei der Münchner Staatsanwaltschaft, weil Harrichs Filmproduktionsfirma in der bayerischen Hauptstadt angesiedelt ist.
Bei den insgesamt 71 Dokumenten handelt es sich um Ermittlungsakten im Verfahren gegen Heckler & Koch. Auf einigen Papieren sind handschriftliche Anmerkungen zu lesen, andere beschäftigen sich damit, wie ein Export trotz Bedenken des Auswärtigen Amtes möglich sein könnte. Die Ermittlungen richten sich gegen Whistleblower, also mögliche Informanten, die das Material weitergegeben haben. Für den Fall einer Verurteilung droht eine Geld- oder eine Gefängnisstrafe von einem Jahr.
»Anstatt sich mit der Botschaft auseinanderzusetzen, geht man gegen die Botschafter vor«, reagierte Harrich auf die Ermittlungen gegen ihn und mindestens vier weitere Personen. Er vermutet, dass sich die Staatsanwaltschaft nicht damit beschäftigen will, ob Beamte des BMWi und der Bafa strafbar gehandelt haben: »Wenn es um die Rolle der Behörden geht, wollen die nicht zuhören.« Harrich verweist auf Schreiben, die zeigen, welche Mühe sich hochrangige Mitarbeiter der beiden Institutionen gegeben haben, um das umstrittene Geschäft zu ermöglichen. So zum Beispiel der Ministerialrat Claus W. Der Beamte zweifelte zwar daran, dass die Unterteilung des Exports in belieferbare und nicht belieferbare Bundesstaaten legal sei und räumte »völkerrechtliche Probleme« ein. Aber man habe, so W., eine »politische Lösung angestrebt«.
Trotz solcher Hinweise haben die Strafverfolger wegen der illegalen Exporte nur Beschäftigte von Heckler & Koch angeklagt. Die Beschuldigten agierten, so heißt es in der Anklageschrift, »gewerbsmäßig und als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Straftaten verbunden hat«. Die Vorwürfe richten sich auch gegen zwei ehemalige Geschäftsführer, unter ihnen Peter Beyerle, der vor seiner Tätigkeit für den Waffenhersteller als Landgerichtspräsident in der Region tätig war.
Dass die hochrangigen Angestellten von Heckler & Koch strafrechtlich verfolgt werden, freut Holger Rothbauer, den Anwalt Grässlins. Zugleich kritisiert er, dass die mutmaßlichen Mittäter in den Exportbehörden außen vor bleiben. Der Tübinger Jurist hatte die Anzeige bereits 2012 auf Beamte des BMWi und des Bafa ausgeweitet. Doch die Staatsanwaltschaft habe die Klage damals ignoriert, ist er überzeugt. Behördensprecher Holzner widerspricht: Man habe den Anfangsverdacht geprüft, doch »dabei ergaben sich keine konkreten Anhaltspunkte für ein strafbewehrtes Verhalten«.
Angesichts der zahlreichen Hinweise auf eine Mitschuld der Exportbehörden will Rothbauer das nicht glauben. »Die Staatsanwaltschaft trickst mit allen Mitteln, um eine Erweiterung des Verfahrens zu verhindern«, sagt er. Auch mit den Vorwürfen gegen die Journalisten wollten die Strafverfolger von ihren eigenen Fehlern ablenken. Staatsanwalt Holzner weist das von sich: »Wir müssen ermitteln, wenn der Verdacht auf einen Straftatbestand vorliegt.« | Wolf-Dieter Vogel | Wolf-Dieter Vogel: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Journalisten, die über illegale Waffenverkäufe berichteten | [] | Inland | 03.05.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/18/agil-gegen-whistleblower?page=0%2C%2C1 |
Subsets and Splits
No community queries yet
The top public SQL queries from the community will appear here once available.