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Graffito mit Folgen | "Ihre Demonstration wird hiermit verboten", teilte die Stadt Dresden sowohl der NPD als auch der DGB-Jugend am Donnerstag vergangener Woche mit. Um den geplanten NPD-Aufmarsch am 24. Januar gegen die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu verhindern, hatte die DGB-Jugend gemeinsam mit SPD und Grünen für das "Dresdner Bündnis gegen Rechts" zum selben Zeitpunkt und für die gleiche Route eine Veranstaltung unter dem Motto "Verbrechen lassen sich nicht leugnen - Kein Platz dem deutschen Geschichtsrevisionismus" angemeldet. Für die Verbotsbegründung der Antifa-Demonstration wurden unter anderem ein Aufkleber: "Antifaschistische Demonstration am 24.1.98 - Den NPD/JN-Aufmarsch verhindern" an einer Dresdner Telefonzelle, sowie ein Graffito: "Auf nach Dresden! Nazis jagen" an einer Hauswand in Berlin-Friedrichshain herangezogen. Diese deuten nach Ansicht der Ordnungsbehörde daraufhin, daß "gewaltbereite Gruppierungen die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden" würden. Auch eine von der Dresdner Polizeidirektion erstellte "Gefahrenprognose" kommt zu dem Schluß, daß "gewaltbereite" AntifaschistInnen aus dem gesamten Bundesgebiet im Anmarsch auf Dresden seien. Und träfen am kommenden Samstag in der weltoffenen Kulturstadt "Extremisten" auf "Extremisten", könne die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht mehr garantiert werden. Der NPD-Aufzug, angemeldet unter anderem von einem ehemaligen FAP-Mitglied, wurde mit einer ähnlichen Begründung verboten: Die rechte Demonstration würde "mit einer Vielzahl von Vertretern der neonationalsozialistischen und militanten Skinheadszene zusätzliches Gefahrenpotential" in die Landeshauptstadt ziehen. VertreterInnen des "Bündnis gegen Rechts" wollen sich allerdings nicht mit der Nazipartei NPD gleichsetzen lassen. Das Bündnis will an der geplanten Demonstration festhalten und alle rechtlichen Möglichkeiten zu deren Durchsetzung ausschöpfen. Für die in der Nähe der Frauenkirchenruine geplante NPD-Kundgebung ist offenbar auch Manfred Roeder als Redner vorgesehen. Es ist davon auszugehen, daß die Parolen des Bundeswehr-Referenten bei den "Kameradinnen und Kameraden" in Sachsen ähnlich wie vor kurzem auf dem NPD-Parteitag in Stavenhagen, auf breite Zustimmung stoßen. So hatte Roeder in Stavenhagen unter anderem von einem "Umsturz in Deutschland" phantasiert, wobei auch "Blut fließen" müsse. Für die Kader der sächsischen NPD, die sich größtenteils aus den verbotenen Neonazigruppierungen Wiking-Jugend, Nationale Offensive und FAP rekrutieren, gehören derlei Aussagen ohnehin zur alltäglichen Propaganda. Doch nicht nur die extreme Rechte will an diesem Wochenende in die sächsische Landeshauptstadt kommen. So warb der zum rechten Rand der CDU gehörende "Verein zur Förderung politischen Handelns" aus Köln in der Jungen Freiheit für ein Seminar mit dem Titel "Hitlers willige Vollstrecker? Die Deutschen und der Holocaust" inklusive Besuch der Wehrmachtsausstellung. Auf Flugblättern wird als Kontakt die Junge Union der CDU in Dresden angegeben. Am 23. Januar wird im sächsischen Landtag auf Antrag der PDS-Fraktion eine aktuelle Stunde zum Thema Wehrmachtsausstellung stattfinden. Besonders gespannt darf man auf die Ausführungen des CDU-Abgeordneten Volker Schimpf sein. Schimpf ist Mitglied der Paneuropa Union und Referent beim "Jungen Weikersheim", der Jugendorganisation des Studienzentrums Weikersheim. | jens-uwe richter und gunnar schubert | jens-uwe richter und gunnar schubert: | [] | Antifa | 22.01.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/04/graffito-mit-folgen |
Alt, aber bezahlt | Wer ist das älteste Diktatorenwrack von Lateinamerika? Augusto Pinochet, der Sieche von Wentworth, der letzte Woche wieder einmal den Priester kommen ließ, um sich den letzten Ölwechsel für die Heimreise verabreichen zu lassen? Weit gefehlt: Gegen Joaqu'n Balaguer, die Regierende Mumie von Santo Domingo, ist der Schlächter von Santiago (84) ein junger Hupfer. Nicht nur nach Lebensjahren deklassiert der längst erblindete Karibe (94) den General, auch an Amtsjahren ist er ihm weit voraus: 28 Jahre lang - von 1966 bis 1994 war Balaguer der uneingeschränkte Herrscher seiner Inselhälfte. Dann trat er wegen übertriebener Wahlfälschung zurück. Demnächst soll der Vorruhestand wieder vorbei sein: Bei der Präsidentenwahl am 22. Mai will Balaguer noch einmal antreten, um dann als 99jähriger seine zehnte Amtszeit zu beenden. Da kann Pinochet nur noch staunen. | : | [] | Ausland | 16.02.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/07/alt-aber-bezahlt?page=0%2C%2C0 |
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Klasse Rhetorik | Eine beliebte Antwort der Unternehmer auf Lohnforderungen der Gewerkschaften ist der Vorwurf, dass diese nur die Interessen ihrer Mitglieder vertreten und nicht der Arbeitslosen. Ausgerechnet jene, die von der Arbeitskraft anderer profitieren, geben sich als Sprecher der von ihnen Entlassenen, und die Gewerkschaften sind im Handumdrehen schuld an der Arbeitslosigkeit. Diese Rethorik ist verlogen, aber nicht überraschend. Die Unternehmer versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, und dazu gehören niedrige Löhne. Wenn aber auch der Berliner Wirtschaftssenator, Gregor Gysi von der »Partei der sozialen Gerechtigkeit«, so argumentiert, ist das noch etwas ungewohnt. Am Dienstag voriger Woche waren 1 500 Personalräte des Berliner öffentlichen Dienstes zu einer Konferenz geladen. Der Vorsitzende des Hauptpersonalrats, Dieter Klang, informierte über die Gespräche mit dem Senat über den geplanten Abbau von 40 000 Stellen. Nach Jahren der Korruption ist Berlin pleite, und die rot-rote Regierung will jährlich 250 Millionen Euro an Personalkosten sparen und schließt dabei betriebsbedingte Kündigungen nur bis zum Jahr 2004 aus. Darüber verhandelt sie momentan mit den Gewerkschaften. Auch Gysi war zu der Konferenz geladen. Wer glaubte, er würde sich mit dem Anliegen der Personalräte und Gewerkschafter zumindest verbal solidarisieren, der sah sich getäuscht. Denn Gysi griff gerade diejenigen an, die sich nicht mit der Sparpolitik des Senats abfinden wollen. »Sie reden von Solidarität, aber es geht auch um Egoismus«, warf er den Personalräten vor. »Ich bin für alle da, nicht zuletzt für die Arbeitslosen.« Er habe auch eine Verantwortung für die Bürger, »die im Gegensatz zu euch keinen sicheren Arbeitsplatz haben«. An den Kürzungen führe kein Weg vorbei. Gysi redete Tacheles, und das war gut so. Denn so wird vielleicht dem einen oder anderem klar, warum die PDS an der Regierung beteiligt ist. Harte Maßnahmen gegen die Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst sind nötig, weil man keine andere Idee hat, woher das Geld sonst kommen soll. Wer die Zeche für die Affäre um die Berliner Bankgesellschaft, die im vorigen Jahr zum Sturz der großen Koalition und zu Neuwahlen führte, zahlen soll, ist längst entschieden. Hier übernahm der Senat schnell das Minus: Zwei Milliarden Euro pumpte er im Jahr 2001 in die bankrotte Gesellschaft, und Anfang des Jahres übernahm er eine Bürgschaft in Höhe von 21,6 Milliarden Euro, um sie vor der Schließung zu bewahren. Ab 2003 kostet die Bankgesellschaft die Berliner jährlich 300 Millionen Euro. Nachdem die einen abgesahnt haben und die Milliarden für immer verpufft sind, appelliert Gysi nun an die vom Sozialabbau Betroffenen, Berlin »gemeinsam« aus der Misere zu führen. Wer dabei nicht mitwirkt, ist ein Egoist. Doch die Egoisten von heute sind die, an die Gysi morgen denkt, wenn sie ihren Job »sozialverträglich« verloren haben. Diese Dialektik beherrscht der demokratische Sozialist besser als der Sprecher des Unternehmerverbands. Der Politikwechsel, den die PDS versprochen hat, hat tatsächlich stattgefunden. Entlassungen und Kürzungen im Bereich der Kultur, im öffentlichen Dienst, ja sogar gegen alle früheren Beteuerungen bei der Bildung - das ist das Konzept der rot-roten Regierung in der Hauptstadt. Damit es auch den Gewerkschaftern wie ein Berliner Bär aufgebunden werden konnte, holte man die PDS ins Boot. Und die Strategie könnte aufgehen. Zur Kundgebung gegen die Sparpolitik des Senats am Dienstag voriger Woche kamen statt der von den Gewerkschaften erwarteten 50 000 Leute nur 10 000. Berlin müsse die »Hauptstadt des Widerstands« werden, rief der DGB-Landesvorsitzende Dieter Scholz den Demonstranten zu. Doch eher wird Berlin wohl die Hauptstadt des Verzichts. | Stefan Wirner | Stefan Wirner: Gysi rechtfertigt den Sozialabbau in Berlin | [] | Inland | 03.07.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/27/klasse-rhetorik?page=0%2C%2C1 |
»Das Morden geht weiter« | Wie ist die Situation in Syrien und besonders in Raqqa? Momentan ist die Situation wirklich schlimm. Seit den russischen Luftangriffen ist es noch schlimmer geworden als zuvor. Nachdem Raqqa im vergangenen Jahr sowohl von der syrischen Armee als auch von den Amerikanern beschossen wurde, kommen nun die Angriffe der Russen hinzu. Ansonsten werden die Städte, die unter der Herrschaft Assads stehen, natürlich verschont. Auch den IS scheinen die Russen nicht direkt anzugreifen. Was hat sich seit den russischen Luftangriffen für die Menschen in Syrien verändert? Es gibt sehr viele neue Flüchtlinge. Die Menschen fliehen nicht mehr nur vor dem Regime, sondern nun auch vor den Luftangriffen der Russen. Es wurden im vergangenen Monat vor allem auch zivile Einrichtungen zerstört, Moscheen, Geschäfte, Einkaufszentren und Krankenhäuser. Die Russen haben die gleichen Ziele wie die Truppen Assads. Mit ihrer Unterstützung werden die Angriffe immer stärker. Wie reagieren die demokratischen Organisationen auf die Angriffe? Gar nicht. Die Free Syrian Army versucht weiterhin sich zu verteidigen und schafft es hin und wieder, Panzer und Fahrzeuge der syrischen Armee zu zerstören. Aber gegen die Angriffe aus der Luft sind sie machtlos. Es gibt keine Flugabwehr oder ähnliches Gerät. Von Russland werden alle Gegner des Regimes als Terroristen bezeichnet. Gibt es eine erkennbare Strategie hinter der russischen Intervention? Die Strategie scheint sich auf die Zerstörung der Free Syrian Army zu beschränken. Die Angriffe auf Idlib und Hama haben das gezeigt. Auch in den anderen Gebieten wurden keine IS-Stützpunkte angegriffen. Sie treffen vielfach eher ländliche Gebiete. Die Ziele sind ziviler Art oder die Angriffe sind direkt gegen die Opposition gerichtet. Ist der IS von den Angriffen überhaupt betroffen? Eher vereinzelt. In Raqqa selbst wurden Mitglieder des IS getötet. Unter ihnen Abu Bilal, der an der Verbrennung des jordanischen Piloten im Februar beteiligt war. Bashar al-Assads Position war bis vor kurzem auch international umstritten. Wird er mit Hilfe von Russland nun wieder gestärkt? Assad hat die Russen um Hilfe gebeten, als das Regime besonders geschwächt war. Im vorigen Monat schien die Free Syrian Army der starke Akteur zu sein. Das hat sich mit dem Kriegseintritt der Russen nun verändert. Allerdings glaube ich nicht, dass die Intervention der Russen länger als ein paar Monate andauern wird. Sie werden keine Bodentruppen schicken und nach einem halben Jahr geht ihnen dann das Geld aus. Wird die Free Syrian Army mit Assad und dem Regime verhandeln, so wie es der russische Außenminister Sergej Lawrow vorgeschlagen hat? Ganz sicher nicht. Die Free Syrian Army wird weiterkämpfen. Es gibt kein Interesse daran, sich an einen Tisch mit dem Diktator zu setzen. Schon gar nicht in der momentanen Situation, in der das Morden ja weitergeht. Von einer Übergangsregierung ist jetzt die Rede und von freien Wahlen. Kann es die in absehbarer Zeit in Syrien geben? Das wäre sinnlos. Es würde nichts ändern. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, wer zu solch einer Wahl antreten sollte. Es gibt einige kleine radikale Gruppen, aber keine Parteien, die die Menschen wählen könnten. Wie wird es dann weitergehen? Wir hoffen noch immer auf internationale Hilfe. Vielleicht auch aus Europa. Wenn die Europäer nicht immer nur zusähen, so wie wir es von ihnen gewohnt sind, sondern endlich Druck auf die USA und auch auf Assad ausübten, könnte sich wirklich etwas ändern. Gegen den IS, Assad und al-Nusra muss etwas geschehen. Die USA greifen von sich aus nicht ein. Seit Jahren sind sie passiv. Weshalb sollten sie also jetzt aktiv werden? | Julia Hoffmann | Julia Hoffmann: Aziz al-Hamza im Gespräch über Luftangriffe, Jihadismus und Flüchtlinge in Syrien | [
"Islamismus",
"Syrien",
"Raqqa",
"Islamischer Staat"
] | Thema | 05.11.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/45/das-morden-geht-weiter |
Ende eines Mythos | Einer der großen Mythen der neoliberalen Ära ist die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken. Ganz besondere Kraft entwickelte dieser Mythos in der BRD, denn er fügte sich hervorragend in den Kult der D-Mark, die nach 1945 zum nationalistischen Identifikationssymbol schlechthin aufrückte. Die Bundesbank, die Hohepriesterin dieses Kults, genießt (oder vielmehr genoß) hierzulande wohl ein weit höheres Ansehen als alle sonstigen öffentlichen und politischen Institutionen zusammen. Doch so weit her war es mit der vielbeschworenen Unabhängigkeit der Bundesbank noch nie. Unabhängig war sie immer nur von der unmittelbaren und kurzfristigen Einflußnahme durch die Politik (und auch das nie in einem absoluten Sinne). Niemand war berechtigt, ihr direkte Vorschriften in geldpolitischen Angelegenheiten zu machen. Niemand konnte sie zwingen, die Zinssätze zu senken oder zu erhöhen oder etwa die vorgeschriebenen Mindestreserven für die Banken heraufzusetzen. Darauf pochte die Bundesbank unerbittlich, auch dort, wo es nur darum ging, ihren Ruf zu verteidigen, wie jüngst im albernen Streit mit Oskar Lafontaine. Aber diese Unabhängigkeit von der Tagespolitik war nur die Kehrseite einer viel umfassenderen und Abhängigkeit von den Zwangsgesetzen des Marktes. Die Aufgabe, die Stabilität der Währung zu sichern, bedeutete nie etwas anderes als das Geltendmachen dieser Gesetze gegenüber einer möglicherweise uneinsichtigen Politik. Es versteht sich von selbst, daß dies vor allem deshalb so leicht fiel und den Zuspruch der Bevölkerung fand, als die BRD jahrzehntelang zu den Siegern in der Weltmarktkonkurrenz zählte. Trotz gelegentlicher Spannungen, etwa in Zeiten hoher Zinsen, war die Bundesbankstrategie am Ende immer mit ihren ökonomischen und währungspolitischen Erfolgen zu rechtfertigen. Doch anders, als es der D-Mark-Mythos will, beruhte die Stärke der deutschen Währung schon seit den achtziger Jahren nicht mehr einfach auf der überlegenen Produktivität der Deutschland AG. Wie überhaupt der Boom der achtziger und neunziger Jahre nicht mehr realwirtschaftlich fundiert war, sondern durch die Aufhäufung von fiktivem Kapital (in Gestalt von Kredit- und Spekulationsgeldern) simulativ genährt wurde, war es vor allem die rege Nachfrage nach der D-Mark auf den transnationalen Finanzmärkten, die deren Kurs stützte. Der Preis dafür war eine noch stärkere Einschränkung der ohnehin begrenzten "Unabhängigkeit" der Bundesbank. Mit allen Mittel mußte nun eine mögliche Abwertung verhindert werden. Denn wäre die D-Mark ernsthaft ins Trudeln geraten, hätte dies sehr schnell eine Kapitalflucht eingeleitet und das ganze Konstrukt der kreditfinanzierten Verlängerung des "Wirtschaftswunders" (und später des Wiedervereinigungsbooms) wäre zusammengebrochen. Die Bundesbank war also gezwungen, die Zinsen so hoch zu halten, daß die Anlage in D-Mark-Staatsanleihen international attraktiv blieb. Der Zustrom an Geldkapital stabilisierte seinerseits die Währung, da er sich in einer ausreichend hohen Nachfrage nach D-Mark ausdrückte. Was die Bundesbank zu tun hatte, war, diesen selbstreferentiellen Kreislauf in Gang zu halten. Prinzipiell ist dies ein Zwang, dem heute jede Zentralbank der Welt unterliegt. Doch die Position der Bundesbank war in dieser Hinsicht privilegiert. Sie mußte nicht erst das Vertrauen in die Hauswährung durch horrend hohe Zinsen herstellen, wie etwa die Zentralbank Brasiliens oder, in geringerem Maße, Italiens. Ihre Ausgangsbasis war eine Währung, die sich als zweite internationale Reservewährung etabliert hatte, mehr noch: die spätestens seit der endgültigen Entkopplung des Dollar vom Gold im Jahr 1971 zur Fluchtwährung par excellence aufgestiegen war. Es war daher kein besonderes Kunststück, was die Bundesbank all die Jahre vollbrachte. Sie brauchte nur die einmal gewonnene Ausgangsposition zu verteidigen, wobei niemand mehr so genau hinsah, ob diese eigentlich noch bestand. Aber das genaue Hinsehen haben sich Anleger und Wirtschaftswissenschaftler in der Ära der Simulation ja ohnehin abgewöhnt. Deshalb konnte es sich die Bundesbank leisten, die Zinsen (auch als sie Anfang der neunziger Jahre im historischen Vergleich extrem hoch waren) regelmäßig unter dem Niveau der anderen europäischen Länder zu halten, die ihrerseits aber noch ein paar Punkte drauflegen mußten, um ihre Währungen nicht abstürzen zu lassen. Prinzipiell befand sich die Bundesbank-Politik deshalb im Einklang mit den Interessen der Bundesregierung. Was blieb, war die Verteidigung der Finanzmarkt-Imperative gegen mögliche konjunkturpolitische Schnellschüsse und allzu überzogene Kreditbegehrlichkeiten der Regierung. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird ihre Arbeit unter ganz anderen Rahmenbedingungen aufnehmen und durchführen müssen. Bei der Aufgabe, die Stabilität der neuen Währung zu sichern, kann sie sich nicht auf den allgemeinen Vertrauensvorschuß stützen, von dem die Bundesbank zehrte; zudem muß sie noch das in den letzten Jahrzehnten aufgehäufte kasinokapitalistische Erbe der D-Mark verwalten. Das heißt, sie muß mit aller Gewalt versuchen, die Flucht aus den vormals in D-Mark gehaltenen kreditären und spekulativen Geldanlagen zu verhindern. Prinzipiell ist dies nur mit einer rigiden Hochzinspolitik möglich, doch die würde die realwirtschaftliche Konjunktur abwürgen und damit ihrerseits auch wieder das Vertrauen in den Euro erschüttern. Außerdem ist glücklicherweise nicht damit zu rechnen, daß die Bewohner von Euro-Land die geldpolitischen Zumutungen mit der gleichen Zurückhaltung hinnehmen werden wie die deutsche Bevölkerung. Denn erstens ist die Bereitschaft zu sozialem Protest außerhalb Deutschlands bekanntlich viel stärker entwickelt (insbesondere natürlich in Frankreich). Und zweitens wird die Geldpolitik der EZB im Gegensatz zu der der Bundesbank weder einen nationalistischen Statusgewinn (wie den spießbürgerlichen Stolz der Deutschen auf ihre D-Mark) noch eine Teilhabe an erzielten Weltmarktgewinnen abwerfen. Weiterhin eröffnet gerade die Konstruktion der EZB als übernationaler Instanz den europäischen Staaten einen neuen Spielraum der Kreditschöpfung. In Zukunft können sie sich nun wieder fleißig verschulden, ohne die Strafe von Währungsabwertungen innerhalb Europas und von "Risikoaufschlägen" in Form höherer Zinsen befürchten zu müssen. Der sogenannte Stabilitätspakt wird kein Land ernsthaft davon abhalten können, denn mögliche Sanktionen müssen politisch beschlossen werden; da aber alle im Glashaus sitzen (schon im Jahr 1998 wurde die beschlossene Verschuldungsgrenze fast überall wieder überschritten), wird niemand den ersten Stein werfen. Die vertragliche Unabhängigkeit der EZB ist also nur eine Umschreibung für die unlösbare Zwickmühle, in der sie sich von Anbeginn an befinden wird. Am Euro wird sich bald zeigen, daß schon die D-Mark seit langem nur ein Simulacrum ihrer selbst gewesen ist. Nur ein Faktor könnte vorübergehend zur Stabilisierung der neuen Währung beitragen: die sich seit dem Zusammenbruch Südostasiens zusammenbrauende Krise an den transnationalen Finanzmärkten. Das klingt paradox, ist aber leicht erklärlich. Schon vor dem Euro-Start haben Fluchtgelder aus Asien die europäischen Währungen stabilisiert, weil relativ gesehen zu den sonstigen weltweiten Verwerfungen das zukünftige Euro-Land noch als sicher galt. Der Dollar, der zwar von dieser Entwicklung auch zunächst profitiert hat, gilt selbst als unsicherer Kantonist, weil die USA über den asiatischen Defizitkreislauf (wechselseitige Handelsbilanz- und Staatsdefizite) eng mit der dortigen Krise verwoben sind. So entstand ein höchst labiles Gleichgewicht, das nur darauf beruht, daß kaum zu entscheiden ist, welche der beiden Währungen denn nun maroder ist. Allzu lang wird dieses Gleichgewicht nicht halten, und schon im Laufe der nächsten ein bis zwei Jahre könnte die innere Haltlosigkeit des Euro-Konstrukts offenbar werden. Die EZB kann nur hoffen, daß sich die Situation in Asien und Lateinamerika, Japan und den USA im gleichen Tempo verschärft, denn dann kann sie noch eine Weile von der allgemeinen Unsicherheit profitieren und sich als Hüterin der Währungsstabilität imaginieren. Sobald aber der große Run aus dem Euro einsetzt, wird sie sehr schnell die Waffen strecken müssen. | Norbert Trenkle | Norbert Trenkle: | [] | Thema | 06.01.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/01/ende-eines-mythos |
Das Ende der Geschichten | Das Ende des »rot-grünen Projekts« gleicht einem langsamen, kläglichen Siechtum. Bevor es endlich so weit ist, muss sich der Kanzler noch durch eine gefakte Vertrauensfrage quälen. Dann folgt ein bizarrer Wahlkampf, in dem Sozialdemokraten und Grüne so tun müssen, als kämpften sie um eine gemeinsame Mehrheit – obwohl sie sich längst gegenseitig die Scheidungspapiere ausgestellt haben und nur noch eine Devise gilt: »Rette sich, wer kann!« Dass aber Rot-Grün nicht mit einem Knall, sondern einem Wimmern endet, macht für die designierten Sieger die Aussicht auf ihren Triumph nur halb so schön. Gerne würden manche konservativen und liberalen Helden als tapfere Drachentöter aus einem furiosen ideologischen Showdown mit den linken Verderbern des deutschen Volkes hervorgehen. Die ernüchternde Wirklichkeit aber ist: Die Neuen werden nicht gewählt, weil die Leute sie für Retter der Nation halten würden, sondern weil sie die amtierenden Versager um fast jeden Preis loswerden wollen. Aus nackter Verzweiflung fordern die Sozis jetzt schnell noch eine Sondersteuer für Millionäre. Laut »Politbarometer« finden 70 Prozent der Wähler diese Idee prima. Trotzdem sackt die SPD noch mal um zwei Prozent ab. Münte und die Seinen könnten ihrer Klientel jetzt auch einen Fußmarsch durch das Rote Meer ankündigen, und alle würden schreien: »Nicht mal schwimmen können sie!« Nix wird’s mit Zeitenwende und Epochenbruch am 18. September. Umso krampfhafter versuchen die Barden einer konservativen Kulturrevolution mit hohlem Pathos ein neues Heilsversprechen herbeizureden. Matthias Mattusek träumt im Spiegel von einem jungen Konservatismus, der »die Gewerkschaften so weit wie möglich zerschlagen« will und »Solidarität« stattdessen in der Familie als einer »Wagenburg« in »eisigen Stürmen« sucht. Denn »es geht auch um einen Kulturkrieg. Um neue Leitbilder. Um neue Grundsätze.« Ein nicht mehr ganz so junger, dafür umso realerer Konservativer verspricht »eine Neuorientierung der jüngeren Generation: Ehrlichkeit, Anstand, Treue, Verlässlichkeit, Fleiß. Die 68er in der Regierung treten ab. Viele von ihnen standen für Beliebigkeit und Egoismus.« Das sagt ausgerechnet Edmund Stoiber, den natürlich niemand jemals mit Beliebigkeit und Egoismus in Verbindung bringen würde. Doch die hektische Suche nach einem »schwarz-gelben Generationenprojekt« will einfach nicht vorankommen. Schon leicht resigniert meint der Generationenexperte Paul Nolte in der Welt am Sonntag, auf die Alterskohorte der 40jährigen kämen, »unabhängig von ihren Parteipräferenzen, schwere Aufgaben der Selbstverständigung noch zu. Sie mag sich damit trösten, dass jetzt erst die 50jährigen in das Zentrum der Macht rücken.« Zumindest sind wir damit für die nächsten zehn Jahre mit inhaltsfreiem Gefasel über neue »Generationenprofile« versorgt. Einstweilen steht uns aber eine weitere ideologische Abmagerungskur bevor. Die neue Regierung wird mehr als jede vor ihr an ganz konkreten pragmatischen Erfolgen gemessen werden. Die wenig pathetisch und kulturkämpferisch veranlagte Angela Merkel stimmt ihren Wahlkampf klugerweise schon mal auf das Minimalversprechen »Verlässlichkeit« ein. Nach dem Desaster des einst vollmundig angekündigten »rot-grünen Modernisierungsprojekts« besteht vorerst kein weiterer Bedarf an virtuellen historischen Aufbruchsdeklarationen. Weder von links noch von rechts. Richard Herzinger ist Deutschlandkorrespondent der Weltwoche. | richard herzinger | richard herzinger: | [] | Thema | 29.06.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/26/das-ende-der-geschichten?page=0%2C%2C3 |
Wolkenkuckucksheim am Himalaya | »Omanememe, omanememe … « – ein Mann spricht fünf Minuten lang diese Silben in das Megaphon. Etliche Teilnehmer der Kundgebung murmeln mit. So erfährt man zwar nichts über das Anliegen der Demonstranten. Aber man erhält eine Lektion in Buddhismus: Man muss sich in Geduld üben. Im Anschluss singt fünf Minuten lang ein Mann auf Tibetisch. Wer, wie der Großteil der etwa 100 Protestierenden vor der chinesischen Botschaft in Berlin, der Sprache nicht mächtig ist, versteht nichts.
Dann dürfen alle mitmachen. Der Mann am Megaphon gibt die Parolen vor, die anderen sprechen nach: »Free Tibet!« Oder: »Stop genocide in Tibet!« Auch: »Gerechtigkeit für Tibet!« Oder: »Stop killing in Tibet!« Auch der Sprechchor entpuppt sich als Mantra. Denn die Parolen werden 20 Minuten lang wiederholt. Kaum für Abwechslung sorgt da der Spruch: »Lang lebe der Dalai Lama!« Den lächelnden Mönch gibt es auf einem Plakat zu sehen, das eine Frau hochhält. Es wirkt ein wenig befremdlich inmitten der Transparente, auf denen farbenprächtige Fotos verstümmelter Folteropfer abgebildet sind: Leichenbeschau trifft auf Führerkult. Die Tibet-Flagge ist jedoch das beliebteste Accessoire der Demonstranten. Männer, die Trekking-Sandalen, Wanderschuhe oder auch Birkenstock zu Hosen aus dem Campingfachhandel tragen, halten Fahnen hoch. Die vielen Frauen mittleren Alters, die sich auf der Kundgebung befinden, sehen mit ihren Halstüchern und dem Schmuck aus kunsthandwerklicher Fertigung nicht wie die Männer nach gealterten »Travellern« aus, sondern eher wie Besucherinnen von Kirchentagen oder Esoterikmessen.
Eine Überraschung gibt es noch: Eine Gruppe junger Männer gesellt sich zu der Kundgebung. Sie wird als die tibetische Fußballnationalmannschaft vorgestellt und verkauft Exemplare ihrer neuen Trikotkonfektion. Sie darf nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen, wie der Trainer in einer kurzen Ansprache beklagt. Eine Demonstrantin sieht in den Spielen in China dennoch eine große Möglichkeit: »Die Olympiade ist eine Chance für die Tibeter. Sie können die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Den meisten Menschen ist Tibet ja vollkommen gleichgültig.« Die zahlreichen Sympathiebekundungen hupender und winkender Autofahrer müssen ihr beim Aufsagen der Mantras und Parolen entgangen sein. Der Einsatz für Tibet ist für die Frau jedenfalls bitter nötig: »Wir waren schon mehrmals dort. In Lhasa zum Beispiel gibt es kaum noch alte Bausubstanz. Die Kinder lernen kein Tibetisch in der Schule. Die kulturelle Identität ist bedroht.«
Ihre Verbundenheit mit Tibet hat noch triftigere Gründe: »Ich sympathisiere mit dem Buddhismus. Da steht wie für mich selbst der Mensch im Mittelpunkt. Und der Tibeter ist der friedlichste Mensch, den ich mir vorstellen kann.« Eine andere Demonstrantin begründet ihre Anwesenheit auf der Kundgebung so: »Ich kann etwas mit dem Tibetischen an sich anfangen, mit der Kultur, mit dem Volk.« Zu ihrem Bedauern hat sie keine Zeit, einem der Auftritte des Dalai Lama in Deutschland beizuwohnen. Auf Einladung der Tibet-Initiative Deutschland e.V. (TID) weilt der Mönch vom 16. bis zum 20. Mai im Land, um Vorträge zu halten und sich mit Politikern zu treffen. Nach eigenen Angaben ist die TID, die ihren Sitz in Berlin hat, der größte Tibet-Verein in Deutschland. Er hat etwa 5 000 Mitglieder in ungefähr 50 Ortsgruppen.
Menschen für Tibet und »seine gefährdete Natur und seine bedrohte Kultur zu sensibilisieren«, hat sich die Initiative zur Aufgabe gemacht. Die Frage »Warum setzen wir uns für Tibet ein« wird auf der Homepage der TID beantwortet: »Eine über Jahrhunderte eigenständige Entwicklung hat in Tibet eine auf der Welt in Schrift, Sprache und Religion einzigartige Kultur hervorgebracht, die als kulturelles Erbe der Menschheit erhalten werden muss.« Da die Tibeter also keine atheistischen Analphabeten sind und sich deshalb das deutsche Mitgefühl wirklich verdient haben, fordert der Verein »Frieden, Freiheit und Menschenrechte – all das, was Tibet durch die chinesische Besetzung von 1950 verloren hat«. Dabei entspricht das historische Wolkenkuckucksheim am Himalaya, das in der Phantasie der deutschen Tibet-Freunde herumgeistert, nicht unbedingt den tatsächlichen Zuständen unter der Herrschaft der Mönche vor 1950.
Weiter heißt es: »Die Massenansiedlung von Chinesen in Tibet stellt heute die größte Bedrohung für das Überleben des tibetischen Volkes dar. Die Fortführung dieser unmenschlichen Politik wird die Tibeter in naher Zukunft zu einer unbedeutenden Minderheit im eigenen Land machen und zum vollkommenen Verlust der Identität und Kultur der jetzt noch lebenden sechs Millionen Tibeter führen.« Oder ist es vielleicht sogar schon zu spät? An einer anderen Stelle zitiert die TID die NGO »Internationale Juristenkommission«. Diese Organisation bezichtigt China, sich »des bösartigsten Verbrechens, dessen eine Nation angeklagt werden kann, nämlich der Vernichtung eines ganzen Volkes«, schuldig gemacht zu haben. Zwar haben die Vorträge, die der Dalai Lama in Deutschland halten wird, nicht ausdrücklich Tibet zum Thema, sondern die »Menschenrechte« in allerlei Variationen wie z.B. »Menschenrechte und Globalisierung«, »Frieden und Menschenrechte« oder »Menschenrechte als Verpflichtung«. Doch sicher wird er einige Worte zum »Menschenrecht« der Tibeter finden, sich den Himalaya nicht mit zugezogenen Chinesen teilen zu müssen. Die Propaganda gegen die Ansiedlung von Chinesen, die gerade mal sechs Prozent der Bevölkerung in Tibet ausmachen, betreibt der Dalai Lama schon seit längerem. Nur klingt sein Gerede vom drohenden »kulturellen Genozid« gewählter als die schlichte Hetze gegen »Überfremdung«.
Sprechen wird der Mann in Städten, die die TID keineswegs willkürlich ausgesucht hat. »Nürnberg ist ein Ort, der das schwere Erbe des Nationalsozialismus zu tragen hatte, nun aber die ›Stadt der Menschenrechte‹ ist. Nürnberg hat die Bewältigung der Geschichte beispielhaft betrieben«, sagt Boris Eichler, der für die Öffentlichkeitsarbeit der TID zuständig ist. Nach der Stadt, in der das Menschenrecht auf Lebkuchen, Bratwurst und schlechten Fußball verwirklicht ist wie sonst nirgends und in mustergültiger »Bewältigung der Geschichte« das Reichsparteitagsgelände in ein Festgelände mit Großparkplatz verwandelt wurde, besucht der Mönch das oberfränkische Nest Bamberg. »Die tibetische Kultur sollte in unseren Augen wie Bamberg zum Weltkulturerbe gehören«, sagt Eichler. 5 000 Zuhörer werden in Bamberg erwartet, 7 000 in Nürnberg, 2 500 in Gladbach und 3 500 in Bochum.
In Bochum trifft sich der Dalai Lama zudem mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU), dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) und dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU). Außerdem hat er die Einladung von Rupert Polenz (CDU) angenommen, mit Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses in Berlin zu sprechen. Einen Empfang im Kanzleramt wie im vergangenen Jahr wird es nicht geben. Angela Merkel (CDU) befindet sich in Lateinamerika. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat ein Treffen abgelehnt. Volker Beck (Grüne) empörte sich: »Statt vor China in die Knie zu gehen, sollte er Rückgrat zeigen und den Dalai Lama in Berlin empfangen.« »Seine Heiligkeit« wird verschmerzen können, dass er Steinmeier nicht sieht. Schließlich trifft er einen alten Freund. Roland Koch hat nach eigener Aussage »eine sehr vertrauensvolle Beziehung zum Dalai Lama«. Wer derzeit die Homepage der hessischen Staatskanzlei anklickt, findet an oberster Stelle nicht etwa neue Einlassungen Kochs zum »Warnschussarrest«. Der Ministerpräsident äußert sich zur Lage in Tibet. In Hessen war der Dalai Lama zuletzt 2005: Er feierte in Wiesbaden seinen 70. Geburtstag und erhielt den Hessischen Friedenspreis.
Mit Lob hielt sich der Laudator Koch damals nicht zurück: Vorbildlich sei die »religiöse Führerschaft« des Mönchs. In der Tat kann der deutsche Landespolitiker nur davon träumen, das autoritäre Bedürfnis seiner Klientel so zu befriedigen wie der Dalai Lama das der seinen. »Sie versuchen nicht, die Struktur des Landes, in dem sie leben, zu unterminieren«, hob Koch hervor, als wünschte er, alle Migranten in Hessen würden durch Tibeter ersetzt. Deren Sache ist auch Kochs Herzensangelegenheit: »Es ist eine existenzielle Bedingung eines jeden Volkes, seine Lieder, seine Traditionen in Freude zu leben.« Der Ministerpräsident wusste auch 2005 schon um die Bedrohung für die Tibeter: »In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung so viele chinesische Bürger in die tibetische Region umziehen lassen, dass die Tibeter heute in ihrer angestammten Heimat eine nationale Minderheit sind.« Dem Tibeter geht es mit den Chinesen also so wie dem Hessen mit den Türken, Jugoslawen, Arabern etc. Da hilft nur die Meditation oder eine Doppelpass-Kampagne. Oder man macht es wie ein Teil der tibetischen Aufständischen in Lhasa im März und steckt die Geschäfte der verhassten Nachbarn in Brand. Zuspruch ist dem Dalai Lama bei seinem Besuch also gewiss. Vielleicht tröstet er ihn ja darüber hinweg, dass dieses Mal keine Zeit für einen Besuch am Grab Heinrich Harrers in Kärnten bleibt. Zuletzt hat der buddhistische Wanderprediger 2006 der letzten Ruhestätte des bergsteigenden SA-, SS- und NSDAP-Mitglieds die Ehre erwiesen. Geehrt wird der Freund und Lehrer des Dalai Lama aber dennoch in kleinerem Maß: Die TID empfiehlt auf der Homepage zum Besuch des Tibeters die Bücher Harrers zur Einstimmung. | Markus Ströhlein | Markus Ströhlein: Der Dalai Lama kommt zu Besuch | [] | Inland | 15.05.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/20/wolkenkuckucksheim-am-himalaya?page=0%2C%2C1 |
Alles muss raus | Als sie es geschafft hatte, kamen Hannelore Kraft die Tränen. Sichtlich gerührt nahm die neue nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin nach ihrer Wahl am Mittwoch voriger Woche im Landtag die Glückwünsche entgegen. Lange hatte die SPD-Landesvorsitzende gezögert und musste von der grünen Landtagsfraktionsvorsitzenden Sylvia Löhrmann zum Sprung in die Düsseldorfer Staatskanzlei gedrängt werden. Die Angst vor dem Scheitern war groß. Doch keiner der grünen und sozialdemokratischen Abgeordneten verweigerte der rot-grünen Minderheitsregierung die Zustimmung, und auch die Linkspartei ließ sie nicht auflaufen. Ob das Experiment mehr als ein Interregnum sein wird, ist allerdings offen. »Wir wollen keine Übergangslösung, die unweigerlich zu schnellen Neuwahlen führt«, heißt es im rot-grünen Koalitionsvertrag. Doch das ist vorerst nur ein Wunsch. »Wir können nicht wissen: Hält das für fünf Monate oder für fünf Jahre«, räumt Krafts grüne Partnerin Löhrmann ein. Löhrmann und Kraft, die ersten beiden Frauen an der Spitze des bevölkerungsreichsten Bundeslands, hätten die große Chance zu einem Neuanfang. Die Frage ist allerdings, ob sie auch den Mut dazu haben. Mit der Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung, so hat FDP-Generalsekretär Christian Lindner der Ministerpräsidentin vorgeworfen, verlasse sie den Traditionspfad von Wolfgang Clement und Peer Steinbrück. Schön wär’s. Denn dieser »Traditionspfad« hat nicht nur die SPD an Rhein und Ruhr in den Abgrund geführt. Kraft und Löhrmann würden einen groben Fehler begehen, knüpften sie einfach nur an die Politik des ersten und aus guten Gründen im Jahr 2005 gescheiterten rot-grünen Versuchs an. Der zwischen ihnen geschlossene Koalitionsvertrag verrät nicht, welchen Weg ihre »Koalition der Einladung« einschlagen wird. Auch wenn das 89seitige Papier nicht mit wohlklingender sozial-ökologischer Politprosa geizt und sich Wolfgang Clement in Focus bitter beklagte, es lese sich »wie ein Bußgeldkatalog für die Agenda 2010«, enthält der Vertrag nur wenig Konkretes und ist entsprechend in alle Richtungen interpretierbar.
So erscheint die Aufregung der Opposition von CDU und FDP insbesondere bei der Bildungspolitik reichlich verfrüht. Rot-Grün werde die Axt an das geliebte Gymnasium legen, klagte sie lautstark. FDP-Fraktionschef Gerhard Papke warf der neuen Regierung sogar eine Schulpolitik vor, wie es sie sonst nur in der DDR gegeben habe: »Das ist nichts anderes als ein Fünfjahresplan zur Zerstörung der Bildungsvielfalt.« Doch davon kann keine Rede sein. Die grüne Schulministerin Löhrmann möchte sich die Lust am Regieren offenkundig nicht durch Proteste konservativer Elternverbände und der schwarz-gelben Opposition, die im Wahlkampf das Gespenst von der »Einheitsschule« gezeichnet hatte, vermiesen lassen. Zwar heißt es im Koalitionsvertrag: »Längeres gemeinsames Lernen macht unser Bildungssystem gerechter und leistungsstärker.« Aber das dreigliedrige Schulsystem soll auch unter Rot-Grün nicht abgeschafft, sondern nur ergänzt werden. Neben den als Alternative bereits bestehenden Gesamtschulen könnten demnächst ähnlich wie in Hamburg »Gemeinschaftsschulen« entstehen (Jungle World 28/10). Die Entscheidung über deren Errichtung und auch, ob sie anstelle bestehender Schulen etabliert oder zu diesen addiert werden sollen, wollen SPD und Grüne den einzelnen Städten überlassen. Damit verlagern sie den »Schulkampf« auf die lokale Ebene. De facto dürfte das vor allem auf eine Bestandsgarantie für Gymnasien hinauslaufen.
An den Sitzungstagen vor der Sommerpause beschäftigte sich Rot-Grün ausschließlich mit Aufräumarbeiten. In einem Parforceritt manövrierten SPD und Grüne am Donnerstag und Freitag voriger Woche zahlreiche Gesetzentwürfe in der ersten Lesung durch den Landtag, mit denen Entscheidungen der abgewählten schwarz-gelben Regierung korrigiert werden sollen. Den Kommunen soll wieder mehr wirtschaftlicher Handlungsspielraum eingeräumt und Einschränkungen der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst zurückgenommen werden. Auch das umstrittene Kinderbildungsgesetz (KiBiz) soll reformiert, die Drittelparität in den Schulkonferenzen wiedereingeführt und die Kopfnoten auf Schulzeugnissen und die verbindlichen Grundschulempfehlungen abgeschafft werden. Von einem »Tribunal über die ehemalige Landesregierung« sprach der CDU-Abgeordnete Klaus Kaiser.
Beim Thema Studiengebühren entging die neue rot-grüne Regierung nur knapp einer Abstimmungsniederlage. Öffentlichkeitswirksam hatte sie beschließen lassen wollen, diese »schnellstmöglich abzuschaffen«. Das war der Linkspartei nicht schnell genug. Der Streit konzentrierte sich mester. SPD und Grüne wollen die von Schwarz-Gelb eingeführten Studiengebühren im Wintersemester 2011/2012 abschaffen. Ein früherer Zeitpunkt sei nicht möglich, weil sonst die Hochschulen keinen vollen finanziellen Ausgleich erhalten können. Die Abgeordneten der Linkspartei sahen das anders. Sie brachten einen eigenen Gesetzentwurf für die sofortige Abschaffung ein und forderten als Kompromiss, dass sich Rot-Grün zu einer Vorverlegung auf das Sommersemester bereiterklärt. Nachdem alle Versuche einer Einigung gescheitert waren und die Linkspartei daraufhin angekündigt hatte, gegen die rot-grüne Vorlage zu stimmen, verzichteten SPD und Grüne unter höhnischem Gelächter aus den Reihen von CDU und FDP am späten Donnerstagnachmittag auf die Abstimmung ihres Antrags, um das vorhersehbare Scheitern zu vermeiden. Ebenso wie der Gesetzentwurf der Linkspartei wurde er an die Fachausschüsse übergeben. Dort wird nun weiter verhandelt. Für die Linkspartei stellt die rot-grüne Minderheitsregierung eine nicht minder große Herausforderung als für SPD und Grüne dar. Mit ihrer geschlossenen Enthaltung bei der Wahl Krafts zur Ministerpräsidentin haben die elf Neueinsteiger des Parlaments ihre erste Bewährungsprobe bestanden: Sie hielten ihr Wahlversprechen, dass die Ablösung der schwarz-gelben Landesregierung an ihnen nicht scheitern werde. Es wird sich zeigen, ob sie nun auch bei ihrer Ankündigung bleiben, rot-grüne Reforminitiativen zu unterstützen, solange diese den eigenen inhaltlichen Zielen nicht grundsätzlich widersprechen. »Wir wollen, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen für der Mehrheit der Menschen in diesem Land verbessern«, sagte der Vorsitzende der Linksfraktion, Wolfgang Zimmermann. » Allen Initiativen, die diesem Ziel dienen, werden wir zustimmen.«
Damit würde die Linkspartei in NRW einer längst vergessenen Überlegung eines Teils des einstigen ökosozialistischen Flügels der Grünen zu einem Praxistest verhelfen. Im seinerzeit heftig geführten Streit über den Umgang mit der SPD zwischen Fundamentalopposition und Regierungsbeteiligung hatte Mitte der achtziger Jahre ein Kreis um Michael Stamm, Verena Krieger, Michael Barg und Jürgen Reents, der mittlerweile Chefredakteur des Neuen Deutschland ist, der grünen Partei eine »weiche« Tolerierung ohne Bündnisverhandlungen und Vereinbarungen vorgeschlagen. Eine Idee, die auch Hermann L. Gremliza 1987 aufgriff und der Hamburger GAL als »unerbetenen Vorschlag« unterbreitete. Er schlug vor, sie solle einen ausschließlich von der SPD gebildeten Senat wählen, dem von ihm vorgelegten Haushalt zustimmen und alle Gesetzentwürfe und Entschließungsanträge des Senats bei Abstimmungen unterstützen, »wenn diese nicht gegen Beschlüsse des Bundesparteitags der SPD verstoßen«. So sollte die SPD gezwungen werden, Farbe zu bekennen, wie ernst sie ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse nimmt – so »harmlos, widersprüchlich und Welten entfernt von notwendiger Veränderung« sie auch seien. Es handele sich um eine »eiskalte Ermächtigung« der SPD, formulierte Gremliza, »als das erklärte kleinere Übel ihre hoffnungslose Politik alleine machen zu müssen, gnadenlos an der Regierung gehalten von Leuten, die im Parlament und außerhalb erklären: Diese Regierung ist mies, ihre Politik beschissen, und wir sagen allen, warum; aber wir werfen unsere Stimmkärtchen in den Ja-Kasten, weil wir den Hamburger Arbeitslosen, Sozialmietern, Realschülern mit unserem Nein bloß noch eine noch ein bisschen miesere Regierung und beschissenere Politik aufhalsen würden.« Es ging also keineswegs darum, auf Kritik zu verzichten: »Im Gegenteil: gerade die Tatsache, dass die GAL sich nicht in eine wie auch immer geartete Partnerschaft ›einkauft‹, sondern autonom entscheidet, gibt ihr die Freiheit ihre Kritik und ihre eigenen Konzepte ohne taktische Rücksichten zu entfalten.« Gremliza blitzte mit seinem Vorschlag ab.
Was der Konkret-Herausgeber damals vergeblich der GAL vorschlug, könnte jetzt für die Linkspartei in Nordrhein-Westfalen Realität werden. Um Rot-Grün im Amt zu halten, wäre nicht einmal die verständlicherweise schwerfallende Zustimmung zum Haushalt nötig, wie bei der Wahl der Ministerpräsidentin würde eine Enthaltung reichen. Aber die Verlockung ist groß, letztlich doch lieber auf Verhandlungen zu setzen – und dann entweder durch das Beharren auf der eigenen Position das Experiment scheitern zu lassen oder sich, wie bei der Tolerierung der Höppner-Regierung in Sachsen-Anhalt, auf faule Kompromisse einzulassen. »Wir müssten die Sicherheit bekommen, dass gegen unseren Willen im Landtag nichts Wesentliches mehr beschlossen wird«, plädierte Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi bereits am Wochenende in der Super Illu. SPD und Grüne müssten »im Laufe des Herbstes auf uns zukommen, sich mit uns inhaltlich einigen, die nötigen Regularien und Gremien vereinbaren und dies dann schließlich auch öffentlich erklären«. Eine solche Tolerierung wäre eine Art Regierungsbeteiligung ohne Kabinettsbeteiligung – und damit gegenüber einer »richtigen« Koalition die schlechtere Variante.
»Wir müssen den schmalen Grat zwischen Sektierertum und Opportunismus finden«, sagt der neue Landesvorsitzende Hubertus Zdebel, der der »Antikapitalistischen Linken« (AKL) nahesteht und sich auf einem Landesparteitag Anfang Juli in einer Kampfabstimmung gegen den »Pragmatiker« Paul Schäfer durchsetzen konnte. Jetzt führt der Ex-Grüne gemeinsam mit der wiedergewählten Katharina Schwabedissen (AKL) den viertgrößten Landesverband der Linkspartei. Seine Erfahrungen bei den Grünen, die er vor drei Jahren verließ, hätten ihn »gelehrt, wie schnell Inhalte durch angebliche Sachzwänge weichgespült und schließlich aufgegeben werden«, so Zdebel. Weder Anbiederung noch Totalverweigerung – das sei der nicht einfache Spagat, der seiner Partei gelingen müsse. | Pascal Beucker | Pascal Beucker: Rot-Grün räumt auf in NRW | [] | Inland | 22.07.2010 | https://jungle.world//artikel/2010/29/alles-muss-raus?page=0%2C%2C3 |
Deutsches Haus #50/2020 | In der Nacht zum 1. Dezember legten Unbekannte einen Brand in einem Wohnhaus in Schöffengrund (Hessen), ein 23jähriger wurde leicht verletzt. Einem Bericht des Wiesbadener Kurier zufolge brannte der Dachstuhl, ein zweiter Bewohner blieb unverletzt. Die Täter schrieben mit weißer Farbe und in falscher Schreibung auf das Gartentor »Scheis Türke«. Der Staatsschutz ermittelt. Am Nachmittag des 30. November beleidigte eine 49jährige im Berliner Ortsteil Mitte an einem Bahnsteig der U-Bahnhaltestelle Alexanderplatz einen Polizisten mehrfach auf rassistische Weise, als dieser mit seinen Kollegen die Frau auf ihren fehlenden Mund-Nasen-Schutz hinwies. Nach einer Anzeige wegen Beleidigung setzte die Frau ihren Weg mit einem Schal vor Mund und Nase zunächst fort. Als sie in der U-Bahn den Schal entfernte und sich lautstark über den Maskenzwang beschwerte, kamen die selben Polizisten, um einen Platzverweis gegen sie auszusprechen. Einem Polizeibericht zufolge hielt sich die Frau an den Haltestangen fest und äußerte erneut rassistische Beleidigungen. Der Staatsschutz ermittelt wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung. Am Morgen des 27. November beleidigte ein 52jähriger Mann am Essener Hauptbahnhof (Nordrhein-Westfalen) eine 32jährige Frau mit niederländischer Staatsangehörigkeit auf rassistische Weise und bespuckte sie. Wie aus einem Polizeibericht hervorgeht, stritt der Mann die Vorwürfe gegenüber den herbeigerufenen Bundespolizisten ab. Zwei Zeugen bestätigten jedoch den Vorfall. Die Bundespolizei ermittelt gegen den polizeibekannten 52jährigen wegen Beleidigung und Volksverhetzung. Am 23. November beschmierten Unbekannte drei Stolpersteine im Berliner Ortsteil Friedrichshain mit einer weißgrauen Substanz. Wie der Berliner Kurier berichtete, alarmierte ein Anwohner die Polizei, die daraufhin die Substanz von den Gedenksteinen entfernte. Der Staatsschutz ermittelt wegen Volksverhetzung. Am Vormittag desselben Tags alarmierte ein Mitarbeiter des Lindetal-Einkaufszentrums in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) die Polizei wegen rechtsextremer Schmierereien. Nach einem Bericht des Nordkurier hinterließen die unbekannten Täter an verschiedenen Stellen Schriftzüge wie »Sieg Heil« und »Du bist Nazi« sowie Hakenkreuze und SS-Runen. Die Polizei ermittelt. mb | : Chronik rassistischer und antisemitischer Vorfälle | [] | Antifa | 10.12.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/50/deutsches-haus-50/2020 |
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Dampf ablassen mit der AfD | Ordentlich ballern. Jeder Treffer findet ein würdiges Ziel bei diesem lustigen und leicht selbst zu fertigenden Dosenspiel Der Duisburger Hafen Anfang September: Uwe Kamann, IT-Unternehmer und aussichtsreicher Listenkandidat der AfD für die Bundestagswahl, hat zu einer Schiffsfahrt auf dem Rhein eingeladen. Die Tour unter dem Motto »Leinen los, Berlin wir kommen« wurde von Kamann und der AfD in Nordrhein-Westfalen als Möglichkeit deklariert, die Partei »ungefiltert«zu erleben. Ein Blick in die Programmatik ohne mediale Verzerrungen sollte möglich sein. Doch nicht interessierte Bürger bestiegen den holländischen Ausflugsdampfer, den die AfD gemietet hatte. Es war vielmehr die Basis der »gemäßigten« AfD Nordrhein-Westfalen, die sich versammelt hatte, um bei labberigen Pommes und lauwarmen Bockwürsten zu lauschen, was Marcus Pretzell, der Ehemann von Frauke Petry, einige regionale Funktionäre und der »Silberjunge« Thorsten Schulte, dessen im Kopp-Verlag erschienenes Buch »Kontrollverlust« auf Platz zwei der Spiegel-Bestsellerliste steht, zu erzählen hatten. Viel war das nicht. Schulte sprach Pseudofakten anführend davon, dass Kanzlerin Angela Merkel Rechtsbrüche begangen habe, und erhoffte sich für die Zeit nach der Bundestagswahl einen »Untersuchungsausschuss Merkel«. Ähnliche Töne schlug Pretzell an, der über die Ehe für alle sprach, mit der Angela Merkel die Axt an die »kleinste Zelle unserer Kultur, die Familie« angelegt habe. Gegen Recht habe Merkel außerdem bei der Euro-Rettung und während der Flüchtlingskrise verstoßen. Als es später in einer Podiumsdiskussion um die Sozialpolitik der AfD ging, wurde der rassistische Charakter, der auch bei den vermeintlich gemäßigten AfD-Funktionären zum guten Ton gehört, deutlich erkennbar. Die Sozialausgaben für die Flüchtlinge seien zu hoch, darunter leide die deutsche Mehrheit. Migranten, das hätten Studien aus Dänemark bewiesen, zahlten zu »80 bis 90 Prozent nicht in die Rentenkassen ein«, dies sei auch in Deutschland der Fall. Die AfD werde dafür sorgen, dass, wer nicht einzahlt, auch nicht viel Rente bekommt. Nicht viel zu bieten außer Rassismus Zweifellos spannender als das offizielle Programm bei der Schiffsfahrt war es, mit den diversen AfD-Funktionären zu sprechen. Fast alle auf dem Schiff grenzten sich verbal vom völkischen Flügel um Björn Höcke und Alexander Gauland ab, der wenige Tage vorher erklärt hatte, er sei stolz auf die Leistungen der Wehrmachtssoldaten. Allerdings relativiert sich diese Abgrenzung, wenn die AfD-Mitglieder einmal ins Erzählen kommen. Dann ist ganz schnell die Rede von der »Verräterin Merkel«, bei der man sich schon fragen müsse, welchen Plan sie damit verfolgt habe, als sie 2015 die Grenzen für Flüchtlinge öffnete. Darüber offen sprechen dürfe man nicht, sonst gelte man zu schnell als Verschwörungstheoretiker, obwohl es »reale Verschwörungen« gebe.
Auf welche Theorien die AfD-Funktionäre anspielen, ist eindeutig. Sie befürchten einen von der Politik betriebenen »Bevölkerungsaustausch«, mit dem die Partei der Kanzlerin und die anderen »linken Parteien« sich ein willenloses Wahlvolk heranzüchten wollten. Aussagen wie diese kommen von Funktionären der AfD, die als gemäßigt gelten und in Zukunft eine Zusammenarbeit mit der Union anstreben. Bei den Treffen der völkischen AfD-Mitglieder dürfte es noch wesentlich härter zugehen. Über das Programm der AfD im Bundestagswahlkampf zu sprechen, ist eigentlich Zeitverschwendung. Neben Sprüchen, die an die dumpfen Altherrenwitze der NPD erinnern – wie bei dem Plakat »Neue Deutsche? Machen wir selber«, auf dem eine schwangere blonde Frau zu sehen ist, oder »Burkas? Wir steh’n auf Bikinis« –, hat die AfD nicht viel zu bieten als Rassismus. Der Einzug der AfD in den Bundestag bedeutet erst einmal Geld und Stellen für Rechtsextreme und Anhänger der Neuen Rechten Wichtiger als Plakate oder gar kluge Aussagen ist für die AfD die Inszenierung von Tabubrüchen und Skandalen. Als die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel beleidigt und anscheinend geplant eine ZDF-Talkshow verließ, fragten sich ihre Fans nicht, ob sie nicht etwas zu dünnhäutig für die politische Auseinandersetzung sei. Weidels Abgang galt eher als souveränes Zeichen gegen das »Kartell der etablierten Medien«. Auch die Sprüche von Alexander Gauland, der erst die stellvertretende SPD-Vorsitzende und Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, »in Anatolien entsorgen« wollte und dann das »Recht, stolz zu sein« auf die Leistungen der Wehrmacht, forderte, führten nicht zu einem Einbruch der Umfragewerte bei der AfD. Im Gegenteil, die Partei verfolgt damit äußerst erfolgreich mehrere Ziele. Überzeugte Rechtsextreme sollen in ihrer Sympathie für die AfD bestärkt werden. Überdies inszeniert sich die Partei weiter als Tabubrecherin gegen einen herbeihalluzinierten »linken Konsens«, die Medien sollen dann auf die vermeintlichen Tabubrüche hinweisen und der Partei so Aufmerksamkeit bescheren. All dies gelingt der AfD im Wahlkampf mit Perfektion. Am kommenden Sonntag wird sie voraussichtlich mit einem Ergebnis um die zehn Prozent in den Bundestag einziehen, mit 70 bis 90 Abgeordneten. Das bedeutet erst einmal Geld und Stellen für Rechtsextreme und Anhänger der Neuen Rechten. Eine Fraktion der AfD im Bundestag ist für die Strukturen der Neuen Rechten ein Glücksfall, denn die AfD braucht halbwegs fähige Mitarbeiter, die sie in diesen Kreisen rekrutieren kann. Eine Spaltung ist möglich Allerdings könnte das Glück der AfD im Bundestag bald wieder enden: Im Dezember steht ein Parteitag an, bei dem es auch darum gehen wird, ob Frauke Petry und Jörg Meuthen Sprecherin und Sprecher der Partei bleiben. In Parteikreisen heißt es, es könnte durchaus eine ähnliche Stimmung herrschen wie beim Parteitag 2015 in Essen, als Bernd Lucke die Partei verließ. Eine Spaltung bliebe nicht ohne Folgen für die Fraktionen in Bundestag und Landtagen. Gut die Hälfte der aussichtsreichen Bundestagskandidaten der AfD gehören dem weniger extremen Parteiflügel um Frauke Petry an. In den vergangenen Monaten gründeten sie die »Alternative Mitte«, eine Initiative von Parteimitgliedern, die einen »realpolitischen Kurs« verfolgen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass zum Jahreswechsel zwei äußerst rechte Fraktionen im Bundestag sitzen. Dass die Abgrenzung zum Rechtsextremismus in erster Linie taktisch ist, verrät ein AfD-Funktionär bei der Duisburger Rheinschiffsfahrt freimütig: »Rechts von der AfD gibt es kaum Wähler zu gewinnen«, die Menschen dort hätten mit NPD und Co. ihre eigenen Parteien. | Sebastian Weiermann | Sebastian Weiermann: Am Sonntag wird die AfD in den Bundestag einziehen. Ihr Glück dort könnte bald wieder enden | [
"Bundestagswahl 2017",
"AfD"
] | Thema | 21.09.2017 | https://jungle.world//artikel/2017/38/dampf-ablassen-mit-der-afd?page=0%2C%2C2 |
Einheit um jeden Preis | Alles für den Sieg. Männer spenden Blut für äthiopische Truppen, die in der Region Tigray gegen die Tigray People’s Liberation Front kämpfen, Addis Abeba, 12. November Es gibt unterschiedliche Berichte darüber, welcher Bevölkerungsgruppe die am 9. November in Mai Kadra Ermordeten angehörten. Sicher scheint lediglich, dass in der Stadt in Tigray, der nördlichsten Region Äthiopiens, ein ethnisch motiviertes Massaker an Wehrlosen verübt wurde. Amnesty International spricht von mehreren Hundert Todesopfern. Drei Zeugen berichteten demnach, Überlebende des Massakers hätten ihnen gesagt, Milizen und Polizeikräfte der Tigrays People’s Liberation Front (TPLF) hätten in Mai Kadra gemordet; die TPLF stellt die Regionalregierung von Tigray. Ein Mann, der dabei geholfen habe, Tote von der Straße zu entfernen, habe Amnesty gesagt, er habe die Ausweisdokumente einiger Opfer gesehen; diese hätten die betreffenden Personen mehrheitlich als Angehörige der Ethnie der Amhara ausgewiesen. Der Nachrichtenagentur Reuters berichteten Geflüchtete hingegen offenbar, es habe sich um Morde an tigrinischer Bevölkerung gehandelt, verübt von amharischen Milizen. Dass der Vorfall bislang nicht aufgeklärt ist und es keine verlässlichen Informationen über ihn gibt, liegt daran, dass sich die Regionalregierung von Tigray und die äthiopische Zentralregierung seit dem 4. November im Krieg befinden. Die Zentralregierung hat die Internet- und Telefonverbindungen nach Tigray weitgehend gekappt, nahezu alle Kommunikation mit dem Ausland läuft über die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba. Dort zeigen sich viele fassungslos. Obwohl es Anzeichen für eine Eskalation gab, hatten sie doch nicht mit diesem Krieg gerechnet. »Abends haben wir noch über die Lage gesprochen und waren uns sicher, dass es keinen Krieg geben wird. Morgens sind wir im Krieg wieder aufgewacht«, berichtet ein Unternehmer der Jungle World. Eine humanitäre Katastrophe bahnt sich in Tigray an. Eigentlich stünde bald die Ernte bevor, die Vorräte der vorigen sind weitgehend aufgebraucht. Hunderte Kämpfer und Zivilisten sind in dem Konflikt bislang getötet worden, Zehntausende sind aus Tigray geflohen, viele davon in das Nachbarland Sudan. Humanitäre Hilfe erreicht dort zwar die steigende Anzahl der Geflüchteten dort, die UN appellieren aber weiterhin, humanitäre Korridore innerhalb Äthiopiens zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung in Tigray zu gewährleisten. Die äthiopische Regierung unter Ministerpräsident Abiy Ahmed erklärte Tigray den Krieg, nachdem eine Militärbasis nahe der tigrinischen Hauptstadt Mekelle angegriffen worden war. Abiy machte die TPLF dafür verantwortlich. Abiy kam 2018 überraschend an die Macht, zuvor hatte die TPLF, als lange Zeit führende politische Kraft der Koalition Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker, Äthiopien mehr als 25 Jahre lang regiert. Viele Medien sowie die deutliche Mehrheit der Äthiopierinnen und Äthiopier feierten Abiy, der auch den Vorsitz der Revolutionären Demokratischen Front übernahm, als Reformer. Er ließ politische Gefangene frei, Oppositionspolitiker konnten aus dem Exil nach Äthiopien zurückkehren. Blockierte Internetseiten wurden freigeschaltet, Presse und Wissenschaft sahen sich plötzlich in der Lage, frei berichten und publizieren zu können, gleichsam über Nacht sprachen die Menschen wieder offen über Politik. Viele aus dem alten Machtapparat verloren unter Abiy ihre Posten, führende TPLF-Funktionäre zogen sich nach Tigray zurück. Die neue Regierung warf diesen vor, ihre Arbeit zu hintertreiben. Nachdem Abiy die für August geplanten nationalen Parlamentswahlen im Juli unter Verweis auf die Covid-19-Pandemie für unbestimmte Zeit verschoben hatte, hielt Tigray im September gegen den Willen der Zentralregierung eigene Wahlen ab. Das zeigt, dass die TPLF noch immer den sogenannten ethnischen Förderalismus befürwortet. 1991 stürzte vorrangig die einstmals albanisch orientierte TPLF das sozialistische Regime des damaligen Präsidenten Mengistu Haile Mariam, der das Land seit 1977 regiert hatte. 1995 ließ sie den ethnischen Föderalismus in der Verfassung festschreiben. Dieser sollte das Mitbestimmungsrecht aller Ethnien sicherstellen. Verwaltungsgrenzen wurden entlang ethnischer Linien gezogen. Die zahlenmäßig kleine Ethnie der Tigrinier sicherte sich nach und nach das Machtmonopol im Staat. Die TPLF unterdrückte vor allem die größte Bevölkerungsgruppe der Oromo, über die Jahre protestierten Oromo im In- und Ausland immer lauter dagegen. Abiy, selber ein Oromo, und seine Anhänger streben ein vereintes Äthiopien unter zentraler Führung an. Der Ministerpräsident ist Pfingstkirchler. Seine Reden erinnern in weiten Teilen an Predigten über Vergebung und Liebe. Er sagt, dass er das Land einen sowie dessen Wohlstand mehren und unabhängig von Ethnie und Religion gerecht verteilen wolle. Reformen brauchen jedoch Zeit, und zu viele Äthiopier haben zu lange unter den Vorgängerregimen gelitten, um Abiy diese Zeit zu geben. Seit Abiys Amtsantritt ist die Zahl der Konflikte und Binnenvertriebenen deutlich gestiegen, nun steht er unter Druck. Westliche Medien scheinen verwundert über Abiys Vorgehen in Tigray, erhielt er doch 2019 den Friedensnobelpreis, weil er im Juli 2018 nach jahrzehntelanger Feindschaft einen Friedensvertrag mit dem Nachbarland Eritrea unterzeichnet hatte. Dabei war bekannt, dass der ehemalige Militärangehörige und Geheimdienstler in dem System sozialisiert wurde, das er nun reformieren möchte. Nun ist er Befehlshaber in einem Krieg gegen einen Landesteil. In Äthiopien fällt die Bewertung des Konflikts sehr unterschiedlich aus. Im Zentrum der Diskussionen stehen die Rolle der TPLF und die Motive Abiys. Für viele Äthiopierinnen und Äthiopier geht es in dem Konflikt auch um die Frage, wie das Land künftig regiert werden soll: nach dem ethnoföderalistischen Modell oder zentralistisch. Tigrays Regierung stört Abiys zentralistisches Projekt. Es scheint, als wolle die Zentralregierung Tigray zeigen, wer am längeren Hebel sitzt. Es gibt Berichte über eine systematische Versorgungsblockade gegen Tigray, die nach den Wahlen im September begonnen hätte. Straßen seien gesperrt und Banken geschlossen worden. Die Zentralregierung habe sonst übliche Nahrungsmittellieferungen nach Tigray unterbrochen. Auf diese waren viele Menschen in Tigray bereits vor dem Konflikt angewiesen, unter anderem auch aufgrund der Heuschreckenplage Anfang dieses Jahres. Für viele in Äthiopien ist das Vorgehen der Zentralregierung gegen Tigray nachvollziehbar. Viele sind traumatisiert von der früheren Herrschaft oder zumindest der prominenten Stellung der TPLF überdrüssig und fragen sich, wie und warum eine Provinz überhaupt gleichberechtigt mit der Zentralregierung verhandeln könne. Viele Tigrinierinnen und Tigrinier fühlen sich unter Generalverdacht gestellt. Mahalet* ist aus Mekelle nach Addis Abeba gezogen, wo sie als Krankenschwester arbeitet. Im Gespräch mit der Jungle World erzählt sie, zehn Polizisten hätten am Wochenende ihr Haus durchsucht. Sie hätten in ihrem Kühlschrank und Bett nach Bomben gefahndet. Sie berichtet, die Gemeindeverwaltung erfasse die Ethnie der Menschen in ihrer Nachbarschaft. Die Zentralregierung bestreitet, ethnic profiling zu betreiben. Mahalet sagt, ihr Neffe sei bei der staatlichen Fluggesellschaft Ethiopian Airlines angestellt. Er sei wie andere tigrinische Angstellte entlassen worden und habe noch ein Monatsgehalt als eine Art Abfindung bekommen. Sie habe keinen Kontakt zu Familienangehörigen in Mekelle und Umgebung. Viele Äthiopierinnen und Äthiopier nehmen Anteil am Schicksal tigrinischer Freundinnen und Freunde, die nun zu Unrecht verdächtigt und bedroht werden, häufig finden sie das Vorgehen der Regierung dennoch zumindest verständlich. Eine Juristin berichtet der Jungle World, es habe mehrere der TPLF zugeschriebene Bombenangriffe in Addis Abeba gegeben. Sie sagt, ein Ministerpräsident müsse Terrorangriffe von Rebellen mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern. Die Zentralregierung schränke die Kommunikation in Tigray nicht in erster Linie ein, um den Informationsfluss nach Addis Abeba und ins Ausland zu unterbinden, sondern um Absprachen ihrer Gegner im Kriegsgebiet zu behindern. Diese Strategie ist nicht neu. Frühere TPLF-Regierungen verhinderten regelmäßig den Austausch von Informationen über SMS und soziale Medien. Der Nationalstolz auf Äthiopien ist auch in Tigray enorm – aber ebenso die Identifikation mit den tigrinischen Führern und der kämpferischen Geschichte der Region. Die Bevölkerung in Tigray steht weitgehend hinter den lokalen Machthabern. Die Erinnerung an den eritreisch-äthiopischen Krieg (1998–2000), in dem viele Familien in Tigray Angehörige verloren haben, sitzt tief. Eine Journalistin aus Addis Abeba sagte der Jungle World, es trage nicht zum Frieden bei, wenn tigrinische Familien nun weitere Angehörige verlören. Mahalet sagt: »Wir sind verwirrt. Tigray ist im Krieg gegen Äthiopien. Wir sind in Addis plötzlich im Ausland. Wir können nur abwarten, wer gewinnt.« Am Sonntag sagte Abiy, er gebe Tigray 72 Stunden, um aufzugeben, andernfalls werde er Mekelle angreifen lassen. Während es für viele in Äthiopien nur eine Frage der Zeit ist, bis Tigray aufgeben muss, scheint es wahrscheinlicher, dass sich Tigray nicht einfach militärisch ruhigstellen lässt. Der Konflikt könnte sich weiter in die Bergregionen Tigrays verlagern. Einem Bericht des Magazins Foreign Policy zufolge haben sich Teile der im Norden stationierten äthiopischen Truppen bereits mit den regulären Einheiten der Regionalstreitkräfte Tigrays verbündet. Es besteht große Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts. Die Regierung von Tigray hatte bereits bestätigt, den Flughafen in Asmara, der Hauptstadt Eritreas bombardiert zu haben. Sie wirft eritreischen Truppen vor, die äthiopischen Truppen zu unterstützen. Auch Flughäfen in der benachbarten Region Amhara wurden von Tigray aus angegriffen. Das Eintreten einer humanitäre Katastrophe ist absehbar. In Tigray stünde eigentlich bald die Ernte bevor, die Vorräte aus der vorigen sind weitgehend aufgebraucht. Wieder einmal ist es die verarmte Landbevölkerung, die leidet. Diese hat auch in Tigray nicht von der langen Herrschaft der TPLF profitiert. * Name von der Redaktion geändert | Madlen Hornung | Madlen Hornung: Krieg in Äthiopien | [
"Äthiopien"
] | Ausland | 26.11.2020 | https://jungle.world/artikel/2020/48/einheit-um-jeden-preis |
Die Hoffnung stirbt zuletzt | Für diese Legislaturperiode kann man es abhaken: Eine Reform des beinahe 40 Jahre alten Transsexuellengesetzes (TSG) wird es nicht geben. Das teilte die SPD-Bundestagsfraktion ausgerechnet einen Tag nach dem »Transgender Day of Visibility« am 31. März mit. Viele Vorschriften des Transsexuellengesetzes wie den Scheidungs- oder den Sterilisationszwang hat das Verfassungsgericht im Laufe der Jahrzehnte für verfassungswidrig erklärt. Das TSG gilt Menschenrechtsanwälten weiterhin als verfassungsrechtlich bedenklich und dringend reformbedürftig, Selbstvertretungsorganisationen fordern, dass für die Personenstandsänderungen eine Selbstdefinition ausreichen müsse. Die Bundesregierung hatte im Mai 2019 den Entwurf eines Gesetzes zur »Neuregelung der Änderung des Geschlechtseintrags« vorgestellt, der das Transsexuellengesetz ablösen sollte. Geregelt werden sollte, was transgeschlechtliche Menschen benötigen, um ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ändern zu lassen. Nach der derzeitigen Regelung brauchen sie zwei Gutachten, für deren Kosten sie selbst aufkommen müssen. Der Entwurf sah vor, dass transgeschlechtliche Personen sich vor einer Änderung ihres Namens und ihres Geschlechtseintrags verpflichtend beraten lassen müssten. Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans* kritisierte diesen Vorschlag als »Begutachtung durch die Hintertür«. Zudem wäre weiterhin ein amtsgerichtliches Verfahren statt eine in einigen Ländern mittlerweile mögliche Beantragung beim Standesamt nötig gewesen. Eine aktualisierte, aber kaum veränderte Version des Gesetzentwurfs der Regierung tauchte Ende Februar auf einer reaktionären Kampagnenplattform auf. Das rechtsklerikale Aktionsbündnis »Demo für alle« hatte unter dem Titel »Kinderfalle Trans-Gesetz – sofort stoppen!« eine Petition gegen das Gesetz initiiert. Zuvor hat-
te die antifeministische Publizistin Birgit Kelle in einem langen Artikel für den Fokus vor den »dramatischen Folgen für Frauen und Kinder« gewarnt, die eine solche Gesetzesänderung ihrer Meinung nach bedeute. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Druck von rechts die CDU/CSU darin bestärkt hat, an möglichst hohen Hürden bei der Personenstandsänderung für transgeschlechtliche Menschen festzuhalten. Danach klingt auch die Begründung des queerpolitischen Fraktionssprechers Karl-Heinz Brunner für den Rückzug seiner Partei von dem Gesetzesvorhaben: Die Unionsfraktion habe »absurde Missbrauchsbefürchtungen zu ›Geschlechterhopping‹ über das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen« gestellt, sagte er der Plattform queer.de zufolge. Der queerpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Sven Lehmann, kündigte an, noch vor der Sommerpause den Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz seiner Fraktion im Bundestag zur Abstimmung zu stellen. Er lud die Abgeordneten der SPD ein, dafür zu stimmen und so »das Transsexuellengesetz endlich rechtssicher und menschenwürdig zu überwinden«. Auch wenn solche Aussagen in der Community noch für Hoffnung sorgen, wird diese wohl nicht erfüllt werden: Das Selbstbestimmungsgesetz der Grünen bräuchte die Stimmen der SPD-Abgeordneten, diese werden wohl jedoch nicht für einen Entwurf der Opposition stimmen. Schon die »Pro Choice«-Bewegung hatte in der Auseinandersetzung um das »Werbeverbot« für Schwangerschaftsabbrüche, das im Paragraph 219a festgeschrieben ist, an die Strömungen in der Sozialdemokratie appelliert, die sich die reproduktiven Rechte von Frauen auf die Fahne geschrieben hatten. Im Februar 2019 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD ein Reförmchen, das mehr den starken Willen der Konservativen zum Erhalt der absurden Regelung entsprach, als dem Wunsch zumindest mancher SPD-Abgeordneter, den Paragraphen abzuschaffen: Seitdem dürfen Ärzte und Ärztinnen, die Abtreibungen vornehmen, zwar immerhin darauf hinweisen, dass sie das tun, ihnen ist aber unter Androhung einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe verboten, Informationen dazu zu geben, wie sie das tun. Die ersten Ärztinnen sind bereits wegen des reformierten Paragraphen 219a zu Geldstrafen verurteilt worden, weitere sind angeklagt. Was hat nun aber die Reform des Paragraphen 219a mit der des TSG zu tun? Zum einen zeigt die Geschichte, dass man sich nichts von der SPD erhoffen sollte. Dies gilt für das aktuelle Vorhaben sogar in noch größerem Maße als in den Diskussionen um die Abtreibungsgesetzgebung. Allem Gerede von einer »Translobby« zum Trotz ist die Frage der geschlechtlichen Selbstbestimmung weiterhin ein Nischenthema, für das sich auch in den sozialen Bewegungen, die sich für reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung einsetzen – also der feministischen und der LGBTQI-Bewegung –, kaum jemand nachdrücklich engagiert. Und trotz des Geredes von einem »Trans-Hype«, also der Behauptung, die Zahl der transgeschlechtlichen Menschen »explodiere«, wie Birgit Kelle in der Neuen Zürcher Zeitung warnte, ist die Community zu klein, um in dem demnächst anstehenden Bundestagswahlkampf auch nur annähernd für die Parteien interessant zu sein. Der Druck von rechts ist deutlich stärker, das sollte auch andern sozialen Bewegungen eine Warnung sein. | Kirsten Achtelik | Kirsten Achtelik: Bodycheck - Kolumne zu Biopolitik und Alltag: Die Reform des Transsexuellengesetzes ist gescheitert | [
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] | Inland | 15.04.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/15/die-hoffnung-stirbt-zuletzt?page=0%2C%2C2 |
Wanted Man | Pünktlich zum fünften Jahrestag seines Untertauchens soll Ludwig-Holger Pfahls ein Lebenszeichen von sich gegeben haben. Von Frankreich aus habe der 61jährige versucht, per Fernschreiben Kontakt mit einem Anwalt aufzunehmen, berichtete in der vergangenen Woche die Münchner Abendzeitung, ohne Quellen zu benennen. Es war ruhig geworden um jenen Mann, den die Süddeutsche Zeitung einst als »eine Art Wunderknabe der Politik« bezeichnete. Manch führender Unionspolitiker aus der Ära Kohl dürfte klammheimlich wie inbrünstig gehofft haben, dieser Pfahls werde nie wieder auftauchen, besser noch bereits tot sein, wie es gerüchteweise immer mal wieder hieß. Denn mit dem Namen des früheren CSU-Mitglieds sind zwei der dunkelsten Kapitel der schwarz-gelben Koalition verbunden: die Schmiergeldaffären um die Lieferung von 36 Fuchs-Spürpanzern an Saudi-Arabien und um den Verkauf der Leuna-Werke an den französischen Ölkonzern Elf-Aquitaine. Der Verschwundene, der in beiden Fällen kräftig mitkassiert haben soll, könnte den Beweis dafür liefern, dass die Regierung Kohl bestechlich war. Mit internationalem Haftbefehl gesucht wird Pfahls, weil ihm die Augsburger Staatsanwaltschaft vorwirft, Anfang der neunziger Jahre vom Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber fast zwei Millionen Euro Schmiergeld beim umstrittenen Geschäft mit den Saudis kassiert zu haben. Das soll der damalige Staatssekretär durchgesetzt haben, »obwohl dadurch die Abwehrfähigkeit und die Ausbildungsfähigkeit des Heeres beeinträchtigt war«, wie auf der BKA-Hauptfahndungsseite zu lesen ist. Kurz nachdem im April 1999 Untersuchungshaft für ihn angeordnet worden war, setzte sich Pfahls nach Taiwan ab, in ein Land, mit dem die BRD kein Auslieferungsabkommen hat. Von dort verschwand er zwei Monate später – und ward bis heute nicht mehr gesehen. Zuvor allerdings hatte Pfahls noch ein halbes Dutzend Briefe geschrieben, in denen er sich bitterlich über den Haftbefehl beschwerte. Schließlich hätten doch alle gewusst, was er gemacht habe. Eines der Schreiben soll auch an Helmut Kohl gegangen sein. Das Ende einer Bilderbuchkarriere. Zu der hatte ihm Franz Josef Strauß verholfen. Der frühere Vorsitzende der CSU holte Pfahls 1976 in seine Staatskanzlei, wo er bis zum Büroleiter des Ministerpräsidenten aufstieg. Im Juli 1985 wechselte er als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz von München nach Köln, zwei Jahre später ins Verteidigungsministerium, wo er unter den Ministern Manfred Wörner, Rupert Scholz und Gerhard Stoltenberg (alle CDU) als Staatssekretär tätig war. Sein Abgang in den einstweiligen Ruhestand, »ausdrücklich auf eigenen Wunsch«, im Februar 1992 war bereits von einer konspirativen Aktion überschattet. Er soll bei einer illegalen Aktion des Bundesnachrichtendienstes die Finger im Spiel gehabt haben. 1991 waren im Hamburger Hafen Panzer aus NVA-Beständen entdeckt worden, die, als Landmaschinen deklariert, zu Testzwecken nach Israel verschifft werden sollten. Seit November 2001 wird Pfahls per Steckbrief in der BKA-Fahndungsliste »Meistgesuchte Personen« im Internet geführt. Der »geizige, verschlossene und oftmals überhebliche bzw. arrogante Einzelgänger« sei ein »preußischer Beamtentyp«. Allerdings ein etwas ungewöhnlicher: Er rauche gerne »Davidoffs und Cohibas«, bevorzuge »schnelle Sportwagen« und lege »großen Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild«. Doch sogar die Mitteilung, dass er am liebsten »Dorade-Fisch und Zwetschgenkuchen« esse und sein sportliches Interesse dem Mountainbiking gelte, führte bislang nicht zum Fahndungserfolg. pascal beucker | Pascal Beucker | Pascal Beucker: | [] | Inland | 07.07.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/28/wanted-man?page=0%2C%2C3 |
Lies! | Hallo und guten Tag, ich bin’s mal wieder, der Richard! Ich, ich weiß, Ihr musstet in den vergangenen Monaten sehr viel von mir hören und sehen, und leider ging es dabei nicht immer so lustig zu wie früher, als ich noch den netten liberalen Welterklärbär gemacht habe. Nein, es geht um Vegetarismus, und da verliere selbst ich meine sprichwörtliche gute Laune. Für diejenigen, die das letzte halbe Jahr unter einem Stein verbracht haben: Tiere essen ist schlecht, es führt leider nichts an dieser Erkenntnis vorbei. Wir wissen einfach nicht, ob Tiere gern gegessen werden oder ob ihnen das am pelzigen Allerwertesten vorbeigeht, wir werden das auch niemals genau wissen können. Deswegen habe ich in diesem Jahr spektakulär vorgeschlagen, dass wir ein Moratorium über Speiseversuche mit Tieren verhängen sollten.
Für diesen verwegenen Vorschlag habe ich mir leider sehr viel anhören müssen. Chronische Fleischesser wollten mich als Dry-Age-Hairbone-Steak auf kleiner Flamme rösten, andere behaupteten wiederum, schon vor meiner spektakulären Publikation (»Tiere essen mit Safran, Foer und anderen Gewürzen«) auf den Fleischverzehr verzichtet zu haben. Dazu sage ich: Das mag sein, aber nicht mit so guten Begründungen wie ich! Es ist nämlich etwas völlig anderes, ob man aus einem vagen Bauchgefühl heraus ethisch richtig handelt oder mit einem Bestseller. Andererseits, darauf weise ich in diesem Buch ebenfalls hin, ist die Frage ohnehin bald obsolet, weil dann unser Fleisch aus der Petrischale kommt. In diesem Sinne: Warum regen sich die Leute eigentlich auf? Wichtig ist doch allein, daß wir gut miteinander auskommen, ganz gleich, wieviel Haare, Beine, Flügel, Chickenwings oder Kalbslebern einer hat. Hmmh, Kalbsleber! In einer leichten Weinsoße, mit Marktgemüse, Kroketten und großem Milchshake. Aus deutschen Petrischalen, frisch auf den Tisch, das ist doch prima. Ich weiß nicht, was die Leute immer haben.
Allzeit guten Appetit
wünscht Ihnen
Ihr Richard Darwin Precht | Leo Fischer | Leo Fischer: klingt diese Woch wie Richard David Precht | [] | dschungel | 15.12.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/50/lies?page=0%2C%2C1 |
Der schwarze Oskar | Das hat es in Bayern lange nicht mehr gegeben: Zum ersten Mal seit 1955 bewerben sich gleich zwei Kandidaten um den Parteivorsitz der ewigen Regierungspartei CSU. Wenn das mal keine Verwirrung stiftet! In den vergangenen Jahrzehnten war es gang und gäbe, dass ein Bewerber in den Parteigremien ausgekungelt und diese Vorentscheidung später nur noch abgenickt wurde. Ganz im Gegensatz dazu melden nun mit dem bayerischen Wirtschaftsminister Erwin Huber und dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer, zwei Politiker ihren Führungsanspruch an. Dabei gibt sich Huber als Wirtschaftsreformer, während sich Seehofer als Sozialpolitiker geriert. Aber ist der letztgenannte wirklich das »soziale Gewissen der CSU«, der »Sozialapostel«, als den ihn seine parteiinternen Gegner beschimpfen? Ist Seehofer der Lafontaine von der Isar? Immerhin durfte er die Laudatio halten, als Oskar Lafontaine im März 2005 im Haus der Bundespressekonferenz sein Buch »Politik für alle« vorstellte. Seehofer bescheinigte Lafontaine damals, einen »Tastsinn für seelische Stimmungen in der Bevölkerung« zu haben. Von April bis November 2005 stand Seehofer dem Sozialverband VdK in Bayern vor und vertrat in dieser Funktion mit Kampagnen wie »Hände weg von den Renten!« die Interessen der Verbandsmitglieder. Es war seine originäre Aufgabe, sich in dieser Funktion für den Erhalt des Sozialstaats auszusprechen. Der Verband war froh, von einem prominenten Politiker vertreten zu werden. Von 1992 bis 1998 jedoch war er Bundesminister für Gesundheit im Kabinett von Helmut Kohl, und in dieser Funktion schrieb er tatkräftig an der unendlichen Geschichte der Gesundheitsreformen mit. Das begann bereits im Jahr seines Amtsantritts, 1992, als er das Gesundheitsstrukturgesetz vorlegte. Es sollte, wie alle vorangegangenen und folgenden »Reformen«, die »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen aufhalten, um einen weiteren Anstieg der Beitragssätze und der Lohnzusatzkosten zu verhindern. Seehofer führte in seiner Amtszeit die Budgetierung der Ausgaben für Krankenhausleistungen, ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arznei- und Heilmittel und der Verwaltungskosten der Krankenkassen ein. Es ist wohl immer noch das von Ärzten am meisten gehasste Instrument der Ausgabenbegrenzung. Aber auch die gesetzlich Versicherten spüren die deutliche Zurückhaltung der Ärzte, wenn diese gegen Jahresende ihr Budget bereits überschritten haben und trotzdem noch Medikamente verschreiben sollen. Die Mängel bei der gesundheitlichen Versorgung sind seit der Einführung der Budgetierung freilich dieselben geblieben. Doch gerade Arztpraxen, die viele chronisch Kranke oder ältere Menschen versorgen, müssen wegen des erhöhten Bedarfs regelmäßig ihr Budget überziehen. Seehofer war es auch, der die Zuzahlung zu Arzneimitteln erstmals an der Packungsgröße der Medikamente bemaß und sie zugleich erhöhte. In den Jahren 1996 und 1997 folgte eine weitere Erhöhung dieser Zuzahlungen, und die Zuschüsse zu Zahnersatz und Brillen wurden gestrichen. In der CSU scheint niemand Seehofers Image als Sozialpolitiker sonderlich ernst zu nehmen. Günter Beckstein (CSU), womöglich der nächste Ministerpräsident Bayerns, beurteilte ihn jüngst im Berliner Tagesspiegel folgendermaßen: »Horst Seehofer hat als Gesundheitsminister eine Reform gemacht, bei der ich nicht unbedingt die Blümsche Handschrift erkenne.« Diese Äußerung ist insofern bemerkenswert, als dass Norbert Blüm als Bundesminister für Arbeit und Soziales im Jahr 1989 die Zuzahlungen überhaupt erst eingeführt hat. Sein ehemaliger Staatssekretär Seehofer hat diesen Weg konsequent verfolgt und die Zuzahlungen immer weiter erhöht. Blüm und Seehofer verbindet also zweierlei: Sie betreiben beide eine unsoziale Politik und gelten gleichzeitig als sozial. Sie sind beide Kaschperlpolitiker, die angeblich für eine sozialere Politik der christlich-konservativen Parteien stehen, die sie aber in ihren Ämtern nie praktizierten. Image und tatsächliches Handeln des Sozialpolitikers Seehofer fallen weit auseinander, und dennoch ist seine Popularität unter den bayerischen Wählern ungebrochen, wie sein Erststimmenergebnis von 66 Prozent bei der letzten Bundestagswahl, das zweitbeste bundesweit, eindrucksvoll belegt. Die Glaubwürdigkeit des Ingolstädter Familienvaters wird selbst durch die Presseberichte über seine angebliche schwangere Geliebte in Berlin nicht erschüttert. Sie regten allenfalls den Kölner Kardinal Joachim Meisner auf, der bekanntlich ein katholischer Betonkopf ist: »Wie will er denn Vorsitzender einer christlichen Partei werden? Wie weit sind wir eigentlich gekommen?« Meisners Kritik wurde jedoch umgehend von einigen Politikern der CSU zurückgewiesen, die Seehofer verteidigten. Überhaupt war es erstaunlich, wie betont gelassen die Basis der CSU und die bayerische Öffentlichkeit die von der Bild-Zeitung lancierte Kampagne gegen Seehofer aufgenommen haben. Bei genauerem Hinsehen verwundert dies jedoch nicht. Immerhin war es der von vielen verehrte Vorsitzende der CSU, Franz-Josef Strauß, dem 1971 in New York unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen von zwei Prostituierten das Portemonnaie geklaut wurde. »Hund’ sans scho’«, heißt es im bayrischen Dialekt, wenn dem Fehlverhalten von Politikern anerkennend und devot zugleich Respekt gezollt wird. Wenn diese sich wie selbstverständlich über ihre eigenen Ansprüche und Maßgaben hinwegsetzen, dann tun sie doch nur das, was jeder Kleinbürger auch gerne täte. Die CSU und ihre Anhängerschaft sind also nicht etwa nachsichtig und liberal geworden, wie man vorschnell glauben könnte, denn nachsichtig mit den Eskapaden ihres Führungspersonals war die Partei schon immer. Seehofers Chancen stehen also nicht schlecht. | Philipp Steglich | Philipp Steglich: | [] | Inland | 28.02.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/09/der-schwarze-oskar |
Des Kremls Vierte Gewalt | Der dreimonatige Konflikt in der Iswestija ist zuende. Kürzlich wählte die Mitarbeiterversammlung Wasili Sacharko zum neuen Chefredakteur. Am gleichen Abend wurde diese Entscheidung vom Direktorenrat der Aktiengesellschaft Iswestija abgesegnet. Offenbar ist der Rat mit Sacharkos Wahl zufrieden, denn vor der Versammlung hatten die neuen Eigentümer der traditionsreichen Zeitung, die Unexim-Bank und Lukoil, die Statuten geändert. Das letzte Wort bei der Ernennung des Chefredakteurs hatte ohnehin nicht mehr die Mitarbeiterversammlung, sondern der Rat der Direktoren. Aus diesem Grund zog der bisherige Chefredakteur Golembiowskij seine Kandidatur einen Tag vor der Versammlung zurück. Die neuen Anteilseigner würden ihn unter keinen Umständen als Chefredakteur akzeptieren, eine Kandidatur sei deshalb zwecklos, begründete er sein Verhalten. Golembiowskij, der seit 1966 für die Iswestija arbeitet, wurde im August 1991 zum Chefredakteur gewählt. Die Zeitung unterstützte den Kurs von Boris Jelzin. In den folgenden Jahren kauften mächtige Finanz- und Wirtschaftsgruppen der russischen Hauptstadt die großen Zeitungen nacheinander auf. Schließlich blieb nur noch die Iswestija übrig, deren Chefredakteur den folgenden Prozeß ihres Ausverkaufs selbst mitbetrieb. Er beabsichtigte, die Zeitung wirtschaftlich zu retten, ahnte wohl aber noch nicht, in welchem Maße die neuen Herren Entgegenkommen erwarteten. Zunächst verkauften die Mitarbeiter 41 Prozent der Iswestija- Aktien an die Gesellschaft Lukoil. Nach einem Bericht über das Millionenvermögen von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin drohte die Lukoil, ihre Investitionsvorhaben für die Zeitung auf Eis zu legen. Aus der Sicht von Lukoil war dies verständlich. Die russische Regierung besitzt 36 Prozent der Lukoil-Aktien. Wozu Nestbeschmutzer finanzieren? Golembiowskij und der politische Kommentator Otto Lazis mobilisierten die ...ffentlichkeit. Es erschienen Solidaritätsaufrufe bekannter Künstler (u.a. Rostropowitsch) und Chefredakteure der Moskauer Zeitungen. In den Aufrufen hieß es, die Pressefreiheit in Rußland sei in Gefahr. Mit dem Erpressungsmanöver von Lukoil stehe eine der letzten unabhängigen Zeitungen Moskaus auf dem Spiel, erklärten die Iswestija-Redakteure. Golembiowskij analysierte, anstatt die Gesellschaft vor der Macht zu schützen, gebe es die Tendenz, daß die Massenmedien die Macht gegenüber der Gesellschaft stützten. Nach den ersten schlechten Erfahrungen mit dem neuen Besitzer Lukoil fühlte sich der Chefredakteur zunehmend unwohl. Er suchte nach einem mächtigen Gegenpart und fand ihn in der Unexim-Bank. Deren Vizepräsident ist mit dem bekannten Iswestija-Unterstützer und Musiker Rostropowitsch bekannt und versprach der Redaktion freies Arbeiten. Mit Hilfe dieses Versprechens erwarb die Unexim-Bank 24,7 Prozent der Mitarbeiter-Aktien. Lukoil hatte seinen Anteil am Aktienpaket inzwischen auf 51 Prozent ausweitet. Die Unexim-Bank fand schnell eine gemeinsame Sprache mit den Leuten von Lukoil: Man wurde sich einig, daß Golembiowskij als Chefredakteur für die Zeitung nicht tragbar sei. Dieser reagierte auf seine Weise. In der Zeitung erschienen neue Enthüllungen, diesmal über die Finanzmanipulationen der Stolitschnij-Bank, in die auch Vize-Premier Anatolij Tschubais verwickelt sein soll. Damit war das Maß aus der Sicht der neuen Besitzer voll. Am 3. Juli schickte der Direktorenrat der Aktiengesellschaft Iswestija Golembiowskij in Zwangsurlaub. Unter den Mitarbeitern kam es zu Gegenwehr. Sie gründeten eine Gewerkschaft (die es seit 1992 nicht mehr gegeben hatte) und setzten sich zum Ziel, die an die Unexim-Bank verkauften Aktien zurückzukaufen. Doch die neuen Machthaber lächelten nur müde. Sie hatten die Machtverhältnisse bereits zu ihren Gunsten geregelt und konnten in Ruhe den Tag der Mitarbeiterversammlung abwarten. Der Traumkandidat der neuen Besitzer, Andrej Illesch, Programmleiter bei REN-TV, konnte sich bei der Abstimmung am 18. Juli nicht durchsetzen. Er landete auf dem vierten Platz. 178 der anwesenden 206 Mitarbeitern gaben ihre Stimme dem bisherigen stellvertretenden Chefredakteur, Wasilij Sacharko. Vor der Abstimmung mußte einer der zehn Kandidaten aus formalen Gründen von der Liste gestrichen werden: Vize-Premier Tschubais. Einige Mitarbeiter hatten ihn auf die Liste gesetzt, um zu zeigen, wer hinter der Übernahmeaktion bei der Iswestija steckt. Golembiowskij hat es offen ausgesprochen: Tschubais ist der Hauptverantwortliche für die Übernahme der Zeitung. Die Aktion sei Teil eines Plans, mit dem sich die Mächtigen die Zustimmung der Massenmedien für die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 sichern wollen. "Die Finanz- und Machtoligarchie versucht, praktisch alles unter ihre Kontrolle zu bekommen", erklärte Golembiowskij. Der neue Chefredakteur Sacharko arbeitet seit 1972 bei der Iswestija, seit 1987 in leitender Stellung. Am Tag vor der Mitarbeiterversammlung hatte er es abgelehnt, eine Stellungnahme Golembiowskijs zu veröffentlichen. Er werde alles tun für "ein System zivilisierter Partnerschaft" zwischen Redaktion und Aktionären, erklärte der neue Chef. Als Sacharko nach seiner Ernennung befragt wurde, ob die Zensur bestimmter Berichte fortgesetzt werde, erwiderte er: "Zensur hat es nicht gegeben." Außerdem deutete er an, daß bei der Iswestija das recherchierte Material in der letzten Zeit "nicht rein professionell" bewertet worden sei. Golembiowskij ist inzwischen klar, daß der Ausverkauf der Zeitung an fremde Eigentümer falsch war. Auf einer Pressekonferenz erklärte er, der Hauptfehler sei gewesen, daß man der Unexim-Bank erlaubt habe, die Aktien der Mitarbeiter zu kaufen. "Man hätte einen Kredit aufnehmen und es selbst machen müssen." Doch in Rußland eine überregionale Tageszeitung ohne Geldgeber auf die Beine zu stellen, scheint ein aussichtsloses Vorhaben. Golembiowskij, der für den Herbst mit dreißig Kollegen ein neues Zeitungsprojekt namens Novaja Iswestija plant, schaut sich schon jetzt nach potenten Unterstützern um. Erste Kontakte wurden mit dem Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow geknüpft.Der hofft offenbar, daß ihm diese Zeitung bei seinen Plänen in Bezug auf die russische Präsidentschaft behilflich sein könnte. | ulf heferle | ulf heferle: | [] | Ausland | 07.08.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/32/des-kremls-vierte-gewalt |
Die Paten wünschen Ruhe | Wer an der israelisch-libanesischen Grenze zuerst geschossen hat, wird man wohl nicht eindeutig klären können. Sicher ist aber, dass die Spannungen im Dreieck Israel-Libanon-Syrien weiter steigen werden. Dabei hat der Vorfall vergangene Woche deutlich gemacht, dass der Libanon sich an eine Hauptforderung der Israelis inzwischen hält. Nicht mehr die Kämpfer der Hizbollah patrouillieren an der Grenze, sondern Soldaten der libanesischen Armee.
Für Israel war es der dritte Angriff innerhalb einer Woche. Erst traf eine Rakete aus Gaza ein Wohnhaus in der Großstadt Ashkelon, dann wurde der Touristenort Eilat am Roten Meer unter Beschuss genommen, dem folgte an der Nordgrenze die Attacke der libanesischen Armee.
Im Libanon befürchtet man, der Angriff aus Israel könne ein Test für einen neuen Krieg gewesen sein. Erst eine Woche zuvor hatte der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak in der Washington Post erklärt, Israel werde auf jede Provokation seitens der Hizbollah mit einer weiträumigen Zerstörung libanesischer Infrastruktur reagieren. Die meisten Libanesen unterstellen, Israel wolle die fragile Lage in ihrem Land ausnutzen.
Während wenig Zweifel bestehen, wer die Rakete auf Ashkelon abgefeuert hat, rätselt man noch, wer Eilat angegriffen hat. Die Raketen kamen aus dem ägyptischen Sinai und trafen neben Eilat auch das jordanische Aqaba. Weder die Hamasnoch andere Jihadisten haben sich zu dem Angriff bekannt.
Der Vorfall an der libanesisch-israelischen Grenze scheint eher ein tragisches Missverständnis gewesen zu sein. Israelische Soldaten hatten einen Baum jenseits des Grenzzauns gefällt, der sich aber offenbar, wie die UN-Schutztruppe Unifil bestätigte, auf israelischem Territorium befand. Die libanesischen Soldaten wähnten die Israelis auf ihrem Territorium und gaben – so ihre Version – Warnschüsse ab, woraufhin die israelischen Soldaten gezielt schossen und die Libanesen das Feuer erwiderten. Ein Israeli und drei Libanesen kamen ums Leben. Nach israelischen Angaben schossen die libanesischen Soldaten zuerst gezielt, zudem hätte man über die Unifil angekündigt, dass der Baum gefällt werde. Ein Sprecher der Unifil kritisierte, dass die Israelis nicht warten wollten, bis die libanesischen Außenposten informiert worden waren. Es war der erste tödliche Grenzkonflikt seit dem Julikrieg von 2006. Zwischen dem Abzug Israels aus dem Südlibanon im Jahr 2000 und 2006 gab es solche Scharmützel allerdings häufig. Die Gegner Israels waren damals Kämpfer der Hizbollah, die libanesische Armee war in der Grenzregion nicht präsent. An dem Gefecht in der vorigen Woche dagegen war die Hizbollah nicht beteiligt.
Das hängt nicht unbedingt mit der Stärke der Regierung oder der Schwäche der Hizbollah zusammen. Wohl aber sind derzeit alle Seiten bemüht, keinen Fehler zu begehen. Im Libanon fürchtet man einen neuerlichen Bürgerkrieg. Der Grund für die Angst ist die Ankündigung des Internationalen Tribunals zur Aufklärung des Mordes am früheren Ministerpräsidenten Rafik Hariri, die mutmaßlichen Täter im September zu nennen. Endlich, möchte man meinen. Doch fünf Jahre nach dem Attentat will kaum jemand mehr wissen, wer es war.
Zunächst war das Tribunal zu dem Ergebnis gekommen, dass die Mörder vom syrischen Regime beauftragt worden waren. Doch die Zeugen erwiesen sich als unglaubwürdig. Seitdem arbeitete das Tribunal diskret weiter. Vor einem Jahr zitierte der Spiegel anonyme Quellen, denen zufolge das Tribunal Anhänger der Hizbollah als Hauptverdächtige präsentieren werde. Kürzlich meldete das israelische Fernsehen, dass ein Cousin des in Damaskus ermordeten Militärchefs der Hizbollah, Imad Murgnijeh, der Hauptverdächtige sei. Das Tribunal kommentierte die Berichte nicht.
Eine militärische Reaktion der Hizbollah auf das Grenzgefecht wäre als Versuch gewertet worden, von diesen Beschuldigungen abzulenken. Dass diese Erwägung der Grund für die Zurückhaltung war, bestätigte ein Funktionär der Hizbollah gegenüber der libanesischen Tageszeitung Daily Star. Sollte das Tribunal tatsächlich Hizbollah-Mitglieder als Täter identifizieren, brächte das die Regierung in ein Dilemma. Ministerpräsident Saad Hariri ist der Sohn des Ermordeten, doch auch die Hizbollah gehört der Regierung an. Ginge Saad Hariri nicht gegen die Täter vor, verlöre er seine Autorität. Für den Fall, dass er sie verhaften lässt, droht die Hizbollah mit Gewalt. Im Libanon wurden mehr als 30 israelische Spione verhaftet, darunter auch einige, die für die Telekommunikationsgesellschaft arbeiteten. Diese hätten Verbindungsdaten manipulieren und eine falsche Fährte legen können, behauptet die Hizbollah.
Die Lage ist so ernst, dass am vorvergangenen Wochenende der syrische Präsident Bashar al-Assad und der saudische König Abdullah gemeinsam nach Beirut geflogen sind. Dass diese beiden Herren im gleichen Flugzeug Platz nehmen, ist ungewöhnlich. Dass sie sich nach Beirut bemühen, kann als historisches Ereignis bezeichnet werden. Ein saudischer König kam zuletzt 1957 zum Staatsbesuch. Assad hatte seit dem Mord an Hariri im Jahr 2005 libanesischen Boden nicht mehr betreten, auch zuvor empfing er in der Regel in Damaskus. Sowohl Syrien als auch Saudi-Arabien sehen den Libanon als eine Art Vasallenstaat, wobei Syrien der schiitischen Hizbollah nahesteht, während Saudi-Arabien Partei für die Sunniten ergreift.
Nach einem Treffen mit dem libanesischen Präsidenten Michel Suleiman riefen die Staatschefs zur Zurückhaltung und zum Respekt vor den Verfassungsinstitutionen auf. Das klingt banal, entscheidend war jedoch der persönliche Auftritt der Paten. Er sollte den jeweiligen Verbündeten klar machen, dass Provokationen und bewaffnete Konflikte unerwünscht sind. Zudem wird vermutet, König Abdullah könnte seine Beziehungen nutzen, um das Tribunal zu einer späteren Verkündung seiner Erkenntnisse zu bewegen. Allerdings beruht die Aufregung auf gänzlich ungesicherten Informationen. Das Tribunal hat seit 2008 nichts mehr publiziert. Viele Kommentatoren vermuten, die Information, die Hizbollah stecke hinter dem Attentat, könnte bewusst gestreut worden sein. Kaum überraschend vermutet die der Hizbollah nahestehende Zeitung al-Akhbar die Quelle in Israel. Die kuwaitische Zeitung al-Rai al-Aam will aus amerikanischen Kreisen erfahren haben, dass syrische Verbündete die Information verbreitet hätten, damit die Hizbollah mit einem Bürgerkrieg droht und so die Anklage vereitelt.
Tatsächlich stellt sich die Frage, welches Motiv die Hizbollah gehabt hätte, Hariri zu töten. Es schien noch plausibel, dass Syrien Hariri für seine Illoyalität bestraft haben könnte, auch wenn das Attentat schließlich maßgeblich dazu beitrug, die syrische Vorherrschaft im Libanon zu beenden. Doch Rafik Hariri war der bislang letzte Ministerpräsident, der erklärtermaßen den »Widerstand« – so wird von vielen Libanesen der Kampf der Hizbollah gegen Israel genannt– unterstützte. Als guter Freund des damaligen französischen Präsidenten Jaques Chirac war er für die Hizbollah der beste Schutzpatron, den sie sich wünschen konnte. | Hannah Wettig | Hannah Wettig: Die Folgen der Schüsse an der israelisch-libanesischen Grenze | [] | Ausland | 12.08.2010 | https://jungle.world//artikel/2010/32/die-paten-wuenschen-ruhe?page=0%2C%2C2 |
Rechter Isolationismus | Spott über die Isolationisten. Zeitungskarikatur von Theodor Seuss Geisel, bekannt als Dr. Seuss, 1941 Als Donald Trump 2016 in den USA überraschend die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner gewann, lud dessen in bester Demagogenmanier bewusst diffus gehaltenes Programm zu allerlei Projektionen ein. Wilde Spekulationen machten die Runde. Eine der steilsten Thesen stammte von der Washington Post-Kolumnistin Maureen Dowd: »Hillary the Hawk, Donald the Dove« – die »Falkin« Clinton werde außenpolitisch weitaus aggressiver agieren als die »Taube« Trump. Diese Einschätzung, darf man getrost feststellen, hat sich kräftig blamiert. Von militärischer Zurückhaltung war wenig zu spüren. Kaum war Trump im Amt, setzten US-Streitkräfte bei der Bombardierung von Stellungen des »Islamischen Staats« (IS) in Afghanistan erstmalig eine Bombe des Typs »Massive Ordnance Air Blast« ein, deren Detonationskraft einzig von Atomwaffen übertroffen wird. Der Drohnenkrieg wurde unter Trump, ohne dass es jemanden groß zu stören schien, erheblich ausgeweitet und intransparenter geführt. Gegenüber dem Iran verfolgte die Regierung Trump mit der Aufkündigung des Atomabkommens und der Tötung des Leiters der Auslandsabteilung der Revolutionswächter, Qasem Soleimani, einen Eskalationskurs. Und wenn die USA sich tatsächlich einmal aus einem militärischen Konflikt zurückzogen, dann nie strategisch wohlüberlegt, sondern aufgrund von ad hoc-Entscheidungen, welche nur für mehr Blutvergießen sorgten – wie bei dem Rückzug der US-Truppen von der syrisch-türkischen Grenze im Jahr 2019, wodurch die kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF), mit denen zusammen man den IS besiegt hatte, den türkischen Streitkräften ausgeliefert wurden. Den Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan überließ Trump wohlweislich der Nachfolgeregierung. Die Warnungen davor, sich nicht in die Streitigkeiten fremder Länder verwickeln zu lassen, stehen vielmehr in der Tradition einer spezifisch US-amerikanischen Spielart des Nationalismus, des Isolationismus. Trotzdem war die Vermutung Dowds nicht komplett aus der Luft gegriffen. Im damaligen Wahlkampf hatte Trump wiederholt gegen Politiker gewettert, die, wie im Falle der Invasion des Irak, das Land in Kriege verwickelt hätten, bei denen für die USA nichts zu holen sei. Das gleiche Schauspiel wiederholt sich derzeit im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Für den »Make America Great Again«-Flügel der Republikaner steht, sehr zur Freude mancher Linker, der Kampf gegen weitere militärische Hilfslieferungen an die ukrainische Regierung ganz oben auf der Prioritätenliste. Der Konflikt, so die Argumentation, gehe US-Amerikaner nichts an, und das Geld sei besser bei der Flüchtlingsabwehr aufgehoben. Mit Pazifismus hat das freilich wenig zu tun. Die Warnungen davor, sich nicht in die Streitigkeiten fremder Länder verwickeln zu lassen, stehen vielmehr in der Tradition einer spezifisch US-amerikanischen Spielart des Nationalismus, des Isolationismus. Dessen Wurzeln reichen zurück in die Anfänge des US-Parteiensystems. Wie im Vereinigten Königreich existierten im 19. Jahrhundert in den USA eine konservative und eine liberale Partei: Die Demokraten vertraten die Interessen der Großgrundbesitzer, vor allem der Sklavenhalteraristokratie des Südens; die industrielle Bourgeoisie fand ihr Sprachrohr erst in den Whigs und später in den Republikanern. Anders als in Großbritannien waren es in den USA aber die Liberalen, die für Schutzzölle eintraten, um die im Aufbau befindliche industrielle Produktion vor der Konkurrenz aus Übersee zu schützen, und es war die Agrarpartei, die sich zwecks Beförderung des Tabak- und Baumwollexports Freihandel auf die Fahnen schrieb. Mit dem Außenhandel gingen früh Militäreinsätze in Übersee einher: Schon 1801 schickte Thomas Jefferson die US-Flotte ins Mittelmeer, um US-amerikanische Händler vor der Piraterie der sogenannten Barbareskenstaaten zu schützen. Der Drang zur expansiven Außenpolitik war nicht bloß Resultat der Handelsinteressen, sondern zugleich auch den systemischen Zwängen der Sklavenhaltergesellschaft geschuldet. Um sich zu erhalten, war sie, wie Karl Marx in seinen Schriften zum Amerikanischen Bürgerkrieg analysierte, darauf angewiesen, sich stetig weiter auszubreiten. Die von Kriegen und Vertreibungen begleitete Westexpansion brachte Sklavereistaaten wie Mississippi, Alabama und Louisiana hervor. Die Annexion großer Teile Mexikos wurde von den Liberalen zu Recht als Machtzuwachs für die Plantagenaristokratie begriffen. Zu den folgenschwersten Fehlkalkulationen der Nazis gehörte es, bei der Suche nach Verbündeten in den USA vor allem auf die de facto-Apartheidregimes der Südstaaten zu schielen. Diese Tradition überdauerte nicht bloß Bürgerkrieg und afroamerikanische Emanzipation, sondern selbst noch die Transformation der Demokraten von einer konservativen Partei in jenes merkwürdige Gebilde, welches sie ab etwa 1920 darstellen sollte: eine halb sozialdemokratische Partei mit rassistischem Wurmfortsatz. Der Demokrat Woodrow Wilson, der von 1913 bis 1921 Präsident war, hatte zwar versucht, die USA aus dem Ersten Weltkrieg herauszuhalten. Aber als sie doch in den Krieg eintraten, schufen seine hochfliegenden Ideen vom weltweiten Selbstbestimmungsrecht der Völker ein neues, moralistisches Antlitz für eine weltweit ausgreifende US-Außenpolitik, auch wenn der republikanisch dominierte Senat 1919 den Beitritt zum neu gegründeten Völkerbund verweigerte. Umgekehrt nahm auch der traditionelle Protektionismus, die Politik der Abschottung, im Zuge der Rechtsentwicklung der Republikaner eine neue Bedeutung an: Statt Schutz vor billigen Importen wurde immer mehr Schutz vor Einwanderung und der befürchteten Zersetzung durch unamerikanische Umtriebe zu ihrem Anliegen. Zu den folgenschwersten Fehlkalkulationen der Nazis gehörte es, bei der Suche nach Verbündeten in den USA vor allem auf die de facto-Apartheidregimes der Südstaaten zu schielen. Dabei saßen die tatsächlichen Sympathisanten vor allem im Nordosten und dem Mittleren Westen, wo der Ku Klux Klan in den zwanziger Jahren Hunderttausende bis Millionen Mitglieder hatte, sowie bei den industriellen Führungskreisen und ihren republikanischen Verbündeten. Deren Agitation gegen die Regierung von Franklin D. Roosevelt nahm nicht nur dessen Sozialstaatsprojekte ins Visier (häufig mit explizit antisemitischer Schlagseite), sondern versuchte auch, unter der später von Trump wiederaufgegriffenen Parole »America First« jede antifaschistische Bündnispolitik gegen Nazi-Deutschland zu hintertreiben. Es brauchte den Überfall der Japaner auf die US-Flotte in Pearl Harbor, bis eine Mehrheit den Kriegseintritt der USA befürwortete. Selbst in der Zeit nach 1945, als sich auch unter Republikanern ein Konsens zur Unterstützung von Institutionen wie Uno und Nato durchsetzte, blieben die Demokraten im Zweifelsfall die abenteuerlustigere der beiden Parteien, wenn es galt, »freedom and democracy« in aller Welt zu verbreiten. Das sollte sich erst nach 1989 ändern, als Neokonservative sich daranmachten, die Früchte des siegreich bestandenen Kalten Kriegs einzufahren. An die Stelle jener machiavellistischen Außenpolitik, wie sie unter den Republikanern Eisenhower, Nixon und selbst George H. W. Bush noch vorherrschend war, traten die ideologischen Feldzüge Dick Cheneys und Donald Rumsfelds – deren epochales Scheitern sich freilich bald abzuzeichnen begann. Die außenpolitische Kehrtwende, für die Trump steht, ist daraus die logische Konsequenz. Dass die Kriege im Irak und in Afghanistan einen Klotz am Bein darstellten und möglichst schnell beendet werden sollten, hatte bereits Barack Obama erkannt; bei Trump kommt der affektive backlash dazu. Selbst zu Hochzeiten der Neocons hatte ja eine Minderheit der Konservativen deren ideologischen Überschuss misstrauisch beäugt: Während Rumsfeld seine Lobeshymnen auf die irakische Befreiung anstimmte, hetzte der spätere Fox-News-Starmoderator Tucker Carlson gegen die Irakis als »primitive Affen«, die zur Zivilisation gar nicht fähig seien. Trump brachte den Gedanken nur zu seinem logischen Ende. Statt im Irak als Befreier aufzutreten, betonte er in seinen Wahlkampfreden, hätte man sich lieber dessen Ölquellen unter den Nagel reißen sollen. Die »Make America Great Again«-Bewegung sieht die Welt mit den Augen des Plünderers: als Dschungel, in dem jeder sich selbst der Nächste ist. Die »Make America Great Again«-Bewegung sieht die Welt mit den Augen des Plünderers: als Dschungel, in dem jeder sich selbst der Nächste ist und man sich die Beute krallt, bevor es ein anderer tun kann. Ihr Heros ist nicht der Soldat, der mutig für die Freiheit kämpft (die US-amerikanischen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs sind in den Augen Trumps bekanntlich »suckers and losers«, Trottel, die sich haben bescheißen lassen), sondern der cop, der das schwache und ohnmächtige Ich vor der von außen hereinbrechenden Gefahr beschützt. Kein Zufall auch, dass dieses Weltbild hochgradig antisemitisch aufgeladen ist: Sind es doch in der rechten Propaganda die »Globalisten«, die immer wieder versuchen, nichtsahnende US-Amerikaner in die korrupten Händel jenseits der sicheren Grenzen zu verwickeln. Als Vertreter der internationalen Weltverschwörung fungiert dabei neben dem jüdischen Mäzen George Soros immer öfter auch Ukraines jüdischer Präsident Wolodymyr Selenskyj. Carlson beispielsweise beschrieb diesen als »rattenhaft« sowie als »Christenverfolger«, nach dessen Pfeife das amerikanische politische Establishment tanze. Carlson war es dann auch, der republikanische Politiker, die nach dem Hamas-Massaker das amerikanisch-israelische Bündnis beschworen, als »blutrünstig« denunzierte. Kritiker, darunter den jüdischen Influencer Ben Shapiro, selbst ein strammer Rechter, bürgerte Carlson im Geiste schon mal aus: Unter Berufung auf seine Familie, die seit »Hunderten von Jahren« in Amerika lebe, erklärte er, »schockiert« zu sein, wie gleichgültig die US-amerikanischen Landsleute jemandem wie Shapiro seien, dem allein die Interessen eines »fremden Landes« am Herzen lägen. Deutlicher kann man kaum mit dem antisemitischen Zaunpfahl winken. Ähnliche Töne schlugen auch andere Vertreter des Milieus an, etwa der Trump-Vertraute Charlie Kirk. Republikanische Kongressabgeordnete wiederum streiten, ob sie die finanzielle Unterstützung für Israels Kampf gegen den Terror torpedieren sollten oder nicht. Wie weit die Rechte dabei gehen wird, sich das antisemitische Erbe der Parole »America First« zu eigen zu machen, wird sich zeigen. Eines dürfte freilich feststehen: Größere Gegenwehr von links werden sie dabei nicht zu befürchten haben. Den lautesten Beifall erfuhr Carlson nicht von den eigenen Leuten, sondern von denen, die vermeintlich am anderen Ende des politischen Spektrums stehen – etwa dem Publizisten Glenn Greenwald oder Briahna Joy Gray, der früheren Pressesprecherin von Bernie Sanders. | Lars Quadfasel | Lars Quadfasel: Die außenpolitische Tradition, in der Donald Trumps Isolationismus steht | [
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] | Geschichte | 22.02.2024 | https://jungle.world//artikel/2024/08/rechter-isolationismus?page=0%2C%2C1 |
Eine Marionette für den Kreml | Eine reine Marionette für den Kreml« - wenig schmeichelhaft fiel die Einschätzung der Moscow Times für den neuen Ministerpräsidenten Russlands, Michail Kasjanow, aus. Kasjanow wurde Mitte vergangener Woche mit eindeutiger Mehrheit in der Duma bestätigt: Nach Angaben von Interfax stimmten 325 für ihn, 55 gegen ihn und 25 enthielten sich der Stimme. Bemerkenswert war, dass die Zustimmung für den neuen Premier sich quer durch die Fraktionen zog - ein Indiz, dass Russlands Präsident Wladimir Putin vom weitgehend machtlosen Parlament wenig zu befürchten hat. Die Kreml-Partei »Einheit« stimmte mit allen ihrer 80 anwesenden Abgeordneten für Kasjanow. Die Abgeordneten der rechtsextremen Liberaldemokratischen Partei von Wladimir Schirinowski waren ebenfalls eine sichere Bank für den Kreml-Kandidaten. Die Fraktion »Vaterland - Ganz Russland« unter dem Ex-Putin-Rivalen Jewgeni Primakow stimmte einheitlich für Kasjanow, mit einer Ausnahme auch die ultraliberale Union der rechten Kräfte mit Ex-Premier Sergej Kirijenko und Boris Nemzow. Die Kommunistische Partei zierte sich ein wenig: 28 Pro-Stimmen, unter ihnen Duma-Vorsitzender Gennadi Selesnjow, der seinen Posten einem Deal mit Putin verdankt, und 36 Contra-Stimmen, darunter auch Parteichef Gennadi Sjuganow - 77 ihrer Abgeordneten waren zur Abstimmung nicht erschienen. Die liberale Jabloko-Partei gab sich uneinheitlich: vier pro, acht contra, vier Enthaltungen. Sowohl Jabloko wie KPRF müssen schließlich auch Opposition simulieren. Dass der neue Premier Kasjanow in erster Linie Ausführender der Politik sein wird, die Putin und die Präsidentenverwaltung vorgeben, machte schon seine Antrittsrede deutlich. Da präsentierte er sich als für die Ökonomie zuständiger Technokrat. Das Wiederanspringen der russischen Ökonomie im vergangenen Jahr beruhe auf »fragilen Grundlagen« und sei nicht »irreversibel«, meinte er. Sendepause war bei den Themen Tschetschenien-Krieg, Außenpolitik, Innenpolitik. Kaum war Kasjanow von der Duma als Premier bestätigt, stellte Präsident Putin Teile der neuen Regierungsmannschaft vor. Die Inhaber der vier Gewaltministerien blieben auf ihren Posten: Innenminister Wladimir Ruschailo, Verteidigungsminister Igor Sergejew, Außenminister Igor Iwanow und der Katastrophenminister Sergej Schoigu sind alte Bekannte aus der Jelzin-Ära. Diese Minister werden direkt vom Präsidenten ernannt, die restlichen, zumindest offiziell, vom Premier. Als stellvertretender Premier und Finanzminister fungiert ein Verbündeter Putins aus alten Petersburger Tagen: Alexej Kudrin. Er steht Anatoli Tschubais, dem Architekten der mafiosen Privatisierungen und jetzigen Chef der Vereinigten Energiesysteme, nahe. Dasselbe gilt für German Gref, der Putins Think tank zur Erstellung eines liberalen ökonomischen Programms vorsteht und Minister für ökonomische Strategie und Handel wird. Der neue Minister für Steuern wird Gennadi Bukajew, der im vergangenen Jahr von Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow zum Steuerchef der Hauptstadt gekürt worden war. Eisenbahnminister Nikolai Aksjonenko bleibt auf seinem Posten - er gilt ebenso als Verbündeter des Tycoons Boris Beresowski wie Innenminister Ruschailo und Premier Kasjanow. Bemerkenswert ist, dass Putin bei der Regierungsbildung auf Verbündete von Tschubais und Luschkow zurückgreift und zugleich alte Minister mit Nähe zu Beresowski recycelt. Einige politische Analysten sehen darin eine Fortsetzung der alten Jelzin-Taktik: Sich auf dem Präsidentenposten als eine Art Schiedsrichter über den rivalisierenden Fraktionen zu installieren. Andere sehen in der Zusammensetzung der Regierung den ungebrochenen Einfluss von Jelzins »Familie«. Nur mit einem der Oligarchen gibt es Konflikte: Wladimir Gussinski. In der vorvergangenen Woche hatten brachial inszenierte Durchsuchungen in verschiedenen Büros seiner Media Most-Gruppe stattgefunden. Vergangenen Mittwoch versammelten sich etwa 2 000 Menschen zu einer Demonstration auf dem Puschkin-Platz in Moskau, um gegen den Angriff auf dem Kreml unbequeme Medien zu protestieren. Erneut wurde eine Sonderausgabe der Obstschawa Gaseta, einer Gemeinschaftsproduktion von diesmal 62 Zeitungen und anderen Medien-Projekten, verteilt. Nach Angaben der Moscow Times warnte Wselolod Juselowitsch, ein Wissenschaftler, auf der Kundgebung vor antisemitischen Untertönen in der Kampagne gegen Media Most: »Das ist nicht nur ein Angriff auf die Redefreiheit, sondern ein Versuch, verborgenen Antisemitismus in staatlich sanktionierten Antisemitismus umzuwandeln.« Gussinski ist Vorsitzender des Russischen Jüdischen Kongresses und war, so Moscow Times, Ziel antisemitischer Berichterstattung im TV-Sender ORT, der von dem Gussinski-Rivalen Beresowski kontrolliert wird. »Die Verteidigung des Staates vor den freien Massenmedien ist gegenwärtig ein drängendes Problem.« So hat Presseminister Michail Lesin kürzlich das offizielle Ziel umschrieben. Selbstverständlich existieren die »freien Massenmedien« in Russland so wenig wie im Rest der Welt. Aber bei dem labilen Zustand des russischen Staates erscheinen der Macht schon geringe Abweichungen von der offiziellen Ideologie bedrohlich. Ein Gutes aber hat die endlose Geschichte des Titanen-Kampfes zwischen dem Staat und seiner Vierten Gewalt: Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat wieder eine ehrenvolle Aufgabe. Er fungiert nun als Vorsitzender einer »Gruppe zur Beobachtung der Pressefreiheit«, die als unmittelbare Reaktion auf die Durchsuchungen bei Media Most gegründet wurde. Des Kremls harte Hand zeigt sich seit vergangener Woche auch auf einer anderen Ebene. In einem überraschenden Schritt macht Putin Druck auf die Regionalfürsten, um den Zentrifugal-Tendenzen im russischen Staat entgegenzuwirken. »Wir werden in einem vereinten und starken Staat leben, dem Staat Russlands«, erklärte er vergangenen Mittwoch in einer im Fernsehen ausgestrahlten Ansprache an die Nation. »Das ist die Diktatur des Gesetzes.« Was es mit dieser im konkreten Fall auf sich hat, verdient genauere Beobachtung. Es geht um einen Macht-Transfer von den Provinzfürsten zum Präsidenten, um den Zugriff der Moskauer Zentrale auf die 89 Subjekte der russischen Föderation. Die Provinzfürsten hatten Boris Jelzins altes Verdikt »Nehmt Euch so viel Souveränität, wie Ihr vertragen könnt« wörtlich genommen und teilweise ein beachtliches Maß an Autonomie erlangt - auch im Hinblick auf die Kontrolle der lokalen Steuereinnahmen und der Bodenschätze, die sie und ihre korrupte Umgebung oftmals reich gemacht haben. Mit Dekret vom 13. Mai hat Putin sieben Verwaltungsbezirke eingeführt, in denen Statthalter des Kreml eingesetzt werden, um den Regionalfürsten auf die Finger zu schauen. Die sieben Bezirke decken sich weitgehend mit den bestehenden Militärbezirken, und ihre Hauptquartiere befinden sich in denselben Städten wie die militärischen Kommandozentralen. Die Statthalter werden ausschließlich Putin Bericht erstatten und dafür Verantwortung tragen, dass föderale Gesetze eingehalten werden. Darüber hinaus hat Putin Gesetzesvorstöße angekündigt, die in der Duma kaum auf Widerstand stoßen werden: Nicht mehr die 178 Gouverneure oder Republikpräsidenten sowie die Vorsitzenden der Regionalparlamente sollten im Föderationsrat sitzen, sondern vielmehr ständige Vertreter. Damit würde jenen die parlamentarische Immunität entzogen. Außerdem will Putin das Recht, Regionalfürsten ihres Amtes zu entheben und Regionalparlamente aufzulösen, die Gesetze beschließen, die mit dem föderalen Recht nicht zu vereinbaren sind. Am Freitag wurden die sieben Statthalter für die Verwaltungsbezirke des Kreml vorgestellt: General Viktor Kasanzew, der die russischen Truppen seit Oktober 1999 in Tschetschenien kommandiert, wird den gesamten Nord-Kaukasus leiten; General Konstantin Pulinowski, bekannt aus dem ersten Tschetschenien-Krieg, den Fernen Osten; Wiktor Tscherkessow, die Nummer zwei des Inlandsgeheimdienstes FSB, den nordwestlichen Distrikt mit Petersburg; zwei Leute aus dem Innenministerium den Ural und das Zentrum; schließlich Ex-Premier Kirijenko die Wolga-Region und ein früherer Diplomat Sibirien. Der Militär-Analyst Pawel Felgenhauer sieht schwarz. Sinn mache die Einsetzung der sieben Kreml-Statthalter nur in einem bestimmten Szenario, schrieb er in einem Artikel mit der Überschrift »Anzeichen für einen finsteren Putschplan»: bei der Errichtung eines militärisch unterstützten Polizeistaates. | Wladimir N. Popow | Wladimir N. Popow: Regierungsbildung in Russland | [] | Ausland | 24.05.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/21/eine-marionette-fuer-den-kreml?page=0%2C%2C3 |
»Battisti soll ewig Terrorist sein« | Nach der Verhaftung von Cesare Battisti in Paris haben Sie einen Text unter dem Titel »Cesare Battisti und die Freiheiten in Italien« verfasst. Was ist an dem Fall Battisti paradigmatisch? Der Fall Battisti ist bezeichnend für eine nicht abgeschlossene Geschichte. Vor etwa dreißig Jahren – zwischen 1975 und 1982 – benutzte der italienische Staat den »Terrorismus« als Vorwand, um die Notstandsgesetze zu verabschieden. Ihr Ziel war es, die radikale Massenbewegung in Europa zu zerschlagen. Und dieses Ziel wurde erreicht. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 15 000 Menschen inhaftiert, 4 000 wurden verurteilt. Die Sondergesetze zielten auf eine drastische Beschränkung der individuellen Meinungs- und Redefreiheiten. Es wurden Straftatbestände wie »geistige« oder »moralische Mittäterschaft« eingeführt. Die Absicht war klar: Aus Meinungen wollte man eine Straftat machen. Außerdem bekamen die Polizei und Justiz durch die Sondergesetze unglaublich viel Macht, es wurden Hochsicherheitsgefängnisse errichtet, wo Willkür und Misshandlungen gegenüber den Inhaftierten an der Tagesordnung waren. Das geschah auch in anderen Ländern, aber in Italien hat man aus dem »Notstand« eine permanente Regierungsstrategie gemacht. Heute verlangt die italienische Regierung den Kopf von Cesare Battisti. Unser Land ist eine planetarische Werkstatt für das Experimentieren mit Repressions- und Kontrollstrategien. Der Staat setzte in den siebziger Jahren auf Repression, heute auf Vorbeugung, die Strategie bleibt aber die gleiche. In dem Buch »Nemici dello Stato« (dt.: Staatsfeinde) bezeichnet Wu Ming – damals unter dem Namen Luther Blisset Project – Italien als ein Land, in dem der Ausnahmezustand die Normalität darstellt. Welche Auswirkungen hat dieser normale Notstand? Als »Notstand« bezeichnen wir einen Prozess, in dem der »öffentliche Feind« ständig neu definiert werden muss. Nach dem 11. September 2001 hat sich der Schwerpunkt des weltweiten Notstandes auf die terroristische Bedrohung verlagert. Die Medien arbeiten fleißig daran, die »öffentliche Meinung« davon zu überzeugen, dass wir »im Krieg« sind, dass der Feind unter uns ist. Ein wichtiges Instrument, damit die propagandistische Maschinerie funktioniert, ist die Rhetorik vom »Feind der Demokratie«. Dieser muss zunächst identifiziert werden, dann wird er entmenschlicht. Jeder Versuch, die Menschlichkeit dieses »Feindes« in den Vordergrund zu stellen, wird abgelehnt und verdrängt. Das ist eine politische Operation. Für die italienischen Mainstream-Medien ist Battisti nicht der Schriftsteller und Familienvater, der 2004 in Paris ein Leben in der Legalität führt. Er ist nicht ein Intellektueller, der mit seinen Büchern in Frankreich und in Italien wesentlich dazu beigetragen hat, eine kritische Reflexion über die siebziger Jahre anzuregen. Es wird ihm sein Werdegang aberkannt, ihm wird nicht erlaubt, jemand anderes zu sein als der Terrorist von 1979, damit man ihn als »unmenschlichen Mörder« beschreiben kann. Die Verhaftung von Menschen, die seit Jahren im politischen Exil in Frankreich leben, wird von der italienischen Regierung als »brillante« Antiterroroperation verkauft. Wozu führt die Logik der »unendlichen Vergeltung«? Im Namen des Terrorismusalarms kann die öffentliche Meinung für beinah jede Schweinerei abgerichtet werden. In Italien findet eine große Geisterbeschwörung über die Gespenster einer unverarbeiteten Vergangenheit statt. Den sozialen Bewegungen wird beispielsweise eine Debatte zur Frage der Gewalt und Gewaltlosigkeit aufgezwungen. Geredet wird über die Nähe der sozialen Kämpfe zum Terrorismus. Verlangt wird etwa die Distanzierung von den Paketbomben, ganz so, als wäre die Distanz nicht schon objektiv vorhanden und klar ersichtlich. Bei diesen rhetorischen Fallen fiel die politische »No-Global«-Elite schon öfter auf die Schnauze. Vielleicht macht sie sich so sogar überflüssig. Ist das eine Strategie der Rechten? Nein, das kann man leider nicht sagen. Alle politischen Kräfte, die sich selber als »liberal-demokratisch« bezeichnen, verletzen seit Jahren die Rechte und die Garantien, die das liberale Denken theoretisch schützen sollten. Ihre Vorstellung von Demokratie beschränkt sich auf die Möglichkeit, freie Wahlen abzuhalten. Die Logik der unendlichen Vergeltung kann damit unendlich weitergehen. Wie in dem Film »Minority Report« kommt die Rache vor dem Verbrechen. In Frankreich setzten sich nicht nur Intellektuelle und radikale Linke für die Freilassung von Battisti ein, sondern auch die institutionelle Linke. Warum schweigt die parlamentarische Linke in Italien? In den siebziger und achtziger Jahren begrüßte die Leitung der Kommunistischen Partei mit Begeisterung die Einführung von Ausnahmegesetzen. Und nicht nur das. Einige dieser Gesetze wurden sogar von den Kommunisten vorgeschlagen. Die Linie der KP, wie sie ein Mitglied des Zentralkomitees, Armando Cossutta, 1973 formulierte, lautete: »Ein unerträgliches Klima für die Extremisten schaffen.« Damals zielte die Parteilinie auf den so genannten historischen Kompromiss, d. h. eine Allianz mit den Christdemokraten. Alle sozialen Erscheinungen, die sich gegen diese Tendenz richteten, wurden durch die Repression zerschlagen. Die heutigen Linksdemokraten entstammen dieser Tradition. Der Fraktionsvorsitzende der Linksdemokraten, Luciano Violante, ist ein ehemaliger Richter, der in den achtziger Jahren die Theorie der Notwendigkeit von Sondergesetzen gegen den Terrorismus aufstellte. Außerdem war die Linke in den vergangenen Jahren unfähig, eine wirksame Opposition gegen Berlusconi zu leisten, und hat versucht, die Aufgaben der Opposition an die Richterschaft zu delegieren. Eine radikale Kritik am italienischen Justizsystem ist nicht im Interesse der Linksdemokraten. Warum kann man in Italien immer noch nicht über eine politische Lösung für die in den siebziger Jahren vom Staat Verfolgten sprechen? In Italien ist kein öffentlicher Diskurs über dieses Thema erlaubt. Deshalb würde ich heute von einer »Rückkehr des Verdrängten« sprechen. Eine politische Lösung würde bedeuten, eine Generalamnestie für die Gefangenen und die Protagonisten des sozialen Konflikts in den siebziger Jahren zu erlassen. Die Amnestie sollte von einem ernsthaften Verarbeitungsprozess begleitet werden, der den bewaffneten Kampf neu bewerten sollte, um ihn auf seine politische Dimension zurückzuführen. Mit einer Amnestie würde der Staat anerkennen, dass sich der Umgang mit dieser Zeit nicht auf die Ebene des Strafrechts beschränken kann. Eine politische Lösung würde einige der ideologischen Grundlagen des Notstands gefährden. Deswegen ist sie heute in Italien nicht denkbar. interview: federica matteoni | Federica Matteoni | Federica Matteoni: | [] | Thema | 03.03.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/10/battisti-soll-ewig-terrorist-sein |
Krach im Herrenhaus | Sich als männliches Vierergespann Girl Band zu nennen, ist schon ausgesprochen spitzbübisch, deswegen aber nicht weniger witzig. Aber Ironie hat derzeit einen schweren Stand, und so gab es auch in diesem Fall Beschwerden: die Band sei angeblich misogyn. Und wie so oft, wenn irgendjemand irgendwas offensive findet, war es auch in diesem Fall so, dass die Urheber der angeblichen Misogynie, nämlich Girl Band, nicht damit gerechnet hatten, dass man ihren Bandnamen so abstrus auslegen könnte. Ob Boy Band ein besserer Name gewesen wäre? Wohl kaum, denn dann hätten sich aufgrund des Sounds des irischen Quartetts die Backstreet Boys wiederum ziemlich beleidigt fühlen müssen. Girl Band sind Nachzügler des letzten großen Noiserock-Revivals, für das Bands wie die Liars, Black Dice oder auch die Idles stehen. Gegründet 2011, nahmen und nehmen sie das »Noise« in Noiserock ernst: Melodien oder erkennbare Akkorde findet man bei ihnen nicht. Stattdessen ein schepperndes, aber dennoch präzise gespieltes Schlagzeug, irgendwas muss ja im Takt bleiben. Die Signale der E-Gitarre hingegen werden durch so viele Verzerrer gejagt, dass es am Ende völlig egal ist, was da eigentlich auf den Saiten gespielt wurde. Dazu kommt die Stimme von Sänger Dara Kiely: Wenn der richtig loslegt, verschwimmt der Text zu einem einzigen geschrienen Gebrabbel. So ist auch ihr neues Album »The Talkies« eine Ansammlung von Geräuschen. Wie auf ihrem Debütalbum »Holding Hands with Jamie« von 2015 sucht man auch auf »The Talkies« Strophe, Refrain und Bridge vergeblich. Richtiggehend zusammengestückelt wurden die Songs, denn die Band zog sich für die Produktion in ein irisches Herrenhaus zurück und nahm beispielsweise das Schlagzeug einmal im hallenden Weinkeller, das andere mal im Flur auf, um dann beide Versionen am Computer zusammenzuschneiden. Eine Noise-Collage also, die die Möglichkeiten von analoger Herangehensweise und digitaler Produktion bestens kombiniert. Girl Band: The Talkies (Rough Trade) | Dierk Saathoff | Dierk Saathoff: Platte - Girl Band: The Talkies | [] | dschungel | 07.11.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/45/krach-im-herrenhaus |
Forelle blau | "Bilder, die die Welt bewegen: Die Kosovaren küssen Panzer, streuen Blumen, herzen die Soldaten. Deutsche Soldaten. Bilder, die für alle unvergeßlich sind, für Befreier und Befreite - und die viele daran erinnern, wie es war vor mehr als fünfzig Jahren. Nein, nicht das Unrecht soll miteinander verglichen werden, auch nicht ein Diktator mit einem anderen - Kriegsverbrecher alle beide -, sondern um diesen Moment geht es, der wirkt wie ein Leuchtstrahl der Erkenntnis: Die Nachkriegszeit zeigt den Weg zu einer neuen Weltordnung. Und in dieser ganzen Zeit, der Zeit des Kosovo-Kriegs, stehen die Deutschen auf seiten der Demokratie, des Rechts, der Befreier. Ein beglückendes Gefühl - und eine enorme Verpflichtung." "Deutsche Soldaten sind gute Soldaten", Tagesspiegel, 14. Juni | : | [] | dschungel | 16.06.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/24/forelle-blau?page=0%2C%2C0 |
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Halluzinationen auf der Langstrecke | Bei gemütlichem Tempo braucht man mit dem Auto von Paris bis zur schönen Hafenstadt Brest am Atlantik knapp sieben Stunden, mit der Bahn sogar nur viereinhalb. Und es gibt wirklich keinen vernünftigen Grund, diese Strecke mit dem Fahrrad zu fahren. Trotzdem kommen alle vier Jahre mehrere Tausend Menschen aus aller Welt zusammen, um genau dies zu tun – und dann auch noch direkt nach der Ankunft in Brest den ganzen Weg in die französische Hauptstadt zurückzustrampeln. 615 Kilometer hin, 615 Kilometer zurück. Von diesen ambitionierten Hobbyradlern erzählt der sehenswerte Dokumentarfilm »Brevet«, der kürzlich in Hamburg seine Kino-Premiere hatte und mittlerweile auf DVD erhältlich ist. Der Hamburger Doku-Filmer Michael Reis-Müller war im August vergangenen Jahres mit der Kamera dabei, um die Faszination dieser sympathisch-irrsinnigen Veranstaltung einzufangen. »Ich habe mich ganz einfach gefragt: Warum machen die das?« sagt Reis-Müller beim Interview. »Warum nehmen Menschen diese Anstrengung freiwillig auf sich, und was herrscht da vor Ort für eine Stimmung?«
Die Historie geht zurück bis ins vorvergangene Jahrhundert. Erstmals wurde 1891 auf der Route Paris-Brest-Paris ein Radrennen für Profis und Amateure ausgetragen, 206 Franzosen gingen bei der Premiere an den Start. Der schnellste Profi kam nach etwas mehr als 71 Stunden ins Ziel, der letzte Amateur benötigte mehr als zehn Tage. 1931 durften die Amateure nicht mehr gemeinsam mit den Profis antreten, sondern mussten die Route auf einer eigenen Veranstaltung im sogenannten Audax, in einem geschlossenen Verband, fahren. Als Reaktion auf diese bei vielen Amateuren unbeliebte Regeländerung wurde im selben Jahr der auch heute noch ausgetragene Brevet ins Leben gerufen, bei dem die Teilnehmer allein oder in kleinen Gruppen fahren und ihr Tempo selbst bestimmen.
Das wohl wichtigste Merkmal eines Brevet: Es handelt sich dabei nicht um ein Rennen. Niemals sollte man in Gegenwart eines leidenschaftlichen Brevet-Fahrers diese Veranstaltung als Rennen bezeichnen – andernfalls sind einem ein sehr langer Vortrag sowie ewiger Zorn sicher. Denn es geht nicht um Wettkampf, sondern darum, eine bestimmte Langstrecke innerhalb eines vorgegebenen Zeitlimits zu fahren und dabei den eigenen Rhythmus zu finden. Die Fahrer sind weitestgehend auf sich allein gestellt und selber für Verpflegung, Material, Pausen und alles weitere Wichtige verantwortlich. Sie sind im normalen Straßenverkehr unterwegs und müssen sich an Kontrollpunkten einen Stempel geben lassen. Brevets kommen meist ohne große Sponsoren aus, sie haben keine kommerzielle Ausrichtung. Radsportler, die sich diesem Stil verpflichtet sehen, bezeichnen sich als randonneurs, was im Französischen »(Rad)Wanderer« bedeutet. Der idealtypische randonneur misst sich nicht mit anderen, sondern stellt sich eine Aufgabe, die er bewältigen will. Für die 1 230 Kilometer lange Strecke Paris-Brest-Paris haben die Teilnehmer maximal 90 Stunden Zeit. Manche nutzen das Limit vollständig aus, andere verzichten auf lange Schlafpausen und brauchen weniger als 50 Stunden.
Die Doku von Michael Reis-Müller begleitet drei der knapp 6 000 Fahrer. Die 38jährige Sina fuhr 2011 zum ersten Mal bei diesem Brevet mit und will ihre damalige Zeit unterbieten. Der 36jährige Michael hat erst vor kurzem seine Leidenschaft für Brevets entdeckt und ist zum ersten Mal dabei. Der 72jährige Claus ist ein Radsport-Urgestein, in der Szene bekannt und nimmt zum siebten Mal teil. Er betrachtet den Stil der randonneurs als Lebensphilosophie und stellt schöne Analogien zwischen dem Brevet und dem Leben an sich her. Alle drei konnte das siebenköpfige Film-Team über eine Smartphone-Funktion zu jeder Zeit orten und aus dem Auto heraus während der Fahrt sowie bei Pausen an den Kontrollposten interviewen. Die drei Protagonisten waren gut gewählt, sie berichten auf sympathische und nachvollziehbare Weise von ihrer Motivation und ihren Empfindungen während der Tortur. Anfangs herrschen Vorfreude und Euphorie, aber je länger sie unterwegs sind, desto mehr kriechen sie auf dem Zahnfleisch. Kälte, Schlafmangel und die hügelige Strecke machen ihnen sichtbar zu schaffen. Sogar von Halluzinationen ist die Rede. Der Film fängt die Strapazen und den Schmerz gnadenlos ein, als Zuschauer leidet man mit.
Viele Bilder der Doku sind eindrucksvoll. Schöne französische Dörfer, wie man sie aus dem Urlaub oder von den »Tour de France«-Übertragungen kennt, die Straßen bei Nacht, weite Felder und schmerzverzerrte Gesichter. Immer mal wieder beweist Reis-Müller Sinn fürs Detail – eine kurze Umarmung zwischen zwei Fahrern, eine Getränkedose, eine rasselnde Fahrradkette. Kleinigkeiten, die zum Verständnis des ganzen Unterfangens beitragen und die besondere Stimmung bestens vermitteln. Überraschend gut passen dazu die entspannten Americana-Songs des Hamburger Musikers Digger Barnes, die man eher in einem Western oder Truckerfilm erwarten würde. Da die Doku ohne Voice-over auskommt, werden die allgemeinen Charakteristika eines Brevet sowie die Eigenarten von Paris-Brest-Paris erst nach und nach über die O-Töne vermittelt. Für Fachfremde ist das ein Nachteil: Wer noch nie etwas von einem Brevet gehört hat, muss ein bisschen zu lange warten, bis die wichtigsten Fragen geklärt sind.
Immer wieder kommen auch andere Beteiligte als die drei Protagonisten zu Wort, wird das Drumherum präsentiert. So sind überall an der Strecke Freiwillige im Einsatz, die Essen und Schlafplätze bereitstellen, beim Reparieren helfen oder einfach nur enthusiastisch die Teilnehmer anfeuern. Unter den Fahrern ist die Stimmung angenehm. »Die Radsportwelt ist eigentlich von einem starken Konkurrenzdenken geprägt, aber bei den Brevets ist das anders«, sagt Reis-Müller. »Es gab bei früheren Ausgaben von Paris-Brest-Paris auch mal Probleme mit Ehrgeizlingen, denen es zum Beispiel an den Kontrollstellen zu langsam ging und die dann unfreundlich wurden, aber das sind Ausnahmen gewesen. Missgunst, Protzerei oder Lästereien habe ich nicht beobachtet, dafür immer wieder kleine Gesten der Solidarität und einen respektvollen Umgang miteinander. Man sollte das nun auch nicht überhöhen und diesen Brevet als Oase in einer von Konkurrenz geprägten Sportwelt interpretieren, aber die Stimmung war schon sehr angenehm.«
1 000 Fahrer mussten aufgeben, die drei aus der Doku sind halbwegs zufrieden wieder in Paris angekommen. »Natürlich haben alle Teilnehmer auch eine Art von Leistungsgedanken, sonst wären sie nicht dabei«, sagt Reis-Müller. »Aber sie machen das in erster Linie für sich und entziehen sich dabei jeder ökonomischen Rationalität. Riesiger Aufwand, so gut wie kein Ertrag. Man bekommt eine Medaille, wenn man es geschafft hat, aber keine besondere Auszeichnung für eine gute Platzierung. Mir haben die Dreharbeiten unter anderem gezeigt: Wenn Menschen etwas freiwillig machen, dann können sie auch in der größten Anstrengung Befriedigung finden.« »Brevet« ist als DVD erhältlich und als Video on Demand bei Vimeo abrufbar | Sven Sakowitz | Sven Sakowitz: Die Dokumentation »Brevet« | [] | Sport | 21.01.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/03/halluzinationen-auf-der-langstrecke?page=0%2C%2C2 |
Wiesbadener Wolfsgeheul | Unlängst deckte der Wiesbadener Kurier auf, dass der in der hessischen Landeshauptstadt ansässige »Türkische Jugend- und Kulturbund« ein Tarnverein der rechtsextremistischen türkischen »Grauen Wölfe« ist und in den vergangenen Jahren sowohl von der Stadt als auch aus einem Bundesprogramm, das sich explizit »gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus« wendet, etliche tausend Euro erhielt. Die Stadtoberen geben sich ahnungslos, obwohl ihnen schon lange entsprechende Hinweise vorliegen. Als wäre das alles nicht schon peinlich genug, sitzt der Verein auch noch ausgerechnet auf jenem Gelände im Wiesbadener Stadtteil Biebrich, wo früher die Synagoge stand, an deren Zerstörung durch die Nationalsozialisten ein Mahnmal erinnert, das erst am 27. Januar dieses Jahres, dem Holocaust-Gedenktag, feierlich enthüllt wurde. Zuständig für die Vergabe der städtischen Gelder an den »Türkischen Jugend- und Kulturbund« ist der Ausländerbeirat. Dessen Vorsitzender Salih Dogan versucht, die Angelegenheit herunterzuspielen: Die türkische Mutterpartei der »Grauen Wölfe«, die MHP, stelle sich »nur aus deutscher Perspektive«, nicht jedoch aus türkischer Sicht als »übersteigert nationalistisch« dar. Kein Grund zur Aufregung also. Und überhaupt seien mit den Zuschüssen ja nicht rechtsextremistische Aktivitäten finanziert worden, vielmehr sei das Geld in die »Jugendarbeit« geflossen. Als ob das bei Rechtsextremisten ein Widerspruch wäre. Eine Kommentatorin der Frankfurter Rundschau schreibt erbost von »pauschalen, namenlosen Verdächtigungen gegen den Verein« und sieht Dogan als Opfer: Dessen Partei, die CDU, habe »ihren Vorzeigetürken« einfach »im Regen stehenlassen«, was Rückschlüsse auf seine »innerparteiliche Integration« erlaube. Dass ihnen ausgerechnet von einer linksliberalen Zeitung vorgeworfen wird, die »Nazikeule« zu schwingen, hätten sich die Christdemokraten wohl auch nicht träumen lassen. | Alex Feuerherdt | Alex Feuerherdt: | [] | Inland | 16.12.2010 | https://jungle.world//artikel/2010/50/wiesbadener-wolfsgeheul?page=0%2C%2C3 |
Märchen aus Blogistan | Negin Behkan ist noch ganz berührt von Ali Samadi Ahadis Film »Die grüne Welle«. Sie hat ihn bei einer Wohnzimmer-Preview zwei Wochen vor dem offiziellen Kinostart gesehen. »Der Film hat so viele Erinnerungen wachgerufen«, sagt Behkan. Sie ist nach den Unruhen von 2009 aus dem Iran geflohen, wo sie zuletzt für die reformorientierte Tageszeitung Bahar gearbeitet hat, und lebt heute als politischer Flüchtling in Berlin. Genau diese Zeit der Unruhe, im Iran besser bekannt als Mowj-e Sabz (»grüne Welle«), beschreibt der Film in einer eindrücklichen Collage aus Youtube-Videos, Interviews und anderen Bilddokumenten.
Freude empfindet Behkan angesichts der fröhlichen Aufbruchsstimmung während des ersten öffentlichen Auftritts von Mir Hussein Mousavi nach den Präsidentschaftswahlen 2009, bei dem ihm im Azadi-Stadion von Teheran Tausende Menschen zujubelten, Wut überkommt sie angesichts der Erklärung Mahmoud Ahmadinejads zum Wahlsieger am 12. Juni des gleichen Jahres. Bei den Bildern vom Amtsantritt Ahmadinejads und von der exzessiven Gewalt, die von den Basij-Milizen an Demonstranten verübt wurde, stehen ihr Tränen in den Augen.
So anschaulich der Film diese Eindrücke einfängt, so wenig erklärt er sie leider. Warum gehen Ende Mai 2009 plötzlich so viele Menschen für Mousavi auf die Straße? Wer ist der alte Mann mit dem Bart und der Nerdbrille, der immer mit Turban und Bademantel herumläuft und als der »oberste Führer« vorgestellt wird? Welches politische System wünscht sichder Taxifahrer, wenn er behauptet, der Präsident habe einen Job, »den auch jeder normale Soldat« erledigen könne? Der Film ist voller Anspielungen, die jeder Iraner versteht, die für Außenstehende aber schwer zu entschlüsseln sind. So hätten die Menschenrechtsanwältin Shadi Sadr, die Journalistin Mitra Khaltbari oder Mousavis Wahlkampforganisator Mehdi Mohseni etwa erklären können, welchen Zweck die Wahlen des Präsidenten oder des Parlaments im Iran überhaupt erfüllen. Sie sollen einerseits die Diktatur des religiösen Führers Ali Khamenei verschleiern und andererseits eben doch eine gewisse Machtteilung innerhalb des politischen Establishments sicherstellen. Das mag im Iran jeder wissen, auch wenn man es so nicht sagen darf, im Ausland ist das nicht der Fall. Noch befremdlicher ist, dass auch der schiitische Kleriker Mohsen Kadivar oder der ehemalige Basij-Milizionär Amir Farschad Ebrahimi zu Wort kommen. Sie behaupten, Ahmadinejads Regime habe die »Werte der islamischen Revolution von 1979« verraten, als hätten er und Khamenei diese Werte nur falsch interpretiert und als sei die Islamische Republik eigentlich als demokratischer Rechtsstaat gedacht gewesen.
Ungewollt bedient der Film auch den Mythos von der »Twitterrevolution« durch die permanente Verwendung von Youtube-Videos, Blog-Einträgen und das Einblenden von Twittermeldungen, ohne zu erklären, welche Rolle das Internet im Iran vor, bei und nach den Unruhen spielte. Die Bezeichnung »Twitterrevolution« stammt von den westlichen Medien, weil diese überwiegend auf Twittermeldungen und Youtube-Sendungen zurückgreifen mussten, seit es ihren Korrespondenten nicht mehr erlaubt war, ihre Hotels zu verlassen. Auch für die Mobilisierung der iranischen Diaspora war das Internet wichtig.
Demgegenüber stellen die Kommunikationsforscher Annabelle Sreberny und Gholam Khiabany in ihrem 2010 erschienenen Buch »Blogistan – The Internet and Politics in Iran« fest, dass es kaum Beweise dafür gebe, dass Twitter, Facebook oder Youtube eine wichtige Rolle beim Organisieren von Demonstrationen gespielt haben. Tatsächlich hätten die Auseinandersetzungen auf den iranischen Straßen stattgefunden, und gerade in der Zeit der schwersten Auseinanderstetzungen nach Khameneis Rede vom 19. Juni war das Internet im Iran faktisch lahmgelegt. Sogar die Nutzung von Mobiltelefonen war zwischenzeitlich unmöglich. Wo aber das Mobilfunknetz funktionierte, waren mit dem Mobiltelefon verschickte Videos und Nachrichten tatsächlich ein wichtigeres Medium als Twitter. Diesen Nachrichten lag wohl in den wenigsten Fällen der Wunsch zugrunde, den Rest der Welt über die Situation im Iran zu informieren. Sie gelangten erst anschließend durch Twitter und Youtube an die Außenwelt. In diesem Zeitraum soll es unterschiedlichen Quellen zufolge höchstens 100 aktive Twitterer mit insgesamt etwa 5 000 iranischen Lesern gegeben haben, von denen nicht einmal klar ist, wie viele von ihnen im Ausland lebten. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass Flugzettel und mündliche Kommunikation für die Proteste eine viel größere Rolle spielten als die sogenannten sozialen Netzwerke.
Blogs hingegen – das persischsprachige »Blogistan« – waren hingegen im Iran sehr bedeutsam. Gegen Ende der Präsidentschaft Khatamis stellten immer mehr reformorientierte Zeitungen ihre Arbeit ein. Viele Journalisten verlegten ihre Tätigkeit daraufhin ins Internet. Persisch wurde dort innerhalb kürzester Zeit zu einer der meistbenutzten Sprachen, ein Phänomen, das sich weder durch Demographie – das Persische wird weltweit viel seltener gesprochen, aber öfter gebloggt als etwa Arabisch – noch durch die besonders repressiven Verhältnisse im Iran gänzlich erklären lässt. Facebook und Youtube waren dagegen bis zum Herbst 2009 im Iran gesperrt, werden seitdem aber sowohl von Anhängern wie Gegnern des Regimes genutzt.
Zugleich ist die virtuelle Kommunikation durch eine deutliche digital divide gekennzeichnet. Die Preise für Internetnutzung sind im Iran und in den arabischen Ländern wesentlich höher als in den USA oder Europa, das Durchschnittseinkommen ist dort aber um ein Vielfaches geringer. Die geschätzten 70 000 aktiven Blogger bilden dort eine kleine digitale Elite, die weniger als ein Promille der Bevölkerung ausmacht. Die iranischen Blogs berichten über alle möglichen Themen, von Sport über Musik bis zur internationalen Politik. In einer Gesellschaft wie der iranischen, in welcher der Staat derart tief in die Privatsphäre seiner Bürger eingreift und Vorschriften darüber erlässt, wie man sich zu kleiden hat und welche Musik gespielt werden darf, taugt jedes kulturelle Thema zum Politikum. Trotzdem bilden iranische Blogger keine per se oppositionelle Gruppe, wie gelegentlich kolportiert wird. Gerade in den vergangenen Jahren hat das Regime selbst gezielt mit einer eigenen »Kolonisierung Blogistans« begonnen, wie Sreberny und Khiabany es nennen. Basij-Mitglieder werden massenhaft vom Regime zum Bloggen ermuntert, und seit August 2009 besitzt auch der religiöse Führer Khamenei ein eigenes Facebook-Profil. Heute bieten die Blogeinträge aus dem Iran vor allem interessante Augenzeugenberichte über die Ereignisse des Sommers von 2009, die hoffentlich bald häufiger übersetzt und genauer untersucht werden, als dies bisher geschehen ist. Negin Behkan wird bei der Vorstellung von »The Green Wave« am 27. Februar um 13 Uhr im Filmtheater Hackesche Höfe, Berlin, auf dem Podium anwesend sein und am 23. Februar in Stuttgart bei einer weiteren Veranstaltung im Delphi-Theater um 19.30 Uhr. Annabelle Sreberny/Gholam Khiabany: Blogistan. The Internet and Politics in Iran. I.B. Tauris, London/New York 2010 | Carl Melchers | Carl Melchers: Über den Film »The Green Wave« | [] | dschungel | 17.02.2011 | https://jungle.world//artikel/2011/07/maerchen-aus-blogistan?page=0%2C%2C3 |
Freitag Samstag Sonntag | Die Woche, 17. April 1998, im hintersten Produkt, Modernes Leben, Seite 43, oben links, einspaltig: Handy der Woche Unter
Freeclimbern und
Wanderern
in den USA sind
Funkgeräte
der letzte Schrei Sie schienen endgültig weggeschwemmt von der internationalen Mobiltelefon-Flut: die guten alten Walkie-Talkies. Jetzt schwören amerikanische Outdoor-Sportler auf eine Neuinterpretation des Mobilfunkgerätes: das Walk About Plus. Die Firma Motorola zielt mit dem elf Zentimeter großen und
200 Gramm schweren Gerät auf Mountainbiker, Kajakfahrer, Angler und Snowboarder. Über eine spezielle Radiofrequenz lassen sich per Knopfdruck Aufenthaltsort, Marschrichtung oder Lunchpause beratschlagen; immerhin in einem Radius von gut drei Kilometern. Ein Satz Batterien reicht für 30 Stunden Funkverkehr, das Walk About Plus kostet 179 Dollar. Für Freeclimber gibt es Kopfhörer, für Jäger gibt es die pirschfreundliche Ausführung in Camouflage-Design. Vorerst sind diese Plauder-Toys allerdings nur in den USA erhältlich. Oben rechts, wie links: Restaurants der Woche Bohnenbällchen und Teigtaschen - London liebt die afrikanische Küche Authentische westafrikanische Küche hat in London Hochkonjunktur. Mit Ziegenfüssen und Riesenschnecken werden europäische Zungen erst schockiert, dann verwöhnt. Empfehlenswerte Adressen: Buka - - - Live-Musik und Riesengedränge. Auf der Karte Egusi (Ziegenfleisch mit Melonenkernen und Spinat) und Okra-Eintopf. Wazobia - - - Coole Einrichtung, nigerianische Küche. Eintopflastig. Mandola - - - Gemüse- und Salatküche aus dem Sudan. Unbedingt reservieren! Lalibela - - - Süß-scharfe Saucen dominieren hier die äthiopischen Rezepte.
Der Kaffee wird mit rauchendem Sandelholz serviert. Vegetarierfreundlich. Selam - - - Gerichte aus Eritrea: omelettartiges Injera-Brot mit scharfen Eintöpfen.
Dazu gibt es Honigwein. Die ausgebreiteten Arme nach hinten gestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, den Mund weit aufgerissen ein weinendes, vielleicht schreiendes Kind. Dieses Mädchen weint um sein verbranntes Zuhause. Ein Feuer in der Pujut Corner auf Borneo machte 658 Familien obdachlos. Seit Monaten verursachen Waldbrände in Indonesien lebensbedrohliche Qualmentwicklung und Luftverschmutzung in der gesamten Region. Als Brandstifter gelten Bauern, die sich neue Felder erschließen wollen. Die anhaltende Trockenheit läßt die Flammen außer Kontrolle geraten. Photographiert, nur ein zwei Schritte, eine Armlänge vielleicht nur, von der vorgehaltenen Kamera entfernt, anstatt getröstet. Trockenen Auges abgedruckt als Augenfutter. Aber die feuchten Hände werden sie sich gerieben, und die Lippen sich geleckt haben, das Wasser wird ihnen in der Schnauze zusammengelaufen sein beim Anblick der auf einem Haufen aufgetischten exotischen Genüsse, der goldigen Bohnenbällchen und Teigtaschen, des speziellen Spielzeugs aus USA, das zur Lunchpause klingelt, und des hübschen hilflosen Dings in seinem farbenfrohen Fummel, dem in ein zwei Jährchen noch etwas ganz anderes zustoßen könnte, in der Reichweite solcher Heuchler. Ansonsten noch Stuhl der Woche. Crossover der Woche. Spot der Woche. Gewinnerin der Woche. Verlierer der Woche. Zitat der Woche. In Englisch: Die Woche, Dollarpreis per annum und amerikanische Bezugsadresse der Woche. Und ebenso breit wie der Knüller oben serviert, unten auf der Seite wie jede Woche der rauchende Kopf, der Holzweg und der kalte Kaffee, der Willemsen der Woche. Von Roger Willemsen. Und dazu ein Willemsen, der lächelt, das Arschgesicht der Woche in seinem wöchentlichen Kasten. * Samstag, 18. April,
20.15 RTL , Perfect Day,
Neue Show Live. "Die Show, die's anpackt." RTL-Anchorman Wolfram Kons hilft mit Spiel und Spaß zwei hochverschuldeten Menschen. Benefiz-Show. Das Schicksal schlägt manchmal unerbittlich zu: Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes, oder der Ernährer läßt die Familie sitzen: Und dann steht man plötzlich mit einem Berg Schulden da. Drei Menschen, die in solche Situationen geraten sind, soll heute geholfen werden. Und zwar von ganz vielen Kandidaten. Deren "Teilnahmegebühr" zwischen 200 und 250 Mark für die witzigen Spiele und Aktionen hilft, das Schuldenkonto aufzufüllen. Für die Mitspieler gibt es eine Ausstattung la Traumhochzeit" zu gewinnen, dem Sieger eines Karaokewettbewerbs auf der Achterbahn winkt eine Luxusreise im Wert von 10 000 Mark - live überreicht von Modern Talking! Telefonisch werden Boxhandschuhe von Muhammad Ali versteigert. Am Schluß wird Kassensturz gemacht und der erspielte Geldsegen unter den drei Unglücksraben aufgeteilt. (Eine zweite Sendung ist für den Mai geplant.) 105 Min. / bis 22.00 Uhr. Das Konzept Wer einfach nur sein Geld verplempert hat, ist bei "Perfect Day" an der falschen Adresse. Die Redakteure der Produktionsfirma Endemol (stellt auch das holländische Vorbild "Make My Day" her) prüfen gemeinsam mit der Schuldner e. V. Köln die Hochverschuldeten auf Herz und Nieren. Auch hat ein Rechtsanwalt schon vorher versucht, bei den Gläubigern eine Reduzierung der Schuldensumme zu erwirken. Vor der Sendung lernt Wolfram Kons seine Gäste während der Dreharbeiten zu einem Filmbeitrag näher kennen. Hundert Leitungen geschaltet, jedoch ein kleines Problem bei der telephonischen Versteigerung. Hunderte von nicht eingeladenen Leuten in der Leitung, die nichts haben wollten, aber sagen wollten, was sie haben, nämlich auch Schulden. Sonntag, 19. April: Nach dem Tatort die Talkshow mit Sabine Christiansen, Schwerpunktthema und Diskussion mit Gästen "Sabine Christiansen", Diskussion des Schwerpunktthemas Kindesmißbrauch mit den Schwerpunktthemen Kinderprostitution und Kinderpornos mit unter anderen den Gästen X und Y, zwei Tatort-Kommissaren. | uwe nettelbeck | uwe nettelbeck: | [] | Lifestyle | 29.04.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/18/freitag-samstag-sonntag |
Wenn der Provider dreimal klingelt | Three strikes and you’re out! Nach diesem Grundsatz werden Straftäter in 25 US-Staaten nach ihrer dritten Verurteilung lebenslang eingesperrt. Ebenso könnten Nutzer des Internets in der Europäischen Union künftig ganz ohne Gerichtsprozess vom virtuellen Leben ausgeschlossen werden, wenn sie drei urheberrechtlich geschützte Lieder heruntergeladen haben. Geht es nach dem Europa-Abgeordneten Manuel Medina Ortega, soll eine automatische Überwachung aller europäischen Internet-Zugänge dafür sorgen, dass niemand ungestraft davonkommt.
Mit dem als »Medina-Report« bezeichneten Dokument geht der Kampf in die nächste Runde, der seit der Eröffnung der Musiktauschbörse Napster 1998 tobt. Er dreht sich um die Kontrolle des Internets und die Anwendung nationalstaatlicher Gesetze wie beispielsweise des Urheberrechts. Nach dem Willen der Verfasser dient der Medina-Report als Richtlinie zur »Harmonisierung« der entsprechenden Gesetze in den EU-Staaten. Seit das Internet als Massenmedium etabliert ist, gibt es zwei gegensätzliche juristische Standpunkte, was den Umgang mit dem Web betrifft. Die Traditionalisten sehen in der transnationalen Struktur des Internets ein technisches Problem. Sie fordern Regularien und Methoden, um illegale Inhalte zu sperren und strafrechtlich zu verfolgen; zur Definition von Rechtmäßigkeit ziehen sie gewöhnlich die Gesetzgebung ihres Herkunftslandes heran. Die Gegenseite befürwortet eine Anpassung der Rechtsprechung an die Gegebenheiten des Internets.
Oft steht in diesen Debatten das Urheberrecht im Mittelpunkt, weil sich hier der Gesetzesverstoß zu einem Breitensport entwickelt hat, dem die Strafverfolgung nicht mehr beikommt. Gleichzeitig übt die Unterhaltungsindustrie großen Druck aus, weil sie ihre angeblichen Verluste durch illegale Kopien in Milliardenhöhe angibt. Bei anderen von Regulierungsbefürwortern angezeigten Missständen wie Pornographie oder rassistischer Propaganda fehlen dagegen eine finanzstarke Lobby und eine internationale Strategie, so dass es oft bei kurzlebigen Debatten und Aktionismus auf nationaler Ebene bleibt.
Die Verfasser des Medina-Reports haben aus den Fehlern der US-amerikanischen Medienindustrie gelernt. Deren Ruf hat in den vergangenen Jahren schwer gelitten, weil sie von »Internet-Piraten« horrenden Schadensersatz in Höhe von Zehntausenden US-Dollar forderte. Die scheinbar willkürlich erhobenen Klagen trafen auch offensichtlich Unschuldige, die nicht mal einen Computer besaßen. Selbst Minderjährige wurden durch Prozesskosten in kaum jemals zu tilgende Schulden gestürzt, obwohl ihnen lediglich einzelne illegale Downloads nachgewiesen werden konnten.
Zum einen sorgte dieses Vorgehen für große Empörung, zum anderen ließen sich die Tauschbörsen und Filesharer von den drakonischen Maßnahmen nicht abschrecken. Deshalb wollen sich die Vertreter der Unterhaltungsindustrie in den USA und der EU nun mit den Internet-Anbietern zusammentun, um den Zugang zu illegalen Inhalten zu sperren. Der Medina-Report soll diese Strategie in den EU-Staaten gesetzlich festschreiben.
Zunächst wird in der Richtlinie der Einsatz von Technologien vorgeschlagen, die eine automatische Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Inhalten ermöglichen. Wie das funktionieren soll, bleibt jedoch unklar. Zwar können die Produzenten von ihnen veräußerte Musik- und Filmdateien digital signieren und als legal deklarieren, doch so genannte Raubkopierer würden ihre Dateien kaum analog als illegale Inhalte kennzeichnen. Es bliebe also nur, jede nicht zertifizierte Datei als illegal zu betrachten. Das beträfe den größten Teil der Inhalte im Internet, so dass dort nur noch mit offizieller Genehmigung problemlos Dienste angeboten werden könnten. Die Verfasser des Medina-Reports scheinen ohnehin alle Seiten jenseits der virtuellen Shopping-Meilen für kriminell zu halten. So nennen sie »The Pirate Bay«, eine der populärsten Seiten im Netz, kurzerhand als Beispiel für ein illegales Web-Angebot, obwohl der Prozess gegen die Betreiber erst am Montag in Schweden begann. Filesharing-Techniken werden ebenfalls pauschal verurteilt, obwohl sie beispielsweise auch zur Verbreitung von freier Software genutzt werden.
Die europäischen Internet-Anbieter sollen nach Medinas Vorstellung nun Filter installieren, die den Datenverkehr ihrer Kunden überwachen und vermeintlich illegale Übertragungen verhindern. Die EU-Staaten müssten also Gesetze, die den Providern das Belauschen ihrer Kunden verbieten, durch solche ersetzen, die eine Filterung vorschreiben. Was legal wäre, könnten sie dann selbst definieren.
Doch auch bei vollständiger Überwachung bleibt die Strafverfolgung aller Verstöße gegen das Urheberrecht angesichts ihrer Vielzahl unmöglich. Deshalb sollen Rechteinhaber oder ihre Interessenvertreter, ganz ohne offizielle Anzeige vom Internet-Anbieter, die Namen von so genannten Piraten erhalten, um finanzielle Forderungen direkt an sie stellen zu können; dank der im vergangenen Jahr eingeführten Vorratsdatenspeicherung lassen sich Anschlussinhaber noch nach Monaten identifizieren. Nach Medinas Vorstellung zieht außerdem jeder Verstoß eine Verwarnung nach sich. Erweist sich ein Kunde als unbelehrbar, sperrt der Anbieter nach dem dritten Mal seinen Anschluss: Three strikes and you’re out! In Europa stößt das Three-Strikes-Prinzip auf unterschiedliche Resonanz. Frankreich hat ein entsprechendes Gesetz bereits verabschiedet. In Irland hat sich der größte Internet-Provider Eirecom zu Ausschlussmaßnahmen verpflichtet, nachdem ihn die vier größten Medienproduzenten EMI, Sony BMG, Universal Music und Warner Music wegen Beihilfe zu Urheberrechtsverletzungen verklagt hatten. Die deutsche Justizministerin Brigitte Zypries und der britische Minister für Geistiges Eigentum, David Lemmy, sprechen sich gegen eine Ausschlussregelung aus. Der britische Kommunikationsminister Stephen Carter möchte allerdings dennoch Internet-Filter und ein darauf basierendes Verwarnungssystem einrichten.
Jérémie Zimmermann von der Bürgerrechtsgruppe »La Quadrature du Net« kommentiert die Vorlage so: »Der Medina-Report bedient ausschließlich die Interessen der Unterhaltungsindustrie und bringt der Kultur, den Künstlern und ihrem Publikum nichts.«
Dem Europa-Parlament lag das Three-Strikes-Prinzip im vergangenen November zusammen mit anderen Gesetzen zur Telekommunikation schon einmal zur Abstimmung vor. Damals sprach es sich mit 90prozentiger Mehrheit klar dagegen aus. Dieses Mal gehen die Befürworter jedoch geschickter vor. Zu den Verfassern des Medina-Reports gehören neben dem sozialdemokratischen Namensgeber auch Janelly Fourtou von der liberalen »Avenir Démocrate« und Jacques Toubon von der konservativen UMP, womit die größten Fraktionen von Anfang an beteiligt waren. Zudem müssen die Europa-Parlamentarier den vorliegenden Entwurf am 12. März entweder als ganzen annehmen oder ablehnen, denn Änderungsanträge sind nicht zugelassen.
Offenbar haben die Ordnungspolitiker inzwischen verstanden, dass sie missliebige Server nicht weltweit stilllegen können. Deshalb nehmen sie sich nun die Zugangsknoten vor, wie es auch China erfolgreich praktiziert. Technisch versierte Nutzer umgehen solche Netzsperren zwar mit wenig Mühe, doch der Mehrheit will man mit der Doppelstrategie aus Einschüchterung und technischen Hindernissen beikommen. Setzt sich das Three-Strikes-Prinzip durch, werden sich die meisten Europäer spätestens nach der zweiten Verwarnung überlegen, ob sie ihr digitales Leben aufs Spiel setzen oder von Seiten wie »The Pirate Bay« doch lieber Abstand halten. | Carsten Schnober | Carsten Schnober: Die automatische Überwachung aller Internet- Zugänge könnte in Europa bald Realität sein | [] | Lifestyle | 19.02.2009 | https://jungle.world//artikel/2009/08/wenn-der-provider-dreimal-klingelt?page=0%2C%2C2 |
Die nächste Runde der ewigen Wiedergutwerdung | Befreiung für die Opfer der Deutschen. Ein US-Soldat belehrt nach der Besetzung eines deutschen Dorfes Anfang 1945 die Einwohner über die Vorschriften für die Zivilbevölkerung Deutschland kann sich mal wieder nicht erinnern. Einmal mehr wird hierzulande debattiert, ob der 8. Mai 1945 nun ein Tag der Niederlage oder der Befreiung war. Auslöser war das ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel, der Co-Vorsitzenden der AfD, vom 10. August. In diesem wurde sie gefragt, warum sie nicht – wir ihr Co-Vorsitzender Tino Chrupalla es getan hatte – im Mai zum Tag des Sieges an einem Empfang in der russischen Botschaft teilgenommen habe. Weidel antwortete, es komme für sie nicht in Frage, die »Niederlage des eigenen Landes« zu »befeiern«. Prompt rauschten die Reaktionen durch den digitalen Blätterwald. Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, schrieb auf der Plattform X (vormals Twitter): »Der Versuch der AfD-Vorsitzenden, die Befreiung Deutschlands von der NS-Diktatur durch die Alliierten als Niederlage umzudeuten, ist ein weiterer Schritt der AfD, sich völlig offen gegen die Werte unserer Freiheitlich Demokratischen Grundordnung zu stellen.« Susanne Ferschl, eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, nannte es ebenfalls auf X eine »Geschichtsklitterung«, zu behaupten, »die Befreiung Deutschlands von den Nazis sei eine Niederlage gewesen«. Also doch ein Sieg? Die Öffentlichkeit arbeitet sich seitdem an den Begriffen »Niederlage« und »Befreiung« ab. Dabei sollte das Wort »befeiern« im Mittelpunkt stehen. Natürlich sollte man die Niederlage Deutschlands am 8. Mai feiern, laut und ausdauernd – und nicht undifferenziert von »Befreiung« schwafeln. Befreit wurden die wenigen Überlebenden der Vernichtungs- und Konzentrationslager, die Inhaftierten, Untergetauchten und Geflüchteten. Dazu äußerten Weidels Kritiker kaum ein Wort. Natürlich sollte man die Niederlage Deutschlands am 8. Mai feiern, laut und ausdauernd – und nicht undifferenziert von »Befreiung« schwafeln. Dass die klügeren Beiträge von Konservativen kamen, sollte Linken und Linksliberalen zu denken geben. Der notorische Krawallkolumnist Jan Fleischhauer zum Beispiel traf ins Schwarze – oder eher: ins Grüne –, als er als Replik auf von Notz bei X postete: »Wer vom 8. Mai als Tag der Befreiung spricht, macht sich die Lebenslüge vieler Deutscher zu eigen, sie hätten Hitler nie gewollt. Natürlich war der Sieg der Alliierten eine Niederlage.« Von Notz und Co. werfen ihren Kritikern Geschichtsklitterung vor und betreiben sie selbst, indem sie zig Millionen Täter, Mitläufer und Zuschauer zu Opfern machen. Sie stellen damit den Deutschen, die bis 1945 mitgemacht haben, einen Persilschein aus, ganz so, als seien sie die verführten Opfer einer bösen Verschwörung gewesen. Das hat Tradition in Deutschland. Mit Blick auf den 8. Mai 1945 schrieb der Autor Eike Geisel in seinem Aufsatz »Jenseits des Vorurteils«: »Gut zwei Jahrzehnte später waren sich die Bürger der Bundesrepublik dann untereinander als Deutsche so nahegekommen, dass das Projekt der umfassenden Ehrenrettung der eigenen Vergangenheit in Angriff genommen werden konnte, ein Unternehmen, welches schließlich mit der in Bitburg und Belsen offiziell beglaubigten Lüge von der Austauschbarkeit der Opfer mit den Tätern seinen logischen Abschluss fand.« Am 5. Mai 1985 hatten US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl Kränze in der Gedenkstätte des KZ Bergen-Belsen und an der Kriegsgräberstätte Bitburg niedergelegt, wo Soldaten der Wehrmacht und SS beerdigt worden waren. Geisel sprach in dem Zusammenhang von der »Wiedergutwerdung der Deutschen«. Von Notz und Co. stehen exemplarisch für diese Haltung, der es nur noch reflexartig darum geht, alles zu verdammen, was einen vermeintlichen antifaschistischen Konsens der Zivilgesellschaft in Frage stellen könnte. Von einer kritischen Theorie der Gesellschaft keine Spur. Sie sprechen im Namen Deutschlands – eines »anderen« und »besseren« Deutschlands. Weidels jüngste Aussage ist dagegen Teil einer rechtsextremen Strategie der »Normalisierung« der deutschen Geschichte, an deren Ende eine andere Gesellschaft stehen soll. Sie und ihre Kameraden haben die Niederlage von 1945 nie verwunden und weinen heute noch Krokodilstränen ob der Toten von Stalingrad und Dresden. Jahrzehntelang war die Volkstrauer ein Fall für die rechte Schmuddelecke. Inzwischen sorgen AfD-Politiker wie Weidel, Alexander Gauland (»Vogelschiss«), Björn Höcke oder kürzlich Maximilian Krah (»Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher«) dafür, dass im rechten Mainstream wieder offen über eine »erinnerungspolitische Wende« (Höcke) gesprochen wird, die zumindest die Niederlage von 1945 erträglicher machen würde. Während die extreme Rechte sich mit den Nazis versöhnen will, leugnet der Rest der Gesellschaft lieber, irgendetwas mit ihnen zu tun zu haben. Hitler war es alleine, 1945 sind die Deutschen von ihm befreit worden und damit kann die Sache auch zu den Akten gelegt werden – so lautet seit Jahrzehnten das Mantra der deutschen Wiedergutwerdung. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sagte 1961: »Im deutschen Volkskörper, im moralischen Leben des deutschen Volkes, gibt es heute keinen Nationalsozialismus mehr, kein nationalsozialistisches Empfinden. Wir sind ein Rechtsstaat geworden.« Dass er den Nazi-Begriff »Volkskörper« benutzte – geschenkt. Noch heute gilt Adornos Bonmot: »Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.« Mit Hans Globke hatte Adenauer einen ehemaligen hohen Nazi-Funktionär zum Kanzleramtschef gemacht, und es verging kein Tag, an dem nicht über antisemitische Straftaten berichtet wurde. Das alles wurde ausgeblendet, denn Täter und Mitläufer waren nach 1945 über Nacht zu lupenreinen Demokraten mutiert. Die Joint Chiefs of Staff der US-Armee ahnten das wohl schon, als sie im April 1945 in der Direktive JCS 1 067 ausdrücklich festhielten: »Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.« Die Befreiung, von der der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 40. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands – zum Ärger des Stahlhelm-Flügels der Union und anderer Revisionisten – sprach, war vor allem eine Befreiung vom schlechten Gewissen, das alle jene umtrieb, die noch mindestens bis Stalingrad an den Endsieg Deutschlands geglaubt hatten. Auch deshalb hat die Mär von der Befreiung Deutschlands die Jahrzehnte überlebt, wie Joachim Bruhn in seinem 1992 erschienen Aufsatz »Mord und Totschlag. Konsequenzen der Deutschen Einheit« konstatiert: »Das kapitalistische Deutschland bewältigt den Nationalsozialismus, indem es seiner Lebenslüge, die Demokratie hätte mit dem Führer nicht das Geringste gemein, bis zur Selbsthypnose verfiel.« Deshalb gilt auch heute noch Adornos Bonmot: »Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.« Vielleicht müsste man ergänzen: und sie Generation für Generation zu wiederholen. | Holger Pauler | Holger Pauler: Zur Debatte über den 8. Mai 1945 | [
"Erinnerungspolitik",
"Deutschland",
"Theodor W. Adorno",
"Zweiter Weltkrieg",
"Helmut Kohl",
"Alice Weidel",
"Die Grünen",
"Eike Geisel"
] | Ausland | 21.09.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/38/alice-weidel-8-mai-die-naechste-runde-der-ewigen-wiedergutwerdung?page=0%2C%2C3 |
»Es ist ein Konflikt zwischen Diktatur und Demokratie« | Der Druck auf Nicolás Maduro wächst stetig. Ist der Präsident bereits besiegt?
Maduro ist ein Herrscher, der zwar durch den Mangel an Unterstützung der Bevölkerung und die internationale Isolation sehr geschwächt ist, aber weiterhin Macht ausübt, die von den Streitkräften und seiner Partei unterstützt wird. Doch er hat folgenschwere Fehler begangen. Die Regierung leugnet, dass sich Venezuela in einer Krise befindet. Im März 2016 hat er dennoch den Ausnahmezustand verhängt. Monate später, im Oktober, beschloss er, die anstehenden Wahlen auszusetzen. Er wollte nach einer Möglichkeit suchen, um die Wahlen mit einer Minderheit zu gewinnen. Im April 2017 kam es zu einem Bruch in der Regierungskoalition. Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz warf Maduro Verfassungsbruch vor und wurde entlassen. Daraufhin begannen heftige Proteste, die vier Monate dauerten und mit dem Mord an 150 Demonstranten sowie der Inhaftierung von Tausenden endeten. Doch die Unruhen gingen weiter und wuchsen auch in Gegenden, in denen die Leute früher die Regierung unterstützten. Juan Guaidó, der Herausforderer Maduros, gilt vor allem in Europa als konservativ. Gibt es dafür Belege?
Nein. Formal gehört Juan Guaidó einer Partei an, der Voluntad Popular, die sich als »Mitte-links« bezeichnet und Mitglied der Sozialistischen Internationale ist. Am ehesten könnte man ihn als Sozialdemokraten bezeichnen. Der Chavismo hat eine sehr effektive Kommunikationskampagne geführt, um all seine Kritiker als rechts, imperialistisch, von der CIA und dem Weißen Haus finanziert zu diffamieren. Auch Menschenrechtsverteidiger werden als Teil einer internationalen Verschwörung gegen den Sozialismus unter der Führung von George Soros bezeichnet. Die Open Society Foundation ist einer unserer Kooperationspartner. »Der Chavismo diffamiert all seine Kritiker als rechts, imperialistisch, von der CIA und dem Weißen Haus finanziert.« Also ist die Opposition gar nichts rechts?
Die Opposition ist so vielfältig wie das Land. Viele von uns, so wie ich, weigern sich, uns als Antichavisten zu bezeichnen, weil unsere Wünsche und Bestrebungen weit über diese Ideologie hinausgehen. Es ist ein Konflikt zwischen Diktatur und Demokratie. Es ist auch kein Klassenkampf mehr. Die 35 getöteten Menschen, die bei den Protesten in der Woche vom 21. bis 26. Januar 2019 umkamen, stammten aus der Unterschicht. Hat Guaidó die Unterstützung und das Vertrauen der Bevölkerung?
In Venezuela herrscht eine kommunikative Hegemonie. Die Regierung besitzt die Kontrolle über das, was im Fernsehen und Radio berichtet wird. Zeitungen sind fast verschwunden. Die Venezolaner müssen große Anstrengungen unternehmen, um sich auf dem Laufenden zu halten, vor allem über das Internet und soziale Netzwerke. Trotz der Zensur wurden zwei große Protesttage organisiert. Guaidó hat die Hoffnung der Bevölkerung geweckt. Die Atmosphäre auf der Straße ist sehr erwartungsvoll. Wovon hängt der Erfolg der Proteste nun ab?
Das Hauptziel besteht darin, der politischen Führung für den Übergang zur Demokratie ein Gesicht zu geben. Alles deutet darauf hin, dass es nicht nur ein anderes Gesicht, sondern auch eine andere Art der Politik sein muss. Guaidó kann weite Teile der Bevölkerung ansprechen und er besitzt ein Charisma, das einige an Hugo Chávez erinnert. Seit der Amtseinführung von Maduro hat sich die Menschenrechtslage weiter verschlechtert. Was sind die wichtigsten Veränderungen?
Venezuela befindet sich derzeit in einer komplexen humanitären Notlage, die nicht durch Krieg oder Naturkatastrophen verursacht wurde, sondern aus politischen Gründen entstanden ist. Die Bevölkerung hat nur noch begrenzt Zugang zu Nahrungsmitteln und es mangelt an Medikamenten. Laut der venezolanischen Gesundheitsbehörde haben 64 Prozent der Venezolaner zwischen 2016 und 2017 elf Kilo Gewicht verloren, was auf den Rückgang der Nahrungsaufnahme zurückzuführen ist. Auf der anderen Seite haben wir auch einen Mangel an Demokratie. Venezuela ähnelt heute der Diktatur des Peruaners Alberto Fujimori in den neunziger Jahren. Straflosigkeit ist strukturell bedingt. Es gibt kein Gegengewicht, keine Kontrolle über Beamte. Das hat zu einer gigantischen Korruption im Staatssektor geführt. Auch viele derjenigen, die Maduro in den vergangenen Jahren unterstützt haben, lehnen sich nun auf. Warum gibt es gerade in den ärmeren Vierteln von Caracas so viele Proteste?
Die Menschen sind unzufrieden mit den Folgen der Wirtschaftskrise, zu der auch die Krise der Grundversorgung wie Strom, Wasser, Gas und öffentlicher Verkehr gehört. Nach Angaben der venezolanischen Beobachtungsstelle für soziale Konflikte wurden im vergangenen Jahr landesweit 12 715 Proteste registriert, das sind 35 am Tag. 89 Prozent der Proteste waren sozialer Art, während elf Prozent für politische Forderungen waren. Die Geduld der Menschen stieß im Dezember 2018 an ihre Grenzen, als die Schweinekeule, ein typisches Gericht der venezolanischen Silvesterpartys, ausblieb. Das Fleisch ist normalerweise ein populistisches Geschenk der Regierung. Es soll Ende Dezember zu besonders niedrigen Preisen verkauft oder verteilt werden. Als das nicht geschah, fanden in verschiedenen Teilen des Landes Proteste statt. Es kam dabei auch zu Plünderungen, denn die ärmsten Bevölkerungsteile des Landes sind es, die am stärksten von der Krise betroffen sind. Im Jahr 2019 haben sie deshalb die Proteste gegen die Regierung angeführt. Immer wieder wird von einer Polizeieinheit berichtet, die besonders repressiv vorgeht. Welche Rolle spielen die 2017 gegründeten Fuerzas de Acciones Especiales (Spezialeinsatzkräfte, FAES)?
Die FAES sind eine Folge des Militarisierungsprozesses der sogenannten Bürgersicherheit, den Maduro seit Beginn seines Mandats gefördert hat. Im Jahr 2015 fand die sogenannte Operación de Liberación del Pueblo (Volksbefreiungsoperation, OLP) statt, was eine rigide Politik der Kriminalisierung der armen Bevölkerungsschichten und systematische Verletzung ihrer Menschenrechte bedeutete. Die FAES wurde gegründet, um gegen Terrorismus und Entführungen vorzugehen. Sie sind für tödliche Operationen ausgebildet. Das Hauptziel der FAES-Aktionen besteht darin, Strukturen der autonomen Organisation in den Armenvierteln zu zerstören und Terror zu verbreiten, damit die derzeitige allgemeine Unzufriedenheit gegen die Regierung nicht in Demonstrationen übergeht. Seit im Oktober 2018 der Stadtrat Fernando Alban ermordet wurde und fast ein Drittel der Beamten der Nationalgarde aufgrund der Wirtschaftskrise desertiert ist, befindet sich die politische Polizei des Landes, der Bolivarische Nachrichtendienst (SEBIN), in der Krise. Somit spielt nun die FAES eine führende Rolle bei der Unterdrückung der Bevölkerung. Sind auch paramilitärische Gruppen wie die »Colectivos« an diesen Angriffen beteiligt?
Es ist ein Handlungsmuster, das mit den Protesten von 2014 aufkam, bei den Demonstrationen von 2017 weiterentwickelt wurde und derzeit genutzt wird. Die Paramilitärs stellen das Hauptorgan der territorialen Kontrolle in den ärmeren Vierteln dar. Dies erklärt unter anderem die Tatsache, dass Proteste nachts stattfinden. Die Nacht bietet Schutz vor diesen Gruppen bewaffneter Zivilisten, die in Abstimmung mit den Polizeikräften handeln. Welche Art von Unterdrückung setzt die Regierung darüber hinaus ein?
Sehr wirksam ist die Hungerkontrolle. Die Regierung verkauft unter dem Namen »Comité Local de Abastecimiento y Producción« (Clap) eine Reihe von Lebensmitteln zu einem niedrigen Preis, die für viele Menschen die Lebensgrundlage sind, da die Löhne nicht ausreichen, um anderswo Lebensmittel zu kaufen. Maduro hat damit eine Verstaatlichung des täglichen Lebens der Bevölkerung bewirkt. Der Clap wird von Regierungstreuen organisiert. Diese Menschen entscheiden, wer von dem Programm profitiert und wer nicht. Das ist zu einer gigantischen staatlichen Politik der Diskriminierung geworden. Wäre es möglich, dass die Proteste wieder einschlafen?
In Venezuela ist derzeit alles möglich. Im Jahr 2017, als Tausende von Menschen im ganzen Land jeden Tag auf den Straßen protestierten, schien es, als stünden wir kurz vor dem Ende der Diktatur. 2018 war das Jahr der politischen Demobilisierung, obwohl die Sozialproteste bestehen blieben. Sollte der derzeitige Impuls für einen Übergang zur Demokratie in Venezuela abflauen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Gründe für die Krise fortbestehen und früher oder später ein neuer Zyklus von Protesten entstehen wird. Glücklicherweise sind Männer und Frauen von Natur aus unzufrieden und rebellisch. Die Regierung kann nur dann sicherstellen, dass der Protest dauerhaft einschläft, wenn jeder einzelne von uns, der sich heute der Diktatur widersetzt, ermordet, inhaftiert oder gewaltsam vertrieben wird. Das hat in Zeiten der Globalisierung hohe politische Kosten, die Maduro nicht tragen kann. | Julia Hoffmann | Julia Hoffmann: Rafael Uzcátegui, Koordinator der Menschenrechtsorganisation Provea in Caracas, im Gespräch über Paramilitärs, Hunger und Hoffnung | [
"Venezuela"
] | Thema | 13.02.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/07/es-ist-ein-konflikt-zwischen-diktatur-und-demokratie?page=0%2C%2C2 |
Einig Vaterland | Nachdem schon Krenz gesagt hat, das Urteil gegen ihn habe gezeigt, daß die Herrschenden unfähig seien, "Deutschland zu einen", haben nun auch die Verteidiger der im sogenannten Havemann-Prozeß angeklagten DDR-Richter den Geist der Nation als Entlastungszeugen für ihre Mandanten herbeizitiert. Indem das Gericht das seit 1995 laufende Verfahren nicht eingestellt habe, habe es versäumt, "ein Zeichen nationaler Versöhnung" zu setzen, sagte Anwalt Eckbert Klüsener. Eine günstigere Sozialprognose für Deutschland erkannte Anwalt Ulrich Uhlmann: Das Verfahren sei deswegen fair und rechtsstaatlich, weil es seiner Mandantin - ebenfalls einer ehemaligen Richterin - eine kritische Rückschau erleichtert habe. | : | [] | Inland | 11.09.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/37/einig-vaterland?page=0%2C%2C1 |
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Auf dem Sprungbrett | Der moderne Sozialstaat wird wie ein Sprungbrett funktionieren«, sagte Tony Blair bei seinem Amtsantritt. Statt die Unterklasse nur zu finanzieren, sollten mit dem beziehungsreich betitelten Programm »New Deal« den Armen Chancen zum sozialen Aufstieg eröffnet werden. »Wir werden dafür sorgen, dass es Arbeit gibt; nun seid ihr an der Reihe, euren Lebensunterhalt auch zu verdienen«, gab Finanzminister Gordon Brown damals den Arbeitslosen mit auf ihren weiteren Karriereweg. Doch die Rhetorik vom »New Deal« funktioniert nach sechs Jahren nicht mehr. Trotz des vollmundigen Versprechens, die Kinderarmut »innerhalb von zehn Jahren« abzuschaffen, liegt sie immer noch bei 30 Prozent (in Deutschland sind es 19). Schätzungen, die wegen der umstrittenen Definition von Armut allerdings mit Vorsicht zu genießen sind, besagen, dass 17 Prozent aller Engländer trotz Arbeit arm sind. Zwar hat sich die Lage der Armen in den letzten acht Jahren leicht verbessert, aber die soziale Ungleichheit (relative Armut) hat sich dramatisch verschärft. Die Subvention des Niedriglohnsektors senkt den Preis der Arbeitskraft, aber es sind letztlich die Steuerzahler, die die Niedrigstlöhne aufbessern. Das ist politisch brisant, denn die Briten sind vom Hass auf die Steuer geradezu besessen. Und nun, da sich die Anzeichen mehren, dass der lange Aufschwung der britischen Volkswirtschaft zu Ende geht, sind Bevölkerung und Regierung irritiert. Das Wirtschaftswachstum betrug 2002 nur 1,6 Prozent; das war der niedrigste Wert seit zehn Jahren. Die Exportrate ist stark gefallen, und zum ersten Mal seit langem steigt auch wieder die Arbeitslosigkeit. Vor der letzten Parlamentswahl, als die Briten sich noch einiges auf ihr Wirtschaftswunder einbildeten, versprach New Labour, in Krankenversorgung und Bildung zu investieren. Blair wurde wieder gewählt, weil er versprach, die maroden öffentlichen Dienste zu sanieren, aber das politische Risiko, Steuern massiv zu erhöhen, kann er nicht eingehen. Sein Vertrauensvorschuss ist lange aufgebraucht, und die Regierung bleibt nur an der Macht mangels einer politischen Alternative für die Wählerschaft. Das Sozialsystem Englands ist so kompliziert, dass selbst Experten Schwierigkeiten haben herauszufinden, wem welche Leistung zusteht. Wer beispielsweise ins Krankenhaus kommt, muss eine Unzahl von verschiedenen Leistungen einzeln beantragen. Hingegen besagt das Klischee, dass der britische Staat neoliberal und schlank ist. Das ist mehr als missverständlich: die staatlichen Sozialausgaben sind seit 1983 kontinuierlich gestiegen, ob nun Sozialdemokraten oder Konservative an der Macht waren. Der Sozialstaat wuchert, nur verwischen sich seine Grenzen. Britische Sozialwissenschaftler sind sich wegen Outsourcing und Scheinselbständigkeit schon lange nicht mehr sicher, wie viele Menschen eigentlich für den Staat arbeiten. Die öffentlichen Dienste werden nicht einfach privatisiert, sondern es entstehen Grauzonen, wo Staat und privates Kapital verflochten sind, so genannte Public Private Partnerships. Das jüngste und heftig umstrittene Beispiel ist der Plan der Regierung, privaten Investoren zu ermöglichen, ihr Geld in »profitablen« Krankenhäusern anzulegen. Es ist üblich, dass Arbeitsuchende im Dienstleistungssektor bei einem Vorstellungsgespräch einen Vertrag unterschreiben, dass sie auf bestimmte gesetzliche Rechte, die Begrenzung der Wochenarbeitszeit beispielsweise, »freiwillig verzichten«. In Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit wurden so genannte Employment Zones eingerichtet, wo private Vermittler tätig sind und bestimmte gesetzliche Arbeitsbestimmungen außer Kraft gesetzt werden. Ihr Ziel ist es, vor allem Langzeitarbeitslose zu vermitteln. In diesen Sonderzonen werden Maßnahmen erprobt, die später in anderen Gegenden eingesetzt werden. Ohne langfristiges wirtschaftliches Konzept kommt die autoritäre Seite der Sozialdemokratie voll zum Tragen. 1997 lautete ein Wahlslogan der Labour Party: »Arbeit für alle, die arbeiten können – Hilfe für die, die es nicht können«. Öffentlich kaum beachtet, wird seitdem versucht, Behinderte und chronisch Kranke irgendwie zu beschäftigen. Im Winter häuften sich Gesetzesinitiativen und öffentliche Verlautbarungen zur Bekämpfung von Gesetzlosigkeit und Rowdytum, und die Initiativen und Presseerklärungen sind dabei eng verflochten. Elf neue Gesetze gegen Kriminalität wurden seit Blairs Wahlsieg verabschiedet, die sich aber in der Praxis einfach nicht als praktikabel erweisen. So erging es auch einer Initiative vom Januar dieses Jahres. Die ursprüngliche Idee, verurteilte Bettler mit einer Strafe bis tausend Pfund zu belegen, war einigermaßen komisch. Ein Polizeisprecher sagte damals: »Die Strafe ist sehr schwer einzutreiben, weil Bettler sozusagen per Definition nicht so viel Geld haben.« Statt dessen sollten Obdachlose zur Zwangsarbeit verpflichtet werden, aber die sozialen Einrichtungen, in denen sie sich ihre Unterstützung künftig erarbeiten sollten, wollten mit dem Projekt nichts zu tun haben oder fanden schnell heraus, dass es sich unter den gegebenen Umständen nicht lohnt, derart motivierte Arbeiter zu beschäftigen. Daher waren noch nie so viele Menschen in Großbritannien in Gefängnissen eingesperrt wie heute. Brandneu und ganz im Trend ist die Idee, »ungefährliche Straftäter« bei ihren Arbeitsstunden von privaten Security-Firmen oder Wohlfahrtsorganisationen betreuen zu lassen. Sozialisten halten New Labour für das Böse selbst, und Blair und sein Kreis gelten als Arbeiterverräter, die sich tückisch in Amt und Würden gedrängelt haben. Ist die angeblich neue Partei wirklich korrupt und nett zum Kapital, während die alte sozialistisch war? Eine vorurteilsfreie Bestandsaufnahme relativiert das Bild. Tatsächlich war Labours Sozialismus auch früher eine rhetorische und symbolische Angelegenheit. Der Einfluss der Gewerkschaften blieb immer begrenzt. Die Kernwerte der Sozialdemokratie waren Chancengleichheit und das Recht auf und die Pflicht zur Arbeit, und auch daran hat sich nichts geändert. Was sich geändert hat, ist die Professionalität der Propaganda. Ziele wie die Abschaffung der Kinderarmut werden öffentlich mit Getöse verkündet, um ein halbes Jahr später vergessen zu werden. Aus alt wird neu, aus dem Arbeitsamt ein Karrierezentrum, ohne dass sich an der täglichen Praxis viel ändert. Dafür sind in den Informationsbroschüren nun gute Ratschläge zu haben: »Entlassen zu werden, kann oft Bitterkeit und Wut erzeugen! Es ist wichtig, dass Sie diese negativen Gefühle schnell überwinden, um nun für Ihre neue Arbeitssuche gerüstet zu sein.« Umbenennen und den Druck erhöhen, das sind die britischen Rezepte, die deutsche Sozialpolitiker hier lernen können. | matthias becker | matthias becker: | [] | Ausland | 06.08.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/32/auf-dem-sprungbrett?page=0%2C%2C3 |
Schwäbischer Sonderweg | Die Menge ist wütend, einige werfen Eier und Tomaten auf das Parlamentsgebäude. »Wollt ihr, dass die Chefs der Zentralbank zurücktreten? Wollt ihr, dass die Regierung zurücktritt? Wollt ihr Neuwahlen? Wollt ihr, dass diese Clique verschwindet?« schreit ein Redner auf dem Platz. Rund 6 000 Isländer demonstrierten kürzlich in der Hauptstadt Reykjavik – was ungefähr zwei Prozent der Einwohnerschaft der Insel entspricht. Noch nie gab es dort solche massenhaften Proteste, noch nie fühlten sich Isländer in den vergangenen Jahrzehnten so bedroht. Vergangene Woche besetzten aufgebrachte Demonstranten für kurze Zeit sogar die Notenbank.
Die Finanzkrise hat nicht nur auf einen Schlag den jahrelangen Wirtschaftsboom auf der Insel beendet. Seitdem steigen auch die Arbeitslosenzahlen rasant, nehmen die Firmenpleiten zu, überlegen viele Einwohner auszuwandern. Die Entwicklung auf Island zeigt, was demnächst vielleicht auch in London, Paris oder Berlin geschehen könnte. Noch sind nur die Prognosen düster, während die Konjunktur- und Arbeitslosenzahlen in der Europäischen Union verhältnismäßig stabil erscheinen. Insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel beschwichtigt: Das kommende Jahr werde zwar viele schlechte Nachrichten mit sich bringen, doch die deutsche Wirtschaft sei nach wie vor »gut aufgestellt«.
Entsprechend zurückhaltend wirken ihre Reaktionen auf die sich abzeichnende gewaltige Rezession: Ein so genannter Rettungsschild für die angeschlagenen Banken sowie ein bescheidenes »Konjunkturpaket«.
Mit ihren optimistischen Prognosen steht Merkel allerdings in Europa alleine da. Während sie weitergehende Maßnahmen bislang strikt ablehnt, glauben die anderen EU-Staaten nicht daran, dass ein paar Milliarden zusätzlicher staatlichen Ausgaben ausreichen, um den wirtschaftlichen »Tsunami«, der auf Europa zurolle, aufzuhalten.
Tatsächlich wirken die deutschen Pläne im Vergleich etwa zu dem 800-Milliarden-Programm der US-Regierung fast lächerlich. Und in der Europäischen Union sind sich die Regierungen alles andere als einig, wie sie auf die Krise reagieren sollen.
Der französische Präsident Nicolas Sarkozy kündigt mit markigen Worten staatliche Eingriffe an und gründet einen strategischen Staatsfonds, der dauerhaft kränkelnden Unternehmen finanziell helfen und unerwünschte Käufer abwehren soll. Der britische Premierminister Gordon Brown handelte indes, ohne sich vorab mit dem restlichen Europa überhaupt abzustimmen: Er senkte die Mehrwertsteuer auf der Insel, um den Konsum anzuregen. Die EU-Kommission wiederum will ein Konjunkturprogramm in Höhe von 200 Milliarden Euro auflegen, um die Folgen der Wirtschaftskrise abzumildern. Unter anderem sollen damit Umwelttechnologien durch eine europäische Initiative für »grüne Autos« gefördert und Sozialabgaben im Niedriglohnsektor reduziert werden. »Wir erleben eine außergewöhnliche Krise und müssen darauf eine außergewöhnliche Antwort geben«, sagte der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso. Das Konjunkturprogramm sei der beste Weg, um die Bürger vor einer schweren Rezession zu schützen.
Von seiner ursprünglichen Empfehlung, die Mehrwertsteuer zu senken, ist Barroso allerdings schon wieder abgerückt – ohne Unterstützung aus Deutschland hätte dieses Vorhaben sowieso keine Aussicht auf Erfolg gehabt.
Aber selbst das reduzierte EU-Konjunkturprogramm stößt in Berlin auf wenig Gegenliebe. Hierzulande hält man bislang nichts davon, in einen »Wettlauf um Milliarden-Subventionen« zu treten. Stattdessen beschwor Merkel auf dem Parteitag der CDU vergangene Woche in Stuttgart lieber die Lebensweisheit einer »schwäbischen Hausfrau«, wonach man nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben könne. Steuerentlastungen und weitere Konjunkturprogramme lehnte sie dort entschieden ab.
Seitdem rätselt Europa, warum die deutsche Kanzlerin so vehement die Meinung, mit der sie weitgehend alleine dasteht, verteidigt. Der Deutschland-Korrespondent der Financial Times mutmaßte in einem Interview mit der BBC, dass Sparen zur hiesigen Kultur gehöre: Es liege in der deutschen Mentalität, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten jeden Cent zu horten. Es gibt jedoch auch sehr materielle Gründe, wieso die größte Volkswirtschaft Europas ausgerechnet jetzt versucht, einen Sonderweg einzuschlagen. Im Vergleich zu anderen wichtigen Industrienationen verfügt Deutschland über strukturelle Vorteile. Der Finanzsektor hat eine geringere Bedeutung als etwa in den USA und Großbritannien. Zudem konnte in den vergangenen Jahren die industrielle Produktivität deutlich gesteigert werden – angesichts der maroden Finanzinstitute wirkt die deutsche Industrie geradezu vital. Außerdem ist der deutsche Staatshaushalt verhältnismäßig ausgeglichen, während EU-Staaten wie Frankreich, Italien oder Spanien mit großen Defiziten kämpfen und schwächere Ausfuhren vorzuweisen haben.
Beides will Merkel nicht aufs Spiel setzen. Weder soll konkurrierenden Unternehmen durch umfangreiche Subventionen geholfen werden, noch will sie mit Steuersenkungen und enormen Staatsausgaben die mühsam durchgesetzten Maastrichter Kriterien umgehen.
Der Preis für diesen Wettbewerbsvorteil war allerdings sehr hoch. Ohne einen drastischen Verzicht bei den Einkommen hätte es Deutschland nie geschafft, trotz zahlreicher neuer Konkurrenten weiterhin Exportweltmeister zu bleiben. Und ohne die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre es nicht gelungen, den Haushalt zu sanieren. Beides trug dazu bei, dass trotz des Aufschwungs die Reallöhne nicht stiegen, sondern auf dem Niveau der neunziger Jahre stagnierten. Bei der Lohnentwicklung belegt Deutschland mittlerweile den letzten Platz in Europa, und nach einer aktuellen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nimmt das Lohngefälle in keiner anderen Industrienation so zu wie in der Bundesrepublik.
So ist es nur konsequent, wenn die Regierung in Berlin angesichts der Krise wieder einmal daran denkt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken. Damit würden die deutschen Unternehmen angeblich wettbewerbsfähiger – was selbst für die Financial Times Deutschland mittlerweile »etwas Kriminelles« hat. »Es geht darum, eine globale Depression zu verhindern – und nicht darum, andere fertigzumachen«, kommentierte die Zeitung.
Bislang schätzte die Bundesregierung die Folgen der Wirtschaftkrise anders ein als die meisten europäischen Regierungen. Immerhin prognostizieren einige renommierte Wirtschaftsforscher, dass die Wirtschaft Ende 2009 wieder wachsen werde. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich sogar auf Mitte des kommenden Jahres festgelegt. Sollte dies der Fall sein, dann würde die deutsche Exportwirtschaft zu den ersten Profiteuren zählen – auf Kosten anderer europäischer Staaten. Mit der auch von der Bundesregierung oft und gern vielbeschworenen europäischen Harmonie hat diese Strategie nicht viel gemein. Sie zeigt vielmehr, dass in Krisenzeiten nationale Interessen nach wie vor überwiegen – und die Europäische Union zwar über eine integrierte Eurozone, aber nicht über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verfügt.
Mittlerweile wachsen jedoch auch in der Bundesregierung die Zweifel an den eigenen Einschätzungen. Falls die Krise länger und tiefgehender ausfällt als bisher angenommen, wäre das deutsche Modell einer exportorientierten Wirtschaft, die auf Kosten des Binnenkonsums funktioniert, gescheitert. Mittlerweile spricht vieles für diese Perspektive, weshalb nun auch in der Regierungskoalition hektische Vorschläge für weitere »Konjunkturpakete« die Runde machen.
Sollte die Krise tatsächlich die Ausmaße annehmen, die derzeit viele prophezeien, wird sie allerdings kaum mit Konsumgutscheinen oder einer Steuersenkung aufzuhalten sein. Vielleicht erlebt Kanzlerin Merkel dann ausgerechnet im Wahljahr isländische Verhältnisse in Berlin. | Anton Landgraf | Anton Landgraf: Im Gegensatz zu den europäischen Nachbarn will Deutschland in der Krise sparen | [] | Lifestyle | 11.12.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/50/schwaebischer-sonderweg |
Pleiten mit System | US-GAAP steht für United States Generally Accepted Accounting Principles - allgemein anerkannte Grundlagen der Buchhaltung. Eine dieser Grundlagen ist die Unterscheidung zwischen Ausgaben und Investitionen. Der Unterschied ist, dass ein Unternehmen mit einer Investition Zahlungsmittel gegen Vermögenswerte tauscht und sich davon eine Rendite erwartet. Der Wert einer Investition bleibt im Unternehmen, in der Bilanz tauchen die Kosten über mehrere Jahre verteilt auf. Ausgaben dagegen sind einfach nur Ausgaben: in der Bilanz eine schlichte Zahl mit einem Minuszeichen davor. Bei dem Telekom-Riesen WorldCom mit Sitz in Clinton, Mississippi, hat man es mit diesen Feinheiten nicht so genau genommen und Ausgaben von über vier Milliarden Dollar als Investitionen angegeben. In der vergangenen Woche musste der Konzern eine Korrektur der Bilanz für das Jahr 2001 und das erste Quartal 2002 vorlegen. In der korrigierten Abrechnung liegen die Einnahmen vor Steuern um 6,8 Milliarden Dollar niedriger als zuvor angenommen. Man schreibt rote Zahlen, die Entlassung von 17 000 Angestellten ist angekündigt, Verhandlungen mit Kreditgebern laufen. Pikant ist, dass die bereits aus dem Enron-Skandal bekannten Wirtschaftsprüfer von Arthur Andersen die betrügerischen Bilanzen abgesegnet haben. Die Börsenaufsicht SEC hat vor einem Bundesgericht gegen WorldCom Anklage erhoben. In der Klageschrift wird von einem »Komplott, geleitet und gebilligt von der Unternehmensführung« gesprochen mit dem Ziel, eine Bilanz entsprechend den Prognosen der Analysten vorzulegen. Dementsprechend hat der Kongress neben Mitarbeitern von WorldCom und Arthur Andersen den Telekom-Analysten Jack Grubman von der Investmentbank Salomon Smith Barney zur Anhörung vorgeladen. Er hatte WorldCom jahrelang in den Himmel gelobt und am Tag vor der Bekanntgabe der Bilanzkorrektur die Aktie heruntergestuft. Die Skandale um Enron und WorldCom verweisen auf doppelte Interessen bei Analysten und Managern. Als formal unabhängige Berater dürfen Analysten die Aktien, die sie bewerten, nicht selbst besitzen. Die meisten arbeiten jedoch für Investmentbanken. Die Versuchung ist offensichtlich: Die Bank erwirbt im großen Stil bestimmte Aktien, lässt ihre Analysten durch überzogene Prognosen den Preis in die Höhe treiben, um kurz vor dem unvermeidlichen Fall die Papiere wieder abzustoßen. Dieses Schema funktioniert in der einen oder anderen Form seit Jahrhunderten. Bei Managern liegt das Problem darin, dass der Großteil ihrer Gehälter in Aktienoptionen ausgezahlt wird. Dem Manager wird vertraglich die Option zugesichert, Aktien des Unternehmens zu einem festgesetzten Preis zu erwerben. Liegt der Kurswert höher, macht er einen Gewinn - eine Einladung zur Bilanzfälschung. Den Schaden haben in beiden Fällen diejenigen, die als langfristige Anlage oder in der Hoffnung auf schnelles Geld Aktien erworben haben. Besonders problematisch wird es, wenn die Aktien mit geliehenem Geld gekauft wurden, wie dies fast jede Bank mit dem Geld ihrer Kunden macht. Auch der Gläubiger hat dann keine Chance, sein Geld jemals wiederzusehen. Börsenskandale können sich so zu Wirtschaftskrisen entwickeln. US-Präsident George W. Bush hat in einer Erklärung auf dem G8-Gipfel in Kanada seiner Empörung über die Praktiken bei WorldCom Ausdruck verliehen. Über die Geheimgespräche seiner Regierung mit Enron Anfang 2001 hält er sich allerdings noch immer bedeckt. | tim blömeke | tim blömeke: Von Enron und Worldcom | [] | Ausland | 03.07.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/27/pleiten-mit-system?page=0%2C%2C0 |
Grenzen im Umbruch | »Aus Verzweiflung tranken einige von uns sogar Meerwasser«, berichtet Abbas Saton, »sie sind einer nach dem anderen vor meinen Augen gestorben.« In der Nacht auf den 27. Juni war er mit 55 anderen Menschen, Flüchtlingen aus Eritrea, Somalia und dem Sudan, in der libyschen Hauptstadt Tripolis in ein Schlauchboot gestiegen, um nach Italien zu gelangen. Nach wenigen Tagen hatten sie schon fast die italienische Küste erreicht, wurden aber vom Wind wieder auf das offene Meer getrieben. Dort fuhr das Boot fast zwei Wochen umher, viele der Insassen verdursteten. Irgendwann war der Sprit aufgebraucht, und eines Abends begann das Boot Luft zu verlieren, es kenterte, alle ertranken. Bis auf Saton, der es schaffte, sich an Teile des Bootes und an einen Benzinkanister zu klammern. Eine ganze Zeit lang muss er einsam auf dem offenen Meer umhergetrieben sein, bis er von Fischern entdeckt und von der tunesischen Küstenwache gerettet wurde. Abbas Saton war vor der Militärdiktatur in Eritrea nach Libyen geflüchtet, nach dem Krieg gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi hatte sich sich aber seine finanzielle Situation so verschlechtert, dass er nach Europa wollte. An Bord des Bootes waren sein älterer Bruder und zwei Schwestern, auch ihren Tod musste er mitansehen. Mindestens 12 000 Flüchtlinge sind nach Schätzungen von Hilfsorganisationen seit den neunziger Jahren bei dem Versuch ums Leben gekommen, über das Mittelmeer oder den Atlantik in einen Staat der EU zu gelangen. Jede Woche wagen zahlreiche Menschen die lebensgefährliche Überfahrt, weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Während die Toten im Mittelmeer in den europäischen Medien wahlweise als tragische Opfer der Naturgewalten oder als Ausdruck eines bedrohlichen Ansturms auf die europäischen Grenzen dargestellt werden, sind sie in Wahrheit die Opfer bewusster migrationspolitischer Entscheidungen auf europäischer Ebene.
Ein wichtiges Element der europäischen Migrationskontrolle ist die restriktive Visapolitik. Legale Einreisemöglichkeiten nach Europa existieren für Flüchtlinge nicht, politische Verfolgung und erst recht wirtschaftliche Gründe genügen nicht, um bei einer Botschaft eines europäischen Staates im Herkunftsland ein Visum zu bekommen.
Die politischen Umbrüche in den arabischen Ländern im vergangenen Jahr haben die Aufnahmebereitschaft der europäischen Staaten nicht vergrößert, aber die Zahl der schutzsuchenden Menschen hat sich erheblich erhöht. Nach Beginn des Bürgerkrieges in Libyen waren Hunderttausende nach Tunesien geflüchtet, unter ihnen auch zahlreiche Menschen, die, wie Abbas Saton, aus subsaharischen Staaten geflüchtet waren oder als Arbeitsmigranten in Libyen gelebt hatten. Mehr als 3 300 leben seit vorigem Jahr in einem Flüchtlingslager des UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in Choucha in der Nähe der libyschen Grenze und warten auf eine Aufnahme durch einen europäischen Staat, doch das sogenannte Resettlement-Programm, das vom UNHCR organisiert wird, läuft nur sehr schleppend. Zwar sind knapp 2 800 Personen, die in Choucha leben, im vergangenen und in diesem Jahr vom UNHCR als Flüchtlinge anerkannt worden. Viele Staaten zögern jedoch, Deutschland möchte gerade einmal 200 Flüchtlinge aufnehmen. So sind viele wieder nach Libyen aufgebrochen, um per Boot nach Europa zu gelangen. Die Zahl der Toten im Mittelmeer ist seit den Umbrüchen in Nordafrika so hoch wie nie zuvor, 2011 sind mindestens 1 500 Menschen hier ums Leben gekommen. Viele Todesfälle wären auch deshalb vermeidbar gewesen, weil das Mittelmeer während des Krieges in Libyen sehr gut überwacht war. Eine exemplarische Untersuchung des Europarates, die im April veröffentlicht wurde, kommt zum Ergebnis, dass die Nato mitverantwortlich für den Tod von 63 Flüchtlingen ist, die im Frühjahr des vergangenen Jahres auf dem Weg von Libyen nach Italien verdursteten. Die Nato habe es trotz Kenntnis der Seenotlage unterlassen, das Boot zu retten, so der Bericht. Staatliche und private Schiffe sind verpflichtet, Menschen aus Seenot zu retten, allerdings wird diese Pflicht nicht gerne erfüllt, wenn es um Flüchtlinge geht: Die Staaten wollen nicht für die Asylanträge der Flüchtlinge zuständig sein, privaten Kapitänen droht im schlimmsten Fall eine Strafverfolgung wegen Schlepperei.
Die europäische Migrationskontrolle konnte sich jahrelang auf die Unterstützung der autoritären Regimes in Nordafrika verlassen. Die dortigen Umbrüche haben nur kurzzeitig zu einer Veränderung geführt. Nach dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali konnten Tausende Menschen das Land Richtung Europa verlassen, auch Gaddafi gab nach dem Beginn der Nato-Angriffe die Küste für Flüchtlingsboote frei, etwa 30 000 Bootsflüchtlinge landeten bis April 2011 auf der italienischen Insel Lampedusa. Die EU-Staaten setzten die neuen Regierungen jedoch schnell unter Druck: Legale Einreisemöglichkeiten für deren Staatsangehörige könne es nur dann geben, wenn sich die Staaten zu einer Eindämmung der »illegalen Migration« und zu einer »wirksamen Rückkehrpolitik« bereit erklärten.
Im April haben Italien und Libyen ein neues Abkommen geschlossen, dabei geht es wiederum um die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der »illegalen Migration«. Libyen hat weiterhin weder die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet noch ein ansatzweise funktionierendes Asylsystem aufgebaut. Zwar hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil im Februar die Rückschiebung von Flüchtlingen auf hoher See durch italienische Schiffe nach Libyen für menschenrechtswidrig erklärt und damit klargestellt, dass das Mittelmeer kein rechtsfreier Raum ist. Erstens ist jedoch fraglich, ob die beiden Staaten nicht dennoch weiterhin derartige Operationen vollziehen. Zweitens kann das Urteil dazu führen, dass die europäischen Staaten noch mehr auf dem Territorium und in den Hoheitsgewässern der nordafrikanischen Staaten tätig werden oder die exekutiven Aufgaben den nordafrikanischen Staaten überlassen, um sich die Hände nicht schmutzig zu machen. Die geographische und institutionelle Auslagerung ist ohnehin ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Grenzregimes. Libysche Behörden berichteten zuletzt im Mai, 430 Flüchtlinge von einer Überfahrt abgehalten zu haben. Mit Tunesien hatte Italien bereits im April 2011 ein neues Rückübernahmeabkommen geschlossen, zudem erhält der tunesische Staat Unterstützung der EU bei der Sicherung seiner Küsten, und auch er weiß dies zu nutzen: Wie das tunesische Innenministerium berichtet, konnten im Juni 13 Ausreiseversuche Richtung Europa verhindert werden. Zugleich ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex nach wie vor mit der Operation »Hermes« vor der tunesischen Küste aktiv, um die Überfahrt von Migranten zu unterbinden. Gemeinsam mit dem spanischen Grenzschutz organisiert Frontex daneben eine bereits seit Jahren laufende Operation mit dem Namen »Hera« in den Hoheitsgewässern von Mauretanien und Senegal, um mit Schiffen und Helikoptern die Ausreise auf die Kanarischen Inseln zu unterbinden. Seit einer Änderung der Rechtslage im vergangenen Jahr wird Frontex zudem noch stärker in die Auslagerung des Grenzschutzes eingebunden und entsendet sogenannte Verbindungsbeamte in Staaten außerhalb der EU, um die dortigen Grenzschutzbeamten auszubilden und die frühzeitige Migrationsabwehr zu forcieren.
Wegen der effektiven Kontrolle vor Spanien und Italien sowie aufgrund der erhöhten Flüchtlingszahlen wegen des Bürgerkriegs in Syrien ist die Türkei zum wichtigsten Transitland in die EU geworden. Gut 80 Prozent der »illegalen Einwanderer« nach Europa kommen über diese Grenze, viele Menschen versuchen, über den Grenzfluss Evros nach Griechenland zu gelangen. Frontex unterstützt den griechischen Grenzschutz im Rahmen der Operation »Poseidon« mit Beamten aus den europäischen Mitgliedstaaten, um illegale Grenzübertritte zu unterbinden. Frontex berichtet, allein 2011 seien 55 000 Personen an diesem Grenzabschnitt festgenommen worden. Um die türkischen Behörden stärker in den Grenzschutz einzubinden, hat Frontex im Mai ein »Memorandum of Understanding«, eine Absichtserklärung, mit der Türkei geschlossen. Im Gegenzug fordert die Türkei von der EU Erleichterungen bei der Visapolitik gegenüber türkischen Bürgern. Für Flüchtlinge besteht in der Türkei kaum Aussicht auf langfristigen Schutz. Zwar organisiert das UNHCR auch in der Türkei ein Resettlement-Programm, die Aufnahmebereitschaft der europäischen Staaten ist indes ebenso zurückhaltend. Deutschland hat zugesagt, 100 Personen aufzunehmen. Unterdessen sind nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde fast 40 000 Menschen im Zuge des Bürgerkriegs aus Syrien in die Türkei geflüchtet.
Wer es schafft, die europäischen Außengrenzen zu überwinden, darf ebenfalls keinen effektiven Schutz erwarten. Personen, die an der türkisch-griechischen Grenze aufgegriffen werden und vorerst einreisen dürfen, werden in einer der nahegelegenen Haftanstalten eingesperrt, welche völlig überfüllt und in desolatem Zustand sind. Einen Asylantrag zu stellen, wird den meisten Menschen verwehrt. Auch in Malta werden ankommende Bootsflüchtlinge inhaftiert, Gleiches gilt für ausnahmslos alle Asylsuchenden in Ungarn. In Italien erhalten gar Personen, die als Flüchtlinge anerkannt werden, keine soziale Unterstützung und sind vielfach zur Obdachlosigkeit verdammt. Die anderen europäischen Staaten, so auch Deutschland, stören sich kaum an diesen Zuständen. Zwar schiebt Deutschland auf der Grundlage eines Gnadenerlasses aus dem vergangenen Jahr derzeit keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland ab. An sich ist nach dem Zuständigkeitssystem der Dublin-II-Verordnung der EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig, den der Flüchtling zuerst betreten hat. Das Dublin-System, von dem nicht zuletzt Deutschland mangels einer europäischen Außengrenze profitiert, wird jedoch grundsätzlich nicht in Frage gestellt – Flüchtlinge, die vorher in Italien, Ungarn oder Malta waren, müssen weiterhin eine Abschiebung aus Deutschland befürchten. Unterdessen fordern Deutschland und andere Staaten im Zentrum Europas die Wiedereinführung der Kontrollen an den Binnengrenzen, sollten die Grenzstaaten keine effektive Flüchtlingsabwehr betreiben. | matthias lehnert | matthias lehnert: Die europäische Flüchtlingspolitik | [] | Thema | 19.07.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/29/grenzen-im-umbruch?page=0%2C%2C2 |
Clans statt Warlords | In Afrika gibt es nicht nur vergessene Kriege, sondern auch vergessene Friedensprozesse. So gut wie ohne internationale Beachtung scheint sich in Somalia eine Friedenslösung anzubahnen. Denn somalische »Clan-Älteste«, religiöse Führer, Intellektuelle, Friedensaktivisten, gesellschaftliche Gruppen, Frauen und Geschäftsleute sind in Djibouti zur »Somalischen Nationalen Friedenskonferenz« zusammengekommen. Seit dem 2. Mai diskutieren 920 stimmberechtigte Delegierte - darunter mehr als 100 Frauen - in Arta, etwa 30 Kilometer südlich von Djibouti City, die Zukunft ihres Landes. Weitere 1 500 Beobachter und Lobbyisten machen die »Somalische Nationale Friedenskonferenz« zum umfassendsten Forum für Friedensgespräche seit Beginn des Bürgerkrieges. Nach einem langjährigen Guerillakrieg war der Diktator Siad Barre 1991 nach Saudi-Arabien geflüchtet. Seitdem bekämpften sich verfeindete Milizen und verwandelten das Land am Horn von Afrika in ein Schlachthaus - mit einer kurzen Unterbrechung durch einen verpfuschten Interventionsversuch der US-Administration unter George Bush im Jahr 1992. Obwohl die Kriegshandlungen inzwischen abgeflaut sind, werden immer noch jeden Monat etwa 100 Menschen - Milizionäre wie Zivilisten - getötet. Etwa eine Million Menschen sind von akuter Nahrungsmittelknappheit bedroht. Die Friedenskonferenz wird von allen großen internationalen Organisationen und Regionalmächten unterstützt. Die UN, die Organisation für Afrikanische Einheit, die EU und die wichtigste regionale Organisation, die Intergovernmental Authority on Development (IGAD) - die aus Djibouti, Eritrea, Äthiopien, Kenia, Somalia, Sudan und Uganda besteht -, sowie die Regierungen von Libyen, Jemen und Ägypten haben den Friedensprozess begrüßt. Wegen des weitgehenden Zusammenbruchs staatlicher Strukturen in Somalia gab es in den letzten Jahren ein starkes Wachstum an gesellschaftlich aktiven Gruppen. Im Gegensatz zu den bisherigen zwölf Friedenskonferenzen sollen diese Gruppen nun in den Vordergrund gerückt werden. Bislang war das vorrangige Ziel gewesen, ein Abkommen zwischen den Warlords zu erreichen. Deren Milizen waren ursprünglich die bewaffneten Arme von Familienclans, verselbstständigten sich jedoch nach der Flucht Barres. Gut klingende Absichtserklärungen wurden unterzeichnet, jedoch vergessen, sobald die Warlords wieder zu Hause waren. Doch mittlerweile steht die Kriegsökonomie vor dem Zusammenbruch, und die Warlords sind unfähig, Geld für sich und ihre Milizen aufzutreiben. Meuternde Truppen, die ihren Sold seit Monaten nicht erhalten haben, plünderten im vergangenen Monat die »Villa Somalia«, Residenz des Kommandeurs Hussein Aidid. Dasselbe widerfuhr 1999 Ali Mahdi Mohammed, dem Hauptrivalen Aidids um die Kontrolle der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Grundlegende Struktur der Gesellschaft blieben jedoch Familienclans. Die Größe der Konferenzdelegationen orientierte sich deshalb vorrangig an der jeweiligen Clangröße. Nach dem ersten Monat der Konferenz, der der Aussöhnung gewidmet war, verabschiedete in einer zweiten Phase eine große Mehrheit der Delegierten eine neue »Nationale Charta«. In dieser wird die Wahl einer Übergangsversammlung - wiederum auf der Basis der Clangrößen - festgelegt. Die Versammlung soll einen Regierungschef wählen und dessen Übergangsregierung bestätigen; auf der Grundlage eines föderalen Verwaltungsrechts sollen dann innerhalb von drei Jahren allgemeine Wahlen vorbereitet werden. Zudem soll ein vorläufiges, an der somalischen Verfassung von 1960 orientiertes Justizsystem etabliert werden, als Ersatz der im Verlauf des Bürgerkrieges entstandenen islamischen »Scharia»-Gerichte. Kritische Stimmen äußerten sich besorgt über die auf den Clanstrukturen basierenden Regelungen, da ihrer Meinung nach die Wurzeln des Krieges in den divergierenden Claninteressen liegen. Grundsätzlich bekannten sich die Delegierten zur »sakrosankten« Unteilbarkeit Somalias und erklärten ihr Ziel einer eng verknüpften somalischen Föderation. Derzeit ist Somalia in drei Gebiete aufgeteilt: Die international nicht anerkannte »Republik Somaliland« im Nordosten, die 1991 die Unabhängigkeit erklärte, die seit 1998 bestehende autonome Region »Puntland« im Nordwesten, und der immer noch schwer umkämpfte Süden. Dieser Süden - inklusive der Hauptstadt Mogadischu - ist das am meisten zersplitterte Gebiet, und hier sind die Warlords relativ stark. Hussein Aidid, Erbe der Miliz seines berüchtigten Vaters General Mohamed Farah Aidid, hat nach langem Hin und Her seine Teilnahme an der Friedenskonferenz abgesagt. Seine Hauptrivalen Ali Mahdi Mohammed und »Shatgadud« (Rotes Hemd) Dr. Hassan Mohammed Noor, Anführer der Rahanwein Resistance Army (RRA), sind hingegen in Arta. Ein möglicher Grund für Aidids Haltung: In der neuen Charta wird Baidoa als zeitweilige Hauptstadt genannt - zumindest, bis in Mogadischu »Recht und Ordnung wiederhergestellt sind«. Baidoa war zwischen Aidid und der RRA lange umkämpft, inzwischen kontrolliert Noors Miliz die Stadt. Es wird befürchtet, das die Übergangsregierung in Baidoa unter starkem äthiopischem Einfluss stehen wird. Denn die RRA erhält aktive Militärhilfe der äthiopischen Armee, welche die in der Nähe Baidoas liegende somalische Stadt Luuq seit fast zwei Jahren besetzt hält. Der stärkste Widerstand gegen die Friedenskonferenz kommt jedoch aus den Regionen im Norden des Landes. Obwohl er als potenzieller Kandidat für den Vorsitz der somalischen Übergangsregierung genannt wurde, stieß der abwesende Präsident der Republik Somaliland, Mohamed Ibrahim Egal, Drohungen gegen seinen an der Konferenz teilnehmenden Vorgänger und Rivalen um die Macht in Somaliland, Abdulrahman Tur, aus. Eine Mehrheit der Bewohner Somalilands scheint die Friedensanstrengungen unter den Vorzeichen einer erzwungenen Wiedervereinigung abzulehnen. Colonel Abdullahi Yussuf, Chef des von Äthiopien gesponserten Puntland, ist der aggressivste Gegner der Konferenz. Yussuf wurde im Puntland mit Demonstrationen gegen seinen Boykott der Gespräche konfrontiert. Unter den Delegierten ist hingegen sein früherer Innenminister und Rivale um die Führung der autonomen Region, Hassan Abshire Farah. Er ist aus der Regierung Puntlands ausgetreten, um an den Friedensberatungen teilnehmen zu können. Die Kooperation zwischen den bisherigen Feinden Yussuf und Egal war niemals so eng wie nun in ihrer Opposition zum Djibouti-Plan. Dank des Geldes, das die somalische Diaspora nach Hause geschickt hat, gelang in ihren Regionen ein Neuanfang in der ökonomischen Entwicklung. Sollte sich der Friedensplan als ein Fehlschlag erweisen, könnte sich auch hier die Lage wieder destabilisieren. Die Hoffnung auf Frieden und Stabilität ist groß. Aber das Hauptproblem der geplanten Übergangsregierung wird es sein, sich effektiv gegenüber den Warlords im Süden zu etablieren. Dafür ist ein Entwaffnungsabkommen essenziell, da es in Somalia an kleinkalibrigen Waffen nur so wimmelt. | martin stolk | martin stolk: Die Somalia-Friedenskonferenz | [] | Ausland | 26.07.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/30/clans-statt-warlords?page=0%2C%2C2 |
Deutsches Haus #42/2024 | Am 6. Oktober rief ein alkoholisierter 45jähriger der Polizei zufolge antisemitische Parolen, als er an einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Hamas am Marktplatz in Marburg vorbeikam. Am 7. Oktober, dem Jahrestag des Hamas-Massakers in Israel, sei aufgefallen, dass in Zeitz (Sachsen-Anhalt) zehn Stolpersteine fehlen, berichtete ein Stadtsprecher. Unbekannte hätten die Steine, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern, herausgerissen. Am selben Tag berichtete die BZ von einer rassistischen Attacke auf einen Berliner Fußballverein im brandenburgischen Strausberg. Die C-Jugend eines Vereins aus Berlin-Wedding habe das Wochenende zuvor im Sport- und Erholungspark in Strausberg verbracht, um sich dort auf ihre Spiele vorzubereiten. Zwei Jugendliche hätten am Samstagabend einen 14jährigen Fußballer des Vereins, der aus Kamerun stammt, rassistisch beleidigt und Pyrotechnik nach ihm geworfen, ihn aber nicht getroffen. Am 8. Oktober hat ein Passant der Polizei zufolge gegen 11 Uhr Schmierereien auf einer Gedenktafel in der Meinekestraße in Berlin-Charlottenburg bemerkt. Demnach handelte es sich dabei um zwei rote Dreiecke. Die Hamas nutzt dieses Symbol, um ihre Feinde zu markieren. Am 10. Oktober habe ein 27jähriger einen 30jährigen aufgrund seiner Hautfarbe am U-Bahnhof Yorckstraße in Berlin-Schöneberg rassistisch beleidigt, so die Polizei. Die beiden seien zuvor in Streit geraten, der auch körperlich geworden sei. Beide hätten Verletzungen am Kopf erlitten. Am 12. Oktober beleidigte ein 33jähriger laut dem Internetportal »Du bist Halle« drei andere Fahrgäste in einer Straßenbahn in Halle rassistisch. Einen der Betroffenen habe er zudem angerempelt. pb | : Chronik rassistischer und antisemitischer Vorfälle | [
"Deutsches Haus"
] | Antifa | 17.10.2024 | https://jungle.world//artikel/2024/42/deutsches-haus-42/2024?page=0%2C%2C2 |
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Regierungs-Rochade in Italien | Samstag: Der Chef des fragilen Mitte-Links-Regierungsbündnisses, Massimo D'Alema von den italienischen Linksdemokraten, tritt zurück. Sonntag: D'Alema nimmt Gespräche über eine Neuauflage einer Mitte-Links-Koalition auf. Von dem rechten Oppositionschef und Medientycoon Silvio Berlusconi geforderte Neuwahlen lehnt D'Alema ab. Auslöser der Krise der 56. Nachkriegsregierung waren die Erben der früheren Sozialisten unter dem in Tunesien exilierten Ex-Regierungschef Bettino Craxi, die Demokratischen Sozialisten Italiens. Deren Chef Enrico Boselli hatte am vorvergangenen Wochenende gesagt, wolle man die Wahlen im Jahr 2001 gewinnen, müsse man jetzt den Premier austauschen. Die Sozialisten befürchten, dass ein Referendum über die Abschaffung des Verhältniswahlrechts kleinen Parteien den Einzug ins Parlament unmöglich machen könnte. Die rechte Opposition behauptet zudem seit Mittwoch, drei Abgeordneten seien umgerechnet etwa 200 000 Mark geboten worden, sollten sie ins Regierungslager wechseln. | : | [] | Ausland | 22.12.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/51/regierungs-rochade-italien?page=0%2C%2C3 |
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»Terror ist Terror ist Terror« | In der Nacht von Freitag auf Samstag vergangener Woche erlag Saad Dawabshe seinen Brandverletzungen. Eine Woche zuvor hatten Unbekannte Molotowcocktails in das Haus des 31jährigen in dem kleinen Dorf Duma mitten im Westjordanland geschleudert, sein 18 Monate alter Sohn Ali wurde dabei getötet, ein weiteres Kind sowie seine Frau liegen seither mit schwersten Verbrennungen im Krankenhaus in Tel HaShomer und kämpfen noch immer um ihr Leben. Bis dato weiß man nicht, wer die Mörder sind, die Ermittlungen werden intensiv betrieben. Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die Täter aus dem Umfeld radikaler jüdischer Siedlergruppen stammen, denn an dem Haus der Dawabshes fanden sich Graffiti mit einem Davidstern, unter dem auf Hebräisch das Wort »Rache« geschrieben stand. »Preisschild«-Aktionen heißen solche Taten – egal ob Palästinenser, Christen, israelische Linke oder das eigene Militär, wer immer ihnen irgendwie im Wege ist oder sie kritisiert, zahlt seinen »Preis« in Form von abgeholzten Olivenbäumen, zerstörten Häusern oder, wenn er oder sie das Pech hat, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, mit dem Leben.
Kein Unbekannter war der Ultraorthodoxe mittleren Alters, der sich am 30. Juli auf der alljährlichen Gay Pride Parade in Jerusalem unter die Teilnehmer mischen konnte. Plötzlich zückte er ein langes Küchenmesser und begann, wahllos auf die Umstehenden einzustechen. Zwar überwältigten Polizisten in Zivil den Mann umgehend, dennoch gelang es ihm, sechs Menschen teils schwere Stichwunden zuzufügen. Eines seiner Opfer, die 16jährige Shira Banki, verstarb drei Tage später im Krankenhaus. Bereits wenige Stunden nach dem Anschlag wurde bekannt, dass es sich bei dem Angreifer um Yishai Schlissel handelte, den Mann, der genau zehn Jahre zuvor auf der Gay Pride Parade drei Menschen ebenfalls mit einem Messer verletzt hatte. »Im göttlichen Auftrag«, wie er damals nach seiner Verhaftung angab. Dafür erhielt er zwölf Jahre Haft, wurde aber vor einigen Wochen auf Anordnung des Obersten Gerichts wegen guter Führung vorzeitig entlassen.
»Beide Anschläge stehen für mich ganz klar in einem Zusammenhang«, sagt Yoav Admoni. »Seit Jahren bereits ist es möglich, völlig hemmungslos und unsanktioniert gegen Araber, Andersdenkende oder Minderheiten in einer Sprache zu hetzen, die selbst vor dem Aufruf zum Mord nicht zurückschreckt«, sagt der 34jährige Architekt aus Tel Aviv. »Und heute sehen wir die Folgen.«
In der Tat wäre der Anschlag von Jerusalem vermeidbar gewesen. Denn knapp zwei Wochen zuvor hatte Schlissel einem den Ultraorthodoxen nahestehenden News-Kanal ein Interview gegeben und gefordert, die diesjährige Gay Pride Parade unter allen Umständen zu verhindern. »In Kriegen hat man seine Ziele beharrlich im Auge zu behalten«, sagte er, »dafür muss man auch zu radikalen Mitteln greifen.« Jerusalems Polizeichef Chico Edry erklärte noch am selben Abend im Fernsehen, dass es keine Anhaltspunkte für eine erneute Tat gegeben hätte, was ihm aber jede Menge Hohn und Spott einbracchte. »Das war ganz klar ein Mordversuch mit Ankündigung«, lautete das Urteil des Nachrichtensprechers von »Kanal 2«, Moshe Nussbaum. »Viele wussten oder ahnten es, nur die Polizei wohl nicht.« Schließlich hatte wenig darauf hingedeutet, dass Schlissel sich in der Haft von seinen Wahnvorstellungen verabschieden hätte. Auch war niemand auf die Idee gekommen, ihn an diesem speziellen Tag überwachen zu lassen, kurzum: Polizeiversagen auf ganzer Linie. Schlissel ist in diesem Wahn keinesfalls allein. Die 2009 gegründeten ultranationalistischen Organisation Lehava ist so etwas wie die Schnittstelle der seit 1994 verbotenen rechtsextremen Kach-Bewegung und prominenter radikaler Siedleraktivisten, allen voran Baruch Marzel. Ihre Mitglieder fallen seit Jahren durch homophobe und rassistische Äußerungen auf. Lehava ist ein Akronym für die hebräischen Worte »Für die Verhinderung der Assimilation im Heiligen Land«. Ihr Rechtsberater, Itamar Ben Gvir, trieb schon mal aus Protest gegen die Gay Pride Parade Esel und Ziegen durch die Stadt. »Zumindest sind diese Tiere keine Sünder«, erklärte er.
Lehava sorgte das erste Mal für Schlagzeilen, als Mitglieder das israelische Topmodel Bar Refaeli dazu aufforderte, ihre Beziehung mit dem Schauspieler Leonardo DiCaprio zu beenden, weil dieser kein Jude ist. Was anfangs einfach nur nach Spinnerei klang, mutierte rasch zur handfesten Gefahr. Anhänger von Lehava terrorisierten in der Vergangenheit mehrfach jüdisch-arabische Paare, bedrohten Demonstranten gegen den Gaza-Krieg im vergangenen Sommer und brannten im November 2014 in Jerusalem eine Schule ab, weil dort Juden und Araber gemeinsam unterrichtet wurden. Marzel selbst hatte schon vor Jahren zur Ermordung des linken Publizisten Uri Avnery aufgerufen.
»Der Staat reagiert immer erst dann, wenn es bereits zu spät ist«, sagt Yoav Admoni. Eine Ansicht, die viele Israelis teilen. So wie nun nach den Anschlägen auf die LGBT-Gemeinde und die palästinensische Familie. »Und ich gehe jede Wette ein: Wäre Schlissel ein Araber gewesen, hätte ihn die Polizei sehr wahrscheinlich sofort erschossen, als er auf die Demonstranten einzustechen begann.«
Im Moment zeigt der Staat jedenfalls, dass er auch anders kann. Eine Woche nach dem Mord in Duma verhaftete sie den 24jährigen Meir Ettinger, Anführer einer Gruppe Gleichgesinnter, die sich wie in einem schlechten Abenteuerroman den Namen »Die Revolte« gegeben hat und beim Inlandsgeheimdienst als eine der gefährlichsten Siedlerorganisationen. Ihre Mitglieder rekrutieren sich aus dem Umfeld der sogenannten »Hügelgipfel-Jugend«, die in den besetzten Gebieten illegale Siedlungsaußenposten errichtet. Auch sie betrieben eine »Preisschild-Politik« – nur mit dem kleinen Unterschied, dass sie Morde ganz bewusst einkalkulierten und den Staat durch das gezielte Schüren von Unruhen aus den Angeln hebeln wollten. Am Sonntag erfolgten weitere Razzien in einigen Siedlungsaußenposten, mindestens neun Personen wurden verhaftet. Ob dies im Zusammenhang mit den Morden an der Familie Dawabshe stehen, ist noch nicht bekannt.
Sowohl die Messerattacke als auch der Brandanschlag wurde von israelischen Politikern aller Strömungen sofort und unmissverständlich verurteilt. »In Israel ist die Wahlfreiheit ein Grundprinzip«, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. »Wir müssen sicherstellen, dass jeder Mann und jede Frau in Sicherheit leben kann.« Auch eilte er sofort in das Krankenhaus, wo die Dawabshes behandelt werden. »Null Toleranz für jede Form des Terrorismus, egal von welcher Seite er ausgeht«, forderte er. Und auch Naftali Bennett, Erziehungsminister und Vorsitzender der nationalistischen Partei HaBeit HaYehudi, kündigtean, den Etat für schwul-lesbische Projekte »dramatisch« zu erhöhen. Doch das scheint viele nicht zu überzeugen. Als aus Protest gegen die Morde am 1. August überall in Israel Tausende von Menschen auf die Straßen gingen, strichen ihn die Organisatoren einer Kundgebung im Tel Aviver Meir-Park, wo sich ebenfalls die Zentrale der Aguda, eine israelischen LGBT-Organisation befindet, kurzerhand wieder von der Rednerliste. Bennett hatte sich geweigert, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der unter anderem die Ehe für homosexuelle Paare gefordert wurde.
»Vielleicht war das keine ganz so gute Idee«, meint dazu Stella Kol. »Selbst wenn man Bennet nicht mag, so wäre die Teilnahme eines nationalreligiösen Politikers wie seiner ein deutliches Signal an seine Anhänger gewesen«, sagt die 28jährige Studentin. »Die sind mit einer Gleichstellung von Schwulen und Lesben beim Thema Ehe gewiss restlos überfordert. Aber womöglich hätte das bei einigen zu einem Umdenkprozess und mehr Toleranz geführt.« Shimon Peres lässt man dagegen weiterhin auf LGBT-Veranstaltungen Reden halten, obwohl er sich vor zehn Jahren noch reichlich negativ über eine Gay Pride Parade in Jerusalem geäußert hatte. Warum also nicht auch Bennett? Zweifelsohne haben die Morde der vergangenen Wochen einige alte Feindbilder erschüttert. So besuchte Jerusalems Oberrabbiner Aryeh Stern die Opfer des Anschlags im Krankenhaus und verurteilte die Tat mit klaren Worten. Vergangene Woche erschienen zudem Gruppen von Ultraorthodoxen bei der Aguda, um ihrer Trauer und Solidarität Ausdruck zu verleihen, auch das war ein Novum.
Israels höchste Rabbiner David Lau und Yitzhak Yosef werden demnächst gewiss nicht die Regenbogenflagge aus ihren Fenstern hängen, aber die Reaktionen sind Indizien für einen gewissen Stimmungswandel unter den Frommen. Selbst in Mea Shearim, der Hochburg der Ultraorthodoxen, die ansonsten immer verzweifelt versuchen, das Thema Homosexualität komplett zu verdrängen, gab es Unerwartetes: Plakate, die Schlissels Tat lobten, wurden kurzerhand abgerissen und durch neue ersetzt, die sich ganz klar von ihr distanzierten. »Dennoch muss noch viel unternommen werden, damit diese Dynamik nicht einfach wieder verpufft«, sagt Miki Zaidel und verweist auf die Morde an zwei Jugendlichen in einem schwul-lesbischen Jugendclub in Tel Aviv vor genau sechs Jahren. »Bis heute ist der Täter nicht gefasst«, so das 38jährige Mitglied von Hoshen, einer LGBT-Gruppe, die überall im Land in die Schulen geht und Aufklärungsarbeit leistet. »Auch damals hat man uns viel versprochen.« Der Anschlag in Jerusalem hat nicht nur dazu geführt, dass die NGO reichlich Zulauf bekam. »Wir haben nun verstärkt Anfragen vom Militär, die unsere Mitarbeit wünschen.« Mindestens zweimal die Woche richtet Hoshen nun bei Tzahal Veranstaltungen zum Thema Homosexualität aus. »Auch Transgenderfragen rücken dabei zunehmend in den Mittelpunkt.«
»Terror ist Terror ist Terror, egal von welcher Gruppe dieser ausgeht«, sagte Israels Staatspräsident Reuven Rivlin, der genau vor einem Jahr sein Amt antrat. Ganz offen nannte er die Probleme beim Namen und kritisierte, dass die Sicherheitsorgane bei Ermittlungen gegen jüdische Extremisten bis dato zum Jagen getragen werden mussten. Allein schon von »jüdischem Terror« zu sprechen, bereitet einigen Politikern im nationalistischen Lager nach wie vor Probleme, weil ihrer Ideologie zufolge nur Araber Terroristen sein können. »Es ist schwierig, jüdischen Terror zu bekämpfen, weil er von innen kommt«, sagte Rivlin weiter. Und alle, die die Todesstrafe für Terroristen fordern, wie sie derzeit von Sharon Gal, einem Knesset-Abgeordneten der Partei Israel Beitenu, oder auch von Justizministerin Ayelet Shaked aus der Partei Naftali Bennetts ins Gespräch gebracht wurde, erinnerte Rivlin daran, dass diese dann auch gegen Juden zur Anwendung kommen müsse. Für diese sowie andere klare Worte, die belegen, dass für Israels Staatspräsident zivilisatorische Standards einen höheren Stellenwert haben als für manch anderen Politiker, handelt er sich hasserfüllte Kritik ein. »Rivlin ist nicht länger mehr mein Präsident«, lautete noch eine der harmloseren Parolen, die auf Facebook kursierten.
Bald machten Fotomontagen die Runde, in denen er mit arabischem Kopftuch oder in Nazi-Uniform gezeigt wurde. Erinnerungen an die Zeit vor dem Mord an Yitzhak Rabin wurden wach, die Sicherheitsorgane wurden eingeschaltet. Selbst wenn Rivlin viel Gelassenheit demonstriert, so ist er angesichts der jüngsten Welle der Gewalt vorsichtig und besorgt. »Wir befinden uns inmitten großer Umbrüche«, so seine düstere Prognose für die Zukunft. »Alles ist möglich geworden.« Auch weitere politisch motivierte Morde. | Ralf Balke | Ralf Balke: Die jüngsten Anschläge in Israel waren vorhersehbar | [] | Reportage | 13.08.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/33/terror-ist-terror-ist-terror |
Von der Freiheit, sitzen zu bleiben | Als der Schriftsteller Navid Kermani Mitte Oktober in der Frankfurter Paulskirche mit seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zum einen um Verständnis für den Islam bei gleichzeitiger Ächtung des sogenannten falschen Islam, beispielsweise des »Islamischen Staates«, warb und zum anderen seine Rede mit einem Aufruf zum gemeinsamen Gebet beendete bot das einen Anlass, sich über das gegenwärtige Verhältnis der deutschen Gesellschaft zur Religion Gedanken zu machen. Denn gerade die Paulskirche ist eben nicht religiös bestimmt, sondern einer der wenigen Orte, den in Deutschland einmal ein Hauch von Bürgerlichkeit durchwehte. Dem Aufruf zum gemeinsamen religiösen Ritual wurde im Großen und Ganzen, wie sollte es bei der anwesenden deutschen »Kulturelite« anders sein, artig Folge geleistet, Ergriffenheit machte sich breit, erst am Ort der Rede und anschließend im Feuilleton. Wer es, wie Thierry Chervel, wagte, seine Freiheit gegen eine solche Zumutung zu behaupten (und sitzenblieb), wurde beispielsweise im sich selbst als linksliberal verstehenden Freitag des Nihilismus und der Intoleranz beschuldigt.
In Deutschland herrscht ein Unbehagen an der Säkularisierung vor, das den Begriff der Religionsfreiheit in sein Gegenteil verkehrt. Nicht die Freiheit des Individuums vor den Belästigungen der Religion wird gewünscht, sondern die Freiheit der Religion. In der Debatte um den Islam wird das neue Tabu der Religion aufgerichtet. Angetrieben wird die linksliberale Öffentlichkeit dabei von einem moralischen Antirassismus, der das Sprechen über Religion als einen Akt vorurteilsgestützter Feindseligkeit auffasst. Nicht zuletzt ist es eben jenes linksliberale Milieu, welches an der misslungenen Säkularisierung der Aufklärung leidet und sich nach Sinn und Gemeinschaft verzehrt, um letztlich die Mühen der Aufklärung gänzlich aufzugeben und sich in der neuen Barbarei recht hübsch einzurichten. Wer Interesse hat, diese Gemengelage aus moralischer Diskurskontrolle und neuer Religiosität zu verstehen, dem sei dringend das Buch »Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht« des Wiener Psychoanalytikers Sama Maani empfohlen.
Es handelt sich dabei um eine Sammlung von sechs Essays, die durch eine prägnante Analyse, sorgfältige Argumentation und intellektuelle Aufrichtigkeit überzeugen. »Warum wir über den Islam nicht reden können« lautet der Titel eines Textes, den Maani kürzlich in Berlin auf der legendären Polit-Tunten-Show »Polymorphia« zur Diskussion stellte. Als die Veranstalterin Patsy l’Amour laLove kurz darauf von Pegida-Nazis durch Dresden gejagt wurde, fanden sich auf queeren Internetseiten Kommentare, die den Organisatoren solcher Vorträge wegen angeblichen »antimuslimischen Rassismus« den Schutz auf körperliche Unversehrtheit quasi absprachen. So hatte sich die These des Textes bewahrheitet: Wer das Tabu verletzt, wird geächtet. Doch warum ist es unmöglich, über den Islam zu sprechen? Maani sieht die Ursache in einer Verkehrung des Sprechens, bei der sowohl rechte wie linke Argumentationen die Gleichsetzung von Islamfeindlichkeit und Rassismus benutzen, in je unterschiedlicher Absicht zwar, in beiden Fällen aber mit den gleichen fatalen Konsequenzen. Denn diese Gleichsetzung, die Identifikation einer Religionszugehörigkeit als quasi-rassisches Merkmal, hat das Konzept des kulturellen Rassismus zur Folge, wobei nicht nur das Individuum der Kultur einverleibt wird und somit Kulturen zum Objekt eines vermeintlichen Rassismus werden, sondern eben die Unveränderlichkeit veränderbarer Merkmale wie Religion behauptet wird.
»In Diskussionen über den Islam wird bekanntlich über alles Mögliche geredet (Migration, Terrorismus, ›Integration‹) außer über den Islam. In den seltenen Fällen, wo jemand dieses Sprechverbot durchbricht und tatsächlich etwas über den Islam sagt – indem er zum Beispiel aus dem Koran zitiert – entsteht häufig eine seltsam peinliche Atmosphäre, als hätte jemand ein obszönes Geheimnis verraten. In weiterer Folge wird dem Tabubrecher mitgeteilt, dass es ›den Islam‹ gar nicht gebe, mit der niemals ausgesprochenen Konsequenz, das man über dieses Nichtexistente auch nicht sprechen kann.« Tatsächlich verbinden sich zum Schutz der Freiheit der Religion vormals religionskritische Argumente gegen das Christentum mit logisch unhaltbaren Spitzfindigkeiten über die Natur allgemeiner Begriffe. Zentral für Maani ist aber der psychologische Mechanismus, den wir in dieser Art des Sprechens zu erkennen vermögen. Gott lebt als Unbewusstes fort, also bleiben die religiösen Gefühle der Ungläubigen noch immer an das Tabu und die Heiligkeit gebunden, umso mehr, je unbewusster ihre eigene Religiosität ist. Hier weist sich die Dialektik der Aufklärung als fehlgeschlagene Säkularisierung, zuvorderst in der Sprache, die sich wieder der Magie angleicht, weil Sprechen über den Islam oder das Aussprechen bestimmter Wörter tabu ist, als würden sie, einem Zauberspruch gleich, unmittelbare Wirkung auf die Wirklichkeit haben.
Maani schildert eine aufschlussreiche Begebenheit, die von der Korrespondenz mit einer Redakteurin der Neuen Zürcher Zeitung handelt. Maani hatte 2009 einen Text über die Proteste nach der Fälschung der Präsidentschaftswahlen im Iran geschrieben, der sich unter anderem auf Sigmund Freud und Walter Benjamin berief. Die Redakteurin war mit dem Text unzufrieden, weil er ihres Erachtens nicht vom Iran handele, sondern von westlichen Theorien, und der Iran als fremde Kultur sich nicht mit eurozentrischen Kulturgut verstehen lasse, der selbst aus dem Iran stammende Maani also vor der Sünde des Eurozentrismus bewahrt werden müsse. Maani bemerkt dazu: »Ohne Eurozentrismus – keine Universalität. Das ist die im Universalitätsanspruch der Moderne verborgene – schwer zu verdauende – Dialektik: Dass die moderne Universalität in spezifischen historischen Erfahrungen bestimmter europäischer Gesellschaften wurzelt, über die sie aber gleichzeitig hinausweist – und auf die sie nicht reduziert werden darf.« Deswegen ist unsinnig, beispielsweise von Menschenrechten oder individuellen Freiheiten als kulturellen Besitz zu sprechen, sind sie doch universell. Doch mit dem sich durchsetzenden Kulturprinzip verelendet dass Denken von Gesellschaft als einer Perspektive auf universelle Befreiung. Maani spricht in dem Zusammenhang von der Etablierung eines Konzepts von Nicht-Gesellschaft, in der es nurmehr Kulturen und Religionen gebe.
Maani begreift die Gegenwart mit Freud und Adorno, und das Ergebnis ist ungemein aufschlussreich. Alle Essays – enthalten sind weitere Texte über die iranischen Revolution und das Konzept der Nachträglichkeit, über die Verteidigung der Psychoanalyse als Kulturkritik gegenüber der Psychotherapie, über die Frage, warum uns Israel erregt – analysieren Widersprüche des aufklärerischen Denkens und die Gefahr des Umschlags in dessen Gegenteil. Sama Maani: Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht. Drava-Verlag, Klagenfurt 2015, 128 Seiten, 15,80 Euro | Jakob Hayner | Jakob Hayner: Das Buch »Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht« | [] | dschungel | 12.11.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/46/von-der-freiheit-sitzen-zu-bleiben?page=0%2C%2C2 |
Regulierung statt Legalisierung | Für die Kifferinnen und Kiffer Uruguays gab es Weihnachten vorigen Jahres ein besonderes Geschenk. Am 24. Dezember unterzeichnete Präsident José »Pepe« Mujica das Gesetz zur Regulierung von Marihuana, durch das Anbau und Verkauf von Cannabis erlaubt wurden. Es war mit den Stimmen von Mujicas Frente Amplio, einem Bündnis linker Parteien, und ein paar Oppositionellen zuvor in beiden Kammern des Parlaments abgesegnet worden. Die Entscheidung des Staats am Rio de la Plata fand weltweit Beachtung. Der britische Guardian schlug die Auslobung eines Nobelpreises für Mujica vor und der ebenfalls in Großbritannien erscheinende Economist wählte Uruguay zum Land des Jahres 2013.
Das Gesetz sieht vor, dass jeder erwachsene Bürger monatlich 40 Gramm Marihuana erwerben darf. Geregelt ist darüber hinaus der Preis pro Gramm, das umgerechnet etwa 70 Eurocent kosten wird, und der Vertrieb, der über Apotheken und spezielle Lokale erfolgen soll. Neben dem Recht auf privaten Anbau von bis zu sechs Pflanzen kann man durch die Mitgliedschaft in einem Cannabis-Club an dem kollektiven Anbau von bis zu 99 Pflanzen teilhaben. Verboten bleibt weiterhin der Konsum im Straßenverkehr und während der Arbeit. Ursprünglich sollte das Gesetz zur Jahresmitte umgesetzt werden, nach Angaben der Regierung wird sich dies aber noch mindestens bis zum Beginn des kommenden Jahres verzögern.
Trotz der Anlaufschwierigkeiten ist Mujica, selbst übrigens ein erklärter Cannabis-Abstinenter, zum Idol vieler Konsumenten geworden. Der ehemalige Tupamaro musste wegen seines Wirkens als Guerillero in den sechziger Jahren fast 15 Jahre Knast absitzen. Nun gilt der gelernte Gärtner als ärmster Präsident der Welt, weil er 90 Prozent seines Einkommens an soziale Projekte spendet. Jüngst unterstrich er die Kontinuität seiner politischen Haltung, als er beim Gipfel der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Mitte Mai betonte: »Man sagt, ich sei Guerillero gewesen, aber ich bin es immer noch.« Mit dem Gesetz zur Regulierung der Cannabisnutzung setzt er sich nun ein Denkmal als Haschrebell. Nach eigener Aussage geht es ihm dabei weniger um eine revolutionäre Tat, sondern um die Anerkennung der gesellschaftlichen Realität und den Kampf gegen die Drogenkartelle. Der repressive Kampf gegen die Drogen sei gescheitert, der organisierte Drogenhandel sei schlimmer als der Konsum.
Tatsächlich führte der von der US-Regierung in den siebziger Jahren begonnene »War on Drugs« in Lateinamerika zu einer starken Militarisierung der Gesellschaften und zur Zuspitzung von Konflikten. Verschiedene linke Regierungen haben eine Abkehr von diesem Kurs eingeleitet, so normalisierte Präsident Evo Morales den Koka-Anbau in Bolivien. In der jüngeren Vergangenheit haben diverse lateinamerikanische Länder den Konsum von Marihuana entkriminalisiert, in der OAS herrschte weitgehende Zustimmung zum neuen Gesetz Uruguays, einige Vertreter hielten sich bedeckt, lediglich die USA sprachen sich explizit gegen die Legalisierung aus.
Aber auch im Mutterland des Kriegs gegen die Drogen tobt seit Jahren ein Kampf zwischen verschiedenen Interessengruppen um die Deutungshoheit über medizinischen Nutzen, Gefahren und möglichen Spätfolgen von Cannabis. Die Kritik an den vor allem wegen Drogendelikten überfüllten Knästen nimmt in gleichem Maße zu wie die Akzeptanz der geregelten Abgabe von Marihuana. In Colorado und Washington ist der Verkauf mittlerweile erlaubt, in 24 weiteren Bundesstaaten ist es zu einer partiellen Legalisierung gekommen. So hat Mujica nicht Unrecht, wenn er betont, dass sein Gesetzentwurf kein Novum darstelle. Die Befürworter der Liberalisierung haben in den USA und anderen Ländern dank der Finanzhilfe von George Soros eine starke Lobby. Um den 83jährigen, der sein Vermögen von geschätzten 17 Milliarden Euro in erster Linie mit spekulativen Investitions- und Devisengeschäften erlangte, ranken sich Mythen und Verschwörungstheorien. Jenseits absurder Übertreibungen gibt es viele belegte Versuche Soros’, Politik und Entscheidungsträger mit seinem Geld zu beeinflussen. Er unterstützte unter anderem die Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika und SolidarnoŚć in Polen, überdies spendete er eine Million US-Dollar, um die Präsidentschaftskandidatur George W. Bushs zu verhindern. Derzeit finanziert er Bestrebungen zur Legalisierung von Marihuana.
Die von Soros gegründete Open Society Foundation (OSF) – der Name ist an Karl Poppers Begriff der »offenen Gesellschaft« angelehnt – ist die für seine politische Einflussnahme wohl wichtigste Organisation. Angesichts der Vielzahl der finanzierten Aktivitäten und Organisationen verschwimmen die Konturen und man kann der Stiftung, die über ein jährliches Budget von einer halben Milliarde US-Dollar verfügt, kaum mehr als ein vage sozialliberales, pluralistisches Profil attestieren. Gerade auch, weil die OSF sympathische Projekte wie Kampagnen gegen Morde an transidentitären Personen und kritische schwullesbische Initiativen unterstützt.
Wie die Stiftung, die eine Mischung aus Think Tank und Lobbyorganisation ist, ihren Einfluss auf Entscheidungsprozesse geltend zu machen versucht, verdeutlicht ein Beispiel aus dem Nachbarland Argentinien. Dort verfügte im Jahr 2009 nur zwei Tage nach einer Veranstaltung der OSF im argentinischen Kongress zum Thema der Höchste Gerichtshof die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums. Die zeitliche Nähe mag ein Zufall sein – oder auch nicht. In Uruguay finanzierte die Stiftung in der Vergangenheit zuletzt Fernsehkampagnen zur Steigerung der Akzeptanz von Marihuana. Im September vergangenen Jahres trafen sich Mujica und Soros, in der Folge bot Soros dem Staatsoberhaupt Hilfe bei der Umsetzung des Gesetzesvorhabens in Form von finanziellen Mitteln und Expertisen an.
Bemerkenswert ist, wie OSF und uruguayische Regierung seitdem gleich in zweierlei Hinsicht eine ähnliche Rhetorik nutzen. Zum einen wird der experimentelle Charakter des Unterfangens hervorgehoben, zum anderen wird stets das wirtschaftliche Potential der staatlich kontrollierten Marihuanakultivierung und -vermarktung betont. So sprach der Vorsitzende des Nationalen Rates für Drogen, Diego Cánepa, unlängst von »der Chance zur Etablierung einer großen Industrie im Land«.
Tatsächlich ist das ökonomische Potential des Geschäfts mit dem Gras nicht zu unterschätzen. Uruguay geht perspektivisch von einer Produktion von 22 Tonnen pro Jahr für die geschätzten 150.000 Konsumenten und von einem Marktwert von 75 Millionen US-Dollar aus – Tendenz steigend. Das Potential liegt dabei weniger in den Steuereinnahmen, die nur gut ein Zehntel der in den Niederlanden von Coffee-Shops erhobenen Steuern ausmachen, sondern in der Marktstellung, die sich das Land durch die Pionierrolle im Grasanbau verschaffen kann. Konkret geht es um die Entwicklung einer Technik, die nach der Erprobungsphase – eine Nachfrage vorausgesetzt – exportiert werden kann. Und die Nachfrage wird steigen, wenn der Trend zur Entkriminalisierungs anhält. Die Interessen Soros und seiner Stiftung werden deutlich, wenn man einen Blick auf eines seiner wichtigen Investments wirft. Er ist Großaktionär des Saatgutkonzerns Monsanto, eines Unternehmens, das vor allem mit Soja-Monokulturen, Landraub und genmanipuliertem Saatgut von sich Reden macht. Das lukrative Geschäftsmodell des Unternehmens besteht in der Patentierung und Monopolisierung von gentechnisch veränderten Samen mit einer sogenannten Terminator-Technologie, mit Pflanzen, die selbst keine Samen produzieren. In der Konsequenz sind Kleinbauern darauf angewiesen, Saatgut immer wieder bei Monsanto zu kaufen. Ihnen wird untersagt, Samen nachzuzüchten, die einem Patentschutz unterliegen. Seit langem kursieren Gerüchte, der Konzern plane, ein Patent auf genveränderte Cannabissamen anzumelden. Auch wenn eine Bestätigung hierfür aussteht, drängt sich die Frage auf, ob die Soros-Stiftung schlicht als Marktöffner für die Saatgutproduktion in einem ermerging market dienen soll.
Geradezu skurril wirken in diesem Zusammenhang die fortwährenden Beteuerungen des Lateinamerika-Regionaldirektors der OSF, es gebe keinerlei Verbindungen zwischen Monsanto und seiner Stiftung, und die des transnationalen Konzerns, es werde kein Schwerpunkt auf die Hanfforschung gelegt. So unwahrscheinlich es ist, dass diese Beschwichtigungen der Realität entsprechen, so deutlich ist auch, dass im Windschatten der Initiativen von Soros eine Reihe anderer Unternehmen und Forschungsinstitute Begehrlichkeiten anmelden. Der Drogenbeauftragte der Regierung Mujica bestätigte unlängst in einem Interview, dass es bereits eine ganze Reihe von Interessenten aus Europa und den USA gebe, die sich der Produktion annehmen wollten. Aufhorchen lassen die Pläne Mujicas, staatliches Cannabis mit einem speziellen genetischen Code auszustatten, damit es von illegal angebautem unterschieden werden kann. Diese Überlegungen passen zu der geplanten umfassenden Meldepflicht, die Cannabisnutzern auferlegt werden soll. Nicht umsonst betont die Regierung Mujica, es handele sich um eine Regulierung, nicht um eine Legalisierung. Ein informelles Gewerbe soll in staatliche Kontrolle überführt werden. Der Staat erhält die Steuereinnahmen und die Kunden müssen nicht mehr ungeprüfte Ware kaufen – davon profitierten beide Seiten, so das Argument. Zur Überwachung dieses Prozesses, an dem sieben Ministerien beteiligt sein sollen, wurde eigens ein Institut zur Überwachung und Kontrolle von Cannabis gegründet, das auch eine Unmenge an Lizenzen verwalten soll. Weder die Frage, wer sich des staatlich organisierten Teils der Produktion annimmt, noch die, wie die Regierung an einen einzigartigen legalisierten Samen kommen soll, wurde bislang beantwortet.
Dank der jüngsten Verschiebung der Realisierung auf das kommende Jahr könnte eine weitere Abstimmung mit der Pharma- und Saatgutindustrie stattfinden. Die klaren diesbezüglichen Dementis von Seiten der Regierung stehen noch aus. Es wird sich also zeigen, ob ein Guerillero womöglich zum Bindeglied für eine abenteuerliche Interessenkoalition aus der Kifferlobby, einem philanthropischen Milliardär und Saatgutkonzernen werden kann. | Christian Rollmann | Christian Rollmann: Die Interessen von Großkonzernen beim Marihuana-Anbau in Uruguay | [] | Lifestyle | 31.07.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/31/regulierung-statt-legalisierung |
Genua im Kopf | Comic - exklusiv in der Printausgabe | Reinhard Kleist | Reinhard Kleist: Eine Bildgeschichte zur Antiglobalisierungsbewegung | [] | webredaktion | 28.11.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/48/genua-im-kopf |
Manager oder Angestellter, wer hat den Stress? | Studie II. Glaubt man einschlägigen Darstellungen in Focus und Spiegel, erreicht der Manager wegen all seiner Termine und Verantwortung regelmäßig ein derart hohes Stressniveau, das er nur mit teuren Burn-outSeminaren, drei Mal Maleviden im Jahr und speziellen Entspannungstechniken wie Porschefahren überleben kann. Während sich der Angestellte nach seinem netten Arbeitstag mit nur leichtem bis moderatem Stress und ganz ohne Verantwortung und Termine entspannt in die überfüllte U-Bahn quetscht und all die Typen, die ständig auf die Malediven müssen, nur bedauern kann. Falsch, sagt eine Studie der Havard- Universität, für die 148 Führungskräfte auf die im Speichel enthaltene Menge des Stresshormons Cortisol getestet wurden. Ergebnis: Die Vergleichsgruppe der Angestellten weist viel höhere Werte auf. Die Forscher erklären das nicht mit der Aussicht der Chefs auf den nächsten Malediven-Trip, sondern mit der Möglichkeit von Managern, selbst Kontrolle über die Situation auszuüben. Das beruhige die Nerven. HER | : | [] | dschungel | 08.11.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/45/manager-oder-angestellter-wer-hat-den-stress |
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Schirrmacher. Mosebach. Löffler. Greiner. Spiegel. Winkler. Jäger. Semler. Heni. Und Krause. | Wir bräuchten eine Debatte, sagte Frank Schirrmacher, der im Kreis der Herausgeber der FAZ fürs Feuilleton zuständig ist, irgendwann zwischen der Sommerpause und den Weihnachtsferien, als ihm der »Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache« umgehängt worden war und er sich zu bedanken hatte. Er wollte aber nicht darüber debattieren, worin seine von der Jury gewürdigten »sprachlichen Leistungen als Zeitungsjournalist und Buchautor« bestünden und was es mit der »Stilsicherheit, Eleganz und beispielhaften journalistischen Qualität« seiner Texte auf sich habe. Es ging ihm vielmehr um die Jugend, denn er hatte im Internet, namentlich bei Youtube, schier Unerträgliches entdeckt: »Was Kinder und Teenager heute unkontrolliert sehen können, ist pornographischer und gewalttätiger Extremismus, wie ihm niemals zuvor eine Generation ausgesetzt war.« Die Sprache der heutigen Jugend sei »beängstigend roh«, und sie entstehe aus dem »ikonographischen Extremismus« des Internets (denn so heißen schlimme Bilder auf Hessisch). Wie so oft, wenn Schirrmacher redet oder schreibt, war es also wieder einmal fünf vor zwölf, und ein Borstenvieh lief durch die Gemeinde. Was war nun zu tun? »Wir riskieren, die wenigen Kinder, die unsere Gesellschaft in Zeiten des demographischen Wandels hat, mit seelischem Extremismus zu programmieren – wenn wir nicht bald eine Debatte über pornographische und kriminelle Inhalte im Internet beginnen.« Weil er aber wusste, dass die Jugend schon mindestens zweitausend Jahre lang verdirbt und verkommt und verroht und dass diejenigen, die sich um die Zukunft und das Gemeinwohl sorgen, diesen alarmierenden Prozess schon ebenso lange beklagen, fügte er seiner Brandrede den schlichten Satz hinzu: »Dies ist kein Kulturpessimismus.« Während die Parteien und die interessierten Verbände sich inzwischen auf die Imagekampagne verlegt haben, um der Bevölkerung klar zu machen, dass das Kondom gut gegen Aids, die Familie aber gut für Kinder sei, vertraut der »Qualitätsjournalismus«, wie Schirrmacher ihn begreift, noch immer auf die Debatte. Sie ist die höchste und schönste Aufgabe des Feuilletons, und diejenige Zeitung darf die Meinungsführerschaft beanspruchen, der es gelingt, Debatten zu beginnen und nach ihren politischen Absichten zu lenken. Doch leider gehören zu einer Debatte mindestens zwei. Deshalb war die Debatte über den pornographischen und gewalttätigen bzw. ikonographischen bzw. seelischen Extremismus im Internet auch schon wieder beendet, als Schirrmacher das Rednerpult verließ, denn niemand mochte ihm widersprechen. Aber die nächste Gelegenheit ergab sich bald. Im Herbst regnet es Kulturpreise, und der Büchnerpreis fiel heuer auf Martin Mosebach. Im Juni, als die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre Wahl bekannt gegeben hatte, war der Jubel groß. »Martin Mosebach, der Erzähler, Romancier und Essayist, der Grandseigneur in der Apfelweinkneipe, der orthodoxe Katholik und unorthodoxe Kenner der Künste, der konservative Anarch und hemmungslose Bewahrer von Stil und Form, ist ein glanzvoller Büchner-Preisträger. Mit Martin Mosebach ehrt die Akademie einen genuinen Erzähler und einen Essayisten von ungewöhnlicher stilistischer und intellektueller Brillanz.« Mit diesen Worten brillierte Hubert Spiegel in der FAZ. Ulrich Greiner behauptete in der Zeit, einer der »intelligentesten, einfallsreichsten und sprachmächtigsten Dichter der Gegenwart« werde nun endlich nach seinem Verdienst geehrt. Greiners besonderer Beifall galt dem Umstand, dass »der Schritt, den die Akademie damit in die Gegenwart oder vielleicht sogar in die Zukunft getan hat, größer ist, als es den Anschein hat. Denn Mosebach, der seit rund 20 Jahren Romane der schönen Saumseligkeit und der sarkastischen Abschweifung schreibt, wäre vor zehn Jahren noch kaum einem Literaturkritiker als möglicher Kandidat für den Büchnerpreis eingefallen. Dafür lag Mosebachs formaler und inhaltlicher Konservatismus einfach zu sehr am Rande dessen, was der Geist der Zeit erforderte. Dieser nun hat sich gedreht.« Gerade dieser Umstand aber nötigte Sigrid Löffler im Oktober zum Angriff auf Mosebach und seine Freunde in den Feuilletons. Denn der sich wendende Zeitgeist habe den wichtigsten deutschen Literaturpreis einem Autor zugeweht, der ihn, wenn es nur um literarische Qualität und nicht um politische Anschauungen und kulturelle Attitüden ginge, nicht verdiente. Mosebach sei von einigen neukonservativen »Pseudo-Saloniers« zu ihrem Lieblingsschriftsteller erwählt worden, in Wirklichkeit handle es sich bei ihm aber um einen »Bildungsposeur, der seinen Stil mit ornamentalen Sprach-Antiquitäten umschnörkelt und nostalgisch einer Zeit nachhängt, als man zum Kitsch noch ›Horreur‹ sagte«. Gar nicht wahr, antwortete Hubert Spiegel in der FAZ, Mosebachs Werk sei »intelligent, humorvoll, ironisch, glanzvoll verschroben und manches andere mehr«. Im Übrigen freute sich die Literaturredaktion der FAZ auf den Tag der Preisverleihung und war gespannt darauf, was Mosebach über Büchner sagen werde. Er sprach über das Drama »Dantons Tod« und zeichnete ein Bild seines Autors, eines blutrünstigen Feindes nicht nur der Aristokratie, sondern auch des Besitzbürgertums, das nach dem Urteil von Experten mit dem wirklichen Büchner nicht viel zu tun hatte. In diesem Zusammenhang zitierte er einen Ausspruch Saint-Justs, der den Terror der Französischen Revolution rechtfertigte: »›Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? (…) Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane oder Wasserfluten gebraucht. Was liegt daran, wenn sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben? Das Gelangen zu den einfachsten (…) Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Weg starben. Ist es nicht einfach, dass zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem geraten?‹ Wenn wir diesen Worten nun noch das Halbsätzchen einfügten: › … dies erkannt zu haben, und dabei anständig geblieben zu sein … ‹, dann wären wir unversehens einhundertfünfzig Jahre später, und nicht mehr in Paris, sondern in Posen, in Himmlers berüchtigter Rede vor SS-Führern.« Man kommt aber nur dann »unversehens« von Saint-Just zu Himmler, wenn man ganz unhistorisch die psychische Konstitution von Menschen betrachtet, die den Massenmord rechtfertigen oder ihn selbst begehen. Einem anderen wären vielleicht auch noch sämtliche Monarchen von Otto dem Großen bis Wilhelm II. eingefallen, die allerdings keine besondere Idee, sondern bloß ein ererbtes Recht und den Willen zur Vergrößerung des Reichs und des eigenen Ruhms brauchten, um Tausende in den Tod zu schicken. Mosebach allerdings, so heißt es, ist Monarchist. »Ultima ratio regis« lautete der Titel der Dankesrede. Von der FAZ wurde sie debattengerecht zubereitet und erschien nun mit der Überschrift: »Saint-Just. Büchner. Himmler. Kann es Gründe für den Massenmord geben?« Der Historiker Heinrich August Winkler erkannte nun in dieser Rede, zumal da Mosebach ausführlich über den Ruf »Es lebe der König« meditiert hatte, der am Ende von »Dantons Tod« den verzweifelten Protest gegen die Revolution und ihren Terror ausdrücke, die reaktionäre Absicht, den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts auf die Aufklärung des 18. zurückzuführen, um sie zu delegitimieren und als Irrweg des Denkens erscheinen zu lassen. »Man kann solche Linien ziehen, man kann solche Ähnlichkeiten der Denkstruktur nachweisen«, sagte Winkler im Deutschlandradio. Wer aber den Unterschied zwischen dem revolutionären Terror in Frankreich, bei dem es sich um eine »Perversion der Aufklärung« gehandelt habe, und dem nationalsozialistischen Kampf gegen die Aufklärung verwische, betreibe eine »Geschichtsklitterung«. Dazu fiel nun Lorenz Jäger in der FAZ nichts Besseres ein, als die alte Schmonzette vom Vergleich und der Gleichsetzung zu bemühen und sich gegen ein vermeintliches Vergleichsverbot zur Wehr zu setzen. Wer nicht vergleichen dürfe, könne auch keine Unterschiede erkennen. »Die Fürsprecher des Vergleichsverbots haben dieses logische Problem bis heute nicht überzeugend zu lösen vermocht.« Machen wir einen Versuch: Vergleichen darf man alles mit jedem. Man darf sogar den Holocaust mit einem Glas Bier vergleichen. Aber wenn man ernst genommen werden will, sollte man erklären können, warum man das tut, und man sollte zum Ergebnis kommen, dass die Gemeinsamkeiten gering sind. Und weil nun Christian Semler sich in der taz zur Unterstützung der Argumente Winklers vernehmen ließ und Jäger ihm vorwarf, er rede immer noch »Kaderwelsch«, wie in den Zeiten, da er die maoistische KPD/AO anführte, konnte auch der Vorwurf des Antisemitismus nicht ausbleiben. Erhoben wurde er von dem Politikwissenschaftler Clemens Heni auf Welt-Online: »Mit diesem Wort generiert der FAZ-Kommentator Lorenz Jäger ein antisemitisches Wort. ›Welsch‹ meint jüdisch, französisch, unlauter, betrügerisch, romanisch, un-deutsch. Die Gegenaufklärung nimmt weiter an Fahrt auf.« Ihren Tief- und Endpunkt erreichte diese Debatte, als Tilman Krause die Gelegenheit gekommen sah, endlich einmal das zu tun, was der Deutsche am liebsten tut: seine Meinung sagen, ohne Rücksicht auf Verluste. Weil sich aber womöglich niemand für seine Meinung interessiert, erhob Krause sich zum Sprecher einer »großen Bewegung«, in deren Auftrag er nun auf Welt-Online zum »letzten Gefecht« blies. Mosebach, »ihr Exponent«, sei aber schon vor der Entscheidungsschlacht »auf der sicheren Seite«, weil die Bewegung »endlich, endlich selbstbewusst hinwegrollt über das unfrohe, beleidigte, sauertöpfische, musterschülerhafte Hochhalten der Plakate ›Revolution‹ und ›Dekonstruktion‹, ›Aufbrechen‹ und ›Niederreißen‹«. (Das muss man sich auch einmal vorstellen: wie da eine Bewegung hinwegrollt über das Hochhalten des Niederreißens.) Seine Siegesgewissheit gewann Krause aus der Überzeugung, dass die Bewegung gar nicht größer sein könnte, als sie ist. Es sind nämlich »die Leute«, die umstellt und gequält werden von den künstlerischen Hervorbringungen der Moderne und die sich nun endlich, endlich zur Wehr setzen. »Die Leute sind’s jetzt leid. Sie sind es leid, sich von autistischen Architekten ihre Städte verschandeln zu lassen. Wie viele Jahrzehnte sollen sie noch unter Beweis stellen dürfen, dass sie keinen Sinn für urbane Strukturen haben und am Menschen vorbeikonstruieren? Wahrlich, sie haben ihre Chance gehabt. Bauen wir halt wieder auf, was seine Probe bestanden hat!« Die Niedlichkeit der Postmoderne ist Krauses Wahrnehmung offenbar entgangen, oder reicht sie ihm noch nicht? Was will er? Er will »Bürgerlichkeit, Bildungsbewusstsein, Herkunftsstolz« und ästhetische Darstellungsmittel, »die nicht ›provozieren‹, sondern den Sinn für Schönheit befriedigen«. Also will er ganz gewiss das Berliner Stadtschloss, von dem man allerdings schwerlich sagen könnte, es habe seine Probe bestanden? Aber will er auch zweistöckige Fachwerkhäuser mit Reetdächern auf dem Alexanderplatz? Oder lieber neoneoklassizistische Pracht? Man weiß es nicht, und wollte man es herausbringen, müsste man mit ihm über den Sinn für Schönheit diskutieren, von dem er offenbar glaubt, er sei unwandelbar den Leuten angeboren. Und dann wäre man wieder mitten in der Moderne. Krauses Schönheitsempfinden wird nicht nur von der Architektur der sechziger Jahre beleidigt. »Die Leute sind es auch leid, in der Malerei und in den anderen darstellenden Künsten das konzeptuelle Getue von handwerklichen Stümpern bestaunen zu sollen, deren Grips allenfalls für die zeitgeistgemäße Selbstdarstellung reicht. Darum: Her mit der figürlichen Malerei! Und schließlich haben die Leute es satt, sich in der Literatur anöden lassen zu sollen von Autoren, die nichts erlebt, durchdacht und folglich nichts zu sagen haben und mit Befindlichkeitsprosa langweilen, die noch nicht einmal durch Charme für sich einnimmt. Darum hoch die welthaltigen Erzählwerke eines Martin Mosebach!« Ob ein Autor etwas »erlebt« hat, gilt also neuerdings wieder als Kriterium literarischer Qualität. (Mosebach selbst sprach übrigens einmal von seiner »an äußeren Ereignissen armen Biographie«.) Und die Kunst hat sich wieder nach dem Volk zu bemühen, pardon: nach den Leuten. Nun gab es aber eine Zeit, in der die Kunst sich dem gesunden Leuteempfinden unterwerfen musste, und wenn wir den Wutausbruch des Leutetribuns Krause im Sinne Lorenz Jägers mit dem Geist und der Rhetorik jener Zeit vergleichen wollten, dann müssten wir in Mosebachs verquerem Deutsch sagen: Wir sind unversehens siebzig Jahre früher. Einem Denker wie Krause fällt aber gar nichts auf, nicht einmal wenn es aus ihm heraustönt: »Die ästhetische Moderne war die Krankheit, für deren Widerspiegelung auf hohem Reflexionsniveau sie sich hielt.« Zum Glück ist eine Bewegung, wie Krause sie ersehnt, nirgends auszumachen. Es gibt nur ein paar korrekt gekleidete Herren, die sich konservativ und elitär gebärden und in den Feuilletons mit ihrem Abiturzeugnis herumwedeln. Sie reden von Traditionen, Tugenden und Werten und von der Familie und sind dabei genauso hilflos wie die Achtungsechziger, von denen sie sich noch immer unterdrückt und bevormundet fühlen. Ihr intellektueller Brennwert ist gleich Null; doch eines haben sie ihren vermeintlichen Feinden, die zu überrollen sie sich nun anschicken, immerhin voraus: Die Achtundsechziger erreichten das Stadium ihrer kompletten Lächerlichkeit erst nach anderthalb Jahrzehnten, unsere selbstbewussten Konservativen aber haben dasselbe in ein paar Wochen geschafft. Am Ende bleibt nur eine Frage: Was sollen uns eigentlich diese nervtötenden Debatten, an deren Beginn jemand anlässlich eines Anlasses auf den Nazipudding haut, in deren Verlauf der Winkler sagt, was des Winklers ist, und der Jäger antwortet, wie er es nicht anders kann, und die schließlich ohne Ergebnis verstummen, weil sie innerhalb weniger Tage aufs Niveau Krause hinabgesunken sind? Darüber sollten wir einmal reden! Wir brauchen eine Debatte! | peter dierlich | peter dierlich: | [] | dschungel | 29.11.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/48/schirrmacher-mosebach-loeffler-greiner-spiegel-winkler-jaeger-semler-heni-und?page=0%2C%2C0 |
Frau Meier mag die Türken nicht | Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätten sich die Wissenschaftler wohl kaum aussuchen können, um ihre Studie über antidemokratische und ausländerfeindliche Einstellungen der Deutschen zu präsentieren. Nur kurz tauchte die Untersuchung »Ein Blick in die Mitte«, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben worden war, in den Meldungen auf. Die schlechte Botschaft, die die Forscher zu verkünden hatten, wurde schon am nächsten Tag vom »Wunder in Basel«, also dem Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal, aus den Nachrichten verdrängt. Tatsächlich passen die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung nicht so gut zum neuen »Sommermärchen« und dem Bild eines »fröhlichen und geläuterten Patriotismus«, der während und nach der Weltmeisterschaft 2006 propagiert wurde. Die Feststellungen von Elmar Brähler und Oliver Decker von der Universität Leipzig zeigen eine andere Republik. Bereits vor zwei Jahren legten sie die repräsentative Umfrage »Vom Rand in die Mitte« vor, die eine drastische Zunahme von Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus belegte: 37 Prozent der Befragten meinten, dass Migranten nur nach Deutschland kämen, um »unseren Sozialstaat auszunutzen«. Etwa 39 Prozent fanden »Deutschland von Ausländern überfremdet«. Jeder vierte sehnte sich nach einer »einzigen starken Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert«.
Die neue Untersuchung sollte nun zeigen, wie diese Einstellungen zustande kommen. Dafür wurden an mehreren Orten in Deutschland Diskussionsrunden organisiert. Die insgesamt 60 Teilnehmer sprachen dabei ihre rassistischen Vorurteile mit einer solchen »besorgniserregenden Selbstverständlichkeit« aus, dass die Wissenschaftler an ihren früheren Ergebnissen zweifelten. »Offenbar wurde die Ausländerfeindlichkeit in der ersten Studie unterschätzt«, sagte die Psychologin und Co-Autorin der Studie, Katharina Rothe.
In den Gruppen herrschte schnell der Konsens, alles »Fremde« abzulehnen und Ausländer auszugrenzen. Als Standardargument diente dabei die Formulierung: »Die passen einfach nicht zu uns.« So sagte beispielsweise eine gewisse Frau Meier aus Dortmund während einer Diskussion, die Türken nähmen »sich Sachen raus, was die Deutschen nicht dürften«, sie nähmen überhand, »die kaufen jedes Geschäft auf, die kaufen jedes Haus, was leer wird, auf«. Decker bezeichnet eine derartige Haltung als eine neue Form des »kulturellen Rassismus«. Der »hohe Normierungsdruck« habe aber auch zur Folge, dass andere Abweichungen ebenfalls sanktioniert werden: Der Hass richtet sich auch gegen Arbeitslose oder sozial Schwächere.
Die Einsichten decken sich mit anderen Untersuchungen wie zum Beispiel der Langzeitstudie »Deutsche Zustände« von Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld. Seit Jahren stellt der Soziologe eine Zunahme der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« fest – wer nicht ins Raster passt, wird verachtet und gehasst. Die Ergebnisse der neuen Studie bestätigen auch, was zuvor bereits einfache Statistiken gezeigt haben: So gab es während der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren eine deutlich höhere Zahl rassistischer Angriffe als sonst – nur wurden sie kaum zur Kenntnis genommen, weil diese Zahlen nicht zum »Sommermärchen« passten. Der angeblich so unbeschwerte »Party-Patriotismus« hat offensichtlich nicht dazu geführt, dass der Rassismus abnimmt, wie etliche damals prognostizierten. Vielmehr wird Rassismus derzeit offener formuliert als je zuvor. Eine ähnliche Entwicklung belegt die Studie »Blick in die Mitte« auch in der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte. Seit Jahren beschäftigen sich die Medien und die Literatur vor allem mit den deutschen Opfern, unermüdlich wird die »Enttabuisierung« des Redens über Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg beschworen: Nur so könnten die Deutschen ihr Verhältnis zur Geschichte und zur Nation wieder »normalisieren«, heißt es.
Der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit messen die Autoren eine »Schlüsselposition« zu, da sie rechtsextreme Tendenzen und Verhaltensmuster hemmen könne. Nach unzähligen Folgen Geschichtsfernsehen nach der Machart eines Guido Knopp und nach Bestsellern wie Jörg Friedrichs »Der Brand« hat sich das Geschichtsbild tatsächlich verändert. In den Diskussionen »scheint sowohl ein Verschwinden der Täter der nationalsozialistischen Verbrechen auf«, schreiben die Autoren, wie auch »eine Verschiebung der deutschen Selbstwahrnehmung vom Täter zum Opfer«.
Zudem sind viele Menschen demokratischer Entscheidungen überdrüssig. In der ersten Studie sagte etwa die Hälfte der Befragten im Westen, dass die Demokratie nur »für die da oben« gut sei und Wahlen sowieso nichts änderten. Das sagten auch drei Viertel in Ostdeutschland. Die »alarmierende Geringschätzung des demokratischen Systems« bezeichnen die Autoren als »narzisstische Zeitplombe«. Demokratische Strukturen würden nur akzeptiert, solange sie Wohlstand garantierten. Gehe er verloren, nähmen antidemokratische Meinungen zu – wie etwa nach der »Wende« in Ostdeutschland.
Um diese Entwicklung zu erklären, zitieren die Autoren aus »Die Unfähigkeit zu trauern« von Alexander und Margarete Mitscherlich. Demnach trat an die Stelle des »kollektiven Narzissmus«, der durch den Zusammenbruch des Nationalsozialismus schwer geschädigt wurde, »der wirtschaftliche Aufschwung, das Bewusstsein, wie tüchtig wir sind«. Antidemokratische Einstellungen seien damals wie in einer Plombe verschlossen worden. Mit der zunehmenden Angst vor dem sozialen Abstieg öffne sich die Plombe wieder – und setze auch die autoritären und rechtsextremen Ansichten frei.
Vermittelt werden diese Ansichten vor allem durch autoritäre Strukturen in der Familie. So verweist die Studie mehrfach auf das Konzept der »autoritären Persönlichkeit«, mit dem bereits die Frankfurter Schule das Aufkommen des Nationalsozialismus psychologisch zu erklären versuchte. Doch während sich die ältere Generation noch oft auf die klassischen Autoritäten bezieht, machen sich unter Jüngeren die gesellschaftlichen Veränderungen bemerkbar. Ihre autoritären Vorstellungen sind willkürlicher und nicht mehr unbedingt an den Vater oder staatliche Institutionen gebunden. Während die Älteren noch nach der »harten Hand« des Staats rufen, schlagen die Jungen gleich selbst zu. Auffallend ist, dass der Studie zufolge rechtsextreme Ansichten in allen Teilen Deutschlands weit verbreitet sind – im Westen sogar noch stärker als im Osten. Das wirkt angesichts der jüngsten Wahlerfolge der NPD in Sachsen zunächst befremdlich. Die Autoren erklären die Feststellung damit, dass sie nicht die Handlungen, sondern die zugrunde liegenden Haltungen untersucht haben. Für die möglichen Opfer des Rassismus ist freilich der Unterschied zwischen einer Einstellung und einer Handlung existenziell. Die Wahrscheinlichkeit, an einem brandenburgischen Baggersee von rechtsextremen Schlägern malträtiert zu werden, ist für Ausländer ungleich höher als zum Beispiel an einem See in Bayern – selbst wenn die Vorurteile in beiden Bundesländern in gleichem Maße verbreitet sind.
Tatsächlich lässt die Untersuchung keine Schlüsse über das mögliche Wahlverhalten zu. Es ist zwar naheliegend, dass sich die autoritären Persönlichkeiten von Roland Kochs rassistischem Wahlkampf in Hessen angesprochen und bestätigt fühlten. Dass aber auch die Linkspartei Wähler mit einem autoritären Weltbild anzieht, ist bekannt.
Seit Jahren betreiben auch die Sozialdemokraten den »positiven« Nationalismus, wie zum Beispiel der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der die Rede von der »selbstbewussten Nation« einführte. Dass nun ausgerechnet die der SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung in einer Auftragsstudie vor den Folgen dieser Politik warnt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, zumal die »selbstbewusste Nation« auch während dieser Europameisterschaft rassistische Angriffe und Überfälle zu verzeichnen hat. | Anton Landgraf | Anton Landgraf: Die Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung, »Ein Blick in die Mitte« | [] | Inland | 26.06.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/26/frau-meier-mag-die-tuerken-nicht?page=0%2C%2C0 |
64 Jahre 33er-Bewegung? | Wer ist nicht für die Freiheit? Freizeit, Freibier, Freilandeier. Auch die Wissenschaft soll frei sein. Klar. Wenn sich aber der rechte Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW) am Freitag, den 24. Oktober, in der Universität in Halle zu seinem 27. Bildungspolitischen Forum trifft, wird es Proteste von linken StudentInnen geben. Unter dem Titel "30 Jahre 68er-Bewegung - Bilanz und Folgen" werden im Tschernyschewskij-Haus unter anderem die ProfessorInnen Elisabeth Noelle-Neumann, Hanna-Renate Laurien, Günter Pättner, Johannes Mehlig und Wolfgang Schuller diskutieren. Moderiert wird das ganze von Kurt Reumann von der FAZ. Klagen über die Folgen der 68er-Bewegung sind nichts Neues in rechten Kreisen: Werteverfall heißt eines der Lieblingsschlagworte, Linksruck und Militanz sind zwei weitere. Der BFW bezeichnet sich selbst als "überparteilicher Bürgerbund zur Verteidigung der Freiheit von Forschung, Lehre und Studium". Gegründet wurde dieser "Bürgerbund" im November 1970 in Bad Godesberg unter anderem von Hans Maier, Gerhard Stoltenberg und Ernst Nolte. Mittlerweile gehören auch Rupert Scholz, Bundespräsident Roman Herzog und Noelle-Neumann dem Bund an. Der BFW entstand als - im wahrsten Wortsinne - Reaktion auf den Aufbruch an den Universitäten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. In der Programmerklärung heißt es, die Freiheit der Wissenschaft sei unter anderem bedroht "durch den Gesinnungsterror ideologisch fanatisierter Gruppen an den Hochschulen gegen Andersdenkende". Doch Terror gegen Andersdenkende ist eher Sache der konservativen Uni-Retter. Die Notgemeinschaft für eine freie Universität (NofU), ein Ableger des BFW in Berlin, verschickte 1980 eine Liste mit über 1 700 Namen von StudentInnen, AssistentInnen und ProfessorInnen, die linke Flugblätter unterzeichnet hatten, oder durch linke Argumentation in Seminaren aufgefallen waren, an über 11 000 Adressaten in der ganzen Bundesrepublik, darunter sämtliche Landesregierungen, wissenschaftliche, kirchliche und politische Institutionen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Während die NofU gegenüber Linken also Denunziation im großen Stil betrieb, war sie selbst stets bemüht, die Namen ihrer Mitglieder geheimzuhalten. Daß der BFW auch heute noch ein zweifelhaftes Demokratieverständnis hat, offenbart sich schon an seiner Struktur. So entscheidet der Bundesausschuß selbst über Neuaufnahmen, um "Unterwanderungen" von politisch Unliebsamen auszuschließen. Im Dezember 1993 veröffentlichte der Bund einen Text, in dem der wohl zu PDS-lastigen ostdeutschen Bevölkerung durchweg die Demokatie-Kompetenz abgesprochen wird: "Ein Wahlergebnis kann überall dort nicht als demokratische Legitimation anerkannt werden, wo das Wahlvolk noch zum großen Teil das Resultat einer jahrzehntelangen, besonders sorgfältigen Kaderpolitik der SED repräsentiert." 1995 forderte der BFW in seinen "5 Thesen zur Einführung von Studiengebühren" die Abschaffung des traditionellen BAföGs. Die freiwerdenden Finanzmittel sollten an die neun großen Begabtenförderungswerke der Parteien und Verbände gehen. Der Ruf nach Elite ist manifest. BFW-Mitglied Artur Woll dazu: "Es ist kaum anzunehmen, daß zahlende Studierende erst mit 27 Jahren das Examen ablegen - ein Alter, in dem Alexander bereits ein Weltreich erobert hatte." Viele der BFW- Mitglieder machen kein Geheimnis aus ihrer Nähe zu rechten und rechtsradikalen Kreisen. Karl Steinbuch etwa warb in Weikersheim für die Reps. Der Berliner Professor Klaus Motschmann, der auch für die rechtsintellektuelle Zeitung Criticon schreibt, hielt mehrere Vorträge vor dem rechtsextremen Bildungswerk Hoffmann von Fallersleben. An selber Stelle referierte Roland Hahn, Politologe aus Berlin, über die "nationale Identität". Bei einer BFW-Versammlung in Berlin im Mai 1995 nannte Hahn die Angriffe gegen Ernst Nolte und die Anfeindungen gegen die Bevölkerungspolitikerin Charlotte Höhn eine "Gefährdung der Wissenschaft". Auch Arnulf Baring durfte, obwohl kein BFW-Mitglied, bei der Versammlung im Mai 1995 für eine "vernünftige Einwanderungspolitik" werben, bei der zwischen "leistungsfähigen und leistungsunfähigen" ImmigrantInnen unterschieden werde. Die FDP müsse rechts von der CDU aktiv werden, forderte er, die Zukunft gehöre der Berliner Parteirechten um Manfred Kittlaus und Alexander von Stahl. In Halle tritt vor allem Johannes Mehlig für den BFW ins Rampenlicht. Mehlig hat sich an der Hallenser Uni intensiv an der Evaluierung beteiligt. Am kommenden Samstag soll er nun über die 68er reden. StudentInnen vor allem aus der AG Antifaschismus/Antirassismus im StudentInnenrat wollen den Auftritt jedoch, ebenso wie die gesamte Veranstaltung, verhindern. Sie gründeten eine "Bürgerinitiative gegen Revanchismus, Chauvinismus, Noelleskopie und Alzheimer an der Universität" und laden zu einer Kundgebung um 9 Uhr auf dem Friedemann-Bach-Platz. | oliver arndt | oliver arndt: | [] | Antifa | 23.10.1997 | https://jungle.world//artikel/1997/43/64-jahre-33er-bewegung?page=0%2C%2C0 |
This Parrot is no more | Und nun zu etwas völlig Anderem: dreißig Jahre Monty Python's Flying Circus. Wenig wissen wir über die Identität des titelgebenden Mannes hinter der Show. Lang hieß es, er sei eine bloße Erfindung der Macher John Cleese, Eric Idle, Michael Palin, Terry Jones, Terry Gilliam und Graham Chapman. Doch pünktlich zum Jubiläum brachte jetzt Einer von ihnen, Eric Idle, ein wenig Irrlicht in das Dunkel: Monty Python gebe es wirklich, er sei wohlauf und lebe zurückgezogen und "ein wenig gaga" irgendwo in der englischen Provinz. Terry Gilliam habe er seinerzeit auf einem Flohmarkt in Afghanistan gekauft, Michael Palin habe er gerade noch rechtzeitig davon abhalten können, Lippenstift zu studieren ... Kaum damit in Einklang zu bringen ist eine Version, derzufolge die Show ursprünglich "Owl-stretching Time", "Vaseline Revue" oder auch "The Whizzo Easishow" heißen sollte. Wie dem auch sei, fest steht, dass im Oktober 1969 auf BBC erstmals ein alter Zausel von ganz weit hinten ins Bild lief, "It's ..." sagte, zusammenbrach, daraufhin die prätentiös-alberne Titelmelodie - John Philip Sousas "Liberty Bell March" - erklang, jäh unterbrochen vom hässlichen Geräusch eines überdimensionierten Fußes, der - herauskopiert aus einem Gemälde des italienischen Renaissance-Malers Bronzino - den Titelschriftzug einstampft. Etwas völlig Anderes war geboren. Es ist nicht leicht zu sagen, worin das eigentlich Revolutionäre des Python-Humors besteht. Die erst später entstandenen und allseits bekannten Spielfilme "Ritter der Kokosnuss" (1974) und "Das Leben des Brian" (1979) sind in dieser Hinsicht irreführend. Als klassische Parodien mit durchgehender Handlung bedienen sie sich schon wieder einer eher konventionellen und breitenwirksamen Komik. Was sie dennoch von der Masse unterscheidet, ist das kompromisslose Bekenntnis zum Makaberen. Der den Briten allgemein nachgesagte Schwarze Humor wird bei Monty Python mit nonchalanter Eleganz so weit getrieben, dass er unversehens beim Existenzialismus landet. Man denke nur an den tragischen Recken aus "Die Ritter der Kokosnuss", der, obwohl er bereits beide Arme und Beine im Kampf verloren hat, nicht im Traum daran dächte, klein beizugeben. Die Sinnlosigkeit aller irdischen Bestrebungen - später in "Der Sinn des Lebens" (1983) noch einmal auf Spielfilm-Distanz inszeniert - wird hier nicht weniger spürbar als im klassischen absurden Theater. Den Unterschied zu vielen Autoren dieses Genres markiert, dass diese das humoristische Potenzial des Absurden sträflich verkannt haben. Fast zwangsläufig, muss man dazu sagen, wenn man im Grand Hotel Abgrund immer nur die Suite bewohnt und nie das Fernsehzimmer besucht. Der fliegende Zirkus gastierte von 1969 bis 1974 auf britischen Bildschirmen. Dass die Macher von der BBC dieses anarchistische U-Boot so lange in ihrem Programm geduldet haben - trotz weitgehendem Unverständnis und Protesten seitens des Publikums und trotz häufigen Rechtsstreits -, ist bis heute ein Rätsel und nur mit Unachtsamkeit, Kompetenzengerangel sowie Unübersichtlichkeit angesichts der drohenden Kultur-Revolution zu erklären. So fand sie dann als Humor-Revolution auf der Mattscheibe statt und ist heute Fernseh-Geschichte. Schon in den ersten Folgen sehen wir, eingerahmt von den collagierten, skurrilen, wie radioaktiv verstrahlt wirkenden Animationen von Terry Gilliam: Männer (bzw. als Frauen verkleidete Männer) auf verlorenem Posten. Männer, deren Deckung aufgeflogen ist, und die Zuflucht in der Trotzigkeit oder in der Übersprungshandlung suchen. Wie jener Verkäufer im Tiergeschäft, der aller Evidenz zum Trotz an seiner Version festhält, der Papagei, den der Kunde reklamiert, sei nicht tot, er ruhe sich nur aus. Da kann John Cleese noch so sehr darauf beharren: "It's passed on. This parrot is no more. It ceased to be. It has expired. The parrot has gone to meet it's maker ..." Der Verkäufer habe ihn nur an die Stange genagelt, damit er nicht wegfliegt. Was in den Sketchen variiert wird, ist lediglich die Spielart der Selbstdemontage: Cleese ist immer eher der Autoritäre, Idle hingegen der schmierige Sidekick, Jones gibt bevorzugt die schrille Hausfrau, während Palin auf den "Gumby" abonniert ist, die Python-Version des Dorftrottels, der mit einem geknoteten Taschentuch auf dem Kopf herumläuft und nicht viel mehr sagt als "My brain hurts". Dahinter steht das Konzept, dass im Grunde jede Alltagsfigur zur Komik taugt, wenn man sie nur mit einem Zug zum Höheren ausstattet und mit einer gesunden Portion Wahnsinn und Theatralik impft. Dieser Humor braucht auch keine Pointe mehr, die gesamte Komik schlummert bereits in der Exposition des Sketches und wird in dessen Verlauf nur noch exekutiert. Wenn bei Python-Sketchen überhaupt noch eine Schlusspointe auftaucht, dann eher als ironischer Verweis auf das altertümliche Sketch-Format, das nur von der Pointe lebte. Auf einmal begreift man, dass es auf die Pointe gar nicht ankommt, dass diese gänzlich verzichtbar ist, ja sogar, dass gerade in der unterschlagenen Pointe eine ureigene Komik schlummert. Den Witz von der Pointe befreit zu haben, ist wahrscheinlich die größte Pioniertat Monty Pythons. In der Tat war bei den Dreharbeiten aus Sicht der Schreiber auch immer das größte Problem, wieder aus einem total verfahrenen Sketch herauszukommen. Meist ging das nur auf der Meta-Ebene - indem ein gestrenger Offizier die Szenerie betrat und erklärte: "Now, this is becoming silly." Oder es ging, indem man sich in die gediegene Albernheit musikalischer Darbietungen flüchtete, die ebenfalls die Eigenschaft besitzen, Theatralik auf der nächsthöheren Ebene zu entschärfen. Ein Abfallprodukt dieser abrupten Übergänge - ohne Kupplung wird in einen anderen humoristischen Gang geschaltet - ist der running gag, den die Pythons sicher nicht erfunden, aber perfektioniert haben. Weil sich der Python-Humor aus der buchstäblichen Absurdität von Situationen, Dialogen, Posen speist, kommt er ohne tagesaktuelle politische Referenz aus. Das macht ihn bis heute so gut konsumierbar. Er ist mehr soziologisch als politisch, was ihn nicht davon abhält, auch klassische Satire-Stoffe abzuliefern, die sich eins zu eins dekodieren lassen. John Cleese' Hitler-Parodie - unzureichend als Mr. Hilter getarnt, versucht er, mitsamt dem restlichen Hauptquartier nach dem Krieg die Kommunalwahlen in einem englischen Dorf zu gewinnen - kann es mit der von Chaplin durchaus aufnehmen. Manchmal, wenn ihnen sonst nichts einfiel, reichte auch einfach das blanke Sprachspiel und schierer Nonsens wie der Neologismus "Nutch ... Nutch" oder die von einer Horde Wikinger vorgetragene Lobeshymne auf "Spam"-Dosenfleisch ("Spam ... Spam ... Spam") für einen Gag. Von derart glorreichem Komplett-Irrsinn einmal abgesehen, geht es im Grunde um die inhärente Komik der modernen Welt mit ihren Ausläufern Medien, Bürokratie und Angestelltenkultur, um das zwangsläufige Fehlschlagen nahezu jeglicher Kommunikation. Die Standards hierfür wurden tatsächlich sämtlich schon in den ersten Folgen des "Flying Circus" gesetzt und in den späteren, merklich schwächeren Staffeln immer wieder variiert. Dennoch reichte der Impetus für ein internationales Beben in allen Komik-Genres aus; man kann das Modernisierungsschub nennen. Nach Monty Python sah die klassische Satire mit einem Mal unheimlich altbacken aus und konnte nur noch in der Nische des politischen Kabaretts überleben. Gleichzeitig versuchte sich eine weltweite Epigonenschar - Stichwort: Deutsches Comedy-Wunder - am Plagiat von Monty Python, ohne je die Qualität des Originals zu erreichen. Im britischen Fernsehen kam lange Zeit gar nichts, bis mit der "Fast Show" erstmals wieder eine Sendung Vergleichbares bei annähernder Qualität produzierte. Für Deutschland lässt sich festhalten, dass die Neue Frankfurter Schule wohl einige produktive Impulse von der anderen Seite des Kanals erhalten hat, und spekulieren, ob es sie ohne Monty Python überhaupt in dieser Form gegeben hätte. Jüngstes Beispiel für eine gelungene Innovation in der Tradition Monty Pythons ist "South Park", deren Macher Trey Parker und Matt Stone sich ganz explizit zu dem Vorbild bekennen. Zum 30. Geburtstag haben sie als tribute für BBC ihre ganz eigene Adaption des "Parrot"-Sketches eingereicht: Fettarsch Cartman versucht in einer Tierhandlung, den wie immer toten Kenny zu reklamieren. Der Verkäufer jedoch insistiert: "No, he's not dead, he's just resting." Dass Monty Python selbst nicht tot ist, sondern sich nur ausruht, ist übrigens genau so ein Gerücht. Graham Chapman ist seit 1984 mausetot, die anderen stecken in Solo-Karrieren und sind teilweise untereinander zerstritten. Als Höhepunkt des Jubiläumsabends auf BBC gab es dann aber doch noch einmal Python at it's best: Alle noch lebenden Pythons werden zu einer großen Interview-Runde vereint. Eric Idle per Satellit aus Los Angeles zugeschaltet. Groß im Vorfeld angekündigt. Vorstellung durch den Moderator. Begrüßung. Abspann. | Holm Friebe | Holm Friebe: | [] | Lifestyle | 20.10.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/42/parrot-no-more?page=0%2C%2C3 |
Wer spart, wird ärmer | Argentinien steht vor der Pleite. Trotz aller unterschiedlichen Einschätzungen der Lage sind sich in einem Punkt die Kommentatoren einig: Die Marktwirtschaft ist nicht verantwortlich, da die politischen Akteure sie nicht korrekt zu praktizieren wussten. Wurde also die gegenwärtige Krise in Argentinien tatsächlich nur von einem schlechten Politmanagement verursacht? Ein Blick zurück macht skeptisch. Die bis 1992 verfolgte Politik der Kreditierung nationaler Firmen führte seinerzeit zu Inflationsraten von 5 000 bis 6 000 Prozent. Der argentinische Staat ließ damals Geld drucken, um die Kaufkraft der einheimischen Unternehmen zu stärken. So schützte die Regierung die einheimischen Unternehmen vor der internationalen Konkurrenz. Zugleich bewirkte diese Politik stattliche Preiserhöhungen. Denn solch staatlicher Protektionismus zieht stets höhere Einkaufspreise für alle anderen Unternehmen nach sich, die die protektionierten Produkte als Grundstoffe oder Halbfertigfabrikate benötigen. Beispielsweise bringt national subventionierter Stahl für alle Abnehmer des Materials höhere Produktionspreise ihrer Waren mit sich. Damit diese Abnehmer ihre Waren auf dem Weltmarkt verkaufen können, bedürfen auch sie staatlicher Subventionen. Je mehr Industriezweige in deren Genuss kommen, umso mehr erreicht man das Gegenteil dessen, was ursprünglich beabsichtigt war. Der Staat verdient nicht an dem von ihm angeschobenen Geschäft, sondern finanziert es in immer größerem Umfang. Er muss nationale Produktionszweige mit nationalen Krediten stärken, weil die Subventionierung des einen Industriezweigs die Subventionierung des anderen nach sich zieht. So weitet sich das nationale Geld dauerhaft aus, verwandelt sich aber nicht in Kapital, also in sich selbst verwertenden Wert. Die auf diesem Wege erzeugten Hyperinflationsraten verzehrten die Gewinne auswärtiger Firmen, die nicht auf dem argentinischen Peso sitzen bleiben wollten, Auslandsinvestitionen gingen zurück. Die auswärtigen Gläubiger, unter ihnen vor allem der IWF, die mit ihrem »guten« Geld keine ständig steigende Zuschussproduktion subventionieren wollten, sprachen bald von der »Schuldenbombe«. Um sie zu entschärfen, forderte man, nationale »Irrwege« aufzugeben, und legte den betroffenen Schwellenländern eine Umkehr nahe. Argentinien ging nach 1992 auf diese Vorschläge ein. So entstand das Projekt der Peso-Dollar-Parität, mit dem die Regierung und die Zentralbank versprachen, dass ein Umtausch der Landeswährung in Dollar jederzeit möglich sei. Die Gleichung »Ein Peso entspricht einem Dollar« war jedoch eine Behauptung, die sich erst noch als real erweisen musste. Die Qualität des Peso, so lautete die Idee, komme nicht aus ihm selbst heraus, sondern werde aus einer anderen Währung abgeleitet, dessen »Härte« und »Güte« dem Peso als Ideal gelte. Die dem Peso zugrunde liegende Ökonomie musste diese Qualität erst noch erwirtschaften, der Peso sollte erst noch werden, was der IWF und Argentinien behaupteten: dollargleich. Darin war das Misstrauen der Geschäftsleute und das Scheitern des neoliberalen Modells angelegt. Der Ausgangspunkt in Argentinien war allerdings, dass es die Wirtschaft zuvor nicht einmal zu einer international anerkannten Währung gebracht hatte. Erst deshalb hatten ja der IWF und der argentinische Staat diesen Kunstgriff der Gleichsetzung, den so genannten Currency Board, bemüht. Anders ausgedrückt: Der Umstand, dass man jederzeit aus dem Peso in den Dollar wechseln konnte, sollte die heimische Währung attraktiv machen. Wie wenig Macht Argentinien überhaupt besaß, diese aufgestellte Gleichung in die Tat umzusetzen, zeigte sich etwa daran, dass man dem Aufkäufer der Stadtwerke erlaubte, seinen Kunden die Rechnungen gleich in Dollar auszustellen. Der Investor konnte so das Risiko verringern, von einer Abwertung des Peso kalt erwischt zu werden. Indirekt räumte man damit aber ein, dass die Gleichung nicht den realwirtschaftlichen Gegebenheiten entsprach. Dennoch wollte der Staat fortan nur noch in dem Maße Pesos drucken, wie er sich Dollar beschaffen konnte. Es sollten genügend Waren verkauft und hinreichend ausländisches Kapital ins Land gelockt werden, damit sich die Peso-Dollar-Gleichung als realitätstauglich erwies. Also musste die Regierung alles tun, um das Land für auswärtige Kapitalanlagen attraktiv zu machen: mit keinen oder sehr geringen Steuern, einem Ausbau der Infrastruktur und billigen Löhnen bei hoher Leistung. Eine Neuorientierung der gesamten Wirtschaftspolitik war damit eingeleitet. Zuvor überlebten fast alle Industriebranchen nur durch hohe Staatskredite. Als diese ausblieben, entstanden - zwangsläufig, aber nicht unbeabsichtigt - Sonderangebote für auswärtige Firmen, nationale Monopole wie die Telefongesellschaft samt deren Kundenstamm zu günstigen Preisen zu erwerben. So kauften sich in den neunziger Jahren viele US-amerikanische, vor allem aber spanische Firmen in den argentinischen Markt ein: Telefonica, Repsol, Endesa sowie die Banken Santander Central Hispano und Banco Bilbao Viscaya Argentaria, die zusammen über 45 Prozent des börsennotierten Kapitals des Landes verfügen. Doch der Plan, mit dem Zufluss ausländischen Kapitals die Parität zu untermauern, scheiterte. Die Schere von Steuereinnahmen und Erlösen aus Firmenverkäufen einerseits und den notwendigen Staatsausgaben für die Infrastruktur und den Schuldendienst andererseits ging immer weiter auseinander. Zunächst brachte der Beschluss, nur weltmarktfähiges Kapital überleben zu lassen, also einen Großteil der staatlichen Betriebe zu verkaufen, etliche Milliarden Dollar in die Staatskasse. Ausländische Banken und nicht zuletzt der IWF gaben nach diesen Anfangserfolgen großzügige Kredite. Folglich wurde auch nicht sichtbar, dass der Staat seiner Dollareinlösungspflicht nicht nachkommen konnte. Die Multis, die von Argentinien aus den Weltmarkt bedienten, erwirtschafteten zwar große Gewinne. Nur blieben diese Gewinne in ihren Händen. Das Sonderangebot zur Kapitalniederlassung bestand ja gerade darin, dass Argentinien allenfalls sehr geringe Steuern erhob. Als die wichtigsten Teile der argentinischen Wirtschaft verkauft waren, versiegte diese Quelle des Dollarzuflusses. Deswegen stieg die Teilhabe des Staates an den Erträgen der im Land tätigen Weltkonzerne noch lange nicht. Der Abschied vom staatlichen Protektionismus und der Verkauf argentinischer Unternehmen bewirkten nicht nur, dass der Dollarzufluss verebbte. Erhebliche Teile der Wirtschaft gingen Bankrott, weil die auswärtige Konkurrenz billiger verkaufte und gleichzeitig staatliche Subventionen entfielen. Dem Staat entgingen wiederum Steuereinnahmen. Somit gab es einen Grund mehr, der Logik des eigenen Modells zu folgen. Nur solche Ausgaben waren noch erlaubt, die mehr oder minder direkte Dollareinnahmen zur Folge hatten. Die Regierung stellte weite Teile des staatlichen Handels ein. Das Bildungs- und Gesundheitswesen verrottete und in so mancher Provinz warteten die Staatsangestellten monatelang auf ihre Löhne. Ausgaben für die Infrastruktur hingegen musste man tätigen, um Investoren anzulocken. Auch das Militär durfte nicht verkommen, zudem war man gezwungen, die internationalen Gläubiger mit immer höheren Dollarzahlungen zu befriedigen. Diese Schulden ergaben sich schon daraus, dass sich jede finanzkapitalistische Organisation das Risiko mit Zinsen von bis zu 17 Prozent bezahlen ließ. Nachdem das nationale Kapital im Wesentlichen verkauft war, überwogen die Forderungen der Gläubiger die Fähigkeit Argentiniens, an die nötigen Dollars heranzukommen. Im Sommer 2001 räumte der IWF noch einen Kredit über 21 Milliarden Dollar ein, der mit der Auflage harter sozialer Einschnitte und der Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt verbunden war. Ein letzter Versuch, die Entwicklung noch beeinflussen zu können. Heute wissen es einige IWF-Funktionäre besser und lamentieren, dass dem »schlechten« Geld »gutes« hinterhergeworfen worden sei. Am Currency Board war der Fonds jedoch selbst maßgeblich beteiligt. Um der Peso-Dollar-Parität Glaubwürdigkeit zu verschaffen, garantierte insbesondere der IWF seit 1992 Kredite. Angesichts der drohenden Staatspleite sind Argentiniens Perspektiven alles andere als rosig. Indem der Staat den Gläubigern nach der Aussetzung der Schuldentilgung das Angebot unterbreitete, die kurzfristigen Schulden in langfristige umzuwandeln, behandelt er seine Zahlungsunfähigkeit als temporäres Problem. Man will an einem Verfahren festhalten, das sich gerade als nicht funktionsfähig erwiesen hat. Zudem untermauerte die Regierung ihr Zahlungsversprechen mit einer riesigen Beschlagnahmeaktion, sie sperrte die Dollarkonten auf nationalen Banken. Seit dem letzten Dezember dürfen die Argentinier nur noch 250 Dollar wöchentlich abheben. Darüber hinaus wurden die Rentenzahlungen verschoben, um länger über Dollars zu verfügen. Nachdem der IWF nicht mehr zur Zahlung neuer Kredite bereit war, entschloss sich Argentiniens Regierung im Januar zur Abwertung des Peso, also zur Aufkündigung der Parität. Um ein kontrolliertes Floaten zu ermöglichen, spaltete die Regierung den Wechselkurs auf: in einen Kurs, den die Geschäftsleute frei ermitteln, und einen, den der Staat für seine Bürger festlegt. Die argentinische Bevölkerung soll zwangsweise mithelfen, den Wechselkurs zum Dollar einigermaßen stabil zu halten, es handelt sich somit um eine Form der Enteignung des Volksvermögens. Zunächst durfte die Bevölkerung über ihre Dollareinlagen nicht mehr frei verfügen, dann wurden sie im Rahmen der so genannten »Pesifizierung« zwangsweise in Pesos umgewandelt. So erfuhren die Argentinier eine Abwertung ihrer Ersparnisse um 30 Prozent. In Umfragen spricht nun jeder Zweite davon, auswandern zu wollen. Allein, kein anderes Land will die von der freien Marktwirtschaft erzeugten Überflüssigen haben. | klaus meyer | klaus meyer: | [] | Dossier | 13.03.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/11/wer-spart-wird-aermer |
Flott trotz Schrott | Nördlich von Mazar-i-Sharif, Afghanistan, Freitag vergangener Woche, 22 Uhr Ortszeit: Sechs ISAF-Soldaten, darunter ein deutscher Bundeswehrsoldat, werden bei einem Flugunfall leicht verletzt. Ein Hubschrauber »kippt bei einer Landeübung aus noch ungeklärter Ursache um«, so die Bundeswehr. Die Soldaten müssen ins Lazarett gebracht werden. Dass es sich um einen Hubschrauber der dänischen Luftwaffe gehandelt hat, verrät die Bundeswehr nicht. So scheint sich die Meldung einzureihen in die endlose Folge von Nachrichten über die vermeintlich restlos heruntergekommene Ausrüstung des deutschen Militärs. Los ging es, als am 24. September Einzelheiten aus einem Bundeswehrbericht mit dem Titel »Materielle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte« bekannt wurden. Das vertrauliche Dokument las sich wie die Inventarliste eines Hightech-Schrottplatzes: Von 109 Eurofightern seien nur 42 »verfügbar«, von 56 Transall-Transportern weniger als die Hälfte einsatzbereit. Nur 16 der 83 Transporthubschrauber des Typs »CH-53« könnten derzeit fliegen, ebenso nur 38 der 89 »Tornado«-Kampfjets. Dass das Verteidigungsministerium selbst die Zahl der einsatzfähigen Flugzeuge für die eigene Planung offenbar als genügend erachtet und die jeweilige Flottenstärke meist mit grünen Punkten – gleichbedeutend mit »ausreichend« – markiert hatte, wurde den Militärplanern als Versuch ausgelegt, zu vertuschen, wie sehr sie die deutsche Wehrkraft bereits zersetzt haben.
Und so ging es weiter. Die Bundeswehr habe angeblich nur einen einsatzbereiten Hubschrauber vom Typ »Sea King« für zivile Seenotrettung in Nord- und Ostsee, meldete der NDR. Die Bundeswehr dementierte, tatsächlich seien es »drei bis vier«. Das ARD-Magazin Kontraste kolportierte, dass nächstes Jahr »über 7 000 ungeschützte Militärfahrzeuge aus dem Betrieb genommen werden«, was zu »zusätzlichen Engpässen im Ausbildungs- und Übungsbetrieb« führen werde. Der deutsche Beitrag zur Eingreiftruppe Nato Response Force ab Januar 2015 sei in Gefahr. Tatsächlich ist die Ausmusterung Teil des Reformkonzepts der Bundeswehr. Die war aus Rationalisierungsgründen zum »dynamischen Verfügbarkeitsmanagement« übergegangen. Bei diesem Modell bekommen die einzelnen Einheiten nur noch über ungefähr 30 Prozent des notwendigen militärischen Materials, das nur selten gebraucht wird. Der restliche Bestand muss jeweils zwischen den Einheiten ausgetauscht werden. Der SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold nannte dies nun einen »Irrweg«, das Bundesverteidigungsministerium wies dies zurück: »Der Ausbildungs- und Übungsbetrieb der Bundeswehr ist sichergestellt.«
Dann wurde bekannt, dass die Bundeswehr in den vergangenen Jahren deutlich weniger für Rüstungsgüter ausgegeben hat als geplant. Nach einer Aufstellung der Bundestagsfraktion der Grünen blieben zwischen 2009 und 2013 insgesamt 3,04 Milliarden Euro, die für Rüstungsmaterial veranschlagt waren, ungenutzt. Das Geld floss teilweise ans Finanzministerium zurück, teilweise wurde es für andere Zwecke wie für Überhangpersonal im Zuge der Bundeswehrreform eingesetzt. »Krasses Missmanagement«, urteilte der Grünen-Verteidigungspolitiker Tobias Lindner. Scheinbar wusste jeder besser als die Generäle selbst, wie viele Waffen diese brauchen. Nämlich mehr.
Die Erregung erreichte ihren Höhepunkt, als Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) Anfang Oktober ein Gutachten präsentierte, das sie einige Monate zuvor in Auftrag gegeben hatte. Die Unternehmensberatung KPMG hatte die neun größten Rüstungsprojekte der vergangenen Jahre untersucht und eine »schmerzhafte Diagnose« erstellt, so von der Leyen. Dem Gutachten zufolge wurden alle Waffensysteme mit zwischen zweieinhalb und neun Jahren Verspätung geliefert. Sieben Vorhaben wurden deutlich teurer als geplant, die Lieferungen waren oft mit Mängeln behaftet. Von »Horrormeldungen« (tagesschau.de) und »sträflicher Vernachlässigung« der Bundeswehr (General-Anzeiger) war zu lesen. Es darf getrost angenommen werden, dass das Ersatzteilmanagement von Rotorblättern nicht zufällig jetzt in Leitartikeln und Hauptnachrichten verhandelt wird. Denn seit Beginn dieses Jahres sind zwei grundlegende Debatten über die deutsche Verteidigungs- und Rüstungspolitik im Gang. Die eine Frage lautet: Wie sehr soll der Staat die deutschen Rüstungskonzerne fördern? Vor der Bundestagswahl hatte der Parteivorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, angekündigt, Rüstungsexporte deutlich restriktiver zu handhaben als Schwarz-Gelb. Nach der Wahl genehmigte er als Bundeswirtschaftsminister zwar Milliardenbürgschaften für Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien, hielt aber daran fest, eine »restriktive Exportpolitik« zu verfolgen. Die Union griff Gabriel dafür im Juli an. Der CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer warnte vor einem »extremen«, »faktischen Exportstopp« und »dramatischen Folgen«. Deutsche Rüstungsunternehmen könnten »vom Markt verschwinden oder ins Ausland abwandern«. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sah die Bundeswehr schon »vollkommen abhängig von Rüstungsimporten aus Russland oder den USA«.
Nach den Berichten über den maroden Zustand der Bundeswehrausrüstung erklärte Verteidigungsministerin von der Leyen, die Beschaffung stärker internationalisieren zu wollen. Nur noch wenige, ausgewählte Industriesparten sollen als Schlüsseltechnologien gelten, die zwingend im Inland gekauft werden müssen: Sensorik und Vernetzungstechnik. Panzer, U-Boote und Handfeuerwaffen hingegen zählte von der Leyen nicht zu den »Kernfähigkeiten« – ein Affront ersten Ranges für die deutschen Waffenbauer. Selbst Gabriel ging das zu weit. Er habe Zweifel an der »sehr schmalen Festlegung« von der Leyens, vor allem U-Boote solle die Bundeswehr auch künftig nur bei deutschen Werften kaufen dürfen. Die Waffenproduzenten versuchten zu retten, was zu retten ist. Nur in einem »engen Schulterschluss« zwischen Bundeswehr und der deutschen Rüstungsindustrie seien »bedarfsorientierte Lösungen zu erreichen«, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), Georg Wilhelm Adamowitsch. Der »Beschaffungsprozess müsse überholt« und die »Bürokratie durchforstet« werden. Unter »Federführung der Bundeswehr« müsse »ein Neuanfang« gemacht werden, die Industrie könne dabei »ihre Expertise einbringen« – ganz so, als hätte jemand anderes mit jahrelanger Verspätung Murks geliefert und danach überhöhte Rechnungen geschickt.
Von der Leyen warf daraufhin im Bundestag die Frage auf, ob Deutschland die Stärke der einheimischen Rüstungsindustrie für seinen sicherheitspolitischen Einfluss in der Welt nutzen wolle. »Wenn das mit ›Ja‹ beantwortet wird, dann ist klar, der Bedarf der Bundeswehr reicht nicht aus für eine gesunde Industrie, sondern hier ist die Frage nach dem Export auch zu stellen.« Damit berührte sie die zweite Frage, die der Erregung über die Ausrüstungsmängel der Bundeswehr zugrunde liegt: die nach dem Ausmaß des deutschen Militärengagements in der Welt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Ende Januar hatte Bundespräsident Joachim Gauck gefordert, Deutschland solle sich »als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen«. Auf derselben Konferenz forderte von der Leyen mehr Gewicht Deutschlands in der Nato. »Gleichgültigkeit ist für ein Land wie Deutschland keine Option.«
Seitdem kommen ständig neue Konflikte ins Gespräch, in die sich die Bundeswehr einbringensoll. Die Bundesregierung offerierte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Beobachtungsmission der Bundeswehr in der Ostukraine »mit militärischer Komponente« und Drohneneinsatz. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) überlegte laut, den geplanten Ausbildungseinsatz »Resolute Support« in Afghanistan, an dem auch die Bundeswehr beteiligt sein soll, über 2016 hinaus zu verlängern. Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, verlangte einen Bundeswehreinsatz mit »robustem« UN-Mandat gegen die Jihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS), inklusive Bodentruppen. Ebola-Erkundungsteams des Deutschen Roten Kreuzes wurden nach Liberia geschickt und prüfen mit Unterstützung der Bundeswehr die Errichtung eines mobilen Krankenhauses. All dies geschah allein im Oktober.
So ätzte die Neue Züricher Zeitung, wichtiger, »als die Löcher in Eurofighter-Jets zu zählen, wäre die Debatte, ob die Bundeswehr wieder auf die Stufe robuster Entwicklungshilfe zurückfallen soll«. Die Bundeswehr habe trotz der technischen Probleme »stets ihre Auslandseinsätze bewältigt«, es gebe »keinen Hinweis, dass ausgerechnet jetzt die Einsatzfähigkeit durch die chronischen Gebrechen ernsthaft gefährdet ist«. Unklar sei hingegen, für welche Zwecke die Bundeswehr ihr teures Großgerät einsetzen soll. »Statt an möglichst vielen Orten ziemlich wenig zu tun, wäre es vermutlich sinnvoll, sich auf einige Einsätze zu konzentrieren.« | Christian Jakob | Christian Jakob: Die Debatte über die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr | [] | Inland | 16.10.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/42/flott-trotz-schrott |
Kopfgeburten | Meine These zum Thema: Familie entsteht im Kopf! Wenn der Mensch älter als 13 wird, manchmal sogar schon früher, hat er den unheilbaren Drang, sich zu multiplizieren. Seine Liebe schießt dann wüst durch die Gegend, und wer gerade im Weg steht, bums, der wird Familie. Bei uns verlief der Bumstrieb leider nicht kongruent mit der Fortpflanzungsplanung, anders als bei den späten Vätern, die allerorten die »Spielis« bevölkern, um sich gegenseitig stolz auf die Schulter und ihr Dingdong zu klopfen: »Das da, das hab’ ich ganz allein gemacht!« Fast. Aber der Reihe nach. Zuerst dachte ich, die Linke sei meine Familie. Doch die hatte sich eines Tages dermaßen zerstritten, da hieß es auf einmal: Scheidung! Was machen die Kinder in einem solchen Fall? Der eine Teil von mir dachte fortan antideutsch, der andere antiimperialistisch. Das fand der Psychiater interessant, war aber der Sache nicht dienlich. Beim nächsten Versuch, eine Familie zu gründen, nahm ich daher okaye Objekte der Begierde. Frau Maus und Herr Bär, wie wir zu Hause heißen, dachten logisch. Frau Maus adoptierte die blaue Maus. Die gab es in der Apotheke und ist eine mikrowellengeeignete Wärmflasche mit Kirschkernen darin. Ich fand den kleinen Bären im Trödel neben der psychosozialen Beratungsstelle in der Goebenstraße, Berlin-Schöneberg. Rütli-Credits, Handyklau und Prügeleien gab es bei uns noch nie. Stattdessen sorgt die blaue Maus für viel familiäre Wärme, logisch. Der Bär – wenn sie klein sind, sind sie am liebsten! – hat den unschlagbaren Vorteil, dass er nie erwachsen wird. So pflegeleichte Kinder gibt es selten. Vor zwei Jahren kam dann die kleine Susi. Sie ist ja oft krank, so sind sie, die Nachzügler. Aber gerade die hat man ja am allerliebsten. Wenn es Susi nicht gut geht, bringen wir sie zu Doktor Fuhrmann in Neukölln, unserem Vertragsarzt. Denn wenn ihr die Nase läuft, braucht sie eine Zylinderkopfdeckeldichtung, und wenn sie stottert, keinen Logopäden, sondern eine Vergaserreinigung. Wenn sie gut drauf ist, ist sie unser Sonnenschein. Dann fährt sie 220 Spitze und ist in 3,9 Sekunden von Null auf Hundert. Elternfreuden! Bei so viel Glück muss ich hier verkünden: Neulich war wieder was unterwegs. Weil wir nichts riskieren wollten, begaben wir uns in Spezialistenhände. Die Geburt verlief beinahe reibungslos. Das Kleine ist ein wenig eckig und hat 160 Seiten. Für ein Kind hat es einen Top-Umschlagentwurf. Selten ist eins so hübsch angezogen. Aber das Arme wird wohl noch viele Probleme kriegen: So lustig es ist, nur wenige wollen mit ihm spielen. Fachleute attestieren ein leichtes Tourette-Syndrom (Fluchzwang). Wie schön, ganz der Vater! »Ist doch nur’n Buch, ej«, krieg’ ich manchmal geschimpft. Ist aber doch besser, als schizophren zu sein, oder? Neulich habe ich meinem Chef meine Papa-Monate angekündigt. Der zeigte sich gleich hocherfreut: »Du hast sie nicht mehr alle!« Von wegen. jürgen kiontke | Jürgen Kiontke | Jürgen Kiontke: | [] | Inland | 31.05.2006 | https://jungle.world//artikel/2006/22/kopfgeburten?page=0%2C%2C2 |
Der Luther von der Weser | Friedrich Bode bleibt sich treu. Als konservativer Christ demonstrierte er 1976 gegen den Bau des Atomkraftwerks in Brokdorf. Im Talar bot er ein äußerst beliebtes Fotomotiv. Ostpreußen, seine Heimat, habe ihm »die Liebe zur kräftigen, unzerstörten Natur mitgegeben«, begründete er den spektakulären Auftritt. Seine politische Karriere begann der evangelische Pastor bei den Grünen. Der heute 77jährige gründete die »Bremer Grüne Liste«. Sein Ziel war es, »meine Freunde an die reinen Quellströme grüner Politik« zu führen. Doch das misslang. »Heute sind nahezu alle Grünen Spitzenpolitiker Altkommunisten, die mit sehr viel Geschick die unbedarften Grünen manipulieren«, erklärte Bode. Schon in Brokdorf hätten ihn die Kommunisten beschimpft. Er trat 2015 aus der Partei aus und kam damit einem Ausschlussverfahren zuvor. Grund für dieses waren von ihm organisierte Veranstaltungen über die Zuwanderung, die angeblich in einem Bürgerkrieg enden könnte. Die palästinensische Hamas hält der Antikommunist keineswegs für eine terroristische Organisation, selbstredend spricht er sich für den Boykott von israelischen Waren aus. Deutschland hält er für »ein besetztes Land«.
Nur konsequent war deshalb, dass er den verurteilten Holocaustleugner Horst Mahler im Gefängnis besuchte. Im vergangenen Jahr trat Bode auf zwei Veranstaltungen der rechtsextremen Szene auf. So geißelte er in Bretzenheim die alliierten Kriegsverbrechen und stellte den Theologen Dietrich Bonhoeffer als durchtriebenen Vaterlandsverräters dar. Im Rahmen der »regionalen Öffentlichkeitsoffensive« der niedersächsischen NPD hielt Bode Ende Februar einen Vortrag mit dem Titel »Hat es den moralischen Urknall gegeben und gibt es noch ein fassbares Echo«. Die versammelten Nationalisten waren zufrieden. »Es ist für viele Mitglieder sicherlich etwas Neues gewesen, aber nicht sonderlich schwierig, seine Inhalte mit denen der NPD zusammenzubringen, weil er viele Dinge aus einer uns nahestehenden Sicht betrachtet«, fand der ehemalige Landesvorsitzende der NPD, Ulrich Eigenfeld. Die Nordkirche war weniger angetan und prüft die einleitung eines Disziplinarverfahrens. Das könnte zu einer Kürzung von Bodes Ruhestandsbezügen führen, eine erste ernstzunehmende Reaktion auf den moralischen Knall des Pastors. | Ralf Fischer | Ralf Fischer: Porträt - Friedrich Bode | [] | Hotspot | 08.03.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/10/der-luther-von-der-weser?page=0%2C%2C0 |
Affront zum Abschied | Fast zur gleichen Zeit, als im fernen Bagdad George W. Bush US-Soldaten Truthahn servierte, nahmen in Sarajevo zwei britische Lords Thanksgiving ganz für sich in Beschlag. Nato-Generalsekretär George Robertson und der Hohe Repräsentant der Bosnien-Protektoratsbehörde, Paddy Ashdown, hatten nach Treffen mit der einheimischen Führung zur Pressekonferenz geladen, doch statt festlicher Worte verbreiteten die hohen Herren Katerstimmung. »Man hat nicht den Eindruck, dass Bosnien die Nato wirklich ernst nimmt«, schimpfte Lord Ashdown. Und sein adliger Exparlamentskollege aus Westminster Hall bezichtigte die örtlichen Politiker glatt der »Schizophrenie«: Bosnien sei »das einzige Land der Welt, in dem es zwei Verteidigungsminister gibt«. Nur Stunden vor der Ankunft Robertsons hatte die Mehrheit der bosnisch-serbischen Abgeordneten kurzerhand beschlossen, die letzte parlamentarische Beratung des neuen Verteidigungsgesetzes zu boykottieren. Ein Affront zum Abschied: Eigentlich war Robertson, der scheidende Generalsekretär der »weltweit größten existierenden Koalition«, nach Sarajevo gekommen, um der nationalistischen Koalitionsregierung zu ihren Fortschritten bei der Zusammenlegung der acht Jahre nach Kriegsende weiter getrennt operierenden Armeen zu gratulieren – der Voraussetzung für die Aufnahme ins Nato-Programm »Partnership for Peace«. Stattdessen ging die britische Thanksgiving-Inszenierung ziemlich in die Hose. Er hoffe nur, so Ashdown, »dass der heute angerichtete Schaden nicht tödlich« sei und Bosniens Beitritt ins transatlantische Bündnis auf Jahre verschiebe. Auf den Magen geschlagen haben dürfte der kleine Aufstand gegen den ungeliebten Protektoratsherrn von der Insel aber auch Großbritanniens Verteidigungsminister Geoff Hoon. Der hatte keine zehn Tage zuvor einen für den Aufbau einer autonomen EU-Streitmacht entscheidenden Richtungswechsel vollzogen – mit unmittelbaren Auswirkungen auf das derzeitige Nato-Operationsgebiet Bosnien. So zog Hoon bei einer Tagung der EU-Verteidigungsminister das britische Veto gegen die Übernahme der Nato-Schutztruppe Sfor durch einen EU-General zurück, ein Projekt, das bislang vor allem von Frankreich und Deutschland vorangetrieben wurde. »Das Vereinigte Königreich wäre gerne bereit, eine solche Operation anzuführen«, verkündete Hoon seinen Kollegen frohen Mutes. Voraussetzung sei allerdings eine enge Zusammenarbeit des EU-Kommandos mit der Nato – und die Unterstützung der bosnischen Behörden für die erste EU-Militäroperation von nennenswertem personellen Umfang. Brauchbare bosnische Hilfe scheint nach dem Rückzieher Banja Lukas bei der Armeereform jedoch ungewisser denn je. Gut möglich also, dass man den Richtungsschwenk Hoons in London noch bereuen wird. Bis zuletzt hatten die USA versucht, das im Dezember 2002 auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen beschlossene Ziel eines EU-Oberkommandierenden an der Spitze von Sfor zu hintertreiben – mit vollem Rückhalt der britischen Regierung. Weil sich Tony Blair angesichts anhaltender Kritik an seinem proamerikanischen Kurs Frankreich und Deutschland in letzter Zeit jedoch wieder spürbar angenähert hat, könnte es nun doch noch klappen mit dem ehrgeizigen Antrittsdatum 2004. Vor allem der beharrlichen Lobbyarbeit Ashdowns und Robertsons dürfte es zu verdanken sein, dass man sich in der Bush-Administration langsam mit der Vorstellung vertraut machte, US-Truppen von einem europäischen General befehligen zu lassen. Der Kompromissvorschlag von Verteidigungsminister Hoon Mitte November gab dann wohl den Ausschlag für das Einlenken Washingtons. Mit einem britischen Sfor-General kann man in Weißem Haus und Pentagon offenbar leben. Schließlich teilt man gemeinsam mit London das Misstrauen gegenüber den deutsch-französischen Militärambitionen. Bei der Nato-Verteidigungsministertagung am Montag in Brüssel dürfte deshalb nicht zuletzt die Größe der dritten eigenständigen EU-Operation nach den Missionen »Concordia« in Mazedonien und »Artemis« im Kongo eine Rolle gespielt haben. »Wir rechnen damit, dass die Truppenstärke von Sfor Mitte 2004 auf 7 000 bis 8 000 Mann reduziert wird«, erklärte ein Nato-Diplomat im Vorfeld des Treffens. Zur Zeit sind 12 000 Sfor-Soldaten im Einsatz, 50 000 weniger als zu Beginn der Nato-Mission Ende 1995. Während im Berliner Verteidigungsministerium vor der Brüsseler Nato-Sitzung niemand über die bevorstehende bislang größte EU-Peacekeeping-Operation sprechen wollte – »Wir haben natürlich Ziele, aber die diskutieren wir nicht öffentlich«, sagte man der Jungle World –, herrscht bei den Kollegen des Nicht-Nato-Staates Österreich bereits große Aufregung. Rund hundert Mann will Wien ab kommenden Sommer nach Bosnien schicken, heute sind es gerade einmal vier. Die Einsatzvorbereitungen laufen schon lange vor der endgültigen Entscheidung auf Hochtouren – ein Zeichen dafür, dass die EU-Aussenpolitiker ihre Rechnung diesmal nicht wie im Frühjahr ohne die US-Administration gemacht haben. Solltes es mit dem Wechsel an der Sfor-Spitze wirklich klappen, hätte die EU innerhalb eines Jahres gegenüber den USA zumindest optisch aufgeholt. Zwar ist der Euro-Block auf militärtechnologischem Gebiet immer noch weit unterlegen. Doch nach dem Auslaufen des in Nato-Kreisen als »Micky-Maus-Mission« verspotteten Mazedonien-Einsatzes in zwei Wochen wäre die Übernahme des Kommandos in Bosnien mit erheblichem Imagegewinn verbunden. Denn noch immer schauen EU-Generäle mit Neid auf die jährlich steigenden US-Verteidigungsetats. Von Anfang an hatten die EU-Spitzenpolitiker die 300-Mann-Operation »Concordia« in Mazedonien nur als Testfall für höhere Aufgaben betrachtet. Jetzt wird die erste autonome Militäroperation sogar aufgelöst. Nach Vorbild der EU-Polizeimission EUPM in Bosnien sollen stattdessen künftig 250 EU-Polizisten ihren mazedonischen Kollegen bei der Arbeit über die Schulter schauen. Ein Scheitern des ersten Einsatzes unter dem Dach der EU-Verteidigungs- und Sicherheitspolitik (ESVP)? »Es geht nicht darum, immer gleich den großen Knüppel herauszuholen. Manchmal reicht auch ein kleiner Knüppel oder nur ein Zahnstocher«, lautet die verklausulierte, wenig diplomatische Antwort, die die Jungle World im Kanzleramt erhielt. Bereits kurz nach Ende des Kosovo-Krieges im Sommer 1999 beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs den Aufbau einer 60 000 Mann starken Schnellen Eingreiftruppe, die eigentlich bis Ende dieses Jahres einsatzfähig sein sollte. Das Bosnien-Kommando ist dafür zwar nur ein schwacher Ersatz, doch angesichts der britischen Annäherung an die deutsch-französische Position könnte vor Jahresende vielleicht doch noch ein weiteres militärisches Statussymbol herausspringen: Toppthema beim Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel ebenso wie auf der EU-Außenministersitzung am Wochenende in Neapel war die Einrichtung einer unabhängig von der Nato agierenden EU-Kommandozentrale. | Markus Bickel | Markus Bickel: | [] | Ausland | 03.12.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/49/affront-zum-abschied?page=0%2C%2C0 |
Große blaue Ohren | Die Platte mit dem schönen Cover fand ich beim Stöbern auf dem Flohmarkt in Tiflis. Dabei holte ich mir einen Sonnenstich und bekam Fieber. Als ich die Platte endlich herumzeigen konnte, fiel sie auch unserem russischen Vermieter ins Auge. Er fing sofort an, das Kinderlied von Tscheburaschka zu singen – das ist die kleine blaue Figur mit den Riesenohren rechts auf dem Cover, die aussieht wie ein Teletubby. Links steht Gena, das Krokodil, Tscheburaschkas Freund. Die literarische Vorlage für die Figuren lieferte der russische Kinderbuchautor Eduard Uspenski mit dem Buch »Krokodil Gena und seine Freunde«. Berühmt wurden sie Ende der Sechziger, als die jüdischen Animationskünstler Leonid Schwarzman und Roman Katschanow ihnen ihre heutige Gestalt gaben. Ihre beindruckend detailreich gestalteten Puppenanimationen im Stop-Motion-Verfahren für die Moskauer Sojusmultfilm wurden zu Trickfilmklassikern. Katschanow starb 1993. Schwarzman verklagte 2007 Uspenski und eine Kosmetikfirma, an die dieser die Rechte an den Figuren verkauft hatte, auf 4,7 Millionen Rubel. Obwohl die auf Zahnpastatuben abgebildeten Figuren den Trickfilmfiguren glichen, verlor Schwarzman den Prozess. Der vom Zahnpastahersteller beauftragte Illustrator bestritt, die Filme jemals gesehen zu haben, und behauptete, er sei nur von der Literaturvorlage inspiriert worden. Der Anwalt des heute 97jährigen Schwarzman vermutete später, die Geschworenen in dem Prozess seien bestochen worden. Am 18. August 2018 starb Eduard Uspenski im Alter von 80 Jahren. Die vorliegende EP-Single enthält sechs Lieder und wurde in zwei verschiedene Ausgaben mit unterschiedlichen Aufnahmen, aber demselben Cover veröffentlicht. Meine Ausgabe enthält das besonders schöne Lied von Gena, dem Krokodil, leider nicht. Dafür ist ein Lied vom russischen Winnie-the-Pooh dabei, der zusammen mit dem Ferkel auf der Hülle zu sehen ist. Außerdem gibt es ein Schlaflied für Umka, das Eisbärbaby. Die Ausgabe mit dem Lied von Gena, dem Krokodil, finde ich irgendwann auch noch. Lieder aus Trickfilmen. Melodija (1976) | Andreas Michalke | Andreas Michalke: ჯუნგლები - Platte Buch - Lieder aus Trickfilmen | [] | dschungel | 06.09.2018 | https://jungle.world//artikel/2018/36/grosse-blaue-ohren?page=0%2C%2C2 |
Das Trauma beenden | Die Narben im Gesicht zeugen noch von dem Flugzeugabsturz: Alan Ruschel Am Anfang steht die Katastrophe: Die Mannschaft des brasilianischen Erstligisten Chapecoense, eines eher kleinen Fußballvereins aus der südlichen Provinzstadt Chapecó, machte sich auf den Weg zum Finale der Copa Sudamericana nach Medellín in Kolumbien. Handyaufnahmen zeigen die euphorischen Spieler noch kurz vor dem Abflug und etwas später in der Maschine. Jeder, der im Herbst 2016 die Nachrichten verfolgt hatte, weiß, dass sie ihr Ziel nicht erreichen sollten: Am 28. November stürzte das Flugzeug kurz vor dem Flughafen Medellín in den Bergen ab. Die Fluggesellschaft hatte aus Profitinteresse systematisch zu wenig Treibstoff getankt. 71 der 77 Menschen an Bord starben, darunter fast die komplette Mannschaft von Chapecoense. Fußball ist ziemlich klein hier. Aber auch in Chapecó hat er keine Zeit, stehenzubleiben. Zu Beginn reiht das neue Team Niederlage an Niederlage. Und Chapecoense scheint zu begreifen, dass man nicht ewig zurückschauen kann. Neue Helden müssen künftig die riesigen Schatten der alten verdrängen, das Trauma soll verschwinden. Die Dokumentation »Unser Team – Nossa Chape« (Unser Chape) beginnt emotional und wuchtig. Kerzenmeer, Gebete, Tausende weinender Fans und Angehörige im Stadion; kaum festzustellen, wer die Toten kannte und wer nicht, und das ist selbstverständlich gewollt. Mehrere Witwen erzählen von der Nacht des Unglücks; der Abwehrspieler Neto, einer der sechs Überlebenden, erinnert sich, wie er auf dem Weg zum Krankenhaus nach den Namen der Teamkollegen fragte, und immer nur hörte: »Der lebt nicht mehr. Der ist von uns gegangen.« Bis auf wenige Stellen, deren Verwendung sich die Macher offenbar nicht verkneifen konnten – »Wir werden unser Leben für dieses Spiel geben«, kündigte einer der umgekommen Spieler vor dem Absturz an –, ist dieser herausragenden Dokumentation Voyeurismus völlig fremd. Und der Absturz als Ereignis interessiert sie tatsächlich wenig. Das Unglück und die kathartische Trauerfeier bilden eher den Hintergrund für ganz andere Fragen: Wie beendet man eigentlich ein Trauma? Und ist es irgendwann mal vorbei mit der Trauer? Die Brüder Michael und Jeff Zimbalist, unter anderem bekannt geworden mit der politischen Fußballdokumentation »The Two Escobars«, erhielten nach dem Absturz bis zum Sommer 2017 erstaunlich ungefilterten Zugang zum Innersten des Clubs. Man darf vermuten, dass das auch dem Chaos dieser Monate geschuldet war. Für den völlig zerstörten Verein gab es nicht mehr viel zu verlieren, und möglicherweise auch einfach keine Zeit, das Für und Wider einer solch engen Begleitung nach einer Tragödie zu diskutieren. »Nossa Chape« zeigt also über weite Strecken, was beim Spitzenfußball für Außenstehende verborgen bleibt, nämlich das intimste Innere eines Profivereins: Telefonate über Spielerverpflichtungen etwa; die Prügelei zweier frustrierter Kicker in der Kabine; naiv anmutende Besprechungen über die Pressestrategie. Gelegentlich sind auch Privataufnahmen der alten Mannschaft zu sehen, auf denen die Profis einander Geburtstagstorten überreichen oder mit den Ehefrauen tanzen. Aus solcher Nähe aufgenommen wirkt das Milliardengeschäft Fußball familiär und unglamourös. Die Kicker sind Provinzjungs, mit religiösen Tattoos und Kleinfamilien, entsprechen nicht Panini-Glanzbildern. Aber heil ist dieser Verein selbstverständlich nicht. Nach dem Absturz bekam Chapecoense weltweite Solidarität: Posthum wurden die Spieler zu Siegern der Copa Sudamericana erklärt, der Klub erhielt die zwei Millionen US-Dollar Preisgeld, und die brasilianischen Erstligisten unterstützten den Verein mit kostenlos ausgeliehenen Spielern. Schnell erkannte Chapecoense allerdings auch das Potential, die Überlebenden zu seinen Vereinshelden zu machen, etwas unschuldig, etwas kalkuliert. Von den drei überlebenden Spielern erkämpften sich zwei – die Defensivspieler Neto und Alan Ruschel – die Aussicht, eines Tages auf den Platz zurückzukehren. »Die ganze Welt wird von ihrem Comeback bewegt sein«, sagt der neue Trainer Vágner Mancini in einer Szene. Er meint es offensichtlich gut, er will den Jungs diesen Moment schenken, aber zugleich ist da ein unangenehmer Beigeschmack. Im Fußball lässt sich alles kapitalisieren, auch die Katastrophe. Den Gebrüdern Zimbalist gelingt es, die Spannungen einzufangen, als der traumatisierte Verein die Überlebenden zu seinem Aushängeschild macht. Einmal sitzen die drei zusammen, die Narben in den Gesichtern zeugen noch vom Absturz, ihre Traumata bekämpfen sie beim Therapeuten, sie quälen sich mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, während die anderen starben – und dann kommt eine lächerliche Werbekampagne. »Ich wusste von Anfang an, dass sie uns als Helden benutzen würden«, sagt Neto da verbittert. »Ich will nicht wegen einer Tragödie berühmt werden.« Wenige Augenblicke später treten die Kicker vor die Pressekameras, sie haben ein falsches, strahlendes Lächeln aufgesetzt. Es ist ein starker Moment der Dokumentation. Der Film urteilt wenig. Es ist eher eine empathische Studie, hier gibt es keine bad guys, sondern Menschen, die sich bemühen weiterzumachen. Immer wieder zeigt der Film kleine Details aus dem religiösen Alltag: den kleinen Altar in der Kabine, der schon vor dem Crash dort stand; den Rosenkranz, den eine Witwe der Frau eines Überlebenden schenkt, das gemeinsame Vaterunser vor den Spielen. Verteidiger Neto, der überlegte, nicht mehr in den Fußball zurückzukehren, bekommt von seiner Frau eine simple Zurechtweisung: »Wenn Gott nicht wollte, dass du Fußball spielst, hättest du einen Arm oder ein Bein verloren.« Gott wird es schon wissen. Und Neto trainiert wieder. Fußball ist ziemlich klein hier. Aber auch in Chapecó hat er keine Zeit, stehenzubleiben. Zu Beginn reiht das neue Team Niederlage an Niederlage. Und Chapecoense scheint zu begreifen, dass man nicht ewig zurückschauen kann. Neue Helden müssen künftig die riesigen Schatten der alten verdrängen, das Trauma soll verschwinden. Neben den Spielern sind es vor allem die Witwen, die diesen Film tragen. Die, die man sonst herabwürdigend Spielerfrauen nennt, treten hier als Menschen in Erscheinung: Verzweifelte, die mit Schlafstörungen und Angst ringen, Kämpferinnen, die plötzlich allein ihre Familien versorgen müssen, und Zurückgelassene, die ernüchtert feststellen, dass sich Chapecoense vorwärts bewegt, während ihr eigenes Leben stillsteht. Einige werden im Verlauf des Films den Verein verklagen. »Der Klub profitiert vom Tod unserer Männer«, sagen sie. Und bleiben doch, weil der Verein auch Familie ist. Wen haben sie denn sonst noch? Viel emotionales Material bekamen die Zimbalists gewissermaßen frei Haus geliefert. Ihre große Leistung ist es, die Brüche erkannt zu haben, die darin stecken. Etwa, wenn dieselben Fans, die wenige Wochen zuvor noch die Toten beweinten, nach einer Niederlagenserie die neue Mannschaft beschimpfen und den Rücktritt des Trainers fordern. Geradezu absurd mutet das an. Wie die neuen Spieler das alte Team nur vergessen wollen und es zugleich glorifizieren. Die Neuen sollen die Wunden einer ganzen Stadt heilen und werden erdrückt davon. Coach Mancini, ein anständiger Kerl zur falschen Zeit am falschen Ort, erkennt das Problem, und zieht in einer Kabinenrede einen Schlussstrich: »Lasst uns nicht mehr an die Vergangenheit denken. Niemand möchte mehr ›armes Chape‹ hören!« Aber kann man den Menschen in diesem Verein einfach so befehlen, nicht mehr traumatisiert zu sein? Die Witwen, die Eltern der verstorbenen Spieler, die Überlebenden, die Mitglieder des ehemaligen Kaders, die den Flug nicht antraten: Man ahnt die vielfältigen Konflikte, die unter der Oberfläche weiter gären. Trotz und wegen alledem bleibt Chape sympathisch. Manchmal sind alle im Glück vereint, etwa als Alan Ruschel es tatsächlich auf den Platz zurückschafft. »Nicht nervös werden«, sagt er schelmisch vor seinem Comeback in einem Testspiel zu Lionel Messi. Aber letztlich verweigert der Film richtigerweise die übliche Idee, nach der ein solches Drama mit einem großen sportlichen Triumph enden müsste. Der Triumph ist in unerwarteter Weise die Konfrontation. Oder wie es der Spieler Alejandro Martinuccio formuliert: »Man kann ein neues Kapitel erst beginnen, wenn man das alte abgeschlossen hat.« Unser Team – Nossa Chape (USA 2018). Regie: Jeff Zimbalist, Michael Zimbalist. Kinostart: 28. März | Alina Schwermer | Alina Schwermer: Die Dokumentation »Unser Team – Nossa Chape« erzählt vom Flugzeugabsturz, bei dem fast die komplette Mannschaft ums Leben kam | [
"Fußball",
"Kolumbien"
] | Sport | 07.03.2019 | https://jungle.world//artikel/2019/10/das-trauma-beenden?page=0%2C%2C0 |
Keine Gnade für RAF-Gefangene | Sieglinde Hofmann bleibt mindestens noch anderthalb Jahre in Haft. Wegen "Schwere der Schuld" lehnte das Stuttgarter Oberlandesgericht (OLG) eine Strafaussetzung der seit 1980 einsitzende RAF-Gefangene ab. Damit hält sich der Staatsschutzsenat exakt an die Vorgaben, die Generalbundesanwalt Kay Nehm im November letzten Jahres vorgeschlagen hat. Sollte das OLG den weiteren Wünschen des obersten Strafverfolgers ebenso folgen, wird auch Adelheid Schulz mindestens 19 Jahre, Christian Klar gar 26 Jahre hinter Gittern verbringen müssen. Über die verbleibende Haftdauer der beiden RAF-Gefangenen wird in den nächsten Wochen entschieden. Dem RAF-Gefangene Helmut Pohl gewährte die Bundesanwalt derweil Haftunterbrechung für eine Operation an der Halswirbelsäule und die anschließende Rehabilitation. Für den schwerkranken Pohl, der seit 1984 einsitzt, startete Mitte letzten Jahres eine Angehörigengruppe eine Kampagne zur sofortigen Freilassung. Er selbst hatte vor einem Jahr ein Gnadengesuch an Bundespräsident | : | [] | Inland | 05.02.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/06/keine-gnade-fuer-raf-gefangene?page=0%2C%2C1 |
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Rechts abbiegen | Klimapolitik als Ausgangspunkt für rechte Mobilisierung. Wahlplakat der AfD, Berlin 2023 Es war die bisher wohl größte politische Niederlage der Klimaschutzbewegung, die sich seit den ersten freitäglichen Schüler:innenstreiks Ende 2018 in Deutschland gebildet hat: Am 26. April scheiterte in Berlin ein Volksentscheid, mit dem eine Änderung des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetzes erreicht werden sollte, um das Land Berlin nicht erst 2045, sondern bereits 2030 klimaneutral zu machen. Zwar stimmte eine knappe Mehrheit der Abstimmenden für den Vorschlag. Das notwendige Quorum, nach dem mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmen müssen, wurde bei einer Wahlbeteiligung von knapp 36 Prozent jedoch deutlich verfehlt. Jessamine Davis vom Bündnis Klimaneustart erklärt sich das Scheitern des Plebiszits in einem Interview mit der Taz: »Wir haben mit zahlreichen Klimapsychologinnen gesprochen, die immer gesagt haben: Wenn Menschen Angst spüren, dann schalten sie ab. Wir hätten mehr die positiven Visionen und Beispiele in den Fokus rücken müssen.« Dass diese Erklärung nicht trägt, enthüllt ein Blick auf die Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen. Denn diese variieren stark. Für den Vorschlag stimmten mehrheitlich Wähler:innen in den Bezirken innerhalb des Berliner S-Bahnrings. Das Quorum wurde in vielen Wahlbezirken in Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Neukölln, Friedrichshain und Wedding erreicht. Diese Stadtteile haben in den vergangenen 30 Jahren einen Zuzug von gutverdienenden, linksliberalen Akademiker:innen sowie links eingestellten Student:innen verzeichnet. Außerhalb des S-Bahnrings stimmte die Mehrheit der Wähler:innen gegen die Initiative. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk Berlin-Brandenburg führte man das darauf zurück, die dort lebenden Menschen seien stärker auf das Auto angewiesen als die in den Innenstadtbezirken. Gemutmaßt wurde zudem, die Blockadeaktionen der Letzten Generation, von denen viele dieser Wähler:innen, sofern sie mit dem Auto einpendeln, betroffen gewesen seien, hätten abschreckend gewirkt. Doch auch diese Erklärung dürfte zu kurz greifen. In den Wahlbezirken der Berliner Stadtteile Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf stimmten, bei einer Beteiligung von 40 Prozent und mehr, 60 bis 80 Prozent der Wähler:innen gegen den Klimaentscheid. Auffällig ist die besonders hohe Quote von teils über 70 Prozent Nein-Stimmen in den Außenbezirken Ostberlins, bei einer oft überdurchschnittlich hohen Wahlbeteiligung. In den Wahlbezirken von Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf stimmten, bei einer Beteiligung von 40 Prozent und mehr, 60 bis 80 Prozent der Wähler:innen gegen die Gesetzesänderung. Diese Wahlbezirke decken sich mit Deutschlands größtem zusammenhängendem aus Ein- und Zweifamilienhäusern bestehenden Stadtgebiet. Die beste Erklärung für das Abstimmungsergebnis könnte demnach von der Bild-Zeitung vorgelegt worden sein. Die titelte am 8. April: »Die Politiker gefährden unser Lebenswerk«, und porträtierte Eigenheimbesitzer, die aufgrund geplanter Gesetzesänderungen, die zum Beispiel auf die Umstellung von Heizungssystemen und die Pflicht zu besserer Wärmedämmung zielen, große Kosten fürchten. Tatsächlich gibt es in Deutschland eine breite Mittelschicht, die während ihres Berufslebens kreditfinanziert ein Eigenheim baut oder erwirbt, um im Alter dort mietfrei zu wohnen und es an ihre Nachkommen zu vererben. Diese Menschen können sich durch gesetzliche Umbau- und Sanierungspflichten nötig werdende größere Investitionen in das Haus oft nicht leisten. Sie befürchten erhebliche Vermögensverluste im Zuge der in der Transformation zum postfossilen Kapitalismus stattfindenden Kapitalentwertung. Diese Angst ist in Ostdeutschland, wo diese Schicht über deutlich geringere Finanzreserven verfügt als im Westen, besonders groß. Dass abstiegsbedrohte Teile der Mittelschicht ein fruchtbares Reservoir für politische Radikalisierung und Mobilisierungen nach rechts darstellen, ist eine politikwissenschaftliche Binse. Die Befürchtung, dass die Klimapolitik immer öfter zum Ausgangspunkt solcher Mobilisierungen wird, ist nur allzu berechtigt. Der damit verbundene Kulturkampf um Lebensstile – lastenradfahrende urbane Kosmopolit:innen versus bodenständige Verteidiger:innen des Rechts auf hochmotorigen Individualverkehr – bietet hierfür genug Anknüpfungspunkte. Er äußert sich in jener regressiven Kritik an den Grünen, die der Partei unterstellt, Deutschland deindustrialisieren zu wollen. Für die anderen Parteien bieten diese Ressentiments wiederum Mobilisierungsmöglichkeiten. In Berlin haben SPD und CDU bei der jüngsten Abgeordnetenhauswahl mit ihren Kampagnen für die Autofahrer:innen der Außenbezirke damit experimentiert, auf Bundesebene versucht derzeit die FDP, mit diesem Thema in der Wählergunst zu steigen. Wahlen mögen sich so gewinnen lassen. Nicht gelöst wird damit das Problem, dass ein Umstieg auf eine Wirtschaft, die ohne fossile Energien auskommt, unter kapitalistischen Bedingungen, wenn nicht anders abgefedert, wohl die Verarmung eines großen Teils der Bevölkerung nach sich ziehen wird. | Marek Winter | Marek Winter: In den Ostberliner Randbezirken fürchtet man die Kosten des Klimaschutzes besonders | [
"Klimaschutz",
"Klimaschutzgesetz",
"Klimapolitik",
"Volksentscheid",
"Berlin"
] | Thema | 20.04.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/16/rechts-abbiegen?page=0%2C%2C3 |
Ist doch alles supergut | Die Überraschung war groß, als Wolfgang Pohrt, in den achtziger und frühen neunziger Jahren gestandener Kritiker der bundesrepublikanischen Linken, vor gut einem halben Jahr auf einer Podiumsdiskussion in Berlin verkündete, dass das wiedervereinigte Deutschland sich mittlerweile als Farce eines Nationalstaats entpuppt habe. »Gestehen muss ich folglich, dass ich derzeit nicht in der Lage bin, irgendetwas hervorstechend Fremdenfeindliches oder Antisemitisches zu erkennen, das aus der Tiefe der deutschen Seele kommen und sich dort aus ergiebigen Quellen speisen würde«, erklärte Pohrt in seinem Referat, das den Auftakt eines nun unter dem Titel »FAQ« erschienenen Buches bildet. Die Texte des Bandes sind im Stil von Gesprächen mit Fragen und Antworten gehalten; daher der Titel des Bandes, FAQ, die Abkürzung für Frequently Asked Questions. Einige der bereits in konkret veröffentlichten fiktiven Interviews verkündeten seine Einschätzung, Deutschland sei bedeutungslos und der Nationalstaat sei ohnehin historisch überholt. Da ist es nur konsequent, wenn Pohrt seinen Ärger über frühere Texte bekundet, die »geholfen haben, dieses komische Antideutschtum mit Argumenten zu versorgen, das sich heute als ideologische Schutzmacht der USA aufspielt«. Wie aber ist Pohrt »Vordenker der Antideutschen« geworden, wie es oft heißt? Pohrt antwortet: Neben einer natürlichen »Affinität zur Programmatik«, die einige Texte von früher besäßen, seien es schlichtweg Fehler gewesen: »Ich jedenfalls habe damals 1989ff. in den Kategorien von 1933 interpretiert – ich hatte keine anderen. Damals war es ein Irrtum, heute ist daraus Ideologie geworden.« In der Ideologie jedoch stellt sich Pohrts »Theorie des Gebrauchswerts« zufolge »das Subjekt für sein Bewusstsein eine Relation zur Realität her, die es aufgrund von deren wirklicher Beschaffenheit nicht geben kann«, und so ist der ehemals Antideutsche aus Süddeutschland nun gezwungen, das Offensichtliche zu nivellieren: Walser und Möllemann – läppisch! Probleme von Nichtdeutschen und Westdeutschen in Mecklenburg-Vorpommern – gleichfalls! Rostock-Lichtenhagen – nur ein Zeichen staatlicher Handlungsschwäche! Dabei will Pohrt ausgerechnet mit Zahlen des Innenministeriums zeigen, dass die Fremdenfeindlichkeit hierzulande abnehme und die Regierenden sie nur noch zum Zwecke von Abgrenzung und Konstruktion des eigenen moralischen Nimbus herbeiredeten. Schließlich würden Rassisten und Antisemiten für den »Übergang in eine neue Zeit« gebraucht, in der man Arme, Alte und Arbeitslose beklaue. Dies sind für Pohrt die »wirklichen Probleme«, aber die deutsche Linke kenne keine Klassen mehr, sondern nur noch Rassismus und Antisemitismus. Wer nach den argumentativen Grundlagen dieser Behauptung fragt, wird enttäuscht. In »FAQ« wird Pohrts alte Methode, Begründungen durch vermeintlich anschauliche Beispiele zu ersetzen, deutlich überstrapaziert. Zeugte in seinem Buch »Brothers in Crime« der gemeinsame Saunabesuch von Helmut Kohl und Boris Jelzin von einer heraufziehenden Bandenherrschaft, soll nun »die Tatsache, dass die Nationalkicker auf ihren Overalls nicht den Bundesadler, sondern das Firmenemblem von Daimler-Chrysler tragen«, ein Indiz für den historischen Niedergang der Staatlichkeit sein. Im letzten Text des Bändchens findet sich ein Ausspruch, der diese Methode als Ganzes charakterisiert: Für manche Gesellschaftsdiagnosen »braucht man kein Bücherwurm sein, weil Alltagsbeobachtungen genügen«. Während die »Provokation der Gutwilligen« (Hermann L. Gremliza) angesichts des zweiten Golfkrieges in der berühmten – auf der Berliner Veranstaltung widerrufenen – Aussage kulminierte, Israel möge einen irakischen Chemiewaffenangriff »gegebenenfalls hoffentlich mit Kernwaffen zu verhindern wissen«, scheinen die historischen Voraussetzungen, unter denen Pohrts Texten Gebrauchswert zukommt, vergangen. Da Pohrt heute diejenigen als Gutmenschen bezeichnet, die weiterhin die Ereignisse von Sebnitz, Bernsdorf oder Potzlow skandalisieren, revidiert er die gelungenen Zuspitzungen, bestreitet die Existenz rassistischer Gewalt gegen Immigranten mit dem Verweis auf von türkischen Jugendlichen dominierte Spielplätze und bekundet, wegen des Geräuschpegels seiner ausländischen Nachbarn die Wohnung gewechselt zu haben. Zwar mag die von Pohrt zur Erklärung angeführte vermeintliche, auf ethnische Zugehörigkeit referierende Bandenbildung im Spätkapitalismus, die auch das Gegröle deutscher Touristen auf Mallorca begründen soll, ihn vor dem Vorwurf des Rassismus verschonen. Die essenzialisierenden Zuschreibungen und Konsequenzen – »Menschen brauchen soziale Kontrolle, und für die Ausländer in Deutschland gibt es davon derzeit zu wenig« – werfen die Frage auf, ob es sich hier wirklich noch um Zuspitzung oder vielmehr projektive Eigenleistung handelt. Gleichzeitig zeugen sie von der Vernunftlosigkeit dieser Provokationen, deren Effekt weniger Aufklärung als Anmaßung ist: Den sich in ihrem Wohnprojekt einrichtenden Wiener Altlinken zu erzählen, dass dies ihre Abkehr von der Politik materialisiere, ist amüsant; amerikanische Studenten zu belehren, es gäbe hierzulande keinen Rassismus, ist dreist und impertinent. Nicht minder ist dies auch ein Vergleich, der direkt aus dem neuen Buch des Theoretikers Giorgio Agamben stammen könnte. Ähnlich wie der italienische Philosoph, für den Auschwitz nur ein Paradigma des Lagers an und für sich ist, argumentiert Pohrt, wenn er schreibt: »Der amerikanische Stützpunkt Guantanamo ist nicht Bergen-Belsen, aber dort werden Menschen so rechtlos gefangen gehalten, wie dies einst KZ-Häftlinge gewesen sind. Was heute unter einem Kampf gegen den Antisemitismus verstanden wird, dient dem Zweck, diesen unglaublichen Skandal zu vertuschen.« Es ist die ganze Palette der gesellschaftstheoretischen Fragwürdigkeiten der Kritischen Theorie – Ende von Individualität, Subjektivität und Wertgesetz, dafür Racket und Gang allerorten –, mit der hier der Antisemitismus als völlig unspezifische Ideosynkrasie präsentiert wird. Und da die Objekte antisemitischen Vernichtungswillens vollkommen austauschbar sein sollen, ist es nur konsequent, dass Pohrt den islamistischen Terror zu einer herbeihalluzinierten Bedrohung erklärt. Die sich durch Pohrts Texte ebenso wie durch die Kritische Theorie ziehende Spannung zwischen dem Allgemeinen der bürgerlichen Gesellschaft und den spezifisch deutschen Zuständen schlägt hier in vermittlungslose Einseitigkeit um. Die Stärke, die die analytischen Betrachtungen seiner der Landsleute etwa in »Der Weg zur inneren Einheit« auszeichnete, scheint unwiderruflich passé. Ihre Leerstelle wird durch eine eigentümliche Mischung aus Instrumentalismus und Postmoderne gefüllt. So wird völlig jenseits aller Ideologietheorie Rassismus als »Rechtfertigungssystem« weißer Überlegenheit beschworen, herausgelöst »aus jedem eindeutigen Zusammenhang mit einer von ihm bezeichneten Sache«, und so zum politischen Kampfbegriff verhärtet. Zum völlig dekontextualisierten Zeichen sollen in der derzeitigen Gesellschaft auch jegliche Fakten geworden sein. So begann – Pohrt braucht nur ein illustratives Beispiel – der vom Bundeskanzler im Jahr 2000 ausgerufene »Aufstand der Anständigen« mit einem Bagatellschaden: der eingeschmissenen Fensterscheibe einer Synagoge, die durch das »Bedeutungsmonopol« von Medien und Machtapparat eine angeblich ungeahnte Wirkung entfaltete. Die zahlreichen Illustrationen, die Pohrt anführt, haben keinen oder bestenfalls einen äußerst fragwürdigen theoretischen Rahmen: eine auf integrative Funktionen reduzierte und repressive Aspekte völlig vernachlässigende Diagnose vom Staatsniedergang, die, zusammengenommen mit ihrer zugespitzten und möglichst provokativen Präsentation, dem Buch über weite Strecken den Charakter eines populärwissenschaftlichen Traktats verleiht. So wähnt man sich in einem Seminar für Kommunikationswissenschaft, wenn Pohrt die mediale Ver- und Bearbeitung der Wirklichkeit zur Realität adelt: »Das Fernsehen ist heute alles, ein Staat und Wirtschaft umfassender Apparat. Zugleich liefert es das Weltbild.« Auch durch die Diagnose der völligen Verblödung von Neonazis erreicht er wissenschaftliches Niveau – das der gegenwärtigen Rechtsextremismusforschung. Es überrascht kaum, dass der Klappentext über den Autor verkündet, er betreibe neuerdings eine auf Unternehmens- und Marktforschung spezialisierte »Ich-AG, die auf ihren ersten Kunden wartet«. Der letzte Abnehmer von Erzeugnissen aus Pohrts vormaligem Unternehmen war die Gruppe, die ihn vergangenes Jahr zur Diskussion nach Berlin lud. Wolfgang Pohrt: FAQ. Edition Tiamat, Berlin 2004, 176 S., 14 Euro | Kolja Lindner | Kolja Lindner: | [] | dschungel | 21.04.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/17/ist-doch-alles-supergut?page=0%2C%2C3 |
Ein besseres Erleben im Falschen | Berauscht, kreativ, produktiv. Bereits das psychedelische Meisterwerk »The Yellow Submarine« hatte es in den Mainstream geschafft Seit einigen Jahren finden wieder zaghafte Forschungen mit lange verbannten und verpönten Substanzen statt, die viele Menschen mit Wahnsinn, Chaos, Umsturz und somit Gefahr verbinden: LSD wird in der Sterbebegleitung erprobt, MDMA (vulgo »Ecstasy«) bei posttraumatischen Belastungsstörungen, Psylocybin und Ketamin bei Depressionen, Ibogain gegen Sucht usw. Das bekannteste Psychoaktivum ist wohl das LSD, das 1938 zufällig von Albert Hofmann entdeckt wurde, und erst nach militärischen und geheimdienstlichen Experimenten seinen Weg in die aufkommende Beat- und Hippiekultur fand, wie Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter in ihrem Buch »Neues von der anderen Seite« (Suhrkamp, 2015) dokumentieren. In der Gegenkultur wurde es schnell zur Droge der Bewusstseinserweiterung, der Absage an stumpfe Regeln, Traditionen und Pflichten, des Aufbruchs in eine neue Welt der All-Verbundenheit. US-Präsident Richard Nixon bezeichnete Ende der sechziger Jahre Timothy Leary als »den gefährlichsten Mann in Amerika«, weil dieser unablässig die Einnahme von LSD empfahl.
Der Verbreitung der Droge folgte bald die staatliche Reaktion: LSD wurde illegalisiert. Das bedeutete auch das Ende der Forschung. Die Wissenschaft war nun angehalten, Argumente für den Krieg gegen die Drogen zu liefern. Somit wurden die möglichen negativen Effekte, hauptsächlich das Auftreten von psychotischen Episoden oder gar chronischen Psychosen, als zwingende Konsequenz des Konsums dargestellt. Daher verwundert es wenig, dass die Angst vor LSD und Konsorten immer noch präsent ist. So fragte etwa Hannes Schrader in seinem Artikel »LSD statt Kaffee« in Zeit Campus Ende vorigen Jahres, wie gefährlich denn dieser Trend zur »Mikrodosierung« sei.
Das Neue an der Renaissance der Psychedelika ist nämlich, dass sie nicht mehr in bewusstseinserweiternden Dosen eingenommen werden, sondern in Dosierungen, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben (sollen). Was soll ein solches sogenanntes Microdosing dann bringen, könnte man fragen. Darauf gibt es zwei Antworten: Zum einen wird das Mikrodosieren als schlichtes Neuroenhancement genutzt, also zur Optimierung der Hirnleistung. Wenn man heute nach San Francisco geht, sollte man also nicht mehr Blumen im Haar tragen, wie es im berühmten Lied von Scott McKenzie heißt, sondern LSD in nicht systemgefährdenden Dosen mit sich führen. Denn im Silicon Valley fand dieser Trend der Optimierung von Problemlösungen seinen Anfang. Das sei allerdings schon in den sechziger Jahren der Fall gewesen, schreiben Hanske und Sarreiter.
Neu am derzeitigen Trend ist lediglich die Mikrodosierung, die ausgeglichener, klarer, kreativer machen soll, von Schrader schon auf den spießigen Punkt gebracht: LSD statt Kaffee. In diesem Sinne reiht sich das mikrodosierte LSD als Neuroenhancement ein in die Liste von Amphetamin, Methamphetamin, Ritalin und Kokain. Es geht hierbei um die schnöde Optimierung der Ware Arbeitskraft beziehungsweise der Marke Ich. Der einzige Vorteil beim mikrodosierten LSD ist, dass es so gut wie keine Nebenwirkungen erzeugt, die Optimierung also reibungslos vonstatten gehen kann. Während Kaffee ein hibbeliges Auf und Ab des Wachheitsgefühls erzeuge, sei es bei mikrodosiertem LSD wie bei einer Fahrt auf einer frisch geteerten Autobahn, zitiert Schrader einen Interviewpartner. Das anarchische Schreckgespenst LSD wird so in sein Gegenteil verkehrt und zur ausgeglicheneren Ausbeutbarkeit genutzt.
Die zweite Antwort auf die Frage nach dem Nutzen des Trends ist interessanter: Mikrodosierte Psychedelika könnten den psychopharmakologischen Betrieb durcheinanderwirbeln. Es gibt nämlich vielversprechende Hinweise, dass sie bei sogenannten psychischen Erkrankungen oder Störungen weit bessere Ergebnisse erzielen als die etablierten Psychopharmaka und das auch noch so gut wie ohne Nebenwirkungen. Der Depressionsforscher Carlos Zarate spreche beispielsweise bezüglich des Einsatzes von Ketamin bei Depressionen vom größten Durchbruch seit 50 Jahren, schreiben Hanske und Sarreiter.
Was genau soll nun der Vorteil der neu entdeckten Heilmittel gegenüber den etablierten Medikamenten sein? Die Anwendung von Antidepressiva und Antipsychotika fußt auf der Annahme, dass ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter, also der Botenstoffe des Gehirns, bestehe. Bei der Depression wäre das also, vereinfacht gesagt, zu wenig Serotonin, bei der Schizophrenie ein Durcheinander beim Dopamin. Die Psychopharmaka sollen dieses Ungleichgewicht beseitigen und eine Stabilisierung bewirken. Daher wird auch oft empfohlen, die Medikation langfristig beizubehalten.
Soweit die Theorie, doch so ein Ungleichgewicht konnte noch nie nachgewiesen werden. Es ist eine reine Hypothese ohne jegliche empirische Unterstützung. Depressiven Menschen werden teilweise über Jahre Antidepressiva verschrieben, deren Wirksamkeit mehr als fraglich ist. Den meisten Antidepressiva gelingt nur ein minimaler Vorsprung gegenüber Placebos. Wenn allerdings ein aktives Placebo eingesetzt wird, also eines, das zum Beispiel Mundtrockenheit verursacht, ohne sonstige Effekte zu besitzen, ist auch dieser Vorsprung dahin. So wie die Entdeckung jedes relevanten Psychopharmakons Zufall war, scheint auch ihre Anwendung einem Schuss ins Blaue zu gleichen. Das Ungleichgewicht im Neurotransmitterhaushalt kommt erst durch die Gabe der Medikamente zustande. Bei manchen hat das positive Auswirkungen, sie erleben eine Verbesserung ihres Zustandes, bei anderen passiert gar nichts oder ihr Zustand verschlechtert sich sogar. Insbesondere bei Antipsychotika können die Nebenwirkungen verheerend sein, umso mehr, je länger sie eingenommen werden. Zudem kann hier nicht von einer Heilung gesprochen werden, sondern das emotionale Erleben wird verflacht, wodurch Wahnvorstellungen und Paranoia ihren Schrecken verlieren. Gleichzeitig ist jedoch das gesamte Gefühlsleben wie in Watte gepackt, was von vielen als sehr unangenehm beschrieben wird. Für Psychotikerinnen und Psychotiker gilt es als typisch, dass sie ihre Medikamente absetzen, was dann in der Regel ihrer mangelnden Krankheitseinsicht zugeschrieben wird anstatt ihrer begründeten Sehnsucht danach, wieder ungefiltert fühlen zu können.
Die Daten zur alternativen Behandlung schizophrener Störungen sind noch etwas dürftig, trotzdem gibt es vielversprechende Anzeichen, etwa für die Wirksamkeit von Cannabis, wie Will Hall auf dem Blog von »Mad in America« berichtet. Besonders der Bestandteil Cannabidiol hat eine antipsychotische Wirkung – im Gegensatz zum bekannteren THC, das sich auf psychotische Zustände sehr ungünstig auswirken kann. Das A und O in der therapeutischen Nutzung von Cannabis sei wiederum die Dosierung, schreibt Hall. Doch dadurch, dass die Cannabisproduktion und -distribution dem Schwarzmarkt überlassen werden, gibt es keine Diversität der Cannabisprodukte und eine Kontrolle derselben ist unmöglich.
Aber zurück zum Microdosing. Peter Gasser, ein Schweizer Pionier der europäischen Forschung in diesem Bereich, berichtet zum Beispiel von Erfolgen mit mikrodosiertem LSD bei posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Einer Patientin, die aufgrund schwerer Kindheitstraumata unter dissoziativen Episoden litt, habe Gasser in einigen Sitzungen bei der Bewältigung ihrer Probleme deutlich weiterhelfen können, schreibt Carole Koch in ihrem Artikel »Mit Drogen Ängste lindern« in der NZZ. Gerade für die Behandlung von PTBS ist Mikrodosierung vielversprechend. Die Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies (MAPS), eine Pioniereinrichtung in den USA, die viele Forschungsprojekte finanziert und Lobbying betreibt, hat zur Rehabilitation traumatisierter Soldaten ein umstrittenes MDMA-Projekt in Kooperation mit dem Militär durchgeführt.
Es wird deutlich, dass Microdosing zwar dem jeweiligen Individuum effektiv und mit wenigen bis gar keinen Nebenwirkungen helfen kann, am falschen Ganzen aber nichts verbessert. Im schlimmsten Fall optimiert es nur die Verwaltung des Elends. | Daniel Sanin | Daniel Sanin: Produktives High. Der Trend zur Mikrodosierung von LSD und anderen Drogen | [
"Drogen",
"Selbstoptimierung"
] | Lifestyle | 09.03.2017 | https://jungle.world//artikel/2017/10/ein-besseres-erleben-im-falschen?page=0%2C%2C2 |
Die Gewaltbereitschaftspolizei | Die Anklage war eindeutig: Am 17. April, nach dem Gastspiel des FC St. Pauli bei Union Berlin, soll Anne H. nahe dem Gästeeingang des Stadions an der Alten Försterei einen Polizisten der Berliner Bereitschaftspolizei angegriffen und verletzt haben. Im Prozess gegen sie zeichneten Zeugenaussagen und ein vorgelegtes Handyvideo jedoch ein deutlich anderes Bild der Geschehnisse und legen den Schluss nahe, die Angeklagte sei vielmehr Opfer brutaler Polizeigewalt geworden.
Der hinreichend bekannte ACAB-Spruch (»All cops are bastards«) ist bei den Anhängern des FC St. Pauli eher selten zu vernehmen – immerhin jubeln sie Woche für Woche Fabian Boll zu, einem Spieler, der neben seiner fußballerischen Karriere auch als Oberkommissar bei der Hamburger Kriminalpolizei tätig ist. Dass jedoch zumindest einige seiner Kollegen von einem ganz anderen Schlag sind, zeigte sich jüngst wieder bei einem Gerichtsprozess, der in den vergangenen Wochen am Amtsgericht Tiergarten in Berlin geführt wurde.
Der Vorfall, um den es in dem Prozess ging, trug sich auf dem Gelände einer Tankstelle gleich neben dem Gästeeingang des Stadions an der Alten Försterei in Berlin-Köpenick zu. Einige Zeit nach dem Abpfiff der Zweitligapartie zwischen Union und St. Pauli befanden sich dort noch immer einige Fans der Gastmannschaft, als einige Mitglieder der Hell’s Angels auf ihren Motorrädern auftauchten und prompt von der anwesenden Bereitschaftspolizei kontrolliert wurden. Während die Personalien der Gangmitglieder überprüft wurden, versuchte der Fahrer eines Mannschaftswagens der Polizei, rückwärts auf die Tankstelle zu fahren. Im Einfahrtsbereich befanden sich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch immer einige Fußballfans, von denen einer offenbar so stark alkoholisiert war, dass er der wiederholten Aufforderung der Polizei, den Weg frei zu machen, nicht ohne fremde Hilfe nachkommen konnte. Die ebenfalls anwesende Anne H. wollte ihm ihrer eigenen Aussage zufolge zu Hilfe kommen, geriet dabei jedoch in eine Situation, die sich heute nicht mehr in Gänze nachvollziehen lässt.
Was sich jedoch mit Sicherheit aus den Zeugenaussagen und einem vorgelegten Handyvideo rekonstruieren lässt, ist, dass einige St.-Pauli-Fans und Beamte der Bereitschaftspolizei aneinandergerieten und einander schubsten. Nach Aussagen von Polizisten soll dabei auch mit Bier gespritzt worden sein, außerdem seien auch Beleidigungen gefallen.
Marcus P., einer der vor Ort eingesetzten Bereitschaftspolizisten, hatte nach dem Einsatz zu Protokoll gegeben, er sei in dieser Situation von der Angeklagten an den Hals gefasst und verletzt worden. Dies wurde vor Gericht allerdings von keinem einzigen Zeugen bestätigt – übrigens auch von ihm selbst nicht, denn er verweigerte die Aussage.
Was jedoch vier Zeugen – darunter auch einer der Kollegen P.’s – und das Handyvideo belegen, ist, dass P. in der Folge der Angeklagten mit der Faust ins Gesicht schlug, nach Aussage von Anne H. mindestens dreimal. Anschließend packte der Beamte sie an den Haaren und drückte sie mit Gewalt zu Boden, um sie dann festzunehmen. Mehrere der Umstehenden empörten sich sofort lautstark über dieses Vorgehen, ein Augenzeuge erstattete noch an Ort und Stelle Anzeige gegen den Polizeibeamten.
Anne H. selbst trug schwere Verletzungen davon. Ihre Nase war gebrochen, vier Zähne waren abgesplittert, beide Augen wiesen Schwellungen und Hämatome auf. Nach drei Stunden in Polizeigewahrsam kam die junge Frau endlich ins Krankenhaus, aus dem sie erst am nächsten Tag entlassen wurde.
Während des Gerichtsprozesses schienen selbst der Richter und die Staatsanwaltschaft überrascht bis geschockt über die Gewalt, die von Marcus P. ausgegangen war. Das Ausmaß der Unstimmigkeiten zwischen den zunächst protokollierten Aussagen der Bereitschaftspolizisten und dem, was diese nun, da sie wussten, dass es ein Video des Vorfalls gab, vor Gericht aussagten, verblüfft: Hatten die Beamten zuvor noch die Angeklagte belastet, gaben sie nun zu, keinen Angriff der Angeklagten mit eigenen Augen gesehen zu haben. Sie hätten lediglich zu Protokoll gegeben, was sie erst später von Marcus P., also eben jenem Polizisten, der die Angeklagte krankenhausreif geprügelt hatte, gehört hätten.
Anne H. wurde daraufhin in fast allen Anklagepunkten freigesprochen. Für die Beleidigung, die sie auch selbst zugegeben hatte, beließ es der zuständige Richter »in Anbetracht der Umstände« bei einer Verwarnung und einer niedrigen Geldstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er blieb damit sogar noch hinter den ohnehin schon bescheidenen Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück. Die Angeklagte und ihr Verteidiger zeigten sich entsprechend erleichtert über das Urteil.
Das Strafverfahren gegen Marcus P. wegen Körperverletzung im Amt und Verfolgung Unschuldiger war zu diesem Zeitpunkt schon längst wieder eingestellt worden. Immerhin dürfte das Verfahren auf Grundlage der nun vorliegenden neuen Beweise und Zeugenaussagen noch einmal aufgerollt werden, zumal jetzt auch die Betroffene Strafantrag gestellt hat.
Dass es um die Strafverfolgung von Polizeigewalt in der Bundesrepublik nicht gerade gut bestellt ist, zeigte vor einiger Zeit ein Bericht von Amnesty International zu eben diesem Thema. So gab es alleine in Berlin in jedem der vergangenen Jahre mehrere hundert Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung – zu Verurteilungen kam es jedoch in weniger als einem Zehntel der Fälle. Sehr viel öfter als in Verfahren gegen Menschen, die nicht der Polizei angehören, kam es nicht einmal zu einem Gerichtsverfahren. Auch dass Verfahren gegen gewalttätige Polizeibeamte – wie in diesem Fall – erst ins Rollen kommen, nachdem zunächst die Betroffenen selbst vor Gericht gestanden haben, ist keine Seltenheit. Eine Ursache hierfür dürfte in der mangelnden Unabhängigkeit der Untersuchungen liegen oder, wie es Katharina Spieß von Amnesty International ausdrückt: »Wenn die Polizei gegen sich selbst ermittelt, ermittelt sie häufig nicht umfassend.« Auch die enge Zusammenarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft sowie der Vertrauensvorschuss, den erstgenannte bei letztgenannter offenbar genießt, stellt immer wieder ein Problem dar.
Der Verlauf des jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit anstehenden Prozesses gegen Marcus P. darf mit Spannung erwartet werden. Sollte der Fall wider Erwarten nicht neu aufgerollt werden, wäre das ein Skandal, der die Staatsanwaltschaft in einige Erklärungsnöte bringen dürfte. Immerhin hat selbst der zuständige Richter im Prozess gegen Anne H. in seiner Urteilsbegründung das Verhalten des Polizeibeamten als »aggressiv« bezeichnet und davon gesprochen, dass das, was Anne H. zugestoßen ist, möglicherweise sogar als Misshandlung zu werten sei. Es ist auch nicht ganz ohne Komik, dass Marcus P. in der Zwischenzeit – und das trotz der gegen ihn erhobenen Vorwürfe – sogar zum Kommissar befördert wurde. Ob ihm das beim nun fälligen Rückspiel hilft, ist fraglich. | Jan Tölva | Jan Tölva: Umstrittener Prozess wegen Gewalt gegen die Polizei in Berlin | [] | Sport | 02.12.2010 | https://jungle.world//artikel/2010/48/die-gewaltbereitschaftspolizei |
»Laduuuuuma!« statt »Toooooor!« | Zu den wichtigsten Büchern, die Bartholomäus Grill kürzlich gelesen hat, gehört »Architects of poverty« (»Architekten der Armut«). Verfasst hat es der Südafrikaner Moeletsi Mbeki, ein in seinem Land recht prominenter Autor. Er ist der Bruder des früheren Präsidenten Thabo Mbeki, den er oft scharf kritisierte, hat früher für die BBC gearbeitet, war Medienberater der Regierungspartei ANC und führt derzeit die südafrikanische Filiale der TV-Produktionsfirma Endemol. In einem Kapitel, das Grill besonders beeindruckt, beschreibt Mbeki, dass nach dem Ende des Apartheid-Regimes die alten südafrikanischen Eliten keineswegs ihre Macht eingebüßt hätten. Vielmehr sei es ihnen gelungen, »Führer des schwarzen Widerstands« aus dem Umfeld des ANC »zu kooptieren und sie im wahrsten Sinne des Wortes zu kaufen, um letztlich den ANC von radikalen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, etwa der Verstaatlichung wichtiger Industriezweige, abzuhalten.« Bereits lange vor dem Ende der Apartheid habe das weiße Establishment überlegt, wie es in dem neuen System seine Stellung bewahren könne.
Grill, der in Johannesburg lebende Afrika-Korrespondent der deutschen Wochenzeitung Die Zeit, redet viel über das Buch des Kollegen Mbeki, obwohl er selbst gerade eines veröffentlicht hat: »Laduuuuuma! Wie der Fußball Afrika verzaubert«. Im Gespräch widmete er sich »Architects of poverty« so ausführlich, weil er befürchtet, dass in dem Bild, das sich die Weltöffentlichkeit in den kommenden Wochen von Südafrika, dem Austragungsland der Fußball-WM, machen wird, solche Aspekte kaum vorkommen werden.
Bei der Südafrika-Berichterstattung der vergangenen Monate sind Grill noch andere Dinge negativ aufgefallen – vor allem die eurozentrische Herablassung. »Dieses Land hat eine bessere Infrastruktur als zum Beispiel Rumänien«, sagt Grill. Viele Kritiker haben zudem die Frage aufgeworfen, inwiefern es überhaupt angemessen sei, dass ein Land, das derart von sozialen Problemen geprägt ist, den Bau von Stadien finanziert, die nach der WM nur selten ihren Zweck erfüllen dürften. Zumal die Zuschauerzahlen in der 1. Liga, der Premier Soccer League, in der Regel nur vierstellig sind. Diesen Einwand kann Grill nur bedingt nachvollziehen. Letztlich habe jedes Land objektiv dringendere Bedürfnisse, als eine internationale Sportgroßveranstaltung auszurichten, sagt er. Das gelte auch für so ein reiches Land wie Deutschland.
In seinem Buch arbeitet Grill immer wieder heraus, wie eng Fußball und Politik miteinander verwoben sind. In diesem Zusammenhang rekapituliert er auch »eine der schönsten Geschichten, die die Fußball-Historie erzählt«. Es geht dabei um die Bedeutung des Liga-Spielbetriebs auf der Kerkerinsel Robben Island, auf der Nelson Mandela 28 Jahre inhaftiert war. 21 Mannschaften kämpften in der 1970 gegründeten Gefängnis-Liga, die in drei Spielklassen unterteilt war, um Punkte. Der höchst umstrittene Staatspräsident Jacob Zuma erwies sich hier einst als »kompromissloser Außenverteidiger und Abwehrchef« (Grill), auch der spätere Sportminister Steve Tshwete kickte mit. »Fußball spendete den Gefangenen Hoffnung, er stärkte Körper und Geist, er einte sie im Kampf gegen die inhumanen Haftbedingungen. Er öffnete das Tor zur inneren Freiheit«, schreibt Grill.
In »Laduuuuuma!« – mit diesem Ausruf bejubelt man in Südafrika ein Tor (»Laduma«) – beschreibt Grill auch die Bedeutung des Fußballs in anderen afrikanischen Staaten. Im Mittelpunkt der traurigsten Geschichte, dem Gegenpol zum Kapitel über Robben Island, steht ein Zweitligateam aus Ruanda, das sich im Zuge des Völkermords 1994 selbst zerstörte. In der Mannschaft von Bugesera Sports – heute heißt der Klub Nyamata FC, weil nichts mehr an die finsteren Zeiten erinnern soll – standen damals fünf Hutu, fünf Tutsi und ein »Mischling«. Grill greift in diesem Kapitel auf die Erinnerungen des Spielers Evergiste Habihirwe zurück: »Als das große Morden begann, floh Habihirwe, ein Tutsi, zu seinem besten Freund Ndayisaba, einem Hutu. Ndayisaba war der linke Verteidiger von Bugesera Sport. ›Als ich auf seinen Hof kam, hatte er die Machete noch in der Hand, mit der er bereits zwei Kinder in Stücke gehauen hatte.‹ Von Todesfurcht gepackt, versteckte sich Habihirwe in den Hirsefeldern. ›Ich hörte, wie meine Mitspieler aus der Mannschaft um mein Haus herum Jagd auf mich machten.‹« Die Episode zeigt, wie wenig sportliche Verbundenheit wert ist, wenn Ideologie ins Spiel kommt. Ihn habe die Geschichte dieser Mannschaft »ziemlich niedergeschmettert«, sagt Grill.
Bei afrikanischen Fußball-Anhängern diagnostiziert der Autor grundsätzlich einen »Inferioritätskomplex«. »Wenn im Fernsehen ein Spitzenspiel der Champions League übertragen wird, bleiben die Stadien, in denen gerade einheimische Partien laufen, leer.« Die Fans sähen die in Europa spielenden Stars als »Role Models«, sagt er. »Blättert man am Montag die Zeitungen in anglophonen Ländern wie Kenia, Nigeria, Ghana oder Simbabwe durch, findet man nur selten ausführliche Berichte über die Spiele am Wochenende. Wenn man Glück hat, wird die Tabelle abgedruckt. Dafür sind die Seiten mit großen Geschichten über den britischen Fußball gefüllt.«
Das WM-Gastgeberland indes hat derzeit keinen Weltklassespieler. Aber immerhin ist die Soccer Premier League im innerafrikanischen Vergleich die finanziell attraktivste Spielklasse – neben der ersten ägyptischen Liga. In Südafrika fließt das Geld dank einiger mafiös auftretender Clubbosse: »Die spielstärksten und sportpolitisch einflussreichsten Vereine befinden sich in den Händen von Milliardären, die wie Autokraten herrschen und nicht nur unfehlbar, sondern auch nicht zu sprechen sind.« Grills Interviewanfragen bei den Bossen der Mamelodi Sundowns, Orlando Pirates und Kaizer Chiefs bleiben stets ohne Erfolg. Als er versucht, einen Termin mit Patrice Motsepe, dem Präsidenten der Mamelodi Sundowns, zu bekommen, lässt Grill gegenüber dem Pressesprecher die Bemerkung fallen, dass er einmal Nelson Mandela interviewt habe. »Na und?« kontert der Vereinsangestellte. Dabei deutet er an, dass man eine finanzielle Gegenleistung für das Interview erwarte – und das, obwohl Vereinsfürst Motsepe, der über ein Bergbau-Imperium herrscht, nicht allzu dringend auf solche Zuwendungen angewiesen ist. Es könne in Afrika aber auch vorkommen, dass sich Berichterstatter bei Verbänden nach Extra-Honoraren für eine besonders wohlwollende Darstellung eines Nationalteams erkundigten, sagt Grill.
Neben den vielfältigen Formen der Korruption benennt der Zeit-Korrespondent ein weiteres Kernproblem des afrikanischen Fußballs. Während man in den reichen Ländern dazu neigt, den »Straßenfußball« und sonstige archaische Spielformen zu romantisieren, ist Grill solche Folklore fremd. Afrikanische Kicker könnten »nicht hart und genau schießen, weil sie immer nur barfuß gespielt haben«, bemängelt Burkhard Pape, ein leutseliger Trainer aus Deutschland, der in mehreren Ländern des Kontinents arbeitete. Klingt das nicht ein bisschen klischeehaft? »Nein«, sagt Grill, »wer jemals barfuß gegen einen nassen Lederball getreten hat, weiß, dass es einen großen Unterschied macht, ob man barfuß oder mit einem geschnürten Schuh spielt.« Bartholomäus Grill: »Laduuuuuma! Wie der Fußball Afrika verzaubert.« Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, 256 Seiten, 20 Euro | rene martens | rene martens: Über das Buch »Laduuuuuma! Wie der Fußball Afrika verzaubert« | [] | Sport | 10.06.2010 | https://jungle.world//artikel/2010/23/laduuuuuma-statt-toooooor?page=0%2C%2C0 |
Der Bankrott des Heiligen Geistes | Es ist einer der spektakulärsten Abstürze in der portugiesischen Wirtschaftsgeschichte. In den vergangenen Monaten verlor der Banco Espírito Santo (BES), bis dahin größte Bank des Landes, über drei Milliarden Euro seines Marktwertes an der Börse. Bereits Ende Mai war ruchbar geworden, dass die Holdinggesellschaft Espírito Santo International, zu der auch der BES gehörte, Verluste in Höhe von 1,3 Milliarden Euro verschleiert haben soll. Dies ließ auch Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des Banco Espírito Santo aufkommen. Anfang August intervenierte schließlich die portugiesische Zentralbank. Ricardo Espírito Santo Salgado, seit 22 Jahren unangefochtener Direktor des BES, musste seinen Posten räumen und wurde kurze Zeit später wegen Verdachts auf Steuerbetrug und Geldwäsche verhaftet. Nach Zahlung einer Kaution von drei Millionen Euro wurde er wieder entlassen. Die Bank wird nun aufgeteilt. Die faulen Kredite des BES sollen in eine Bad Bank ausgelagert werden. Eigentümer sind die bisherigen BES-Aktionäre, die auch die Verluste tragen. Die vermeintlich überlebensfähigen Geschäftsbereiche firmieren künftig unter dem Namen Novo Banco. Diese Bank erhält kurzfristig rund fünf Milliarden Euro aus Mitteln der »Troika«, um ihren Kapitalbedarf zu decken. Nach der erfolgreichen Umstrukturierung soll die Bank wieder verkauft werden und die investierten Gelder sollen an den Staat zurückfließen. Die bisherige Eigentümerin der Bank, die Familie Salgado, ist in dem neuen Unternehmen nicht mehr vertreten. Damit endet abrupt eine über 170 Jahre alte Bankiersdynastie, die zusammen mit einer Handvoll anderer einflussreicher Familienunternehmen die jüngere Geschichte Portugals dominiert hat. Der eigentümliche Name der Bank – espírito santo bedeutet »heiliger Geist« – leitet sich vom Firmengründer ab, der als Findelkind von einem Pfarrer auf den Namen José Maria Espírito Santo Silva getauft wurde. Mit 19 Jahren eröffnete er eine kleine Wechselstube, wo er Wertpapiere und Lotteriescheine verkaufte. Seine Erben entwickelten daraus ein Geflecht von Unternehmen, aus denen der Banco Espírito Santo entstand. Ihren eigentlichen Aufstieg erlebte die Bank in der Zeit des »Estado Novo«, des faschistischen Staats unter António Oliveiro Salazar von Anfang der dreißiger Jahre bis 1974. Der damalige BES-Direktor Ricardo Ribeiro Espírito Santo avancierte zum wichtigsten Finanzberater des Diktators, so dass private und staatliche Interessen bald kaum mehr zu unterscheiden waren. Während des Zweiten Weltkriegs konnte die Bank mit Sitz in einem der wenigen neutralen Staaten Europas ihren Umsatz vervierfachen. Während es Salazar zumindest formal gelang, den Schein der Unabhängigkeit zu wahren, landete die Bank zeitweise auf einer schwarze Liste des britischen Außenministeriums, weil sie mit Nazi-Deutschland geschäftlich verbunden war.
Nach dem Krieg expandierte der BES in die portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik, aber auch nach Südamerika. Nachdem die Bank kurz nach der Nelkenrevolution von 1974 verstaatlicht worden war, zog sich die Familie nach Brasilien zurück. Ende der achtziger Jahre leitete der sozialdemokratische Ministerpräsident Mario Soares die Reprivatisierung der Bank ein, die bald wieder zur alten Größe zurückfand.
Unterstützt wurde sie dabei vor allem von der französischen Bank Crédit Agricole. Die Kooperation war ganz im Sinne der damaligen sozialistischen Regierung unter Präsident François Mitterrand, die einen wirtschaftlichen Expansionskurs in Südeuropa verfolgte. Heute gehört die Crédit Agricole, die als Großaktionärin voraussichtlich rund eine Milliarde Euro abschreiben muss, ebenso zu den großen Verlierern der Pleite wie das angolanische Tochterunternehmen des BES. Dieses soll in den vergangenen Jahren Kredite in Höhe von fast sechs Milliarden US-Dollar an Mitglieder der Regierung in Luanda vergeben haben, über deren Verbleib nichts bekannt ist. Diese Verluste trugen dazu bei, dass mit dem BES wohl auch die Epoche des Familienkapitalismus in Portugal endet. | Anton Landgraf | Anton Landgraf: Portugals größte Bank ist pleite | [] | Ausland | 14.08.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/33/der-bankrott-des-heiligen-geistes?page=0%2C%2C1 |
Anti-James-Bond in Indien | Man hat eine Stoppuhr und ein Thermometer zur Verfügung. Wie bestimmt man die Höhe des Raumes? Antwort: Man läßt das Thermometer von der Decke auf den Boden fallen und stoppt die Zeit. Weil alle Dinge gleich schnell fallen, kann man daraus die Raumhöhe errechnen. Das ist das typische Wissen, mit dem Nerds ihre Umgebung zu terrorisieren pflegen. Um Nerd-Wissen auch für die in der Überzahl befindlichen Nicht-Nerds interessant zu machen, wird es in Erzählungen nicht selten nach Ägypten, Mesopotamien oder Indien ausgelagert und mit allerlei sagenhafter Mystik und Exotik angereichert, die den einzigen Zweck verfolgen, unfreiwillige Zuhörer bei der Stange zu halten. Es ist dieselbe Form schmieriger Exotik, die auch in Pornoproduktionen vornehmlich der achtziger Jahre zumeist vergeblich bemüht wird, um dem ansonsten profanen Geschehen so etwas wie Tiefgang und allegorische Bedeutung zu implantieren. Nicht von ungefähr müssen in jeder James Bond-Produktionen wenigstens ein paar jener wildromantischen Locations auftauchen, auf deren einschlägige Symbolik sich Reiseführer immer schon im Vorfeld verständigt haben. Nach ähnlichem Schema verfährt auch Marcus Brauns Debütroman "Delhi", mit dem feinen Unterschied, daß der Autor sich dieser Mechanismen vollständig bewußt ist und so auf der nächsthöheren Ebene sein Spiel mit ihnen treiben kann. Das Buch ist durchsetzt mit Nerdwissen, Rätseln, Schachaufgaben etcetera. Es spielt in einem Pappmaché-Indien, das mit gängigen Klischees vollgestellt ist: Elend und Armut, Mystik und Spiritualismus, Erotik und Verbrechen. Der Plot erinnert anfänglich an eine genretypischen Agententhriller: Der frisch diplomierte Architekt Goester gerät in Delhi in ein Komplott, dessen Ziel die Ermordung eines fanatischen indischen Politikers zu sein scheint. So langweilig das alles klingt, bildet es glücklicherweise nur die Folie für etwas ganz anderes: einen literarischen Trip der dritten Art, einen rätselhaft idyllischen Alptraum, der sich aus dem blubbernden Sumpf der Klischees erhebt. Der sympathisch derangierte Anti-James Bond Goesters hat ohnehin schon genug mit dem Kulturschock zu kämpfen und deliriert sich so zusätzlich durch ein unlogisches Gestrüpp aus Konspirationen, an denen er so unfreiwillig teilnimmt. Überall lauern semiotische, erotische und alkoholische Anfeindungen, die ihn aus der Bahn zu werfen drohen, was gegen Ende auch vollständig gelingt. Begleitet wird er von einem gnadenlosen Erzähler, dem wir nur so weit trauen dürfen, wie wir eine Motorrikscha werfen können. Alles verdichtet sich zu einem fiebrigen, paranoiden Stream of Consciousness, falls von Bewußtsein hier noch die Rede sein kann. Goester will alles ganz genau wissen und kapiert überhaupt nichts. Anstatt sich ins europäisch-dekadente Goa aufzumachen, das bald nur noch ein utopischer Fluchtpunkt ist, bleibt Goester im orientalisch-dekadenten Delhi stecken, eckt er an jeder Hauswand an und bekommt am Ende die Quittung; mit aufgeschlitztem Bauch liegt er am Strand. Womöglich hätte er auf den alten Sikh hören sollen, der ihm riet: "Unsere Wahrheiten sind nur Entscheidungen zu einem praktischen Zweck. Wir leben auf einem Nagelbrett, jede einzelne Tatsache ist in der Lage, uns zu durchbohren, zu töten, wenn wir aber nicht zu genau hinsehen, dann geht's, dann tragen uns die Tatsachen." Wer das indes für eine tiefere Wahrheit hält oder gar etwas daraus lernen möchte, der hat das Buch nicht verstanden. Marcus Brauns "Delhi" lebt weder vom Plot noch vom Ambiente, sondern von der Irreführung und den sprachlichen Eskapaden. Es ist literarischer Sophismus in Reinform und läßt nur sehr bedingt Rückschlüsse auf irgendeine Realität zu. Darin gibt es jedoch Momente von perfekter Idylle, wenn das logische Sprachspiel und die weit hergeholte Metapher sich mit dem decken, was für Realität zu halten wir uns angewöhnt haben. Etwa wenn ein Käuzchen ein Kind nachahmt, "das ein Käuzchen nachahmt", oder wenn auf einem Hund "Fliegen und wanzenartige Blutsauger" sitzen, "den Sternenhimmel nachäffend". Als Marcus Braun 1997 als einer der ersten mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet wurde, kannten den Autor nur die wenigen, die seine Erzählungen aus dem kleinen Dreieck-Verlag gelesen hatte. Jetzt wird ein breites Berlin Verlag-Publikum das Buch nicht verstehen und für Reiseliteratur halten. Das ist so, als ob man nur mit einem Thermometer und einer Stoppuhr die Fallhöhe von Literatur ermitteln wollte. Marcus Braun: Delhi. Berlin Verlag, Berlin 1999, 173 S., DM 29,80 | Holm Friebe | Holm Friebe: | [] | dschungel | 14.04.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/15/anti-james-bond-indien?page=0%2C%2C0 |
»Man ist sich näher, als es oft erscheint« | Sie haben kürzlich in Moskau Ihren Film »Mietrebellen« über die Berliner Mieterbewegung gezeigt. Wen interessiert das dort?
Coers: Wir wurden mit dem Film vom kritischen Kunst- und Medienfestival Media Impact mit Unterstützung des Goethe-Instituts Moskau eingeladen. Im Anschluss an die Präsentation gab es mit über 40 Zuschauern eine Diskussion zum Verständnis der Situation in Berlin, aber auch über die Frage des Wohnens in der russischen Metropole. Für die Lage der Mieter in Berlin gab es starke Empathie, aber es gab auch Erstaunen darüber, mit welchem Aufwand und mit welcher Heftigkeit zum Beispiel Zwangsräumungen in Deutschland durchgesetzt werden.
Gab es Kontakte mit russischen »Mietrebellen«?
Coers: Von einer Mieterbewegung kann dort nicht gesprochen werden, was schon an der Struktur des Wohnens liegt. Die meisten Menschen leben in Wohnungen, die ihnen nach Ende des Realsozialismus überschrieben wurden. Sie sind mit dem Aufbringen von Erhaltungs- und Energiekosten belastet. Zudem übersteigen die Wohnkosten oft das Einkommen. Zur Miete wohnen ist nicht die Regel, auch wenn sich die Mieterrechte im vergangenen Jahr etwas verbessert haben sollen. Doch sind für eine 60-Quadratmeter-Wohnung schnell 1 000 Euro monatlich fällig, auch wenn sie eher in der Peripherie liegt. Wobei zum Beispiel eine Lehrerin oft nur 400 bis 500 Euro im Monat verdient. Beim Erwerb von Eigentumswohnungen werden zum Beispiel in den Innenstadtbezirken von Moskau schnell 8 000 Euro pro Quadratmeter fällig.
Ihre Reihe »Wohnen in der Krise« war eines der wenigen Beispiele für transnationale Kontakte unter widerständigen Mieterinnen und Mietern. Wie ist das Projekt entstanden?
Dallmer: Die Reihe »Wohnen in der Krise«, deren Dokumentation als Youtube-Kanal häufig abgefragt wird, ist aus den Diskussionen des Donnerstagskreises der Berliner Mietergemeinschaft entstanden. Nach der kritischen Auseinandersetzung mit Methoden der militanten Untersuchung und des Community Organizing war das Bedürfnis groß, die Lebenswirklichkeit und die konkreten Fragen des Wohnens in verschiedenen europäischen Ländern in den Blick zu bekommen und zu verstehen. Wir haben Experten und Aktivisten eingeladen und lokale Videos übersetzt, so konnten in Berlin bisher unbekannte Informationen aus den Nachbarländern zusammengetragen werden. In den als PDF zur Verfügung stehenden Ausgaben der Zeitschrift Mieter Echo des vorigen Jahres sind die Veranstaltungsinhalte auch noch einmal verschriftlicht zu finden. Die entstandenen Kontakte werden weiter gepflegt, tatsächlich und konkret zum politischen Austausch genutzt und sind schon bei Aktionen auf europäischer Ebene zum Tragen gekommen.
Kam es durch die Veranstaltungsreihe zu einer besseren Koordination?
Dallmer: Ja, es sind lebendige Kontakte nach Polen, Spanien, Griechenland, Russland, in die Niederlande, Frankreich, die Türkei, Großbritannien und Schweden entstanden. In Wechselwirkung mit unserer Reihe hat sich auch die »Europäische Aktionskoalition für das Recht auf Wohnen und die Stadt« herausgebildet, in der inzwischen Gruppen aus 20 Ländern zusammenarbeiten. Derzeit bilden sich internationale Arbeitsgruppen zu den Themen Finanzialisierung des Wohnungsmarkts, Europäische Charta für das Recht auf Wohnen und Widerstand gegen Zwangsräumungen.
Coers: Trotzdem dürfen diese Verbindungen in Relation zu den Angriffen, denen die Menschen derzeit in den Fragen des Wohnens ausgesetzt sind, nicht überschätzt werden. Die Aktiven sind teils im professionellen Bereich des Wohnrechts, der Sozialfürsorge oder in wissenschaftlichen Zusammenhängen zeitlich stark eingebunden und nur wenige können einen Großteil ihrer Arbeitszeit in die Entwicklung von europäischer Zusammenarbeit investieren. So bleibt der Austausch lose, auch wenn eine Tendenz zur Verstetigung spürbar ist.
Warum entwickeln sich transnationale Kontakte in der Mieterbewegung besonders schwer?
Coers: Einerseits sind es die zeitökonomischen Grenzen der Beteiligten, die räumlichen Entfernungen und die Sprachgrenzen, die immer wieder aufs Neue überwunden werden müssen. Entscheidend ist aber, dass auch große Gruppen mit Hunderten dauerhaft Aktiven wie »Recht auf Wohnen« (Droit Au Logement, DAL) in Frankreich oder die »Plattform der Hypothekenbetroffenen« (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, PAH) in Spanien in den jeweiligen Ländern mit den konkreten Aufgabenstellungen und Problemen stark beschäftigt sind. Von einer transnationalen Ebene ist nicht direkt praktische Hilfe zu erwarten, sondern es geht um Austausch, Erfahrungs- und Wissensvermittlung, letztlich darum, die eigene Situation besser zu verstehen und angehen zu können. Allein das praktische Wissen darum, dass an unterschiedlichsten Orten mit unterschiedlichen Strategien widerständig Auseinandersetzungen geführt werden, wirkt bestärkend. Auch transnationale Gewerkschaftsarbeit hat auf europäischer Ebene leider zu wenig Relevanz. Die Arbeitszusammenhänge einer Mieterbewegung von unten sind um ein Vielfaches fragiler, verschaffen sich aber durchaus Gehör.
Dallmer: Es gibt Schwierigkeiten, doch es zeigen sich momentan immer mehr Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Bereichernd für die eigene Praxis sind die Aktivitäten der Freundinnen und Freunde aus den anderen Ländern allemal. Eine Frage ist beispielsweise der Bezug auf die Europäische Union. Soll für verbindliche europäische Vereinbarungen im Bereich des Wohnens gekämpft werden oder nicht? In Ländern mit geringem Mieterschutz wird diese Frage oft bejaht, da man sich von internationalem Druck Verbesserungen erhofft. In Ländern, wo gute Mieterrechte realisiert wurden, herrscht eine gewisse Skepsis, ob so das lokale Mietrecht nicht eingeschränkt werden könnte. In der Europäischen Aktionskoalition wird gerade debattiert, ob gemeinsam gegen internationale Akteure auf dem Immobilienmarkt, etwa das Immobilienverwaltungsunternehmen Camelot, vorgegangen werden kann.
Welche Rolle spielt dabei die Tatsache, dass in einigen Ländern viele Menschen in Eigentumswohnungen leben, in anderen, wie Deutschland, aber mehrheitlich zur Miete?
Dallmer: Protest und Widerstand richten sich an unterschiedliche Adressaten. Während es in Deutschland oft um Mietzahlungen an private Vermieter geht, sind es in Spanien die Banken, an die Kredite zurückgezahlt werden sollen. Wegen der Finanzialisierung der Immobilienunternehmen und da die meisten Menschen, die Kredite zurückzahlen sollen, dies auf absehbare Zeit nicht schaffen und somit nie wirkliche Eigentümer werden, hat sich bei Mieterkämpfen im Ruhrgebiet der Kampfruf »Wir sind alle Mieter der Banken« etabliert. Man ist sich näher, als es oft erscheint.
Coers: Nach Filmdiskussionen in Neapel, Wien, Glasgow, Amsterdam, Córdoba, Moskau und Diskussionsberichten aus Dublin, London, New York, dem Kosovo und Mexiko muss man sagen, dass es nicht darauf ankommt, ob zur Miete oder in Eigentumswohnungen gewohnt wird. Die Menschen werden aktiv, wenn die Wohnraumversorgung nicht mehr gewährleistet ist oder die Wohnraumkosten sie erdrücken. Und sie denken auch entsprechend über die nationalen Grenzen hinweg solidarisch. Es ist aber deutlich geworden, dass ein Wissensaustausch stattfinden muss, damit die jeweilige konkrete krisenhafte Situation auch verstanden werden kann. Verallgemeinert formuliert, ist bei den Aktivisten und Gruppen zum Thema Wohnen die Frage nach sozialer Gerechtigkeit sehr präsent. Auf mögliches Versagen jeweiliger Volkswirtschaften wird vornehmlich nicht geschaut, sondern eher auf die politische und ökonomische Verfasstheit in transnationaler Perspektive.
Es gab Ende Oktober in Córdoba eine europäische Konferenz der Bewegung gegen Zwangsräumungen. Wurde dort auch über diese Schwierigkeiten der Koordination geredet?
Dallmer: Ja, allerdings sind diese internationalen Kooperationen noch ganz jung und da ist es nicht verwunderlich, dass viele Fragen bisher noch offen sind. Die meisten Beteiligten waren sich einig, dass es erst einmal entscheidend sei, ein Bewusstsein füreinander zu bekommen. Aktive aus verschiedenen Ländern traten an uns heran, um »Mietrebellen« in ihren Stadtvierteln aufzuführen.
Gab es Fortschritte bei der transnationalen Koordination der Mieterbewegung?
Dallmer: Es gibt auf jeden Fall einige Fortschritte. Bei einem internationalen Treffen in London zu Protesten gegen die Immobilienmesse MIPIM sind beispielsweise viele Gruppen aus Osteuropa das erste Mal überhaupt aufeinandergetroffen und planen jetzt ein osteuropäisches Treffen der Mieterbewegungen mit Berliner Beteiligung.
Coers: Unser persönlicher Beitrag besteht aktuell darin, den Film »Mietrebellen« auch international zu verbreiten, um über die Verhältnisse hier aufzuklären und am Beispiel von Berlin zu ermutigen, dass es sich lohnt, den aufgezwungenen Zumutungen mit Ausdauer widerständig entgegenzutreten, und dass sich zugleich auch schon kleinteilige Erfolge lohnen.
In Budapest, Den Haag, Barcelona, Poznań, Brest, Bukarest, Athen und Istanbul sowie in Toronto, Seoul, Hongkong und Mumbai sind überwiegend in Zusammenarbeit mit politischen Gruppen Aufführungen in Planung. Zudem beteiligen wir uns an einer weiteren Veranstaltung der Reihe »Wohnen in der Krise« zur historischen und aktuellen Situation in Graz und Wien. | Peter Nowak | Peter Nowak: Matthias Coers und Grischa Dallmer im Gespräch über die deutsche und internationale Mieterbewegung | [] | Interview | 20.11.2014 | https://jungle.world//artikel/2014/47/man-ist-sich-naeher-als-es-oft-erscheint?page=0%2C%2C1 |
Die Spende vor dem Sturm | Mindestens eine Spur des rechtsextremen »Sturms auf das Kapitol« am 6. Januar in Washington, D.C., führt nach Frankreich. Im Dezember hatte ein Franzose, dessen Identität bislang nicht bekannt wurde, über eine halbe Million US-Dollar, umgerechnet etwa 420 000 Euro, an US-amerikanische Empfänger gespendet, von denen viele zur extremen Rechten gehören. Dafür interessieren sich mittlerweile auch Ermittlungsbehörden in den USA. Das Wirtschaftsberatungsunternehmen Chainalysis, dessen Untersuchung zu dem Vorgang von Yahoo News und kurz darauf von einer Reihe französischer Medien übernommen wurde, hatte berichtet, der Betreffende habe 28,15 Einheiten der elektronischen Währung Bitcoin an 22 verschiedene Adressen überwiesen. Die Konten gehören überwiegend rechtsextremen Aktivisten und Internet-Medienmachern. Unbestätigten Medieninformationen zufolge handelte es sich bei dem Spender um einen Programmierer, der kurz darauf und noch vor den jüngsten Veröffentlichungen Selbstmord beging. In einem Blogbeitrag soll er eine Art schriftliches Vermächtnis hinterlassen haben. Ob der Spender den Aufmarsch vom 6. Januar noch erlebte, ist derzeit nicht bekannt. Einige Stunden nach den Ereignissen auf dem Kapitolshügel akzeptierte Marine Le Pen das US-Wahlergebnis. Alexandre Gabriac zeigte sich verzückt. 2010 hatte ihn der damalige Front National (FN) – inzwischen in Rassemblement National (RN, Nationale Sammlung) umbenannt – ausgeschlossen, nachdem er ein Foto von sich selbst in einer Pose mit Hitlergruß auf Facebook veröffentlicht hatte; später gründete er die mittlerweile verbotenen Jeunesses nationalistes (JN, Nationalistische Jugendverbände). Nun schrieb er auf Twitter: »Eine wahre Menschenflut bewegt sich auf das Kapitol zu! Was gerade passiert, ist historisch! Nieder mit den Dieben!« Die Parole »Nieder mit den Dieben!« (im Original »À bas les voleurs!«), hatten die Faschisten und Weltkriegsveteranen benutzt, die am 6. Februar 1934 in Paris versucht hatten, die französische Nationalversammlung zu stürmen, im Zuge des als Stavisky-Affäre bekannt gewordenen Korruptionsskandals. Wesentlich umsichtiger äußert sich derzeit die Vorsitzende des RN, Marine Le Pen, die am 16. Januar ihr zehnjähriges Jubiläum in dieser Funktion feiern konnte. Bis zum Vorabend des Sturms auf das Kapitol unterstützte sie den US-Präsidenten Donald Trump noch weitgehend; danach ging sie auf Distanz zu ihm. Dies hängt damit zusammen, dass der RN unter ihrer Führung der noch in den neunziger Jahren praktizierten Straßengewalt offiziell abschwor und seither eine legalistische, wahlorientierte Strategie verfolgt. Le Pens Strategie zielt zudem völlig auf die Polarisierung »Patrioten gegen Globalisten«, die dem RN zufolge »das völlig überkommene Links-rechts-Schema abgelöst« habe – was bereits seit 1995 eine Position des FN war. Den besten Repräsentanten der »Globalisten« stellt jedoch Macron dar. Dessen jüngere Vergangenheit als Investmentbanker – bei der Bank Rothschild, wie aus diversen Kreisen immer wieder mit antisemitischen Untertönen angemerkt wird –, die überaus schwache soziale Basis der regierenden Retortenpartei La République en marche (LREM, Die Republik in Bewegung) und der in etlichen sozialen Milieus weitverbreitete persönliche Hass auf Macron machen ihn, so die Erwägung, zu Le Pens bevorzugtem Gegenkandidaten bei den in 15 Monaten anstehenden Präsidentschaftswahlen und speziell in der Stichwahl. Manche Antifaschisten deuten Le Pens Zurückhaltung damit, dass es deshalb nicht in ihrem Interesse ist, die derzeit in Frankreich schwelende, durch die Covid-19-Pandemie verschärfte politische Krise so zuzuspitzen, dass sie in einer möglichen Stichwahl gegen einen anderen Kandidaten als Macron antreten müsste. Jedenfalls hält der RN zumindest derzeit die aktionshungrigen Gruppen und Grüppchen aus seinem Umkreis auffällig kurz, anders als in den neunziger Jahren. Deren Tatendrang ist groß und führt durchaus in die terroristische Richtung. Am Montag wurde die Verhaftung von fünf Soldaten publik, die in einen Waffenhandel verwickelt waren und der ultradroite nahestehen – so wird gewöhnlich die außerparlamentarische extreme Rechte bezeichnet. Le Pen hält sich von solchen Tendenzen und ihren Vertretern, die auch an den Rändern ihrer Partei zu finden sind, in der Öffentlichkeit tunlichst fern und pflegt ihr legalistisches Profil. Allerdings verteidigte sie wochenlang Trump, die Bilanz seiner Amtszeit und seine haarsträubenden Versuche, die Wahl anzufechten. So antwortete sie am 11. November, acht Tage nach der US-Präsidentschaftswahl, auf die Interviewfrage, ob sie den Sieg des Bewerbers Joe Biden anerkenne: »Absolut nicht.« Und sie verwies darauf, dass dieser Sieg auch juristisch noch ungeklärt sei. Am 7. Januar, einige Stunden nach den Ereignissen auf dem Kapitolshügel, erkannte sie das Wahlergebnis endlich an: Nach der Zertifizierung durch den US-Kongress unterliege dieses keinen legalen Zweifeln mehr. Die wirtschaftsliberale Tageszeitung L’Opinion titelte daraufhin: »Marine Le Pen überschreitet den Rubikon nicht.« Nicht alle Vertreter des RN halten eine derartige Distanz zu den Angreifern am Kapitol. Der Europaabgeordnete Thierry Mariani, ein Überläufer vom rechten Flügel der Konservativen und Verehrer Wladimir Putins, der bei der Europawahl 2019 auf der Liste des RN kandidiert hatte, wiegelte ab: Die Leute am Kapitol hätten »eher verzweifelten Durchschnittsamerikanern als gefährlichen Milizionären« geähnelt. Er forderte: »Schluss mit der karikaturhaften Darstellung.« Christian Lechevalier, ein Regionalparlamentarier des RN in der Bretagne, twitterte, wohl an die Presse gewandt: »Dieses Chaos wurde durch die skandalösen Manipulationen eurer demokratischen Freunde ausgelöst.« Auch Le Pen fand schnell Gelegenheit, sich wieder auf Trumps Seite zu schlagen. Sie kritisierte nach der Sperrung seines Twitter-Kontos die »Zensur«. | Bernhard Schmid | Bernhard Schmid: Was französische Rechtsextreme zur Erstürmung des Kapitols sagen | [
"Frankreich",
"Sturm auf das Kapitol"
] | Antifa | 21.01.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/03/die-spende-vor-dem-sturm?page=0%2C%2C1 |
Schröder pur | Traditionell pflegen die Wirtschaft und die Sozialdemokratie kein allzu intimes Verhältnis. Mit Gerhard Schröder als Bundeskanzler hat sich das bekanntlich verändert. Der »Genosse der Bosse« konnte Helmut Kohl nicht trotz, sondern wegen seiner Wirtschaftsnähe ablösen. Der Kanzler mag bei jeder Gelegenheit betonen, wie sehr ihm der Standort Deutschland am Herzen liegt, bestenfalls sozialdemokratische Propagandisten bescheinigen der amtierenden Regierung deswegen eine kohärente Wirtschaftspolitik. Mit der Steuerreform hatte Rot-Grün das Pulver schon verschossen. Ansonsten profilierte sich die Bundesregierung lediglich mit populären Ad-hoc-Maßnahmen, wie der einstweiligen Rettung des Holzmannkonzerns. Das kommt nicht von ungefähr. Im heutigen Stadium des Kasinokapitalismus ist die klassische staatliche Wirtschaftspolitik auf ihre Simulation zusammengeschrumpft. Mit Ausnahme der Weltmachtökonomie der USA hatten die großen entwickelten Flächenstaaten wie die Bundesrepublik in den achtziger und neunziger Jahren überhaupt nur bedingt die Chance, auf der historischen Deregulierungswelle zu surfen. Sie liefen stets Gefahr, unmittelbare Wettbewerbsvorteile beim Anlocken transnationalen Kapitals mit enormen Haushaltsdefiziten und der Zerstörung der eigenen Infrastruktur zu erkaufen und mittelfristig die Konkurrenzbedingungen eher zu verschlechtern als zu verbessern. Dabei ist die rot-grüne Regierung mit der ihr eigenen Mischung aus Macherideologie und einer Wirtschaftspolitik des Als-ob erst einmal gar nicht so schlecht gefahren. So wenig Einfluss die Bundesregierung auf die Wechselfälle der Weltkonjunktur hatte, die weltwirtschaftliche Entwicklung kam ihr während der ersten Hälfte der Legislaturperiode sehr entgegen. Nicht nur die durch die Aufnahme der 630-Mark-Jobs in die offizielle Statistik erschwindelte Beschäftigungssteigerung fand in den Arbeitsmarktzahlen ihren Niederschlag. Der Boom der New Economy brachte zumindest in einigen Bereichen neue Arbeitsplätze mit sich. Das weltweite spekulative Anzapfen künftiger Profite, die es nie geben wird, spülte gleichzeitig direkt oder indirekt auch Geld in die deutsche Staatskasse. Allein der Verkauf der UMTS-Rechte brachte dem Fiskus im Jahr 2000 rund 50 Milliarden Euro ein - auf den einzelnen Einwohner umgerechnet immerhin ein einmaliger Geldregen von 614 Euro. Die Bundesregierung feierte diese glücklichen Umstände als Resultat ihrer Konsolidierungspolitik. Einen kleinen Haken aber hatte dieser Trick. Denn das Wahlvolk könnte nicht nur den Aufschwung auf dem Konto der rot-grünen Regierung verbuchen, sondern auch den folgenden Abschwung. Vom Stimmungshoch, dessen sich die amtierende Regierung zur Mitte der Legislaturperiode erfreute, ist heute nichts mehr übrig. Der Ausgang der Wahlen im September dürfte denn auch wesentlich davon abhängen, ob die von der Exportkonjunktur getragene Zwischenerholung, die in diesem Jahr einsetzte, schon zu Ende ist oder noch eine Weile dauert. Die rot-grüne Regierung hat ihr Schicksal von Beginn an mit der Entwicklung der Arbeitslosenziffern verknüpft. Wirtschaftspolitik betrieb sie vor allem als ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In diesem Sinn hat auch die sozialdemokratische Wählerschaft 1998 die Wirtschaftsnähe des Automanns aus Hannover goutiert. Der direkte Draht zwischen dem Bundeskanzler und den Unternehmern, so die Hoffnung, würde die Lage auf dem Arbeitsmarkt entspannen und einen Beitrag zur Fortsetzung der Sozialpartnerschaft auch im Zeitalter der Globalisierung leisten. Mit der Verdüsterung der wirtschaftlichen Gesamtperspektive vollzog sich eine ebenso entscheidende wie nachhaltige Veränderung. Der vermeintliche Zweck der Wirtschaftspolitik, die Senkung der Arbeitslosenzahlen, mutierte zu ihrem zentralen Inhalt. Mit der Jahrtausendwende verlor das neoliberale Programm der Deregulierung und Privatisierung in der ganzen Welt seinen Schwung. Angesichts fallender Aktienkurse drängt kein Staatsunternehmen mehr an die Börse. Und nach jedem neuen Bilanzfälschungsskandal ertönt allenthalben der Ruf nach mehr statt nach weniger staatlicher Aufsicht. Aus der viel bewunderten Leitfigur der neunziger Jahre, dem dynamischen Manager, der schnelles Geld macht, wird zusehends eine Hassfigur. Der Aufstieg des Telekomchefs Ron Sommer zum Sündenbock der Nation der Kleinanleger spricht in dieser Hinsicht Bände. Auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik hingegen kommt das neoliberale »Reformprogramm« unter sozialdemokratischer Federführung erst richtig auf Touren. Kaum begannen die offiziellen Arbeitslosenziffern im Jahr 2001 wieder zu steigen, machte Schröder mit seiner berüchtigten Kampagne gegen die Faulheit die Arbeitslosen mobil. Spätestens mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission wurde klar, wohin die Reise geht: Die Schutzräume, die der zweite Arbeitsmarkt bisher bietet, haben zu verschwinden. Verschärfte Repression soll dafür sorgen, dass ein zunehmend deregulierter, um einen Billiglohnsektor erweiterter erster Arbeitsmarkt die im Sinne der Kapitalverwertung Überflüssigen aufnimmt. Realökonomisch gesehen taugt der Feldzug gegen die Arbeitslosen keinesfalls als Basis für eine Neuformierung des Standorts. Auch wenn es gelingt, den working poor nach Deutschland zu importieren, auf dieser Figur lässt sich weder ein neuer Wachstumszyklus gründen, noch hat die Bundesrepublik die geringste Chance, im allgemeinen Dumpingwettbewerb einen der vorderen Plätze zu erringen. Am Ende reicht es bestenfalls für eine Reduzierung der Sozialausgaben, und selbst das scheint noch fraglich. Das heißt aber keineswegs, dass die neue Arbeitsmarktpolitik folgenlos bliebe. Auf jeden Fall zeigt sie einen grundlegenden gesellschaftlichen Klimawechsel an und treibt ihn voran. Mit dem Angriff auf den zweiten Arbeitsmarkt verändern sich auch die Bedingungen auf dem ersten nachhaltig. In anderen Ländern vollzog sich der große Vereinzelungsschub und die Zersetzung der traditionellen kollektiven Arbeitnehmervertretungen bereits im Zeichen des neoliberalen Wohlstandsversprechens. Hierzulande entwickelt der gleiche Prozess erst mit der kasinokapitalistischen Krise seine ganze Wucht. Unabhängig davon, wie die nächsten Bundestagswahlen ausgehen. | Ernst Lohoff | Ernst Lohoff: Die Wirtschaftspolitik | [] | Inland | 10.07.2002 | https://jungle.world//artikel/2002/28/schroeder-pur?page=0%2C%2C0 |
Zoologe des Pressewesens | Kritischer Blick: Balzacs Büste in seinem Pariser Haus Sind »Fake News« tatsächlich ein brandneues, noch nie dagewesenes Phänomen, gegen das nur professioneller Journalismus etwas vermag? So will es fast scheinen, jedenfalls klingt diese Botschaft in fast allen etablierten Medien ähnlich. Nun ist aber gerade der Journalismus seit jeher kein Metier, das von widerstreitenden Interessen, Lüge und Täuschung frei wäre. Niemand wusste das besser als der französische Schriftsteller und Verfasser der »Menschlichen Komödie« Honoré de Balzac, der sich auch als Journalist, Redakteur und Verleger betätigte. Und die Sitten waren durchaus roh in der Zeitungswelt des frühen 19. Jahrhunderts, gerade in Paris, der Stadt der Presse. Émile de Girardin, der berüchtigte Herausgeber von La Presse, zwang noch im Jahre 1836 den Herausgeber des National, Armand Carrel, zum Duell – und erschoss seinen Konkurrenten. Mit dem Sieg des französischen Bürgertums 1830 gedieh die freie Presse. In der neuen Branche war schnelles Geld zu machen, das anzeigenfinanzierte Zeitungswesen entwickelte sich rasch. Nicht unüblich war es aber auch, sich mittels simpler Erpressung auf dem Markt der Meinungen und Gerüchte zu behaupten. Wer nicht in der Öffentlichkeit zerrissen werden wollte, musste bezahlen. Davon ließ sich teils besser und teils schlechter leben. Balzac hatte (wie auch Guy de Maupassant in »Bel Ami«) in verschiedenen seiner Romane diese Halbwelt der Presse geschildert – man denke nur an Figuren wie Etienne Losteau, Emile Blondet und Lucien de Rubempré oder das berühmt skrupellose Feuilleton in »Verlorene Illusionen«. Nun liegt erstmals auf Deutsch Balzacs 1843 veröffentlichte »Monographie de la presse parisienne« vor, unter dem Titel »Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken. Die schrägen Typen der Journaille«. Der Übersetzer Rudolf von Bitter hatte das Werk Ende der siebziger Jahre nach eigener Aussage im Ramschverkauf gefunden, aber lange Zeit interessierte sich kein Verlag dafür. Nun endlich hat sich der Zürcher Manesse-Verlag dieser Schrift angenommen, in der Balzac eine Typologie der Charaktere vorlegt, welche die eigentümliche Welt der Presse bevölkern: Die skrupellosen Verleger, die staatsmännischen Chefredakteure, die Verfasser von Leitartikeln ohne Haltung außer der vorgegebenen, die kleinen Zeilenschinder, die Verbreiter von Klatsch und Tratsch, die Gesellschafts- und Geltungssüchtigen, die Verschrobenen, ja selbst die Autoren mit Überzeugungen – sie alle hat Balzac in einer synoptischen Tafel als »Klasse der Schriftsteller (Auszug aus der Naturgeschichte des Zweihänders in Gesellschaft)« beschrieben. Doch trotz aller Unterschiede: in der Nacht sind alle Journalisten blau – auch diese Aussage wird Balzac zugeschrieben. Die Beschreibungen der einzelnen Typen sind von charmanter Bösartigkeit. So gibt es beispielsweise in der zweiten Ordnung – »Kritiker« – als eine der fünf Gattungen den »jungen blonden Kritiker« (man muss »denn auch nicht unbedingt helle Haare haben, um ein blonder Kritiker zu sein«) und innerhalb dieser Gattung als dritte Art neben dem »Leugner« und dem »Spaßvogel« den »Lobhudler«. Dessen »Grundstimmung ist das Loblied«. Er »hat für jeden Fall sein Rezept, er entblättert die Rose und breitet sie mit der Anmut eines Parfümerielehrlings über die Breite von drei Spalten aus. (…) Das ist langweilig, aber angenehm für den, um den es geht. Die Zeitungsdirektoren schätzen sich glücklich, einen solchen Redakteur im Haus zu haben.« Und unter den »großen Kritikern«, einer weiteren Gattung, gibt es beispielsweise den Typus des »Scharfrichters«, den Balzac wie folgt beschreibt: »Für seine Zeitgenossen ist er ein literarischer Foltermeister. Besonders liebt er es, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; er lobt sie, indem er ihre Absichten herausstellt und bei ihnen eine Menge Ideen entdeckt, die sich bei Gegenwartsautoren nicht finden.« Mit sanftem Spott skizziert Balzac eines dieser eigentümlichen Zeitungsgeschöpfe nach dem anderen, deren Nachfahren heute noch die Redaktionen bevölkern. Was Balzac mit seinem Zeitgenossen Karl Marx verband, war die Abscheu vor dem in der Julimonarchie herrschenden juste milieu. Diese Verachtung erst hat ihn den Zusammenhang der Presse mit den Mechanismen des freien Marktes erkennen lassen. Der Soziologe Wolfgang Pohrt beschreibt in seinem wunderbaren Buch »Honoré de Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit« – mit bissigen Seitenhieben gegen Jürgen Habermas – die Situation der Presse wie folgt: »In jener Öffentlichkeit, die Balzac um 1830 beschreibt, herrschen hingegen weder stickiger Kränzchengeist noch kleinstädtischer Biedersinn oder bildungsbeflissene Vereinsmeierei, kein redlicher Meinungsaustausch und kein ehrliches Ringen um die Formulierung beim gemeinsamen Beschlussprotokoll, sondern dort wetteifern korrupte, von politischen Intriganten gekaufte professionelle Journalisten mit ebenso hinreißenden wie verlogenen Feuilletons um die Gunst einer nach Abwechslung und Unterhaltung gierenden, Skandale und Sensationen bevorzugenden Masse.« Auch das hat sich in unseren so glorreichen wie zivilisierten Zeiten – wo die als Journalismus getarnte Deponie für geistigen Sondermüll namens Bento.de noch zu den harmloseren der zahlreichen Zumutungen zählt – kaum geändert. Balzac wählte zur Beschreibung die Form der Typologie, eine dem Biologen Carl von Linné nachempfundene Art der Systematisierung. Eine Zoologie des journalistischen Lebens, so könnte man Balzacs Darstellungsmethode nennen. Die Gesellschaft erscheint Balzac als natürlicher Lebensraum des Individuums. Alles, was es ist, was es tut, folgt den Naturgesetzen der Gesellschaft. Nur dadurch, dass Balzac diesen Schein der Gesellschaft affirmiert, kann er ihn durchdringen. Balzacs Schilderungen in seinen Romanen und auch in der »Typenlehre der Pariser Presse« sind so besonders, weil das Individuum nicht als unabhängig und isoliert, sondern in der allseitigen Abhängigkeit und in dem Zwang, eine bestimmte Funktion zu erfüllen, geschildert wird. Das Individuelle wird Balzac zum Typischen. Er denunziert nicht das Individuelle, er denunziert die Gesellschaft, die das Individuelle nur als Typisches erscheinen lässt. Balzacs Geschichten demonstrieren, wie Adorno bemerkte, die »soziale Unmöglichkeit von Wohlgeratenheit und Integrität«. Wer kein Verbrecher ist oder sich prostituiert, muss zugrunde gehen; das ist das soziale Gesetz einer Gesellschaft, die den bestraft, der nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel für das eigene Fortkommen nutzt. Verbrecher und Hure sind bei Balzac aber keine Gegenbilder zum Bürgertum, sie sind das Bürgertum selbst: Im vermeintlichen Gegenteil erscheint dessen Wesen. Worauf Balzac aber auch hinweist, ist die Nichtidentität von gesellschaftlicher Funktion und empirischem Individuum. Deswegen auch seine Vorliebe für das Genre der Komödie, welches wie kein anderes den Zwang der gesellschaftlichen Rollen zeigen kann – so wie es die in Neuübersetzung erschienene furiose Komödie, »Mercadet oder Warten auf Godeau«, mustergültig vorführt, auf die nicht nur im Titel Samuel Becketts »Warten auf Godot« verweist. Die kritische Einsicht in den gesellschaftlichen Zwangszusammenhang ist heute der ebenso resignierten wie auftrumpfenden Akzeptanz dessen gewichen, dass wir ja alle Theater spielen und ein jeder und eine jede in ihren Eigenheiten auch respektiert werden müssten. Statt Nichtidentität mit der Rolle gibt es Performance der eigenen Identität. Das enthebt dann auch der Zumutung zu sehen, dass die Gesellschaft eben mehr und anderes ist als eine Masse anerkennungswütiger atomisierter Individuen. Balzac aber treibt die Dialektik von Individuum und Gesellschaft bis an den Punkt, wo die Übermacht der Gesellschaft zur Darstellung kommt und somit zur kritischen Einsicht – beispielsweise über das Pressewesen. Honoré de Balzac: Von Edelfedern, Phrasendreschern und Schmierfinken. Die schrägen Typen der Journaille. Aus dem Französischen von Rudolf von Bitter. Manesse-Verlag, Zürich 2016, 320 Seiten, 19,95 Euro Honoré de Balzac: Mercadet oder Warten auf Godeau. Aus dem Französischen von Erika Tophoven. Verbrecher-Verlag, Berlin 2017, 128 Seiten, 16 Euro | Jakob Hayner | Jakob Hayner: Honoré de Balzac als Medienkritiker | [
"Literatur",
"Buchkritik",
"Honoré de Balzac"
] | dschungel | 09.03.2017 | https://jungle.world//artikel/2017/10/zoologe-des-pressewesens?page=0%2C%2C2 |
»Der Angriff auf das ›Wir‹ ist fällig« | Sie behaupten, von »braunem Terror« könne keine Rede sein. Wie passt das zu den Morden der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund? Das ist ein Missverständnis. Natürlich lassen sich diese Mordanschläge unter das subsumieren, was gemeinhin als Terror gilt. Nur sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die allgemeine Empörung aller Parteien bis hin zur Kanzlerin und aller Medien und der sonstigen Öffentlichkeit gar nicht in erster Linie dem Umstand galt, dass mörderischer Ausländerhass zehn Todesopfer gefordert hat. Das klingt nach einer Unterstellung. Nein, denn offensichtlich standen für Politik und Öffentlichkeit zwei ganz andere »Opfer« im Vordergrund: Deutschlands Ansehen in der Welt und die nationale Staatssicherheit, wegen des »Versagens« der Sicherheitsorgane. Warum hat sich Frau Merkel wohl geschämt? Und warum hat die Süddeutsche Zeitung gar eine Staatskrise ausgerufen, wie Heribert Prantl es nannte? Es hat eben wieder einmal niemanden ernsthaft interessiert, wie der mörderische Hass des NSU mit der demokratischen Ausländerpolitik zusammenhängt, die Ausländer generell zum Problem erklärt, sie als störend empfindet und selbst dann noch als Störung behandelt, wenn man sie als Arbeitskräfte holt. Wie hängen Ihrer Meinung nach die staatliche Ausländerpolitik und die Morde zusammen? Die staatliche Ausländerpolitik gründet auf einer Sortierung von Menschen nach Inländern und Ausländern, »wir« und »die anderen«. Dies passiert nicht nur in Deutschland, sondern in jedem demokratisch regierten, kapitalistischen Nationalstaat. Diese Sortierung macht sich frei vom Willen der betroffenen Menschen, den als Staatsvolk einverleibten und den als fremdes Volk per Krieg oder Gesetzesakten ausgegrenzten Menschen. Es gilt dann nichts anderes als das jeweilige staatliche Interesse an einer unter seinem Kommando zusammengefassten Menschenansammlung, die sich als Deutsche, als Franzosen oder Schweden ihrem Staat als einheitliches nationales Volk verbunden fühlen sollen – gegen alle Gegensätze der Klassen und Schichten, die den Alltag bestimmen.
Staatliche Ausländerpolitik besteht auf dem Loyalitätsanspruch des »eigenen Volkes« – der leider nur allzu sehr erfüllt wird – und bestimmt jeden Ausländer erst einmal umgekehrt als loyalen Anhänger seines Heimatstaates. Daher der prinzipielle Verdacht ihnen gegenüber, sie würden sich hier als Fünfte Kolonne ihrer Heimat aufführen. Das lässt sich an den Härten der Ausländerpolitik auch gegenüber jenen Menschen mit fremdem Pass ablesen, die man hier unter Auflagen leben lässt. Es sind erst diese vom Staat zugelassenen Ausnahmen von seiner prinzipiellen Ausgrenzung, die die Nazis dem demokratischen Staat als Zerstörung der völkischen Substanz, als Verrat am deutschen Volk vorwerfen. Das menschenverachtende, völkische Prinzip der Menschensortierung teilen jedoch beide. Aber gibt es nicht einen Unterschied zwischen einer staatlichen, nach Nützlichkeitskriterien begrenzten Zuwanderung und der Ausgrenzung und Verfolgung von Ausländern nach völkischen Prinzipien? Selbst bei Ausländern, die sich hier nützlich machen dürfen, hören doch Ausgrenzung und Verfolgung durch den Staat nicht auf. Sie werden zwar als Ausnahme von der politischen Verdachtshaltung zugelassen. Aber wenn sie nicht mehr nützlich sind, werden sie wieder ausgewiesen. Das nenne ich übrigens eine vollständige Reduktion des Menschen auf nichts als die Verkörperung von Nützlichkeit.
Wenn so ein Mensch den Aufforderungen der Ausländerbehörde nicht nachkommt, beginnen Verfolgung, Kasernierung und der gewaltsame Abtransport. Daneben hat er während der ganzen Zeit die Verfolgung durch brave deutsche Nationalisten zu ertragen, die den »Fremdlingen« alle Beschädigungen anlasten, die ihnen deutsche Sozialbehörden und hiesiges Kapital bereiten. Die in ihrer Heimat verfolgten, vertriebenen, ihrer Subsistenz beraubten Ausländer, das sind dann »Wirtschaftsflüchtlinge«, die von vornherein als Schädlinge und Schmarotzer eingestuft werden. Die hätten mit ihrer fremden Kultur und ihrem fremden Wesen im deutschen Volkskörper erst recht nichts zu suchen, lautet der Standpunkt der Ausländerpolitik. Lässt sich dies in der altbekannten Formel »Nazis morden, der Staat schiebt ab, das ist dasselbe Rassistenpack« zusammenfassen? Nein. Denn Nazis gehen davon aus, dass die staatlich hergestellte Volkseinheit der Natur, dem Wesen, der Art des Deutschen entspricht, dass per Staatsakt zum Volk nur zusammengeführt wird, was natürlicherweise zusammengehört. Daran lässt sich für sie nichts ändern. Deswegen ist jeder Ausländer hierzulande für sie ein Anschlag auf die deutsche Art. Demokraten dagegen billigen den Ausländern zu, sich mit Wille und Bewusstsein etwas über ihre Art hinwegsetzen und sich dem Deutschtum anpassen zu können – etwa bei der Integrationspolitik. Damit gibt die Ausländerpolitik ihren völkischen Ausgangspunkt nicht auf. Sie relativiert ihn nur aus einem nationalökonomischen Kalkül heraus. Deshalb wird selbst der eingedeutschte Ausländer zum Deutschen mit Migrationshintergrund gestempelt und bleibt das über Generationen.
Doch etwas ist an der Parole zu halten: Denn die Nazis und der Staat gehen gegenüber Ausländern über Leichen. Nur darf man das natürlich so nicht sagen, denn Gewalt ist eben hierzulande nicht gleich Gewalt. Es gibt die böse, unerlaubte. Das ist die von Privatpersonen ausgeübte. Deren Opfer sind dann »sinnlos« gestorben. Die Staatsgewalt gilt als die notwendige Gewalt, die Ordnung stiftet, Recht durchsetzt und immer nur Opfer mit »Sinn« produziert. Merkwürdig ist das schon: Ausgerechnet das mit Macht durchgesetzte und behauptete staatliche Gewaltmonopol fällt hierzulande nicht unter Gewalt. Aber Demokraten haben doch nicht zwingend ein völkisches Staatsverständnis. Cem Özdemir und Jürgen Rüttgers sind diesbezüglich sicher nicht einer Meinung. Im Kern schon. Denn erstens ist beiden die ganz und gar nicht gemütliche Ausländersortierung völlig selbstverständlich, zweitens teilen auch die Grünen im Prinzip den Standpunkt, dass diejenigen hier nichts zu suchen haben, die man abfällig als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, und drittens wollen auch sie Ausländern nur dann eine Aufenthaltsberechtigung zuerkennen, wenn sie sich für Deutschland nützlich machen; wobei sie dazu ursprünglich auch mal eine »kulturelle Bereicherung« – Multikulti hieß das – gerechnet haben. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die gegen den Rechtsextremismus kämpfen, fordern nun als Reaktion auf die Taten des NSU mehr Geld für ihre Arbeit. Kann mehr Aufklärung solche Taten verhindern? Es kommt immer auf die Art der Aufklärung an. Richtig sind Bemühungen, den durchgesetzten alltäglichen Nationalismus zu kritisieren, jene auch für die Demokratie funktionale Geisteshaltung, aus der sich auch der Neofaschismus speist. Da wäre der Angriff auf das »Wir« fällig, in dem sich Menschen, die eher Opfer des demokratisch regierten Kapitalismus sind, der politischen Sorgen der Herrschaft annehmen. Darunter fällt auch die kritische Befassung mit der demagogischen Behauptung, dass Ausländer uns die Arbeit wegnehmen, Sozialschmarotzer sind, die Jugend mit Drogen verwirren usw. Und schließlich gehört dazu auch die Zurückweisung der Unterscheidung zwischen einem guten, harmlosen Patriotismus und einem bösen, gefährlichen Nationalismus. Für falsch, irreführend und kontraproduktiv halte ich zum Bespiel die Aufklärung über Symbole, Kleidung oder Musik der Rechtsextremen. Es verhält sich eben nicht so, dass man nur wissen muss, wie Nazis aussehen, um gegen ihre politische Programmatik gewappnet zu sein. Dafür stehen alle Untersuchungen, die bei deutschen Bürgern heftige Ausländerfeindlichkeit und zugleich die Verurteilung des Neofaschismus festgestellt haben. Und schließlich habe ich auch Einwände gegen all jene Formen des kritischen Antifaschismus, deren Kampf gegen Neonazis sich in die unkritische Parteinahme für die Herrschaftsform der Demokratie auflöst. Sie gehören also nicht zu den über 1 000 Gruppen und Einzelpersonen, die angekündigt haben, auch in diesem Jahr den Naziaufmarsch in Dresden zu verhindern? Sie irren sich. Ich halte die Beteiligung daran für richtig, würde aber mit einem Flyer an die Adresse der Gegendemonstranten auftreten, der unter anderem folgende rhetorische Fragen enthielte: ›Ihr wollt Dresden nazifrei machen? Aber wer herrscht in Dresden, wenn es nazifrei ist? Wollt ihr Dresden für die Herrschaft der Hartz-IV-Verarmung von den Nazis befreien? Für das Regime des Mietwuchers oder der Inflation der Benzinpreise? Für das Regime der Staatsgewalt mit Polizei und Justiz, über das ihr euch übrigens noch bei jeder Antinazidemo selbst beschwert? Für die Herrschaft des Kapitals, die günstigen Ausbeutungsbedingungen in den neuen Bundesländern? Für das Bildungswesen, das die Mehrheit des Nachwuchses von weiterführender Ausbildung ausschließt? Und wer herrscht eigentlich jetzt, wo Dresden offensichtlich erst noch von Nazis befreit werden muss? Kein Nazi-Regime, sondern: Dasselbe demokratisch eingerichtete Hartz-IV-Regime! Derselbe Mietwucher! Dieselbe Polizeigewalt! Dieselben Ausbeutungs- und Ausbildungsbedingungen! Kürzt sich da nicht irgendwas heraus? Und bedeutet das nicht, dass man Dresden, und nicht nur Dresden, eher von den hier tatsächlich herrschenden Regimes befreien müsste? Ihr baut Nazis mit euren Gegendemonstrationen erst so richtig als Thema auf und lenkt damit von den Beschädigungen ab, die euch das herrschende System des demokratisch regierten Kapitalismus bereitet.‹ | Jennifer Stange | Jennifer Stange: Freerk Huisken im Gespräch über die deutschen Opfer des »braunen Terrors« | [
"NSU"
] | Thema | 09.02.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/06/der-angriff-auf-das-wir-ist-faellig?page=0%2C%2C0 |
Für Bewegung sorgen! | Der G 8-Gipfel ist vorbei, aber nicht die Bewegung. Im Gegenteil, politisch könnte sie aus den Ereignissen von Genua weiter an Stärke gewinnen, auch wenn ihr dort unerwartete Brutalität entgegenschlug. Derart angegriffen wurde sie, weil ihre frische Dynamik und vor allem ihre gesellschaftliche Breite den Herrschenden Angst einflößen. Gut zehn Jahre nach dem proklamierten »Ende der Geschichte«, das auch als historische Niederlage verschiedener linker Ansätze interpretiert worden war, kommen die Verhältnisse wieder in Bewegung. In Genua wurden alle Flügel des breiten Bündnisses Genoa Social Forum (GSF), GewerkschafterInnen, PazifistInnen, AktivistInnen aus besetzten Zentren, katholische Basisgemeinden, Tute Bianche usw. gleichermaßen verprügelt und stundenlang mit Tränengas eingedeckt. Die Botschaft war klar: Wer gegen die Weltwirtschaftsordnung demonstriert, ganz gleich in welcher Form, soll in Zukunft um Leib und Leben fürchten. Doch trat in Italien der gegenteilige Effekt ein. Die Empörung über die Repression und den Mord an Carlo Giuliani mobilisierte noch mehr Menschen, und am Dienstag nach dem G 8- Gipfel waren im ganzen Land erneut 300 000 DemonstrantInnen auf den Straßen. Das GSF ist nicht zerbrochen, sondern mittlerweile zum überregionalen Italia Social Forum angewachsen, und über 300 Rechtsanwälte haben sich zum Genoa Legal Forum zusammengeschlossen, um ein internationales Tribunal zu organisieren. In ihrer Gründungserklärung unterstreichen sie, dass sie sich für alle 49 noch Inhaftierten einsetzen: »Es gibt keine 'Bösen'«, so die Zurückweisung der offiziellen Darstellung, die versucht, einzelne »Gewalttäter« für die Eskalation verantwortlich zu machen. Der italienischen Anti-G 8-Bewegung ist es gelungen, sich nicht spalten zu lassen, und ihre Breite hat angesichts des geschickten Agierens der verschiedenen Bestandteile des GSF noch zugenommen. Damit scheint sie zwei wichtige Lektionen aus der Vergangenheit umgesetzt zu haben: Dass sowohl Spaltungen als auch die Militarisierung von Auseinandersetzungen nur die Herrschenden begünstigen, und Gewaltdebatten vor allem geeignet sind, die politischen Inhalte von Widerstand öffentlich unsichtbar zu machen. Auch führen Gewaltspiralen nach dem reaktiven Muster »Aktion-Repression-Aktion« nur dazu, dass die Bewegung immer mehr schrumpft und isolierter wird. Dieser Logik, die in Italien auch Erfahrungen aus der Autonomia-Zeit der siebziger Jahre widerspiegelt, wollten die Tute Bianche mit ihrem Konzept des »zivilen Ungehorsams« von Anfang an entgegentreten, da sie den Konflikt nicht als militärischen, sondern in erster Linie als politischen und gesellschaftlichen begreifen. Zwar haben die Tute Bianche in Genua ihr selbst gesetztes Ziel, das Eindringen in die Rote Zone, nicht erreicht. Angesichts der polizeilichen Strategie undifferenzierten Terrors ist auch ihr Ansatz gescheitert, die Grenzen der Legitimität von Widerstand durch öffentlich hergestellte Akzeptanz zu erweitern. Doch belegt ihre deutliche Präsenz in der öffentlichen Debatte, dass es allenfalls eine taktische Niederlage war, keineswegs jedoch das Scheitern einer politischen Strategie oder einer ganzen Bewegung - wie es in Deutschland nach der Räumung der Mainzer Straße im November 1990 der Fall war. Auch die Tute Bianche wenden sich nun gegen eine Verdammung des Schwarzen Blocks, der in der von Medien und Staatsanwaltschaft proklamierten Homogenität ohnehin ein Konstrukt ist. Ganz anders scheinen deutsche Linke die Ereignisse von Genua zu verarbeiten. Von ihnen gehen derzeit die stärksten Spaltungstendenzen aus. Da werden allerlei Gerüchte vorschnell aufgegriffen und verbreitet, offenbar in dem Eifer, das eigene Handeln als »besser« darzustellen als alle anderen Ansätze. NGO-Vertreter, z.B. aus dem deutschen Attac-Spektrum, fühlen sich zu Distanzierungen genauso bemüßigt wie militante Aktivisten, die sich von »den Bürgerlichen« abgrenzen. Anstatt einer Debatte um zukünftige Strategien, wie die Weltwirtschaftsordnung angesichts der bisherigen Erfahrungen weiterhin delegitimiert und angegriffen werden kann, dominieren hierzulande derzeit einerseits die fruchtlose Gewaltdebatte, andererseits der entsetzte Blick ausschließlich auf die polizeiliche Repression. In Italien hingegen wird nach vorn diskutiert. Während das GSF die Aufklärung des Geschehenen intensiv betreibt, kündigt es für Oktober und November erneute Massenmobilisierungen an. Bereits jetzt wird zu Protesten gegen den geplanten Nato-Gipfel am 26. und 27. November in Neapel aufgerufen. Und auch an anderen Fronten steht ein heißer Herbst bevor. Die Metaller der Fiom (die auch im GSF sind) wollen gegen die Tarifabschlüsse der rechten Gewerkschaften streiken und demonstrieren, und in den Schulen und Krankenhäusern beginnen Aktionen gegen die Privatisierung der Bildung und der medizinischen Versorgung. Ob es gelingt, diese erfreuliche Dynamik auch außerhalb Italiens zu entfalten, liegt im Wesentlichen am Vorgehen der Linken, auch hier in Deutschland. Bisher steht in der Genua-Nachbereitung die Polizeibrutalität sehr stark im Vordergrund. Zweifellos brauchen die Inhaftierten und Misshandelten unsere Solidarität. Doch ist es dringend notwendig, sich der erlebten neuen Qualität von Repression auch analytisch anzunähern und den Schock zu überwinden, um als Bewegung handlungsfähig zu bleiben. Die ausschließliche Betonung der maßlosen Repression läuft Gefahr, die großartigen Demonstrationen von Genua im Nachhinein geradezu als politischen Misserfolg erscheinen zu lassen und abschreckend zu wirken. Diejenigen von uns, die vor Ort waren, haben dort wesentlich mehr erfahren als Polizeiprügel: die mit Abstand größten und stärksten Demonstrationen der letzten zehn Jahre; eine öffentlich gut verankerte, hervorragend koordinierte Widerstandsbewegung; internationale Begegnungen, die in Form und Inhalt sehr bereichernd waren; einen erheblichen Sachschaden, der zum großen Teil durchaus politisch zielgerichtet war und den ohnmächtigen Zorn der Ausgegrenzten dieser Welt gut auszudrücken vermag; die Erfahrung, dass auch Konfrontationen mit der Polizei organisiert und solidarisch, also gemeinsam durchgestanden werden können; und nicht zuletzt einen breiten Grundkonsens gegen den in alle Lebensbereiche vordringenden Terror der Ökonomie. Auf dieser Basis konnten in Genua die vielfältigsten Ansätze und Mittel zum Ausdruck kommen. Gewiss, in allen Ländern koexistieren in dieser Bewegung verschiedene Positionen. Während die einen ihre Kritik auf den Finanzkapitalismus beschränken, wollen andere den Neoliberalismus als fundamentalistisches Denk-, Handlungs- und Steuerungsprinzip bekämpfen, welches die Existenzberechtigung von Menschen an deren ökonomischer Verwertbarkeit bemisst. Fakt ist jedoch, dass es keiner dieser Fraktionen einen politischen Nutzen bringen wird, die anderen öffentlich zu kritisieren und öffentlich abzuwerten. Das dürfte die Erfahrung ausreichend bewiesen haben. Die Verhältnisse tatsächlich zum Tanzen bringen wird die Bewegung nur, solange sie aus ihrer heterogenen Zusammensetzung die maximale Energie zieht, d.h. wenn die verschiedenen Flügel sich vor allem unterstützen und sich auf gemeinsame Lernprozesse und ein produktives Nebeneinander einlassen. Schließlich muss niemand gegen seine Überzeugungen den »Reformisten« oder »Radikalinskis« beitreten - sondern es geht darum, gemeinsame Kämpfe zu führen. Anstatt uns eine Diskussion über uns selbst, unsere »Identitäten« und Aktionsformen aufzwingen zu lassen, sollten wir den Blick nach vorn richten und uns dabei auf die Gemeinsamkeit stützen, die alle Strömungen eint. Wir sollten uns für die nächsten Treffen des globalen Entscheidungskartells besser koordinieren als bisher, unsere Unterschiede dabei als sich ergänzende Werkzeuge begreifen. Wir sollten neue lokale Ansatzpunkte für Bündnisse und Aktionen suchen, die die positiven Erfahrungen aus Genua und anderen Orten auch hier nachvollziehbar machen. Wir alle haben erlebt, wie der vor allem seit der Wende in Deutschland grassierende Abgrenzungswahn, der die Reinheit der eigenen Position höher bewertet als gemeinsames Handeln, zu völliger Lähmung geführt hat. Wie können also Diskussionen, auch in der Jungle World, so gestaltet werden, dass sie Bewegungen zwar kritisch begleiten und ihren Blick schärfen, ohne aber jeglichen Ansatz von politischer Praxis wegen mangelnder Erfüllung des deutschen Reinheitsgebots zu torpedieren? Die deutsche Linke sollte den Mut zu neuen Wegen aufbringen, und auch den Mut zu neuen Fehlern. Sicher, wer sich bewegt, kann Fehler machen, aber wer sich nicht bewegt, hat schon verloren. | »für eine linke strömung« (fels) und »überregionales forum genova libera« | »für eine linke strömung« (fels) und »überregionales forum genova libera«: Proteste gegen die Globalisierung | [] | Disko | 15.08.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/33/fuer-bewegung-sorgen |
Die Auswüchse des neuen hippen Journalismus | Es war einmal … eine Zeit, in der »Betrunkene Person benimmt sich daneben« weder von Journalisten noch von Lesern als sonderlich aufregende Meldung eingestuft wurde. Damals, als die durchschnittlichen Entgleisungen Besoffener höchstens in dem örtlichen Polizeibericht entnommenen Kurznachrichten der Lokalzeitungen vorkamen, hätte sich wahrscheinlich kaum jemand vorstellen können, dass Aufnahmen torkelnder und schimpfender Menschen eines Tages nicht nur weltweit als gelungenes Unterhaltungsprogramm gelten, sondern auch allen Ernstes von Zeitungen verbreitet werden.
Wie der Fall einer jungen Amerikanerin, die unbedingt mit einem Taxi fahren wollte, dessen Besitzer sie allerdings keinesfalls mitzunehmen gewillt war. Die Frau rastete daraufhin mehr als verbal aus, was von einem Passanten mit dem Handy gefilmt wurde. Wie man so heruntergekommen sein kann, dass man am Wochenende nichts Besseres zu tun hat, als Videos von fremden Leuten zu machen, ist eine Frage, die sich anschließend wohl kaum jemand stellte, als das Filmchen von der äußerst ungehaltenen Betrunkenen veröffentlicht wurde. Besonders spannend ist es nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man schon mal jemand Besoffenes gesehen hat, aber gleichwohl wurde es umgehend zum Youtube-Hit und dann auch von großen deutschen Zeitungen übernommen.
In den USA machte es sich ein Journalist sogar zur Aufgabe, alles über die Identität der Frau herauszufinden, seinen Text garnierte er mit Bildern ihrer Verwandten, die er auf Facebook fand. Der sich in der Folge über sie ergießende internationale Hass wurde dann so groß, dass sie schließlich im Frühstücksfernsehen darum bat, man möge sie doch bitte in Ruhe lassen, sie habe dadurch bereits ihren Job verloren und sei am Ende. Wirklich super, dieser hippe neue Journalismus. | Elke Wittich | Elke Wittich: | [] | dschungel | 25.02.2016 | https://jungle.world//artikel/2016/08/die-auswuechse-des-neuen-hippen-journalismus?page=0%2C%2C1 |
Kritik der Waffen | General Pervez Musharraf gibt sich redliche Mühe, seine Autorität zu beweisen. Vergangene Woche meldete die Nachrichtenagentur paknews, im Verlauf der staatlichen Entwaffnungskampagne seien in nur zehn Tagen 14 122 illegale Waffen beschlagnahmt und 3 575 Personen festgenommen worden. Neben Pistolen und Kalaschnikows fanden Musharrafs Fahnder auch diverse Geschütze und sogar einige Panzerwagen. Die staatliche Erfolgsstatistik gibt einen kleinen Einblick in die Realität eines Landes, dessen Oligarchie es in mehr als 50 Jahren seit der Unabhängigkeit verstanden hat, die gesellschaftliche Modernisierung zu blockieren. Von der Zentralregierung nur oberflächlich kontrolliert, haben sich regionale und politische Machtzentren etabliert. Die Landbevölkerung wird in weiten Teilen Pakistans noch immer von halbfeudalen Großgrundbesitzern beherrscht, in den Städten dominiert eine Bourgeoisie, deren Reichtum nicht zuletzt auf Kinderarbeit beruht. Die großen zivilen Parteien vertreten verschiedene Fraktionen der Oligarchie und haben nur dann Zulauf, wenn die Unzufriedenheit mit der Militärherrschaft wächst. Das ist derzeit wieder der Fall. Musharraf, der sich im Oktober 1999 an die Macht putschte, muss sich mit einer wachsenden Opposition auseinandersetzen. Er reagiert mit Massenverhaftungen und dem Versuch, wenigstens einige der halbautonomen Machtzentren unter Kontrolle zu bringen. Ob er auch die islamistischen Organisationen entwaffnen kann und will, bleibt allerdings fraglich. Die Islamisten haben zahlreiche Sympathisanten in der Armee, zudem benötigt man sie für außenpolitische Zwecke. Im indischen Kaschmir werden islamistische Gruppen unterstützt, um den pakistanischen Anspruch auf dieses Gebiet durchzusetzen. Noch immer erhalten die afghanischen Taliban Hilfe aus Pakistan, dessen Oligarchie die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass sich doch noch ein Weg zu den Energievorräten Mittelasiens freischießen lässt. Dieses Ziel könnte durchaus noch erreicht werden. Warlordisierung und autoritäre Herrschaft werden von den westlichen Staaten zwar gelegentlich kritisiert, aber weit öfter geduldet oder gefördert, wenn sie nützlich sind. Jedenfalls war der Versuch, das Ausbleiben der Modernisierung durch militärische Stärke zu kompensieren, bislang recht erfolgreich. Nachdem Pakistan mit seinen Atomwaffentests 1998 die Tür zum exklusiven Club der Atommächte eingetreten hatte, gab es keine ernsthaften Anstrengungen mehr, das Land wieder hinauszuwerfen. Musharraf versucht nun, seine Macht über die für 2002 geplanten Wahlen hinaus abzusichern. Er verlässt sich darauf, dass den westlichen Staaten ein »gemäßigter« Militärdiktator lieber ist als eine zivile Regierung, die weder die Islamisten noch das Militär oder den Geheimdienst kontrollieren kann. Diese Kalkulation scheint aufzugehen. Nachdem er am 21. Juni den Titeln des Chief Executive und des Generalstabschefs noch den des Präsidenten hinzugefügt hatte (Jungle World, 27/01), kamen aus den westlichen Hauptstädten zwar die üblichen Mahnungen, doch bitte bald wieder zur Zivilherrschaft zurückzukehren. Von weiteren Sanktionen aber war nicht die Rede, schließlich würde ein ökonomischer Zusammenbruch die Islamisten weiter stärken, möglicherweise könnten sich sogar politische Fanatiker der Atomwaffen bemächtigen und das Feuer des heiligen Krieges einmal auf unkonventionelle Art entfachen wollen. Für die Beendigung der verbliebenen Sanktionen hat Pakistan schlagkräftige Argumente. Am 19. Juni erklärte Außenminister Abdul Sattar, das Rüstungsembargo zwinge im Kriegsfall zum frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen. Wenn Pakistan sich auf seine konventionelle Armee nicht verlassen könne, bedeute das »in der Konsequenz ein größeres Vertrauen in die strategische Abschreckung«. | Jörn Schulz | Jörn Schulz: Militärherrschaft in Pakistan | [] | Ausland | 11.07.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/28/kritik-der-waffen?page=0%2C%2C1 |
Triff den Trottelstar! | Die deutsche B-, C-, D- und so weiter-Prominenz darf sich freuen: In den USA wurde gerade ein Reality Soap-Format gestartet, das der Spezies der Wegen-eigentlich-nix-Berühmtheiten auf Jahre hinaus Beschäftigung und natürlich vor allem Fernsehauftritte verschaffen könnte.
Das Konzept der Serie »H8rs« (sprich: Haters) ist ganz einfach: Ein leidlich bekannter Star trifft auf jemanden, der ihn nicht ausstehen kann. Dieser Jemand war zuvor von einem Freund oder einer Freundin in eine Falle gelockt, also in eine Situation gebracht worden, in der ausführliches Lästern über den Promi unausweichlich war. Und wird kurz darauf vom wütenden Gesprächsthema mit den heimlich gefilmten Aussagen konfrontiert. Weil das allein noch nicht die Sendezeit füllt – zumal es sich in aller Regel nicht um wirklichen Hass, sondern bloß um im Kern richtige Bemerkungen wie »nervt«, »kann nicht einmal schauspielern«, »wirkt immer total aufgesetzt« handelt – ziehen Celebrity und Opfer anschließend gemeinsam los. Der oder die leidlich Prominente darf nämlich rund einen halben Tag alles daran setzen zu zeigen, wie er oder sie wirklich ist, also endlos über Wohltätigkeitsprojekte labern, Mama und Papa als Zeugen dafür heranziehen, dass er oder sie ein total netter Mensch ist, Einblicke ins selbstverständlich vollkommen ungestellte Privatleben geben, kurz: sich selbst vermarkten. Im Idealfall soll aus dem Nichtausstehenkönner daraufhin natürlich ein treuer Fan werden. Und weil das Konzept »Quengelige Möchtegern-Megapromis überfallen hinterrücks Leute, die eigentlich lieber ihre Ruhe vor ihnen haben wollen« hinreichend dusselig ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass es bald auch in Deutschland übernommen wird – als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für alle, die nicht einmal mehr in Talkshows eingeladen werden. | Elke Wittich und Boris Mayer | Elke Wittich und Boris Mayer: | [] | dschungel | 06.10.2011 | https://jungle.world//artikel/2011/40/triff-den-trottelstar?page=0%2C%2C0 |
Zahltag! | »Markt und Wettbewerb sind (…) die effizienteste Form der Caritas.«Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juni »Denn das Wesen eines Dominospiels besteht darin, dass jeder Stein umfallen kann, und sei er auch noch so weit vom ersten Stein entfernt.«Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. August »Iss und trink, solang dir’s schmeckt, schon zweimal ist uns’s Geld verreckt.«Deutsches Sprichwort, 1949 Jeder als Einzelner ahnt längst, was die Gesellschaft keineswegs wissen möchte: dass die Propaganda, man lebe in einer zwar durchaus und allerdings sehr bedenklichen, aber doch der bestmöglichen aller Welten – nur etwas Öko-Strom und Fairtrade mehr dürften es schon sein, dazu Bio-Limonade, Tierschutz und Amnesty international –, auf Treibsand gebaut hat. Dass die Kapitalisierung der Gesellschaft längst eine Intensität erreicht hat, die den Fortschritt nur als Flucht vor dem totalen Zusammenbruch jedweder Reproduktion, d.h. als Wechsel auf die Katastrophe erlaubt, ahnt jeder, und sichtbar wird es genau durch die Energie, die die Öffentlichkeit ins Verdrängen, Verleugnen und Abspalten investiert. Der erste Run auf eine europäische Bank seit der großen Krise von 1929, auf die Northern Rock Bank in England im September, als sich lange Menschenschlangen vor der Bank bildeten und die Polizei eingreifen musste, um die Massen zu beruhigen, offenbart, dass im Keller der Zukunftsgewissheit die nackte Angst lauert, jederzeit bereit, in Panik umzuschlagen. Alles ist verkehrt, sogar, so die Finanzpresse, »die Maschinen laufen plötzlich Amok« (Handelsblatt), weil sich der »Schleier des Marktes« (FAZ) hebt, die »Finanzmärkte in Aufruhr« geraten und ein »Orkan der Angst« (Handelsblatt) losbricht. Dahin führt diese Angst, schlimmer noch: »die überall grassierende Angst vor der Angst« (Handelsblatt), dass die Leute aus Furcht vor dem Tod am liebsten Selbstmord begehen und darin das gesellschaftliche Schicksal vorwegnehmen möchten, das ihre ureigene Produktionsweise über sie vollstreckt hat. Die Gesellschaft hat, in ihrer Verkehrung, eine, so Marx, »Religion des Alltagslebens« hervorgebracht, die in der »Personifizierung der Sachen« einerseits, der »Versachlichung der Produktionsverhältnisse« andrerseits besteht, d.h. im allseits durchgeführten Fetischismus. Diese Alltagsreligion schwört auf Geld und Kapital als auf das kollektive Unbewusste der Gesellschaft, ihren Triebgrund, und sie lehrt die »Demut vor dem Markt«, wie die FAZ es kürzlich in einer Rezension eines Buches von Wieland Staud formulierte. Einerseits sind das Geldverdienen und Geldgebrauchen die bloße Selbstverständlichkeit und zweite Natur, andrerseits versteht man nicht, wie es das Geld macht, sinnlich verschiedene Gebrauchswerte zu vergleichen, verrechenbar zu machen und in einer Einheit auszudrücken, die die Gesellschaft zu einer identischen macht. Der Fetisch des Geldes – erst recht seine Bewegungsform, der Kapitalfetisch – stiftet eine Heimeligkeit, wie sie aus der Gewohnheit reiner Funktionslust entsteht (»Wer zahlt, schafft an«), eine Vertrautheit, die verspricht, die Einsamkeit, wie sie aus der allgemeinen Konkurrenz entsteht, zu heilen. Dies sitzt dem Grauen auf wie der Korken der Sektflasche. Die Sprache des Journalismus, in der dies Unheil sich ausdrückt, ist danach. Sie changiert zwischen Naturbeschwörung und Voluntarismus: Da wütet »der Virus der Hypothekengrippe«, eine »veritable Sturm flut« (beides FAZ) bricht herein, es herrscht »Dürre am Kreditmarkt« (Finicial Times Deutschland), und überhaupt: »die Seuche« (FAZ) wütet – aber zugleich soll »Marktpsychologie« ausschlaggebend sein und es bedürfe, gern auch mittels »Tiefenpsychologie«, der Aufklärung über das »gefährliche Herdenverhalten unter Investoren« (Die Welt), die wohl nicht ganz dem »Leitbild des mündigen, souveränen Konsumenten« (FAZ) genügen können, sich vielmehr wie die Lemminge aufführen. Der Zwangscharakter der ökonomischen Objektivität schlägt um in allerlei Pseudowissenschaften wie die »Neuroökonomie«, die dem »Geheimnis des Menschen«, insbesondere dem seiner ökonomischen Entscheidungen, mittels der »funktionellen Magnetfeldresonanztomographie« auf die Schliche kommen will, denn: »Wir wissen, dass Vertrauen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung einer Volkswirtschaft haben kann. Trotzdem ist nur wenig über die Entstehung von Vertrauen bekannt.« (FAZ) Aber vielleicht hilft ja auch eine neue »Anlagephilosophie« und eine »ganzheitliche Kundenberatung« (FAZ). Die Volkswirtschaftslehre ist der Spaß, den sich die Ökonomen auf Kosten des Publikums machen, und jeder dieser Apostel weiß, dass sie über die Wirtschaft, die das Schicksal ist, noch weniger wissen als die andern – darüber lacht das Handelsblatt: »Ein Schimpanse wirft mit verbundenen Augen Dart-Pfeile auf den Kursteil einer Zeitung. Die Aktien und Anleihen, die er trifft, entwickeln sich anschließend besser als alles, was von Experten in akribischer Analyse ausgewählt wurde.« Ökonomie ist die Äffung des Menschen durch sich selbst. Die notorische Unfähigkeit, ein synthetisches Urteil über die grundlegenden Kategorien der Vergesellschaftung zu fällen, das permanente Schwanken des Denkens in Antinomien, d.h. in Behauptungen, die sich gegenseitig ausschließen und einander doch implizieren und voraussetzen, ist die Weise, in der die totale Verblendung, deren Name Ideologie ist, die verkehrte Gesellschaft reproduzieren hilft. Auf der einen Seite herrscht der vollendete Rationalismus, und die Bewegungen des Kapitals werden beobachtet und berechnet wie kaum das Wetter; hier geht es um »eine effizientere Allokation des knappen Gutes Kapital« vermittels »riesiger Datenbanken, leistungsstarker Computer und hochgezüchteter Risikomanagementsysteme« (FAZ). Auf der anderen Seite muss man, sagt der Finanzminister, im »Casino-Kapitalismus« leben, worin »die Menschen sich als kleine Rädchen in der Welt anonymer Spekulanten fühlen« (Stern). Einerseits und andrerseits; König Kunde, arme Sau: Darüber müsste verrückt werden oder schizophren, wer noch irgend auf die Wahrheitsfähigkeit seines Denkens vertraute. Aber weder die wissenschaftlichen Ökonomen, die, so Marx, »Schule der ökonomischen Wetterkünstler«, noch die Praktiker nehmen daran Anstoß. Sie vertrauen darauf, dass die gesellschaftliche Synthesis schon ohne sie fix und fertig ist, dass sie in der Gestalt des Geldes vorliegt und sich als Kapital quasi automatisch bewegt, darauf, dass der Zusammenhang von Ware und Geld so gottgewollt wie naturgegeben ist. Das Denken haben sie zur bloßen Meinung über’s Gegebene verhunzt. Aber der Zusammenhang erst von Ware und Geld, dann von Geld und Kapital ist selbst das Mysterium, das im Zentrum der Gesellschaft west. Wie es sein kann, dass die gesellschaftliche Vermittlung sich verkehrt und zum Ding wird, wie es möglich ist, dass im Geld das Allgemeine der Gesellschaft unmittelbar wird, handgreiflich und konkret, dass die Gesellschaft sich in sich selbst noch einmal präsentiert und im Geld als der »Gesellschaft in der Hosentasche« (Marx) die allgemeine Konvertibilität der Individuen zu Subjekten garantiert, das ist den Ökonomen und ihrer Öffentlichkeit das Rätsel schlechthin. Solange »anything goes«, juckt das niemanden, und »ein vollkommener Widerspruch hat durchaus nichts Geheimnisvolles für sie« (Marx), denn ihr analytischer Verstand ist ganz frei von dialektischer Vernunft. Die Krise demonstriert sodann, dass das Kaufen und Verkaufen keineswegs eine einzige flüssige Bewegung darstellt, sondern die zentrale Instanz der Vermittlung. Solange es gut geht, löst sich die harte Zahlung auf in eine unendliche Kette von Krediten; sowie es schlecht geht, d.h. sowie sich zeigt, dass das Kaufen und Verkaufen keineswegs die pragmatische Methode darstellt, »Güter« und »Bedürfnisse« zu vermitteln, dass das Geld keinesfalls der technische Schlüssel ist zur »Allokation«, sondern vielmehr, als Erscheinungsform des Kapitals, sein höchsteigenes Leben führt, tritt unvermittelt die Panik an die Stelle der Gesundbeterei, und alle Welt fragt sich vermittels der Finanzpresse, wo zwischen »Wert« und »Bewertung«, zwischen »Preis« und »Fundamentalwert« überhaupt noch etwas wie »der wahre Wert« zu finden sei, der im Jenseits eines Geldausdrucks zu bestehen vermöchte. Und »dieses plötzliche Umschlagen aus dem Kreditsystem in das Monetarsystem fügt den theoretischen Schrecken zur praktischen Panik: und die Zirkulationsagenten schaudern vor dem undurchdringlichen Geheimnis ihrer eignen Verhältnisse« (Marx). In der Panik, in der hysterischen Antizipation des Zusammenbruchs der verkehrten Gesellschaft, spricht sich begriffslos aus, dass das Kapital, nur einmal ganz logisch betrachtet, eine unmögliche Produktionsweise ist. Dann hilft es weniger als nichts, wenn der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung erklärt, das Kapital sei nur ein »Produktionsfaktor«, denn nun, in der Krise, zeigt sich, dass der »Faktor« kein Faktotum ist und stets zu Diensten (»Denn ohne Kapital bleibt die fleißigste Arbeit arm«). Obwohl das Kapital unmöglich ist – denn wie sollte das Ganze im Ganzen präsent sein? –, ist es gerade deshalb wirklich geworden, eine unmittelbare Allgemeinheit, die so überwältigend wie niederschmetternd funktioniert: der allgemeine Einschluss vollzieht sich über den totalen Ausschluss eines Jeden durch Jeden. Darauf basiert das Kapitalverhältnis, dass jedes Individuum nur in der Form des juristischen Subjekts konstituiert und nur darin als gesellschaftlich gültig gesetzt wird, dass die Selbsterhaltung der Körper in der lebendigen Arbeitskraft unmittelbar mit der Akkumulation des Kapitals identifiziert wird. In der Form des Subjekts gesetzt, hat das Individuum die Gattung in sich selbst zu negieren. So ist jedes Subjekt ein Feind der Menschheit als des Integrals ihrer Individuen; es reduziert die Gattung auf Anweisung des deutschen Sprichworts »Des einen Brot, des andern Tod« auf die Summe ihrer Exemplare. Vor allem in Deutschland. Denn die Vorahnung des Zusammenbruchs, des radikalen Auseinandertretens von Selbsterhaltung und Akkumulation, spricht sich aus als Verdammung der Spekulation, der man schon anmerken kann, wer tatsächlich gemeint ist. Sind Spekulation, Börse und Couponschneiderei, Derivatenhandel, »Heuschrecken« und Private Equity in Wahrheit nur Rationalisierungen des Kapitalkreislaufs selbst, Beschleunigungen der Akkumulation und Versuche, dem Kapital das Leben durch eine ausgefuchste Kreditwirtschaft leichter zu machen, so glauben nun die Landsleute, das Geld habe nicht nur mit der Produktion gar nichts zu tun, sondern sei gar ein organisiertes Attentat, eine Verschwörung gegen das Leben. Die Boulevardpresse agitiert: »Geld zerstört die Welt«, unbekannte Kräfte hätten »eine gigantische Geldbombe« gelegt, so der Stern, außerdem sei die »Finanzkrise made in USA«, meint die Welt. »Wie sicher ist unser Geld?« fragt der Stern, wenn es, ängstigt sich die Süddeutsche, in die Hände »gieriger Finanzmanager« gerät; und was mag geschehen, fragt die Frankfurter Allgemeine, wenn statt deutscher »Unternehmerpersönlichkeiten« nun »smarte Finanzjongleure« das ökonomische Schicksal bestimmen? Zuvor, in der Konjunktur, war das bare Geld eine verschwindende, flüchtige Angelegenheit, und jede Ware schien, mit einem Preisschild beklebt, sich schon Geld genug zu sein. Jetzt, in der Krise, wo das Kaufen und Verkaufen an der Barrikade der baren Zahlung zu scheitern droht, verfällt die deutsche Ideologie in ihr liebstes und gefährlichstes Schema, auf die Trennung von Produktion und Zirkulation, auf den imaginären Unterschied einer »Güterherstellung« von nichts als Gebrauchswerten einerseits, des Unwesens von Zins und Zinseszins andrerseits. »Die Krise des großen Geldes bedroht die reale Wirtschaft«, heult der Boulevard (Stern); es sei ganz furchtbar, »wie stark die Finanzkrise auf die reale Wirtschaft durchschlägt«, notiert die gehobene Bourgeois-Presse. (FAZ) Dieser Unterschied, seinem Gehalt nach nichts als das objektiv notwendige falsche Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst, gibt schon die Anweisung auf die Trennlinie, die die deutsche Ideologie tatsächlich zu ziehen beliebt, die nämlich zwischen dem »schaffenden« und dem »raffenden« Kapital, zwischen der gesunden Ausbeutung im Dienste von Volk und Staat und »Heuschrecken« des »amerikanischen Alptraums«. Weder die outrierte Sprache derjenigen, die das Kapital verwalten dürfen – so ist der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank der Meinung, »›Wirtschaft‹ bezeichnet einen wertneutralen Kultursachbereich«, was dann die Meldung »Putzfrauen sollen billiger werden« (Financial Times Deutschland) erträglich werden lässt –, noch die feinsinnigen Disputationen ihrer Professoren täuschen über die einfache Wahrheit hinweg, dass man, wie »Anlagechef Bill Miller von der Fondgesellschaft Legg Mason« der FAZ aufsagt, »nicht recht behalten kann, wenn man kein Geld hat«. Wahrheit und Interesse sind zweierlei in der Ökonomie des Kapitals. Und die Abspaltung der »realen« von der »Finanzwirtschaft« macht deutlich, welche Sorte »Krisenlösung« man anzuwenden gedenkt, wenn sich die gegenwärtige Situation nicht als »Sommergewitter« (Die Welt) erweisen sollte, sondern als »Beben«, »Strudel« und »Flächenbrand« (Handelsblatt). Wie stets wollen die Linken um die Rolle der Avantgarde auf der schiefen Bahn konkurrieren, die hiermit betreten ist. Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, bei der Partei »Die Linke« wohlgelitten, attestiert dem »Spekulationskapitalismus« nichts als »Raffgier«, »Inkompetenz« und »Unverantwortlichkeit«, eine einzige Schweinerei und »Kreditorgie« sei das, der wahre Grund jedoch der Misere liege in der »durch Spekulation angetriebenen Abkoppelung der Finanzmärkte von der Produktionswirtschaft« und in der »unzureichenden Verwendung der Profite zur Produktion« (Blätter für deutsche und internationale Politik). Drum Linkspartei? Aber die Produktion ist keinesfalls die von Gebrauchswerten, sondern die von bepreisten Waren, die ihren Wert zu realisieren haben, und dies nicht einfach nur so zu Profiten, sondern zu einer gewissen Profitrate. Ein Kapital, das eine Profitrate von zehn Prozent macht, wird relativ von einem anderen Kapital entwertet, das 15 Prozent heckt. Der Wert, von dem keiner weiß, ob er objektiv ist oder subjektiv, ist jedenfalls relativ. Daher war es auch keine Spekulation, sondern überaus clever, als es der irischen Filiale der Sachsen LB zuerst gelang, ein Kapital von 20,5 Milliarden zu verwalten, d.h. 888 Prozent ihres Eigenkapitals. Wenn die Wirtschaft, wie die Professoren sagen, überwiegend Psychologie ist, dann kann das Geld nicht mehr sein als eine schöne Einbildung; wenn dann die harte Zahlung gefragt ist, wenn sich herausstellt, dass nur der Staat als Kapitalist letzter Instanz Geld in Umlauf bringen kann, weil er über die Goldreserve verfügt, dann ruft man nach dem starken Staat, nach dem Souverän. »Was die Auffassung des Geldes in seiner vollen Bestimmtheit als Geld besonders schwierig macht«, sagt Karl Marx, »– Schwierigkeiten, denen die politische Ökonomie dadurch zu entrinnen sucht, dass sie eine seiner Bestimmungen über die andre vergisst, und wenn ihr eine entgegengehalten wird, an die andere appelliert – ist, dass hier ein Gesellschaftsverhältnis, eine bestimmte Beziehung der Individuen aufeinander, als ein Metall, eine rein körperliche Sache außer ihnen erscheint.« Daraus erwächst »diese verzauberte und verkehrte Welt«, deren wirklicher Zahltag die Revolution sein wird. Denn die bestimmte Beziehung der Individuen aufeinander als eine Beziehung von Herrschenden auf Beherrschte, Ausbeutern auf Ausgebeutete, die Qualität der Gesellschaft als vollendet negative ist es, die in Geld und Kapital sich verkörpert. | »initiative sozialistisches forum« | »initiative sozialistisches forum«: | [] | Inland | 15.11.2007 | https://jungle.world//artikel/2007/46/zahltag |
Eigenlob und Rache | »It’s fun to stay at the Y.M.C.A.« Die Village People tanzen mit Trump am Tag vor seinem Amtsantritt zu ihrem Hit, 19. Januar Nichts an der feierlichen Amtseinführung des 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten am Montag und an dem, was Donald J. Trump sagte und vor allem danach tat, war überraschend. Weder seine mit den üblichen Lügen, Halbwahrheiten und begeistertem Eigenlob durchzogene Antrittsrede, in der es kein von manchen Republikanern und Demokraten wider besseres Wissen erhofftes Beschwören der nationalen Einheit gab, noch seine gockeligen Tänzchen auf den anschließenden Partys – und schon gar nicht der Inhalt der Dekrete, die zu unterzeichnen Trump zuvor versprochen hatte. Entsprechend machte er sich umgehend daran, Entscheidungen der Vorgängerregierung von Joe Biden zu revidieren. Ein unvollständiger Überblick seiner Erlasse: Rückzug der USA aus der Weltgesundheitsorganisation und vom Pariser Klimaschutzabkommen, die Ausweitung der Energieproduktion durch das umweltschädliche Fracking sowie die Aussetzung von Genehmigungen für neue Windkraftanlagen und die Überprüfung der bereits erteilten. Umgehende Deaktivierung der Smartphone-App CBP One, mit deren Hilfe die legale Einreise über Mexiko in die USA geregelt wurde sowie Termine und Anhörungen an den Grenzübergängen zu vereinbaren waren. Sie wurden samt und sonders mit einem Handstreich storniert. Trump hat angekündigt, mehr Druck auf Mexiko auszuüben, um Flüchtlinge auf dem Weg in die USA aufzuhalten. Am frühen Samstagmorgen haben vorwiegend venezolanische Bewohner eines Zeltlagers im nordmexikanischen Chihuahua ein Feuer gelegt, um die Räumung durch die Polizei zu verhindern. Die mexikanischen Beamten hatten das Lager nachts umzingelt Darüber hinaus hat Trump eine sofort beginnende Untersuchung der Handelsbeziehungen zu Mexiko, Kanada und China sowie die Evaluierung eventueller anderer »unfairer« Handelspraktiken in Gang gesetzt. Dahinter steckt die wiederholt ausgesprochene Drohung mit Schutzzöllen, die allerdings nicht – wie Trump gern suggeriert – von den exportierenden Ländern bezahlt werden, sondern von den Importeuren, die entstehende Mehrkosten erfahrungsgemäß auf die Verbraucher umlegen, in diesem Falle also die US-Bürger. Trump begnadigte die meisten seiner Anhänger, die am Sturm auf das Kapitol beteiligt gewesen waren und sich dabei strafbar gemacht hatten. Bei seinen Anhängern führte vor allem die Anweisung, das künftig nur noch zwei Geschlechter anerkannt werden, zu großem Jubel. Nur noch das Geschlecht bei der Geburt darf in offiziellen Dokumenten genannt werden, in Gefängnissen sollen keine Mittel mehr für geschlechtsangleichende Operationen und Medikamente aufgewendet werden. Schulen und andere Institutionen, die Transmädchen und -frauen Zugang zu Toiletten, Umkleidekabinen und Sportteams für Frauen ermöglichen, dürften in Schwierigkeiten mit dem Gesetz geraten. Eines der innenpolitisch folgenreichsten Dekrete ist die Abschaffung des Geburtsrechts auf die US-Staatsbürgerschaft. Das birthright ist im 14. Verfassungszusatz geregelt, der 1868 in Kraft trat. Darin heißt es: »Alle in den USA geborenen oder eingebürgerten Personen sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Bundesstaates, in dem sie wohnen.« Aufgehoben wurde damit eine Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahr 1857, die den Nachkommen von Sklaven kein Recht auf die US-Staatsbürgerschaft gewährte. Die American Civil Liberties Union und weitere Bürgerrechts-Organisationen kündigten bereits an, gegen das Dekret zu klagen, da es gegen die Verfassung verstoße. Bis eine endgültige Entscheidung über dessen Rechtmäßigkeit gefällt wird, dürften Jahre vergehen. Hinzu kommt, dass es Bidens Regierung nicht geschafft hat, wesentliche Änderungen an der Besetzung des Obersten Gerichtshofs wie begrenzte Amtszeiten und mehr Richterposten durchzubringen, so dass die von Trump durchgesetzte Dominanz erzkonservativer Richter erhalten bleibt. Neben diesen weitreichenden Dekreten unterzeichnete Trump eine Reihe eher kosmetischer Vorhaben wie die Anweisung an die Verwaltungsbehörde General Service Administration, für die Verschönerung öffentlicher Gebäude zu sorgen, also eine Art großdimensionales »Unser Dorf soll schöner werden«. Kleinliche Rachefeldzüge fehlen ebenfalls nicht: Trump entzieht seinem während der ersten Amtszeit in Ungnade gefallenen Sicherheitsberater John Bolton jegliche Art von Zugang zu als geheim klassifizierten Informationen der Regierung. Ebenso wird es den ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern ergehen, die einen offenen Brief unterzeichnet hatten, in dem eine Affäre um ein Laptop von Bidens Sohn Hunter – die von Trump genutzt wurde, um im Wahlkampf 2020 Bidens Integrität anzuzweifeln – als russische Desinformation bezeichnet wurde. Dass Trump tatsächliche oder vermutete Illoyalität bestrafen würde, war seit Monaten deutlich. Joe Biden hatte daher diejenigen vorsorglich begnadigt, an denen sich Trump in seinen hasserfüllten Wahlkampfauftritten besonders abgearbeitet hatte, wie Bidens ehemaligen Gesundheitsberater Anthony Fauci und die Mitglieder des Abgeordnetenhauses, die für die Untersuchung der Vorgänge rund um den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar zuständig gewesen waren. Dazu kommt auch der ehemalige Vorsitzende des Generalstabs der US-Streitkräfte, Mark Milley, der sich während der letzten Tage von Trumps erster Amtszeit dessen besonderen Zorn zugezogen hatte, als er China gegenüber versicherte, dass es keinen Atomangriff auf das Land geben werde. Dass Trump sich nicht um seine Rache bringen lassen möchte, zeigt eine weitere Ankündigung: Das FBI und andere Behörden sollen ihre Erkenntnisse über Fauci veröffentlichen – dabei ist nicht einmal klar, ob es überhaupt welche gibt. Fauci hatte sich gegenüber der Washington Post zurückhaltend dankbar über seine Begnadigung geäußert – er benötige sie nicht, da er sich zu keinem Zeitpunkt strafbar gemacht habe. Während Biden in einer selbst unter Demokraten hoch umstrittenen kurzfristigen Aktion seine eigene Familie bis hin zu seinen Geschwistern und deren Ehepartnern begnadigte, müssen andere sich vor Trumps berüchtigter nachtragender Art hüten. Etwa Lew Parnas, der einstige Vertraute von Anwalt Rudy Giuliani, der dabei geholfen hatte, die unter Rechten populäre Verschwörungslüge von Bidens Ukraine-Verbindungen zu kreieren, aber nach seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe über die Umtriebe von Trump und seinen Gefolgsleuten auspackte; oder Michael Cohen, jahrelang Trumps Mann fürs Grobe, der in seinen »Disloyal« betitelten Memoiren 2020 unter anderem die anrüchigen Geschäftspraktiken seines ehemaligen Vorgesetzten offenlegte. Auch die Richter und Staatsanwälte, die an den Prozessen gegen Trump mitgewirkt hatten und die von ihm in Reden immer wieder bedroht worden waren, erhielten keine Begnadigung. Dafür begnadigte Trump die meisten seiner Anhänger, die am Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 beteiligt gewesen waren und sich dabei strafbar gemacht hatten. Die über Stunden währenden Ausschreitungen, bei denen 140 Polizisten teils schwer verletzt wurden, waren maßgeblich von den rechtsextremen Proud Boys sowie den Oath Keepers mit geplant worden. 14 daran Beteiligte waren anschließend zu langen Haftstrafen bis zu 22 Jahren verurteilt worden. Selbst manche Republikaner wie der neue Vizepräsident J. D. Vance sowie die künftige Generalstaatsanwältin Pam Bondi hatten darauf gedrängt, dass die Rädelsführer und besonders gewalttätige Personen von der Amnestie ausgenommen werden, schließlich sieht sich die Republikanische Partei als fest an der Seite der Polizei stehend. Entsprechend enttäuscht äußerten sich Beamte, die für den Schutz des Kapitols und der dort versammelten Abgeordneten zuständig gewesen waren. Nein, sagte einer, diese Entscheidung Trumps könne er nicht verstehen, denn im Nachhinein würden damit diejenigen legitimiert, die ihn und seine Kollegen nach dem 6. Januar immer wieder als Verräter gebrandmarkt und bedroht hatten. Einer Umfrage zufolge waren selbst unter den Anhängern der Republikaner 40 Prozent gegen eine Amnestie für die Kapitolstürmer. | Elke Wittich | Elke Wittich: In den USA hat Präsident Donald Trump sein Amt angetreten und sofort Dutzende Dekrete erlassen | [
"USA",
"Donald Trump",
"Sturm auf das Kapitol"
] | Ausland | 23.01.2025 | https://jungle.world//artikel/2025/04/usa-donald-trump-amtseinfuehrung-dekrete-eigenlob-und-rache?page=0%2C%2C0 |
Ladenschluß | "Wendelin Niedlich's" in Stuttgart war immer mehr als ein Buchladen - ein literarischer Salon inmitten der Stuttgarter Einkaufsmeile, und insoweit ein Hauch von Welt. In Festschriften über Max Bense, die Stuttgarter Schule, die APO-Jahre, gedenkt man seiner mit Wehmut. Auch die Robert-Walser-Verehrer hatten in ihm einen Stützpunkt. Was wichtiger ist: Er hatte stets alle Werke unseres Hausdichters Peter O. Chotjewitz auf Lager, sogar die seit 30 Jahren vergriffenen, aber natürlich auch die Jungle World und Preziosen wie die "Reihe rot" von Elisabeth Walter. Literarische Massenware, den neuesten Grass-Walser-Handke-etc., suchte man bei ihm vergeblich wie Ratgeber über den Ausbau von Einbauküchen. So lag sein ökonomisches Scheitern in der Logik seines Unternehmens, auch wenn er eine rätselhafte Neigung für drittklassige Grafiker hatte (Meckseper, Janssen, Wunderlich, Tripp). Natürlich war er ein Schlitzohr, das sich gerne was schenken ließ (Grafiken vor allem), aber vielleicht war Chotjewitz der einzige, der für Lesungen in des Buchhändlers Keller nie Geld kriegte. Stets jedoch erweckte Niedlich den Eindruck, daß man ihm helfen müsse, und tatsächlich fanden mehrfach Aktionen zur Rettung seiner Geschäftsbücher statt (falls er überhaupt welche hatte). Ermutigend war zuweilen die Waghalsigkeit seiner politischen Stellungnahmen. Ungeniert gründete er 1975 ein Komitee zur Verteidigung der politischen Gefangenen in der BRD, und als einziger lokaler Kulturträger stand er am Grab, als die Stammheimer beisgesetzt wurden. 1980 zur Bundestagswahl dekorierte er seine Schaufenster mit Anti-Strauß-Parolen. Der Eklat, den er damit auslöste, war nicht sein erster und letzter. Zum 1. März wird er nun zumachen und die lokale Presse, die Honoratorien etc. weinen seit Tagen ganzseitige Krokodilstränen über das kulturelle Urgestein, das da verlorengehe. Der vorläufige Schlußakt, letztes Wochenende, sah noch mal tout Posemuckl auf den Beinen: Eine endlose Versteigerung von Grafik aus seinem Besitz, im Sitzungssaal des Rathauses, Auktionator Ex-Landeschef Lothar Späth, der launig als "Geschäftsmann aus der demokratisch besetzten Zone" begrüßt wurde. Mit dem erwarteten Erlös von etwa 500 Riesen soll dem Mann des Buches ein "würdiger" Abgang ins elfte Jahrsiebt ermöglicht werden. So endete auch diese Ära in einer Provinzposse, natürlich. Gönnen wir's ihm, dem Niedlich, denn Rente kriegt er ja wohl keine. | : | [] | dschungel | 05.02.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/06/ladenschluss |
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16. Der Unsichtbare | Mein Vater hatte die tiefsten blauen Augen, die ich je gesehen habe. Nur seine Mutter hatte noch tiefere Augen, die jedoch schwarz waren. Er war ein überzeugter Atheist, ohne Sinn für Begriffe wie Familie, Vaterland, Geld und Ruhm, und ich glaube, daß er nach dem achtzehnten Lebensjahr keines seiner zwölf Geschwister wiedergesehen hat. Nur seiner Mutter gelang es, ihn noch einmal nach Jutrosin zu locken, indem sie ihre Nachbarin bat, ihm ein Telegramm zu schicken, sie liege im Sterben. Das muß 38/39 gewesen sein, denn das Jahr drauf war Krieg, und ich entsinne mich noch der schneeverwehten Gleise im Schlesischen Bahnhof und der Herdringe, mit denen meine Großmutter vergnügt klapperte, als wir an einem dunklen Wintermorgen ihre winzige Kochstube betraten. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, und nie wieder war es so dunkel wie damals in der Wasserpolackei. Meine Mutter war eine zärtliche, lebenskluge Frau, eine echte Berliner Pflanze, die ihren drei Ehemännern blind ergeben war. Mich wusch sie einmal die Woche und hörte erst damit auf, als ich so alt war, daß ich Erektionen bekam, sobald ihre Hand mit dem Waschlappen meinen Unterleib berührte. Ich vermute, sie wusch mich, um Wasser zu sparen, denn wir mußten das kostbare Naß mit dem Eimer vom Brunnen holen und hinterher vor dem Haus in die Kantel kippen, aber vielleicht gab es andere Gründe. Sie war üppig und sinnlich, litt in den schlechten Jahren darunter, daß es keine Kosmetika und keine Puccini-Platten gab und log nicht nur, wenn es zu ihrem Nutzen war, sondern weil die Wahrheit das war, was ihr gerade einfiel. Mein Vater dagegen las viel und redete noch mehr, glaubte aber auch an Gespenster. Er hatte in Kalisz gelernt wie man Matzen bäckt und sich eine gewisse Achtung vor der jüdischen Kultur bewahrt. Später hatte er in Berlin auf Anstreicher und Tapezierer umgeschult, in anarchistischen Zirkeln verkehrt, und oft, wenn ihm die Lesebrille die Nase runterrutschte und die Augen von ganz hinten über den Rand lugten, sah er wirklich so aus, als hätte er das zweite Gesicht. Das erste, vordergründige, wirkte plebejisch-harmlos, war gebräunt von der Gartenarbeit, grobporig und zerfurcht und ohne Lichter hinter der verrutschten Brille. Das zweite, dahinterliegende, war unsichtbar bis auf die Luger, die skeptisch aus der Tiefe äugten. Mit ihnen, behauptete er, seien ihm gelegentlich richtige Voraussagen gelungen, auf die aber keiner gehört habe. Ich glaubte jedoch nicht, daß er hellsehen konnte, denn vergeblich setzte er jede Woche viel Geld im Fußballtotto, was er sich so erklärte: "Glück hat man nur in den Dingen, von denen man nichts versteht." Er hatte in seiner Jugend das Straßenrennen Berlin-Cottbus-Berlin gewonnen (oder fast), beim Boxen fast alle Zähne verloren und war ein guter Ringer gewesen, doch warum er auch vom Fußball etwas verstehen wollte, habe ich nie verstanden. Er starb 1973 an Leberzirrhose, und als meine Mutter ein Jahr später gründlich saubermachte, weil sie heiraten wollte (einen schweigsamen Schuster aus Goldap ohne Verstand und Phantasie), entdeckte sie hinter dem Sofa, auf dem mein Vater immer saß, wenn er Sportschau guckte, viele leere Schnapsflaschen, fast alles Nordhäuser Doppelkorn. Unser letztes Gespräch betraf die Frage, ob sich das Leben gelohnt habe. Er sagte: "Mich hat immer nur interessiert, wie das Leben funktioniert." "Und weißt du's jetzt?" "Natürlich nicht." "Keine Erkenntnis?" "Nur eine: Selbst die größten Philosophen verbreiten Platitüden." Die früheste Erinnerung an ihn fällt auf meinen vierten Geburtstag, als ich nach einem Schädelbruch im Koma lag. An dem Tag öffneten sich meine Augen, und ich sah ihn umringt von Weißkitteln und erkannte ihn nicht. Ich hielt mich für tot und glaubte, er sei der liebe Gott im Kreise der Engel, denn er hatte einen üppigen Vollbart und blondes, lockiges Haar, bevor die Nazis ihm den Stahlhelm verpaßten. Da drängte meine Mutter sich durch die himmlische Schar, trat an die Bahre, auf der ich, nur mit einem Hemdchen bekleidet, lag und küßte mich. Wie im Traum roch ich ihr süßes Parfüm und begann zu pinkeln. Hochauf schoß mein kräftiger Strahl, vollführte einen eleganten Bogen und landete direkt in der Tasche eines Weißkittels. So tief hat das Ereignis sich im Gedächtnis verankert, daß ich noch heute davon träume. Ich liege mit nackten Unterleib auf einer fahrbaren Liege, gleite durch die Straßen, sehe die Menschen, die von den Fenstern und Balkonen zu mir herunterschauen und pinkele einen schönen Strahl in den Himmel über Berlin. Zu meinen skurrilsten Erinnerungen gehört hingegen der Unsichtbare, den Max Klebe eines Tages bei sich hatte. Er sei nahezu körperlos, behauptete mein Vater, ein Schemen nur, gehe hinter Klebe her, verfolge ihn geradezu, springe jedoch wie ein Affe um ihn herum, um nicht gesehen zu werden, wenn Klebe sich umdrehe, als fürchte er, verfolgt zu werden, so daß dieser das schemenhafte Wesen auch dann nicht sehen könne, wenn er subjektiv dazu in der Lage wäre. Ich nahm die Geschichte nicht ernst, hielt sie für eine der vielen Erfindungen, mit denen er uns Kinder verwirrte, seine Frau ärgerte oder langweilte und seine Mitmenschen dazu verleitete, ihn für einen Spinner zu halten, wenngleich einen harmlosen. Max Klebe stand bei einem Mann, dessen Name nichts zur Sache tut, und drehte seelenruhig an dessen Knöpfen. Wir saßen auf der Außentreppe der Schule, mein Vater und ich, machten Frühstück und schauten zu. Der Mann trug eine halblange grüne Joppe mit zwei Reihen Knöpfe wie man sie damals hatte, die eine Reihe zum Knöpfen, die zweite zur Zierde, und betrachtete Klebes Hände, die solange drehten, bis der Zwirn durchgetrennt war und der Knopf sich löste. Und wiewohl Klebes stiller Fleiß, der von einem ebenso ruhigen Gespräch untermalt wurde, den Mann zu irritieren schien, denn er konnte den Blick nicht wenden von Klebes knopfabdrehenden Händen, machte er keine Anstalten, ihn von seinem gedankenlosen Tun abzuhalten. Das ging so an die zehn Minuten, dann war das Gespräch zu Ende. Klebe drückte dem Mann, noch immer in Gedanken, erst die Hand, dann, halb im Gehen, auch noch die Knöpfe in die Hand, und es war dies der Moment, den mein Vater später, als wir den Vorfall besprachen, als Beispiel für die affenartigen Fluchtbewegungen des Unsichtbaren erwähnte. Der Mann stand noch da, betrachtete kopfschüttelnd die Knöpfe in seiner ausgestreckten Hand, als Klebe (den Unsichtbaren im Schlepptau) schon um die Einhornecke bog. "Hast du ihn jetzt gesehen?" frug mein Vater. "Wen?" frug ich schüchtern. "Der Kerl, der bei ihm war. Er hat ihm fast in die Hacken getreten." Ich spürte wie etwa zwölf Volt langsam über meine Hirnhaut krabbelten und der linke Nackenmuskel, der mir auch beim Gähnen immer wehtut, sich etwas verkrampfte, schüttelte jedoch tapfer den Kopf. "Dummkopf", sagte mein Vater, und die Augen in seinem zweiten Gesicht blitzten spöttisch. Ich hätte gerne gefragt, ob der Unsichtbare ein Toter sei, einer der Milliarden Toten zum Beispiel, die nur noch als Luftwesen existieren, und die Atmosphäre schon dermaßen angereichert hatten, daß man von dicker Luft und Umweltverschmutzung sprechen konnte, oder ein lebendiger Teil der Person, die ihn mit sich führte. Eine Art Schatten vielleicht. Das hätte seine Existenz etwas vereinfacht. Aber auch das war mir zu riskant. Also ließ ich es lieber. Die ersten 15 Erzählungen erschienen als Supplement in der Jungle World Nr. 52/1, 1997. In der nächsten Woche wird "Das Wespennest" mit der Folge 17, "Die Wiedergutmachung", fortgesetzt. | Peter O. Chotjewitz | Peter O. Chotjewitz: | [] | dschungel | 08.01.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/02/16-der-unsichtbare?page=0%2C%2C0 |
Razzia bei Christiane F. | In China ist ein Sack Reis umgefallen. Und in Dillingen an der Saar ist die Wiedereröffnung einer Diskothek gefeiert worden. So what? Nun, erstens handelt es sich nicht um irgendeine Disko, sondern ursprünglich um eine Filiale des »Sound« in der Genthiner Straße in Berlin, das durch das Buch und den Film »Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« und den Soundtrack von David Bowie einige Berühmtheit erlangte. Und zweitens ließ es der Bürgermeister Franz-Josef Berg (CDU) persönlich schließen. Das Saarländer »Sound« in der Kleinstadt Dillingen, aus der übrigens Oskar Lafontaine stammt, existiert seit 25 Jahren und gehört zu den wenigen Diskos der Region, in denen nicht nur Mainstream-Musik gespielt wird, sondern auch Musikrichtungen wie HipHop oder Dark Wave eine Chance haben. Zudem besteht der Anspruch, Migranten Schutz vor Diskriminierung zu bieten, und auch Menschen mit Behinderung sind hier gerne gesehen. Saarländische Politik- und Wirtschaftsprominenz ist hier gelegentlich anzutreffen, so zum Beispiel einige Landtagsabgeordnete, der Oppositionsführer Heiko Maas (SPD) mit Ehefrau Corinna. Früher sollen der SPD-Linke Ottmar Schreiner, der Chef von Energis und Vertraute des Bundeskanzlers, Leo Petry, sowie Bürgermeister Berg selbst dort gesehen worden sein. Der Grund für die Entziehung der Konzession durch die Stadtverwaltung war eine Drogenrazzia am 24. Oktober 2004 während einer Techno-Party. Dabei wurden größere Mengen Ecstasy sichergestellt. 79 Personen, meist Jugendliche, wurden vorläufig festgenommen, 140 Polizisten waren im Einsatz. Von den 231 Gästen im »Sound« war etwa ein Drittel im Besitz von Drogen. Als Reaktion auf die Razzia wurden die Techno-Partys aus dem Programm gestrichen. Das aber reichte dem Bürgermeister offenbar nicht aus. Franz-Josef Berg versuchte, sich als Mann von Recht und Ordnung zu profilieren, und schloss den Laden. Nach Informationen aus CDU-Kreisen soll auch die saarländische Innenministerin Annegret Kramp-Karrenbauer Druck ausgeübt haben, so dass es letztlich zum Konzessionsentzug kam. Verwundern würde das nicht, bekämpft doch die saarländische CDU-Landesregierung unter Peter Müller alles, worin das Wort »Drogen« vorkommt. So soll auch das Drogenhilfezentrum Brauerstraße in Saarbrücken geschlossen werden. Die Zahl der Drogenabhängigen sei so sehr gestiegen, dass der Standort in der Brauerstraße für die Anwohner nicht mehr zumutbar sei, erklärte der Sozialminister Josef Hecken vorigen Herbst im Saarländischen Rundfunk. Dabei sind die Befürworter des Zentrums auch für räumliche Alternativen offen: »Diese müssten aber citynah sein, damit sie für die Betroffenen erreichbar sind«, sagte Jürgen Nieser aus der Stadtratsfraktion der SPD. Zur legalen Droge Alkohol bekennt sich die CDU hingegen gern. So trägt Ministerpräsident Peter Müller auch den Titel »Botschafter des Bieres«, und der Geschäftsführende Gesellschafter der Karlsberg Brauerei, IHK-Präsident und Präsident des deutschen Brauerbundes Richard Weber, ist sein Parteikollege. »Dass es (das Bier) Ihnen sehr gut schmeckt, habe ich schon das ein oder andere Mal bezeugen dürfen«, sagte Weber in einer Laudatio auf Peter Müller. »Ich bin sicher, dass der Entzug der Konzession für das ›Sound‹ die breite Zustimmung der Bevölkerung finden wird«, sagte Berg der Saarbrücker Zeitung. Aber er irrte sich. Schon bald bildete sich ein lockeres Bündnis unter anderem aus saarländischen und luxemburgischen Jusos, der grünen Jugend und der PDS Saar, den SPD-Frauen und dem Dillinger Seniorenbeirat, das unter dem Slogan »Lasst euch nicht verarschen, vor allem nicht vom Berg« gegen das Vorgehen des Bürgermeisters protestierte. In einer ersten Stellungnahme des Landesvorsitzenden der Jusos, Michael Clivot, hieß es: »Eine der beliebtesten Diskos im Saarland ist vom Dillinger Verwaltungschef Franz-Josef Berg dichtgemacht worden. Im Übrigen befürchten wir nun eine weitere Verlagerung des Drogenhandels an die Schulen.« Protestmails kursierten, Unterschriften wurden gesammelt, an einer Stadtratssitzung mit »Einwohnerfragestunde« nahmen etwa 40 Mitarbeiter und Gäste des »Sound« teil, darunter ein Teilnehmer einer Behindertenwerkstatt der Arbeiterwohlfahrt. Die Schließung der Disko wurde nicht zuletzt deswegen kritisiert, weil es für Jugendliche in Dillingen kaum Alternativen gibt. Ein Jugendzentrum in einem ehemaligen Bahnbetriebswerk, auf das Berg immer wieder verwies, wird erst 2007 fertiggestellt. Unterstützung bekam Berg dagegen von der NPD-Saar, die sein Vorgehen begrüßte und eine Sammlung von Unterschriften für ein drogenfreies Saarland ankündigte. »Dass die NPD nun Unterschriften für die Maßnahme der Dillinger Stadtverwaltung sammelt, müsste Berg eigentlich ziemlich peinlich sein. Wir erwarten eine klare Distanzierung«, forderte der Vorsitzende der Grünen Jugend, Dominik Bildt. Sie erfolgte bislang nicht. Natürlich legte der Geschäftsführer des »Sound« beim Verwaltungsgericht Beschwerde gegen den Konzessionsentzug ein.Mit Erfolg. In der Urteilsbegründung heißt es, weder ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren noch polizeiliche Aufklärungsmaßnahmen hätten Erkenntnisse darüber erbracht, dass der Konzessionsinhaber die ihm obliegende Aufsichtspflicht verletzt habe. Nun ist die Diskothek seit dem 29. Dezember wieder geöffnet, allerdings vorerst nur mittwochs. Mit dem »Drogenproblem« will man offensiv umgehen. So sollen in der Disko Drogenpräventionsmaßnahmen ergriffen werden; eine Anfrage diesbezüglich ging an die Leiterin der Drogenberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt, Sabine Fischer-Theobald. Dennoch geht der juristische Streit in die nächste Runde. Bürgermeister Franz-Josef Berg wehrt sich jetzt vor dem Oberverwaltungsgericht Saarlouis dagegen, dass seine Schließungsanordnung vom Verwaltungsgericht nicht akzeptiert wurde. Auch die Anhänger des »Sound« richten sich nun auf eine Fortsetzung ihres Kampfes ein. Eine »Coming-Out-Kampagne« mit einem Plakat, auf dem prominente Besucher der Disko abgebildet sind, ist bereits geplant. | carsten klein | carsten klein: | [] | Inland | 12.01.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/02/razzia-bei-christiane-f?page=0%2C%2C2 |
Kunst am Volk | Der Sprachkritiker Wolf Schneider wird nicht müde, in seinen zahlreichen Büchern immer wieder den falschen Gebrauch des Worts »Bevölkerung« zu rügen, das eigentlich keine Menschengruppe meine, sondern einen Vorgang: »die Bevölkerung Ostpreußens durch Friedrich den Großen beispielsweise«. Wie ja auch die »Lichtung« nicht das Loch im Wald benennt, sondern den Prozess der partiellen Negation eines mehrere Individuen umfassenden lebenden Holzbestandes zu forstwirtschaftlichen Zwecken? Seltsam nur, dass man trotzdem drauftreten kann. Schneider zufolge, der mehrere Generationen von Journalisten angeleitet hat, ist die »Bevölkerung« viel zu oft »ein modisches und schiefes Synonym« fürs »Volk«. Hoffentlich sagt ihm bald jemand, dass die Klage über einen modischen Sprachfehler, wenn er nach hundert Jahren noch immer nicht behoben ist, ziemlich albern wird: »Aber ein gut Teil der Bevölkerung war doch versammelt in den Gassen und Gäßchen um seine Behausung her« (Wilhelm Raabe, »Stopfkuchen«, 1891). Seit dem letzten Krieg vermehrt sich die »Bevölkerung«, und das »Volk« stirbt aus. Schneider ahnt, warum: »vermutlich weil Hitler es missbraucht und zu Tode geritten hat«. Was aber die Sprachzucht gebeut, erlaubt zum Glück auch der demokratische Diskurs: dem »Volk« trotz seiner unguten Vergangenheit aufzuhelfen. Denn »andererseits steht es im Grundgesetz« und überm Westportal des Reichstags: »Dem Deutschen Volke«. Womit wir auch schon beim Thema sind. Der Projektkünstler Hans Haacke, vom Bundestag um ein Stück Kunst am Bau gebeten, antwortete mit einem Entwurf, der zunächst zwar akzeptiert wurde, plötzlich aber auf heftigsten parlamentarischen Widerstand stieß. Einen großen Bottich will er im Lichthof des Reichstags aufstellen, und die Abgeordneten sollen ihn mit je einem Zentner Erde füllen, den sie aus ihrem Wahlkreis herbeigeschafft haben. Ohne gärtnerischen Eingriff soll aus zufällig vorhandenem Samen ein Biotop wachsen, und darin soll eine Widmung aus Neonbuchstaben angebracht werden: Der Bevölkerung. Mit den bescheidenen Mitteln seiner Kunst will Haacke den Streit ums Staatsbürgerschaftsrecht kommentieren, sein Werk soll Zeugnis ablegen gegen das völkische Blutsrecht und fürs »ökumenisch integrierende Bodenrecht«. Als erster formulierte Norbert Lammert, der kulturpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, ein intelligenter Gegner des Haackeschen Projekts unter vielen dummen, den Widerspruch im Antrag, der Bundestag, der sich für gewöhnlich den Beschlüssen seines Kunstbeirats fügt, möge diesen einen aufheben und den Ankauf des Terrariums verweigern. Schließlich seien alle Abgeordneten aufgefordert, sich an dem Kunstwerk zu beteiligen, deshalb müssten sie auch darüber entscheiden dürfen. Er selbst halte es für misslungen, es sei nicht mehr als eine »skurrile Bundesgartenschau« und eine »Albernheit«. Obwohl er darauf bestand, man habe nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische Entscheidung zu fällen, mochte er die politischen Gründe seines Missbehagens nicht verraten. Anders Karl Feldmeyer von der FAZ. Sein Kommentar, der ebensogut in der Nationalzeitung hätte erscheinen können, bezichtigte Haacke, er wolle »dem deutschen Volk das Parlament wegnehmen und es 'Der Bevölkerung' geben, kurz: Er will den Bundestag umwidmen. Auch den Grund dafür nennt er - seine tiefe Aversion gegen dieses Volk, dem er eine unheilvolle Rolle zuordnet«. Wer aus Unkraut Kunst macht, der erhebe letztlich »die Forderung, das deutsche Volk als Subjekt der Politik durch eine amorphe 'Bevölkerung' abzulösen. (...) Inzwischen liegt ein Rechtsgutachten vor, in dem das Projekt als verfassungswidrig beurteilt wird.« Man ist zwar von Juristen vieles und von wissenschaftlichen Gutachtern fast alles gewöhnt, wenn aber einem der Beweis gelingt, ein Kunstwerk könne verfassungswidrig sein, obwohl doch die Freiheit der Kunst von der Verfassung garantiert wird, so sollte er sein Hirn der medizinischen Forschung vererben. Feldmeyern in seinem Grimm war selbst das Argument Noelle-Neumann nicht zu blöd: »Zudem hat eine Umfrage ergeben, dass mehr als achtzig Prozent der Deutschen die Inschrift 'Dem Deutschen Volke' bejahen und drei Viertel der Deutschen die Widmung 'Der Bevölkerung' ablehnen.« Ein demokratisches Parlament, sollte das wohl heißen, darf sich mit keinem Werk schmücken, das vor einer demoskopischen Kunstkritik nicht besteht. Verfassungswidrige Kunst ist schlimm genug, noch schlimmer ist, dass die Volksvertretung sich mit ihr gegen das Volk verbündet: »Die Deutschen haben vor zehn Jahren mit dem Ruf 'Wir sind ein Volk' Europa verändert. Dass der Bundestag jetzt in Betracht zieht, eben dieses Volk zu negieren, ist schwer zu fassen. Sich nur darüber zu empören, reicht aber nicht.« Sondern? Die Antwort gibt eine Phrase, die man schon hundertmal in rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen Texten und eben auch in der FAZ gelesen hat: »Besser wäre eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Geschichte: neben Schuld und Versagen sollten auch Verdienst und Leistung des deutschen Volkes in die Betrachtung einbezogen werden. Wer ihm die Selbstachtung und das Recht auf nationale Identität verweigert, verliert auf Dauer die demokratische Legitimation.« Denn, so stand es anlässlich der Walser-Debatte im Ostpreußenblatt, Demokratie heißt Volksherrschaft, also kann es ohne das deutsche Volk in Deutschland keine Demokratie geben. Und das deutsche Volk ist halt etwas grundsätzlich anderes als eine »amorphe« oder »beliebige« Bevölkerung. Man braucht ihm nur ganz sanft in seine weiche Stelle zu pieken, schon quillt es schönhubern aus ihm heraus. Obwohl der Anlass kaum geringer hätte sein können, ging es wieder einmal ums Ganze. »Es gilt, die Freiheit der Politik gegen die Anmaßung der Kunst zu verteidigen.« Diese Freiheit zu erfinden, brauchte es mindestens eine abgewickelte Diplomphilosophin. Dabei sollte Vera Lengsfeld doch am besten wissen, dass die Politik immer einem Zweck unterworfen ist: entweder dem Gemeinwohl oder dem persönlichen Auskommen. Schließlich betreibt sie die »Politik als Beruf« (Max Weber) nur deshalb, weil sie zur Hausfrau zu dumm ist. Von Feldmeyers Liebe wusste das deutsche Volk seit längerem. Seit der Debatte um Hans Haackes Kleingarten kennt es auch den Abgeordneten Volker Kauder. Er sagte dreimal Nein: »Ich sage Nein zu diesem simplen und für unser Haus unwürdigen Kunstwerk. Ich sage Nein dazu, dass der Versuch unternommen wird, das deutsche Volk verächtlich zu machen, auf eine kurze Zeit seiner Geschichte zu reduzieren. Ich sage Nein zu dem Versuch der Distanzierung des Deutschen Bundestags von seinem eigenen Volk.« Das deutsche Volk dürfe sich nicht immer wieder auf »die schrecklichen zwölf Jahre Nationalsozialismus« reduzieren lassen, es müsse endlich normal werden, »so normal wie die Franzosen und die Briten«. Wie einst Martin Walser hatte auch Kauder »zahlreiche Zuschriften von Deutschen« erhalten, die ihn in seinem Willen bestärkten, den Angriff auf die deutsche Identität abzuwehren. Was es aber mit diesen Briefen auf sich hatte, erklärte Rita Süssmuth. Die einschlägige Passage ihrer Rede verdient es, in ganzer Länge zitiert zu werden: »In Hunderten von Briefen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - gibt es nur einen Tenor, nämlich dass das, was wir hier zulassen würden, all denjenigen, die es wollen, den Vorwurf einbringt, Verbrecher, Mörder und Verräter des Vaterlands zu sein. Nun kann man sagen, diese Minderheit kümmert uns nicht. Aber diese Minderheit hebt kräftig an und wirft den noch Mächtigen vor, sie seien für die Milliardenbeträge an Sozialhilfe, die wir für Ausländer und Asyl Suchende, die hier nicht hingehören, zahlen müssen, verantwortlich. Ich muss dies beim Namen nennen, weil es der Grundtenor nicht nur einzelner Briefe, sondern Hunderter von Briefen ist. Weiter wird gefragt, ob diejenigen, die zugestimmt hätten, nicht sowieso geisteskrank oder von allen guten Geistern verlassen seien. Es wird gefragt: Sollen die Gelben, die Schwarzen, die Türken und die Zigeuner etwa auch dazu gehören? Das wäre der Verrat am Vaterland. Dies muss man mit im Hinterkopf haben. Es wäre gut, wenn all die Briefe, die viele von uns bekommen haben, bei einer Ablehnung des Projekts als Dokumentation an den leeren Platz des nördlichen Lichthofes gelegt würden.« Keine schlechte Idee - dann entspräche der Inhalt des Reichstags endlich seiner Widmung. Einige Kommentatoren meinten, Kauder habe mit seiner Rede zu Gunsten des Antrags, Haackes Kunstprojekt nicht zu realisieren, entscheidend dazu beigetragen, dass er schließlich mit 260 gegen 258 Stimmen abgelehnt wurde. Fast die Hälfte aller Abgeordneten des Bundestags, muss man daraus schließen, fühlt sich noch immer dem völkischen Volk verbunden. Denn so sehr sich Norbert Lammert auch bemüht, die Motive der Antragsteller zu verschleiern - es gibt keinen ästhetischen Grund, um dessentwillen man sich mit Kauder, Feldmeyer und den Briefeschreibern gemein machen dürfte. | Joachim Rohloff | Joachim Rohloff: Entscheidung für Haacke-Projekt | [] | dschungel | 19.04.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/16/kunst-am-volk?page=0%2C%2C0 |
Besser als Fernsehen | Zuerst betritt die Band die Bühne. Mystisches Mönchschorgebrummel ertönt, die ersten Visuals werden gezeigt. Dann betritt eine weitere Person den Raum, der Sänger von Psychic TV, Genesis P. Orridge, der Johnny Rotten des Industrial, Kultfigur des abseitigen Undergrounds seit bald 30 Jahren. Der Mann, der inzwischen eine Frau ist. Oder der zumindest im Begriff ist, sich in eine Frau zu verwandeln. Genesis P. Orridge und seine Freundin haben beschlossen, jeweils das Geschlecht zu wechseln. Sie wird zum Mann, während er gleichzeitig zur Frau wird. »Kommuniziert mit den Elementen und den Kräften der Natur. Macht Euch dabei die Technologie zum Werkzeug«, so hieß es einmal in einem Manifest des »Temple Ov Psychick Youth«, des kunstsektenartigen Seitenarms von Psychic TV. Die Geschlechtsumwandlung von P. Orridge und seiner Partnerin wirkt wie die logische Umsetzung dieser Parole. Es kann davon ausgegangen werden, dass weder P. Orridge noch seine Freundin sich wirklich unwohl in ihren Körpern fühlen. Sie wollen einfach nur das technisch Mögliche ausprobieren. Früher transformierte P. Orridge seinen Körper, indem er sich exzessiv tätowieren und piercen ließ, das allein reicht ihm heute eben nicht mehr. Genesis P. Orridge sieht furchterregend und lächerlich zugleich aus. Sein Auftreten ist äußerst bizarr. Man hat noch das alte Bild von ihm im Kopf, als er bevorzugt in Camouflage-Look und Charles-Manson-Shirt, mit kurzgeschorenen Haaren und eiskaltem Blick den Subkultur-Psycho mimte. Doch hier und heute, bei seinem überraschend anberaumten Konzert mit Psychic TV in der Berliner Volksbühne, ist der alte Genesis P. Orridge völlig hinter einem neuen verschwunden. Und der neue erinnert eher an Karneval. Irgendwie wirkt er wie die Parodie einer Frau. Das blonde Haar seiner Perücke wurde zu einer Frisur zurecht gemacht, die einfach nur grotesk aussieht, solche Perücken tragen andere im Süddeutschen beim »Weiberball«. Dazu dieser Jeansrock! Und diese Strumpfhose! Auch die Proportionen sind absolut unstimmig. Der Mann als Frau ist ein Witz, hat eine kleine Wampe, einen Brustansatz und Storchenbeine. Nichts passt. Etwas schimmert in seinem Mund, ein Goldzahngebiss vielleicht, man weiß es nicht, Genesis P. Orridge ist und bleibt ein Enigma. Seltsam ist auch die Musik, seltsam punkig. Zwar waren Psychic TV, die es seit ungefähr 20 Jahren gibt, musikalisch nie wirklich fassbar, doch so punkig wie dieser Auftritt waren ihre Platten nie. Ihre produktivste Phase hatte die Band in einer Zeit, in der Acid-House ausbrach, Ende der Achtziger. Genesis P. Orridge zeigte sich schon früh begeistert von dieser Musik, in der der DJ gerne zum Schamanen verklärt und Drogenkonsum als einer ihrer Dreh- und Angelpunkte begriffen wurde. Natürlich gefiel ihm auch ihr Angriff auf die etablierte Musikindustrie samt ihres Starkults bei gleichzeitiger Herausbildung eigener Vertriebskanäle. Um Drogen, Schamanismus und den Aufbau einer echten und eigenen Subkultur geht es schließlich im kompletten Schaffen P. Orridges. Psychic TV wollten deswegen dann auch dabei sein, als es darum ging, den Popbetrieb aufzumischen, sie schmissen unzählige Platten auf den Markt, zeitweise mehrere in einem Monat, die Musikindustrie sollte von dieser Schwemme an Platten förmlich weggespült werden. Dabei war die treibende Idee hinter Psychic TV nicht einmal die Musik. Diese sollte nur helfen, das eigentliche Anliegen zu verbreiten, nämlich die Gründung eines »Psychick Television«. Ähnlich wie Jean-Luc Godard lehnte auch Genesis P. Orridge das Fernsehen als Medium nicht einfach als Machtinstrument des ideologischen Gegners ab, sondern er wollte es im eigenen Sinne verbessern, es mit eigenen Inhalten infiltrieren. Der Ansatz war freilich noch abstrakter als der von Godard. Für P. Orridge durfte ein richtiges »Psychick Television« keine narrative Handlung besitzen. Der Mann war schon immer ein großer Verehrer von Brion Gysins’ und William S. Burroughs’ Cut-Up-Technik und konnte außerdem aus dem Bildstörungsgeriesel eines Fernsehers mehr ästhetischen Genuss ziehen als aus jedem Spielfilm. Die Message, ganz klar, ist sogar der Feind des Mediums. Letztlich ging die Idee, ein alternatives Fernsehen aufzubauen, gründlich in die Hose. BBC oder MTV, wo man eigentlich hinwollte, hatten daran keinen Bedarf. Seit Mitte der Neunziger wurde es dann ruhiger um Psychic TV, und auch der »Temple Ov Psychick Youth« löste sich auf. Zuletzt sorgte aber auch nicht Psychic TV, sondern Throbbing Gristle für Aufsehen, P. Orridges Band vor Psychic TV, die parallel zu Punk Ende der Siebziger Industrial entscheidend prägte. Zwei Live-CD-Boxen mit insgesamt 36 CDs wurden vor kurzem von ihr veröffentlicht, außerdem eine Best of- und eine Remix-CD. Zudem wurde ein Comebackkonzert der Band angekündigt, die für die Musik von heute ähnlich einflussreich war wie Kraftwerk oder die Sex Pistols. Ein riesiger Festakt war in London geplant, die Karten waren Monate vorher ausverkauft, der Gig wurde dann aber in letzter Minute abgesagt. TG traten zwar trotzdem auf, doch das pompöse Rahmenprogramm wurde ersatzlos gestrichen. Vielleicht wollte man es mit dem Ausverkauf des eigenen Mythos einfach nicht zu weit treiben. Das ganze aktuelle Treiben von Genesis P. Orridge wirkt also durchaus etwas planlos, doch man kann davon ausgehen, dass es das nicht ist. Denn der Mann, der heute eine Frau ist, war schon immer ein großer Stratege, für den das Pflegen von Widersprüchen und das Erzeugen seltsamer Konvergenzen einfach mit zum großen Spiel gehört. Der Auftritt von Psychic TV in der Volksbühne war dann auch mehr als eine reine Nostalgie-Show. Zwar wirkten die gezeigten grobkörnigen Visuals, bei denen vor allem das Psychic TV-Logo immer wieder neu variiert wurde und die mit ein paar Pornofilm-Sequenzen angereichert waren, ziemlich gestrig. Mit so etwas wollte man damals also ins Fernsehen? Klar, dass daraus nichts wurde. Doch die Musik, dieser eigenartige und hypnotische Psychic TV-Punk, klang eben neu, besser: neuartig. Und Genesis P. Orridge, verkleidet als Hausfrau ohne Geschmack, war letztlich sogar besser als Fernsehen. | Andreas Hartmann | Andreas Hartmann: | [] | dschungel | 29.09.2004 | https://jungle.world//artikel/2004/40/besser-als-fernsehen |
Hat hier jemand eine Putzfrau gesehen? | Starke Frauen in Israel – wer würde nicht gern mehr über sie erfahren? Und welche fällt uns spontan ein? Golda Meir, Tzipi Livni, aber dann? Esther Ofarim wirkt als starke Frau nicht überzeugend, kurzum, schön, ein paar mehr kennenzulernen. Ehe es losgeht mit den Porträts der starken Frauen, muss sich die geneigte Leserin allerdings durch zwei Vorworte durchfressen, beide verfasst von Personen, über die das Buch zumindest nicht verrät, was sie dafür qualifiziert.
Danielle Spera (Google sei Dank lässt sich in Erfahrung bringen, dass sie das Jüdische Museum in Wien leitet) erzählt, dass Frauen in Israel seit der Staatsgründung schon immer wichtige Rollen gespielt haben, zum Beispiel Golda Meir, auch als »der einzige Mann in der Regierung« bezeichnet – Spera scheint diese sexistische Beleidigung als überaus witziges Kompliment aufzufassen. Der zweite Vorwortschreiber, Ben Segenreich, ist als Gatte der Autorin sicher absolut der Richtige, das Buch zu loben, und so bezeichnet er seine Frau als die perfekte Autorin für das Thema. Anders als Spera lässt er indes an Golda Meir kein gutes Haar. Beide schreiben gern von »die Frau«, als ob alle Debatten der vergangenen 40 Jahre über diesen vereinnahmenden Sprachgebrauch an ihnen vorbeigegangen wären, und auch Herr Segenreich hat einen kleinen Hang zu sexistischen Späßchen. In Kibbuzim arbeiten Frauen, die bei der Arbeit Shorts tagen, das findet er zum Beispiel »sexy und maskulin«. Dass es in Deutschland schon seit längerem keine Wehrpflicht mehr gibt, hat er nicht mitbekommen, was hoffen lässt, dass er besser informiert ist, wenn es um Israel geht, aber eigentlich ist das auch egal, denn wir wollen ja lesen, was Frau Segenreich erzählt.
Und die stellt uns wirklich faszinierende Frauen vor. Es beginnt mit Chaja, einer »Kibbuznikit«, die früher einmal Liselotte hieß und aus Wien stammt. Ihr gelang mit einem Kindertransport noch rechtzeitig die Ausreise aus Österreich, sie arbeitete also in einem Kibbuz und lebt noch heute dort. Als nächste kommt Ruth Dayan zu Wort, seit vielen Jahren Chefin eines großen Modehauses, das noch heute vielen Frauen die dringend benötigten Arbeitsplätze zur Verfügung stellt. Sie wird bezeichnet als die »erste Frau« von Moshe Dayan, dem legendären General und Außenminister, wir hören viel über ihre Arbeit, aber auch über ihre Romanze mit Moshe, wie verliebt er war und welche Bücher er seiner Angebeteten vorlas. Aber wenn da steht, »erste Frau«, dann muss die schöne Romanze doch irgendwann geendet sein? Immerhin erfahren wir in diesem Kapitel, was der Unterschied zwischen Kibbuz und Moschaw ist: Im Gegensatz zum Kibbuz gibt es im Moschaw Privateigentum und Eltern und Kinder wohnen zusammen.
Wir lesen dann über Rivka, Universitätsdozentin, die als orthodoxe Jüdin ihre Haare nicht zeigen darf und deshalb für ihre Kopftücher berühmt ist. Sie betrachtet sich als Feministin, ihr Mann, den sie als »noch feministischer« bezeichnet als sich selbst, kann Hüte nicht leiden, deshalb trägt sie nie einen, sondern lieber das Kopftuch, auch wenn ihr darunter bisweilen glühendheiß ist. Ihre Tochter wird ihre Bat Mitzwa in einer »feministisch-orthodoxen« Synagoge feiern, heißt es, und an solchen Stellen wünschen wir uns eine kritische Frage der Interviewerin und eine Erklärung: feministisch-orthodox, wie geht das vor sich?
Auf die kopftuchtragende Rivka folgt die hijabtragende Hanan, Archäologiestudentin und Karatemeisterin, die versucht, ihre Identitäten als arabische Israelin (oder wie auch immer man das definieren kann, was ihr selbst auch schwerfällt) miteinander zu verbinden. Anders als Rivka hat sie allerdings mit Feminismus, egal welcher Art, nichts im Sinn, sie wünscht sich einen Mann, »zu dem ich aufschauen kann, der mehr weiß und darstellt als ich«. So einer wird schwer zu finden sein, meint die Autorin Daniela Segenreich, und sicher hat sie recht, aber abermals wünscht sich die Leserin eine kritische Frage und nicht nur Bewunderung für die tolle starke Frau, die hier gerade interviewt wurde.
Wir lernen als nächstes Doris kennen, eine christliche Araberin, die mit ihrem Konzept, bei sich zu Hause Touristengruppen zu empfangen, Erfolg hat und neue Maßstäbe setzt, und nach ihr Sofi, erfolgreiche Sängerin und ehemalige Samaritanerin. Die Samaritaner definieren sich als die Bewahrer des ursprünglichen Judentums und bringen zum Beispiel noch heute Tieropfer dar. Sofi allerdings mochte die strengen Regeln nicht mehr auf sich nehmen und wurde abtrünnig, hat sich später aber mit ihrer Familie wieder ausgesöhnt. Nach Sofi wird uns Khadra vorgestellt, eine Beduinin, die eine Weberei aufgemacht hat und für beduinische Frauen damit ganz neue Möglichkeiten eröffnet, sich von der männlichen Vorherrschaft zu befreien und ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Auf Khadra folgt die mehrfach geschiedene erfolgreiche Malerin Danielle, und so geht es weiter. Jedes Kapitel, jede Frau in diesem Buch erzählt eine Erfolgsgeschichte, und sogar M., anonymer weiblicher Flüchtling aus Eritrea und bislang ohne irgendwelche Aussichten in einem Flüchtlingslager interniert, will, wenn sie erst eine Aufenthaltsgenehmigung und Bewegungsfreiheit hat, Karriere als Journalistin machen.
Eigentlich wird beim Lesen sehr bald klar, dass für die Autorin stark und erfolgreich Synonyme sind, aber die Leserin fragt sich ebenso bald: Gibt es in Israel gar keine Verkäuferinnen, Putzfrauen, Busfahrerinnen? Wir lesen über eine Frau, die mit Taubblinden Theaterprojekte macht, aber vielleicht wäre es auch sinnvoll gewesen, eine taubblinde Schauspielerin zu Wort kommen zu lassen. Und alle Frauen in diesem Buch sind religiös, ob nun jüdisch, samaritanisch, drusisch, muslimisch, christlich … gibt es also in Israel keine Atheistinnen? Und noch eine Frage: Alle hier porträtierten Frauen haben oder hatten Beziehungen zu Männern, gibt es denn keine Lesben in Israel? Diese Frage scheint sich zu beantworten, als im Kapitel »Unter dem Regenbogen« zunächst ein Besuch in einer schwullesbischen Bar geschildert wird. Doch dann wird Gil Naveh interviewt, ein in Israel bekannter Dragkünstler, der gern als die Diva Gallina Port Des Bras auftritt. Zweifellos ein verdienstvoller Mann, aber in einem Buch über starke Frauen doch irgendwie eine Fehlbesetzung. Immerhin, eine Putzfrau wird erwähnt, Tsega, äthiopische Jüdin und Gründerin einer erfolgreichen Kaffeerösterei, wird auf dem Weg ins Büro immer wieder von Frauen angesprochen, die verzweifelt eine Putzfrau suchen …
Daniela Segenreich hat ein interessantes Buch geschrieben, leicht lesbar, voller Informationen, spannend und unterhaltsam und letztlich doch unbefriedigend – weil immer Fragen nicht gestellt werden, alles so nett an der Oberfläche plätschert und eben, wie gesagt, die Putzfrauen fehlen. Dazu wäre ein aktives Lektorat wünschenswert gewesen, das Widersprüche behoben, oder, wenn die Autorinnen und Autoren darauf bestanden hätten, die Widersprüche erklärt hätte. So behauptet Vorwortschreiberin Spera, seit 1980 seien in der israelischen Armee alle Funktionen nach und nach für Frauen geöffnet worden. Armeepilotin Limor dagegen berichtet, dass inzwischen 90 Prozent der Posten, die es in der Armee gibt, für Frauen zugänglich sind – also was nun? Und was sind denn die zehn Prozent, die für Frauen nicht zugänglich sind? Daniela Segenreich: Zwischen Kamelwolle und Hightech. Starke Frauen in Israel. Styria-Verlag, 2014, 173 Seiten, 22, 99 Euro | Gabriele Haefs | Gabriele Haefs: »Kamelwolle und Hightech. Starke Frauen in Israel« von Daniela Segenreich | [] | dschungel | 12.03.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/11/hat-hier-jemand-eine-putzfrau-gesehen?page=0%2C%2C0 |
Klimaveränderung | Brandanschläge wie in Düsseldorf und Friedhofsschändungen wie in Schwäbisch Hall sind nur die Spitze des Eisbergs. Der alltägliche Antisemitismus in Deutschland wird nicht wahrgenommen. Wenn nichtjüdische Deutsche meinen, unter sich zu sein, geht es zur Sache. Wenn ich mich dann als Jüdin oute und Kritik äußere, weil es niemand sonst tut, dann war alles ein »Missverständnis«. Oder es heißt: »Ihr Juden seid überempfindlich.« Seit der »Wende« ist der Ton schärfer geworden. 1990 habe ich in Westdeutschland Jugendarbeit gemacht. Als eine Jugenddisko nicht zum gewünschten Zeitpunkt stattfinden konnte, beschwerte sich ein jugendlicher Pfadfinder mir gegenüber mit den Worten: »Deine Alten haben sie vergessen zu vergasen.« Auch über antisemitische Witze wurde von allen gelacht. 1992. Inzwischen lebe ich in Berlin. Kurz vor Ladenschluss am Kiosk. Die Zeitungsfrau zahlt einer Kundin zu viel Wechselgeld aus. Diese gibt den zu Unrecht erhaltenen Betrag zurück, die Zeitungsfrau bedankt sich. Die entrüstete Reaktion der Kundin: »Na, hören Se mal - wir sind ja hier nicht beim Juden.« Niemand reagiert. 1994. Am Gedenkstein von Moses-Mendelssohn in der Großen Hamburger Straße steht eine Pfarrer-Fortbildungsgruppe. Die Leiterin - Pfarrerin und Psychotherapeutin - ist in sich versunken und spricht über die kleinen Steinchen, die auf dem Gedenkstein abgelegt sind, wie das bei jüdischen Grabsteinen Brauch ist: »Mein Großvater hat immer gesagt, das sind die Steine, mit denen die Juden Jesus umgebracht haben.« Niemand sagt etwas. 1996. Mir fällt auf, dass inzwischen auch alle meine Bekannten und Freunde aus der ehemaligen Ostberliner jüdischen Gemeinde ihre Einträge aus dem Telefonbuch haben löschen lassen - wie Juden in Westdeutschland schon lange vorher. Dezember 1997. Der Gedenkstein am Ort des ehemaligen Deportationssammellagers in Berlin-Mitte wird zertrümmert. Die Polizei stellt die Ermittlungen nach einiger Zeit ein, weil niemand aus der Nachbarschaft Hinweise geben kann oder will. Ein halbes Jahr später verlesen Leute aus dem jüdischen Jugendzentrum dort die Namen aller aus Berlin deportierten Juden. Einige Nachbarn beschweren sich wegen »Lärmbelästigung«. April 1998. Ich bekomme die erste Morddrohung auf meinen Anrufbeantworter. Eine Männerstimme mit österreichischem Akzent bezieht sich auf meine Rundgänge zur jüdischen Geschichte und sagt: »Die Neue Synagoge gehört in die Luft gejagt; deine Führungen müssen aufhören und du Judensau gehörst einen Kopf kürzer gemacht.« Eine Anzeige bräuchte ich nicht zu machen, wird mir von der Polizei mitgeteilt, denn sie hätte keinen Erfolg. Sommer 1999. Einige Wochen vor dem Tod von Ignatz Bubis wird auf dem freien Platz vor dem Roten Rathaus, das stets von Polizisten bewacht ist, ein Schwein mit einem Davidstern, in dem »Bubis« steht, ausgesetzt. Keiner hat etwas bemerkt. September 2000. Stadtrundgang im Scheunenviertel. Wir stehen vor einem ehemaligen jüdischen Waisenhaus. Noch einige Jahre nach der Wende war hier eine öffentliche Schule. Das Gebäude ist heruntergekommen und steht leer. Vor kurzem wurde es der jüdischen Gemeinde zurückgegeben. Der Stadtführer erklärt: »1991 hat die jüdische Gemeinde von einem Tag auf den anderen die Kinder hier rausgekantet und einen lukrativen Vertrag mit einer Werbeagentur gemacht.« Niemand fragt nach. Beim jüdischen Online-Magazin Hagalil (www. hagalil.com) gehen täglich antisemitische Mails ein, manchmal mehrere Hundert. Kurz bevor ich diesen Artikel beende, leere ich meine Mailbox. Den Text, der mir ins Auge springt, hat mein Kollege vor einigen Wochen 300 mal erhalten: »Was ist ein Jude in Salzsäure? Ein gelöstes Problem.« Die Verfasserin betreut die Berlin-Seiten des jüdischen Online-Magazins Hagalil, ist Mitherausgeberin des europäisch-jüdischen Magazins Golem und führt bei »Unterwegs« Rundgänge zur jüdischen Geschichte Berlins durch. | Iris Noah | Iris Noah: Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland | [] | Thema | 11.10.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/41/klimaveraenderung?page=0%2C%2C0 |
FC Fidel vs. Adler Osterfeld | Tristesse herrscht am Bonner Sportpark Nord. Zum letzten Heimspiel gegen den Rheydter SV kamen gerade 100 Zuschauer. Abstiegskampf in der Oberliga Nordrhein - ein grausames Spiel. Wenn man von Mannschaften mit so klangvollen Namen wie SV Adler Osterfeld (1:4) oder SC Wegberg-Beeck (1:5) abgefertigt wird - wer will sich das schon freiwillig antun? Nicht einmal gegen den SV Baesweiler konnte gewonnen werden. Da waren aber immerhin 200 Zuschauer da. Ach, was war das doch für eine tolle Zeit gewesen, damals vor vor 22 Jahren, als der Bonner SC es bis in die 2. Bundesliga Nord geschafft hatte. Das waren Spiele! 11 000 Zuschauer fieberten damals am letzten Spieltag mit ihrem BSC. 68. Minute: Elfmeter - eins zu null gegen Bayer Leverkusen. Der Klassenerhalt war geschafft, der Jubel grenzenlos. Aber nicht lange. Denn seinerzeit machte der Bonner SC erstmalig bundesweit Schlagzeilen: Der Deutsche Fußball-Bund verweigerte ihm als erstem bundesdeutschen Verein im bezahlten Fußball aus wirtschaftlichen Gründen die Lizenz. Zwangsabstieg in die Verbandsliga. Seitdem gurkt der Club durch die Niederungen des Amateurfußballs - ein stetiges Auf- und Ab zwischen Verbandsliga Mittelrhein und Regionalliga West/Südwest, zur Zeit spielt man in der Oberliga Nordrhein. Nun sorgt der BSC wieder bundes-, gar weltweit für Schlagzeilen. Das verdankt er dem Präsidenten Hans Viol. Denn der 52jährige Unternehmer hat eine Vision: die Verpflichtung der kompletten kubanischen Fußballnationalmannschaft für seinen Club. Auf die verrückte Idee hatte ihn ein guter Freund gebracht, der regelmäßig seinen Urlaub auf Kuba verbringt. Der hatte Viol ein Video von Kubas heroenhafter 0:2-Niederlage gegen Vize-Weltmeister Brasilien mitgebracht. Der BSC-Boß war begeistert. Der Bonner SC als FC Fidel? Viol arbeitet seitdem mit ganzer Kraft dafür. Im Dezember flog er zusammen mit dem BSC-Trainer Rainer Thomas nach Havanna, um mit dem kubanischen Fußball-Verband über die Modalitäten zu verhandeln. Mitte Januar kam Kubas Fußball-Chef Luis Hernandez zum Gegenbesuch. Er zeigte sich zufrieden: Die Stadt sei "sehr sauber und gut organisiert" und der Sportpark Nord "für kubanische Verhältnisse hervorragend", sein Fazit: "Hier gibt es gute Voraussetzungen für unsere Spieler." Viol hofft, die 15 besten Spieler Kubas, zwei Trainer, einen Dolmetscher, einen Masseur und einen Koch nach Deutschland zu holen. Untergebracht werden sollen sie in einem ehemaligen Schülerheim. Sie erhielten "freie Verpflegung, Krankenversicherung und ein Taschengeld", erläutert BSC-Geschäftsführer Gerd Demann. Das Experiment solle erstmal ein Jahr dauern. "Dann können wir die Partnerschaftsvereinbarung jährlich verlängern." Die Bonner würden als "Leihgebühr" regelmäßig Sportutensilien nach Kuba schicken. Außerdem wollen sie sich verpflichten, Freundschaftsspiele für die Nationalelf - beispielsweise gegen Luxemburg oder Liechtenstein - zu organisieren. Auf rund eine halbe Million Mark hat Viol die Kosten seines karibischen Traumes veranschlagt - ein Schnäppchen. Kuba gehört zwar nicht unbedingt zu den führenden Fußballnationen der Welt, aber am Mittelfeld-Duo Lazaro Darcourt und Manuel Bobadilla war sogar schon Olympique Marseille interessiert. Die Verpflichtung scheiterte an einem Veto der Kubaner: Entweder die komplette Mannschaft oder keinen! Und genauso wollen es die Bonner halten. "Das ist eine einmalige Chance, eine neue Aufbruchstimmung in Bonn zu schaffen", weiß Geschäftsführer Demann. Er hofft, dann auch endlich wieder einen Trikotsponsor finden zu können. Den Statuten des Deutschen Fußball-Bundes stünde der geplante Deal nicht entgegen. "Die Regel, daß nur drei Nicht-EU-Fußballer auflaufen dürfen, gilt nur in der ersten und zweiten Bundesliga", erklärt DFB-Pressesprecher Wolfgang Niersbach. Doch die Hoffnung Hans Viols, die Kubaner noch in dieser Saison auflaufen lassen zu können, hat sich nicht erfüllt. Nach Luis Hernandez' Vorstellungen soll die kubanische Nationalmannschaft erstmal im April nach Bonn reisen, um sich in Deutschland auf den im Mai stattfindenden Karibik-Cup vorzubereiten. Im Juni dann könne man den Deal perfekt machen, so Hernandez: "Einigen wir uns, sind die Spieler ab der nächsten Saison einsatzbereit." Seine Zurückhaltung ist berechtigt. Nicht nur, daß dem BSC der Sturz in die Fünftklassigkeit droht und die Heranführung des kubanischen Fußballs an die Weltspitze in einer Kurz-vor-der-Thekenmannschafts-Liga ein recht perspektivloses Unterfangen wäre - der Club hat noch andere Probleme. Der Verein sei "keine solide Adresse", konstatiert denn auch Hans-Will Zolper, Geschäftsführer des mittelrheinischen Fußballverbandes. Viol dagegen erklärt, er habe die Schulden in den drei Jahren seiner Amtszeit von 2,5 Millionen auf deutlich unter eine Million gesenkt. Aber eng wird's trotzdem: Zwei Monatsgehälter ist man bei der Mannschaft im Rückstand, darüber hinaus fordert ein ehemaliges Vorstandsmitglied Rückzahlungen in Höhe von 59 000 Mark. Und nun hat auch noch das Finanzamt Bonn ein Konkursverfahren gegen den SC eröffnet. Aber wenn es den Bonner SC im Sommer noch gibt, und er dann nicht abgestiegen ist - vielleicht spielen dann die Kubaner doch in der nächsten Saison im Sportpark Nord. Der SV Adler Osterfeld und der SC Wegberg-Beeck werden einfach weggeputzt. Und bei der nächsten Weltmeisterschaft gewinnt der Bonner SC gegen Brasilien! | Pascal Beucker | Pascal Beucker: | [] | Sport | 10.02.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/06/fc-fidel-vs-adler-osterfeld?page=0%2C%2C1 |
Mudder, Mørke, Metallica | Peter Brødsgaard ist ganz verliebt in Berlin. "So ein Kulturangebot", schwärmt der modebewußte junge Mann (braunes Hemd mit Schulterklappen, Schlabberhose). Können wir ihm glauben? Peter ist gerade von Tiergarten nach Neukölln gezogen - nicht gerade der Bezirk, in dem sich Volksbühne und Mahnmal-Debatte gute Nacht sagen. Es sei denn, man nimmt das Leben in Neukölln insgesamt als eine große Schaubühne - dann wären die tollen Reportagen des Spiegel ("Krimineller Brennpunkt") die Rezensionen! Peter hat also recht und hat heute abend selbst was anzubieten: das Festival des neuen dänischen Films. Der Praktikant an der Königlich Dänischen Botschaft wieselt am Eröffnungsabend geschäftig wie ein Intendant durch das Café des Berliner Kinos Filmbühne am Steinplatz. Am Zustandekommen des Festivals hat Peter als Chef-Organisator offenkundig einen hohen Anteil - und das ist schon ein Grund, ultranett zu sein. Dänisches Kino ist zur Zeit der Renner. Daran sind Lars von Trier und die Dogma-Gruppe schuld (Jungle World, Nr. 37/98). "Zurück zu den Wurzeln!" fordern die Regisseure. Der Film "Das Fest" von Dogma-Mann Thomas Vinterberg ist jetzt ins Kino gekommen, von Vinterberg sind während des Dänischen Filmfestes Frühwerke zu bestaunen. Dogma heißt: Nur Handkamera und authentische Schauplätze. Um dieses revolutionäre Konzept zu finanzieren, dreht man Werbespots und hin und wieder ein paar Softpornos fürs Fernsehen. Das wäre doch auch eine Strategie für kleine unabhängige Wochenzeitungen. Wo doch bekannt ist, daß die Jungle World eine extraordinäre Beziehung zu Südskandinavien pflegt. Während eines Redaktionsausflugs im letzten Sommer lernte man einander kennen. Und Peter hat die Zeitung sogar schon mal gelesen. Damit ist das eine Thema des Abends erstmal abgehakt. Die andere Säule der dänischen Allgemeinbildung sind Kenntnisse des Films "Portland", der hier leider nicht läuft, weil er das einfach nirgendwo tut. Doch! Das Opus des Regisseurs Nils Arend Arden war in Deutschland auf der Berlinale 1996 zu sehen. Eine bizarre Aufführung: Zu Beginn saßen gut 800 Menschen im Zoo-Palast, nach einer halben Stunde waren es noch drei. "Portland" ist von vorn bis hinten gelb eingefärbt, als musikalische Untermalung dient der immergleiche Heavy-Metal-Gitarrenriff. Ein Name wie Zement und Dänen bauen daraus stabile Gebäude: Es geht um zwei Brüder, und der eine sitzt in einem Kittchen Marke Stammheim. Als er rauskommt, wohnen die beiden in einem Keller ohne Fenster. Die Wände sind schwarz. Für einen Drogendealer kaufen die Jungs alten Menschen in trüben Betonburgen Medikamente ab, deren Verfallsdatum überschritten ist. Der Drogenboß ist ein ruppiger Mann. Wer nicht folgsam ist, dem läßt er die Arme mit Baseball-Keulen brechen oder was in die Schnauze hauen. Das bißchen, was geredet wird, können die Schauspieler auch husten usw. Peter verneint die Frage, ob der Königlich Dänische Botschafter kommt. Dafür hat er den Königlich Dänischen Gesandten Erik Farsø Madsen, Botschaftsrat für Presse und Kultur, im Sortiment - der Mann da vorne, der aussieht wie der Schauspieler Pete Postlethwaite und an jedem Arm eine schicke Frau hat. Charmant, charmant - Dänemark kann stolz sein auf seinen Kulturattaché. Peter flutscht, nicht weniger charmant, nun hinfort wie ein nasses Stück Seife, und nur manchmal schaut der blonde Wirrschopf mit dem lachenden Gesicht durch die Menge am Büffet. Wo wie überall auf der Welt die Lachsbrötchen als erstes weg sind. Natürlich weiß Erik Fars¿ Madsen, was die Jungle World ist, und "Portland" hat er auch gesehen. "Der ist in Dänemark durchgefallen." Aber das ist er in Deutschland auch. Erik sagt ein paar freundliche Worte über den deutschen und den dänischen Film, den neuen Botschaftskomplex in Berlin, zu dessen Bau sich alle skandinavischen Länder zusammengetan haben - er soll im Grundriß sogar die Form einer Landkarte der skandinavischen Länder haben. Tolle Idee! Wenn es stimmt, was man aus Oslo über Rockerbanden hört, ferngelenkte Raketenangriffe, Nazi-Schergen, Vergewaltigungen ... Auch die Norweger können über Gefängnis und Dark Metal mitreden! Da möchte man zu gern mal beim Small Talk am Kopierer dabei sein. Erik kneift mich sanft in den Arm, um das Gespräch elegant überzuleiten bzw. um dem langweiligen Reportergequatsche elegant ein Ende zu setzen. Er stellt mich Jens ?rntzen vor, ein berühmter dänischer Film- und Fernsehschauspieler, wie er von sich selbst sagt. Denn sonst wäre er gar nicht hier, erläutert er. Er hätte nämlich überhaupt keine Kohle gehabt, um den Eröffnungsfilm des Dänischen Filmfestes zu drehen, denn auf die wartet man in Dänemark Jahre. "The Glasshouse Prisoner" ("Blomsterfangen") hat er fast allein finanziert. Thema: Gefängnis. Filmmusik: Metallica. Arntzen läßt ein paar sehr taktvolle Bemerkungen über Berlin-Kreuzberger Autonomenzirkulare und "Portland" fallen. Wenn Arntzen aber von seinem Film spricht, denkt man, "Blomsterfangen" sei eine kitschige Sozialschmonzette. Es gehe um das Alleinsein im verfallenden Wohlfahrtsstaat, der Film sei ein Plädoyer für "Schieß mich tot!", ein Sohn auf der Suche nach seinem Vater. Aber Vorsicht, hier geht es um dänische Kultur, und dänischen Regisseuren wird an ihrer berühmten Kopenhagener Filmhochschule wohl eher wenig Detlev Buck serviert. "Blomsterfangen" zeigt zwar einen Sohn auf der Suche nach seinem Vater, aber das Ganze hat einen gesellschaftlichen Hintergrund: Dänische Gefängniswärter berichten von Söhnen, die ihre Väter nie kennenlernten, weil die Männer noch aus der Zeit vor der Geburt des Kindes jahrzehntelang Knast abzubrummen hätten. Erst wenn die Jungen selbst kriminell würden und eingesperrt, könnten sie den Alten kennenlernen - hinter Gittern. Zudem wurde die Produktion laut ?rntzen maßgeblich von dem filmsoziologischen Fakt beeinflußt, daß es 1998 nur vier dänische TV- oder Kino-Produktionen gab, in denen der Titelheld kein Doppelmörder war. Knast mit Rockmusik, lautet die dänische Lebensmaxime. Da muß man Zugeständnisse an die Sehgewohnheiten machen. "Blomsterfangen" erzählt von der zitierten dänischen Sorte Familienzusammenführung am Beispiel eines jugendlichen Drogendealers und eines väterlichen Totschlägers - für die Inhaltsangabe kann hier aber leider keine Garantie übernommen werden: Alle Dänen sind bekanntlich nicht nur blond, begeistert von Gefängnissen und Heavy Metal, "stinkkonservativ" (Arntzen: "We like to see enemies"), wenn es um die Einführung des Euro geht, sondern auch groß, wenn sie im Kino vor dir sitzen. Und das stört leider die Lektüre der Untertitel von "Blomsterfangen". Einwandfrei jedoch ist es möglich, der anrührenden Ansprache Erik Fars¿s zu lauschen - hier eine Kurzfassung: "Bei uns wird viel diskutiert übers Filmemachen ... Dogma-Konzept ... Novellenfilme in der Tradition dänischer Erzähler ... Anderson ... Tania Blixen ... Filmhochschule Kopenhagen. Liebe Gäste, ich wünsche viel Vergnügen. Wir zeigen Ihnen die Abgründe der dänischen Seele." Das alles erzählt er mit einem strahlenden Lächeln, obwohl dem Zuhörer schwant, diese Filmhochschule müsse ein wüster Ort sein, wo Menschen in fensterlosen Räumen ganztags zum Metallica-Hören gezwungen werden. Was sollten auch Leute sonst mit ihren Filmschaffenden anstellen, die bei einer Fußball-Europameisterschaft "We are red, we are white, we are Danish dynamite!" skandieren? Schnell noch mal nachrecherchiert bei Dietrich Kuhlbrodt, der den Schlafwagenschaffner in Lars von Triers "Europa" spielte: "Dänemark? Ski und Rodel gut!" Na prima, Glück gehabt. * Nachsatz: Birgitte Torborge, Jura-Studentin aus Kopenhagen, fand im Text keine Erwähnung. Schade! Es soll nicht verschwiegen werden, daß auch sie bei einem Gläschen Sekt im Dänen-Test - Zement- und Zeitungskenntnisse - gut abschnitt. Birgitte ist seit vier Jahren in Berlin - "manchmal muß man eben unglaublich weit weggehen von zu Hause". Sie hat eine Halbtagsstelle in der Botschaft. "Portland" hat sie zwar nicht gesehen, aber auf jeden Fall davon gehört. Ihrem Freund möchte sie ein Abo der vorliegenden Zeitung schenken. "Der ist so ein Schreibtischrevolutionär." | Jürgen Kiontke | Jürgen Kiontke: | [] | Inland | 03.02.1999 | https://jungle.world//artikel/1999/05/mudder-morke-metallica?page=0%2C%2C0 |
Ausweitung der Resonanzräume | Das »Institut für Staatspolitik« (IfS) in Schnellroda blickte im Juni auf 15 Jahre »metapolitische« Tätigkeit zurück. Im Jahr 2000 wurde es durch Götz Kubitschek und Karlheinz Weißmann nach dem Vorbild des jungkonservativen »Politischen Kollegs« der Weimarer Republik gegründet. Wenngleich sich die Wege der Gründer kürzlich getrennt haben, so bleibt das Institut doch eine zentrale Einrichtung der äußersten Rechten. Im August steht die bereits 16. Sommerakademie des IfS an. Entsprechend stolz gab man sich, das neurechte Magazin Blaue Narzisse (BN) berichtet von gut besuchten Feierlichkeiten.
Nach anfänglicher Zurückhaltung wird auch die Verbindung zur Alternative für Deutschland (AfD) immer deutlicher, die mittlerweile über persönliche Kontakte etwa zum thüringischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke hinausgeht. Nach Schätzung des BN-Berichts hatte ein Viertel der Besucher auf der Jubiläumsfeier ein Parteibuch der AfD. Nachdem bereits die Junge Freiheit inoffizielles Parteiorgan wurde, wird nun auch durch das IfS entgegen aller antiparlamentarischen Rhetorik die Klientel der AfD bespielt werden. Entsprechend heißt es auch über die Gäste: »Für das IfS bedeute die AfD jedoch vor allem eine Ausweitung des eigenen Resonanzraums – weit über die üblichen Milieus hinaus.« An dem anderen Resonanzraum, Pegida, hat Kubitschek intensiv mitgearbeitet. Das Echo dieser Bewegung besteht derzeit in den epidemisch um sich greifenden Brandanschlägen auf geplante Flüchtlingsunterkünfte. Als Profiteurin der Pegida- und AfD-Welle muss auch die Junge Freiheit gesehen werden. Sie vermeldete einen Anstieg der verkauften Auflage um 6,3 Prozent auf knapp 24 000 Exemplare. Doch nicht alles läuft so glatt. Der für Februar angekündigte Houellebecq-Jugendkulturpreis der BN ist noch immer nicht vergeben. Obgleich das Blatt noch vollmundig angekündigt hatte, sich nicht von der Distanzierung des Autors beeindrucken zu lassen, hat sich bisher nichts getan.
Ein Nachhall der AfD-Spaltung hat wiederum die marktradikale Hayek-Gesellschaft erreicht. Neben der Vorsitzenden Karen Horn ist auch deren Stellvertreter Michael Wohlgemuth zurückgetreten. Mit ihnen verließen 50 Mitglieder den Verein, unter ihnen der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, der frühere BDI-Chef Hans-Olaf Henkel und einige bekannte Wirtschaftsprofessoren. Anlass war die Forderung des Vorstands nach einer Abgrenzung der Gesellschaft gegenüber extrem rechten Positionen, die vom Sekretär der Stiftung, Gerd Habermann, verweigert wurde. André Lichtschlag, Herausgeber der rechtslibertären Zeitschrift eigentümlich frei und selbst Mitglied der Hayek-Gesellschaft, sah in einem Gespräch mit Kubitscheks Sezession eine parallele Entwicklung von AfD und Hayek-Gesellschaft seit vergangenem Winter. Demnach habe es einen Putschversuch des korrupten Establishments an der Spitze als Panikreaktion auf die »Volksbewegung« Pegida gegeben. Dieser sei jedoch wider Erwarten gescheitert und hätte sowohl bei der AfD als auch bei der Hayek-Gesellschaft eine wahre Systemopposition von rechts gestärkt. Zu den verbleibenden Mitgliedern der Hayek-Gesellschaft zählt auch die »Lebensschützerin« Beatrix von Storch von der AfD. Unterdessen machte der ehemalige AfD-Chef Bernd Lucke ernst und gründete am 19. Juli in Kassel seine neue Partei unter dem Namen »Allianz für Fortschritt und Aufbruch« (ALFA). Da sie den Fokus auf die europäische Währungspolitik lenkt, kann sie als Versuch gewertet werden, zu den Gründungsideen der AfD zurückzukehren. So soll die »Westbindung« außer Frage stehen und nationale Wirtschaftskompetenz gebündelt werden. Ein deutlicher Seitenhieb gegen die AfD, die mit der Abwahl Luckes fast alle profilierten Mittelstandslobbyisten verloren hat.
Fraglich ist, wie es mit den verbleibenden Europaabgeordneten der AfD weitergeht, die bislang der Fraktion der europäischen Konservativen und Reformer (EKR) angeschlossen sind. Von den ehemals sieben Abgeordneten sind fünf Lucke gefolgt und firmieren nun unter dessen neuem Label ALFA. Die beiden verbleibenden, NRW-Landeschef Marcus Pretzell und Beatrix von Storch, haben nach Luckes Ansicht mit dem Profil der EKR nichts mehr gemein. Sie müssen sich wohl einen neuen Resonanzraum suchen. | Volker Weiß | Volker Weiß: Notizen aus Neuschwabenland, Teil 9 | [] | Inland | 30.07.2015 | https://jungle.world//artikel/2015/31/ausweitung-der-resonanzraeume?page=0%2C%2C1 |
Zerrissenes Leben | Wirklichkeit und Traum. Interieur einer Heil- und Pflegeanstalt Es ist ein gutes Gefühl: »Wie ich Masche um Masche von der einen Nadel auf die andere hebe, die Wolle durchziehe, wie aus einzelnen Fäden ein Kleidungsstück wird.« Was einst ein Ganzes ergab, erweist sich in der Gegenwart nur noch als fragmentierte Erinnerung an bessere Zeiten. Denn das Gewebe ist längst ausgefranst, der zarte Stoff rissig. Näherei, Sticken, Handarbeiten – in Simone Scharberts Roman »Rosa in Grau« bilden sie das Leitmotiv und sind das letzte Refugium der Hoffnung. Lässt sich die auseinanderdriftende Welt doch noch einmal zusammenflicken? Gemeint ist vor allem jene kleine einer jungen Frau, die in den Nachkriegsjahren mit der Diagnose Schizophrenie in die psychiatrische Anstalt Eglfing-Haar bei München eingeliefert und mittels Elektrokonvulsionstherapie behandelt wird. Als sehr viel heilsamer aber erweist sich die Kunsttherapie. Ein Patient malt, eine andere stickt Bilder, und die Protagonistin übt sich in der Narration. »Ich male Wörter, die man kauen, die man lutschen, die man hinunterschlucken kann (…) Ich male mich, ein Loch, eine Lücke, eine Leerstelle.« Wie nicht wenige Frauen, die sich nicht in die Rolle fügen, die die postnazistische Gesellschaft für sie vorgesehen hat, ist die Erzählerin in Simone Scharberts Roman gezwungen, ihr Leben in der Anstalt zu fristen. Anfang der fünfziger Jahre ist die Institution der Psychiatrie noch von der Zeit des Nationalsozialismus geprägt. »Die personelle Kontinuität war ungebrochen«, schreibt der Humanmediziner Karl-Heinz Beine. »Von wenigen Ausnahmen abgesehen betrieben dieselben Ordinarien und Chefärzte unter der Flagge der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nach 1945 dieselbe Psychiatrie wie zuvor für Führer, Volk und Vaterland. Mit einer Ausnahme: Die Krankenmorde waren gestoppt.« Auch die Anstalt Eglfing-Haar, Schauplatz des Romans, spielte im »Dritten Reich« eine unrühmliche Rolle. Mehr als 2 000 Patienten und Patientinnen sollen neueren Recherchen zufolge zwischen 1940 und 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt ermordet worden sein. Insbesondere die beiden »Hungerhäuser«, in denen mehr als 400 Patienten an vorsätzlicher Mangelversorgung starben, waren berüchtigt. Wie nicht wenige Frauen, die sich nicht in die Rolle fügen, die die postnazistische Gesellschaft für sie vorgesehen hat, ist die Erzählerin in Simone Scharberts Roman gezwungen, ihr Leben in der Anstalt zu fristen. Monotone Abläufe strukturieren den Alltag der Protagonistin. Unentwegt berichtet sie von den Begegnungen mit anderen Patienten und Patientinnen, spricht über das Verrinnen der Zeit und hält Zwiesprache mit dem Mädchen Rosa, das niemand außer ihr zu sehen scheint. Eine Milchglasscheibe trennt die Erzählerin von der übrigen Welt. »Irre ist weiblich« lautete der Titel der 2004 von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely kuratierten Ausstellung, die Scharbert in ihrem Nachwort erwähnt und die als Inspiration für den Roman diente. Die auf den Beständen der Sammlung Prinzhorn basierende Ausstellung zeigte Arbeiten von Psychiatriepatientinnen, die um 1900 ihrer Seelenqual künstlerischen Ausdruck verliehen haben. Der Kunsthistoriker und Mediziner Hans Prinzhorn stellte als Assistent an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik über 5 000 Kunstwerke von Patientinnen und Patienten zusammen. 1922 veröffentlichte er den Band »Bildnerei der Geisteskranken«, der zahlreiche Bildende Künstler beeinflusste, darunter Paul Klee und Picasso. Aber lediglich 20 Prozent der in der Sammlung Prinzhorn vertretenen Werke stammten von Frauen, obgleich diese um 1900 mehr als die Hälfte der Insassen in den Anstalten ausmachten. Ihre Werke, darunter Briefe, Zeichnungen, Textil- und Bastelarbeiten, wurden vermutlich von den Anstaltsärzten schlicht übersehen und nicht an die Sammlung gegeben. Die Ausstellung »Irre ist weiblich« sowie der dazugehörige Katalog stellen die verkannten künstlerischen Arbeiten von Frauen in der Psychiatrie um 1900 erstmals in den Vordergrund. Von der Absurdität, die so manche Texte über Heime prägen, spürt man im Roman »Rosa in Grau« nichts. Während Klassiker wie Friedrich Dürrenmatts Drama »Die Physiker« (1962) satirisch die Verrücktheit von den Insassen auf die Therapeuten übertragen hat und sich in karikaturistischen Zerrbildern des eigenwilligen Therapeutensoziotops ergeht, bedient sich Scharbert eines durchweg ernsten, bisweilen mit erfrischendem Pathos angereicherten Stils. Vielleicht weil es der 1974 in Aichbach geborenen Politikwissenschaftlerin tatsächlich um ein intensives Verstehenwollen geht, liegt doch ihr Augenmerk insbesondere auf den zahlreichen bis heute kaum beachteten Frauen, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Platz in der Mehrheitsgesellschaft gefunden haben und in psychiatrische Einrichtungen gerieten, in denen oft noch die Luft aus den Zeiten des Nationalsozialismus stand. Zuverlässig eröffnen Psychiatrieromane versteckte Räume, mal in der Geschichte, mal in unergründlichen Persönlichkeiten. Da die Einrichtungen Orte des Anderen und Unwägbaren bilden, bergen sie einen Schatz voller Erzählungen. Man denke etwa an die Arbeit der expressionistischen Autorin Unica Zürn oder die erst in den vergangenen Jahren von Literaturbetrieb und Publikum wiederentdeckten Texte von Christine Lavant. Wie produktiv sich die ansonsten zumeist schwierige Zeit in Häusern zur Behandlung psychischer Erkrankungen auswirken kann, zeigt sich auch in Romanen der Gegenwart. Insbesondere Benjamin Maacks ebenso komplexe wie berührende Chronik einer Depression »Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein« (2020) beschreibt er auf überzeugende Weise seine inneren Kämpfen. Zwar bekennt er: »Ich habe aufgehört, meiner Sprache zu vertrauen. Meine Sprache hat aufgehört, Sinn zu enthalten.« Gleichwohl vermag er seiner Befindlichkeit ästhetisch Ausdruck zu verleihen. Ganze Buchseiten bleiben leer, manchmal taucht darauf nur die Frage »Wie geht es Ihnen, Herr Maack?« oder schlichtweg das Wort »Funktionieren« auf. Obwohl die Ideologie der Leistungsgesellschaft mit diesem Begriff noch in den tiefsten Windungen der Psyche vordringt, offenbart sich die Anstalt immerhin noch als letztes Refugium, als eine Art Gegenwelt zum beklemmenden Draußen, in der man stabilisiert wird durch Tabletten und sich beinah rituell wiederholende Gesprächen. Von Clemens J. Setz’ »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« (2015) bis hin zu Moritz Franz Beichls »Die Abschaffung der Wochentage« (2022) hat man es mit Büchern zu tun, die vor allem Wertschätzung für die Charaktere samt ihren Vorbelastungen und nie einfachen Hintergründen aufbringen. Was sie durchgemacht haben, ist der Stoff, aus dem individuelle Geschichten, weit abseits des sogenannten Normalen, hervorgehen. Damit gelingt den Autoren und Autorinnen eine Enttabuisierung psychischer Krankheiten sowie der Stätten zu ihrer Heilung. Gemein ist ihnen dabei die Kritik an der Institution Psychiatrie. Viele Strukturen werden als anonym geschildert, der Alltag zwischen Anwendungen und Warten ist quälend. Und je mehr man sich mit den mal abwegigen, mal traurigen Biographien der Protagonisten befasst, desto mehr drängt sich die Frage auf, wo das Normalsein aufhört und das Irresein beginnt. Simone Scharbert: Rosa in Grau. Eine Heimsuchung. Edition Azur, Berlin 2022, 184 Seiten, 22 Euro | Björn Hayer | Björn Hayer: Simone Schaberts Roman »Rosa in Grau« über die Schrecken der Nachkriegspsychiatrie | [
"Literatur",
"Psychiatrie"
] | dschungel | 02.02.2023 | https://jungle.world//artikel/2023/05/zerrissenes-leben?page=0%2C%2C0 |
Frust im Mittelbau | Die Frisur nervt, die Arbeit auch. Viele Lehrende stehen in der Pandemie unter Druck Wer an einer deutschen Hochschule lehrt, hat es derzeit nicht leicht: Die Digitalisierung von Forschung und Lehre in der Covid-19-Pandemie geht vielfach zu Lasten der wissenschaftlich Beschäftigten. Die ihnen abverlangte Umstellung auf Online-Formate erfolgte in kürzester Zeit – weitgehend ohne zusätzliche technische und personelle Ressourcen sowie kohärente Konzepte und Schulungen. Lizenzen für Software zur Videokommunikation hatten die meisten Universitäten hingegen schnell eingekauft. Wie eine im August vorigen Jahres veröffentlichte Studie der Universität Hamburg zeigt, kann die wegen der Pandemie digitalisierte Hochschullehre allenfalls als »emergency remote teaching« (Notfalldistanzlehre) gelten. Als lediglich notdürftiger Ersatz für die Präsenzlehre, so die Autorinnen der Studie, müsse Notfalldistanzlehre von systematisch geplanter, didaktisch strukturierter Online-Lehre unterschieden werden. Dass die vergangenen beiden Semester dennoch überhaupt stattfinden konnten, war nur möglich, weil Beschäftigte unbezahlte Mehrarbeit leisteten und ihre private digitale Infrastruktur nutzten. Wie in anderen Bereichen auch trifft die Coronakrise besonders diejenigen hart, die prekär angestellt sind, Sorgeaufgaben bewältigen müssen oder aus anderen Gründen benachteiligt sind. Die Hochschulleitungen betrachten die seit fast einem Jahr am heimischen Schreibtisch der Beschäftigten stattfindende Lehre in der Regel als mobile Arbeit, nicht als Telearbeit. Nur in seltenen Fällen wurden andere Dienstvereinbarungen mit dem Personalrat geschlossen. Anders als im Fall von Telearbeit besteht bei mobiler Arbeit kein Rechtsanspruch auf die Erstattung von Büroausstattung. Laptop, Headset und Webcam wurden von den Universitäten zwar häufig bezahlt, konnten aber oft erst einige Wochen oder Monate nach Ausbruch der Pandemie zur Verfügung gestellt werden. Mancherorts konnten Beschäftigte immerhin mit dem Möbeltransporter vor der Universität vorfahren und Tische, Stühle sowie andere Gegenstände einladen und mit nach Hause nehmen. Prekär Beschäftigte, etwa Lehrbeauftragte ohne festen Arbeitsplatz und sozialversichertes Arbeitsverhältnis, stellte die Pandemie allerdings vor noch schwer wiegende Probleme. Dass die vergangenen beiden Semester überhaupt stattfinden konnten, war nur möglich, weil Beschäftigte unbezahlte Mehrarbeit leisteten. Zur wissenschaftlichen Qualifikation befristete Verträge können derzeit zwar auf Grundlage der jüngsten Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) und einer Verordnung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) um ein Jahr verlängert werden, wenn sie zwischen dem 1. März und dem 30. September vergangenen Jahres bestanden. Wurden oder werden sie zwischen dem 1. Oktober desselben und dem 31. März dieses Jahres geschlossen, ist gemäß der Verordnung eine Verlängerung um sechs Monate möglich. Rechtlich bindend ist beides für die Hochschulen aber nicht. Der Vorteil des deutschen Wissenschaftsstandortes ist es ja gerade, dass Hochschulen ihr Personal überwiegend befristet beschäftigen können. Im Dezember verlautbarte das BMBF denn auch auf Twitter, dass das WissZeitVG „Hochschulen und Forschungseinrichtungen bestimmte Freiräume in Bezug auf Befristungsmöglichkeiten“ biete. Die Kritik, die diese Äußerung auslöste, lässt sich unter dem Hashtag #ACertainDegreeOfFlexibility nachlesen. Inzwischen fordern Hochschulleitungen und politisch Verantwortliche mehr Mittel zur Effizienzsteigerung der digitalen Lehre – allerdings dürfte das die Situation des zu rund 90 Prozent befristet, vielfach nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigten wissenschaftlichen Personals nicht unbedingt verbessern. Kurz nach Beginn der Pandemie meldeten sich US-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit düsteren Szenarien für die Zeit nach der Coronakrise zu Wort. Scott Galloway, Professor für Marketing an der Stern School of Business der New York University, sagte der Zeitschrift New York, die beträchtlichen Verluste an Einnahmen aus Studiengebühren würden für private Universitäten die Notwendigkeit erhöhen, Partnerschaften mit großen Tech-Unternehmen einzugehen. Der Marktlogik entsprechend werde es unabdingbar, sowohl Online- als auch Präsenzabschlüsse anzubieten. Zwar liege darin die Möglichkeit von ortsunabhängiger Partizipation und guter Bildung für viele, zugleich drohe aber eine Verschärfung der schon bestehenden Bildungsungleichheit, wenn die digitale Massenuniversität zur Regel und ein Studium am Campus zum Luxusgut wird. Die konsequente Umstellung auf Online-Lehre antizipiere darüber hinaus den flächendeckenden Einsatz von Lernplattformen und auf Algorithmen basierter Leistungserfassung. Wie der Politikwissenschaftler Robert Ovetz in der US-amerikanischen Fachzeitschrift Critical Sociology betont, gehe mit derartigen Formen der Automatisierung nicht nur die Entwertung von Lehrkompetenz einher, sondern auch die Tendenz, Lehrveranstaltungen als externe Dienstleistungen outzusourcen. Im Extremfall könnten Studierende ihre Seminare und massive open online courses – Online-Kurse ohne Zugangsbeschränkungen und mit in der Regel sehr hohen Teilnehmendenzahlen – wie ein Uber-Taxi per Mausklick über Online-Plattformen bei »Content-Spezialistinnen und -Spezialisten« bestellen. Qualitätskontrollen und Bewertungen der Lehre könnten technisch leicht über Lernplattformen erfolgen. Die von der Soziologin Rebecca Barrett-Fox auf ihrer Website formulierte Mahnung: »Bitte geben Sie sich Mühe, Ihre Online-Lehre schlecht zu machen«, dürfen wissenschaftlich Beschäftige also durchaus als vernünftigen Akt der Sabotage beherzigen, wenn sie nicht der Wegrationalisierung des eigenen Arbeitsplatzes zuarbeiten möchten. Nun sind die Hochschulen in Deutschland anders als in den USA nicht überwiegend privat und über Studiengebühren finanziert. Hierzulande halten viele Professorinnen und Professoren der nach neoliberalen Kriterien ausgerichteten und zugleich immer noch weitgehend feudal strukturierten Ordinarienuniversität vielfach unbeirrt an Humboldt’schen Bildungsidealen fest. In einem im Juni vergangenen Jahres veröffentlichten offenen Brief »Zur Verteidigung der Präsenzlehre« erinnern mehrheitlich Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler daran, dass Universitäten Stätten eines »gemeinsam belebten sozialen Raums« über den Hörsaal hinaus sind. Sie schreiben, dass die »kritische und selbstständige Aneignung« von Wissen in einer direkten Gesprächssituation nur bedingt virtuell nachgestellt werden könne. Allerdings ist fraglich, ob der für Studierende allgegenwärtige Leistungs- und Wettbewerbsdruck, das überkommene Hierarchiegefüge und die nach wie vor in der Präsenzlehre üblichen Formate des Frontalunterrichts überhaupt diesem Ideal entsprechen. Der Präsenzvorlesung werden wohl die wenigsten nachtrauern. Ein positiver Effekt der Debatten über die von den Verteidigerinnen und Verteidigern der Präsenzlehre kritisierte »Zwangsdigitalisierung« von Forschung und Lehre ist es, dass sie dazu beitragen, die Methoden und medialen Bedingungen von Hochschullehre grundsätzlich zu reflektieren. Als Tendenz zeichnet sich ab, künftig Elemente aus Online- und Präsenzlehre zu kombinieren.
Um den digitalen Umbau zu beschleunigen, veröffentlichte die Fernuniversität Hagen im Oktober vergangenen Jahres das »Hagener Manifest zu New Learning«. Neben zahlreichen Mitgliedern der Fernuniversität Hagen gehört auch Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung, zu den Erstunterzeichnenden. Dieser bringt mit dem auf der Website der Fernuniversität veröffentlichten Statement „,New Work’ erfordert ,New Learning’“ das Kernanliegen des Manifests auf den Punkt. Im sogenannten Neuen Lernen üben die Studierenden die gefragten Fertigkeiten der digitalisierten Arbeitswelt der Zukunft ein: Selbststeuerung, Flexibilisierung und Agilität. Die Pandemie, so Dräger, zeige, »dass die Hochschulen agiler sind als vielfach angenommen« – sprich: Mehrbelastungen und Verantwortung werden auf die Beschäftigten abgewälzt, wie die ad hoc erfolgte Umstellung auf Notfalldistanzlehre zeigt. Für wissenschaftliche Mitarbeitende, die diese Sorte »Agilität« der Hochschulen nicht mit einem steigenden Maß von Prekarisierung bezahlen wollen, gilt es, diese Entwicklungen überaus kritisch zu beobachten. Immerhin birgt die wenn auch nur in Teilen vorgenommene Umstellung auf Online-Lehre beträchtliche Einsparungspotentiale, etwa im Hinblick auf Raum- und Büromieten, Arbeitsmaterial und Ähnliches. Es wäre naiv zu glauben, dass diese nicht erkannt und künftig ausgeschöpft werden. | Stefanie Retzlaff | Stefanie Retzlaff: Die Umstellung des Lehrbetriebs auf Online-Formate setzt Beschäftigte unter Druck | [
"Studium",
"Corona",
"Digitalisierung"
] | Thema | 28.01.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/04/frust-im-mittelbau?page=0%2C%2C1 |
Neue deutsche Helden | Eines muss man Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) lassen: Von Propaganda versteht der Mann etwas. Deshalb weiß er auch, dass eine PR-Kampagne, soll sie erfolgreich sein, erst strategisch geplant und dann systematisch in die Tat umgesetzt werden muss. Gleich seinen Amtsvorgängern Franz Josef Jung (CDU) und Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) geht es ihm um die Herstellung eines gesellschaftlichen Konsenses über die »Transformation« der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee aus Wehrpflichtigen in eine professionelle, global operierende Interventionstruppe. Auch wie dieses Ziel erreicht werden soll, ist in Militärkreisen seit langem klar: durch die permanent demonstrierte Wertschätzung für die »Leistungen«, die deutsche Soldaten in mörderischen »Auslandseinsätzen« fern der Heimat für Volk und Vaterland erbringen.
Am Anfang einer jeden PR-Kampagne steht das sogenannte Agenda Setting; das Thema muss zunächst einmal auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. De Maizière erledigte dies bereits gekonnt anlässlich der Bundestagsdebatte über den Bericht des parlamentarischen Wehrbeauftragten im September vorigen Jahres. Zunächst erklärte er den Abgeordneten, dass ein Land, das wieder Krieg führt, auch wieder Kriegsveteranen hervorbringt: »Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Wie andere Nationen sollten (…) wir deshalb von unseren Veteranen sprechen.« Anschließend kam der Minister zum Kern der Sache – den Bedürfnissen der Kriegführenden: »Junge Menschen werden sich nur dann für den Dienst in der Bundeswehr entscheiden und im äußersten Fall ihr Leben für unser Land und unsere Freiheit einsetzen, wenn unsere Gesellschaft den soldatischen Dienst als wertvoll, ja als ehrenhaft ansieht. Ich werde es daher zu einem Schwerpunkt meiner künftigen Arbeit machen, (…) eine Politik für den Umgang mit unseren Veteranen (…) auf den Weg zu bringen.«
Ist das Vorhaben erst einmal bekanntgegeben, tut der erfolgreiche Propagandist gut daran, sogleich konkrete Vorschläge zur Umsetzung seiner erklärten Absichten zu machen. Auch in dieser Hinsicht agierte de Maizière vorbildlich: Nach einer Reise durch Kanada und die USA, wo sich sogar spezielle Ministerien der Kriegsveteranen annehmen, forderte er im Februar auch für Deutschland einen »Veteranentag« – zwecks Würdigung im Kampf verwundeter Soldaten und Verleihung von Tapferkeitsmedaillen. Unterstützt wurde der Minister dabei von seiner Ehefrau, die ankündigte, sich in Zukunft stärker für kriegsversehrte und traumatisierte Armeeangehörige einzusetzen. Zur Begründung berief sich Martina de Maizière auf ihre Schwiegermutter, die Ehefrau des einstigen NS-Offiziers und späteren Generalinspekteurs der Bundeswehr, Ulrich de Maizière, die es genauso gemacht habe: »Mir wurde dieses Thema quasi eingeimpft.« Während die Einlassungen der Ministergattin hierzulande ebenso beiläufig wie beifällig zur Kenntnis genommen wurden, hagelte es Kritik am geplanten »Veteranentag«. Insbesondere der von Thomas de Maizière hierfür vorgeschlagene Termin, der Volkstrauertag, rief teils heftigen Widerspruch hervor. Der parlamentarische Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus (FDP) etwa fand, der Volkstrauertag sei die falsche Wahl, da dieser »den Gefallenen gewidmet« sei. Rainer Arnold, dem verteidigungspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, behagte das Datum nicht, da dieses an einen »Teil der deutschen Geschichte« gemahne, »mit dem die Bundeswehr nichts zu tun« habe. In hiesigen Medien blieb Arnolds Aussage unwidersprochen – und das, obwohl der SPD-Politiker mit seiner Begründung falsch lag: Zwar wurde der Volkstrauertag erst 1934 durch das NS-Regime offiziell zum »Heldengedenktag« erklärt, gleichwohl waren Hitlers Generäle maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr beteiligt. Für ihre »Mitwirkung« in der »neuen Wehrmacht« machten sie die »Einstellung jeder Diffamierung des deutschen Soldaten« einschließlich des SS-Angehörigen ebenso zur Bedingung wie eine entsprechende offizielle »Ehrenerklärung« – nachzulesen in der sogenannten Himmeroder Denkschrift, unter Militärangehörigen auch als »Magna Charta der Bundeswehr« bezeichnet. Verteidigungsminister de Maizière indes ließ sich von der teilweise hitzigen Debatte nicht verunsichern. Als PR-Profi handelt er nach der Maxime »Even bad publicity is good publicity« und weiß zugleich, dass öffentliche Kontroversen zwischen Politikern zur Demokratie gehören. Allerdings darf, wenn man an einem solchen Punkt einer Propagandakampagne angekommen ist, nichts dem Zufall überlassen bleiben. De Maizière erwies sich als bestens vorbereitet und präsentierte unlängst prompt ein »Diskussionspapier« mit dem Titel »Eine Veteranenpolitik für die Bundeswehr«. Dort heißt es, die »Leistungen« deutscher Soldaten müssten »als Dienst für das Gemeinwohl gewürdigt werden«, schließlich setzten diese »ihr Leben für unseren Schutz und für unsere Sicherheit« aufs Spiel. An seiner Idee eines »Veteranentags« hält de Maizière fest, wie dem Papier zu entnehmen ist, nur favorisiert er jetzt gleichsam als Beweis seiner Lernfähigkeit den 22. Mai – den »Tag, an dem im Jahr 1956 die wehrverfassungsrechtlichen Grundlagen für die Bundeswehr in Kraft getreten sind«. Außerdem denkt der Minister eigenen Angaben zufolge an die »Gründung von Veteranenheimen«, die »Einführung eines an der Uniform und am zivilen Anzug zu tragenden Veteranenabzeichens«, die »organisatorische Unterstützung von Veteranentreffen« und die Ernennung eines »Sonderbeauftragten für Veteranen«.
Selbstverständlich meldeten sich daraufhin erneut zahlreiche Kritiker zu Wort. Ihre Einwände erinnern stark an die Debatte um das »Ehrenmal« für die Gefallenen der Bundeswehr: Zwar wird die Notwendigkeit, deutsche Soldaten für ihren Kriegseinsatz zu würdigen, nur noch von der Linkspartei ernsthaft bestritten, jedoch mehren sich Stimmen, die gleich dem Verteidigungsexperten der Grünen im Bundestag, Omid Nouripour, fordern, alle zu ehren, »die im Ausland Dienst tun« – also auch Polizisten und Entwicklungshelfer. Ernst-Reinhard Beck, der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, warnt gar vor einer durch die öffentliche Hervorhebung von Kriegsveteranen drohenden »Spaltung der Truppe«: »Es könnten sich zwei Klassen von Soldaten entwickeln.« Daher bleibt abzuwarten, wie es dem PR-Strategen de Maizière gelingen wird, seine Gegner zu integrieren. Für den Herbst hat er jedenfalls schon die Präsentation eines schlüssigen »Konzepts für eine Veteranenpolitik« angekündigt. | Peer Heinelt | Peer Heinelt: Deutschland ehrt seine Soldaten | [] | Inland | 26.04.2012 | https://jungle.world//artikel/2012/17/neue-deutsche-helden?page=0%2C%2C1 |
Unser Dorf soll hipper werden | Es scheint, als entstehe spätestens mit dem ersten Kind bei Berliner Start-up-Gestressten der Wunsch nach einem Waldspielplatz, einem eigenen Garten für den Bioanbau und viel Auslauf für das Haustier. Insbesondere in der Pandemie wächst das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz für die eigene kleine Familie. Nach Angaben des Portals Immobilienscout24 stieg die Nachfrage nach Häusern in ländlichen Gebieten im Mai im Vergleich zum Vorjahr um bis zu 50 Prozent. »Die neuen Landbewohner, die sich zum gemeinschaftlichen Wohnen zusammenfinden, haben meist einen akademischen Hintergrund. Sie bringen Qualifikationen mit, die bislang im ländlichen Raum selten anzutreffen sind«, heißt es in der Studie »Urbane Dörfer – Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann« eines unabhängigen Think Tanks namens Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Vor allem seien es Menschen aus »Wissens- und Kreativberufen – von den klassischen Digitalarbeitern wie Programmierern oder Graphikdesignern bis hin zu Architekten, Journalisten, Sozialwissenschaftlern oder Kulturmanagern« zwischen 30 und 49 Jahren, die das Landleben favorisierten. Diese Gruppe entscheidet sich jedoch nicht für die Doppelhaushälfte mit Gartenzwerg. Der Rückzug ins Private hat eine andere Form angenommen. »Anders als die typischen Familienwanderer gehen sie nicht in der klassischen Kernfamilie hinaus aus der Stadt und ziehen in ein Eigenheim im Speckgürtel.« Es sind häufig sogenannte Landprojekte, in denen Menschen sich in größeren Gruppen zusammenfinden, gemeinsam heruntergekommene Immobilien kaufen und sich aus dem Auf- und Ausbau eine Lebensaufgabe machen. Die Großstadt ist zu teuer, zu voll und zu laut, dennoch soll das urbane Gefühl mit Coworking Space und Yogastudio erhalten bleiben. Sie nehmen sich ein wenig Stadt mit aufs Land. 44 Prozent der Deutschen wollen auf dem Land leben, nur 16 Prozent in einer Großstadt. Doch wer möchte oder kann eigentlich in einem Dorf in Brandenburg leben? Der Ladenbesitzer, die Sozialarbeiterin, der Pfleger oder auch die Lehrerin können nicht einfach weg aus der Stadt. Pendeln muss man sich zeitlich und finanziell leisten können, Homeoffice ist beispielsweisefür die genannten Berufsgruppen unmöglich. Und Menschen, die nicht weiß und heterosexuell sind, bietet die Stadt auch Schutz und Freiraum. Das Milieu, das derzeit aufs Land zieht, ist nicht aus der Stadt verdrängt worden. Es kauft auch nicht das Eigenheim im Vorort. Die neuen »Familienwanderer«, wie sie in der Studie genannt werden, sehnen sich nach einer funktionierenden Gemeinschaft, die zusammenhält, gemeinsam plant und wohnt und die vor allem die eigenen Wertvorstellungen teilt. Sie wollen nicht nach Brandenburg ziehen, um sich in bestehende Dorfstrukturen einzugliedern; sie halten an ihren eigenen fest. Die neuen Landbewohner bringen Freunde und Gleichgesinnte mit, heißt es in der Studie, daher müssten sie »soziale und kulturelle Isolation nicht fürchten«. Die Stadt erfüllt ihre veränderten Anforderungen an das gute Leben nicht mehr, sie ist gefährlicher, lauter und diverser als ein erträumtes Dorfleben. »In einst leerstehenden Resthöfen, aufgegebenen Berufsschulen oder unbewohnten Plattenbauten früherer LPGs haben sie neue Formen gemeinschaftlichen Wohnens und Arbeitens entwickelt – samt Coworking Spaces, Workation- oder Retreat-Angeboten«. Derartige Angebote entstehen von deutschen Akademikerinnen für deutsche Akademikerinnen. Denn es geht nicht um das Dorf und darum, was dort ist oder fehlt, sondern um die Projektion städtischer Sehnsüchte. Diese Sehnsüchte könnten enttäuscht werden, denn das Landleben ist nicht im 19. Jahrhundert stehengeblieben: Es finden sich große landwirtschaftliche Betriebe statt kleiner Bauernhöfe, Dorfläden sind schon lange den Filialen von Supermarktketten gewichen und das Handwerk wird durch Industrie und Dienstleistung ersetzt. Auch auf dem Land ist die neoliberale Realität angekommen. Internetplattformen und Verbände beraten, informieren und organisieren Vernetzungstreffen für Umzuggsinteressierte. Die versprechen sich zum einen individuelle Verwirklichung – für die auf dem Land noch so viel Platz sei –, und zum anderen herrscht die Vorstellung, die Zuzügler seien das, was die zerfallende rurale Sozialstruktur für ihre Rettung brauche. Wer zuzieht, bringe Menschen, Nachwuchs, Geld und Bildung mit – aber er oder sie kommt auch mit einer idealisierten Vorstellung vom Landleben, dem Naturnähe und Ursprünglichkeit zugeschrieben wird. Und wer Geld bringt, kann andere Geld kosten – was nicht allen als Nachteil gilt. »Diese Orte bräuchten etwas von der vielgescholtenen Gentrifizierung, die in den Städten als Ungemach gilt. Denn nur, wenn sie (…) eine Aufwertung erfahren, dann können sich auch die lange brachliegenden Bauten wieder füllen.«, sagte Reiner Klingholz, einer der Autoren von »Urbane Dörfer«, der FAZ. Die Gentrifizierung sei zu Unrecht verschrien, so viel Marktwirtschaft müsse schon sein. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, was diese Regionen eigentlich brauchen und wer das beitragen könne, findet in umzugswilligen Gruppen aus der Stadt kaum statt. Plattformen wie das »Netzwerk Zukunftsorte« sprechen in ihren Positionspapieren davon, wie mit einer »neuen politischen Diversität durch Zuzug« der Rechtspopulismus geschwächt werden könne. Und die »negative Gesamtstimmung« bekämpfe man mit »Aufbruchstimmung im Umfeld von Impulsorten«. Kreative Menschen aus der Stadt sollen also der ländlichen Bevölkerung mit Carsharing und Montessori-Schulen ihre Vorstellung vom guten Leben vorführen. Eine Aufwertung könnte stattfinden, falls die AfD bei der kommenden Landtagswahl in Brandenburg nicht mehr die zweitstärkste Partei wird. Doch ob die Freunde des Landlebens sich wirklich der Aufgabe widmen wollen, mit ihrer »Diversität« eine »Aufbruchstimmung« zu erzeugen, ist fraglich, und auch an einer aufgeschlossenen Reaktion der Dorfnazis darf gezweifelt werden. Das Konzept Yoga mit Rechten statt Antifa klingt nicht sehr erfolgversprechend. | Laura Reti | Laura Reti: Auf’s Land zu ziehen, ist auch keine Lösung | [
"Stadt",
"Land",
"Stadt-Land-Gegensatz"
] | Thema | 03.09.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/36/unser-dorf-soll-hipper-werden?page=0%2C%2C3 |
»Auf einmal war die Klage wirklich ein Thema« | »Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich groß, dass RWE verurteilt wird«. Saúl Luciano Lliuya, peruanischer Bergführer und Kleinbauer aus Huaraz Nach den beiden Verhandlungstagen und der Ankündigung, dass das Gericht schon am 14. April sein Urteil verkünden wird, wie fühlen Sie sich?Ich bin besorgt, auch etwas enttäuscht, dass der eine Gutachter das Risiko, dass es zu einer Flutwelle kommen könnte, die Huaraz zerstören und mein Haus beschädigen würde, so gering einschätzt. Der Gutachter der Klägerseite schätzt das Risiko auf bis zu 30 Prozent. Dem Sachverständigen des Gerichts zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit hierfür innerhalb der nächsten 30 Jahre bei nur einem Prozent. Werden Sie dennoch zur Urteilsverkündung am 14. April erneut kommen?Nein, das ist zu aufwendig. Hinzu kommt, dass ich nicht schon wieder CO2-Emissionen verantworten möchte und dass die Chancen für ein Urteil, das RWE wirklich zur Verantwortung zieht, nicht so groß sind. Sie glauben nicht, dass es zu einem Urteil gegen RWE kommt?Bis vor wenigen Tagen habe ich die Chancen auf fünfzig zu fünfzig eingeschätzt. Als Peruaner, der immer wieder mit einer Justiz konfrontiert ist, die nicht unabhängig ist, bin ich ohnehin skeptisch. Mittlerweile weiß ich, dass die Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich groß ist, dass RWE verurteilt wird – das ist schade, denn ich hätte das Geld gern gespendet. Es hätte in den Fonds gehen sollen, aus dem das Monitoring und die Instandhaltung der Anlagen, vor allem der Pumpen, an und in der Laguna Palcacocha finanziert werden. »Die Gletscher sind in den letzten Jahren weiter zurückgegangen und derzeit sind keine großen Eisabbrüche zu befürchten – es ist einfach wenig übrig vom Gletscher.« Es geht um eine Entschädigungszahlung von 17.000 Euro. Sie fordern, dass RWE 0,47 Prozent der Gesamtkosten für die Schutzmaßnahmen rund um die Laguna Palcacocha übernimmt – entsprechend dem Anteil des Unternehmens am globalen CO2-Ausstoß. Auch wenn das unwahrscheinlich ist: Überwiegt die Freude, überhaupt so weit gekommen zu sein?Ich bin enttäuscht, ein Schuldspruch ist – oder besser gesagt, war – das Ziel. Ein Urteil, dass RWE zu Zahlungen verpflichtet, hätte noch mehr Symbolcharakter entfaltet, als der Prozess es ohnehin schon getan hat. Ihre Anwältin Roda Verheyen hat mehrfach betont, dass Sie schon gewonnen haben, weil die Klage überhaupt zugelassen wurde. Dies schaffe einen Präzedenzfall, um zukünftig Staaten und Unternehmen für die Folgen der Klimakrise juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Sehen Sie das auch so?Ja, grundsätzlich schon. Sehr positiv ist, dass eine deutsche Delegation aus Richtern, Anwälten und Gutachtern im Mai 2022 in Huaraz war; dass wirklich vor Ort untersucht, überprüft und eruiert wurde. Das war ein fundierter, gut vorbereiteter Besuch und er hat hier in Huaraz vielen die Augen geöffnet. Auf einmal war die Klage hier wirklich ein Thema. Die Nachbarn auf dem Dorf, aber auch in Huaraz, wo ich ein Haus habe, haben begriffen, wie alles zusammenhängt. Das hat die Menschen sensibilisiert. Die Gerüchte verstummten, die behaupteten, ich würde Geld für die Klage bekommen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, gegen einen deutschen Konzern zu klagen, der seine Konzernzentrale mehr als 10.000 Kilometer entfernt von Huaraz hat?Die Idee stammt weniger von mir und mehr von meinem Vater. Er ist derjenige, der mich auf die Idee gebracht, mich animiert und unterstützt hat, eine derartige Klage anzustrengen. Daraufhin habe ich über einen guten Freund, José Valdivia, den Kontakt zu Germanwatch geknüpft. Nach der UN-Klimakonferenz 2014 in Lima kam eine Germanwatch-Delegation nach Huaraz. Das war der Auftakt. Und dann sind Sie damals mit Ihrem Vater und der deutschen Delegation zur Laguna Palcacocha hinaufgestiegen?So ungefähr. Wir sind wirklich am nächsten Morgen zum Bergsee gewandert und haben den Pegelstand inspiziert und über die Bedrohung diskutiert, die von der vollgelaufenen Lagune für Huaraz ausgeht. Ich wollte aktiv werden und Germanwatch hat mir dann aufgezeigt, was möglich ist – wie wir gemeinsam agieren können. Daraufhin haben wir einen offenen Brief an RWE aufgesetzt. Germanwatch hatte auch den Kontakt zu meiner Anwältin, Roda Verheyen. Damals war der Pegelstand deutlich höher als heute, richtig?Ja, wir sprechen von etwa fünf Meter Unterschied zwischen damals und heute. Geht derzeit von der Laguna Palcacocha ein akutes Überschwemmungsrisiko aus?Der Pegel ist auf einem eher niedrigen Stand, zudem haben wir mittlerweile das Sicherheitssystem, um Wasser abzupumpen und die Wassermenge effektiv zu regulieren. Dieses System ist erst nach 2014 installiert worden. Hinzu kommt, dass die Gletscher in den letzten Jahren weiter zurückgegangen sind und derzeit keine großen Eisabbrüche zu befürchten sind – es ist einfach wenig übrig vom Gletscher.Allerdings gibt es ein anderes Risiko, und das sind die Felsabbrüche. Die Lagune enthält rund 17 Millionen Kubikmeter Wasser. Das hat das Potential für eine riesige Flutwelle. Eine Felsnase, die abbricht, könnte diese Welle auslösen – ein Desaster. Mittlerweile enthält die Lagune mehr Wasser als 1941. In dem Jahr ereignete sich eine Flutwelle, die den Tod von über 1.000 Menschen nach sich zog. Gab es damals Warnungen, die nicht beachtet wurden?Hans Kinzel, ein Geologe und Gletscherforscher aus Österreich, hatte 1940 gewarnt, dass der hohe Wasserstand der Laguna Palcacocha zu einem Risiko für die darunter liegende Stadt Huaraz werden könne. Kinzel hatte Ende der dreißiger Jahre in und um Huaraz geforscht und seine Beobachtungen, darunter auch einige Fotos, ein Jahr vor der Katastrophe oder sogar noch früher publiziert. Sie wurden allerdings nicht beachtet. Die Warnung wurde in den Wind geschlagen – von den Menschen, die in der Region lebten, aber auch von den Behörden. Man hatte die Natur und ihre ungeheuren Kräfte unterschätzt, obwohl es sich zuvor abgezeichnet hatte, dass ein großes Stück des Gletschers abbrechen, in den See fallen und die Katastrophe auslösen könnte. »Das Wasser aus den Bergen ist zum Teil kontaminiert. Das liegt daran, dass dort, wo die Gletscher weggeschmolzen sind, Mineralien oxidieren, die früher unter Eis eingekapselt waren.« Auf dem Weg nach Huaraz sieht man keine Windkraftanlagen, kaum Solarpaneele. Welche Bedeutung haben regenerative Energieträger in der Region?Es gibt die ersten Solarpaneele, ja, aber es sind wenige und nachhaltige Energiegewinnung spielt in dieser Region nur eine untergeordnete Rolle. Das ist typisch für Peru – wir sind ein wenig innovatives Land, halten uns lieber an die Ausbeutung von Ressourcen wie Erdgas, Kupfer und anderen Industriemetallen sowie Gold. Das ist die bittere Realität. Dabei hängen Huaraz und die Orte unterhalb der Kordillere von Wasserkraftanlagen ab, die nur funktionieren, wenn genug Wasser von oben kommt. Doch es wird wegen der fortgeschrittenen Gletscherschmelze und den sinkenden Niederschlägen weniger. Weniger Wasser ist vor allem für die Landwirtschaft ein Problem. Was wird dagegen unternommen?Das sinkende Wasserangebot bekommen wir schon jetzt zu spüren. Trotzdem kommen die Pläne, Wasserreservoirs zu bauen und einen geschlossenen Kreislauf mit Klärwerk und Wasseraufbereitung aufzubauen, bisher nicht voran. Hier liegt eine große Herausforderung, denn das Wasser aus den Bergen ist zum Teil kontaminiert. Das liegt daran, dass dort, wo die Gletscher weggeschmolzen sind, Mineralien oxidieren, die früher unter Eis eingekapselt waren. Warum kommen die Maßnahmen nur schleppend voran?Es wird zwar hin und wieder diskutiert und die Probleme und Herausforderungen werden benannt, aber es passiert nichts beziehungsweise zu wenig. Ein strukturelles Problem ist die Korruption – das Gros der politisch Verantwortlichen der vergangenen Jahre aus der Provinz Ancash sitzt in Haft, weil es bestechlich war. Das ist in Lima nicht anders. Peru ist ein Land in den Fängen der Korruption. Sie haben vor ein paar Jahren gesagt, dass Sie sich vorstellen könnten, eine Klage wie die gegen RWE auch in einem anderen Land, zum Beispiel den USA, zu führen. Ist das noch eine Option?Puh, wenn diese Klage am 14. April mit einem Urteil endet, dann ist es für mich erst einmal Zeit für eine Pause. * Saúl Luciano Lliuya ist peruanischer Bergführer und Kleinbauer aus Huaraz, und führt unterstützt von Germanwatch seit 2015 eine Klage gegen den deutschen Energiekonzern RWE. Er hat das Essener Unternehmen als einen der größten europäischen CO2-Emittenten wegen dessen Beitrag zur globalen Klimaerhitzung vor Gericht gebracht. Oberhalb der Stadt Huaraz, in den Anden, schmelzen die Gletscher. Dadurch ist ein See, die Laguna Palcacocha, stark angeschwollen, der die Stadt überfluten könnte. Sein Damm wurde verstärkt, Pumpen installiert, um Wasser abzuleiten, Personal eingestellt, das den Pegelstand beobachtet – all das kostet Geld. An diesen Kosten soll sich RWE beteiligen. | Knut Henkel | Knut Henkel: Saúl Luciano Lliuya, peruanischer Kleinbauer, im Gespräch über den Prozess gegen den Energiekonzern RWE | [
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] | Interview | 27.03.2025 | https://jungle.world//artikel/2025/13/saul-luciano-lliuya-peruanischer-kleinbauer-rwe-auf-einmal-war-die-klage-wirklich-ein-thema |
Uno, dos, tres, cuatro | Die Band Mostros entdeckte ich, als ich in Vorbereitung der Mallorca-Reise bei Myspace nach Punkrock-Bands aus Palma suchte. Vorsorglich schickte ich mit meiner Anfrage um virtuelle Freundschaft ein paar freundliche Sätze mit und schon entspann sich ein reger E-Mail-Verkehr. Eine Woche später holt mich Gitarrist Juanmi vom Bahnhof Palma ab, da ist klar, dass Myspace funktioniert und die internationale Rock’n’Roll-Solidarität ebenfalls. Bands wie Wipers, Sonics und Circle Jerks verbinden uns und als Mostros kurze Zeit später im Proberaum eben diese covern, ist unsere Verbundenheit real.
Die Band besteht zu drei Vierteln aus Argentiniern, der größten spanisch sprechenden Minderheit auf Mallorca. Sängerin Macky, Schlagzeuger Larry und Bassist Alejo kamen, um zu arbeiten, und stießen hier auf den Mallorquiner Juanmi. Ihr Proberaum befindet sich gegenüber der Trabrennbahn von Palma, die Räume selbst sind ehemalige Pferdeställe. Verschiedene Bands proben hier und so hat man praktischerweise gleich auch noch eine kleine Bar eingerichtet, die Musiker und Gäste versorgt. Mallorcas Punk-Subkultur versammelt in einem Hinterhof. Die überschaubare Szene macht stilistische Abgrenzungen schwierig. Macky erkennt mein T-Shirt der deutschen Hardcore-Punk-Band Bombenalarm und erzählt, Mostros hätten mit ihnen bereits zusammen gespielt, als diese ihre erste LP auf Mallorca aufnahmen.
Mostros’ Sound ist klassischer hedonistischer Punk’n’Roll. Im September hat die Band dennoch auf einem Soli-Konzert für die anarchistische Gewerkschaft CNT gespielt und ihre aktuelle Mini-LP haben sie im Do-it-yourself-Verfahren produziert. www.mostros.info/flyingpeluca.html
www.myspace.com/thisismostros | Andreas Michalke | Andreas Michalke: Punk im Pferdestall | [] | dschungel | 16.10.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/42/uno-dos-tres-cuatro?page=0%2C%2C3 |
Ein Prost auf die Prohibition | Ein Freund erzählte kürzlich von einer Party von Kunst- und Modeleuten in einem Club in Mailand. Er habe dort, das wiederholte er mehrmals, wirklich jede denkbare Droge bekommen können. Um aber eine Zigarette zu rauchen, musste er vor die Tür gehen, und dort noch einige Meter weiter, bis hinter eine Art Demarkationslinie.
Ähnliches wird aus Paris berichtet, nur dass man in Frankreich noch einen Schritt weiter gegangen ist in der Ächtung herkömmlicher Drogen. In Frankreich gibt es bereits ein generelles Werbeverbot für Wein. Es besteht nicht nur auf dem Papier. Redaktionen, die aus alter Gewohnheit Wein loben oder anderweitig Texte über ihn veröffentlichen, werden drastische Strafen angedroht, Hersteller, die öffentlich auf ihre leckeren Erzeugnisse aufmerksam machen wollen, mit Pornografen verglichen. Dagegen scheinen die Verhältnisse hierzulande noch freizügig zu sein. Die Bestimmungen zum Rauchen in der Öffentlichkeit sind diffus und je nach Bundesland verschieden. Wer in irgendwelchen Kolumnen Wein anpreist, wie es in etlichen Zeitungen und Magazinen üblich ist, muss keine rechtliche oder öffentliche Gängelung befürchten.
Das ist unter den Maßgaben der Gleichbehandlung in der Europäischen Union selbstverständlich unfair. Auf dem Weg zur Vereinheitlichung von Markt, Recht und Mensch besteht Handlungsbedarf in Deutschland. Deshalb lädt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing von der SPD, am 15. September zu einer Anhörung in das Bundesgesundheitsministerium. Gegenstand der Zusammenkunft sind zwei »Nationale Aktionsprogramme« zur Nikotin- und Alkoholprävention. 60 Verbandsvertreter, Experten und Politiker aller Fraktionen werden in dem Ministerium über so genannte Empfehlungskataloge verhandeln, die von einer Facharbeitsgruppe »Suchtprävention« verfasst wurden. Der Inhalt lässt sich kurz zusammenfassen: Durch Steuererhöhungen sollen die Preise sowohl für Tabak als auch für Alkohol langfristig und regelmäßig deutlich erhöht werden. Ziel ist ferner ein vollständiges Werbeverbot für Tabakprodukte in sämtlichen Medien. Auch sollen die Deutschen nicht mehr so viel Alkohol trinken. Mittelfristig soll der Konsum von derzeit durchschnittlich zehn Litern auf acht Liter pro Jahr und Bundesbürger gesenkt werden. Um dieses Vorhaben zu unterstützen, sollen die »Alkoholwerbung ganz verbannt und Sponsoringmaßnahmen der Alkoholindustrie vollkommen unterbunden werden«.
Die Aussicht auf letztgenanntes kann einem als Freund der tropischen Regenwälder durchaus Freude bereiten: Die Vorstellung, dass das Brauunternehmen Krombacher und Günter Jauch, die in einer Werbekampagne für jeden gekauften Kasten Bier den Schutz eines Quadratmeters Regenwald versprachen, endgültig die Dschungelgebiete Amazoniens und des Kongo in Ruhe lassen müssen, hat etwas sehr Angenehmes.
Aber mit einer derart individuellen Genugtuung lässt sich dem vollständigen »Nationalen Aktionsprogramm« leider nicht begegnen. So kommen die Empfehlungen u. a. offensichtlich ohne Empirie aus. Wer einmal erlebt hat, wie in Oslo, Trondheim oder Reykjavík nahezu alle jungen Menschen ab Freitagabend alles daransetzen, spätestens am Sonntag nicht mehr auf zwei Beinen stehen zu können, und schon die ganze Woche in Vorfreude auf dieses Wochenendvergnügen verbringen, wird sich keine Illusionen darüber machen, dass hohe Preise den Alkoholkonsum einschränken könnten. So blöd, dies anzunehmen, kann nicht einmal die SPD sein, die ja traditionell sehr gute Verbindungen zu den skandinavischen Ländern unterhält. Was sollen die geplanten Maßnahmen des Bundesgesundheitsministeriums also bezwecken? Warum geben Länder in der EU ein über Jahrhunderte erprobtes Modell im Umgang mit Drogen auf und wählen den Weg in die Prohibition? Und warum schränken Gesellschaften, in denen andauernd über fehlende Arbeitsplätze lamentiert wird, einen Produktionszweig, der sehr vielen Leuten ein Auskommen verschafft, derart ein? Um die immensen Folgekosten des Nikotin- und Alkoholmissbrauchs zu senken, heißt die Antwort meist, und um den Leuten, wenn sie es schon nicht selbst einsehen wollen, zumindest den Zugang zu den alltäglichen Drogen zu erschweren.
Schön und gut: Rauchen ist gesundheitsschädlich und Alkoholismus eine schreckliche Krankheit. Nur – und da wird es etwas kompliziert – handelt es sich eben auch um Drogen, die seit überaus langer Zeit bekannt und gebräuchlich sind. »Auch schädliche Drogen bilden Kultur«, hat der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler kürzlich in einem langen, mit Detlef Kuhlbrodt geführten Gespräch über das Rauchen in der Taz gesagt. Und die Geschichte der Verfeinerung von Stoff und Konsum kann man für Bier, Whisky und Wein von den frühmittelalterlichen Klöstern bis zu den derzeitigen Produktionsstätten um Bordeaux oder in den schottischen Bergen verfolgen. Wenn es um die Herstellung von Alkohol geht, kann man von Kultur im besten Sinn sprechen
Zudem gibt es menschliche Gesellschaften nicht ohne Drogen. In allen wurden Drogen konsumiert, und auch wegen der Gefahren, die diese mit sich bringen, ist der Genuss an Riten, Gebote und Verbote gebunden. Diese regeln nicht nur die Zeiten und Orte der Einnahme, sondern bestimmten auch, welche Drogen zulässig sind. Den verträglichen Umgang mit ihnen müssen sich Gesellschaften und ihre Mitglieder in einer langen Geschichte und aus tradierten Erzählungen aneignen. Die verheerenden Auswirkungen des Alkohols auf die Gesellschaften der nordamerikanischen Ureinwohner sind da ein bekanntes, aber schon nicht mehr so gutes Beispiel, weil es historisch ist. Ein besseres Beispiel für das Aufkommen unbekannter oder, besser gesagt, nicht durch Traditionen kontrollierter Drogen ist die Verbreitung von Heroin in Italien am Ende der siebziger Jahre. Recht schnell gab es 1977 nach den Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und den Studenten und Arbeitern in Bologna kein Haschisch mehr, sondern nur noch Heroin. Die Droge fand unverzüglich Konsumenten. Das hatte die für den Staat gute Nebenwirkung, dass die Bedröhnten keinen Ärger mehr auf Demonstrationen machen konnten. Der Einzug des Heroins in Italien ereignete sich in einer Zeit, in der die Enttäuschung über eine ausbleibende gesellschaftliche Veränderung groß war und darüber hinaus alte Produktionsformen wie die Fließband- und Fabrikarbeit von neuen abgelöst wurden. Die ökonomischen Veränderungen wurden also auch von solchen in der Drogenkultur begleitet. Einen derartigen Wandel in der Drogenkultur scheint Deutschland derzeit herbeiführen zu wollen. Denn wenn selbst in Frankreich schon die mediale Erwähnung von Wein untersagt ist, hat man hierzulande anscheinend einiges nachzuholen.
Dabei berühren die Aktionsprogramme den Umlauf anderer Drogen als Alkohol und Nikotin überhaupt nicht. »Noch nie waren Drogen so billig und leicht verfügbar wie heute. London, Mailand und Berlin werden überschwemmt von Rauschgift. In Afghanistan werden unter den Augen der Nato Opium-Rekordernten eingefahren«, berichtete der Mafia- und Drogeneexperte Misha Glenny vor einigen Tagen in einem Interview auf Spiegel online. Er fügte hinzu, dass »schon bald chemische Drogen den Weltmarkt überschwemmen werden, die viel billiger und einfacher herzustellen sind«, als alles, was bisher bekannt sei.
Der Umgang mit solchen Drogen ist dann freilich nicht erprobt, noch sind ihre gesundheitlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen unbekannt. Da das Rauchen vielerorts verboten und der Alkohol teurer wird, dürften neue chemische Substanzen genügend Abnehmer finden. Ihre Produktion ist nicht mehr an Weinberge oder Tabakplantagen gebunden. Man kann sie einfach in jedem Labor herstellen, die Rohstoffe liefern Ciba Geigy, Bayer oder Schering. Den Markt für die neuen Stoffe schafft neben anderen die SPD durch ihren Kampf gegen die traditionellen Arbeiterdrogen wie Zigaretten und Bier. | Cord Riechelmann | Cord Riechelmann: Der staatliche Kampf gegen Alkohol und Nikotin | [] | Inland | 11.09.2008 | https://jungle.world//artikel/2008/37/ein-prost-auf-die-prohibition?page=0%2C%2C0 |
Wanzen im Grundgesetz | "Reformstau" ist das Lieblingswort der Kommentatoren, wenn sie über die angebliche wahlkampfbedingte Blockade in der Bonner Politik schimpfen. Wenn es um die Veränderung des Grundgesetzes geht, ist von Blockade nichts zu spüren. Schon im letzten Jahr hatte sich die große Koalition in Sachen Innere Sicherheit bewährt. In der vergangenen Woche nun einigten sich Regierung und SPD auf den sogenannten Großen Lauschangriff. Eigentlich sollten die notwendigen Gesetzesänderungen bereits 1997 vom Bundestag verabschiedet werden, SPD-Fraktion und Parteivorstand hatten dem Lauschangriff schon zugestimmt. Doch Anfang Dezember verpflichteten die Delegierten auf dem SPD-Parteitag ihre Parteiführung zu Nachverhandlungen. Das Abhören von Wohnungen ist nichts Neues. Legal war es in den meisten Bundesländern schon bisher, allerdings nur zur "Gefahrenabwehr". Die jetzt ausgehandelte Regelung verleiht dem polizeilichen Lauschen Verfassungsrang. Die in Artikel 13 des Grundgesetzes festgeschriebene Unverletzlichkeit der Wohnung soll eingeschränkt werden, zukünftig soll die Verwanzung von Wohnräumen auch zur Fahndung nach Straftätern erlaubt sein. Zugeständnis an die SPD-Basis in dem jetzt ausgehandelten Gesetzes-Paket: In der Strafprozeßordnung wird festgeschrieben, daß Gespräche von Pfarrern, Abgeordneten und Strafverteidigern nur dann abgehört werden dürfen, wenn diese selbst einer schweren Straftat verdächtigt werden. Bei den übrigen zur Zeugnisverweigerung berechtigten Personen, etwa Angehörigen, Rechtsanwälten oder Ärzten, darf zwar abgehört werden, die Verwertung der Abhörprotokolle soll aber nur erlaubt sein, wenn die Verwertung "unter Berücksichtigung der Bedeutung des zugrundeliegenden Vertrauensverhältnisses nicht außer Verhältnis zum Interesse an der Erforschung des Sachverhalts oder der Ermittlung des Aufenthaltsorts des Täters" stehen. Solche "Placebo-Bestimmungen" milderten die Tiefe des Grundrechtseingriffes nicht, erklärte Manfred Such von den Grünen, und Burkhard Hirsch (FDP) sagte, die Gesetzesänderung sei für Liberale nicht annehmbar. Auch aus der SPD kam Kritik: "Völlig unannehmbar" sei die ausgehandelte Regelung, meinte der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen, Klaus Hahnzog. Doch die vereinzelten Bürgerrechtler in SPD und FDP werden die notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag nicht verhindern. Auch die angekündigten Verfassungsklagen von Ärzte- und Journalistenverbänden werden den Großen Lauschangriff nicht mehr stoppen. Ungewiß ist nur noch die Mehrheit im Bundesrat. Sie hängt vom Abstimmungsverhalten der Länder Bremen (CDU/SPD) und Rheinland-Pfalz (SPD/FDP) ab. Bremens Regierungschef Henning Scherf (SPD) hatte eine Verbesserung des Schutzes für sensible Berufsgruppen gefordert. Er dürfte mit den jetzt verabreichten Beruhigungspillen zufrieden sein. Dagegen kündigte der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Peter Caesar (FDP), bereits Änderungsanträge im Bundesrat an. Ob er sich mit dieser Haltung allerdings bei seinem Koalitionspartner wird durchsetzen können, ist fraglich. Innenminister Kanther kann die neuen Lauschkompetenzen als ersten Erfolg in dem von ihm ausgerufenen "Sicherheitsjahr" verbuchen. Doch die Berliner Polizei dämpft allzu große Erwartungen der Sicherheitsfreaks an den Großen Lauschangriff: "Der Lauschangriff ist keine Wunderwaffe", erklärte der zuständige Polizeidirektor Martin Textor der Berliner Zeitung. Versprechen konnte der Kripomann aber etwas anderes: Arbeitsplätze für hochqualifiziertes Personal, für "Akustiker, die sich mit der Beschallung von Wohnräumen auskennen", für "Elektroniker und Funktechniker, die dafür sorgen, daß Funkwellen auch durch eine Stahlbetonwand empfangbar sind". Am schwierigsten sei es allerdings, unbemerkt in die Wohnung des Straftäters zu kommen, ohne daß dieser selbst Verdacht schöpft. Und so wird die jüngste Bonner Reform auch dem einen oder anderen professionellen Einbrecher einen Job verschaffen. | Ferdinand Muggenthaler | Ferdinand Muggenthaler: | [] | Inland | 15.01.1998 | https://jungle.world//artikel/1998/03/wanzen-im-grundgesetz?page=0%2C%2C1 |
»Viel Druck auf Mädchen« | Inwiefern ist der Antisemitismus Teil des Schulalltags in Berlin?
Wir haben die spezifische Form des Antisemitismus untersucht, die sich im Salafismus manifestiert. Der Antisemitismus ist eine integrale Komponente der salafistischen Ideologie. Es ist nicht immer eindeutig zu bestimmen, wo Salafismus die Quelle für Antisemitismus ist und wo es sich um weit verbreitete antisemitische Stereotype handelt. Dennoch wissen wir, dass es in einigen Schulen und Klassen eine erhöhte Religiosität gibt, die immer öfter eine salafistische Prägung hat. Diese Schüler äußern sich zum Teil auch offen antisemitisch. Um was für Äußerungen handelt es sich?
Antisemitismus tritt im Unterricht sehr aggressiv im Zusammenhang mit Israel hervor. Israel wird zuweilen buchstäblich von Landkarten gestrichen. Es ist in einigen Klassenzimmern fast unmöglich, das Thema Nahostkonflikt zu unterrichten oder zu diskutieren. Darüber hinaus gibt es immer wieder Anzeichen für einen Glauben an eine jüdisch-westliche Verschwörung, die den Islam kleinkriegen wolle. Außerdem ist »Du Jude!« als Schimpfwort unter Schülern sehr weit verbreitet. Wobei das ganz gewiss nicht nur ein Problem des salafistisch geprägten Islam ist. Das ist auch weit darüber hinaus verbreitet. Wie sicher sind jüdische Schüler an Berliner Schulen? Man denke etwa an die Angriffe auf den jüdischen Schüler in Friedenau.
Friedenau war in seiner Qualität ein besonders krasser Fall und trotzdem ist es kein Einzelfall. Jedes Jahr wechseln jüdische Schüler wegen antisemitischer Angriffe auf die jüdische Schule. Daher wissen wir, dass jüdische Schüler sich in Berlin zuweilen bedroht fühlen. Wie weit verbreitet das ist, können wir nicht sagen. Viele schweigen aus Angst. In Ihrem Bericht ist von islamischen »Moralwächtern« die Rede. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Diesen Begriff hat eine Lehrkraft zur Beschreibung dieses Phänomens gebraucht. Eine ganze Anzahl von Lehrkräften hat uns berichtet, dass Schüler sich dafür zuständig fühlen, ihre strenge Auslegung des Islam in der Klasse durchzusetzen, und dass andere Schüler eingeschüchtert werden. Insbesondere auf Mädchen gibt es viel Druck: sich auf eine bestimmte Art und Weise zu kleiden, Kopftücher zu tragen, gewisse Musik zu hören und andere nicht. Von allen Schülern wird eingefordert, die Speiseverbote des Ramadan einzuhalten. Es wird sogar versucht, auf das, was im Unterricht gesagt und nicht gesagt wird, Einfluss zu nehmen. Es wird eine Haltung verbreitet, die sehr LGBT-feindlich ist und mit sehr frauenfeindlichen Bildern arbeitet. Die Autorität von Lehrern und insbesondere Lehrerinnen wird untergraben. Diese Schüler tragen die Aussagen ihrer Lehrer ihren Imamen vor, um sie einer »Prüfung« zu unterziehen. Ab diesem Punkt ist es definitiv nicht mehr eine Frage von Religion, sondern ein Angriff auf die Autorität des Staates im Erziehungswesen. Wie gehen Lehrer und Schulen mit Antisemitismus und Salafismus um?
Viele Lehrer sind unsicher, wie sie damit umgehen sollen. Sie haben nicht sehr viele Informationen zu Themen wie dem Salafismus und dessen besonderer Ausprägung des Antisemitismus. Es gibt auch nicht viel Material für Lehrer zum Hass auf Israel oder darüber, wie man den Nahostkonflikt so diskutieren kann, dass es nicht einseitig ist. Es gibt einen großen Bedarf an Leitfäden und Handreichungen für Lehrer. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass der Berliner Senat sich dieses Themas angenommen hat. | Alexander Nabert | Alexander Nabert: Small Talk mit Deidre Berger vom AJC über Antisemitismus an Berliner Schulen | [] | Hotspot | 27.07.2017 | https://jungle.world//artikel/2017/30/viel-druck-auf-maedchen?page=0%2C%2C1 |
Aufrichtiger Aufstand | Es war nur eine Frage der Zeit, dass die in Kirgisien nach den Parlamentswahlen im März ausgebrochene Protestwelle auf das benachbarte Usbekistan übergriff. Bereits Ende März setzten Landwirte in der Stadt Dzhizak zahlreiche Autos in Brand, um sich gegen staatliche Landenteignungen zu wehren. Anfang Mai demonstrierten in der Hauptstadt Taschkent Frauen, die von Sondereinheiten brutal niedergeprügelt worden waren. Mitte Mai schließlich kam es in der im dicht besiedelten Ferghana-Tal im Osten des Landes gelegenen Stadt Andischan zu einem Aufstand. In der Nacht zum 13. Mai überfiel eine Gruppe Anhänger der halblegalen islamistischen Akramija, ausgerüstet mit kurz zuvor in einer Kaserne erbeuteten Waffen, das örtliche Gefängnis und befreite mehrere Hundert von insgesamt 4 000 Gefangenen. Danach besetzte ein Teil der Aufständischen das Gebäude der Stadtverwaltung, während sich bereits Zehntausende auf den Straßen versammelt hatten und den Rücktritt von Präsident Islam Karimow und seiner Regierung forderten. Karimow schien auf eine solche Entwicklung vorbereitet gewesen zu sein, er ließ auf die Protestierenden schießen. Die usbekische Staatsanwaltschaft spricht von 169 Toten, Oppositionelle und Menschenrechtsorganisationen geben weitaus höhere Zahlen an. Die einzige Organisation in Usbekistan, die sich bemühte, eine gründliche Zählung in Andischan und dem Vorort Pachtaabad durchzuführen, ist die Oppositionspartei Ozod Dechkonlar (Freie Bauern). Ihre Mitglieder zogen von Haus zu Haus, um die Namen der Getöteten schriftlich festzuhalten. Die Parteivorsitzende Nigara Hidojatova sagte in der vergangenen Woche der Tageszeitung Izvestija, dass bislang 745 Tote gezählt worden seien, darunter auch Frauen und Kinder. Allerdings seien viele noch auf der Suche nach vermissten Angehörigen, die sich auf der Flucht nach Kirgisien befinden oder verhaftet worden sein könnten. Die Ereignisse der vergangenen Tage kamen für Hidojatova alles andere als überraschend. Ihre Prognose lautet, dass in Andischan nach den Beerdigungszeremonien weitere Unruhen ausbrechen werden. Und wenn Karimow weiterhin entschieden gegen jeglichen lokalen Widerstand vorgeht, was anzunehmen ist, könnte die Bevölkerung in wenigen Wochen im ganzen Land ihrem Unmut Luft verschaffen. Die Ozod Dechkonlar gründete sich im Dezember 2003 als Oppositionspartei. Die für eine legale Arbeit erforderliche Registrierung wurde ihr verweigert, dennoch verzeichnet sie etwa hunderttausend Mitglieder vorrangig im Ferghana-Tal. Sie versteht sich als säkular und bildet somit eine große Ausnahme unter den oppositionellen Bewegungen. Als sich zum Ende der Perestrojka eine nicht religiös ausgerichtete Opposition herausbildete, begannen sich gleichzeitig islamische Organisationen zu formieren. Damals verfügten die säkularen Parteien und Bewegungen über einen wesentlich größeren Einfluss. Karimow setzte dieser Tendenz jedoch bereits 1993 ein abruptes Ende. Ein Großteil der führenden Oppositionellen erhielt Gefängnisstrafen oder war gezwungen zu emigrieren. Geblieben sind geschrumpfte, machtlose und in sich zerstrittene Bewegungen ohne Aussicht auf Legalisierung. Stattdessen konnten sich Parteien registrieren lassen, die sich durch die Treue zu Präsident Karimow auszeichnen und dessen Kontrolle unterstehen. Nur sie dürfen an den Wahlen teilnehmen. Zu einer realen Bedrohung für das Regime entwickeln sich die stärker werdenden islamistischen Tendenzen. Im Gegensatz zu den Nachbarstaaten Kasachstan und Kirgisien, die traditionell durch nomadische Kulturen geprägt waren, dominierte in Usbekistan vor der Oktoberrevolution der Islam der Schriftgelehrten mit seinen Regeln der Sharia, der den Bedürfnissen der Milieus der Landwirtschaft und des städtischen Handels entsprach. Eine der bekanntesten islamistischen Gruppierungen war die noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Islamische Bewegung Usbekistans, die beste Kontakte zu den Taliban in Afghanistan unterhielt. Mitte der neunziger Jahre begann der Aufstieg der Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung). Sie wird auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion als terroristisch eingestuft, im Westen gilt sie nicht als gewalttätig. Anstatt Anschläge zu organisieren, konzentrierte sich die Hizb ut-Tahrir auf die Verbreitung von Propaganda. Ihren Anhängern wurde ebenso der Prozess gemacht wie jenen, die auf eine religiöse oder regimekritische Haltung nicht verzichten wollen, sich jedoch von islamistischen Gruppierungen distanzieren. In der Sprache des Staatsapparates werden alle Unzufriedenen pauschal als Terroristen denunziert. Das Fehlen jeglicher Möglichkeiten für eine legale politische Betätigung und die wachsende Verelendung großer Bevölkerungsschichten führen jedoch eher zu einer Radikalisierung, als dass sie diese eindämmen würden. Den Ereignissen in Andischan ging der Prozess gegen 23 Anhänger der Bewegung Akramija voraus, die unter ihrem Anführer Akram Juldaschew die Politik der Hizb ut-Tahrir fortsetzt. Juldaschew hat ein Buch mit dem Titel »Der Weg zum aufrichtigen Glauben« verfasst, das sich bei den Bewohnern des Ferghana-Tals wachsender Beliebtheit erfreut. Darin wird die Wiederbelebung islamischer Traditionen in Mittelasien und die Machtaneignung mit gewaltlosen Methoden auf lokaler Ebene propagiert, gestützt auf informelle Nachbarschaftsverbände, die in Usbekistan Machalja genannt werden und große Teile der Gesellschaft und des politischen Lebens im Land prägen. Karimow sieht sich einer stärker verankerten islamisch-religiösen Opposition und einer wachsenden Protestbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber, kann sich gleichzeitig jedoch in viel stärkerem Maße auf seinen Sicherheitsapparat und seine Beamten verlassen als sein ehemaliger kirgisischer Amtskollege Askar Akajew. Für eine »samtene Revolution« wie beim Machtwechsel in der Ukraine oder in Kirgisien fehlt jegliche Basis. Wie in den anderen mittelasiatischen Ländern ist auch in Usbekistan der Staat ein Familienunternehmen, das vorrangig die Versorgung des eigenen Clans zum Ziel hat. Vetternwirtschaft und Klientelismus sind jedoch kein effektives Mittel für die Lösung der ökonomischen und politischen Probleme. Das Ferghana-Tal stellte mit seinem hohen Bevölkerungswachstum und den unzureichenden Wasser- und Bodenressourcen für Usbekistan bereits zu Sowjetzeiten ein enormes Problem dar. Für Präsident Karimow könnte es auf Dauer zum Verhängnis werden. Denn die Proteste haben ihr Potenzial längst nicht erschöpft. | Ute Weinmann | Ute Weinmann: | [] | Ausland | 25.05.2005 | https://jungle.world//artikel/2005/21/aufrichtiger-aufstand?page=0%2C%2C1 |
Über Gebühr belastet | Zeit für eine radikale Kritik der Verhältnisse an den Universitäten Mehr als drei Jahre lang war das Studieren in Deutschland gebührenfrei. Anfang Mai beschloss der Landtag Baden-Württembergs jedoch mit der Mehrheit von Grünen und CDU, dass Studentinnen und Studenten aus Nicht-EU-Ländern ab Oktober 1 500 Euro pro Semester zahlen müssen. Der Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Landesregierung Nordrhein-Westfalens unter Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sieht ein ähnliches Modell vor. Der Bundesverband ausländischer Studierender (BAS) wehrt sich gegen die selektiven Studiengebühren. »Für uns ist das eine Diskriminierung, wenn nur Menschen hierher kommen dürfen, die sich das auch leisten können«, sagt Maimouna Ouattara, Sprecherin des BAS, im Gespräch mit der Jungle World. Es seien zwar Ausnahmen für anerkannte Flüchtlinge und Studierende aus Entwicklungsländern vorgesehen, wesentlich verbessern würde das die Regelung aber nicht: »Es gibt etliche von Deutschland unterzeichnete Konventionen, die das Recht auf Bildung enthalten, so bleibt das Recht auf Bildung einigen aber verwehrt.« Auf eine kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Dietmar Bell (SPD) gab die Landesregierung die Zahl der Studenten aus Nicht-EU-Staaten in Nordrhein-Westfalen mit 67 609 für das Jahr 2016 an. Nach Angaben des FDP-Bundes- und Landesvorsitzenden Christian Lindner sollen von den Gebühren etwa 30 000 Studierende betroffen sein. Der BAS kritisiert neben den Gebühren auch die Studienbedingungen von Ausländerinnen und Ausländern. »Wir brauchen eine bessere Begleitung beim Studium, um zum Erfolg zu kommen, und bessere Finanzierungsmöglichkeiten, zum Beispiel beim Bafög«, sagt Ouattara. Der Freie Zusammenschluss der Studierendenschaften (FZS) stimmt dem zu. »Bildung muss für alle zugänglich sein. Jeder Cent, den man dafür aufbringen muss, ist einer zu viel«, sagt das Vorstandsmitglied Mandy Gratz im Gespräch mit der Jungle World. Der FZS fordert eine staatliche Hochschulfinanzierung, die bedarfsdeckend sein und automatisch angepasst werden soll, sowie deutliche Verbesserungen beim Bafög. »Es darf bei der Finanzierung eines Studiums nicht auf den Geldbeutel der Eltern ankommen«, fordert Gratz. Überdies kritisiere der FZS die Studienplatzvergabe. »Man braucht endlich die Kapazitäten, mit denen alle das studieren können, was sie wollen, so dass nicht die Güte des Abiturs darüber entscheidet, ob man studieren darf.« »Bildung muss für alle zugänglich sein. Jeder Cent, den man dafür aufbringen muss, ist einer zu viel.« Mandy Gratz, Vorstandsmitglied des Freien Zusammenschlusses der Studierendenschaften Auch im Bundestagswahlkampf spielen die Studienbedingungen eine Rolle. Die Grünen fordern in ihrem Wahlprogramm, dass sich die Studienfinanzierung grundlegend verändern müsse: »Das Bafög muss wieder zum Leben reichen und für Studierende jeden Alters und in Teilzeit geöffnet werden.« Mittelfristig solle die Studienfinanzierung aus einem Zuschuss für alle und einem Bedarfszuschuss für Menschen aus ärmeren Elternhäusern bestehen. Auch die Alters- und Semestergrenzen der studentischen Krankenversicherung sollen angepasst werden. Widersprüchlich wird es beim Thema Studiengebühren. Auf Bundesebene lehnt die Partei sie ab, sie äußert sich aber nicht zu den in Baden-Württemberg unter ihrer Führung beschlossenen Gebühren. Die Linkspartei kritisiert in ihrem Wahlprogramm das grün-schwarze Modell in Baden-Württemberg: »Diese Hochschulpolitik befördert Ausgrenzung. Jegliche Form von Studiengebühren für Menschen mit oder ohne deutschen Pass schaffen wir ab.« Außerdem will sie ein Bundesgesetz zur Hochschulzulassung vorlegen, dass Zugangs- und Zulassungsbeschränkungen wie Numerus Clausus, Auswahlgespräche, IQ-Tests oder Bewerbungsgespräche abschaffen soll. »Die Zugangsmöglichkeiten für Menschen ohne Abitur müssen verbessert werden«, fordert die Linkspartei. Bafög soll elternunabhängig in Höhe von 1 050 Euro netto gezahlt werden.
Die SPD ist in ihren Plänen bescheidener. »Wir wollen die Leistungen des Bafög verbessern«, sagen die Sozialdemokraten. Die Partei lehnt Studiengebühren ab und will »exzellente Studienbedingungen« herstellen. Dazu will sie einen »Hochschulsozialpakt« schließen, mit dem Studienberatung und Betreuung verbessert werden sollen. Die Sozialdemokraten wollen »eine bedarfsdeckende Erhöhung der Fördersätze, die regelmäßig überprüft und angepasst wird«, außerdem soll das Bafög »durch höhere Einkommensgrenzen weiter geöffnet werden«. Im Wahlprogramm von CDU und CSU sucht man vergebens nach Vorschlägen für bessere Studienbedingungen. Es gibt keine Aussagen zu Studiengebühren, das Bafög habe man bereits »deutlich erhöht«. Die Konservativen sprechen sich nur allgemein dafür aus, dass »alle Kinder in Deutschland unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Bildungsstand der Eltern die beste verfügbare Bildung und Ausbildung erhalten«, präsentieren aber keine Konzepte, um Kinder aus Arbeiterhaushalten zu fördern.
Die rechtspopulistische AfD äußert sich ebenfalls nicht zu Studiengebühren. Sie will von der Bologna-Reform zurück zu den Diplom- und Magisterstudiengängen. Zudem sollen Hochschulen in Zukunft »Bewerber durch Aufnahmeprüfungen auswählen«. Außerdem will sie Studierende begünstigen, »die während ihres Studiums beziehungsweise ihrer Ausbildung oder kurz danach Eltern werden«, und ihnen »bei gutem Berufs- oder Studienabschluss die Bafög-Rückzahlung erlassen«.
Die FDP fordert, »dass Hochschulen nachgelagerte Studienbeiträge erheben dürfen sollen«. Mit diesen könnten Hochschulen schneller modernisiert und die Studienbedingungen verbessert werden, behaupten die Liberalen. Außerdem befürworten sie die Einführung »einer elternunabhängigen Ausbildungsförderung«, bestehend aus einem »Zuschuss« in Höhe von 500 Euro und einem Darlehensangebot. Mandy Gratz vom FZS bezeichnet solche Vorschläge als Studienhemmnisse. »Das ist ein Vorschlag aus der Mottenkiste«, sagt sie. Eines der wichtigsten Kriterien, um ein Studium zu absolvieren, sei die Frage: »Wie viele Schulden habe ich am Ende?« Durch nachgelagerte Studiengebühren werde das Bildungssystem nicht gerechter. Bildungsgerechtigkeit lasse sich nur über ein modifziertes Steuersystem herstellen. »Denn Bildung wird durch Steuern finanziert«, sagt Gratz. | Dennis Pesch | Dennis Pesch: Bundesweit droht die Wiedereinführung von Studiengebühren | [
"Hochschulen"
] | Inland | 31.08.2017 | https://jungle.world//artikel/2017/35/ueber-gebuehr-belastet?page=0%2C%2C0 |
Die Stunde der rücksichtslosen Demokraten | Das Phänomen müsste hiesigen Politiker längst aus den Vereinigten Staaten bekannt sein: Haushoch gewinnt das eine politische Spektrum die Wahlen; die Medien verkünden, eine Zäsur sei das, ja, ein Epochenwandel; davon werde sich der politische Gegner so schnell nicht wieder erholen. Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama unterschieden sich der landläufigen Meinung nach jeweils radikal von ihren Vorgängern und standen für einen »ganz neuen« Politikstil. Bei Clinton und Bush setzte der Abstieg mit Beginn ihrer zweiten Amtszeit ein; der vor kurzem noch messianisch verklärte Obama könnte bereits bei den kommenden Kongresswahlen im Herbst herbe Verluste erleiden.
Blicken wir auf Deutschland: Die SPD wirkte ausgehöhlt, substanzlos, am Ende; sie, die sich in allen größeren Krisen Deutschlands als staatstreue Emanzipationsmaschine des »kleinen Mannes« bewährte, hatte ausgedient. Die Beobachter waren sich einig: Der CDU stehe eine glänzende Epoche bevor, ihr ständen alle Optionen offen, sei es eine große Koalition als Krisenmeister, ein urbanes, aufgeklärtes Bündnis mit den Grünen oder das klassische, bürgerliche mit den Liberalen. Und wenn es, wie im Saarland, gilt, einen Linksblock zu verhindern, bleibt ihr auch noch die Jamaika-Variante. Heute befördern die Christdemokraten junge Migranten in Spitzenpositionen, führende CDU-Politiker sind offen schwul oder bekennende Ehebrecher, und Angela Merkel zieht es vor, ohne starken Partner an ihrer Seite öffentliche Auftritte zu absolvieren. Das ist modern. Überhaupt pflegt Merkel einen nüchternen, unaufgeregten und scheinbar allen gesellschaftlichen Gruppen gegenüber aufgeschlossenen Habitus. Insgeheim befördert sie den Linkskurs ihrer Partei, konservative Gegenspieler wie die Ministerpräsidenten Roland Koch oder Stefan Mappus spielen nur noch auf Landesebene eine Rolle.
Trotz dieser scheinbar günstigen Konstellation für die Union hat das beschworene neue Zeitalter von Schwarz-Gelb nicht einmal die notorischen ersten hundert Tage der Koalition gestrahlt. Der Wahlerfolg der FDP ist bereits vergessen – wie ein Irrläufer der Geschichte, so scheint es heute der politischen Szene in Berlin. Mit jedem Schritt, mit dem die FDP an bundespolitischer Bedeutung verliert, wird plötzlich deutlich, dass ihre Partnerin auch nur ein armseliger Haufen ist. Eigentlich hat die CDU in den vergangenen Jahren gar keine Wahlerfolge erzielt, sondern nur weniger stark als die Sozialdemokraten verloren – vorläufig zumindest, denn die Aushöhlung, die die SPD erlebt hat, steht der CDU unmittelbar bevor. Vermutlich hat sie sich bereits vollzogen, wird aber den Spitzenpolitikern der Partei erst jetzt bewusst. Die Christdemokraten stehen vor einem Dilemma. Als einzig verbleibende Volkspartei – das ist zumindest ihr noch gültiges Selbstverständnis – muss die Union dem Wahn folgen, »Politik für alle« (Oskar Lafontaine) zu machen. Dieses Projekt wurde ausschließlich additiv in Angriff genommen: Für die rassistischen und schwulenfeindlichen Wähler gab es Koch und Mappus; für die Arbeiter Jürgen Rüttgers und Horst Seehofer; für das jüngere, urbane Publikum Christian Wulff, Ole von Beust, vielleicht auch Peter Müller, und natürlich die Minister Norbert Röttgen und Kristina Schröder. Für das nationale Wohlgefühl schließlich sollte der ewig grinsende Horst Köhler herhalten. Alle Köpfe zusammen sollten eine Volkspartei ergeben, das war die Hoffnung der Kanzlerin – die selbstverständlich illusionär war. Denn diese Mannschaft hat keine gemeinsame Agenda mehr, sondern steht vielmehr für sich im höchsten Maße widersprechende Politik- und Lebensstile.
Dass es ein gemeinsames Projekt nicht gibt, offenbarte vor einem halben Jahr zuerst der Koalitionspartner. Guido Westerwelles Rede über die Dekadenz der Erwerbslosen war eine klare Abgrenzung nach unten, eine Sortierung der Bevölkerung nach Kriterien der Produktivität und Unproduktivität; Leistungsbereite gegen Schmarotzer. Das hätte eine Zukunftsagenda sein können, sie wurde aber zum falschen Zeitpunkt publik gemacht: mitten in der Krise. Vor allem war sie gegen den integrativen Stil Merkels gerichtet, den sie zunehmend verzweifelt vortrug. Dass Roland Koch seinen Rücktritt ankündigte, konnte man noch als heimlichen Sieg des linken Merkel-Flügels verbuchen. Aber die Wahl in NRW, die man eher in unprofessioneller Weise verstolperte als tatsächlich verlor, der weinerliche Rückzug von Bundespräsident Köhler, Christian Wulffs dilettantisch vollzogener Wechsel in das Präsidentenamt und schließlich der Rücktritt des entkräfteten und lustlosen Ole von Beust – all das zeigt, dass auch der linke CDU-Flügel, der die bürgerliche Partei neu erfinden sollte, keine Trümpfe mehr im Ärmel hat. Rückt die Partei weiter nach links – zum Beispiel durch den Atomausstieg, eine integrative Schulpolitik und einen milderen Umgang mit dem »abgehängten Prekariat« –, verprellt sie das konservative Milieu noch mehr und droht, von der SPD, die sich in der Opposition wieder als die wahre Volkspartei der kleinen Leute profiliert, als unglaubwürdig vorgeführt zu werden. Profilieren sich die CDU-Spitzenpolitiker stärker rechts und marktliberal, spielen sie erst recht der SPD in die Hände. Tatsächlich, die SPD ist wieder da, wenn auch nicht aus eigener Stärke. Sie braucht die starken Grünen an ihrer Seite, und im Prinzip steht sie immer noch da, wo sie vor einem Jahr stand. Nichts spricht dafür, dass ihre künftigen Wahlerfolge dauerhafter sind als die der CDU. Aber sie kann zurzeit, aus der unverbindlichen Opposition heraus, eine Symbolpolitik betreiben, die machtpolitisch höchst effektiv ist, zum Beispiel Joachim Gauck als Präsidentschaftskandidaten vorschlagen oder den einen oder anderen Annäherungsversuch der Linkspartei theatralisch und brüsk abweisen. Das alles darf man jedoch nicht mit einer Neuerfindung oder einer Rückkehr zu den sozialdemokratischen Wurzeln der Partei verwechseln.
Für Merkel bedrohlicher als das Schein-Comeback der SPD ist die Tatsache, dass auch das schwarz-grüne Koalitionsmodell noch lange keine neue christdemokratische Politik hervorgebracht hat. Die Grünen sind zu homogen für die CDU. Sie sind die Partei der Funktionseliten, also jener gesellschaftlichen Gruppen, die als Berater, Pädagogen und Wissenschaftler die Klassenwidersprüche der Gesellschaft funktional stützen und daran auch gut verdienen. Sie wirken ihrem Anspruch nach mäßigend und kompensierend auf soziale Konflikte, haben also nichts für den CDU-Flügel übrig, der auf eine aggressive Abgrenzung zu den Unterschichten pocht. Die Krise der CDU ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Politik als Medium kapitalistischen Krisenmanagements in eine neue Phase des Spektakels übergeht. Grundsätzliches Merkmal der Demokratie in Deutschland ist es seit jeher gewesen, aus Unzufriedenheit Zustimmung zu machen. Jahrzehntelang funktionierte dies über langfristige Bindungen. Stammwähler und erst recht diejenigen, die sich in den Volksparteien und einer ihrer Vorfeldorganisationen engagierten, kamen in den Genuss, Teil eines größeren gesellschaftlichen Projekts zu sein. Das hieß mal »Keine Experimente« (Konrad Adenauer), »Mehr Demokratie wagen« (Willy Brandt) oder »geistig-moralische Wende« (Helmut Kohl). Diese langfristige Bindung setzt aber stabile Wählermilieus voraus, eine Art homogener Klassenkonstitution. Den Parteien geht ihre langfristige Perspektive verloren, wo diese Homogenität nicht mehr gewährleistet ist, wenn das Proletariat mehr und mehr zersplittert und vom sozialstaatlichen Abstieg bedroht ist, und auf der anderen Seite für das bürgerliche Milieu die lang erprobte Formel »gute Bildung, guter Job« immer weniger gilt. Immer schneller werden den Wählern Alternativen schmackhaft gemacht, die häufig nur noch aus neuen Gesichtern und Stilen, also anderen Auftritts- und Umgangsformen bestehen.
Das politische Karussell ist kein Perpetuum mobile. Es ist wesentlich davon abhängig, wie sich die Krise weiterentwickelt, oder besser gesagt: wie schnell sie sich weiterentwickelt. Deren Verschärfung – etwa durch Staatsbankrotte in Spanien und Irland, was sich direkt auf die hiesige Wirtschaft auswirken würde – könnte dem bunten Treiben, in dem Guido Westerwelle gestern noch der Heilsbringer war und Sigmar Gabriel heute schon wie ein Hoffnungsträger daherkommt, schnell ein Ende setzen. Dann schlägt wieder die große Stunde jener Demokraten, die gemeinsam ihrer Bevölkerung die nackten Tatsachen des eisernen Sparens einbläuen und dabei rücksichtslos vorgehen werden.
Vor dem Hintergrund einer solchen drohenden Entwicklung könnte man verleitet sein, die aktuelle Debatte, ob Politiker einfach so zurücktreten dürfen und ob durch die Welle der Amtsmüdigkeit nicht eben jene Ämter beschädigt werden, als harmloses Geplänkel abtun, als typisches Sommerloch-Phänomen. Das ist es aber nicht. In dieser Debatte werden bereits die moralischen Standards etabliert, die bei einem sich verschärfendem Krisenverlauf dringend benötigt werden: Die Politiker sollen endlich ihren Mann stehen, sie sollen die Zähne zusammenbeißen und sich standhaft und kämpferisch zeigen. So kündigt sich medial der nichterklärte Ausnahmezustand an. | Felix Klopotek | Felix Klopotek: Über die Krise der CDU | [] | Inland | 29.07.2010 | https://jungle.world//artikel/2010/30/die-stunde-der-ruecksichtslosen-demokraten?page=0%2C%2C0 |
Hungern in Hürth | So etwas hatten die Besucher eines Kölner Biergartens wohl noch nie gesehen: Da kam eine offensichtlich gut gelaunte Gruppe ziemlich fetter Erwachsener und bestellte statt Alkohol Mineralwasser. Dazu gab es weder gebratene Schweinewurst noch Kartoffelsalat vom Buffet, die seltsamen Menschen kehrten allesamt mit einem Löffelchen Mais, einem Salatblatt und einem Tomatenviertel auf dem Teller an ihren Tisch zurück. Unter normalen Umständen hätten die zwölf Dicken sicher ganz andere Sachen konsumiert, aber als Mitwirkende der Abnehm-Show »Big Diet« führen sie nun ein fast fettfreies Leben. Schließlich gilt es, jede Woche sonntags beim live ausgestrahlten Wiegen Gewichtsverlust vorzuweisen, wenn man sich nicht eine Gelbe Karte einhandeln möchte, mit der Renitente zunächst verwarnt werden. Zuvor hatte RTL 2 in umfangreichen Castings dicke Leute gesucht, die sich für drei Monate unter professioneller Dauerbetreuung in eine Wellnessfarm begeben und dort abnehmen wollen. Die Auswahl muss ziemlich schwierig gewesen sein, denn zum einen durften die fetten Kandidaten nur so beleibt sein, dass der Zuschauer nicht angeekelt abschaltet, zum anderen mussten sie neben Bäuchen auch noch über unterhaltsame Lebensläufe verfügen. Und bereit sein, sich fast jeden Tag von Margarethe Schreinemakers, der schrecklichsten Moderatorin nach Jessica Stockmann-Stich, besuchen und animieren zu lassen. Ende Mai war es dann aber so weit, die zwölf Kandidaten zogen in etwas ein, was man beim Sender euphemistisch als »Wellnessfarm« bezeichnet. In Wirklichkeit handelte es sich dann aber doch nur um den leicht umgearbeiteten »Big Brother«-Container: ohne die Puff-Bettwäsche, dafür mit Gipsstatuen nackter Männer, die Schokoriegel präsentieren, in den Schlafzimmern. Plus großer Küche, einer Turnhalle und einem Swimming-Pool. In der Eröffnungsshow wurde den Kandidaten noch einmal klar gemacht, worum es bei »Big Diet« geht. Eben nicht um »Big Brother«, obwohl auch im Diät-Container Kameras selbst auf dem Klo installiert wurden. Wichtig ist nicht mehr, wer zuerst Sex hat und mit wem, es geht irgendwie um Wohlfühlen ohne Essen, also um Sport, Low-Fat-Food, gute Laune und lauter gesundes Zeugs. Das ist jedoch eigentlich furchtbar langweilig, deswegen wird es am Ende einen vom Publikum bestimmen Gewinner geben, dem der verlorene Speck in Goldbarren aufgewogen wird. Hat Margarethe Schreinemakers während der Eröffnungsshow hinzugefügt, dass am Ende sowieso alle, die durchgehalten haben, Gewinner sein werden, weil sie ein völlig neues Leben geschenkt bekommen haben? Vielleicht. Wichtiger ist aber, dass sie es gesagt haben könnte, denn derartiger Sülz ist symptomatisch für »Big Diet«. Wo man im übrigen den körperlichen Zustand der Kandidaten nicht beim korrekten Namen nennt, sondern für das vorhandene Speckrollentum unermüdlich Synonyme findet: »Kräftig«, »schwer«, »gut proportioniert«, »etwas schwerer« sind die Menschen, die nach übereinstimmender Auskunft ihre letzte Chance bei »Big Diet« suchen. Und vielleicht sogar Recht haben, denn bei der Fettsucht könnte es sich tatsächlich, wie von manchen Experten behauptet, um die am schwersten zu therapierende Abhängigkeit handeln. Einfach nur bestimmte Orte, Freunde oder Situationen zu meiden, wie es in anderen Suchttherapien gelehrt wird, geht nicht, denn irgendwann muss man einfach den Mund aufmachen und Essen hineintun. Und wer, wie die meisten Kandidaten, schon mit Mitte 20 deutlich über 100 Kilo wiegt, hat ein echtes Problem. Möglicherweise könnte es solchen Menschen daher wirklich helfen, sich für eine bestimmte Zeit aus dem Alltagsleben zurückzuziehen und unter fachkundiger Anleitung zu lernen, wie man auch ohne konstantes Overeating glücklich sein kann. Dabei aber ständig gefilmt zu werden, muss die Hölle sein. Zumal die Kandidaten von »Big Diet« ständig in peinliche Situationen gebracht werden. »Wir sperren hier keine Leute ein«, hatte Schreinemakers während der Start-Show inbrünstig erklärt und damit nicht nur zum Quotensturz beigetragen. Jeden Sonntag kommt Besuch, ständig stehen Ausflüge auf dem Programm, und unter der Woche dürfen Telefonate mit Angehörigen geführt werden. Die nicht immer so verlaufen, dass den Kandidaten der Verzicht auf ein tröstendes Stück Schokolade leicht gemacht wird. Am letzten Freitag erwischte es beispielsweise Klaus, den Dicksten der Gruppe. Dass er sich mit Claudia sehr gut versteht, war in den vorherigen Sendungen derart betont worden, dass die sich anbahnende völlig normale Freundschaft als etwas ziemlich Schmieriges erschien. Was bei seiner Frau nicht wirklich gut ankam. »Gestern Abend hatten wir sogar einen Massagekurs«, erzählt ihr Mann, sichtlich gerührt über die Möglichkeit, endlich mal wieder mit jemand Vertrautem reden zu können. Die Antwort besteht aus einem eiskalten »Aha« und der demonstrativen Erwähnung von Claudia. Angehörige werden während der Diät-Show offensichtlich nicht psychologisch betreut. Das würde wohl auch keinen Sinn machen, denn Leuten beim Abnehmen zuzugucken, ist sehr langweilig. Die Zubereitung von Miniportionen wird schließlich auch durch speziell ausgedachte bombastische Namen für das Resultat nicht interessanter, Menschen, die in unvorteilhafter Kleidung Sport treiben, sind nicht unbedingt abendfüllend und die eingeblendeten Tipps sind nun auch nicht derart neu, dass abnahmewillige mit einem »Heureka!« von der Couch springen werden. Deswegen muss man bei RTL 2 auf Krisen hoffen, zwischenmenschliche Probleme eben, wie sie aus »Big Brother« bekannt sind, sowie auf nächtliche Fressanfälle und Nervenzusammenbrüche. Die fehlten bisher, weswegen sich die Quoten deutlich unter einer Million bewegten. Dabei hatte man angesichts des schwachen Konzepts wohl auf den unbedingten Willen der Zuschauer zur Bikinifigur gesetzt. Deutschland nehme jetzt ab, hatte man dekretiert und mit Dickenhausen, irgendwo in der Provinz gelegen, sogar ein komplettes Dorf gefunden, das bereit war, in den nächsten Wochen nach dem »Big Diet«-Diätbaukasten zu leben. Zusätzlich versprach man denjenigen diätwilligen Zuschauern, die sich mindestens drei Mal in den nächsten Monaten unter Apothekeraufsicht wiegen und das Gewicht dann auf einer speziellen Karte eintragen lassen, irgendwelche großartigen Gewinne. Was gründlich daneben ging, wenn man den Usern des www.big-diet.de-Forums trauen kann: »Manu Fritz« erklärt dort beispielsweise, dass der Versuch, sich wiegen zu lassen, bereits in vier Apotheken gescheitert sei, andere berichten Ähnliches. Und überhaupt sei nur eine zum Abnehmen bereite Hella von Sinnen eine akzeptable Moderatorin für eine Diät-Dauersendung. Die Hungerwilligen von Hürth wird dies nicht gestört haben. Lediglich Sabina, die sich schon in der WDR-Erfolgsserie »Abnehmen in Essen« erfolglos an der Gewichtsreduktion versucht hat, zeigte Ausfallerscheinungen: Zielsicher ging sie im Biergarten auf einen anderen Gast zu und erbettelte eine Fritte. »Nein, nicht, lass das!« psychoterrorisierten sie die anderen daraufhin, sodass Sabina das Kartoffelstück schließlich wieder zurück gab. Mit dem wirklichen Leben hat das nichts zu tun. Was die Kandidaten tun werden, wenn sie zum ersten Mal in Freiheit ohne Kamera an einer Imbissbude vorbeikommen, ist klar: Die komplette Seite eins der Speisekarte mit Pommes bestellen. Und das Zeug aufessen. | Elke Wittich | Elke Wittich: Start der Abnehm-Show »Big Diet« | [] | Lifestyle | 06.06.2001 | https://jungle.world//artikel/2001/23/hungern-huerth?page=0%2C%2C1 |
Lahme Literaten | Ein Panorama literarischer Mediokrität wird selber mittelmäßig, wenn es sich vom Prinzip allen Mittelmaßes, der endlosen Addition, bestimmen lässt. Darum wird dieses hier nicht mit einem weiteren Beispiel beschlossen, dem Dutzende andere folgen könnten, sondern mit einem Blick auf die Form, in der das Mittelmaß sich in seiner Geschichtsschreibung reflektiert. Literaturgeschichten, die einen gültigen Kanon voraussetzten, pflegten das Mittelmaß auszuschließen oder nur am Rande zu erwähnen. Noch die lesenswerte Literaturgeschichte, die der Berliner Germanist Peter Sprengel 2004 für die Zeit von 1870 bis 1918 vorgelegt hat, hält sich an dieses Rezept, widmet dem Mediokren aber Exkurse. Einen Gegenentwurf zur klassischen Variante hat der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer geschrieben: »Die kurze Geschichte der deutschen Literatur«, 2002 erschienen, entwickelt ihren Gegenstand auf 150 Seiten ohne Fußnoten mit Mut zum ungedeckten Urteil und in einer konzisen Eleganz, die der bräsigen Gelehrsamkeit des deutschen Historikerstandes den angemessen polemischen Bescheid erteilt. Stilbildend für das Selbstverständnis deutschsprachiger Gegenwartsliteratur wurde aber weder Sprengels Solidität noch Schlaffers Witz, sondern ein Autor, dessen öde Jovialität mit der lahmen Literatur, deren Loblied sie singt, glänzend harmoniert: Volker Weidermann. Weidermann, nicht erst als Moderator des »Literarischen Quartetts« (von 2015 bis 2019) zur literaturhistorischen Plaudertasche berufen, veröffentlichte 2006 den Band »Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute«. Darin geht es, wie Hubert Winkels kulant in der Zeit vermerkte, »nur am Rande um Literatur, das heißt um Texte, um Machart, Form, Sprache und Dramaturgie«; stattdessen regierten »Lebendigkeit, Lebensnähe, Leidenschaft und Lässigkeit«. Lässig ist Weidermanns Verhältnis zur Vorgeschichte der Literatur nach 1945 (NS, Eroberungskrieg, Holocaust etc. pp.), die er im Eingangskapitel mit dem launigen Titel »Wo waren sie am 8. Mai?« mal eben anklickt – »Günter Grass kämpft«; »Klaus Mann stürmt als Soldat der US Army atemlos durch das besiegte Europa«; »Hermann Hesse hat in Montagnola in der Schweiz eher Luxussorgen«; »Thomas Bernhard ist schon vierzehn« –, um mit dem erleichterten Seufzer: »Doch er ist da, der Neubeginn. Dort in Deutschland, in der Welt. Und damit fangen wir an«, zu den »Hauptfiguren der deutschen Nachkriegsliteratur« überzuleiten. Tatsächlich gelingt es ihm, Außenseiter und Repräsentanten, Megalomaniker und Verscheuchte, Ernste und Witzige allesamt zu Abziehbildern dessen zu degradieren, was von allen guten Geistern glücklich Verlassene für lebendig, lebensnah und leidenschaftlich halten. Heinrich Mann wird zum »Greis ohne Wiederkehr«, Oskar Maria Graf tritt als »Lederhose in New York« auf und Wolfgang Borchert als »One-Hit-Wonder des neuen Deutschland-West«; Karl Valentin war ein »Sprachakrobat« und Alfred Döblin »unser Mann im Dichterolymp«; Thomas Manns Ruhm »leuchtet weit«, der »kleine Peter Handke« löste die Gruppe 47 »mit einem Federstrich auf«; Arno Schmidt schrieb »Geschichten über Feen und Elementargeister« und Paul Celan fasste »die Schrecken der Zeit in Sprache«. Alle waren sie nur Menschen, alle schrieben sie vor sich hin, erlebten Glück und Leid und waren, glaubt Volker Weidermann, dabei genauso doof, genauso ersetzbar, genauso vergesslich, genauso egal wie er selbst. Sein Buch ist keine Geschichte der deutschen Literatur, sondern Symptom der geschichtslosen Gegenwart, für die er schreibt. | Magnus Klaue | Magnus Klaue: Abschluss der »Lahme Literaten« | [
"Lahme Literaten",
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] | dschungel | 20.02.2020 | https://jungle.world//artikel/2020/08/lahme-literaten?page=0%2C%2C0 |
Opfer zum Ramadan | Nur einer darf bleiben: Kozo Okamoto. Für seine Anerkennung als politischer Flüchtling im Libanon setzte sich sogar Premierminister Selim El-Hoss ein. Seine Begründung: Okamoto habe aktiv an den Angriffen gegen Israel teilgenommen. Vier weitere ehemalige Mitglieder der Nihon Sekigun (Japanische Rote Armee Fraktion) wurden hingegen am 17. März vom Libanon über Jordanien an Japan ausgeliefert. Ihnen werden terroristische Straftaten wie Geiselnahme, versuchter Mord und Passfälschungen Mitte der siebziger Jahre vorgeworfen. Nach der polizeilichen Zerschlagung der japanischen StudentInnen- und ArbeiterInnenbewegung 1968/69 und der Zersplitterung der Linken war auch in linken Kreisen Japans über den bewaffneten Kampf diskutiert worden. Nihon Sekigun nannte sich eine Gruppierung, die rasch mit Banküberfällen in ganz Japan bekannt wurde. Nach zahlreichen Festnahmen bei Schießübungen ging ein Teil der Gruppe ins Ausland, um von dort den Kampf weiterzuführen. In den Ausbildungslagern der Palästinensischen Volksbefreiungsfront (PFLP) um George Habash ließen sich die JapanerInnen in eine aus nicht-arabischen Antiimperialisten bestehende »internationalistische Gruppe« integrieren. Weltweit bekannt wurden sie im Mai 1972, als ein aus drei Personen bestehendes Kommando auf dem Flughafen Lod in Tel Aviv wahllos mit Handgranaten und Maschinenpistolen ein Massaker veranstaltete: 26 Menschen, darunter zwei Kommandomitglieder, starben. Kozo Okamoto war einer drei Attentäter, er überlebte schwer verletzt und kam in ein israelisches Gefängnis. Flugzeugentführungen, Geiselnahmen in Botschaften und Bombenanschläge zur Unterstützung des vietnamesischen Befreiungskampfes folgten. Über ein Dutzend Gefangene aus japanischen und europäischen Gefängnissen konnten so befreit werden. Die politische Relevanz von Nihon Sekigun bei der Linken in Japan ging gleichzeitig gegen Null. Parallel dazu hatten in Japan gebliebene AktivistInnen die Rengoo Sekigun (Vereinigte Rote Armee) gegründet, die in den schwer zugänglichen Bergen Ausgangsbasen für den bewaffneten Kampf errichten wollte. Nach einer Belagerung mit anschließenden Festnahmen 1972 entdeckte die Polizei ein Massengrab mit über 20 Leichen - Rengoo Sekigun hatte Mitglieder als Abweichler und Verräter liquidiert. Diese interne Gewalt führte in der japanischen Linken zu einer nachhaltigen Diskreditierung des bewaffneten Kampfes. Obwohl sich Nihon Sekigun offiziell distanzierte, wurde die Organisation immer wieder mit Rengoo Sekigun gleichgesetzt. Die letzte größere Aktion der Nihon Segikun war eine Flugzeugentführung eines japanischen Flugzeugs nach Dhaka in Bangladesh im September 1977. Noch einmal konnten sechs Gefangene aus japanischen Gefängnissen geholt und sechs Millionen Dollar Lösegeld erpresst werden. Danach wurde es still um Nihon Segikun. Bis zu 30 ihrer Mitglieder kämpften weiterhin in arabischen Staaten an der Seite der PFLP gegen Israel. Zeitweise lebten sie offen im Libanon und gaben japanischen Medien Interviews. Sogar Kozo Okamoto kam 1985 im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen Israel und den PalästinenserInnen frei. Der Umgang mit den JapanerInnen änderte sich Mitte der neunziger Jahre: Verschiedene arabische Staaten stellten ihre Unterstützung für die »internationalistischen Gruppen« ein, da sie von der Schwarzen Liste der USA - eine Aufstellung aller den »internationalen Terrorismus« unterstützenden Staaten, die mit Sanktionen zu rechnen hätten - kommen wollten. Mehrere ehemalige Mitglieder von Nihon Segikun wurden nur wenig später in Peru, Rumänien und Nepal verhaftet. Im März 1997 traf es auch die fünf JapanerInnen im Libanon. Wegen illegaler Einreise und Dokumentenfälschung zu drei Jahren Haft verurteilt, saßen sie bis zum 19. März dieses Jahres im Beiruter Knast Roumieh. Die JapanerInnen versuchten noch im Gefängnis, ihren Kampf gegen Israel mit der »Selbstbestimmung der Völker und der internationalen Solidarität« zu begründen. Selbst das Attentat auf dem Flughafen Lod sei ein wichtiges Beispiel der wirklichen Solidarität zwischen den Völkern gewesen, erklärten sie. Wer gegen Israel kämpft oder gekämpft hat, darf sich in der libanesischen und arabischen Öffentlichkeit einer breiten Unterstützung erfreuen. Das libanesische Kabinett verkündete öffentlich, es plane keine Auslieferung der Gefangenen nach Japan. Stattdessen sei man auf der Suche nach einem sicheren Drittland, in dem die JapanerInnen Asyl bekommen würden. In japanischen Medien wurde sogar Deutschland als mögliches »sicheres Drittland« genannt. Wie die japanische Tageszeitung Yomiuri jüngst berichtetete, gab es aber auch Geheimverhandlungen zwischen dem Libanon und Japan über eine mögliche Auslieferung. Hinzu kam die Drohung aus Tokio, die finanzielle Unterstützung für den Libanon einzustellen. Und so wurden die vier JapanerInnen direkt nach dem Ende ihrer Haftstrafe nach Jordanien geflogen - dort warteten schon japanische Regierungsbeamte samt Flugzeug. Der Zeitpunkt dieser Aktion war von libanesischer Seite gut gewählt: Das islamische Opferfest zum Ende des Ramadans ist ein offizieller Feiertag, zahlreiche Zeitungen erscheinen an diesem Tag nicht. Dennoch demonstrierten mehrere Hundert Menschen vor dem Beiruter Innenministerium. In Japan erwarten die Mitglieder der Nihon Segikun schwere Strafen, selbst die Todesstrafe ist nicht ausgeschlossen. Japanische Medien, die sich auf Justizkreise berufen, vermuten, dass sich die Prozesse gegen sämtliche Mitglieder der Nihon Segikun noch bis ins Jahr 2015 hinziehen werden - zumal viele Aktivisten noch immer auf der Flucht sind. | franz jägerstätter | franz jägerstätter: Libanon liefert Mitglieder der japanischen RAF aus | [] | Ausland | 05.04.2000 | https://jungle.world//artikel/2000/14/opfer-zum-ramadan?page=0%2C%2C0 |
Vorbilder bewähren sich | Die SSS, das ist der Mythos, das sind die Vorbilder«, erklärt ein Mitglied der Pirnaer Aktion Zivilcourage. »Die haben vorgemacht, was die anderen jetzt nachmachen.« Diese Vorbildfunktion spielte jedoch in dem Prozess gegen fünf Mitglieder der Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) vor dem Dresdner Landgericht keine Rolle. Wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung, schweren Landfriedensbruchs, Körperverletzung, Volksverhetzung und der Verwendung von Symbolen verfassungsfeindlicher Organisationen wurden die Angeklagten am vergangenen Donnerstag nur zu Bewährungsstrafen zwischen 18 und 24 Monaten verurteilt. In den Clubheimen der Nazis dürften die Sektkorken geknallt haben. Drei der Angeklagten erhielten Jugendstrafen, die anderen beiden, die zur Tatzeit volljährig waren, müssen die Prozesskosten tragen. Die Bewährungsstrafen waren bereits vor dem letzten Verhandlungstag zwischen der Verteidigung, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht ausgehandelt worden. Monatelang hatten die Angeklagten geschwiegen oder ihre Taten verharmlost. Am 7. Mai legten sie dann überraschend ein Schuldbekenntnis ab. Daraufhin wurde die Beweisaufnahme beendet. Zu den für diesen Tag angesetzten Zeugenvernehmungen wegen eines Überfalls der SSS auf den Jugendklub in Liebethal kam es nicht mehr. Im Verhandlungsverlauf hatten die Angeklagten die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft trotz der gegen sie sprechenden Beweise stets zurückgewiesen. Noch im Dezember 2002 erklärten die Angeklagten Rico D. und Andreas W., die SSS sei ein Jugendverein gewesen, in dem man sich gegenseitig bei Behördenangelegenheiten geholfen und gemeinsam einen Jugendclub ausgebaut habe. Gewalttätige Auseinandersetzungen habe es nur am Rande und nur unter Alkoholeinfluss gegeben. Das Gericht sah es hingegen als erwiesen an, dass die SSS gezielt Jagd auf Ausländer, Linke und fremd Aussehende gemacht habe. Es handelt sich um eine rechtsextreme Organisation mit einer festen Hierarchie. Ihre Einstufung als kriminelle Vereinigung sei das Hauptziel des Prozesses gewesen, sagte der Oberstaatsanwalt Jürgen Schär. In seinem Plädoyer verglich er die Struktur der SSS mit einer Pyramide: Sympathisanten der Gruppe hätten den Boden gebildet, gefolgt von den Anwärtern, die sich in einer sechsmonatigen Probezeit bewähren mussten, um in eine der beiden Aufbauorganisationen (oberes oder unteres Elbtal) aufgenommen zu werden. Über den Aufbauorganisationen standen die so genannten Member of SSS und an der Spitze der Angeklagte Thomas S. als Sprecher der Organisation. Wer der Führung widersprochen habe, habe mit Sanktionen rechnen müssen. Deshalb sei die SSS auch als kriminelle Vereinigung einzustufen, erklärte Schär. Sie habe zwischen 60 und 80 Mitglieder gehabt, mit ihren Anhängern habe es sich insgesamt um 120 Personen gehandelt. Die Fähigkeit der SSS, 30 bis 40 Personen für Überfälle zu gewinnen, wertete Schär als Beleg für ihren Charakter als kriminelle Vereinigung. Trotzdem bleiben alle Angeklagten auf freiem Fuß. Der Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der Vertreter der Nebenklage, bemängelte in seinem Plädoyer, das Bedürfnis der Opfer nach Genugtuung sei im Prozess auf der Strecke geblieben. Die Täter hätten sich nicht entschuldigt und kein Zeichen der Reue von sich gegeben. »Bis heute findet sich auf den einschlägigen Internetseiten Hetze gegen Betroffene«, sagte Kaleck. Es bleibe nur der Weg, in zivilrechtlichen Verfahren angemessene Schmerzensgelder von den Tätern einzuklagen. Auch ein Mitarbeiter der Pirnaer Aktion Zivilcourage, Sven Folkert, kritisierte das Urteil. Er sagte der Jungle World: »Durch die Abkürzung des Verfahrens und die Verurteilung als kriminelle Vereinigung fällt für die Opfer die Möglichkeit weg, mit dem Erlittenen abzuschließen.« Für Folkert, der selbst nach dem Konzert seiner Band in Liebethal zusammengeschlagen wurde, ist nach wie vor nicht klar, wer damals die vermummten Täter waren. Die Verteidiger zeichneten in ihren Plädoyers das Bild von nach Halt und Orientierung suchenden Jugendlichen, die, provoziert von der Antifa, ausgegrenzt von der Öffentlichkeit und vernachlässigt von der Politik, allein gelassen worden seien. Der Verteidiger Carsten Schrank behauptete: »Es ist keiner zusammengeschlagen worden. Jedenfalls nicht so, dass er wochenlang ins Krankenhaus musste. « Und die Verteidigerin Marina Meissner las dem Gericht aus Klaus Farins Buch »generation-kick.de« vor, um den angeblichen jugendkulturellen Aspekt der SSS hervorzuheben. Mit Carsten Schrank und Günther Herzogenrath-Amelung vertraten die Angeklagten zwei prominente Anwälte der rechten Szene. Beide gehörten zu den Unterzeichnern des Aufrufs von Horst Mahler mit dem Titel: »Ja zu Deutschland, ja zur NPD.« Schrank war auch ein Verteidiger im Gubener Hetzjagdprozess, er vertrat vier Mitglieder der Naziband »Landser« und wehrte im Auftrag der NPD Demonstrationsverbote ab. In Königstein hielt er auf Einladung von Uwe Leichsenring, dem Kreisvorsitzenden der NPD, einen Vortrag zum Thema: »Wie verhalte ich mich bei einer Hausdurchsuchung?« Die SSS soll mehrfach für Leichsenring Veranstaltungen geschützt haben. Herzogenrath-Amelung hingegen, der Verteidiger des SSS-Sprechers Thomas S., soll ein Berater des SS-Mannes Erich Priebke gewesen sein, wie das Neue Deutschland berichtete. Schranks Mandant Thomas R. soll nach wie vor eine wichtige Rolle in der rechtsextremen Szene in Ostsachsen spielen. Auf der von ihm betriebenen Homepage (www.Elbsandstein.org) finden sich unter anderem Tipps zum Umgang mit dem neuen Waffengesetz. Die Märkische Allgemeine Zeitung behauptete am 13. Mai, er baue zur Zeit in Südbrandenburg neue Strukturen auf und stelle Verbindungen zwischen Neonazis in Sachsen und Brandenburg her. In Pirna und Umgebung kommt es indes nach wie vor zu Übergriffen. Erst im Januar überfielen Rechtsextreme eine Geburtstagsparty. Einem Opfer brachen sie dabei durch Tritte ins Gesicht das Jochbein. | alexander fichtner | alexander fichtner: | [] | Antifa | 28.05.2003 | https://jungle.world//artikel/2003/22/vorbilder-bewaehren-sich?page=0%2C%2C3 |
Vergessene Avantgarde | Weil die Musikindustrie sich ohnehin nur noch ständig selbst wiederholt, sind Reissues mittlerweile die ehrlichsten Veröffentlichungen. Statt eine weitere Repetition als bahnbrechende Neuheit zu verkaufen, ist bei ihnen zumindest deutlich, dass es nichts Neues gibt. Aber dafür kann man dann und wann etwas Gutes entdecken, das man entweder noch nicht kannte oder über die Jahre längst vergessen hatte – dank der von der Popindustrie ausgesendeten Störgeräusche. Zu diesen vergessenen Kleinoden gehören auch zwei Platten der Band The Wirtschaftswunder, die kürzlich neu aufgelegt wurden: »Salmobray«, das erste Album der Band von 1981, und eine Sammlung von Singles und Samplerbeiträgen, die den programmatischen Namen »Preziosen & Profanes« trägt. The Wirtschaftswunder werden gemeinhin zu den Bands der sogenannten Neuen Deutschen Welle gezählt. Nur wird ihnen diese Kategorie aus heutiger Sicht keineswegs gerecht. Insbesondere die Stücke auf »Salmobray«, das auf einem Vierspurrekorder aufgenommen wurde, changieren zwischen avantgardistischem Punk und experimentellem Krautrock. Angenehm verstörend sind die ständigen Rhythmusunterbrechungen, die der in gebrochenem Deutsch vorgetragene und im besten Sinne skurrile Gesang von Angelo Galizia perfekt ergänzt. »Ich bin ein Analphabet«, singt Galizia, der ursprünglich aus Sizilien kam und in Limburg in einer Metallwarenfabrik arbeitete, als er zu der Band stieß. Auch in dem Lied »Der Kommissar«, dessen Melodie auf dem Titelsong der gleichnamigen Fernsehserie basiert und das Snippets aus dieser enthält, spielte die Band mit verbreiteten Vorurteilen über sogenannte Gastarbeiter und kritisierte racial profiling, lange bevor es zum großen Thema wurde. Wenig überraschend war The Wirtschaftswunder bereits in den achtziger Jahren kommerziell erfolglos und auch die Reissues sind eher etwas für ein Nischenpublikum. 1985 löste sich die Band auf. The Wirtschaftswunder: Salmobray/Preziosen & Profanes (Tapete Records) | Johannes Creutzer | Johannes Creutzer: »Salmobray« und »Preziosen & Profanes« von The Wirtschaftswunder | [
"Platte Buch",
"Musik"
] | dschungel | 16.12.2021 | https://jungle.world//artikel/2021/50/vergessene-avantgarde |
»Er wollte Zeugnis ablegen« | Aufnahme von František R. Kraus aus dem Jahr 1946 Ihr Vater, František Robert Kraus, hat im September 1945 das Buch »Gas, Gas, … und dann Feuer« auf Tschechisch veröffentlicht. Er berichtet darin, wie er das Ghetto Theresienstadt und die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Gleiwitz und Blechhammer überlebt hat. Erst jetzt ist eine deutsche Fassung erschienen. Was sind die Gründe dafür, dass das Buch so lange nicht übersetzt worden ist?Das hat zunächst mit den politischen Entwicklungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun. Bis 1948 konnte das Buch in der Tschechoslowakei erscheinen, es gab sogar drei Auflagen. Nachdem die Kommunisten an die Macht gekommen sind, war das nicht mehr möglich. Wenn in dieser Zeit über den Zweiten Weltkrieg gesprochen wurde, musste es immer um den kommunistischen Widerstand gehen. Das war aber nicht das Thema von »Gas, Gas, … und dann Feuer«. »Ich habe lange versucht, einen deutschen Verlag für eine Übersetzung zu finden, hatte aber erst jetzt Erfolg.« In den sechziger Jahren wurde ihm dann gesagt: »Das ist doch jetzt schon 20 Jahre her. Was interessiert uns die Vergangenheit? Wir bauen den Sozialismus auf!« Unter diesen Umständen wäre es ein großes Risiko gewesen, Kontakt zu einem westdeutschen Verlag aufzunehmen. Andere Bücher von meinem Vater konnten dagegen in der Tschechoslowakei veröffentlicht werden, allerdings nur in zensierter Form. Als problematisch galt etwa seine Haltung zum Zionismus. Was genau hielt man für problematisch und was folgte daraus?Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Mein Vater hat nach 1945 einen Roman mit dem Titel »Šemarjáhu sucht Gott« geschrieben. Es basiert auf einer wahren Geschichte: Ein Vater und sein Sohn überleben den Holocaust. Sie denken jedoch, dass der jeweils andere ermordet worden sei. Nachdem sie sich durch einen Zufall wiedertreffen, entscheiden sie sich, in den neugegründeten jüdischen Staat Israel auszuwandern. In der Tschechoslowakei konnte das Buch nur mit einem anderen Ende veröffentlicht werden. In dieser Version bleiben die beiden Überlebenden in der Tschechoslowakei und arbeiten am Aufbau des Sozialismus. Der neue Titel lautete dann: »David wird leben«. Die Situation hat sich ja nach 1989 geändert. Wieso konnte dennoch erst jetzt ein deutscher Verlag gefunden werden?Ich habe mich nach 1989 zunächst um die Veröffentlichung von Büchern meines Vaters gekümmert, die bisher noch gar nicht erschienen waren. Auch von »Gas, Gas, … und dann Feuer« gab es eine – wenn auch nicht besonders professionelle – Neuauflage. Ich habe dann lange versucht, einen deutschen Verlag für eine Übersetzung zu finden, hatte aber erst jetzt Erfolg. Bei der Vermittlung hat mir der Theresienstadt-Überlebende Pavel Hoffmann geholfen, der in Deutschland lebt. »Gas, Gas, … und dann Feuer« beginnt mit dem Transport aus dem Ghetto Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Über das Leben Ihres Vaters vor den Lagern erfährt der Leser kaum etwas. Wie sah sein Leben vor der Verfolgung aus?Mein Vater war als Journalist beim berühmten deutschsprachigen Prager Tageblatt tätig. Er stand den Schriftstellern des sogenannten Prager Kreises nahe: Egon Erwin Kisch, Max Brod, aber auch Franz Kafka. Später arbeitete er dann für die Prager Presse, die sich vor allem an die sudetendeutsche Minderheit in der Tschechoslowakei richtete. Die Idee war, der starken nationalsozialistischen Propaganda etwas entgegenzusetzen.Mein Vater schrieb schon in den zwanziger Jahren antifaschistische Texte. Er hat sich selbst immer als linker Sozialdemokrat verstanden, aber nie als Kommunist. Er war außerdem als Korrespondent in verschiedenen Ländern und berichtete für ausländische Zeitungen aus Prag. Er hat die Ereignisse, die zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, teilweise aus nächster Nähe erlebt. Er war also ein erfahrener Journalist. Vielleicht war das ein Grund dafür, dass er direkt 1945 die Geschichte seines Überlebens aufschreiben konnte. Kümmert sich um den Nachlass seines Vaters: Tomáš Kraus vom Verband jüdischer Gemeinden in der Tschechischen Republik Unter welchen Umständen entstand »Gas, Gas, … und dann Feuer«?1945 konnte mein Vater aus dem Konzentrationslager Blechhammer fliehen. Mit Hilfe von polnischen Partisanen gelangte er dann über die Karpatoukraine nach Budapest, das zu diesem Zeitpunkt schon von der Roten Armee befreit worden war. Dort organisierten ihm Bekannte, vermutlich Journalistenkollegen, eine Wohnung – und eine Schreibmaschine! Er konnte also sofort damit beginnen, seine Erinnerungen an Auschwitz und die anderen Konzentrationslager aufzuschreiben. Die Erfahrungen waren noch frisch und er wollte Zeugnis ablegen. Der Wunsch, Zeugnis von den Verbrechen abzulegen, wird auch im Buch selbst thematisiert. An einer Stelle beschreibt Ihr Vater, wie er und andere bei der Ankunft in Auschwitz von der SS durchsucht und gequält werden. Einer der Häftlinge ruft ihm währenddessen zu: »Du lebst und durchlebst als Zeuge all das, was noch keiner auf dieser Welt gesehen, erlebt hat.«Ja, sein Mantra nach dem Krieg war: Nie wieder! Das hat er mit anderen Überlebenden geteilt. Aber wo stehen wir heute? Niemand hat das »Nie wieder« gehört. Das Buch erschien bereits im September 1945 in der Tschechoslowakei. Wie ist es von der Öffentlichkeit aufgenommen worden?»Gas, Gas, … und dann Feuer« wurde insbesondere von anderen Überlebenden und Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gelesen. Aber auch viele nichtjüdische Tschechen haben sich dafür interessiert. Ich vermute, dass es der erste autobiographische Bericht über den Holocaust überhaupt gewesen ist. Man muss bedenken, dass er noch zwei Jahre vor dem berühmten Buch »Ist das ein Mensch?« von Primo Levi erschienen ist! Wie ging das Leben ihres Vaters nach 1945 weiter?Er war wieder als Journalist tätig. Er hat die tschechoslowakische Presseagentur und den Rundfunk mit aufgebaut. Er hatte also eine wichtige Position in der Medienlandschaft der Nachkriegszeit. Das ging bis Anfang der fünfziger Jahre … … dann fanden die antisemitischen Schauprozesse gegen Rudolf Slánský und weitere führende Mitglieder der Kommunistischen Partei statt. Fast alle von ihnen waren jüdisch. Ihnen wurde vorgeworfen, »Zionisten« und »Kosmopoliten« zu sein. Slánský und zehn weitere Personen wurden hingerichtet.Mein Vater wurde vom einen auf den anderen Tag entlassen und aus seiner Wohnung geworfen. Die offizielle Begründung lautete, dass er zu alt für den Job sei und nun jüngere Leute aus der Arbeiterklasse nachrücken sollten. Für ihn war aber ganz klar: Er wurde entlassen, weil er Jude war. Und das nur wenige Jahre nachdem er Auschwitz überlebt hatte! Er war dann gezwungen, in Rente zu gehen, und hat sich ganz dem Schreiben gewidmet. Sie haben kürzlich selbst ein Buch veröffentlicht: »Dalši, prosím« (»Der Nächste, bitte«). Darin beschreiben Sie, wie Sie als Sohn von zwei Holocaustüberlebenden in der Tschechoslowakei aufgewachsen sind.Meine Eltern haben mit mir nicht über die Verfolgung gesprochen. Aber ich habe als Kind trotzdem etwas geahnt. Später habe ich eine Sammlung von Anekdoten aus meiner Kindheit gelesen, die mein Vater aufgeschrieben hat. Einmal habe ich zusammen mit meinen Freunden am Strand Eisenbahnen aus Sand gebaut. Und einer meiner Freunde sagte: »Mein Zug fährt nach Brünn«, einer anderer sagte: »Meiner nach Prag«, und ich sagte: »Mein Zug fährt nach Auschwitz.« Wie war die Situation der jüdischen Gemeinde in der realsozialistischen Tschechoslowakei?Grundsätzlich war das Gemeindeleben stark eingeschränkt. Alles Jüdische stand im Verdacht, irgendwie mit Israel verbunden zu sein. Die fünfziger Jahre waren eine Katastrophe, die sechziger Jahre dann ein bisschen freier. Die Situation änderte sich wieder nach dem Ende des Prager Frühlings. Damals verließen 6.000 bis 8.000 Juden das Land. Es ist fast niemand übriggeblieben. »Der Antisemitismus ist wie ein Virus – aber wie ein Virus, das mutiert.« Aber das Jahr 1989 war dann wirklich eine Revolution, auch wenn ich das Wort nicht mag. Alles, was vorher verboten war, war nun möglich! Wir konnten beispielsweise als Gemeinde Kontakte nach Israel aufbauen. Aber erst einmal haben wir die Räume der jüdischen Gemeinde in Prag durchsucht und die ganzen Wanzen entfernt, die die Staatssicherheit installiert hatte. Wie nehmen Sie die Lage seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 wahr?Bei uns ist die Situation ruhiger als in anderen Staaten. Aber trotzdem spüren auch wir eine Veränderung. Als jüdische Gemeinde haben wir kürzlich einen Bericht veröffentlicht. Im Jahr 2023 gab es 90 Prozent mehr antisemitische Vorfälle als im Jahr davor. Das Jahr 2024 wird sicher noch schlimmer. Ich sage immer: Der Antisemitismus ist wie ein Virus – aber wie ein Virus, das mutiert. Niemand sagt mehr, dass die Juden Jesus gekreuzigt hätten. Die Antisemiten von heute sprechen stattdessen über Israel und Palästina. Aber die Stereotype bleiben dieselben. * František R. Kraus: Gas, Gas, … und dann Feuer. Häftlingsnummer B 11632. Aus dem Tschechischen von Vera Trnka. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024, 120 Seiten, 17,90 Euro Am 29. Oktober findet in der Brücke-Villa in Dresden eine Lesung und ein Gespräch mit Tomáš Kraus statt. Anmeldung unter: [email protected] In dieser Ausgabe der »Jungle World« findet sich ein Auszug aus František R. Kraus’ Buch »Gas, Gas, … und dann Feuer«. | Niklas Lämmel | Niklas Lämmel: Tomáš Kraus, Verband jüdischer Gemeinden in Tschechien, im Gespräch über seinen Vater, den Auschwitz-Überlebenden František R. Kraus | [
"Shoah",
"Überlebende der Shoah",
"Auschwitz",
"Tschechien",
"Antisemitismus"
] | dschungel | 12.09.2024 | https://jungle.world//artikel/2024/37/auschwitz-ueberlebender-frantisek-kraus-er-wollte-zeugnis-ablegen |
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