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Homosexualität | „In unserem Lande war noch bis vor wenigen Jahrzehnten selbst nationalsozialistisches Unrecht recht bei Bekämpfung der Schwulen. …
Etwas mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit wäre für uns angebracht, wenn wir Länder kritisieren, die aus welchen Gründen auch immer die von uns eingeschlagene Richtung langsamer oder gar nicht mittragen können oder wollen“, schreibt Hans Weiß, Rechtsanwalt, Freund der NachDenkSeiten, Autor von Büchern über die Kampagnen gegen Kuba („Kuba – Nachrichten von der Schurkeninsel“). Danke vielmals für den Artikel. Albrecht Müller. | [] | [] | 10. Dezember 2014 10:07 | https://www.nachdenkseiten.de/?tag=homosexualitaet&paged=3 |
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Der Diesel-Skandal und das Versagen der Presse: „Das ist ein sehr heißes Eisen“ | Journalisten widmen den Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen viel Aufmerksamkeit. Sie berichten über sie vor und zurück und die Schlagzeilen könnten kaum größer sein. Aber warum haben nicht die Medienvertreter, die sich als Fachjournalisten mit der Automobilbranche auseinandersetzen, frühzeitig Alarm geschlagen? Hätten nicht gerade sie, die doch bestens über die Branche informiert sind, eine Ahnung davon haben müssen, wie die großen Autofirmen vorgehen? Im Interview mit den NachDenkSeiten wirft Urs Bär, der sich als Journalist seit zwanzig Jahren mit der Automobilbranche auseinandersetzt, unter anderem ein Licht auf seine eigene Zunft und hinterfragt kritisch die Rolle der Medien im Zusammenhang mit dem Diesel-Skandal.
Ein Interview von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Die großen Medien, sagt Bär, bleiben bei ihrer Berichterstattung „weit hinter kritischen Auffassungen in der Bevölkerung zurück, die durchaus das systemische Kernproblem des ganzen Schlamassels durchschaut.“ Medien, so führt der Insider weiter aus, erweckten zu oft den Eindruck, „als ob die jahrelangen und systematischen Manipulationen allein auf das moralische Fehlverhalten einzelner Politiker, Ingenieure oder Vorstände zurückzuführen wären.“ Doch die Realität sei eine andere, sagt Bär, der in dem Interview unter einem Pseudonym in Erscheinung tritt, weil er berufliche Nachteile aufgrund seiner kritischen Einlassungen befürchtet. Die Identität von „Bär“ ist den NachDenkSeiten bekannt. Herr Bär, der „Diesel-Skandal“ war und ist seit geraumer Zeit ein großes Thema in den Medien. Sie sind als Verkehrsjournalist ein Kenner der Automobilbranche. Was ist Ihnen in der Berichterstattung aufgefallen? Überaus bemerkenswert finde ich zunächst einmal, dass solche Betrügereien überhaupt an die Öffentlichkeit kommen. Neu ist ja nicht, dass im großen Stil manipuliert wird, neu ist, dass es aufgedeckt wird. Auffällig an der Berichterstattung ist aber die Oberflächlichkeit. Wie meinen Sie das? Da wird zu oft der Eindruck erweckt, als ob die jahrelangen und systematischen Manipulationen allein auf das moralische Fehlverhalten einzelner Politiker, Ingenieure oder Vorstände zurückzuführen wären. Da bleiben die großen Medien weit hinter kritischen Auffassungen in der Bevölkerung zurück, die durchaus das systemische Kernproblem des ganzen Schlamassels durchschaut: riesige, monopolartige Konzerne, die alles daran setzen, noch mehr und noch mehr Profit zu hecken, und sei es mit Mobilitäts-, Auto- und Motorenkonzepten von vorgestern, die völlig veraltet und daher schädlich sind und dringend weiterentwickelt werden müssen, damit der Verkehr keine Zumutung für Mensch und Umwelt mehr ist, sondern sicher, komfortabel, klimafreundlich und – und das ist eigentlich das Wichtigste – nützlich und bezahlbar für alle Menschen ist. Dagegen steht das Prinzip der Profitmaximierung. So erklärt sich der Dieselskandal, und das muss bis an die Wurzel aufgeklärt werden, damit er überwunden werden kann. Was sind denn Ihrer Meinung die Ursachen für den Diesel-Skandal? Ein Beispiel: Es gibt technische Prüfinstitute wie die TÜVs, die messen den Verbrauch und die Emissionen von neuen Autotypen, bevor die eine Zulassung erhalten. Diese Institute sind formal gesehen unabhängig. Aber: Der Markt dieser Prüforganisationen wurde in den 90er Jahren liberalisiert, die ehemals wie eine Behörde geführten TÜVs werden nun wie Privatunternehmen geführt und streben selbst nach Gewinn. Nun kommt’s: Die Autohersteller können selbst wählen, zu welcher Prüforganisation sie für die Typzulassung gehen. Ja, glauben Sie, dass diese Prüfunternehmen ein Interesse daran haben, ihren Kunden bei einer systematischen Manipulation auf die Schliche zu kommen, wenn davon Folgeaufträge abhängig sind? Dabei werden diese Tests für sich genommen bestimmt in Ordnung sein. Aber die Prüforganisationen haben einfach nicht das Interesse, tiefer zu schürfen und beispielsweise eine Schadsoftware zu entdecken. Eigentlich müssten diese Prüfinstitute staatlich sein oder die Prüfungen müssten unter strenger staatlicher Aufsicht erfolgen, unter sehr strenger. Dieses Beispiel sagt sehr viel aus zum Verhältnis von Staat und Autowirtschaft und hier liegt aus meiner Sicht der Hund begraben. Hat der Diesel-Skandal etwas mit dem neoliberalen Staat zu tun? Das hat er. Ich will noch mal mit einem Beispiel antworten: Sie kennen bestimmt das Reifenlabel, das von der EU eingeführt wurde: Jeder zum Verkauf stehende Neureifen muss bestimmte Angaben zu Sicherheit, Energieeffizienz und Geräuschentwicklung vorweisen. „Prima“, denkt sich da der Kunde, „jetzt kann ich mich beim Kauf besser entscheiden“. Was er nicht weiß: Die Angaben auf dem Label macht der Reifenhersteller selbst, das wird nicht kontrolliert! Wenn Sie das wissen, wundern Sie sich dann noch über die Dieselschummeleien und dass die Luftverschmutzung trotz schärferer Emissionsgrenzwerte zunimmt? Der neoliberale Staat will den wirtschaftspolitisch eingreifenden Sozialstaat als Repräsentant des Allgemeinwohls abschaffen und einzig effiziente Rahmenbedingungen für die Geschäftemacherei setzen – wozu übrigens auch gehört, die Verbraucher mit solch einem Pseudo-Label zu beruhigen. Daher hat auch die Autolobby ein Wörtchen mitzureden in Brüssel und Berlin, wenn es etwa um neue Emissionsgrenzwerte geht, also namentlich der Verband der Automobilindustrie VDA mit seinem Präsidenten Matthias Wissmann, der CDU-Verkehrsminister unter Kohl war. Das ist auch der Grund, weshalb die technisch längst machbaren Verbrauchs- und Abgasprüfungen im Alltagsbetrieb der Fahrzeuge so lange nicht eingeführt wurden. Stattdessen wurden bis heute die Autos unter künstlichen Laborbedingungen auf einem Prüfstand geprüft, und die Autohersteller konnten das zu prüfende Auto völlig legal bis zur Unkenntlichkeit verändern: mit zum Bersten befüllte Reifen oder ohne Radio, Klimaanlage oder andere übliche Ausstattungsdetails, teils sogar ohne Sitze, nur um das Gewicht und damit den Verbrauch zu drücken. So kamen und kommen die angeblich so niedrigen Normverbrauchswerte zustande. Bei dem Diesel-Skandal scheint auch ein Versagen der Presse sichtbar zu werden. Warum haben nicht gerade die Journalisten, die sich intensiv mit Autos, den Autokonzernen usw. für die jeweiligen Fachmagazine auseinandersetzen, frühzeitig Alarm geschlagen? Das ist ein sehr heißes Eisen. Jeder Autojournalist weiß seit Jahrzehnten um die stetig gewachsene Diskrepanz zwischen den offiziellen Normverbrauchswerten und dem realen Spritverbrauch, die locker 50 Prozent und mehr ausmacht. Aber warum haben Journalisten dann nicht Alarm geschlagen? Da muss ich etwas ausholen. Es gibt heute kaum noch Zeitungsverleger, die sich als Garant einer kritischen, tiefgreifend informativen Meinungsbildung und einer plural-streitbaren Presselandschaft verstehen. Die von Heuschrecken befallenen Verlage sollen vielmehr Gewinn abwerfen, die journalistische Arbeit wird zu „Content“ und zur Ware. Es gibt Autoredakteure, deren Vorgesetzter sitzt nicht in der Chefredaktion, sondern in der Anzeigenabteilung. Deren Arbeitsmotto lautet: erst die Anzeige besorgen, dann den Artikel schreiben. Und so sehen die Autoseiten dann auch aus. Oder die Autoseiten werden ganz gestrichen, weil es zuwenig Anzeigen gibt. Tja, und dann kommt noch hinzu: Wer als Autojournalist überhaupt arbeiten möchte, der ist abhängig davon, dass er von der Industrie eingeladen wird, wenn ein neues Produkt präsentiert wird. Und von der Einladungsliste kann man auch ganz schnell wieder gestrichen werden. Es ist übrigens eine Mär, wenn ich das noch sagen darf, dass Autojournalisten es sich im schicken Test-Cabrio an der Côte d’Azur und mit Champagner im Luxushotel auf Kosten der Autofirma gutgehen lassen. Das gibt es zwar, aber nur für sehr wenige. Sehr viele Kollegen sind dagegen schon froh, wenn ihre Artikel überhaupt abgedruckt werden und verlangen dafür keinen Cent Honorar, nur damit sie im Geschäft bleiben. Oft leben sie von Hartz IV . Ich frage Sie: Wie soll so ein selbstbewusster, qualitativer Journalismus gedeihen, der mit seiner kritischen Berichterstattung so etwas wie den Dieselskandal erst gar nicht entstehen lässt? Was müsste denn nun getan werden? In den Medien ist immer wieder von Fahrverboten und einem Nachrüsten der Diesel-Autos zu hören. Was halten Sie davon? Einfache Konsum- oder Technikkritik führt am Problem vorbei. Viel wichtiger ist doch, dass die Produktion und das Verkehrssystem vernünftig weiterentwickelt und umgestaltet werden, dass die Unternehmen zu Investitionen in Forschung und Entwicklung gezwungen werden. Die öffentliche Sensibilisierung und der Druck im Zusammenhang mit dem Dieselskandal sind doch da! Und dann geht es auch: Woher kommt es denn, dass auf einmal ein Autozulieferer eine Autobremse präsentiert, die sage und schreibe 90 Prozent weniger Feinstaub entwickelt? Meinen Sie, dass die Forschung dafür erst mit der Aufregung um den Dieselskandal angefangen hat? Nein. In den Schubladen der Forschungsabteilungen schlummern allerhand Pläne für wirklich interessante und nützliche Dinge, die aber unter Verschluss gehalten werden, um die bestehenden Produkte und Fertigungsanlagen bis zum geht nicht mehr profitabel zu nutzen. Oder kommen wir auf VW zurück. Die haben nun eine Investitionsoffensive in Höhe von über 70 Milliarden Euro angekündigt. 70 Milliarden! Vornehmlich für Elektromobilität und autonomes Fahren, also das geht aus meiner Sicht in die richtige Richtung, und das zeigt doch, was möglich ist. Und trotz dieser Riesensumme senkt VW damit sogar noch die Investitionsquote gemessen am Umsatz, da ist also noch erheblich mehr drin. Die Voraussetzung dafür, also sowohl für diese enorm hohe Summe wie auch dass sie für vernünftige neue Produkte eingesetzt wird, ist öffentlicher Druck und eine selbstbewusste Belegschaft, die mitentscheiden will. Der Betriebsrat bei VW hat schon vor Jahren die Nachhaltigkeit als Entwicklungskonzept des Konzerns durchgesetzt – gegen harte Widerstände des Managements. Bis die Herren gemerkt haben, dass man mit Investitionen ins Energiesparen den Gewinn mittelfristig sogar erhöhen kann. Nun gut, ich bin der Überzeugung, dass die Beschäftigten am besten wissen, worauf es ankommt und wie man es hinkriegt, gesellschaftliche Probleme zu lösen, die müssen das Sagen haben. Und da kommt es auf jeden Einzelnen an! Noch mal zurück: Warum bringen Fahrverbote nichts? Fahrverbote treffen diejenigen, die sich ein neues verbrauchsarmes Auto nicht leisten können, und im Zweifel wird es nur noch mehr Gestank, Lärm und Staus zur Folge haben, denn es wird verstärkt Ausweichverkehr geben. Wie sollte eine Nachrüstung ablaufen? Die Autohersteller versuchen durchzusetzen, dass sie mit einfachen Software-Aktualisierungen an den betroffenen Autos davonkommen. Die kosten so gut wie nichts, lassen sich aber nur mit jüngeren Autos machen, also mit sehr wenigen. Wirkungsvoller könnte eventuell eine technische Nachrüstung am Motor mit einem Katalysator gegen Stickoxide sein, das könnte man an deutlich mehr, aber längst nicht an allen Autos durchführen, kostet aber mehr und will die Industrie daher nicht. Dennoch: Auch im Konflikt um Ad-hoc-Maßnahmen darf man die Autoindustrie, die uns das alles ja immerhin eingebrockt hat, nicht aus der Verantwortung lassen, auch wenn sie allein das Problem der Luftqualität höchstens dämpfen, aber nicht lösen. Im Zuge des Diesel-Skandals wird vermehrt auch über ein tieferliegendes Problem gesprochen. Dabei geht es um den zunehmenden Verkehr ganz allgemein.
Wie müsste eine Politik aussehen, die das Allgemeinwohl in Sachen Verkehr im Blick hat und die ökonomische Seite nicht vernachlässigen will? Es gibt einen immer unerträglicher werdenden Widerspruch. Einerseits kommen weltweit sehr, sehr viele Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben, die Umwelt und das Klima werden massiv beeinträchtigt, in den Ballungszentren wird der Verkehr immer rauher und dichter und gesundheitsgefährdender, und in den ländlichen Regionen hierzulande wie in den in Unterentwicklung gehaltenen Ländern werden die Menschen von Mobilität richtiggehend ausgeschlossen. Und auf der anderen Seite haben wir die Tendenz zu Elektromobilität und Automatisierung, die den Menschen viel schmutzige Arbeit und Aufwand abnehmen könnte. Was heißt das? Das heißt, dass die Vision vom unfallfreien, umweltfreundlichen und komfortablen Verkehr, durch den alle Menschen sinnvoll am gesellschaftlichen Leben teilhaben und mitgestalten können, keine utopische Spinnerei ist. Eine Spinnerei ist dagegen, auf Teufel komm raus am Individualverkehr in seiner jetzigen Form festzuhalten, das ist ein Anachronismus, weil das System definitiv an seine Grenze gekommen und deshalb schwer krisenhaft ist. Das jetzige Verkehrssystem kann die von ihm geschaffenen Probleme – Sicherheit, Umweltschutz, Staus, überfüllte Städte, Mobilität nicht für alle – nicht lösen. Sie halten also einen Rückgang des Individualverkehrs, also dass jeder mit seinem eigenen Auto mit einem herkömmlichen Benzin- bzw. Dieselmotor weiterfährt wie bisher, für notwendig? Ja, der Individualverkehr muss aufgehoben werden in ein gesellschaftliches Konzept von Verkehr für alle, durch ein integriertes System, das alle bestehenden Verkehrsträger miteinander verbindet. Sie haben ein „integriertes Verkehrssystem“ erwähnt. Was meinen Sie damit? Computer, Digitalisierung und Internet haben eine klare gesellschaftliche Tendenz: Wer eine Reise machen möchte, muss nicht mehr mühselig Auto, Bahn, Taxi und ÖPNV koordinieren und sich über Verspätungen und Staus ärgern. Er erhält vielmehr ein Angebot aus einem Guss, dass alle Verkehrsträger unter einem Dach vereint anbietet, die dann natürlich auch aufeinander abgestimmt sein müssen: bis zur öffentlichen Fahrradstation für die letzte Meile. Das bedeutet natürlich auch Veränderungen in der Infrastruktur und eine Demokratisierung der Organisation. Langfristig und mit autonomen Fahrzeugen wäre vielleicht sogar denkbar, was ich „kollektive Taxis“ nenne: öffentliche Fahrzeuge, die ihre Route aktuell und nach dem Bedarf der Fahrgäste berechnen. Sie sammeln auf ihrem Weg die Leute ein und bringen einen nach dem anderen zum Ziel. Es gibt eine wissenschaftliche Simulation für Manhattan, die die Machbarkeit eines solchen Konzepts bereits nachgewiesen hat – mit erheblich weniger Verkehrsaufkommen und nur minimalen Umwegen für die einzelnen. Das wäre die Aufhebung von Individualverkehr und ÖPNV. Man muss dabei nur eines sehen: Unter Bedingungen von Konkurrenz und unter Aufrechterhaltung der Konzerngrenzen ist das schwer zu verwirklichen, weil es gesellschaftliche Planung und Steuerung voraussetzt und verlangt. Das ist ja auch ein klarer Trend. Immer mehr ist von autonom fahrenden Autos die Rede.
Birgt diese Entwicklung nicht auch große Gefahren? Ja, es gibt Dystopien, in denen Maschinen mit künstlicher Intelligenz die Macht über die Menschen übernommen haben, sie ausbeuten und bekriegen. Auf der anderen Seite gibt es die Zukunftsvision vom Schlaraffenland, in dem alles automatisch funktioniert und die Menschen nur noch faul am Strand oder im Bett liegen. Vor beidem würde mir grauen, halte ich aber für Nonsens. Aber was meinen Sie genau? Vorstellbar ist, dass autonom fahrende Autos beispielsweise so programmiert werden, dass sie nicht mehr in eine bestimmte Gegend fahren. Das heißt: Der Autofahrer wäre nicht mehr frei, dorthin sein Fahrzeug zu steuern, wohin er es steuern möchte. Gerade auch im Hinblick auf den Ausbau der Überwachungsinfrastruktur und die zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Spannungen könnten solche Möglichkeiten schnell von Staaten, die es mit Demokratie und Freiheitsrechten nicht mehr so genau nehmen, missbraucht werden. Ja, das ist denkbar; die größere Gefahr sehe ich aber woanders, nämlich in der hegemonialen Manipulation. Was meinen Sie ist der Grund, dass Google und Co. unbedingt ins Geschäft mit dem autonomen Auto einsteigen möchten? Sagen Sie es bitte. Die Datenkraken wollen an die Daten der Reisenden heran, das ist ein riesiger, ungehobener Schatz für sie: Wer fährt wann mit wem von wo nach wo, was macht er während der Fahrt, wo kauft er ein und so weiter? Diese Daten bedeuten Macht. Für Werbung, aber auch zur gezielten Steuerung von moralischen Vorstellungen, Normen und zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung, Stichwort Fake news. Und wenn Autohersteller laut darüber nachdenken, dass sie eines Tages dem Käufer ihres vollautomatischen Autos absolute Priorität in einer Unfallsituation einräumen, auch wenn dafür der Tod eines oder mehrerer Fußgänger in Kauf genommen werden müsste – auch dagegen muss man unbedingt sein. Aber lassen sie uns auf die positiven Potenziale zu sprechen kommen. Elektromobilität und Automatisierung bergen eine große Möglichkeit: nämlich, um mit Brechts Galileo zu sprechen, die „Mühsal der menschlichen Existenz zu erleichtern“. Sie können die Menschheit von schmutziger, entwürdigender, kaputtmachender Arbeit befreien und den Alltag erleichtern, damit – und das möchte ich betonen – die Beschäftigten über Inhalt und Art und Weise des Wirtschaftens entscheiden und alle die Gesellschaft humaner gestalten können. Dazu gehört auch ein sicherer und umweltfreundlicher Verkehr für alle. Auf dem Weg dorthin halte ich neben den ökonomischen und sozialen Fragen, die wir bereits erörtert haben, für ganz entscheidend, dass es im Straßenverkehr einen Kulturwandel gibt. Weg von „ich zuerst“ oder „freie Fahrt für freie Bürger“ hin zu Fairness, Verständnis und Entgegenkommen. Damit wären auch Maßstäbe gesetzt, wie die technologische Seite des Verkehrssystems sich entwickeln sollte. | Marcus Klöckner | Journalisten widmen den Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen viel Aufmerksamkeit. Sie berichten über sie vor und zurück und die Schlagzeilen könnten kaum größer sein. Aber warum haben nicht die Medienvertreter, die sich als Fachjournalisten mit der Automobilbranche auseinandersetzen, frühzeitig Alarm geschlagen? Hätten nicht gerade sie, die doch bestens über die Branche informiert sind, ein ... | [
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] | 19. Dezember 2017 9:09 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=41633 |
Notstand in Kinderkliniken – mit hustenden Kindern lässt sich kein Geld verdienen | In fast der Hälfte aller deutschen Kinderkliniken ist zurzeit auf den Normalstationen kein einziges Bett mehr frei. Bundesweit stehen lediglich 83 freie Betten auf Kinderintensivstationen zur Verfügung – weniger als ein freies Bett pro Krankenhaus. Doch der dramatische Notstand kam mit Ansage. Obgleich die Pädiatrie über Jahrzehnte hinweg totgespart wurde und die prekäre Situation schon seit Jahren die Alarmglocken schrillen ließ, machte das damals von Jens Spahn geführte Bundesgesundheitsministerium sich 2019 noch faktenwidrig über „Überkapazitäten“ Sorgen. Sein Nachfolger Karl Lauterbach hatte anscheinend neben Talkshowterminen und seinen Twitter-Exzessen keine Zeit, das Problem anzugehen. Nun empfiehlt er, was er immer empfiehlt: Sollen die Kinder doch Maske tragen! Das gerade die Kinderheilkunde mit der neoliberalen Idee, mit der Krankenversorgung Renditen zu erwirtschaften, nicht in Einklang zu bringen ist, liegt auf der Hand. Doch diese simple Wahrheit will in der Bundesregierung niemand aussprechen. Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download 1995 gab es in deutschen Krankenhäusern 416 Fachabteilungen für Kinderheilkunde. 2020 waren es nur noch 334. Während 1995 25.939 Betten für Kinder gemeldet wurden, waren es 2020 nur noch 17.959 – ein Drittel weniger. Gleichzeitig nahmen die Fallzahlen nicht etwa ab, sondern zu. Und selbst diese tristen Zahlen bilden die deprimierende Realität nur im Ansatz ab. Nicht erst seit Corona wissen wir schließlich, dass es einen großen Unterschied zwischen den gemeldeten Betten und den Betten gibt, für die es auch Personal gibt, um sie zu betreiben. Laut Florian Hoffmann, Kindermediziner aus München und Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), kann im Schnitt ein Drittel der Betten aufgrund des permanenten Personalmangels in der Krankenpflege nicht genutzt werden. In manchen Kinderkliniken sei sogar die Hälfte der Betten nicht mehr belegbar. Diese Zahlen sind nicht neu. Branchen- und Patientenverbände kennen sie, nur die Bundesregierung hat sich stets geweigert, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Auf eine kleine Anfrage der Linkspartei zum „Notstand in den Kinderkliniken“ antwortete das Bundesgesundheitsministerium 2019 vielmehr vollkommen realitätsentrückt, dass „eine Unterversorgung mit Kinderkliniken und Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin nicht gegeben sei“. Man mache vielmehr „Indikatoren für Überkapazitäten“ aus. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Wie kam das Ministerium von Jens Spahn auf diese Fehleinschätzung? Ganz einfach. Man betrachtete nicht etwa die Auslastung zu Spitzenzeiten, sondern den durchschnittlichen Nutzungsgrad der Betten – und hier betrachtete man nicht etwa die wirklich zur Verfügung stehenden Betten, sondern die gemeldeten Betten, die jedoch eine sehr theoretische Größe sind. Auf Basis dieser realitätsfernen Betrachtung kam man auf eine durchschnittliche Auslastung von 66 Prozent. Also alles in Butter? Nein, natürlich nicht. Jeder Kindermediziner weiß, dass es gerade in der Pädiatrie zu massiven stoßweisen Belastungen des Systems kommt. Während die Lage im Sommer überschaubar ist, füllen sich zur typischen Infektionszeit im Spätherbst und Winter nicht nur die Praxen, sondern auch die Krankenhäuser. Gerade für Kleinkinder sind die Grippe und das zurzeit kursierende RS-Virus oft lebensgefährlich. Selbst wenn das System im Schnitt ausreichende Kapazitäten bereithalten sollte – was es noch nicht einmal tut – gerät es während der Erkältungszeit an seine Grenzen. Gerade in den Ballungsräumen vergeht so kein Jahr, in dem die Kinderkliniken im Winter nicht komplett überlaufen und Engpässe vermelden. In diesem Jahr kommt wohl ein weiterer Faktor hinzu. Zahlreiche Experten gehen davon aus, dass die Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen während der Corona-Jahre dazu geführt haben, dass es nun einen „Aufholeffekt“ gibt. Vereinfacht gesagt haben sich viele Kleinkinder durch die Maßnahmen nicht nur nicht mit Corona, sondern auch nicht mit dem RS-Virus angesteckt. Diese Infektionen würden jetzt nachgeholt und führten zu einer Gesamtinfektionslast bei Kindern, die noch über den „normalen“ Infektionswellen zur Erkältungszeit liegt. Corona hatte jedoch noch einen weiteren entscheidenden Effekt. Da Politik und Medien über zwei Jahre hinweg sich auf die Corona-Thematik fixiert haben, geriet die prekäre Situation der Kinderkliniken aus dem Blickfeld. In den letzten beiden Jahren wurde exakt gar nichts getan, um die Lage zu entschärfen. Dabei liegt das Kernproblem auf der Hand. Krankenhäuser werden in Deutschland nach dem System der Fallpauschalen vergütet. Die personal- und betreuungsaufwändige Kinder- und Jugendmedizin gehört dabei zu den Disziplinen, mit denen sich für die oft privaten und renditeorientierten Krankenhausbetreiber nichts verdienen lässt. Wer trotz des permanenten Fachkräftemangels im Pflegebereich überhaupt noch Pflegepersonal einstellt oder einstellen kann, setzt es lieber in lukrativeren Bereichen wie beispielsweise der Orthopädie ein – Gleiches gilt für die Ausbildung. In der Orthopädie gibt es heute übrigens mehr Betten als in der Kinder- und Jugendmedizin. Mit hustenden Kindern lässt sich kein Geld verdienen – so ließe sich die Situation leicht polemisch zuspitzen. Gerade die Behandlung von RSV-Krankheiten ist finanziell eine Belastung für die Kliniken. Wie kritisch die Lage ist, zeigt eine Presseerklärung des Hannoverschen Kinderkrankenhauses „Auf der Bult“. Darin lässt sich der Regionspräsident Steffen Krach mit den Worten „Ein medizinisches Handeln bedroht die wirtschaftliche Existenz der Kinderkliniken“ zitieren. Die schlechtere Bezahlung von RSV-Erkrankungen führe im Vergleich zu den besser bezahlten elektiven Eingriffen, die nun abgesagt werden müssen, zu geringeren Einnahmen. Für Kliniken ist es demnach wirtschaftlich nicht sinnvoll, die nötigen Kapazitäten vorzuhalten, um zur Erkältungszeit die zu erwartenden Atemwegserkrankungen der Kinder zu behandeln. Der Notstand ist also, wenn auch nicht gewollt, so zumindest kühl einkalkuliert. Es ist nicht das Virus, sondern der Neoliberalismus, der tötet. Und so bitter es klingen mag – eine systemimmanente Lösung für dieses Problem gibt es nicht. Renditeorientierte Krankenhäuser und Notfallkapazitäten für erkältete Kinder passen nun einmal nicht zusammen. An eine politische Lösung dieses Problems ist überdies ohnehin nicht zu denken. Alles hängt hier mit allem zusammen. Ohne eine Verbesserung der Personalsituation kann die Zahl der betreibbaren Betten nicht gesteigert werden. Ohne eine bessere Bezahlung und vor allem eine Abschaffung der Verdichtung der Pflegearbeit, die ihrerseits zu physischen und psychischen Schäden beim Personal führt, wird man jedoch die Personalsituation nicht verbessern können. Bessere Arbeitsbedingungen sind wiederum in einem derart renditeorientierten Krankenhaussystem nicht denkbar. Also drehen wir uns im Kreis und steuern mit Volldampf in die Katastrophe. Und die Politik? Die verschärft die Ursachen der Probleme, anstatt sie zu entschärfen. Erst gestern kündigte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach an, die zurzeit gültigen und ohnehin viel zu niedrigen Personaluntergrenzen in den Krankenhäusern auszusetzen. Das ist kurzfristig ja nicht falsch, da die Häuser so Personal von anderen Stationen abziehen und in die Pädiatrie versetzen können. Dadurch wird die Pflegearbeit jedoch in allen Sektoren noch weiter verdichtet, es fällt sowohl kurz- als auch langfristig noch mehr Personal aus und der Pflegenotstand verschlimmert sich noch weiter. Man kann ein Feuer nicht mit Benzin löschen. Doch so zynisch es klingt – das war ja zumindest mal ein Vorschlag in der Sache von Karl Lauterbach. Denn ansonsten ist zu diesem Thema nur grotesker Unsinn von ihm zu vernehmen. So empfahl er vor wenigen Tagen doch allen Ernstes, dass unsere Kinder doch einfach Masken tragen sollten. Klar, wenn wir unsere Kinder dauerhaft isolieren und durch Hygienemaßnahmen vor Viren und Bakterien „schützen“, kann das renditeorientierte Gesundheitssystem seinen Aktionären auch künftig fette Dividenden ausschütten. Das werden die Kleinen sicher verstehen, wenn man es ihnen einfühlsam erklärt. Titelbild: Ground Picture/shutterstock.com | Jens Berger | In fast der Hälfte aller deutschen Kinderkliniken ist zurzeit auf den Normalstationen kein einziges Bett mehr frei. Bundesweit stehen lediglich 83 freie Betten auf Kinderintensivstationen zur Verfügung – weniger als ein freies Bett pro Krankenhaus. Doch der dramatische Notstand kam mit Ansage. Obgleich die Pädiatrie über Jahrzehnte hinweg totgespart wurde und die prekäre Situation schon seit J ... | [
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] | 02. Dezember 2022 13:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=91119 |
Regierung im Blindflug – Ein Zwischenruf von Willy Wimmer | Jetzt gibt es also wieder „Protokollstrecken“. Anders kann man die Besuche und ihre Abfolge aus der Staats-und Regierungsspitze in Duisburg-Maxloh, Heidenau und Wilmersdorf nicht bezeichnen. Fein ausgesuchte Volksrepräsentanten, vermutlich vorformulierte Ansichten, gesäuberte Straßen, Bereitschaftspolizei die Menge. So fährt man in ein Aufstandsgebiet. Im Übrigen kennt man diese Protokollstrecken noch von Erich. So weit ist es gekommen.
Wie schlimm es um die Regierung steht, das offenbart sich in der Sprache. Da klingt es nur so auf dem Niveau derjenigen, von denen man sich aus gutem Grund absetzen muß. „Mob“, „Pack“ und so weiter. Um es deutlich zu sagen. So etwas gehört sich für eine Regierung nicht, die zudem weder an unseren Grenzen noch auf unseren Straßen den eigenen staatlichen Gesetzen Geltung verschaffen kann. Der britische Premierminister Cameron, Ministerpräsident Orban in Budapest oder die dänische Regierung geben ein anderes Bild ab. (Nachtrag und Zwischenbemerkung A. Müller: Jens Berger weist mit Recht darauf hin, dass die Erwähnung dieser drei Personen als Lob für deren Politik verstanden werden kann. Ich habe es anders interpretiert, weil ich die Kritik Wimmers an der ablehnenden Haltung zum Beispiel der britischen Regierung gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen noch im Ohr hatte. Der folgende Satz und der folgender Absatz machen deutlich, worauf Wimmer: zielt: auf das Nichtstun, auf den Blindflug, der Bundesregierung) Unser Bundesinnenminister vergnügt sich beim Aachener Reitturnier, während seine Bundespolizisten und andere nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Die Unfähigkeit, eine der Lage entsprechende Vorgehensweise seitens staatlicher Einrichtungen sicherzustellen, zeigt sich in den ermunternden Anrufen durch den amerikanischen Präsidenten Obama. Nichts darüber verlautet, daß man sich die amerikanische Kriegspolitik verbittet, die eine wesentliche-wenn nicht zentrale-Ursache für die derzeitigen Verwerfungen auf dem Globus und bei uns ist. Wo hört man seitens der deutschen Regierung die Forderung nach einem ständigen Gerichtshof gegen die Regierung der Vereinigten Staaten beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen permanenter völkerrechtswidriger Kriegseinsätze und endloser Kriegsverbrechen? Unter diesen Umständen muß man schon jetzt einen Schrecken bekommen, wenn durch das Bundespräsidialamt der Besuch des Herrn Bundespräsidenten in Washington im Oktober dieses Jahres verkündet wird. Er hat doch schon in Berlin gezeigt, wo er sich wohlfühlt, wenn er neben einem amerikanischen Präsidenten stehen darf? Soll der Herr Bundespräsident in Kenntnis einer gegen den Weltfrieden gerichteten amerikanischen Politik seit gut 20 Jahren hier in Europa und unseren Nachbarregionen eine Form von „immerwährender Kapitulation“ verkünden, um deutsches Schweigen zu amerikanischer Weltherrschaftspolitik und entsprechender Völkerrechtsbrüche und Kriegsverbrechen deutlich zu machen? Ist unser schönes Land wieder so „dunkel“? Welches Bild wird mit diesem Besuch vermittelt, so wenige Tage nach dem 25. Jahrestag der Wiedervereinigung, zu der die heutige Russische Föderation so unglaublich viel beigetragen hat? Wohin uns diese Bundesregierung geführt hat, wird an diesem Bild besonders deutlich. Wenn ihr daran gelegen gewesen sein sollte, den Geist und die Absichten der deutschen Wiedervereinigung und der Charta von Paris aus dem Jahr 1990 hochzuhalten, dann müssten wir in Deutschland zwischen Usedom und Immenstaad uns freuen. Freuen darauf, alle diejenigen zum 3. Oktober 2015 in Berlin willkommen heißen zu können, denen wir einen grandiosen Beitrag zum heutigen Deutschland verdanken können. Stattdessen sind wir durch die deutsche und westliche Politik von einem gemeinsamen Haus Europa weiter entfernt denn je. Wenn am 1. September und damit in wenigen Tagen in Deutschland an den Tag erinnert wird, an dem der Zweite Weltkrieg 1939 ausbrach, müssen wir doch eines sehen. Wegen der westlichen Politik, die sich beispielhaft auf dem Maidan-Platz in Kiev gegen Rußland manifestiert hat, wissen wir nicht, ob wir im nächsten Jahr diesen Tag noch in Frieden begehen können. Und die NATO-Presse, die bei der Schilderung der Migrationsbewegung das Maß an Mitmenschlichkeit glaubt wiedergefunden zu haben, die man vergeblich gesucht hat, als afghanische Hochzeitsgesellschaften durch NATO-Kollateraleinätze auseinander gebombt worden, serbische Kinder an einer Brücke in Valjevo beim Spaziergang durch NATO-Flugzeuge massakriert worden sind oder vor laufender Kamera ein Staatschef umgebracht wurde, von dem man sich zuvor noch Wahlkämpfe finanzieren ließ? | Willy Wimmer | Jetzt gibt es also wieder „Protokollstrecken“. Anders kann man die Besuche und ihre Abfolge aus der Staats-und Regierungsspitze in Duisburg-Maxloh, Heidenau und Wilmersdorf nicht bezeichnen. Fein ausgesuchte Volksrepräsentanten, vermutlich vorformulierte Ansichten, gesäuberte Straßen, Bereitschaftspolizei die Menge. So fährt man in ein Aufstandsgebiet. Im Übrigen kennt man diese Protokollstrec ... | [
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"Obama, Barack"
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"Außen- und Sicherheitspolitik",
"Fremdenfeindlichkeit, Rassismus",
"Innere Sicherheit"
] | 27. August 2015 14:03 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=27348 |
„Manifest“: Kein Interesse an den Kritikern von DLF, ARD und ZDF | Die in einem „Manifest“ kürzlich veröffentlichten Vorschläge zur Verbesserung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Initiative „meinungsvielfalt.jetzt“ werden von vielen großen Medien inhaltlich nicht angemessen thematisiert. Zitiert wird dafür die ablehnende Reaktion der Redakteursausschüsse der Sender. Noch weiter ging der Sprecher des Deutschen Journalistenverbandes, der laut „meinungsvielfalt.jetzt“ versucht habe, die Initiatoren mit Fake-News in die rechte Ecke zu stellen. Solche Reaktionen belegen die hohe Relevanz der Kritik. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Den Vorstoß der Initiative „meinungsvielfalt.jetzt“ hatten wir kürzlich in diesem Artikel thematisiert. Die zugehörige Petition mit momentan etwa 17.000 Unterschriften (Stand 8.4.2024,12h) findet sich unter diesem Link. Es scheint aber nichts Besonderes zu sein, wenn unter anderem Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) ein internes Klima der Angst beklagen und konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Zustände im ÖRR formulieren und das alles flankiert wird von zahlreichen Unterschriften öffentlicher Personen. Nach dem Motto „gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, gibt es vor allem folgende Reaktionen auf den Vorstoß „meinungsvielfalt.jetzt“: entweder Schweigen. Oder die Aussage, das sei alles nichts Neues, die Fragen würden angeblich längst diskutiert. Oder das knappe Zitieren der zurückweisenden Reaktion der Redakteursausschüsse. Oder die Diffamierung einzelner Beteiligter als irgendwie „rechts“, selbst wenn es dafür laut „meinungsvielfalt.jetzt“ Fake-News braucht. Bezüglich einer seriösen kritisch-distanzierten Auseinandersetzung mit den auf der Webseite „meinungsvielfalt.jetzt“ präsentierten Inhalten muss (weitgehend) eine Leerstelle festgestellt werden. Ich frage mich auch, warum private Medienkonzerne den Vorgang nicht viel stärker ausschlachten, um der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz zu schaden – der Grund für die Zurückhaltung könnte sein, dass sich viele Kritikpunkte auch auf die Praxis großer Privatmedien übertragen ließen. Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein wichtiges Prinzip ist, das meiner Meinung nach keinesfalls abgeschafft werden sollte, das aber wegen der inakzeptablen Berichterstattung immer schwieriger zu verteidigen sei, habe ich unter anderem im Artikel „Rettet den Rundfunk – Vor Privatisierung und vor der eigenen Propaganda“ beschrieben. Diffamierung durch den Deutschen Journalistenverband Eine der problematischsten Reaktionen auf die Initiative kommt wohl vom Deutschen Journalistenverband (DJV). Dessen Sprecher Hendrik Zörner hatte versucht, einen der Initiatoren in die rechte Ecke zu schieben und hatte dabei laut „meinungsvielfalt.jetzt“ mit falschen Behauptungen gearbeitet: Vor dem Kommentar von Zörner zum Thema findet sich nun eine Gegendarstellung. Ole Skambraks, Herausgeber von „meinungsvielfalt.jetzt“, geht in diesem Tweet darauf ein und stellt fest: Interner Widerspruch gegen das „Manifest“ kommt von der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse (AGRA). In einer Stellungnahme wird festgestellt: Tina Handel, Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio, ergänzt in diesem Tweet: Die Initiative „meinungsvielfalt.jetzt“ hat in einer Mitteilung auf die Kritik der AGRA reagiert: Mitarbeiter des ZDF können sich „jederzeit kritisch äußern“ Weitere Reaktionen aus dem ÖRR sind erwartungsgemäß: Das ZDF teilte in einer Reaktion mit, der Sender begrüße und fördere ausdrücklich Meinungspluralismus, sowohl im Programm, in der Gesellschaft, als auch im Unternehmen, wie Medien berichten. Mitarbeiter des ZDF hätten „nicht nur bei internen Dialogveranstaltungen und in Redaktionskonferenzen jederzeit die Möglichkeit, sich kritisch zu äußern“. (…) Von den Beschäftigten des ZDF habe, soweit ersichtlich, nur ein freier Mitarbeiter das Papier unterzeichnet. Von einem ARD-Sprecher hieß es: „Das jetzt veröffentlichte Dokument, das offenbar einige Beschäftigte von ARD-Medienhäusern mit unterzeichnet haben, bildet in Teilen eine Diskussion ab, die in den ARD-Medienhäusern kontinuierlich geführt wird.“ Zum beitragsfinanzierten öffentlichen Rundfunk gehöre es, dass er sich kritischen Diskussionen stelle: „Das schließt natürlich die selbstkritische Betrachtung des eigenen Tuns mit ein.“ In dieser Diskussion verdiene es jeder Beitrag, gehört zu werden. Dass ein Dokument wie das sogenannte Manifest erscheine, sei Ausdruck der Tatsache, dass in den ARD-Medienhäusern Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit herrschten. Auch im NDR heißt es als Reaktion, man streite doch sowieso bereits „jeden Tag“. Der Deutschlandfunk zitiert die Erklärung der AGRA. Und in der Medienkolumne „Altpapier“ des MDR heißt es: Und die Privatmedien? Die taz bezeichnet die angemessene und überfällige Kritik am ÖRR erwartungsgemäß als „Jammern am rechten Rand“. Große Privatmedien wie Bild oder Spiegel oder Welt beziehen sich bisher weitgehend auf die Kritik der AGRA. Meiner Meinung nach bestätigt der hier geschilderte Umgang vieler großer Medien mit der Initiative „meinungsvielfalt.jetzt“ teils die Kritikpunkte, die von der Initiative vorgebracht wurden. Dadurch wird die Relevanz von „meinungsvielfalt.jetzt“ zusätzlich verdeutlicht. Banner beim BR Zum Abschluss noch der Verweis auf eine Aktion vom 27. März beim Bayerischen Rundfunk: Ergänzung, 8.4.2024, 18 Uhr: Im Deutschlandfunk ist heute dieses Streitgespräch zum Thema gesendet worden. Titelbild: Ralf Liebhold / Shutterstock | Tobias Riegel | Die in einem „Manifest“ kürzlich veröffentlichten Vorschläge zur Verbesserung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Initiative „meinungsvielfalt.jetzt“ werden von vielen großen Medien inhaltlich nicht angemessen thematisiert. Zitiert wird dafür die ablehnende Reaktion der Redakteursausschüsse der Sender. Noch weiter ging der Sprecher des Deutschen Journalistenverbandes, der laut „meinungsvi ... | [
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] | 08. April 2024 13:21 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=113537&share=email |
Das Amt des Bundespräsidenten als Ehrenvorsitz für die CDU? | „Die CSU und die FDP warten auf einen geeigneten Vorschlag der CDU“, „Westerwelle und Seehofer wollen auf einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten verzichten“. „Union und FDP verfügen über eine komfortable Mehrheit in der Bundesversammlung“. Das sind die Eckdaten in der Debatte bei der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit für das Staatsoberhaupt. Es muss der Eindruck entstehen, als wäre die Bundesversammlung nur dazu da, quasi eine/n Ehrenvorsitzende/n der CDU zu wählen.
Schon Horst Köhler wurde sozusagen in der Wohnküche von Westerwelle ausgekungelt. Auch bei der Suche nach einem Nachfolger wahrt man nicht einmal den Anschein als ginge es darum, eine Persönlichkeit zu finden, die die gesamte Bevölkerung repräsentieren könnte. Das Auswahlverfahren hinterlässt den fatalen Beigeschmack, als ginge es darum, das Amt einem passenden Parteigänger der CDU zuzuschanzen. Wolfgang Lieb
Es ist aus ganz praktischen Gründen nichts dagegen einzuwenden, wenn die im Bundestag und in den Länderparlamenten stärkste Partei der Bundesversammlung einen Kandidaten oder eine Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten vorschlägt. Der Vorschlag einer Partei, die keine Mehrheit in diesem Wahlgremium hat, hätte eben keinerlei Chance und diese Kandidatur hätte bestenfalls symbolische Bedeutung. Aber gerade weil das so ist, wäre es für die Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit, die ja beeiden soll, dass sie ihre Kraft dem Wohle des (ganzen) deutschen Volkes widmen soll (so lautet Artikel 56 Grundgesetz) angemessen, wenn diese stärkste Partei nicht den Eindruck erweckte, als würde sie ohne „Respekt vor dem Amt“ (Köhler) vor allem nach einem passenden Parteigänger Ausschau halten. Nach dem unwürdigen Verfahren von vor sechs Jahren, mit dem damals in Westerwelles Privatgemächern „Horst – Wer?“ aus dem Hut gezaubert wurde, wäre es der Autorität des Amtes zuträglicher, wenn der Bundespräsident nun nicht schon wieder in einer Art und Weise ausgesucht würde, als ginge es dabei um den Ehrenvorsitz der CDU.
Das ist ein Umgang mit dem obersten Verfassungsorgan, als handle es sich dabei um die Verfügungsmasse einer Partei. Die Parteivorsitzende der CDU und Bundeskanzlerin täte gut daran, wenn sie sich nicht nur mit den Parteichefs ihrer Regierungskoalition abstimmen würde, sondern wenn sie sich mit allen Parteien und am besten auch noch mit Repräsentanten von gesellschaftlichen Gruppen, also Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Kirchen, zivilgesellschaftlichen Gruppen in Verbindung gesetzt und deren Rat oder deren Vorschläge eingeholt hätte. Wenigstens den Anschein einer überparteilichen Kandidatur hätte sie wahren können. Wenn man die jetzt gehandelten Kandidaten (Schäuble, Lammert) oder die „Favoritin“ von der Leyen betrachtet, so muss man den Eindruck gewinnen, als ginge es bei der Besetzung des Bundespräsidenten um einen Kabinettsumbildung oder bestenfalls um einen Amtswechsel. Würde Schäuble oder von der Leyen vorgeschlagen, so bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als dass der künftige Bundespräsident bzw. die künftige Bundespräsidentin ein externes Mitglied des Bundeskabinetts bzw. der Bundesregierung ist oder als ginge es um den Wechsel von einem Ressort in ein anderes. Und bei Lammert wäre es nur eine Ämterrotation von einem Posten auf den anderen. Auch die größte Oppositionspartei, die SPD, aber auch die Grünen oder die Linke tun nur wenig, um dieses dem Präsidentenamt unwürdigen Auswahlverfahren etwas entgegenzusetzen. Sie passen sich diesem Spiel einfach an und scheuen sich Vorschläge auch nur ins Gespräch zu bringen. Es gäbe in diesem Land viele Persönlichkeiten mit großen Verdiensten, die dieses Amt hervorragend ausfüllen könnten, die etwas zu sagen hätten und die „Macht des Wortes“ einsetzen könnten, um in einer schwierigen Zeit Orientierung zu geben und integrierend wirken könnten, ja, die sogar „medienfest“ wären. Doch man hat sich abgekapselt im Mief unter der Berliner Käseglocke. Die Auswahl des Staatsoberhaupts gerät so zum Hütchenspiel unter der politischen Klasse. | Wolfgang Lieb | „Die CSU und die FDP warten auf einen geeigneten Vorschlag der CDU“, „Westerwelle und Seehofer wollen auf einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten verzichten“. „Union und FDP verfügen über eine komfortable Mehrheit in der Bundesversammlung“. Das sind die Eckdaten in der Debatte bei der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit für das Staatsoberhaupt. Es muss der Eindruck en ... | [
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] | 02. Juni 2010 18:35 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=5793&share=email |
Lassen Sie uns doch einmal über das Thema „Flüchtlinge“ reden | 800.000 Flüchtlinge sollen laut Schätzungen der Bundesregierung in diesem Jahr in Deutschland eintreffen. Auch wenn diese Zahl möglicherweise übertrieben ist – in den ersten sieben Monaten dieses Jahres haben „nur“ 218.221 Personen Asyl beantragt –, so ist das Thema doch in aller Munde. Regelmäßige Hiobsbotschaften über schreckliche Todesfälle auf den Fluchtruten und offene Ablehnung und Gewalt in einigen deutschen Städten tragen ihren Teil dazu bei. Auch wenn viel über das Thema geschrieben, gesendet und debattiert wird, so hat die gesamte Debatte doch einen erstaunlich oberflächlichen Charakter. Hitzig wird dabei über die Symptome (Unterbringung, Asylverfahren, sichere Drittländer, Schleuser) debattiert, während die Ursachen von Flucht und Vertreibung geflissentlich ignoriert werden. Nicht der Schutz der flüchtenden Menschen in ihrer Heimat, sondern der Schutz vor den Flüchtlingen scheint hier das treibende Motiv zu sein. Dies setzt sich bis in rechtliche Fragen fort. Kein Wunder, schließlich wurden die diesbezüglichen Gesetze auf Basis der Erfahrungen des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit geschaffen und seitdem massiv ausgehöhlt – für die heutige Situation sind diese Gesetze weder gemacht noch gedacht. Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Die selbstauferlegte Unfähigkeit der Debatte fängt bereits bei Begrifflichkeiten an. Von was sprechen wir eigentlich? Von Asylanten? Asylbewerbern? Oder Flüchtlingen? Der Asylbegriff des deutschen Rechts ist ein Kind der Periode des Zweiten Weltkriegs und der Zeit des Kalten Kriegs. Unter „Asyl“ versteht das Recht eine politische oder religiöse Verfolgung durch den Staat. Von den mehr als 136.000 Entscheidungen über Asylanträge im Zeitraum von Januar bis Juli dieses Jahres erfüllte nur rund ein Prozent (1.319 Fälle) diese strenge Definition. Kein Wunder – wer beispielsweise von marodierenden Banden, Warlords oder Milizen verfolgt wird, wird nun einmal nicht staatlich verfolgt und hat dementsprechend nach der in Deutschland gültigen Definition auch kein Anrecht auf Asyl. Wesentlich höher ist die Anerkennungsrate für „Flüchtlinge“. Darunter fallen laut Genfer Flüchtlingskonvention allgemein Personen, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden. Mehr als jeder dritte Asylantrag (48.101) wurde im genannten Zeitraum mit einer Rechtsstellung als Flüchtling positiv beschieden – praktische Unterschiede zur Anerkennung als Asylberechtigten gibt es dabei kaum. Hinzu kommen positive Feststellungen unter „subsidiären Schutz“ (785 Fälle) oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes (1.132 Fälle) – in beiden Fällen werden die Antragssteller weder als asylberechtigt noch als Flüchtling anerkannt, eine Abschiebung wird jedoch auch nicht vorgenommen, da man ansonsten Leib und Leben des Antragsstellers gefährden würde. Diese „geduldeten“ aber nicht anerkannten Flüchtlinge genießen jedoch auch weniger Rechte als anerkannte Flüchtlinge – sie dürfen beispielsweise weder frei reisen noch ohne Sondergenehmigung arbeiten. Was ist ein Flüchtling? Der juristische Flüchtlingsbegriff unterscheidet sich also fundamental vom allgemeinen Sprachgebrauch. Eine Person, der in einem Krieg oder Bürgerkrieg das Dach über dem Kopf weggebombt wurde und die ganz akut um ihr Leben fürchten muss, die aber nicht konkret politisch oder religiös verfolgt wird, ist weder nach deutscher, noch internationaler rechtlicher Definition ein „Flüchtling“ und wird daher selbst im besten Falle in Deutschland nur geduldet, aber nicht als Flüchtling anerkannt. Das hat natürlich seinen Grund. Das deutsche Asylrecht, das später durch EU-Richtlinien um die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention ergänzt wurde, war nie dafür gedacht, größeren Mengen von Kriegsflüchtlingen einen Schutz zu bieten. Das Gesetz ist stattdessen für Einzelfälle ausgelegt – wie z.B. politische Dissidenten aus Osteuropa während des Kalten Kriegs. Schon an der ersten echten Belastungsprobe während des Bürgerkriegs in Jugoslawien in den frühen 1990ern scheiterte das deutsche Asylrecht kläglich. Das ist ja auch kein Wunder. Warum muss beispielsweise heute jeder Flüchtling aus Syrien einzeln belegen, aus welchen Gründen er Schutz benötigt? Es sollte doch Allgemeingut sein, dass Menschen, die aus einem vom Krieg überzogenen Land nach Deutschland fliehen, automatisch und ausnahmslos schutzbedürftig sind. Warum werden diese Menschen stattdessen in das Asylverfahren gedrängt, das ja zweifelsohne diese konkrete Situation nicht vorhergesehen und geregelt hat? Nach der Flüchtlingswelle zu Beginn der 1990er reformierten Deutschland und die EU ihre Asylgesetzgebung. Auch hier stand jedoch nicht der Schutz der Flüchtlinge, sondern der Schutz vor den Flüchtlingen im Mittelpunkt. So führte Deutschland beispielsweise die Definition von sicheren Drittstaaten und sicheren Herkunftsländern ein. In einem Europa ohne Grenzen gilt seitdem nur noch der Mensch als berechtigt, einen Antrag auf Asyl zu stellen, der direkt aus einem unsicheren Land nach Deutschland eingereist ist. Da wir aber bekanntlich von sicheren Ländern umzingelt sind, heißt dies de facto, dass sich nur noch an deutschen Flughäfen eine Anlaufstelle für Asylbewerber befindet. Ein Kriegsflüchtling aus Syrien kommt aber nicht mit einem Direktflug aus Damaskus, ein politisch Verfolgter aus dem Iran wird keine Ausreisegenehmigung über den Teheraner Flughafen bekommen und Wirtschafts- und Sozialflüchtlinge kommen in der Regel auch nicht über einen Linienflug ins Land. Der deutschen Politik kam dies natürlich sehr gelegen – seit Einführung der Sicheren-Drittstaaten-Regelung gingen die Zahlen der Asylanträge in Deutschland massiv zurück. Gibt es sichere Herkunftsländer? Um zusätzlich noch Asylanträge aus Ländern, die nach Sicht der deutschen Regierung als sicher gelten, zu minimieren, führte man zusätzlich noch die Regelung der sicheren Herkunftsländer ein. Die Idee dahinter – wer aus einem Land kommt, in dem niemand politisch oder religiös verfolgt wird, dann wird sein Antrag auf Asyl ohnehin negativ bewertet. Das Recht auf Asyl ist jedoch ein durch das Grundgesetz abgesichertes Individualrecht. Selbst einige wenige Franzosen und Italien versuchen Jahr für Jahr in Deutschland Asyl zu beantragen – freilich ohne dass dies eine Aussicht auf Erfolg hätte. Im letzten Jahr erklärte Deutschland nach langer Debatte nun auch die Westbalkan-Staaten Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien als „sichere Herkunftsländer“. Was auch immer sich die Bundesregierung dabei gedacht haben mag, als „Erfolg“ taugt dieses Beispiel nicht. Aus allen drei Staaten hat sich die Zahl der Erstantragsteller im Asylverfahren in diesem Jahr gegenüber dem letzten Jahr erhöht. Und so fürchterlich „sicher“ sind diese Länder auch nicht. Auch wenn fast alle Antragssteller abgewiesen wurden, so wurden doch in diesem Jahr immerhin sechs Mazedonier von deutschen Gerichten offiziell als Flüchtlinge anerkannt und 25 Antragssteller aus Serbien und Mazedonien genießen dank des Abschiebungsverbots eine Duldung, da sie im Falle der Abschiebung eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit befürchten müssten. Ein Vergleich mit Frankreich oder Italien verbietet sich also hier. Und auch aus Albanien und dem Kosovo, die in letzter Zeit immer gerne als „sichere Herkunftsländer“ ins Spiel gebracht werden, kommen regelmäßig auch Flüchtlinge, die hierzulande gerichtlich als Flüchtlinge anerkannt werden oder subsidiären Schutz genießen. Es handelt sich hierbei fast ausschließlich um Angehörige der Roma, die nicht nur in den den Folgerepubliken Jugoslawiens, sondern auch in den EU-Staaten Slowakei und Ungarn systematisch unterdrückt werden. Dennoch wäre es unsinnig, die hohe Zahl der Flüchtlinge aus dem Westbalkan nun anhand der wenigen anerkannten Roma zu rechtfertigen. Die sogenannte „Gesamtschutzquote“, also die Zahl der Asylbewerber, die entweder als Asylbewerber oder Flüchtlinge anerkannt werden oder nicht abgeschoben werden dürfen, liegt für alle Balkanstaaten bei unter 0,3% – auf jeden anerkannten oder geduldeten Flüchtling kommen also rund 300 Flüchtlinge, die weder anerkannt noch geduldet werden. Man ist sicher kein Rechtspopulist, wenn man hier folgert, dass es sich um Personen handelt, die primär aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen die Flucht antreten. Das ist menschlich absolut verständlich und sollte gerade von Deutschland, das aus mehreren Gründen für diese Situation mitverantwortlich ist, auch gar nicht hämisch hervorgehoben werden. Man muss jedoch auch deutlich anerkennen, dass das deutsche und das EU-Asylrecht keine wirtschaftlichen oder sozialen Gründe für eine Flucht anerkennt und die armen Menschen auf Basis der geltenden Gesetze keinen Schutz in Deutschland zu erwarten haben. Und wie bei vielen anderen Problemen in diesem Zusammenhang gibt es auch hier keine einfache Lösung. Schnellere Verfahren wären natürlich aus bürokratischer Sicht ein Segen – da es aber unter den vielen Antragstellern auch Personen gibt, die von den Gerichten anerkannt werden, ist eine genaue Fallprüfung nach dem durch das Grundgesetz garantierte Recht auf Asyl zwingend nötig. Ein einfaches „Du kommst aus dem Kosovo und daher darfst Du kein Asyl beantragen“ ist nicht möglich. Es wäre natürlich auch sinnvoll, einen Teil des Asylverfahrens in diese relativ sicheren Länder zu verlagern: Warum sollten die Verfahren beispielsweise nicht an den deutschen Botschaften in Pristina oder Tirana verhandelt werden? Aber auch in diesem Falle müssen deutsche Gerichte tätig werden, wenn der Antragsteller die Möglichkeiten vor Ort nicht nutzt. Sämtliches Herumdoktern an den Symptomen bringt streng genommen gar nichts. Die Einführung der „sicheren Herkunftsländer“ hat die Gerichte beispielsweise für jeden einzelnen Fall um ganze 10 Minuten Arbeitszeit erleichtert – wenn man die steigenden Fallzahlen betrachtet, ist dies noch nicht einmal ein Teilerfolg. Flüchtlingsabwehr – die Strategie der EU Wesentlich dramatischer ist die Bekämpfung der Symptome dort, wo es um Leib und Leben der Flüchtlinge geht. Bis Ende Oktober 2014 betrieb die italienische Marine beispielsweise ein Programm namens „Mare Nostrum“, das ganz darauf ausgerichtet war, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu retten. Damit ist seitdem Schluss. Unter dem Banner der EU-Mission Frontex wird seitdem die Operation „Triton“ umgesetzt, deren Ziel nicht mehr die Rettung, sondern die Abwehr der Flüchtlingsboote ist. Ziel ist es, die oft kaum seetüchtigen Schlepperschiffe zur Umkehr auf hoher See zu bewegen. Eine Seenotrettung wird nur noch dann vorgenommen, wenn sich das betreffende Schiff innerhalb der 30-Seemeilen-Zone vor der italienischen Küste befindet. Ansonsten lässt man die Schiffe halt kentern – jeder ertrunkene Flüchtling belastet schließlich nicht mehr die europäischen Aufnahmesysteme. So zynisch und menschenverachtend kann europäische Politik sein. Nur dass dann bitte niemand auf die Idee kommt, von den gemeinsamen europäischen Werten zu schwadronieren. Die Regelung der „sicheren Drittstaaten“ hat dazu geführt, dass vor allem die Länder mit EU-Außengrenzen ein massives Problem haben. Und dazu gehören nun einmal aus geographisch naheliegenden Gründen vor allem das ohnehin arme Ungarn und die unter Sparkuratel stehenden Staaten Griechenland und Italien. Dabei leuchtet es jedem ein, dass die EU ihre Verantwortung nicht auf diese Staaten abschieben kann. Eine echte Regelung, wie in der Zukunft mit Flüchtlingen umzugehen sei, ist jedoch immer noch in weiter Ferne. Staaten wie Polen oder Großbritannien wehren sich ganz massiv gegen ein angedachtes und dringend nötiges Verteilungssystem, bei dem neben der Bevölkerungszahl auch die wirtschaftliche Kraft der Staaten berücksichtigt wird. Zumindest in puncto Polen könnte sich jedoch schon bald ändern, wenn die wirtschaftliche und soziale Lage in der Ukraine implodieren sollte. Denn dann ist Polen der EU-Staat, der wohl die meisten Flüchtlinge direkt aufnehmen und versorgen müsste. Ursachenforschung – ein Differenzierung ist nötig Aber auch das sind natürlich nur die Symptome. Kommen wir also endlich zu den Ursachen. Denn wer sich über eine steigende Zahl von Flüchtlingen beschwert, der sollte tunlichst die Symptome hintanstellen und sich auf die Ursachen konzentrieren. Und hier muss man schon differenzieren, denn Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling und es gibt natürlich einen Unterschied zwischen Kriegsflüchtlingen und Menschen, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen verlassen. Das Gros der Flüchtlinge, die Deutschland in diesem Jahr erreicht haben, kommt aus Krisenregionen, in denen Krieg und Vertreibung herrschen. Die meisten Flüchtlinge kommen dabei aus Syrien, einem ehemals vergleichsweise sicheren Land, in dem seit 2011 ein immer blutigerer Bürgerkrieg tobt, an dem die Außen- und Sicherheitspolitik der NATO eine gehörige Mitverantwortung trägt. Ähnlich sieht es mit dem Irak und mit Afghanistan aus. Auch aus diesen Ländern würden wohl nur wenige Flüchtlinge ihren Weg nach Europa suchen, hätten die USA und einige europäische Staaten nicht den Zauberlehrling gespielt und Kriege angezettelt, die die ganze Region in ein Pulverfass verwandelt haben. Es ist daher mehr als müßig, sich über die Symptome zu unterhalten, wenn doch die Ursachen für Flucht und Vertreibung von uns geschaffen wurden. Man kann nicht ernsthaft über die Flüchtlingssituation in Deutschland debattieren und gleichzeitig immer mehr Waffen in die Nahostregion liefern, wie es Sigmar Gabriel so gerne tut. Die Regel ist simpel – je mehr Krieg und Vernichtung in diesen Krisenregionen herrscht, desto höher wird auch langfristig die Zahl derer sein, die sich auf den Weg nach Europa machen. Wer die Zahl der Flüchtlinge reduzieren will, der muss die Ursachen der Flucht bekämpfen, der muss dafür sorgen, dass laufende Kriege beendet werden und keine neuen Kriege ausbrechen. Die Interventionspolitik der NATO steht jedoch für das exakte Gegenteil. Sollte sich – wovon leider auszugehen ist – diese Politik nicht diametral verändern, wird auch die Zahl der Flüchtlinge kontinuierlich steigen. Wie ein friedensstiftende Politik genau aussehen könnte und welchen Anteil Deutschland dazu beitragen könnte, ist freilich eine sehr komplexe Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Um überhaupt Antworten zu finden, muss das Problem als solches jedoch erst einmal erkannt werden. Und bereits hier hapert es. Solange die Politik nur an den Symptomen herumdoktert und die Ursachen für Flucht und Vertreibung noch nicht einmal benennt, wird der Flüchtlingsstrom auch nicht abebben. Wirtschaftsflüchtlinge – auf verlorenem Posten Ähnlich verhält es sich bei den sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“. Je nach Definition trifft dieses Attribut auf rund die Hälfte bis zu zwei Drittel aller Flüchtlinge zu, die Deutschland erreichen. Diese Differenzierung hat wohlgemerkt nichts mit „guten“ und „schlechten“ oder „echten“ und „falschen“ Flüchtlingen zu tun. Jeder Mensch, der aus der blanken Not oder aus nicht vorhandenen Perspektiven heraus seine Heimat verlässt, ist ein „echter“ Flüchtling. Nur die Gesetze sehen dies nun einmal anders. Das deutsche Asylrecht und auch die Genfer Flüchtlingskonvention sind – wie bereits ausgeführt – nun einmal nicht für den kosovarischen oder nigerianischen Armutsflüchtling gedacht und greifen bei wirtschaftlichen und sozialen Fluchtmotiven schlichtweg nicht. Daher macht es auch gar keinen Sinn, diese Flüchtlinge in der EU in ein Asylverfahren zu pressen, bei dem die Anerkennungsrate gegen Null geht und schlussendlich im „besten“ Fall eine Duldung herausspringen kann. In seinem gestrigen Gastartikel für die NachDenkSeiten schreibt Christoph Butterwegge, „Migration [sei] ein Menschenrecht“. Das hört sich zwar schneidig an, kann jedoch keine ernsthafte Diskussionsgrundlage sein. Natürlich hat jeder Mensch ein Recht auf Flucht, aber nicht jeder Staat hat die Pflicht, jeden Migrationswilligen aufzunehmen. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um dies zu verstehen. Aus wirtschaftlichen, sozialen und meist sogar humanitären Gründen hätte nahezu der gesamte globale Süden ein Motiv, in den globalen Norden auszuwandern. Und diese Wanderungsbewegungen finden ja auch statt – von Lateinamerika in die USA, von Afrika und Nahost nach Europa und von den armen Staaten Südostasiens nach Australien und in die „Tigerstaaten“ der Region. Auch wenn es menschlich sicher wünschenswert wäre, wenn die „reichen“ Staaten sämtliche Migrationswilligen aufnehmen würden, so ist dies weder wirtschaftlich noch sozial möglich. Eine dauerhafte Flüchtlingsabwehr, beispielsweise durch Zäune, Mauern und Seepatrouillen ist jedoch auch weder möglich noch sinnvoll. Wer die Flüchtlingsströme reduzieren will, kommt auch hier nicht drum herum, die Ursachen von Flucht und Vertreibung ernsthaft zu bekämpfen. Weder die Armut in Afrika, noch die Chancenlosigkeit auf dem Balkan sind vom Himmel gefallen, sondern direkte Folge einer falschen Politik; einer Politik, die auf Freihandel und die Konkurrenz von Volkswirtschaften setzt und bei der Regionen, die eine geringere Produktivität aufweisen, nicht einmal die Chance bekommen, sich zu entwickeln. Siehe dazu: Jens Berger – Afrikas Flüchtlinge, Afrikas Probleme und unsere Verantwortung Auch die hohen Zahlen von Flüchtlingen aus dem Kosovo und Albanien sind direkte Folge einer falschen auf fragwürdigen Ideologien basierenden Wirtschaftspolitik, die auch und vor allem von der Europäischen Union diktiert wird. Es ist daher politisch auch opportun, Menschen, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen diese Region verlassen wollen, aufzunehmen. Das Asylrecht bietet dazu jedoch keine Möglichkeit und solange sich Deutschland sperrt, eine Integrationspolitik anzunehmen, die diesen Namen auch verdient, ist dies ohnehin eine recht abstrakte Debatte. Was tun? Wie groß die Zahl der Flüchtlinge ist, die unsere Volkswirtschaft aufnehmen und – was noch wichtiger ist – integrieren kann, hängt jedoch auch und vor allem von den eingesetzten Mitteln ab. Und hier sind keine Sonntagsreden gefragt, sondern sehr konkrete politische Ansätze, wie Sprachkurse, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen und Integrationskurse. Parallel dazu ist es jedoch unerlässlich, die Ursachen für Armutsmigration ernst zu nehmen und zu bekämpfen. Solange die Menschen in Mexiko, Albanien, Nigeria oder Myanmar keine Perspektive sehen, wird ein Teil von ihnen immer jeden Weg auf sich nehmen, um in die „gelobten Länder“ des Nordens zu flüchten. Daran können weder Zäune, noch Einwanderungsquoten etwas ändern. Wir müssen endlich begreifen, dass wir ein Einwanderungsland sind. Natürlich ist Einwanderung keine Bedrohung, sondern eine Chance. Diese Chance muss jedoch auch begriffen und ergriffen werden. Und davon ist momentan in der Politik nichts zu spüren. Wer alle Flüchtlinge zusammenwirft und auf Basis des dafür komplett ungeeigneten Asylrechts einem sinnlosen Verfahren zuführt und sie dann wahlweise aufnimmt, duldet oder abschiebt, ohne gleichzeitig größte Anstrengungen für eine sinnvolle Integration zu unternehmen, hilft damit schlussendlich niemanden. Was wir dringend benötigen ist … Seien wir ehrlich – von allen diesen Punkten ist die aktuelle Politik meilenweit entfernt. Man betreibt nur sehr ungerne Ursachenforschung. Es wird so getan, als seien die Kriege und wirtschaftliche Not einfach vom Himmel gefallen und stürzt sich stattdessen auf das vermeintlich schwächste Glied der Kette: die sogenannten Schlepper, gerne auch Schlepperbanden. Geradeso als seien die Schlepper dafür verantwortlich, dass in Syrien der Krieg oder in Afrika die Armut wütet. Das Thema „Flüchtlinge“ wird uns noch lange begleiten – ob wir dies wollen oder nicht. Bildnachweis: Die Grafiken wurden vom Katapult-Team für die NachDenkSeiten erstellt und unterliegen, wie die Texte der NachDenkSeiten auch, keinem Copyright, sondern Creative Commons 2.0. | Jens Berger | 800.000 Flüchtlinge sollen laut Schätzungen der Bundesregierung in diesem Jahr in Deutschland eintreffen. Auch wenn diese Zahl möglicherweise übertrieben ist – in den ersten sieben Monaten dieses Jahres haben „nur“ 218.221 Personen Asyl beantragt –, so ist das Thema doch in aller Munde. Regelmäßige Hiobsbotschaften über schreckliche Todesfälle auf den Fluchtruten und offene Ablehnung und Gewal ... | [
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Leserbriefe zu „Impfen: Der Druck auf Kinder und Arbeitnehmer wird erhöht“ | In diesem Beitrag werden zwei Texte mit Bezug zur Impfung kommentiert. So hat zum einen der Deutsche Ärztetag u.a. verkündet, dass „Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern“ die „gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe“ zurückerlangen könnten. Zum anderen hat der Präsident des Amtsgerichtes Leipzig ungeimpften Mitarbeitern mit Nachteilen gedroht. Tobias Riegel gibt dem Richter in dem Punkt recht, in dem dieser schreibt, dass „wir absehbar auf eine Zwei-Klassen-Gesellschaft“ zulaufen. Das Thema beschäftigt auch unsere Leserschaft. Danke für die E-Mails. Es folgt eine Auswahl der Leserbriefe. Zusammengestellt von Christian Reimann.
1. Leserbrief Werter Herr Riegel! Die Katze war schon aus dem Sack, als Spahn davon sprach, dass es keine Impfpflicht geben wird! Aber!! Nichtgeimpfte müssen mit Nachteilen im öffentlichen Leben und am Arbeitsplatz rechnen. Mir war nach dieser Äußerung sofort klar, welch perfides Spiel hier abläuft. Der Staat resp. die aktuellen Vertreter wird sich davor hüten, eine Impfpflicht einzuführen. Das Risiko für entstehende Folgen durch Nebenwirkungen in Haftung genommen zu werden, ist den Herrschaften zu groß. Um nicht wieder auf einem Berg von Impfstoffen sitzen zu bleiben (Wie, nach der “Vogel- und Schweinegrippe”!) hat man diesmal von Anfang an die Medien eingespannt und eine flächendeckende dauerhafte Angst- und Panikpropaganda betrieben. Diese Kampagne zeigt nach über einem Jahr ihre Wirkung. Ärzte trauen sich – im Gegensatz zur Schweine- und Vogelgrippe – nicht mehr ihren Patienten von der Impfung abzuraten. Welches mit ein Grund für die tonnenweise Vernichtung von überflüssigen, übereilt eingekauften Impfstoffen und damit hunderten von Millionen Steuergeldern gewesen ist. Man hat durch die dauerhafte Medienpropaganda den Rahmen der Debatte um die Gefährlichkeit von Corona drastisch verengt. Es ist kaum möglich über Sinn und Zweck von Maßnahmen und Impfung (Welche der letzte und einzige Ausweg zur Beendigung dieser “Pandemie” sind?) vorbehaltlos zu debattieren. Das Narrativ zu Corona darf nicht infrage gestellt werden! Wer es dennoch tut, wird an den Pranger der Medien gestellt und ist zum Abschuss frei gegeben. Unsere Zeit erinnert immer mehr an mittelalterlichen Dogmatismus zurzeit der Hexenverfolgung oder der spanischen Inquisition. Bestes Beispiel dafür ist die völlig abgehobene und intransparente Art und Weise, über welche nun die Impfung für Kinder durch gesetzt werden soll. Trotz besseren Wissens und Zahlen, welche darauf hinweisen, dass von Kindern und Jugendlichen kaum Gefahr ausgeht, wird hier massiv Druck auf Familien ausgeübt und die Stimmungsmache um die Impfung soll bewusst zur weiteren Spaltung der Gesellschaft beitragen. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein mehr als perfides Spiel, was hier von Politik und Medien aufgeführt wird. Perfide deshalb, weil man den Schutz der Gesundheit aller Bürger als Vorwand für diese “alternativlosen” Maßnahmen angibt. Wie wichtig der Schutz der Bürger unseren “Volksvertretern” ist, soll jeder für sich selbst entscheiden. Auf mich wirkt diese Argumentation nicht glaubhaft! Als letztes Rädchen im Getriebe der Coronamaßnahmen, greifen nun Konzerne, Firmen, Betriebe und Einrichtungen des öffentlichen Dienstes in das Räderwerk ein. Um eine flächendeckende Impfung zu bekommen, werden sie an ihre Mitarbeiter herantreten und ihnen die Impfung nahe legen (Natürlich auf freiwilliger Basis!). Sollte Frau / Mann diese “Empfehlung” nicht berücksichtigen, werden Maßnahmen ergriffen. Wie diese dann im Einzelnen aussehen werden, ist der Fantasie der Arbeitgeber überlassen. Sie, Herr Riegel, haben in ihrem Beitrag ein Beispiel angeführt. Summasummarum können sich die Verantwortlichen bequem zurücklehnen und zuschauen, wie der “Souverän” sich selber erzieht. Man kann seine Hände in Unschuld waschen, denn den Zwang zur Impfung gibt es “offiziell” nicht. Was der Arbeitgeber anweist, ist eine interne Angelegenheit, aus der sich der Staat heraus hält. Mittlerweile haben wir einen Punkt erreicht, an welchem Gesetze und Maßnahmen herrschen, welche zur “Normalität” für viele geworden sind. Besorgte Bürger welche vor Monaten davor warnten, dass ein Zustand der Rechtlosigkeit, Überwachung und eine Spaltung der Gesellschaft angestrebt wird, wurden damals von Politik, Medien und vielen Gläubigen als Spinner und Verschwörungstheoretiker abgetan. Mittlerweile hat die Dauerpropaganda der Medien zu einer umfassenden “Gehirnwäsche” bei großen Teilen der Bevölkerung geführt. Die dunklen Visionen einiger Verschwörer und Schwarzseher wurden von der Realität eingeholt und die Masse ist so manipuliert das sie nicht einmal dies sieht geschweige denn realisiert, wie sie freiwillig ihre Rechte abtritt. Mit frdl. Grüßen Ralf Matthias 2. Leserbrief Liebes Leserbriefeteam, lieber Tobias Riegel, Sie selber sehen, dass die politische Lage äußerst vertrackt ist, selbst wenn Sie immer wieder betonen, dass Sie grundsätzlich kein Impfgegner sind. Wir alle dürfen Impfgegner sein, laut GG dürfen wir das und ich nehme dieses Recht auch wahr. Meiner Meinung darf sich jeder der will, alle Impfungen in seinen Körper jagen lassen. Die Gesellschaft ist ja seit Jahrzehnten auf Pillen abgerichtet und gerne werden sie geschluckt. Die Pharmaindustrie boomt. Aber das sich nun noch Arbeitgeber in dieses unsaubere Spiel einklinken und mitbestimmen wollen, wie Gesundheit auszusehen hat, was diese Impfungen angeht, macht mich schon sehr ärgerlich und auch fassungslos. Und dann der “Deutsche Ärztetag!” Gibt auch noch seinen diabolischen Senf dazu:”Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erlangen Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern zurück.“ War da nicht was, dass wir unsere Grundrechte von Geburt an HABEN und sie uns nicht großzügig gewährt werden können, wenn wir brav sind? Merkt denn keiner, dass diese deutsche Corona-Politik auf einen “Zug aufgesprungen” ist, der schon einmal durch Deutschland gerollt ist, als es hieß: Alles Kranke ist Last? Und was hat sich die Medizin überschlagen und auch die Propaganda, alles “Kranke” mit Stumpf und Stiel auszumerzen?! Sie haben es gründlich gemacht. Hebammen, Krankenschwestern, meistens noch kirchlich und dann die braunen Schwestern und die Ärzteschaft! Akribisch haben sie Säuglinge, Alte und Kranke ausgesondert und ab in die Euthansie. Sie dachten sich nichts dabei. Alles war so normal, weil es als richtig dargestellt wurde, dass alte und kranke, auch Kinder und Säuglinge den Eltrern vom Wickeltisch geholt werden konnten um umgebracht zu werden! Sie alle wurden gesucht und gefunden, weil Nachbarn brav und konform sein wollten und natürlich gelobt werden wollten und manche Mütter verraten haben. Die Väter waren ja im Krieg! Ich erinnere noch, wie ich als junge Krankenschwester auf dem Land einen Behinderten versteckt in einem Keller gesehen habe…der Krieg war vorbei – und dennoch konnte die Familie sich nicht entscheiden, ihn an die Luft zu lassen. Alle hätten ja dann gewusst, dass sie ihn versteckt hatten… Als die Hebammen hier vor einiger Zeit in die Enge geraten waren, weil die Versicherungssummen so hoch wurden, dass sie aufgeben mussten, insbesondere was Entbindugen angeht. Das haben sie gelernt! Und ich fragte mich nach dem Sinn. Sie waren frei und unterstanden nicht dem Staat. Diese Hebammen waren in der Nazizeit schon eine latente Gefahr. Haben sie alle kranken Säuglinge gemeldet? Nun hat man Kontrolle über sie. Sie dürfen Nachsorge betreiben, soweit ich das manchmal höre. Alles andere spielt sich in Krankenhaus und Klinik ab. Nun macht man das eleganter. Impfungen! Hurra! Deutschland hat Impfungen und macht das, was es am besten kann – immer noch! Macht, Gewalt und Zwang ausüben für die Gesundheit des deutschen Volkes – oder die Grundrechte sind futsch! Deutschland kann nicht anders! Ein Blick nach Schweden und andere europäischen Länder zeigt, dass alle weit davon entfernt sich so aufzublasen und gewalttätig auf die Menschen einzuwirken, wie das Deutschland macht! Alles im Namen der Gesundheit! Die ganze Sprache ist seit einem Jahr eine Gewaltsprache, eine Kriegssprache. Etwa: Wir müssen dieses Virus besiegen! bedeutet Krieg gegen ein Virus zu führen, was in realitas gar nicht möglich ist, gemeint sind die Menschen, die daran erkranken, denn sie kosten den Arbeitgebern Geld. Die 2. und 3. Wellen sind die Panzerwellen die gemeint sind, wie im 2. WK. Ebenso auch das Wort “Wellenbrecher” kommt aus der Kriegssprache. In Deutschland herrscht ein Gesundheitskrieg. Krankheit muss ausgemerzt werden und wer sich gegen die Impfung verweigert ist ein Volksfeind, der will, dass das Volk nicht kriegstauglich ist. Kranke Soldaten, sind schlechte Soldaten. Kranke Menschen kosten Geld! Wir sehen doch, wie die Krankenkassenbeiträge steigen und steigen und die Menschen immer mehr zubezahlen müssen zu ihren Behandlungskosten und die Renten sinken, damit diese Kosten nicht mehr bezahlt werden können! So wird unauffällig eliminiert. Die Ärzteschaft – sicher nicht insgesamt – schreit nach KRIEG, einem Schein-Krieg, gegen eine Grippewelle, vom Corona-Virus ausgelöst und die Politik hat wiedereinmal willige Helfer, um die Bevölkerung auf Linie zu bringen. Und die Juristen, Gott sei Dank nicht alle, reihen sich wieder einmal ein und werden Steigbügelhalter für eine Diktatur die sich mit Gesundheit und Fürsorge tarnt. Deutschland ist kein Land der Dichter und Denker. NIe in Gänze gewesen! Deutschland ist ein Land der Richter und Henker und fühlt sich in der EU überlegen! Immer noch soll am “deutschen Wesen die Welt genesen, dieses Mal mit den USA.” Die kennen ja die Nazi-Ideologie in und auswendig….auch als Vorbild gedacht. Beste Grüße, lieber Herr Riegel.
Karola Schramm 3. Leserbrief Zum Schlimmsten überhaupt gehört, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben.
Bei Corona ist dies im Unterschied zur Spanischen Grippe nicht der Fall.
Laut Stellungnahme der Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) vom 21. April 2021 sind seit März 2020 vier Menschen unter 20 Jahren an COVID-19 gestorben. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren neun an Grippe gestorben und zum Vergleich dazu 25 ertrunken. Wir haben unsere Kinder über viele Monate massiv eingeschränkt, Gleichaltrige zu treffen – soziale Orte wie Spielplätze, Zoos, Sportstätten, Schulen und dergleichen wurden geschlossen. Begründung: Kinder sollen nicht den etwaigen Tod ihrer Großeltern verschulden.
Jetzt, wo die Großeltern geimpft sind, sollen Kinder nicht den Tod ihrer Eltern verschulden. Nachdem die Eltern geimpft sein werden, sollen die Kinder geimpft werden. Solange Kinder ungeimpft sind, sollen sie ihre Eltern auf Urlaubsreisen nicht begleiten dürfen. Der deutsche Ärztetag verlautbart am 5. Mai: „Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erlangen Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern zurück.“ Das zwei Milliarden schwere „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“ soll den Abbau „pandemiebedingter Lernrückstände“ sicherstellen. Anstatt unseren Kindern die Ferien zu gönnen, sollen sie pauken – aufholen statt erhohlen. Dies verstehe ich als Invest in das Humankapital “Kind” (Unsere Kinder müssen später sowohl die Corona- und Klimakosten als auch die Renten bezahlen.) und nicht als Kinderförderung. Oder geht es der Politik vor allem um den internationalen Vergleich? Wie gedenkt man mit den Kindern umzugehen, denen es nicht gelingt, Lernrückstände aufzuarbeiten?
Ich empfinde all dies als empathielos und es erfüllt mich mit Scham unseren Kindern gegenüber. Stefan Eichardt PS: Es ist gut möglich, dass ein internationaler Vergleich, was Schulschließungen und Lernrückstände angeht, für Deutschland nicht so prickelnd ausfiele. Daher halte ich es für denkbar, dass der „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“ vor allem diesem und einen damit einhergehenden etwaigen Gesichtsverlust und weniger einem wie auch immer gemutmaßten Kindeswohl geschuldet ist. Quarks hat am 10. Mai auf Twitter gepostet, dass es 4 COVID-Todesfälle auf 100.000 Kindern (<20 Jahre) gebe. Witzigerweise erfährt diese Angabe keinen Widerspruch, wobei sie ja schon bei basaler Hirnaktivität von sich aus Fragen aufwirft – alleine, wie sie denn ermittelt worden sein kann und zu verstehen ist. Die DGPI wiederum spricht am 21. April von 4 Toten absolut – die Bundesregierung auf Anfrage der FDP (Drucksache 19/28021) am 12. April von 11 Toten und 385022 PCR-Positiven im Alter von unter 20 Jahren. Des Rätsels Lösung ist, dass das RKI jeden mit positivem PCR-Test als COVID-Toten zählt und die DGPI diejenigen als COVID-Toten zählt, wo COVID als Todesursache diagnostiziert worden ist. Die Zahlenangabe von Quarks lassen sich nur wie folgt daraus ableiten. Quarks hat einen Daumenwert genommen und 385022 auf 400.000 aufgerundet und 11 Tote auf 12 Tote. Das ergäbe dann besagte 4 Tote auf 100.000 – was übrigens einen CFR-Wert von 0,004% entspräche! Die Aussage von Quarks “4 Todesfälle pro 100.000 Kinder und Jugendliche” ist in der Form irreführend – sind sich aber nicht zu schade, im gleichen Zuge wissenschaftliche Genauigkeit vorzugaukeln, in dem sie in einer Fußnote suggerieren, dass die Zahl noch etwas höher liegen könne. Bei unbedarften Lesen kommt man dann zu so einer Schlussfolgerung wie hier dass ungeimpft am Ende 551 Menschen <20 Jahre an COVID gestorben sein werden.
4. Leserbrief Hallo Herr Riegel, Eine mehr als bedenkliche Richtung in die sich unsere Gesellschaft in beschleunigtem Tempo bewegt. Es ist bezeichnend, dass staatliche bzw. staatsnahe Arbeitgeber sich in dieser Sache besonders negativ hervortun. Das Menschenbild, das z.B. der zitierte Gerichtspräsident hier offenbahrt halte ich für katastrophal, für eine Person mit Personalverantwortung m.E. nach untragbar. Es ist leider die Reduktion eines jeden Menschen auf die Rolle eines potentiellen “Gefährders”. Eine Rolle, die schleichend im Kontext der Terrorismusbekämpfung eingeführt wurde, mit der Pandemie aber breite Anwendung findet. Das ist Unmenschlichkeit in Reinkultur. Als Erwachsener hat mal allerdings immer die Möglichkeit sich im Zweifelsfall z.B. nach einer anderen Arbeit umzusehen. So hart diese Entscheidung ist. Ich kann nur jedem raten sich nicht erpressen zu lassen. Denn eines sollte klar sein. Das ist erst der Anfang! Kindern und ihren Eltern gegenüber ist allein schon die Rethorik unverantwortlich. Ganz offensichtlich wird hier wieder jegliches Maß über Bord geworfen. In dieser Pandemie sind schon viele etablierte Standards über Bord geworfen worden, wie z.B. die Definition von Krankheit, jetzt soll aber ein weiterer, wesentlicher Grundstandard geopfert werden, das Prinzip der Vorsorge. Wonach eine Medizin nicht schädlicher sein soll, als die Krankheit gegen die sie eingsetzt wird. Das gilt umso mehr für Impfungen, die an Gesunden vorgenommen werden! Noch mal zur Erinnerung, bisher wurden die Maßnahmen der Exekutive mit dem Schutz der Risikogruppen begründet. Das Argument scheint jetzt ausgedient zu haben, denn die Risikogruppen werden zu großen Teilen geimpft sein. Anstatt abzuwägen bezieht man sich jetzt formalistisch auf ein ein durch die WHO genanntes, schwammiges Ziel, dessen Erreichbarkeit ohnehin mehr als fragwürdig ist. Ich frage mich wie sich Herdenimmunität bei einem permanent mutierendem RNA Virus einstellen soll? Genau vor diesem Hintergrund werden jetzt schon Wiederholungsimpfungen ins Gespräch gebracht. Das wurden sie im übrigen auch schon zu Beginn der Pandemie, wenn auch viele das nicht mitbekommen haben werden. In einem Interview mit BGM Spahn und dem Vorsitzenden der Apothekervereinigung rutschte letzerem der Satz heraus ” … wenn die Corona-Impfung erst einmal Regel-Impfung ist …”. Wobei Spahn sich beeilte einzuwerfen, der gute Mann soll doch “nicht die Pferde scheu machen”. An einer Stelle möchte ich Ihnen aber deutlich widersprechen, Herr Riegel. Auch für viele Erwachsene wird bei gründlicher Abwägung vieles gegen eine Impfung sprechen. Eine wirkliche Abwägung wird ohnehin erst dann möglich sein, wenn man langfristige Erfahrung mit den eingesetzten, unerprobten Impftechnologien gesammelt hat. Nicht nur was langfristige Impfschäden angeht, sondern auch was die Wirksamkeit angeht. Das sind nach wie vor Impfstoffe mit temporärer Zulassung und laufenden, klinischen Studien. Die Wirksamkeit ist nämlich keineswegs so gesichert, wie man meinen könnte. Eins ist sicher, trotz aller offensichtlichen Versuche das Risiko durch die Krankheit zu überhöhen und das der Impfungen herunterzuspielen, sind schon die kurzfristigen unerwünschten Folgen der Impfung um ein Vielfaches höher, als bei jeder klassischen Impfung. Bis hin zu inzwischen nachgewiesenen Todesfällen, auch in meiner persönlichen Umgebung. In jedem Falle ist und bleibt es eine Entscheidung, die jeder für sich persönlich zu treffen hat. Eine Bemerkung noch zur Grundannahme, auf der das Konzept des potentiellen Gefährders beruht. Es ist die Annahme, dass es sogenannte assymptomatische Fälle gibt. Menschen die äußerlich gesund sind, können andere anstecken. Ursprünglich basiert diese Annahme auf einem Meinungsartikel des Prof. Drosten im Lancet. Er bezog sich dabei auf die Chinesin, welche bei Webasto zur Schulung war. Diese Frau soll allerdings keineswegs symptomfrei gewesen sein, sonder Erkältungssymptome gehabt haben, und Erkältungsmittel genommen haben. Man sollte meinen, dass es nach mehr als einem Jahr der Pandemie hierzu vielfache wisschenschaftliche Studien geben sollte. Sollte es diese nämlich nicht geben, wie einige Fachleute meinen, stünde das ganze Gebäude der Einschränkungen auf ausgesprochen wackligen Füßen. Andrej R. Ich habe eine kleine Anmerkung zu meinem vorhergehenden Leserbrief zu obigen Artikel. Wie auch schon die Nachdenkseiten, habe ich mir die Frage gestellt, warum man bei ausgesprochen fragwürdiger Faktenlage das Risiko großen Widerstands eingeht, indem man die Impfung von Kindern thematisiert. Das viele Eltern sich wehren werden, kann eigentlich als sicher angenommen werden. Vielleicht baut man hier vorausschauend ein Narrativ auf, mit dem sich später den Druck auf impfunwillige Erwachsene erhöhen lässt. Nach dem Motto, wenn schon nicht die Kinder, dann wenigstens alle Erwachsenen. 5. Leserbrief Bei der Deutschen Ärztekammer handelt es sich um die Lobbyvertretung der Ärzte. Entsprechend sind die Beschlüsse sehr stark interessensgeleitet. Ich bekomme sehr stark den Eindruck, dass sich hier die Ärzteschaft ihr großes Stück vom ohnehin schon großen “Covid-Kuchen” sichern möchte. Laut GOÄ (Nummer 375) gibt es für eine herkömmliche Impfung rund 9 Euro Bruttoverdienst, für die Covid-Schutzimpfung sind es pro Injektion schon 20 Euro. Gerade bei der Covid-Impfung sind zwei Injektionen nötig. Eine Imppflicht ist hier natürlich ein willkommener Geldregen. Eigentlich hätte es hier einen Aufschrei aus der Ärzteschaft, in deren Namen hier Beschlüsse gefasst werden, geben müssen. Hat es meines Wissens aber nicht. Die Durchsetzung einer Imppflicht für die gesamte Bevölkerung, dazu ausgerechnet noch mit einem Experimental-Impfstoff, verstößt aus meiner Sicht gegen so ziemlich jede gesundheitliche und ethische Verpflichtung, welche Ärzte haben müssen sowie gegen den Nürnberger Kodex und den Hippokratischen Eid. Denken Sie bei Ihrer nächsten Arztbehandlung daran, was für Ihre Ärztin und für Ihren Arzt im Vordergrund steht! Mit freundlichen Grüßen
von unserem Leser H.S. 6. Leserbrief Liebes NDS-Team zu dem Artikel von Tobias Riegel fallen mir auf Anhieb nur zwei Dinge ein, bin sehr gespannt wie lange es dauert bis auch diesen Ärzten das Wandeln auf Abwegen beschieden wird. Achja und leider drängt sich mir immer mehr dieses kleine Stück Kafka auf: In der Bibel werden des öfteren Trompeten geblasen. Möge sich jeder die aussuchen, die er in der jetztigen Zeit für adäquat hält. Wem das Buch zu dick ist hier mein Fazit: Der innerste Kreis der Hölle ist und bleibt den Lügnern vorbehalten! Viel Glück für die, die dahin müssen. Und viel Ausdauer, Kraft und den Segen Gottes für alle, die das hier auch ohne Impfung aushalten wollen. Mit immer trauriger werdenden Grüßen
Rei Ryu 7. Leserbrief So langsam hat der Wahnsinn Methode. Ich habe mich immer gefragt, wie und warum so viele Richter, Beamte oder Ärzte im 3. Reich mitgemacht haben. Jetzt bekomme ich eine Ahnung davon. Da wird ein ganzes Volk systematisch unter Druck gesetzt und medial erfolgt mit Erfolg eine Gehirnwäsche. Ich hätte nie geglaubt, dass so etwas in so kurzer Zeit möglich ist. “1984” lässt Grüßen. Ich kann nur hoffen (die Hoffnung stirbt zuletzt), dass solche Ärzte, Beamte, Richter und Politiker sich dafür vor Gericht verantworten müssen. Aber die Erfahrung nach 1945 in Westdeutschland lehrt uns etwas anderes.
Da waren alle nur Mitläufer und haben nur Anweisungen und Befehle ausgeführt.
Diesen Satz hört man heute sehr oft. Alleine, dass man auf die Idee kommt, die aktuelle Situation in Deutschland mit der im dritten Reich zu vergleichen, gibt mir schon sehr zu denken. Denke ich an Deutschland in der Nacht… K.K. 8. Leserbrief Sehr geehrtes Team der Nachdenkseiten, von Herzen vielen Dank für die aufschlussreichen Informationen, an die man im Irrgarten des Internets nicht so leicht gelangt. Als Mutter wurde ich bereits bei der Impfdebatte rund um den Masernschutz hellhörig und umso unglaublicher empfinde ich es, wenn nun von Seiten des Deutschen Ärztetages offiziell die Familien in den Würgegriff der Medizinwelt genommen werden sollen. Diese Zeile spricht Bände: „Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erlangen Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern zurück.“ (124. Deutscher Ärztetag – Beschlussprotokoll vom 04. bis 05. Mai)
Neuartige Impfstoffe, die bisher noch keiner Langzeitstudie unterzogen wurden und deren Studien zur sterilen Immunität viele Zweifel an einer seriösen Durchführung aufkommen lassen, sollen nun massenweise unseren Sprösslingen verabreicht werden? Prof Dr. Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, äußerte sich auf der ZM Online unter dem Titel „Wir müssen darüber reden, was die aktuellen Impfstoffe leisten können“ zu Biontec und der nicht erwiesenen sterilen Immunität, die ja der Logik entsprechend wichtig wäre, um den Kreislauf zu unterbrechen. Die Damen und Herren des Deutschen Ärztetages behaupten jedoch, dass durch ein Impfen der Kinder eine Herdenimmunität erreicht werden könne und man dringlichst die Kleinen in den Impfplan aufnehmen solle. Von Kindern als Risikopatienten war nicht die Rede. Wenn jedoch bei den Studien bei Biontec hierzu keine ausreichenden Untersuchungen angestrebt wurden, so kann es doch nicht sein, dass an unseren Kindern Mittel erprobt werden, an denen renommierte Wissenschaftler hinsichtlich deren Langzeitwirkungen auf den gesamten Organismus, Zweifel anbringen müssen. Vom PEI unabhängige Wissenschaftler geben im besagten Artikel an, dass bei Tierversuchen die Lipid-Nanopartikel in der Lage wären, Entzündungsprozesse im Körper anzustoßen. Auch war man von Anfang vorsichtig Schwangere in die Impfstudien einzuschließen. Gerade Kinder, die ihr Leben auf diesem Planeten antreten und von Natur aus viele Schutzmechanismen mitbekommen, sollen nun fleißig dieser ungewissen Wirkungsweise ausgesetzt werden? Ein konventionell hergestellter Masernimpfstoff ist absolut nicht zu vergleichen mit einem mRNA- Impfstoff, der noch zahlreiche Fragen offen lässt. Und dann wäre da noch die Frage nach dem Großkonzern PFIZER. War dieser nicht kürzlich in den Schlagzeilen, da es schwere Komplikationen mit seinem Geburtseinleitungspräparat Cytotec gab und derzeit zahlreiche Verfahren gegen den Konzern laufen? Ich habe den Eindruck als würde sich hier eine aggressive Minderheit gegen das Leben und die Kraft der Natur verschwören. Wie sehr muss ein Mensch von seinen Gefühlen gespalten sein, dass er auch nur ansatzweise auf die Idee kommt, heranwachsendes Leben solch einer Gefahr auszusetzen? Perversion hat bekanntlich viele Gesichter. Hier wird sie deutlich und es teilt sich die Kaste der Mediziner in Spreu und Weizenkorn. Doch das Korn will leben, nach seinem evolutionären Plan und auch wir wollen leben und unser in uns aufkeimendes Leben wachsen sehen, jedes auf seine bezaubernde Art, so dass wir staunen können über die Vielfalt der Erscheinung, die unsere Seele berührt. Wehe dem, der gegen die Naturgesetze handelt! Der reinen Kraft der Natur gilt unsere Achtung und unser ganzes Vertrauen! Julia R. Der ZM-Online-Artikel von Prof. Dr. Ludwig ist beigefügt. 9. Leserbrief Sehr geehrte Damen und Herren!
Seltsam! Das jetzt Kinder in eine unerprobte Impfung mit zahlreichen Toten und Langzeitschäden einbezogen werden sollen hat gewisse Ähnlichkeiten zur deutschen Colonia Dignidad in Chile. Auch dort dienten Kinder als Versuchskaninchen für gewissenlose Ärzte und ihre Helfer. Und unsere Gerichtsbarkeit half das zu verschleiern. Erst weigert sich die deutsche Justiz, Anklage gegen Hartmut Hopp zu erheben. Die Vollstreckung des chilenischen Urteils wird ebenfalls verhindert. Dieser “Arzt” war die frühere Nummer zwei der brutalen Colonia Dignidad in Chile. Hopp leitete die Klinik der Kolonie und soll Kontakte zu Pinochet und dessen Geheimdienst gepflegt haben (siehe Sueddeutsche 07.05.2019 “Deutsche Justiz stellt Ermittlungen gegen früheren Sektenarzt ein”). Dieses Unrechtsregime war auch in Menschenversuche involviert. Die ehemalige Leiterin des Colonia Krankenhauses, Dr. Gisela Seewald, wurde 2005 nach ihrem Geständnis von einem chilenischen Gericht verurteilt. Es ist nicht nur unverantwortlich, Kindern ein Impfserum zu geben an welchem schon Erwachsene 10mal häufiger sterben als bei konventionellen Impfungen, sondern auch grausam und brutal. Ich habe jedenfalls den Eindruck das wir aus den Verbrechen der Geschichte nichts gelernt haben, auch der deutsche Ärztetag nicht. Hannah Arendt nannte derartige Verhaltensweisen “Banalität des Bösen”.
Mit freundlichen Grüßen
Manfred Sonntag 10. Leserbrief Sehr geehrter Herr Riegel, Sie schreiben zwar, daß bei den Corona-Impfstoffen „eine angemessene langfristige Erforschung und Erprobung noch nicht gegeben“ sei — „dennoch sind ‚Impfangebote’ für Erwachsene auch mit den neuen Stoffen meiner Meinung nach akzeptabel. Das gilt aber nur, solange daraus kein Zwang entsteht – und sei er indirekt durch erhebliche Nachteile.“ Aber weshalb ist der Druck, vom Impfen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben abhängig zu machen, nicht hinnehmbar? Doch nur, weil wir es weder mit Lutschbonbons auf Zuckerbasis mit Fruchtgeschmack noch mit einem allgemein anerkannt wirksamen Mittel gegen die Bedrohung eines großen Querschnitts der Bevölkerung zu tun haben. Der zentrale Punkt, dem in den NachDenkSeiten leider, muß ich sagen, systematisch aus dem Weg gegangen wird, ist, daß die Corona-Impfstoffe ein indiskutables Risiko darstellen. Das ist der Grund, weshalb „Impfangebote“ eben nicht akzeptabel sind. Man faßt sich an den Kopf, wie etwas von einer Seite wie der Regierung, die dem Normalbürger als vertrauenswürdig erscheint, „angeboten“ werden kann, das mit Fragezeichen über Fragezeichen versehen ist. Wenn, wie Sie richtig schreiben, die Impfstoffe sinnvoll wären, könnte jeder, der es wünscht, sich impfen lassen und von den Nichtgeimpften ginge keine Gefahr aus. Dieser Schluß wird aber nicht gezogen, was nicht einfach ein Denkfehler ist. Er wird nicht gezogen, weil die maßgebliche Logik in eine völlig andere Richtung weist: ohne auf die Möglichkeit zukünftiger Kontrollmechanismen, die mit den Injektionen verbunden sein könnten (und wahrscheinlich sind), einzugehen, bleibt nur das immense finanzielle Interesse der Pharmaindustrie sowie des mit ihr verbundenen profitorientierten Krankenhaussektors. Die Losung einer Medizin, die auf Medikamente und Apparate fixiert ist, lautet nun einmal: Hände weg von einer sehr umfassend gedachten Unterstützung der Selbstheilungskräfte des Menschen zur Stärkung der Immunität (Schadstoffe in der Luft verursachen in der EU lt. WHO eine halbe Million Tote jährlich, etwa 100.000 sterben allein in Deutschland an Erkrankungen der Atemwege) und verstärkte Anstrengungen hin zu mechanischer Prophylaxe sowie bloßen Reparaturmaßnahmen an den Opfern eines Wirtschaftssystems, das, selber krankhaft, krank macht. Wie mir schon bei Herrn Berger schien, ist womöglich sowohl die ganze Corona-Pandemie-Inszenierung als auch die von einer Einheitsfront aus Politik, Wirtschaft und Medien vorangetriebene Impfkampagne letztlich in der vollen Brisanz bei den NachDenkSeiten nicht angekommen. Vor Widersprüchlichkeiten, Absurditäten und Dramatik der Kollateralschaden zu warnen mag löblich sein, ist aber auf Dauer ermüdend und politisch, moralisch sowie intellektuell unzureichend. Mit freundlichen Grüßen und natürlich den besten Wünschen für die weitere Genesung des unersetzlichen Albrecht Müller,
Michael Ewert. 11. Leserbrief Liebe Nachdenkseiten, lieber Herr Riegel,
eine Quasi-Impfpflicht für Kinder auf Basis der aktuellen Studienlage zu fordern, ist absurd und führt zu Vertrauensverlust in die Ärzteschaft. Ein 17jähriger Verwandter ließ mich neulich über seine Großmutter bitten, ihm einen Impftermin zu verschaffen, indem ich ihr Unterstützungsbedarf attestiere – den sie glücklicherweise nicht hat. Ich habe vollstes Verständnis, dass er sich impfen lassen möchte, um seine Jugend ohne größere Einschränkungen genießen zu dürfen. Außerdem glaubt er sicher auch an die Wirksamkeit der Impfung. Ich bin aber überzeugt, dass seine Nutzen-Risiko-Abwägung anders ausfiele, wenn die aktuellen Privilegien für Geimpfte nicht bestünden. Ich habe abgelehnt, auch weil ich nicht dabei mitwirken möchte, dass sich Kinder aus diesem Grund impfen lassen.
In Kursen im Medizinstudium habe ich mit den Studenten oft darüber diskutiert, dass von Patienten allem Gerede von “shared decision making” zum Trotz grundsätzlich erwartet wird, dass sie ihre Autonomie bei der Anmeldung an der Krankenhauspforte abgeben. Lehrer haben bösen Zungen zufolge “vormittags Recht und nachmittags Zeit”, für Ärzte und Juristen gilt das Rechthaben in großer Zahl gleich ganztags und auch am Wochenende. Diagnostik oder Therapien hinterfragende Patienten sind im Krankenhaus ungern gesehen, was natürlich auch mit Zeitmangel zu tun hat, der durchaus notwendige Rückfragen “lästig” erscheinen lässt.
In diesem Licht erscheint mir auch die Stellungnahme des Ärztetages zu den Impfungen für Kinder und die des Leipziger Richters für seine Mitarbeiter. Im Zweifel “gut gemeint”, aber eben ganz und gar nicht gut gemacht. Dass trotz Abklingen der Pandemie weiter wichtige Prinzipien, die man sich gerade in der Medizin hart erarbeiten musste – Evidenzbasierung für Nutzen-Risiko-Abwägung und Risikokommunikation, Einbeziehung von Patientenpräferenzen – mit Füßen getreten werden, kann man nun schon lange nicht mehr mit dem Schock durch die Pandemie und deshalb leider begangene Schnellschüsse begründen. Die Ärzte und dieser Richter werden selbst glauben, dass ihre Stellungnahmen im Sinne der leidenden Menschheit sind und sie in der Verantwortung seien, hier zu belehren. Dass beide Gruppen immer noch eine mangelhafte Ausbildung in Statistik genießen und ihre potentiellen Patienten oder Mitarbeiter daher gar nicht ausreichend fundiert in dieser Frage beraten können, interessiert wenn überhaupt nur am Rande.
Man sollte Menschen keinen Vorwurf machen, dass sie sich mit anderen treffen möchten, sondern Regierungen, dass sie nicht in der Lage sind, ein Gesundheitssystem zu schaffen, dass auch Anforderungsspitzen auffangen kann. Wäre dies der Fall, kämen auch Kinder und Abwartende nicht in die Verlegenheit, einem solchen Impfdruck ausgesetzt zu werden.
Dem Leipziger Richter sollte man wahrscheinlich in der Tat für seinen “gesellschaftlichen Weitblick” danken. Fast könnte man denken, er habe den Brief an die Mitarbeiter geschrieben, um auf die sich stellenden Probleme hinzuweisen.
Beste Grüße an die Nachdenkseiten
von unserer Leserin J.R. 12. Leserbrief Lieber Herr Riegel, vielen Dank für den o.g. Artikel. Bitte veröffentlichen Sie auch den Hinweis auf die gerade laufende Petition. gegen den Impfzwang für Kinder. Vielleicht schaffen wir wenigstens das abzuwenden. Es grüßt Sie herzlichst
S.L. 13. Leserbrief Lieber Herr Riegel, ein Teilaspekt zu Ihrem Artikel, der aktuell kaum bis gar nicht beachtet wird ist die indirekte Impfpflicht bei HartzIV Empfänger. Es ist nun mal so, dass im HartzIV-System dauerhaft nach Arbeit gesucht werden muss um aus dem HartzIV-Bezug zu kommen. Wenn man das nicht macht oder zumindest nicht nach Ansicht der Jobcenter nicht zufriedenstellend macht, dann kann man Sanktionen bekommen.
Ebenso kann man Sanktionen und die vollkommene Einstellung der Leistungen bekommen, wenn man zu Terminen nicht persönlich erscheint (bis vor Corona war das zumindest so). Wenn man jetzt weiterdenkt, dann wird das dazuführen, dass man HartzIV-Bezieher indirekt zum Impfen zwingen wird. Man darf dann nur als Geimpfter mit digitalem Impfausweiß zum Jobcenter gehen. Die sogenannten Bewerbungsvorschläge der Jobcenter an den Bezieher werden mit der Impfung gegen Covid-19 verbunden bzw. die Arbeitgeber setzen dann eine Impfung voraus .
Letztendlich wird man versuchen im Bezug auf Impfung widerspenstige HartzIV-Bezieher mit Sanktionen und Einstellung von Leistungen zum Impfen zu zwingen. Und wie von Jobcenter gewohnt sich von Spätfolgen der Impfung aus der Verantwortung ziehen.
Vorher wird man sicherlich dem Bezieher beim HartzIV-Antrag einen Wisch zum Unterschreiben vorlegen auf dem stehen wird, dass man zwar HartzIV beantragen kann und die Leistungen bekommt, aber die problemlose Gewährung und Ausbezahlung nur durch eine erfolgte Impfung möglich ist. Diesen Widerspruch wird man mithilfe von Amtsdeutsch so formulieren, sodass es nicht leicht verständlich sein wird. Beste Grüße
E 14. Leserbrief Tobias Riegel bringt es auf den Punkt: “Impf-Angebote sind akzeptabel, aber eine Pflicht – und sei sie indirekt – ist es nicht.” Damit ist bereits das Wesentliche gesagt. Allerdings nicht für die Impfindustrie, sowie politische EntscheidungsträgerInnen und Funktionäre. Deren Impfung-Beweggründe dürften wenig bis nichts mit der Sorge um die Gesundheit junger Menschen zu tun haben. Kriminell nenne ich das,wenn im Beschluss-Papier des Deutschen Ärztetages mit Erpressungen und Drohungen gearbeitet wird. Das scheinen in zunehmendem Maße Eltern zu erkennen, die nun beginnen, sich gegen Impfzwänge zur Wehr zu setzen. Als Mutter und Großmutter unterstütze ich das Engagement für individuelle, freie Impfentscheidung. von unserer Leserin U.P. Anmerkung zur Korrespondenz mit den NachDenkSeiten Die NachDenkSeiten freuen sich über Ihre Zuschriften, am besten in einer angemessenen Länge und mit einem eindeutigen Betreff. Es gibt die folgenden Emailadressen: Weitere Details zu diesem Thema finden Sie in unserer „Gebrauchsanleitung“. | Redaktion | In diesem Beitrag werden zwei Texte mit Bezug zur Impfung kommentiert. So hat zum einen der Deutsche Ärztetag u.a. verkündet, dass „Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern“ die „gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe“ zurückerlangen könnten. Zum anderen hat der Präsident des Amtsgerichtes Leipzig ungeimpften Mitarbeitern mit Nachteilen gedroht. Tobias Riegel gibt dem Richter in de ... | [] | [
"Leserbriefe"
] | 18. Mai 2021 11:30 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=72526 |
Auf dem Weg in die Expertokratie? | Fünfunddreißig Wissenschaftler, Virologinnen und Ärzte, Physiker, Gesundheitsexpertinnen und Soziologen, haben eine Erklärung zur aktuellen Lage in der Pandemie veröffentlicht. Sie machen sich Sorgen und haben Forderungen an die Politik. Sie wollen die Spaltung der Gesellschaft überwinden, so sagen sie, und sie fordern, dass die Politik in ihrem Handeln auf die Wissenschaft hört. Dafür soll, nach dem Willen der 35, ein Expertenrat eingerichtet werden. Einige aus der Gruppe sind aus den Medien gut bekannt, etwa die Virologin Melanie Brinkmann, der Physiker Michael Meyer-Hermann oder der Soziologe Armin Nassehi. Dass diese Personen in der Politik in den letzten Monaten zu wenig Gehör gefunden hätten, klingt überraschend. Bei genauer Lektüre des Textes drängt sich der Eindruck auf, dass die Autoren eine überraschend simple Vorstellung von Politik in der demokratischen Gesellschaft haben. Von Jörg Phil Friedrich. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Am Anfang des Textes der Wissenschaftler steht eine Zahl: 700 Menschen sterben derzeit in einer Woche. Gemeint ist vermutlich, dass diese Menschen im Moment des Sterbens mit dem Corona-Virus infiziert sind, denn natürlich sterben mehr Menschen in Deutschland in einer typischen Novemberwoche. In den Jahren vor der Pandemie waren es täglich um die 2.700 Menschen, die an einem normalen Novembertag sterben. Das bedeutet, um hier einmal auf eine Zahl mit einer Zahl zu antworten: weniger als 4 Prozent der Menschen, die in diesen Tagen in Deutschland sterben, tragen das Corona-Virus in sich. Das sagt nicht, dass COVID-19 in diesen Fällen immer die Todesursache war. Zur Einordnung der Zahl ist aber interessant, dass der Anteil derer, die in Deutschland an einer nicht natürlichen Todesursache wie zum Beispiel einer Verletzung oder Vergiftung sterben, bei etwas mehr als 4% liegt. In knapp 2% der Fälle ist ein Sturz Todesursache, 1% der Menschen begehen Suizid. All diese Schicksale sind tragisch und bedauerlich, viele wären sicherlich auch vermeidbar gewesen und – das ist in unserem Zusammenhang wichtig – durch staatliche Vorschriften, Maßnahmen und Verbote ließen sich die Zahlen etwa der tödlichen Verletzungen und Unfälle sicher reduzieren. Da gern bei solchen Einordnungen sogleich darauf hingewiesen wird, dass Unfälle und Vergiftungen nun mal nicht ansteckend seien, soll nur am Rande darauf hingewiesen werden, dass es oft die Unachtsamkeit und Fahrlässigkeit anderer ist, die zu tödlichen Unfällen führen. Zurück zur Pandemie und zum Schreiben der Wissenschaftler. Für Corona haben wir inzwischen Impfstoffe, mit denen sich die meisten Menschen vor einem schweren Verlauf der Infektion schützen können, und wir kennen eine Reihe von Möglichkeiten, um das tägliche Risiko für jeden zu reduzieren. Virologen wie Christian Drosten lehren uns aber auch, dass wir alle uns in den nächsten Jahren infizieren werden und müssen, damit das Virus insgesamt ungefährlich wird und sich eine Bevölkerungsimmunität einstellt. Stellen wir uns vor, dass sich ein solcher Prozess über etwa 5 Jahre hinzieht, müssten sich täglich knapp 40.000 Menschen infizieren. Das ist die Situation, in der die 35 Wissenschaftler die Alarmglocken läuten lassen. Sie werfen der Politik vor, nicht zu handeln und nur abzuwarten. Sicherlich kann man der Politik vieles vorwerfen, aber Tatenlosigkeit ist es nicht. Es wurden Maßnahmen umgesetzt, die viele Menschen für angemessen hielten, einige für zu weitgehend, andere für zu zaghaft. Es wurden Stützungsprogramme für die Wirtschaft im Lockdown aufgelegt, manche meinen, es waren die falschen, manche meinen, es war zu viel oder zu wenig. Es wurde die Impfstoffentwicklung gefördert, es wurden Test- und Impfinfrastrukturen aufgebaut. In allem kann man mit gutem Grund der Meinung sein, dass das Falsche, zu viel oder zu wenig getan wurde – aber gehandelt wurde. Die Wissenschaftler haben ja eigentlich auch einen anderen Vorwurf: nicht, dass die Politik gar nicht gehandelt hätte, empört die, sondern dass sie sich nicht nach den Empfehlungen der Wissenschaft gerichtet habe. Damit verkennen die Forscher aber das Wesen der Politik und der klugen politischen Entscheidungsfindung. Politisch klug ist nicht, was wissenschaftlich richtig ist (einmal unterstellt, dass es darüber überhaupt einen wissenschaftlichen Konsens oder gar Sicherheit gäbe). Politisch kluges Handeln und Entscheiden zeigt sich darin, dass es machbar ist und in der Praxis zu Regelungen und Maßnahmen führt, die akzeptiert werden und den sozialen Frieden nicht übers erträgliche Maß hinaus strapazieren. Da nun überraschenderweise nicht alle Menschen Wissenschaftler sind und der wissenschaftlichen Rationalität folgen (worüber wir vermutlich froh sein können, aber das ist eine andere Frage – hier ist es einfach erst mal hinzunehmen), muss politisches Handeln die Denkweisen und Meinungen auch von denen akzeptieren und berücksichtigen, die sich nicht oder nicht im vollen Umfang dem Diktat der Wissenschaft beugen wollen. Das Schreiben der Wissenschaftler zeigt, dass ihnen die Mechanismen gelingender Politik überhaupt nicht vertraut sind. Das ist überraschend, wenn man bedenkt, in welch engem Kontakt viele von ihnen in den letzten Monaten mit der Politik gestanden haben. Konkret fordern sie nun einen Expertenrat und es ist schon bedenklich, welche Missachtung demokratischer Institutionen nur leicht verschleiert aus den Forderungen spricht. Zwar sei „unbestritten, dass die Entscheidungsgewalt über den grundsätzlichen Kurs in der Pandemiebekämpfung sowie einzelne Maßnahmen viel stärker als bisher beim Parlament liegen muss.“ Aber ebenso unbestritten sei „jedoch auch, dass die Entscheidungen viel stärker als bisher an wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet werden müssen.“ Wie sich die Wissenschaftler das praktisch vorstellen, dass ein demokratisches Parlament seine Entscheidungen ausrichtet, bleibt ihr Geheimnis. Statt das einmal konkret zu erläutern, schlagen sie sogleich einen „Krisenstab“ vor, der die wissenschaftliche Sachgrundlage erarbeitet, kommuniziert und umsetzt – immerhin noch „nach politischer Abstimmung“. Da ist die Katze aus dem Sack. Was sich die 35 Experten wünschen, ist ein Expertengremium mit exekutiver Kompetenz. Es ist geschickt, der Forderung nach einer Expertokratie mit lockerer Anbindung ans Parlament eine massive Politikkritik vorauszuschicken, die bei vielen Menschen wohl auf Beifall hoffen darf. Zu behaupten, dass die Spaltung der Gesellschaft zu den Dingen gehört, die den Autoren Sorgen macht, ist dann allerdings, gelinde gesagt, unglaubwürdig. Kommt das radikale Bashing der politischen Entscheider nicht sonst gerade von denen, denen vorgeworfen wird, die Gesellschaft spalten zu wollen? Auf welchen Weg begeben sich hier 35 Wissenschaftler, die um der Eindämmung einer Krankheit willen, die keine 4 % der Todesfälle in Deutschland verursacht, die verfassungsmäßigen demokratischen Institutionen umgehen und eine demokratisch nicht legitimierte Exekutive von Wissenschaftlern etablieren wollen? Man kann nur hoffen, dass einige der Unterzeichner dies noch einmal überdenken und ihre Beteiligung an einem solchen Vorhaben zurückziehen. Titelbild: metamorworks/shutterstock.com | Jörg Phil Friedrich | Fünfunddreißig Wissenschaftler, Virologinnen und Ärzte, Physiker, Gesundheitsexpertinnen und Soziologen, haben eine Erklärung zur aktuellen Lage in der Pandemie veröffentlicht. Sie machen sich Sorgen und haben Forderungen an die Politik. Sie wollen die Spaltung der Gesellschaft überwinden, so sagen sie, und sie fordern, dass die Politik in ihrem Handeln auf die Wissenschaft hört. Dafür soll, n ... | [
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] | 15. November 2021 9:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=77961 |
Gewerkschaftliches Gutachternetzwerk: Eckpunkte für die Fortführung des Bologna-Prozesses und die Weiterentwicklung der Akkreditierung | In Kooperation von IGM, ver.di, IGBCE und organisiert von der Hans Böckler Stiftung haben sich an Akkreditierungsverfahren von Studiengängen beteiligte Gutachter, die sich gewerkschaftlichen Positionen verpflichtet fühlen, zusammengeschlossen und ein Eckpunktepapier für die Fortführung des Bologna-Prozesses und die Weiterentwicklung der Akkreditierung [PDF – 864KB] erarbeitet. Merkwürdigerweise ist die GEW, in der wohl eher gerade Wissenschaftler organisiert sind, in diesem Netzwerk nicht vertreten.
Das Netzwerk versteht sich als Schnittstelle zwischen den Akkreditierungsagenturen und ihren Gutachterpools. Es ist angesichts dieser Affinität des Netzwerks zu den Akkreditierungsagenturen nur zu verständlich, dass die Vorschläge aus dem Blickwinkel von in solche Verfahren Eingebundenen gemacht werden. Und diese Vorschläge sind leider nicht weitreichend genug und deshalb wenig erfolgversprechend. Wolfgang Lieb
Erfreulich ist, dass das Gutachternetzwerk die Kritik an der Umsetzung des Bologna-Prozesses aufgreift und ernst nimmt. Die Akkreditierungsagenturen und die Gutachter im Rahmen der Akkreditierungsverfahren sind jedoch Bestandteile des Bologna-Prozesses oder genauer dessen neoliberalen (deutschen) Ausprägung. Das Gutachternetzwerk übernimmt völlig unkritisch das „neue Verhältnis von Staat und autonomen Hochschulen“ und sieht sich eingebunden in den „Regelkreisen der (Selbst-)Steuerung der Qualität von Studium und Lehre“. Dass die Gewerkschaften mit einem „Leitbild für eine demokratische und soziale Hochschule“ [PDF – 807KB] ein Gegenmodell zur „unternehmerischen Hochschule“ entwickelt hat, scheint im gewerkschaftlichen Gutachternetzwerk offenbar noch nicht angekommen zu sein. Das Gutachternetzwerk übernimmt ziemlich unreflektiert das herrschende Reformparadigma, in dem der Autonomiebegriff verengt wird auf den Rückzug staatlicher Verantwortung zugunsten einer unternehmerischen Autonomie der Hochschule und zugunsten einer der einzelunternehmerischen Wettbewerbslogik unterworfenen autokratischen Leitungsstruktur. Angesichts dieser Anpassung an den laufenden ökonomistischen Umbruch des gesamten Hochschulsystems ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass das Gutachternetzwerk für eine „erfolgreiche Weiterführung des Bologna-Prozesses“ eintritt und ihn im Grundsatz für „richtig, notwendig, unumgänglich und unumkehrbar“ hält. Das ist exakt der keinen Widerspruch duldende Anspruch, mit dem in Deutschland alle so genannten „Reformen“ von den Arbeitsmarkt-, über die Renten- bis zur Hochschulreform durchgepeitscht wurden. Vor dem Hintergrund der geballten Kritik an den Auswirkungen des Bologna-Prozesses fordert das Gutachternetzwerk nunmehr „die ursprünglichen Ziele des Bologna-Prozesses mit dem Kernpunkt einer besseren Qualität von Studium und Lehre wieder konsequent in den Mittelpunkt zu stellen, deren Verwirklichung umfassend in Angriff zu nehmen und die Rahmenbedingungen entsprechend zu gestalten.“ Ich muss eingestehen, dass ich selbst zum Zeitpunkt der Bologna-Erklärung im Jahre 1999 gleichfalls an die Visionen und Hoffnungen, die damit verbunden waren, geglaubt habe. Man hätte jedoch schon kurze Zeit später, ab Beginn der Umsetzung erkennen können und müssen, dass gerade in Deutschland der Bologna-Prozess in starkem Maße von der im Jahr 2000 auf dem Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs beschlossenen sog. Lissabon Strategie überlagert wurde. Als deren Ziel wurde ausgegeben, bis 2010 „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.“ War etwa nach der Bologna Agenda Hochschulbildung noch als „öffentliches Gut“ betrachtet worden und gab es dort noch eine soziale Dimension der Reform, so wurde mit der Lissabon Strategie Bildung als die Verbesserung des „Humankapitalstocks“ und ein Studium als eine private Investition in das persönliche Humankapital umgedeutet. Der eher kooperative Ansatz der Bologna-Erklärung und das Prinzip einer „möglichst geringen Stratifizierung des Hochschulsystems“ wurde durch das Wettbewerbsprinzip und die strategische Ausrichtung des Studiums auf die Employability (Beschäftigungsfähigkeit) der Lissabon-Strategie verdrängt. Vor allem in Deutschland hat das nahezu sämtlichen neoliberalen Reformen zugrunde liegende negative Menschenbild auch die Umsetzung des Bologna-Prozesses wesentlich bestimmt. Die Hartz-IV-Reformen (das „Fördern und Fordern“) und die Studienreform zeigen dabei frappierende Parallelen. Beide Reformen unterstellen letztlich Menschen ohne oder mit nur geringer Leistungsmotivation – also letztlich arbeits- oder studierunwillige Menschen, die durch Druck und Kontrolle und nicht durch positive Anreize oder attraktive Angebote zur Arbeitsdisziplin angehalten werden müssten (Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung bzw. siehe hier). Ohne überhaupt nach der Studienmotivation zu fragen, wurden fast auf der ganzen Linie Studienarrangements eingeführt, die der Devise folgten „ohne (Prüfungs-)Druck, ohne Dauerkontrolle (z.B. der Anwesenheit) keine Leistung“ (Wolff-Dietrich Webler). Ähnlich wie danach bei der Einführung des Abiturs nach 8 Jahren (G 8) gab es bei der Einführung des Bachelors kaum eine Debatte um eine Neukonzeption der Studiengänge. Rigide und ohne genauere Bestimmung der Studienziele wurden – ganz anders als in anderen europäischen Ländern – für alle (!) Fächer das Bachelor-Studium auf 6 Semester „gestaucht“. Über bildungstheoretische oder gar gesellschaftspolitische Zielvorstellungen und über qualitative Elemente eines „wissenschaftlichen“ Studiums wurde nur in seltenen Fällen diskutiert. Es ging um „Module“ (wie auch immer aufeinander bezogen) statt um sinnvolle Kürzungen, um „Workload“ statt um Studierbarkeit, um „input“ statt um „outcome“, um „credits“ statt um prozessbegleitendes Feedback, um Wissensakkumulation statt um wissenschaftliches Verständnis, um Verhaltenskontrolle (mit Anwesenheitspflichten und Selektionsdruck durch Prüfungen) statt um die Förderung der Eigenmotivation, um den Wettbewerb „um die besten Köpfe“ statt um die optimale und breite Ausschöpfung des Bildungspotentials – ganz wie es die Sprache und die Ziele der Lissabon-Strategen vorgaben. Es gab auch keinerlei Professionalisierung der Hochschullehre für die neuen Lehranforderungen, dafür umso mehr Korrekturbelastungen und bürokratische Regelungen (z.B. über die Zahl der Kreditpunkte).
Die Akkreditierungsagenturen waren der Akkreditierungsflut nicht gewachsen und es gab kaum eine Verständigung über die Qualitätsanforderungen. Noch so obskure „Studienprofile“ wurden „durchgewunken“. Das gewerkschaftliche Gutachternetzwerk müsste sich angesichts des ziemlich katastrophalen Ist-Zustandes eigentlich, bevor es Vorschläge „für die Fortführung des Bologna-Prozesses“ macht, selbstkritisch fragen, wie es zu den jetzt von ihm selbst kritisierten Fehlentwicklung bei der Ausgestaltung der Bachelor- und Masterstudien gekommen ist. Schließlich haben doch auch die gewerkschaftsorientierten Gutachter selbst den neuen Studiengängen ihr Gütesiegel verliehen. Sie hätten doch mit als Erste wissen können, dass die Studienpläne überfrachtet sind, dass es zu viele Prüfungen gibt, dass Praxisphasen fehlten, dass die Übergänge vom Bachelor zum Master oder die Anerkennung von Studienleistungen nicht klar geregelt waren. Kurz: Die Akkreditierungsagenturen haben doch die Paukstudiengänge nicht nur passieren lassen, sondern sogar gefördert. Wie sich in anderen Ländern zeigte, war das nicht der Idee geschuldet, die hinter Bologna stand, denn dort hat man nicht überall die gleichen Fehler gemacht wie in Deutschland. Das Gutachternetzwerk polemisiert gegen eine „unheilige Allianz“ von Gegnern des Bologna-Prozesses aus Strukturkonservativen oder aus Unfähigkeit sich mit dessen Anforderungen auseinanderzusetzen. Diese Kritik ist teilweise berechtigt. Der öffentlich artikulierte Widerstand gegen „Bologna“ kommt überwiegend aus dem Lager konservativer Ordinarien. Man muss gewiss nicht zum keineswegs optimalen „alten System“ zurückkehren, aber das Gutachternetzwerk müsste sich auch Gedanken darüber machen, was es selbst versäumt hat und wie die Gutachter selbst dazu beigetragen hat, dass es zu den inzwischen allseits kritisierten Zuständen gekommen ist. Man kann nicht alles auf die „permanente Unterfinanzierung und oft unzureichende Ausstattung der Hochschulen“ oder auf die „kollektive Verantwortungslosigkeit“ an den Hochschulen schieben. Das ist alles unbestritten, aber nicht die Hauptursache für die Mängel in den Studienstrukturen, die nahezu flächendeckend eingeführt wurden. Selbstverständlich, sind in allererster Linie die Hochschulen und Fachbereiche für die Studiengänge und deren Gestaltung verantwortlich und können auch nur dort wieder korrigiert werden, aber haben die Akkreditierungsagentur nicht z.B. die starre Fixierung auf den 6-semestrigen Bachelor mitgemacht, ja sogar darauf gedrungen? Warum haben sie nicht schon lange „unnötige bzw. unsachgemäße Vorgaben“ kritisiert? Warum haben die Gutachter eigentlich nicht auf die „Studierbarkeit“ geachtet? Warum haben sie nicht die „gelungenen positiven Beispiele“ zum Maßstab ihrer Akkreditierungen genommen? Die Selbstkritik, „dass in etlichen Fällen Studiengängen trotz erkennbarer deutlicher Defizite die Akkreditierung erteilt wurden, wo sie besser hätte versagt werden sollen“, kommt reichlich spät und die Begründung, warum „manchmal (?) ein Auge zugedrückt wurde“, ist nicht gerade überzeugend. Von den Gutachtergruppen seien nicht tatsächlich existierende, mindestens einen Zyklus lang durchgeführte Studiengänge, sondern lediglich Konzepte beurteilt worden, so die Ausrede. Das Papier geduldig ist, wusste man schließlich schon bei Einführung der Akkreditierungsverfahren.
Wer hat denn vor allem auf „formale Kriterien, statt auf Inhalte, Methoden und effektive Strukturen“ Wert gelegt? Wer hat denn dem „alten Input-Denken …Vorrang gegenüber der Kompetenzorientierung“ eingeräumt? Die Gutachter waren doch selbst an dem jetzt von ihnen als defizitär kritisierten Peer-Review-Verfahren beteiligt. Man will ja dem Gutachternetzwerk gerne abnehmen, dass die beteiligten Gutachter aus Erfahrung klüger geworden sind. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, dass sie jetzt nicht einmal mehr darauf drängen ihre „neuen Erkenntnisse“ in die Re-Akkreditierung der früher von ihnen akkreditierten Studiengänge einzubringen. Stattdessen „unterstützen“ sie nun einen Systemwechsel von der Programm- zur Systemakkreditierung und wollen also erneut „Neuland“ betreten. Warum vertrauen sie nach den von ihnen selbst kritisierten Erfahrungen erneut darauf, dass die Hochschulen nur auf dem Papier ein System der Qualitätssicherung und –entwicklung vorlegen müssen? Warum verlangen sie nicht, selbst noch einmal zu überprüfen, was aus ihren früher (programm)-akkreditierten Studiengänge in der Praxis herausgekommen ist? Warum geben sie sich mit „Programmstichproben bei der Systemakkreditierung“ zufrieden? Die Vorschläge für die Weiterentwicklung der Akkreditierungsagenturen mögen einigen offenkundigen Mängeln abhelfen, mit solchen kleinen Korrekturen ist eine wirkliche Verbesserung aber nicht möglich und nicht zu erwarten. Am Anfang einer Neuausrichtung müsste eine Verständigung über die Merkmale guter Lehre und höherer Lehrkompetenz stehen (Vgl. Wissenschaftsrat „Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Lehre und Studium“ [PDF – 393 KB]).
Es müsste eine breite Debatte über die im jeweiligen Studium anzustrebenden Kompetenzprofile geben. Dabei sollte wieder eine größere fachliche Breite in der Qualifikation angestrebt werden und die Wahl- und Wahlpflichtanteile eines Studiums erweitert werden. Auch das freie Selbststudium müsste wieder gefördert und geschützt werden. Das neue Studienkonzept eines gestuften Studiums bedürfte einer passenden und geeigneten Didaktik.
Statt einer viel zu engen Ausrichtung auf eine (oft nur fiktiv definierte) Beschäftigungsfähigkeit, müsste ein Studium eine hohe berufliche Flexibilität und eine engere Verknüpfung von Theorie- und Praxisbezug ermöglichen.
Statt eingepauktes Wissen in zahllosen Einzelklausuren abzufragen, müssten zusammenhängende Lernergebnisse lernprozessbezogen und motivationsfördernd erhoben werden. Das Selbststudium müsste wieder mehr Gewicht erhalten und gefördert werden. Module (wenn man denn Studienabschnitte so nennen möchte) müssten sinnvoll aufeinander aufgebaut und in Sinneinheiten aufeinander bezogen sein. Einzelne Module müssten als Projektstudium verbindlich gemacht werden.
Studieren müsste als Kompetenzerwerb zur selbständigen Lösung neuer Problem mit wissenschaftlichen Methoden verstanden werden. Ein Studium verlangt nicht nur Wissen sondern Verständnis und Handlungsfähigkeit. Eine wissenschaftliche Ausbildung bedeutet auch Persönlichkeitsentwicklung und nicht nur Drill zur Absolvierung von Tests. Der Abschlussthesis müsste als erste größere eigenständige wissenschaftliche Arbeit wieder größeres Gewicht beigemessen werden und die Kreditpunkte sollten je nach Studienfortschritt steigendes Gewicht erlangen.
Vor allem müssten Studierende wieder als selbstverantwortliche, erwachsene Subjekte ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung betrachtet und behandelt werden, die nicht vor allem für den Arbeitsmarkt anzupassen sind, sondern auch als Bürger bereit sind ihre gesellschaftliche Verantwortung im Beruf und in ihrem Privatleben zu übernehmen.
Das wären nur einige wenige, aber wichtige Elemente einer Re-Reform des Bologna-Prozesses. Das Problem ist nur, dass bei einer solchen qualitativen Studienreform die bisherige Programmakkreditierung versagt hat und – so wie sie angelegt ist – auch versagen musste und dass die neue Systemakkreditierung für eine Urteilsfindung über solche qualitativen Elemente in den Studiengängen ungeeignet ist. Dazu bedürfte es eine neue Form von Studienreformkommissionen, die für einzelne Studiengänge zusammen mit den beteiligten Fachbereichen, mit externen Beteiligten aus der Praxis und – ich wage es sagen – dem hochschulplanerischen Staat Studienkonzepte entwickeln. Die Akkreditierungsagenturen mögen dann vielleicht noch überprüfen, mit welchem Erfolg solche Reformkonzepte umgesetzt werden. | Wolfgang Lieb | In Kooperation von IGM, ver.di, IGBCE und organisiert von der Hans Böckler Stiftung haben sich an Akkreditierungsverfahren von Studiengängen beteiligte Gutachter, die sich gewerkschaftlichen Positionen verpflichtet fühlen, zusammengeschlossen und ein Eckpunktepapier für die Fortführung des Bologna-Prozesses und die Weiterentwicklung der Akkreditierung [PDF - 864KB] erarbeitet. Merkwürdigerweis ... | [
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] | 19. Februar 2010 9:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=4532&share=email |
Verbreiten die NachDenkSeiten russische Narrative? Der bayerische Verfassungsschutz rudert zurück | Wie wir am Montag berichteten, tauchten die NachDenkSeiten in manipulativer Absicht in einem Bericht des Bayerischen Verfassungsschutzes auf. Die Autoren unterstellten uns und einigen anderen kritischen Medien, wie der Berliner Zeitung und dem Freitag, Inhalte zu publizieren, „die anscheinend grundsätzlich ins russische Narrativ passen“. Es hagelte Kritik und die bayerischen Verfassungsschützer fühlten sich „missverstanden“. Der Bericht wurde mittlerweile korrigiert und nun ist auch bekannt, welcher Beitrag der NachDenkSeiten den Vorwurf, „russische Narrative zu verbreiten“ ausgelöst hat – ein Gastartikel des oppositionellen linken ukrainischen Politiker Maxim Goldarb. Welch bittere Ironie. Goldarb beklagt in seinen Artikeln rechtsstaatliche Defizite in der Ukraine, wurde daraufhin von den ukrainischen Behörden verfolgt und ist mittlerweile auf der Flucht. Kritik an der Rechtsstaatlichkeit ist also ein „russisches Narrativ“? Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Wie wir bereits vermutet hatten, wurde offenbar lediglich ein einziger Beitrag der NachDenkSeiten vom vermeintlich russisch gesteuerten Kampagnennetzwerk „Doppelgänger“ über Facebook und X verteilt. Bitte lesen Sie dazu: „NachDenkSeiten tauchen in einem Bericht des bayerischen Verfassungsschutzes auf“ Dabei handelte es sich, wie jetzt in der überarbeiteten Version eines Berichts des Bayerischen Verfassungsschutzes zu erkennen ist, um den Artikel „Welche europäischen Werte „verteidigt“ Selenskyj eigentlich?“ von Maxim Goldarb, der bei uns in der Rubrik „Stimmen aus der Ukraine“ erschienen ist. Goldarb ist Vorsitzender der „Union der linken Kräfte“ und war vor dem Maidan-Putsch leitender Rechnungsprüfer und Kontrolleur der Finanzen des ukrainischen Verteidigungsministeriums. Die Union der linken Kräfte ist eine 2007 gegründete ukrainische Oppositionspartei, die sich am Demokratischen Sozialismus orientiert und unter anderem zum Ziel hatte, die ausufernde Privatisierung strategischer Staatsunternehmen sowie den Verkauf landwirtschaftlicher Flächen an ausländische Großkonzerne zu stoppen sowie die Ukraine geopolitisch neutral auszurichten. Zudem setzte sie sich für Russisch als zweite Amtssprache und eine Stärkung des ländlichen Raums ein. Diese Ziele reichten aus, dass die Partei zusammen mit weiteren linken Parteien am 17. Juni 2022 verboten und ihr gesamtes Vermögen enteignet wurde. Ihre Mitglieder arbeiten seit diesem Zeitpunkt aus dem Untergrund oder Exil heraus. Einige ihrer Führungspersönlichkeiten wurden entführt und gelten seitdem, wie beispielsweise der Parteigründer Wassilij Wolga, als spurlos verschwunden. Auch Maxim Goldarb selbst ist mittlerweile aus der Ukraine geflohen, nachdem der ukrainische Inlandsgeheimdienst ihn verhaften wollte. Auslöser war unter anderem ein Artikel für die NachDenkSeiten, in dem Goldarb kritisiert, wie in der Ukraine aus Kritikern der Regierungspolitik „Staatsverräter“ gemacht werden. NachDenkSeiten-Redakteur Florian Warweg thematisierte die Verfolgung Goldarbs und das Verbot linker Parteien in der Ukraine auf der Bundespressekonferenz, wurde jedoch mit dem lapidaren Satz, „Die Bundesregierung vertraue der Ukraine“, abgespeist. Dass ausgerechnet die berechtigte Kritik eines ukrainischen Oppositionspolitikers an Repressionsmaßnahmen der ukrainischen Regierung vom bayerischen Verfassungsschutz als „russisches Narrativ“ bewertet wird, setzt dem Ganzen die Krone auf. Man müsste Goldarbs Frage, „Welche europäischen Werte „verteidigt“ Selenskyj eigentlich?“, ergänzen: Welche freiheitliche demokratische Grundordnung meint der Bayerische Verfassungsschutz eigentlich zu sichern? Jeder einzelne Kritikpunkt, den Goldarb in seinem Artikel vorbringt, entspräche auch in Deutschland dem Grundgesetz. Goldarb macht sich für eine „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Ukraine stark und wird dafür vom bayerischen Verfassungsschutz verdächtigt, „russische Narrative zu verbreiten“? Es sind aber nicht nur die NachDenkSeiten, deren Einordnung als „Verbreiter russischer Narrative“ durch den Bayerischen Verfassungsschutz einen ratlos zurücklässt. Durch die Überarbeitung des Berichts ist nun auch ersichtlich, welche Artikel der Berliner Zeitung und des Freitags zur skandalösen Einschätzung des Bayerischen Verfassungsschutzes führten – ein Bericht über die Profite der amerikanischen Rüstungsindustrie durch die Waffenlieferungen in die Ukraine und ein Artikel über die negativen Auswirkungen von Sanktionen durch die USA und die EU auf Staaten wie Afghanistan, Syrien, Iran oder Jemen. Das sind also alles „russische Narrative“? Kein Wunder, dass die bayerischen Verfassungsschützer sich da nun „missverstanden“ fühlen. „Das BayLfV insinuiert explizit nicht, dass die Verantwortlichen der hier aufgelisteten Webseiten russische Propaganda verbreiten oder in Kenntnis darüber sind bzw. es gutheißen, dass ihre Inhalte im Rahmen der „Doppelgänger“-Kampagne weiterverbreitet werden“, so die Verfassungsschützer in einem Antwortschreiben an die Berliner Zeitung. Genau das hatten sie aber „insinuiert“. Auch in diesem Schreiben heißt es dann: „Es ist naheliegend, dass die betreffenden Inhalte aus Sicht des Akteurs das russische Narrativ unterstützen bzw. dass die Verbreitung entsprechender Inhalte anderweitig im Interesse des Akteurs liegt“. Mit anderen Worten: Journalistische Artikel, die Kritik an der Politik des Westens üben, sind für die Verfassungsschützer schon irgendwie problematisch, da sie dann ja doch „das russische Narrativ“ unterstützen. Das ist – mit Verlaub – ein abenteuerliches Verständnis von Journalismus. Titelbild: THICHA SATAPITANON/shutterstock.com | Jens Berger | Wie wir am Montag berichteten, tauchten die NachDenkSeiten in manipulativer Absicht in einem Bericht des Bayerischen Verfassungsschutzes auf. Die Autoren unterstellten uns und einigen anderen kritischen Medien, wie der Berliner Zeitung und dem Freitag, Inhalte zu publizieren, „die anscheinend grundsätzlich ins russische Narrativ passen“. Es hagelte Kritik und die bayerischen Verfassungsschütze ... | [
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elektronische Patientenakte | Mit der digitalen Umsetzung der am 29. April bundesweit gestarteten elektronischen Patientenakte (ePA) wurde die österreichische Firma RISE beauftragt. Hinter dieser Firma steht der Wiener Geschäftsmann und IT-Professor Thomas Grechenig. Dieser wiederum war langjähriger Projektpartner des von der deutschen Justiz gesuchten Ex-Wirecard-Managers Jan Marsalek. Der österreichische Inlandsgeheimdienst DSN hat laut eigener Darstellung wegen der Einbindung dieser Firma in das Marsalek-Netzwerk die Zusammenarbeit mit RISE eingestellt. Vor diesem Hintergrund wollten die NachDenkSeiten wissen, wieso das Bundesgesundheitsministerium und auch das Verteidigungsministerium nicht dem österreichischen Beispiel gefolgt sind, gerade in so hochsensiblen Bereichen wie Gesundheits- und Verteidigungsdaten. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. | [] | [] | 05. Mai 2025 11:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?tag=elektronische-patientenakte |
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Deutschland – neoliberaler Vasall der USA – eine Rezension von Wolfgang Bittner | Albrecht Müllers Revolutions-Buch, in dem er von der Revolution abrät.
Der Volkswirt und ehemalige Leiter der Planungsabteilung bei den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt, Albrecht Müller, hat im Westend Verlag ein neues Buch mit dem Titel „Die Revolution ist fällig – Aber sie ist verboten“ veröffentlicht, in das er seinen großen Fundus an Erfahrungen und Wissen eingebracht hat. Während Politikerinnen wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer in der Sprache des Kalten Krieges Aufrüstung, Abschreckung und eine Politik der Stärke propagieren, plädiert Müller für die Selbstverständlichkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen und der Völker. Er beruft sich auf Friedenspolitiker wie Gustav Heinemann, Willy Brandt und Egon Bahr sowie auf das Grundsatzprogramm der SPD von 1990. (…)
Quelle: KENFM
Darüber hinaus gibt es eine ausführliche Buchbesprechung im Blog des „Freitag online“: Die Revolution ist fällig Rezension “Die Lage ist in vielerlei Hinsicht verkorkst”, stellt Albrecht Müller in seinem neuen Buch fest. Zeit für eine Revolution. Doch die ist nicht vorgesehen
asansörpress35 | Community 1 Wer schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat – bei mir sind es nun über sechs – müsste gemerkt haben, dass in unserem Land etwas schief läuft. Die Gesellschaft ist ungerechter geworden und wird es weiter. Quasi ist etwa was soziale Gerechtigkeit angeht, ein Rückwärtsgang eingelegt worden. Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich immer weiter geöffnet. Das allerdings ist freilich keinem Naturereignis geschuldet, sondern von Menschen befeuert und ins Werk gesetzt worden. Und zwar von der herrschenden Politik, die einflussreichen Einflüsterern auf den Leim gegangen ist. Als am schlimmsten sicher und als besonders einschneidend zu charakterisierend ist da Beschreitung eines neoliberalen: besser marktradikalen Weges – von dem längst sichtbar geworden ist, dass dieser ein Holzweg ist, da er unsere Gesellschaft immer ungleicher und ungerechter macht und letztlich ziemlich sicher zerstört – zu nennen. (…)
Quelle und Fortsetzung siehe hier: freitag.de Titelbild: kenfm.de / Ken Jebsen | Wolfgang Bittner | Albrecht Müllers Revolutions-Buch, in dem er von der Revolution abrät.
Der Volkswirt und ehemalige Leiter der Planungsabteilung bei den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt, Albrecht Müller, hat im Westend Verlag ein neues Buch mit dem Titel „Die Revolution ist fällig – Aber sie ist verboten“ veröffentlicht, in das er seinen großen Fundus an Erfahrungen und Wissen eingebracht hat. W ... | [
"Die Revolution ist fällig (Buch)",
"Entspannungspolitik",
"Müller, Albrecht",
"Ungleichheit"
] | [
"Rezensionen",
"Veröffentlichungen der Herausgeber"
] | 24. September 2020 16:30 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=65184&share=email&nb=1 |
Von der deutschen Tea Party zur Henkel-Partei (II) – Der rechte Ritt auf der Welle der Empörung | Lange Jahre hat die amerikanische Tea-Party-Bewegung die außerparlamentarische Opposition in den USA fast im Alleingang geprägt. Diese Zeiten sind jedoch vorbei. Heute betreibt die Tea Party parlamentarische Fundamentalopposition, während sich in den Straßen unter dem Slogan „Occupy Wall Street“ endlich wieder eine linke Massenbewegung formiert. Ganz anders in Deutschland: Hierzulande planen prominente Rechtspopulisten den Einzug in die Parlamente und setzen dabei neben Europakritik und D-Mark-Nostalgie auch auf originär linke Themen, wie beispielsweise die Kritik am Finanzsystem. Von Jens Berger
Der erste Teil mit dem Titel „Rechtspopulist Hans Olaf Henkel spielt mit den Ängsten der Bevölkerung“ ist am 7. Oktober auf den NachDenkSeiten erschienen. Wenn sich PR-Strategen ein zentrales Thema für eine „neue“ rechte Partei aussuchen müssten, würde ihre Wahl auf den Euro fallen. Verschiedene mehr oder weniger seriöse Umfragen behaupten, dass rund die Hälfte der Deutschen zurück zur D-Mark will – besonders stark ist die Eurokritik dabei bei Wählern der FDP vertreten. Dabei bedient die Eurokritik auch typisch bürgerliche Empörungsrituale. Da sie abseits der Springer-Zeitungen in den Medien nicht sonderlich goutiert wird und eine breite Mehrheit der Parlamentarier sich gegen die Eurokritik verwehrt, kann bei den eurokritischen Bürgern der Eindruck entstehen, ihre Meinung sei unterdrückt und würde von „den Politikern“ nicht ernst genommen. Dieser Sarrazin-Effekt führt nicht nur zu absurden Verschwörungstheorien, sondern auch zu einer halsstarrigen „Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen-Mentalität“, die nur darauf wartet, von Populisten bedient zu werden. Potential am rechten Rand Glaubt man einer aktuellen Emnid-Umfrage, könnte sich jeder Dritte vorstellen, eine eurokritische Partei zu wählen. Schon im letzten Jahr antwortete auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte jeder fünfte Befragte, dass er sich vorstellen könne, eine neue „Rechtspartei“ zu wählen. Erstaunlicherweise zählten bei beiden Umfragen Anhänger der Linkspartei zu den größten potentiellen Fans einer noch nicht gegründeten „Rechtspartei“. Ob eine solche Umfrage das wahre Potential einer solchen Partei widerspiegelt, ist jedoch fraglich. Selbst wenn man die hohen Umfragewerte nicht all zu ernst nehmen sollte, scheint jedoch am rechten Rand durchaus Potential für eine neue Partei vorhanden zu sein. Frank Schäffler – der Manchester-Kapitalist Um die Schlagrichtung einer solchen Partei einordnen zu können, lohnt es sich, einen Blick auf das Umfeld von Hans Olaf Henkels jüngsten Ausflügen in die politische Agitation zu werfen. Wenn Henkel auftritt, so hat er meist die Herren Schäffler und Schachtschneider an seiner Seite. Der FDP-Mann Frank Schäffler ist durch seine konsequent eurokritische Linie in den letzten Monaten bereits zu fragwürdigem Ruhm gekommen und wird als Gesicht der parlamentarischen Eurokritik durch die Fernsehstudios der Republik gereicht. So „harmlos“, wie er auf den ersten Blick wirkt, ist Schäffler jedoch keinesfalls. Er bezeichnet sich selbst als Anhänger des Manchester-Kapitalismus, er ist ein Anhänger von August Hayek, dem volkswirtschaftlichen Vorbild von Reagan und Thatcher, ein radikaler Wirtschaftsliberaler wie aus dem Bilderbuch. Seine Querschüsse gegen den Euro im Allgemeinen und Griechenland im Speziellen dürften mittlerweile bekannt sein. Schäffler wurde bereits in der großen BILD-Studie der Otto-Brenner-Stiftung als eine der Personen genannt, die mit Vorliebe von der BILD befragt werden, wenn es gilt den steilen, populistischen Thesen des Blattes ein Politikergesicht zu geben. Politiker wie Frank Schäffler sind in Deutschland relativ selten. Das mag auch an der sozialstaatlichen Tradition und der Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft liegen, die nie großen Raum für offen ausgesprochene marktradikale Positionen geboten hat. In den USA ist Schäfflers ideologische Welt alles andere als selten, sie bildet vielmehr das libertäre Rückgrat der Tea-Party-Bewegung, wenn es um wirtschaftspolitische Fragen geht. Das erzkonservative Rückgrat der Bewegung findet in Deutschland in Henkels zweitem Mitstreiter ein Gesicht: Karl Albrecht Schachtschneider. Karl Albrecht Schachtschneider – der Eurogegner vom rechten Rand Schachtschneider ist ein Eurogegner der ersten Stunde, der an allen Verfassungsklagen gegen den Euro beteiligt war. Der emeritierte Jurist hat keine Berührungsängste mit dem rechtsextremen Rand. Er trat in jüngster Vergangenheit unter anderem bei Veranstaltungen der Bürgerbewegung pro Köln, der Haider-Partei FPÖ, dem als Netzwerk der „Neuen Rechten“ geltenden Studienzentrum Weikersheim, dem rechts-sektiererischen VPM und diversen Burschenschaften auf. Schachtschneider ist (wie Henkel und andere Personen aus dessen Umfeld) regelmäßiger Autor der „Jungen Freiheit“ und ein beliebter Interviewpartner des rechtspopulistischen und islamfeindlichen Internetblogs „Politically Incorrect“. Bereits in den 90ern war er Mitglied der rechtspopulistischen, euroskeptischen Partei „Bund freier Bürger – Offensive für Deutschland“, die damals vom ehemaligen FDP-Rechtaußen Manfred Brunner gegründet und maßgeblich von August von Finck jr. finanziert wurde. Finck ist auch als großzügiger Spender des Bürgerkonvents bekannt, aus dem die „Zivile Koalition“ hervorging, die nicht nur durch ihre eurofeindlichen Kampagnen, sondern auch immer wieder durch Veranstaltungen mit den Eurogegnern Henkel, Schäffler und Schachtschneider von sich Reden macht.
(Siehe dazu: Bürgerkonvent 2.0 – die deutsche Tea-Party-Bewegung) Verschwörungstheoretiker und Querfrontstrategien Zum erweiterten Umfeld der Gruppe um Hans Olaf Henkel zählen auch Gruppierungen, die man eher in der Kategorie „Verschwörungstheoretiker“ verorten würde. Dazu zählt beispielsweise das „Aktionsbündnis Direkte Demokratie“, das Henkels Thesen voll teilt und von obskuren Gruppierungen und Kleinstparteien getragen wird, wie beispielsweise dem „Netzwerk Volksentscheid“, zu dessen „Medienpartnern“ das Who is Who der deutschen Verschwörungstheoretikerszene gehört, und der „Partei der Vernunft“ (pdv), die nicht nur den Euro, sondern auch gleich noch die Einkommens-, Lohn- und Körperschaftsteuer ersatzlos abschaffen will und ebenfalls bestens mit der Verschwörungstheoretikerszene vernetzt ist. Erschreckend ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die kruden Thesen dieser Gruppierungen auch bei links-denkenden Menschen teilweise auf große Begeisterung stoßen, zumal sie oft geschickt mit dem Thema Kritik am Finanzsystem spielen. Bereits in den 1920ern griffen rechtsextreme Gruppierungen unter dem Schlagwort „Querfront“ zu solchen Bündnisstrategien. Diese Strategien erfreuen sich auch im Sog der Finanzkrise größter Beliebtheit: So zählt beispielsweise auch der ehemals „linke“ Publizist Jürgen Elsässer mit seiner rechtspopulistischen „Volksinitiative gegen das Finanzkapital“ zu den glühendsten Verehrern von Henkel, Schäffler, Schachtschneider und Co. Übernahme der FDP? Ob Hans Olaf Henkel und seine Mitstreiter wirklich eine neue Partei gründen, hängt wohl auch von dem Mitgliederentscheid der FDP ab, den Frank Schäffler initiiert hat. Sollte die FDP-Basis gegen den Euro votieren, wäre die Partei nicht mehr koalitionsfähig und somit binnen kürzester Zeit sturmreif für die Eurogegner. Hans Olaf Henkel ließ bereits mehrfach bekunden, dass ihm eine solche „feindliche Übernahme“ der FDP wesentlich lieber wäre, als die Gründung einer neuen Partei. | Jens Berger | Lange Jahre hat die amerikanische Tea-Party-Bewegung die außerparlamentarische Opposition in den USA fast im Alleingang geprägt. Diese Zeiten sind jedoch vorbei. Heute betreibt die Tea Party parlamentarische Fundamentalopposition, während sich in den Straßen unter dem Slogan „Occupy Wall Street“ endlich wieder eine linke Massenbewegung formiert. Ganz anders in Deutschland: Hierzulande planen p ... | [
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Unter jedem Dach ein Ach | Wenn einer eine Reise macht, … Ich habe bei einer Wochenendreise aus privaten Gründen kürzlich einmal mehr erfahren, wie sehr wir Bürger in einer enorm konfliktreichen, einer schwierigen Zeit leben. Eigentlich lautete mein Plan, Verwandte zu besuchen und gemeinsam ausschließlich eine schöne Zeit zu haben. Doch stellte sich heraus, dass das mit dem Friede-Freude-Eierkuchen-Zusammensein gar nicht einfach ist: Ein großer Bedarf an Gesprächen, an Fragenstellen, zum Schimpfen und Empören war aufgelaufen. Wir hatten dagegen einen richtig guten, einen positiven Plan: Um die ganzen schlecht empfundenen und die in der Tat schlechten Nachrichten und Zustände samt unserer Ohnmacht zu ertragen, bleibt uns einfachen Bürgern mindestens der Humor, stellten wir fest. Wir lachten vieles einfach weg und hatten unseren Spaß beim Sammeln von „Sprüchwörtern“ aus des Volkes Mund. Wir merkten, dass es uns gut geht, sobald wir auf uns bauen. Ein satirischer Zwischenruf von Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Ein Besuch bei der Verwandtschaft ist schön. Wenn man auf dem Sofa oder in der Küche sitzt und das Leben auswertet, geht einem das Herz auf. Was alles passiert ist, man hat sich ja lange nicht mehr gesehen, lässt einen staunen. Aber auch der Ärger bleibt nicht außen vor. Dass die Lebenshaltungskosten steigen, erfahre ich, dass die Bedingungen auf der Arbeit suboptimal seien, ebenso. Hilft ja nichts, konstatiert die Verwandtschaft. Ich nicke. Tröstend ist, noch wenige Jahre ist zu malochen, dann geht es endlich in Rente, höre ich von der Schwester. Nur gut, Mutter ist schon Rentnerin, stellen wir erleichtert fest. Uns fällt ernüchtert und seufzend ein: „Unter jedem Dach ein Ach.“ Die Welt draußen vor der Tür tobt und die Kochkünste von Mutter und Schwester versöhnen einen und verwöhnen Seele und Bauch. Bei aller Preissteigerung – der Tisch ist voll. Noch. Mitten in die familiäre Harmonie platzen die Nachrichtensendungen über Tarifverträge und Lohnerhöhungen. Das erzeugt mehrere Lacher im Raum. Mindestens beim Spruch, „Das Leben ist kein Wunschkonzert“, gibt es kein Halten mehr beim Bäuchehalten. Und noch besser kommt es bei „Geld allein macht nicht glücklich“ – bittersüßer Jubel, denn Geld regiert die Welt. Trotzdem. Der Fernseher läuft. Die Bilder sehen schon nach was aus, als der Kanzlerbesuch am Meer gezeigt wird. Das freut uns. Die Schuldeingeständnisse im Parlament eine Nachricht später werden mit „Geht doch“ kommentiert. Mutter sagt beim Sammeln weiser Worte aus unserem reichen Muttersprachen-Schatz trocken: „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Ich stimme zu, unser Kanzler war an der Ostsee, wo die ihn empfangenden Leute tobten und gar nicht lieb waren. Das ist kein leichter Job, erfüllt er doch seinen Eid Tag für Tag. Er versprach etwas wie neue, blühende Landschaften vor der Küste. Keine Sorge, das klappt alles sicher, kann auch sein, dass er nach der ganzen Mühe wieder bissel was vergisst, wird philosophiert. Wir lachen herzlich beim Bericht über unseren kompetenten Gesundheitsminister. Der wird im Privat-TV derart angekündigt, dass er seine Schuld in der Pandemie eingestanden habe. Was wir dann zu hören bekommen, ist, dass er sagt, wir sind den Kindern noch etwas schuldig. Mensch, Karl, ist schon korrekt. Mensch, klasse, deine Worte klingen wie „beim nächsten Mal gibt es Schokolade gratis“ oder „eine Freifahrt auf dem Rummel“. Ich stutze und meine für mich: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Fragezeichen. Dass Karlchen ein schlaues Kerlchen ist, sehe ich später beim Lesen einer Meldung über seinen neuesten Coup marktwirtschaftlichen Handelns in der und für die Gesundheitsbranche. Ich schlussfolgere: Die Medikamente werden teurer, ich höre meine Mutter und ihr „Geld ist nicht alles“ und nehme mir deren Worte an: „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Alles könnte zwar auch so laufen, dass man als wichtige, mächtige Pharma nicht ganz so viel Profit machen oder sich gar an seinen Versorgungsauftrag erinnern und daran halten könnte. Aber die hat halt auch ihre Probleme, habe ich Verständnis. Im Grunde macht Pharma alles richtig, denn: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Solche Geschäftsideen, solche Produkte müssen einem erstmal einfallen und gelingen. Einen Anruf zwischendurch von einer weiteren Verwandten hätte ich gern an den Minister weitergeleitet, auf dass er ihr vielleicht sagt, er sei ihr auch etwas schuldig. Sie erlebte gerade eine Art Odyssee in Sachen Notaufnahme, berichtete sie. Mensch, in einem der reichsten Länder der Welt leistet man es sich, Krankenhäuser und Notaufnahmen zu schließen. Das Personal fängt das schon auf, die Patienten haben Verständnis. Die Versorgung optimieren halt. Passiert gerade in meiner Heimat. Betriebswirtschaftlich ist das sauber, klar, hat ja unser Gesundheitsminister und Fürsprecher für die Engagierten der medizinischen Wirtschaft so gesagt. Dass der Nägel mit Köpfen machen kann – siehe sein Handeln versus Engpässe. Mutter und Schwester schimpfen. „Die Katze im Sack kaufen“, kommt uns in den Sinn. Im Supermarkt erlebt Kunde immer wieder schöne Überraschungen, letztens erst wieder, dass Waren, die irgendwie etwas mit Tomate zu tun haben, preislich eine stabile Richtung zeigen: nach oben. Ähnliches beobachten meine Damen bei vielen anderen Produkten auch. Irgendwie muss das ganze Zeug bezahlt werden, was für unsere westlichen Werte in den Ring geworfen wird, wende ich ein. Dann nimmt man sich eine Schachtel Pralinen, eine Tüte voll Gewürzmischung, eine mit Gebäck und wundert sich daheim beim Auspacken, dass in den Packungen noch viel Luft nach oben ist. Naja, nachschauen, also in den sprichwörtlichen Sack, ging beim Einkaufen nicht. Unser Trost: Wenigstens verdient der Handel ordentlich mit dem kleinen Betrug, der Mogelei, ist ja nur ein wenig geschummelt, der damit erschlichene Ertrag wird ja meines Wissens sehr fair auf die Angestellten und Führungskräfte verteilt. Nach meiner Rückkehr daheim lese ich, diesmal in einer Berliner Zeitung, dass wir, also die einfachen Bürger und Kunden, unseren kraftvollen Beitrag zum Wohlergehen einer ganzen Branche leisten und die Branche ein wenig nachhilft. Zurück ins Wochenende. Abends beim zweiten, dritten Bier geht es um ein bisschen Kultur und um Freiheit. „Leben und leben lassen.“ Pink-Floyd-Gründer ist ein ziemlich böser Mann. Wir finden, böse sein, das ist erlaubt, böse Meinungen äußern, knallhart wirtschaftlich handeln, mogeln und clever sein ja ebenso. Nun darf der berühmte Musiker doch auftreten im Land der Dichter und Denker, unserer Republik der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, in der die Kunst ein hohes Gut ist. Wir finden: Pink Floyd ist Kunst – das Gericht sagt das auch. Leben und leben lassen eben. Auf der Autobahn freue ich mich bei der Fahrt quer durch die bunte Republik über mehrere Fahrzeug-Kolonnen mit olivgrünem Anstrich, deren Himmelsrichtung ihrer Reise gen Osten weist. Ich zähle wie ein kleiner Junge, staune und bin schon ein wenig beeindruckt ob der Menge an modernem Gerät. Es scheint, als käme von dem vielen Geld, das in unsere bisher vernachlässigte, heruntergekommene Bundeswehr nun endlich gesteckt wird, endlich was an, und zwar dort, wo es gebraucht wird. Muss ja. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“ Bald geht’s richtig los, die schöne Jahreszeit lässt Schlammpisten vergessen machen, auf dass Panzerketten einen guten Griff haben, erfahre ich über die kommende Offensive. Der Regierungschef des größten Landes der Welt, das den ganzen Krieg zu verantworten hat, kündigt derweil, sicher scherzhaft gemeint, an, dass nach all dem Kämpfen und Sterben dann die Siegesparade in Berlin stattfinden wird, weil wir Deutschen ja Kriegspartei sind. So ein Aufmarsch hat was, denke ich. Mal sehen, ob man noch ein Zimmer in der Hauptstadt bekommt. Gut macht sich dann, wenn man ein paar Brocken in der Siegersprache draufhat, wegen der Integration nach dem Krieg. Wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird, beruhige ich mich. Ich hoffe, dass die wichtigen Leute sich noch ein wenig in der Welt der Sprüche umsehen, die kommen aus dem Volk und haben viel Wahrheit zu verbreiten. Es ist für Einsicht und Vernunft nie zu spät, aber: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Titelbild: BearFotos/shutterstock.com | Frank Blenz | Wenn einer eine Reise macht, ... Ich habe bei einer Wochenendreise aus privaten Gründen kürzlich einmal mehr erfahren, wie sehr wir Bürger in einer enorm konfliktreichen, einer schwierigen Zeit leben. Eigentlich lautete mein Plan, Verwandte zu besuchen und gemeinsam ausschließlich eine schöne Zeit zu haben. Doch stellte sich heraus, dass das mit dem Friede-Freude-Eierkuchen-Zusammensein gar ni ... | [
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] | 26. April 2023 10:56 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=96827&share=email |
Wie Medien über eine Medienstudie berichten… …und das Misstrauen gegenüber Medien dadurch anfachen | Eine Medien-Studie belegt einmal mehr eine starke Entfremdung vieler Bürger von den großen deutschen Publikationen. Interessant ist, wie unterschiedlich diese Medien das Ergebnis selber darstellen. Von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download „Vertrauen in deutsche Medien bleibt konstant“, erklärte am Mittwoch die „Zeit“. Ist das tatsächlich so? Und wie kommt die Hamburger Wochenzeitung zu diesem Befund? In einer aktuellen Studie hat die Gutenberg-Universität Mainz Zahlen zum Vertrauen der Bürger in deutsche Massenmedien ermittelt. Die Studie ist Teil eines seit 2015 laufenden Projekts – neben Momentaufnahmen können daraus also auch Tendenzen abgelesen werden. Zuletzt wurden im Oktober und November 2018 insgesamt 1200 Bürger ab 18 Jahren befragt. Viele Zahlen der Studie sagen das Gegenteil der „Zeit“-Schlagzeile: Bei „wichtigen Fragen“ haben 22 Prozent „kein bzw. eher kein“ Vertrauen in die deutschen Medien – das sind fünf Prozentpunkte mehr als im Jahr zuvor. Der gleiche Befund ist bei folgendem Satz festzustellen: „Die Medien arbeiten mit der Politik Hand in Hand, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren.“ Dieser Aussage stimmen 25 Prozent zu, im Jahr zuvor waren das nur 20 Prozent gewesen, 2016 aber auch schon mal 27 Prozent. Rechnet man die Menschen hinzu, die der Aussage „zum Teil“ zustimmen, so verbleiben lediglich 44 Prozent, die diesem vernichtenden Befund eindeutig widersprechen. Ebenfalls (wieder) angestiegen ist die Zustimmung zu der Aussage: „Die Bevölkerung in Deutschland wird von den Medien systematisch belogen.“ Sie stieg von 13 Prozent in 2017 auf 16 Prozent in 2018 (2016: 19%). Auf der anderen Seite sind aber zwei Prozentpunkte der Befragten mehr der Meinung, den Medien „bei wichtigen Fragen vertrauen“ zu können (44 statt 42 Prozent in 2017) – diesen Aspekt stellen die „Zeit“ und zahlreiche andere Medien in den Vordergrund. Wenn aber gleichzeitig das Misstrauen so stark zunimmt, wie oben beschrieben, so sind zahlreiche aktuelle Schlagzeilen zur Studie nicht haltbar. Dass einige Medien, wie auch die „Zeit“, im Artikel dann (gezwungenermaßen) die weitgehend anderslautende Botschaft der Studie zitieren, gleicht den Manipulationsversuch im Titel nicht aus. In dieser Weise facht man jenes Misstrauen gegen die Medien an, das man mit dem Verhalten eigentlich kaschieren will. Nimmt man noch folgende Grafik zur Hand, so kann man im Gegensatz zu so manchem Medium nur eine anhaltende und eindeutige Erosion des Vertrauens in die Medien feststellen. Bei sämtlichen medienkritischen Aussagen hat sich die Zustimmung im Vergleich zum Vorjahr erhöht. Am deutlichsten bei der Feststellung: „Die Medien haben den Kontakt zu Menschen wie mir verloren.“ Dem stimmen 27 Prozent der Befragten zu, im Vergleich zu lediglich 18 Prozent in 2017. Von 36 auf 43 Prozent stieg die Zustimmung für die Aussage, dass Medien gesellschaftliche Zusammenhänge anders darstellen, als es die Bürger im eigenen Umfeld wahrnehmen. Also ist das ZDF mit seiner Schlagzeile erheblich näher an der Wahrheit: „Vorbehalte gegenüber Medien wieder gestiegen.“ Weiter weg ist wiederum „Forschung und Lehre“, die titeln: „Vertrauen in etablierte Medien steigt.“ Angesichts der oben zitierten Zahlen ebenfalls nicht ganz korrekt behauptet der Deutschlandfunk: „Die Deutschen haben ein gleichbleibend hohes Vertrauen in die Medien.“ Im Gegensatz dazu treffend schreibt das „Pro Medienmagazin“: „Medien werden ihrem Publikum fremd“. Diese Entfremdung bereitet den Medien Sorge, das ist nachvollziehbar und an der verdrucksten und teils widersprüchlichen Berichterstattung zur Studie abzulesen. Für die Gesellschaft aber kann diese Entfremdung vieler Bürger von einem extrem defizitären Medienbetrieb eine Chance sein. Die Entwicklung kann im besten Fall in die Ausbildung von gesunder Medienskepsis und -kompetenz münden. Nochmal: Ein Viertel der Befragten stimmt mittlerweile vorbehaltlos(!) dieser noch bis vor Kurzem weithin als radikal empfundenen Aussage zu: „Die Medien arbeiten mit der Politik Hand in Hand, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren.“ Die NachDenkSeiten sind an dieser Erweckung nicht ganz unschuldig, wie die Uni Mainz in einem „Persönlichkeitsprofil“ jener konsequenten Medienkritiker feststellt: Demnach nutzen diese überdurchschnittlich oft „Online-Nachrichtenseiten“. Titelbild: Mushakesa / Shutterstock
Grafiken: Uni Mainz | Tobias Riegel | Eine Medien-Studie belegt einmal mehr eine starke Entfremdung vieler Bürger von den großen deutschen Publikationen. Interessant ist, wie unterschiedlich diese Medien das Ergebnis selber darstellen. Von Tobias Riegel.
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] | 08. März 2019 11:30 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=49974&share=email&nb=1 |
Die CDU-nahe Stiftung Marktwirtschaft zur Erhöhung der Dosis bei den weiteren Reformen der Arbeitslosenversicherung | Die Stiftung Marktwirtschaft gehört zu einem einflussreichen Idologie-Tank der CDU (siehe taz). Was jetzt noch nicht im „Regierungsprogramm“ steht, kann man schon mal dort nachlesen. So lassen sich die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung locker von 6,5 auf 4,5 Prozent senken.
Die möglichen Reformmaßnahmen: Bei Umsetzung aller Vorschläge wäre eine Senkung von mehr als 2,5 Prozentpunkten möglich. Quelle: Stiftung Marktwirtschaft [PDF – 176 KB] | Wolfgang Lieb | Die Stiftung Marktwirtschaft gehört zu einem einflussreichen Idologie-Tank der CDU (siehe taz). Was jetzt noch nicht im „Regierungsprogramm“ steht, kann man schon mal dort nachlesen. So lassen sich die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung locker von 6,5 auf 4,5 Prozent senken.
Die möglichen Reformmaßnahmen:
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] | 19. Juli 2005 20:29 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=639&share=email |
Leserbrief und Einspruch zum Interview „Political Correctness: „Der Angeklagte ist zugleich der Verurteilte“ | Nicht nur unsere Leserin S.P. – ihr Leserbrief ist unten angehängt – war irritiert über das mit Herrn Stegemann geführte Interview, das gestern auf den NachDenkSeiten erschienen ist. Dort wird die Empörung über Sexismus und die „metoo-Bewegung“ verglichen mit dem Umgang mit wirtschaftlich schwachen Menschen. Diese Relativierung sexueller Übergriffe ist nach Ansicht der Leserbriefschreiberin unnötig und unzulässig. Anette Sorg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Wenn Bernd Stegemann im Interview behauptet: dann hat Stegemann ein äußerst unpassendes Beispiel für eine dieser Empörungswellen ausgewählt, indem er versucht, mit einem einzelnen – zugegeben bescheuerten Zitat – die Opfer zu Tätern werden zu lassen. Man muss nicht einmal Freund/in der „Metoo“- Bewegung sein, um ein Ablenkungsmanöver auf „unschuldige Männer“ vollkommen unangebracht zu empfinden. Zumal von einem einzigen Zitat abgeleitet und von der Realität keinesfalls gedeckt. Oder haben Sie von einem unschuldigen (männlichen) Opfer dieser Empörung gehört oder gelesen? In einem Interview über political correctness hätte ich mehr Korrektheit erwartet. Die Heute Show vom 15.12.2017 hat sich diesem Thema übrigens ganz anders genähert. (ab Minute 5) Überhaupt scheint Stegemann große Probleme mit Sexismus-Debatten zu haben, denn auch in einem weiteren Passus verharmlost er die „Aufregung“ um dieses Thema in unzulässiger Weise. Ist es politisch korrekt, zwei gleichermaßen zu kritisierende Vorgänge gegeneinander auszuspielen? Wird die verbale Entgleisung Brüderles, auf die Herr Stegemann hier Bezug nimmt, weniger harmlos, wenn diese mit einem anderen, natürlich ebenso unerträglichen Ereignis verglichen wird? Wohl kaum. Ich teile die Auffassung der Leserbriefschreiberin, die sagt: Im Übrigen muss man sich als regelmäßige/r Nachdenkseitenleser/in schon wundern, wenn Stegemann auf Marcus Klöckners Frage so antwortet, als gäbe es nicht seit nahezu 15 Jahren das Medium Nachdenkseiten und neben diesen noch viele weitere aufklärende Blogs, die sich eben dieser Aufklärung verpflichtet sehen und diese tagtäglich betreiben: Dass die Zahl der Aufgeklärten noch zunehmen muss, dass es einer breiteren Bewegung bedarf, um Manipulationen zu entlarven, darin wiederum sehe ich eine Übereinstimmung mit Herrn Stegemann. Leserbrief der NachDenkSeiten-Leserin S.P.: | Anette Sorg | Nicht nur unsere Leserin S.P. - ihr Leserbrief ist unten angehängt - war irritiert über das mit Herrn Stegemann geführte Interview, das gestern auf den NachDenkSeiten erschienen ist. Dort wird die Empörung über Sexismus und die „metoo-Bewegung“ verglichen mit dem Umgang mit wirtschaftlich schwachen Menschen. Diese Relativierung sexueller Übergriffe ist nach Ansicht der Leserbriefschreiberin un ... | [
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Die ökologische Scheinheiligkeit der Militärs | Die aktuellen Aussagen der NATO-Staaten auf den UNO-Konferenzen im Herbst 2024 stehen im Widerspruch zur Realität. Während offiziell von Klimaschutz und Nachhaltigkeit gesprochen wird, wird die ökologische Zerstörung durch ungebremste Militärausgaben und Kriege vorangetrieben. Anstatt Lösungen für die globale Klimakrise zu fördern, priorisieren diese Staaten die Sicherung geopolitischer Interessen und verschärfen damit die Klimabelastung, was die Menschheit an die Grenze ihrer Bewältigungskapazität bringt. Von Bernhard Trautvetter. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Die auf die ökologisch wichtigen UNO-Konferenzen im Herbst 2024 bezogenen Verlautbarungen der Staaten, die mit der NATO in Verbindung stehen, stehen im krassen Widerspruch zur harten Realität. Im Mai 2022 erklärten die G7-Staaten, also Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, USA sowie die Europäische Union: „Die G7-Klima-, Energie- und Umweltministerinnen und -minister einigten sich bei ihrem Treffen auf gemeinsame Maßnahmen für mehr Schutz von Klima, Biodiversität und einer sicheren Energieversorgung. Sie verpflichteten sich auch dazu, vulnerable Länder bei Klimawandel-Schäden stärker zu unterstützen.“ Schon im Vorfeld des aktuell laufenden Weltklimagipfels in Baku vom 11. bis zum 22. November wurde angekündigt, dass Konflikte über die Finanzierung von Klimahilfen den Konferenzverlauf überschatten: „Besonders hart dürfte darüber gerungen werden, wer wie viel bezahlt, um die schwerwiegendsten Folgen der Erderwärmung zu lindern.“ Dieser Planung zufolge haben sich die beteiligten Staaten mit der Zunahme von katastrophalen Klimaereignissen in den letzten Jahren weitgehend abgefunden, jetzt geht es nur noch um die Finanzierung der Hilfe für besonders betroffene Staaten zur ‚Linderung‘ der Folgen dieser Katastrophen. Und dabei gehen Beobachter von Konflikten über die Finanzierung aus. Das entspricht dem Grund für das Scheitern der Biodiversitätskonferenz im kolumbianischen Cali Anfang November 2024. Die Neue Zürcher Zeitung ordnete das Scheitern der Konferenz so ein: Hinzu kommt der Plan der USA, 2025 aus dem Welt-Klima-Vertrag von Paris 2015 auszusteigen. Zu den Verpflichtungen der Klima-Konferenz von Paris 2015 gehörten fest vereinbarte Schritte der CO2-Reduktion, um die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad plus zum Stoppen zu bringen. Zu Donald Trumps Ankündigung schrieb das Handelsblatt: „Das wiederum könnte einen Totalausfall der USA bei der internationalen Klimafinanzierung bedeuten und ebenso die Finanzierung multilateraler Institutionen von den Vereinten Nationen bis zur Weltbank gefährden.“ Dem steht die Priorität vor allem der Staaten mit Verbindung zur NATO gegenüber, die alleine circa 55 Prozent der Weltmilitärausgaben aufwendet. Sie nennen ihre Militärpolitik ‚Sicherheitspolitik‘, obwohl sie die Sicherheit des Lebens auf der Erde untergräbt. Die Scientists for future Österreich veröffentlichten bereits 2021 zu dieser Prioritätensetzung: Diese dem Primat der Sicherung der Lebensgrundlagen entgegenstehende Politik wird auch durch die Ökologieschädigung des Militärsektors deutlich: Die Ende 2023 veröffentlichte Studie »CLIMATE CROSSFIRE« der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) besagt, dass der gesamte militärische CO2-Fußabdruck der NATO von 196 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten (tCO2e) 2021 auf 226 Millionen tCO2e im Jahr 2023 stieg – das sind 30 Millionen Tonnen mehr innerhalb von zwei Jahren; das entspricht der Emission von circa acht Millionen zusätzlichen Autos. Der durchschnittliche jährliche Kohlenstoff-Fußabdruck der NATO von 205 Millionen tCO2e ist höher als die Summe der Treibhausgasemissionen vieler einzelner Staaten innerhalb eines Jahres. Wäre die NATO ein Staat, dann wäre sie an 40. Stelle der größten kohlenstoffemittierenden Staaten der Welt. Wenn alle NATO-Mitgliedsstaaten bis 2028 die NATO-Vorgaben, mindestens zwei Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung für den Militärsektor auszugeben, erfüllen, wird ihr militärischer Kohlenstoff-Fußabdruck insgesamt zwei Milliarden tCO2e umfassen, das sind mehr als die jährlichen Treibhausgasemissionen Russlands, eines großen erdölproduzierenden Staates. Diese Klimaschädigungen betreffen Emissionen, ohne dass es bereits zu einem Einsatz von Waffen im Krieg gekommen ist. Die Klimaschädigungen infolge der Kriege unserer Epoche – wie der durch den Irak-Krieg im Jahr 2003 oder der durch den Krieg um die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine (seit 2022) – steigern diese jährlich auftretende Schädigung der Biosphäre durch Militärs zusätzlich und massiv. Während der Weltklimakonferenz COP 29 veröffentlichte die Universität von Exter das ›Global Carbon Budget‹ mit dieser Information über die Klimaschäden im Berichtsjahr: Quintessenz: Ohne radikale Abrüstung werden die ökologischen Probleme der Menschheit immer näher in den Bereich von Ausmaßen ankommen, deren Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt. Die Heuchelei der Vertreter der betreffenden Staaten, wenn sie auf den UNO-Konferenzen und in der Öffentlichkeit von Nachhaltigkeit sprechen, erweist sich als ein Element der immer weiter eskalierenden globalen Katastrophe. Sie sind Nebelkerzen, die die Menschen beschwichtigen sollen, das Geschäft mit dem Krieg und damit mit dem Tod nicht zu durchkreuzen. Titelbild: Scharfsinn/shutterstock.com | Bernhard Trautvetter | Die aktuellen Aussagen der NATO-Staaten auf den UNO-Konferenzen im Herbst 2024 stehen im Widerspruch zur Realität. 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] | 18. November 2024 9:01 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=124906&share=email |
Ökonomische Konsenssoße mit viel Licht und viel Schatten | Mit Spannung wurde der erste Bericht des „Expertenrats“ des Insitute for New Economic Thinking (INET) zur Eurokrise erwartet. Schließlich zählen einige der Mitglieder dieses Rats (z.B. Peter Bofinger, Daniel Gros oder Paul de Grauwe) nicht zu Unrecht zu den ausgewiesenen Vertreter der Ökonomenzunft. Nun liegt der Bericht vor und selbst bei wohlwollender Betrachtung stellt er leider bestenfalls eine mittlere Enttäuschung dar. Obgleich das Papier einige durchaus bemerkenswerte Vorschläge zur Lösung der Eurokrise beinhaltet, die durchaus in die richtige Richtung gehen könnten, ist es auch von neoliberalen Mainstream-Plattitüden durchzogen und geht am realwirtschaftlichen Kern der Krise weitgehend vorbei. Es ist unverständlich, warum kritische Ökonomen wie etwa Peter Bofinger ein solches Papier unterzeichnet haben. Von Jens Berger.
Laut FTD handelt es sich bei dem Papier der INET-Ökonomen um einen „Masterplan“ zur Beendigung der Eurokrise. Das klingt großspurig und weckt Erwartungen, die das Papier leider nicht erfüllen kann. Bereits bei der Problemanalyse zeigt sich neben viel Licht auch viel Schatten. Zwar malen die Autoren ein angemessen düsteres Bild der Realität und weisen vollkommen zurecht darauf hin, dass die Eurozone sich „schlafwandelnd in eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes“ bewegt, wenn die Politik ihre Krisenstrategie nicht schnellstens ändert – dabei stützen sie sich in ihrer Analyse der Schwachstellen der Eurozone jedoch – wie die derzeit praktizierte Krisenbewältigungspolitik – fast ausschließlich auf die Symptome (Zinsen der Staatsanleihen, desolate Bankenbilanzen, Staatsschulden) und ignorieren die Ursachen (realwirtschaftliches Gefälle, Außenhandelsüberschüsse und –defizite, Produktivitätsunterschiede, die Auseinanderentwicklung der Inflationsraten im Währungsgebiet) geflissentlich. Zwar unterteilt das Papier die Lösungsstrategien in kurz- und langfristige Maßnahmen, jedoch haben sowohl die kurz- als auch die langfristigen Maßnahmen gravierende Schwachpunkte. Viel Licht … Für die INET-Ökonomen steht fest, dass die Politik bislang viel zu zaghaft auf einen wichtigen Aspekt der Eurokrise reagiert hat, den man wohl am besten als „Staatsanleihenkrise“ bezeichnen könnte. Mit Ausnahme von Griechenland haben die Eurostaaten kein unlösbares Staatsschuldenproblem. Selbst die italienische Staatsverschuldung mit 123% (gemessen am BIP) wäre nicht existenzbedrohend, solange sich die Zinsen in einem vertretbaren Korridor bewegten. Dies ist seit Beginn der Eurokrise jedoch nicht mehr der Fall, die INET-Ökonomen sprechen hier zu Recht von einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Die Akteure an den Finanzmärkten haben Angst vor höheren Risikoaufschlägen, wenn das Land durch höhere Zinsen Refinanzierungsprobleme bekommen könnte, halten sich beim Kauf der Anleihen zurück und sorgen dadurch erst recht für höhere Zinsen, die dann erst die Refinanzierungsprobleme auslösen, vor denen man sich vorher gefürchtet hat. Um diesen Teufelskreis zu unterbrechen, ist es nötig, das Land solange vor den Märkten abzuschotten, bis sich die Lage wieder beruhigt hat und die Risikoaufschläge auf ein vertretbares Niveau zurückkehren. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, gehen die INET-Ökonomen allerdings über die bisherige Krisenpolitik hinaus. Für die akute Refinanzierung im Falle zu hoher Zinsen halten auch sie das Instrument des ESM prinzipiell für tauglich, weisen jedoch korrekterweise auch darauf hin, dass der ESM zu wenig Kapital hat, um die vollständige Refinanzierung großer Volkswirtschaften wie die Italiens und Spaniens aus eigener Kraft zu garantieren. Um dieses Problem zu lösen, schlagen die INET-Ökonomen vor, dem ESM eine Banklizenz zu geben, so dass er sich sein Kapital nicht von den Staaten, sondern (zum Leitzinssatz) von der EZB beschaffen kann. Dieser Vorschlag geht durchaus in die richtige Richtung und würde die Lage maßgeblich entspannen. Leider erwähnen die Autoren jedoch nicht, dass der Zugriff auf ESM-Mittel damit verbunden ist, dass der betreffende Staat sich vorab dem Diktat der Troika (EU/EZB/IWF) unterwerfen muss und es eben keinen „Rettungsautomatismus“ gibt, sondern jede ESM-Entscheidung auch politischer Natur ist. Die Staaten, die ESM-Mittel in Anspruch nehmen, müssten nach dem Vorschlag dieser Ökonomen zwar nicht mehr die Forderungen „der Märkte“, wohl aber die Forderungen der Troika erfüllen und kämen dabei meist vom Regen in die Traufe. Um die Staatsschuldenquote, die angeblich für die Risikoaufschläge verantwortlich ist, zu drücken, schwebt den INET-Ökonomen ein Schuldentilgungsfonds vor, in den (bis zu einem festgelegten Level) die neuen Schulden der Eurostaaten einfließen sollen. Dies schließt auch und vor allem die ESM-Mittel ein. Für diese Schulden haftet dann nicht mehr der einzelne Staat, sondern – und hier wird es problematisch – eine Schuldengemeinschaft. Nun hat aber das deutsche Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt, dass eine solche automatisierte Vergemeinschaftung europäischer Staatsschulden nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Das wissen auch die INET-Ökonomen und schlagen daher neben einer (nicht durchführbaren) klassischen Erhöhung der ESM-Mittel eine Finanzierung des ESM über die EZB vor. Dieser Schritt wäre – sofern er überhaupt politisch durchsetzbar ist – ein echter Paukenschlag, der die Staatsfinanzierung in der Eurozone auf eine neue Ebene hebt. In Industriestaaten mit eigener Währung, wie z.B. den USA, Großbritannien oder Japan, ist eine solche direkte Staatsfinanzierung über die eigene Notenbank schon länger Normalität, was unter anderem dazu führte, dass diese Staaten auch – trotz teilweise erheblich schlechterer Kennzahlen als die Eurostaaten – keine nennenswerten Risikoaufschläge an den Finanzmärkten zahlen müssen. Zu den Highlights des INET-Berichts zählt auch die halbwegs konkrete Ausformulierung einer Bankenunion, bei der die Rettung der einzelnen Banken nicht mehr den Nationalstaaten, sondern zunächst dem europäischen Bankensystem und danach einer – über die EZB finanzierten – „europäischen Bankenagentur“, die auch die oberste Finanzaufsicht innehaben soll, übertragen wird. Auch hinsichtlich der notwendigen Regulierung der Finanzmärkte geben sich die INET-Ökonomen kampfeslustig, wenn ihre Vorschläge auch wenig konkret und oft recht schwammig formuliert sind. … und viel Schatten In vielen anderen Punkten kann das INET-Papier jedoch nicht überzeugen. So schlagen die INET-Ökonomen beispielsweise einen freiwilligen Schuldenrestrukturierungsmechanismus für Eurostaaten vor, die sich nicht an die Bedingungen des Fiskalpakts halten können oder wollen. Welche Länder sind damit gemeint? Griechenland ist bereits in der Abwicklung und hat streng genommen nur noch öffentliche Gläubiger, für die kein solcher Mechanismus nötig ist. Italien und Spanien sind viel zu groß für einen solchen Mechanismus, der die Risikoprämien an den Finanzmärkten für alle angegriffenen Eurostaaten förmlich explodieren lassen würde. Die größte Schwäche des INET-Papiers ist jedoch seine Fokussierung auf finanzwirtschaftliche Fragen. Die Realwirtschaft blenden die INET-Ökonomen entweder komplett aus oder sie behandeln sie stiefmütterlich. Zwar wird an einigen Stellen des Dokuments klar gesagt, dass man in Zeiten der Krise antizyklische Wirtschaftspolitik betreiben müsse und dabei kurzfristig die Stabilitätskriterien suspendieren sollte – es wird jedoch an keiner Stelle gesagt, wie die Eurozone mittel- bis langfristig ihr realwirtschaftliches Gefälle in den Griff bekommen soll. Wenn ein Staat innerhalb der Eurozone seine Defizite abbauen will, muss zwingend auch ein anderer Staat seine Überschüsse abbauen. Innerhalb einer Gemeinschaftswährung gibt es nun einmal nicht den Wechselkurs als Korrektiv, mit dem sich eine solche Schieflage langfristig ausgleichen würde. Anstatt den Überschussstaaten die Leviten zu lesen, formulieren die INET-Ökonomen wachsweich, dass diese Staaten ihren „fiskalischen Spielraum“ nutzen sollten, um die Nachfrage der Eurozone als Ganzes zu stabilisieren. Dank des Fiskalpakts haben jedoch selbst die stärksten Eurostaaten kaum noch einen solchen fiskalischen Spielraum und es dürfte auch bekannt sein, was die Überschussstaaten (also Deutschland, Niederlande, Österreich und Finnland) von einer Stärkung der Binnennachfrage halten – nämlich ziemlich wenig. Als Kotau vor diesen Staaten – und deren monetaristischen Ideologie – präsentieren die INET-Ökonomen dann auch „folgerichtig“ eine Reihe von Vorschlägen, wie die Defizitstaaten Staatausgaben zusammenstreichen könnten, vermeiden es jedoch, den Überschussstaaten gute Ratschläge zu geben, wie sie durch höhere Staatsausgaben oder eine Stärkung der Massenkaufkraft die Nachfrage sinnvoll ankurbeln könnten. Unter den Ratschlägen für Kürzungen (fiskalische Strukturreformen) finden sich dann auch klassische neoliberale Rezepte, wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters, der Abbau von Stellen im öffentlichen Sektor, Arbeitsmarktreformen, eine Senkung der Lohnsteuer bei gleichzeitiger Erhöhung der indirekten (Konsum-)Steuern etc. pp. All dies entspringt eher dem Phrasenbaukasten der Neoliberalen und sollte in einem Papier eines „progressiven“ Think Tanks eigentlich keinen Platz haben. Die INET-Ökonomen verteidigen ferner sogar den Fiskalpakt, auch wenn sie die Ausnahmeregelungen für Krisen als unzureichend brandmarken, sie vermeiden es aber penibel, Steuererhöhungen oder gar eine Vermögensabgabe als Instrumente zur Verbesserung der Staatsfinanzen und als Alternative zu Ausgabenkürzungen ins Feld zu führen. Deshalb fragt man sich, was Ökonomen wie Peter Bofinger, die sich ansonsten gegen solche Rezepte aussprechen, veranlasst hat ein solches Papier zu unterschreiben. Gezwungen zum Konsens? Die mangelnde Qualität und Originalität des INET-Berichts mag darauf zurückzuführen sein, dass der Expertenrat des Think Tanks keineswegs nur aus kritischen Ökonomen besteht, die ein neues ökonomisches Denken verinnerlicht haben. Neben Peter Bofinger sitzen in diesem Gremium beispielsweise noch die in Deutschland tätigen Ökonomen Lars Feld (Uni Freiburg), Dennis Snower (Kieler Institut für Weltwirtschaft) und Beatrice Weder di Mauro (Uni Mainz), die allesamt eher dem ökonomischen Mainstream zuzuordnen sind. Es stellt sich die Frage, warum ein Institut, das sich ein „neues ökonomisches Denken“ auf die Fahnen geschrieben hat, von Köpfen repräsentiert wird, die das alte ökonomische Denken nicht nur verinnerlicht haben sondern geradezu dogmatisch verteidigen. Die interessantesten Punkte des Papiers sind dann auch die beiden Punkte, die im Addendum angeführt und die nicht von allen Experten dieses Rates getragen werden. Eine Mehrheit[*] des Rates war beispielsweise der Ansicht, dass die „fiskalischen Abwertungen“ in den Defizitstaaten durch eine „fiskalische Aufwertung“ in den Überschussstaaten – allen voran Deutschland – ergänzt werden müssten. Eine Minderheit des Rates war zudem der Meinung, dass das EZB-Statut in der Form geändert werden müsse, dass sich die Zentralbank nicht mehr ausschließlich auf die Geldwertstabilität, sondern vielmehr auch auf Kennzahlen wie das Wirtschaftswachstum und die Arbeitslosigkeit konzentrieren solle. Diese beiden Punkte waren jedoch im INET-Expertenrat nicht konsensfähig. Da stellt sich natürlich die Frage, wofür Europa einen weiteren Expertenrat braucht, der nur dann einen Konsens findet, wenn man nicht all zu sehr vom Mainstream abweicht. Als Plattform für „neues ökonomisches Denken“ hat sich das INET mit diesem Bericht zumindest weitestgehend verabschiedet. | Jens Berger | Mit Spannung wurde der erste Bericht des „Expertenrats“ des Insitute for New Economic Thinking (INET) zur Eurokrise erwartet. Schließlich zählen einige der Mitglieder dieses Rats (z.B. Peter Bofinger, Daniel Gros oder Paul de Grauwe) nicht zu Unrecht zu den ausgewiesenen Vertreter der Ökonomenzunft. Nun liegt der Bericht vor und selbst bei wohlwollender Betrachtung stellt er leider bestenfalls ... | [
"Bofinger, Peter",
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] | 26. Juli 2012 10:28 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=13992 |
Oskar Lafontaine: Politik für Alle – Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft | 5,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland, massiver Sozialabbau, wachsende Armut – und es ist kein Ausweg aus der Misere in Sicht. Politik und Wirtschaft halten nach wie vor am Kurs der Reformen fest, das deutsche Volk aber fühlt sich verraten und verkauft, reagiert mit Politikverdrossenheit und Protest.
Die Parteien, allen voran die SPD, haben ihre Ideale auf dem Altar des Neoliberalismus geopfert und bauen Staat und Gesellschaft rücksichtslos um. Oskar Lafontaine zeigt in seiner Streitschrift auf, warum die gegenwärtige Politik zum Scheitern verurteilt ist, und entwirft konkrete Vorschläge, wie sich eine gerechte Gesellschaft realisieren lässt. Sein Tenor: Nur durch einen radikalen Kurswechsel der Politik lassen sich die Menschen für die Demokratie zurückgewinnen. Mit Politik für alle hat Oskar Lafontaine ein kämpferisches Buch geschrieben, das nicht nur denen aus dem Herzen spricht, die nach einer linken politischen Alternative Ausschau halten. Econ Verlag
ISBN 3-430-15949-0
302 Seiten
19,95 € | Wolfgang Lieb | 5,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland, massiver Sozialabbau, wachsende Armut – und es ist kein Ausweg aus der Misere in Sicht. Politik und Wirtschaft halten nach wie vor am Kurs der Reformen fest, das deutsche Volk aber fühlt sich verraten und verkauft, reagiert mit Politikverdrossenheit und Protest.
Die Parteien, allen voran die SPD, haben ihre Ideale auf dem Altar des Neoliberalismus ... | [
"Lafontaine, Oskar",
"Politikerverdrossenheit",
"Reformpolitik"
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"Arbeitslosigkeit",
"Rezensionen",
"Soziale Gerechtigkeit",
"Ungleichheit, Armut, Reichtum"
] | 17. April 2005 16:20 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=103 |
Weder genug Mut noch Menschlichkeit – CDU/CSU und SPD bilden eine große Koalition gegen den Sozialstaat | Von Christoph Butterwegge.
Nach der Bundestagswahl vom 18. September 2005 wurde das überraschend schlechte Abschneiden der CDU/CSU und ihrer Kanzlerkandidatin Angela Merkel zu Recht auf Defizite im sozialen Bereich zurückgeführt. Vor allem die Debatte um den früheren Verfassungsrichter Paul Kirchhof und sein zwar relativ einfaches, aber sozial unausgewogenes und extrem ungerechtes Steuermodell mit dem für alle Bürger/innen gleichen Einheitssteuersatz von 25 Prozent hatte den Unionsparteien schwer geschadet. Umgekehrt war die SPD in der Wählergunst offenbar nur deshalb nicht – wie allgemein erwartet – eingebrochen, weil Gerhard Schröder im Wahlkampf die „Seele“ der Partei angesprochen, sich wieder stärker am traditionellen Programm der Sozialdemokratie orientiert und seine Widersacherin „sozialer Kälte“ bezichtigt hatte. Während der Sondierungsgespräche und zu Beginn der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD standen Personalfragen im Vordergrund, Politik und Programmatik blieben hingegen auf der Strecke. Im Laufe der Koalitionsverhandlungen wurde der Sozialstaat von zwei Seiten gleichzeitig in die Zange genommen: Auf der Finanzierungsseite entdeckten die zuständigen Verhandlungsführer von Union und SPD, Roland Koch und Peer Steinbrück, das „größte Haushaltsloch aller Zeiten“, dem nur mit einem „Sparpaket“ in Höhe von 35 bis 70 Mrd. EUR beizukommen sei. Und auf der Leistungsseite machte der scheidende Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement ungefähr 20 Prozent der Langzeitarbeitslosen als „Parasiten“ aus, weil sie ohne Rechtsanspruch das mit Hartz IV geschaffene Arbeitslosengeld II bezögen. Was sich damit andeutete, scheint Wirklichkeit zu werden: eine große Koalition gegen den Sozialstaat. Die am 18. November abgeschlossene Koalitionsvereinbarung ist von politischer Buchhaltermentalität gekennzeichnet, wohingegen jedes Signal für einen Neuanfang, visionäre Konzepte und Alternativen zum bisherigen Regierungskurs (Agenda 2010, sog. Hartz-Gesetze, Gesundheitsreform usw.) fehlen. „Weiter so!“ bietet keine Lösung, selbst wenn man das Führungspersonal austauscht, zumal mehrere Minister (Wolfgang Schäuble, Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel) die Vergangenheit repräsentieren. Um eine „Wende zum Besseren“ einzuleiten, wäre neben Optimismus und Aufbruchsstimmung mehr Mut gegenüber den Mächtigen im Land nötig. Kritik am Koalitionsvertrag Schon die Überschrift „Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit“ lässt deutlich erkennen, dass die neue Regierung nach Kontinuität strebt. Gut wäre es gewesen, nicht – wie die alte – den Wirtschaftsstandort D, sondern die (arbeitenden) Menschen in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu rücken. Für einen solchen Kurswechsel gibt es jedoch bislang keine Anzeichen – ganz im Gegenteil. Die zum 1. Januar 2007 angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent ist nicht nur Gift für die Binnenkonjunktur, sondern auch für Familien, besonders von Geringverdienern, die einen Großteil ihres Einkommens in den Konsum stecken. Deshalb trifft sie die Mehrwertsteuer stärker als Besserverdienende (ohne Kinder). Indirekte bzw. Verbrauchssteuern sind eher unsozial, weil sie die Leistungsfähigkeit und finanzielle Lage der Steuerpflichtigen nicht berücksichtigen. Dagegen bildet die „Reichensteuer“, von der Bürger erst ab einem Jahreseinkommen von 250.000 EUR bzw. Verheiratete ab einem Jahreseinkommen von 500.000 EUR erfasst werden, Unternehmer (Personengesellschaften, gewerbliche Einkünfte) jedoch ausgenommen sind, nur eine Beruhigungspille für die SPD-Basis mit symbolischem Wert. Während die Armut von ca. 1,7 Millionen Kindern, die heute schon auf Sozialhilfeniveau leben, eine zunehmende Tendenz aufweist, verspricht die neue Bundesregierung den Kindern von Millionären und Multimillionären weitere Steuergeschenke. Wer ein Unternehmen erbt und es 10 Jahre lang nicht veräußert, wird laut Koalitionsvertrag von der Erbschaftsteuer befreit. Dies ist ein Armutszeugnis der Regierungspolitik, das angesichts der Belastung von Geringverdienern einer Bankrotterklärung des Sozialstaates gleicht. Die negativen Auswirkungen von Sparmaßnahmen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich versperren künftigen Generationen die Zukunftsaussichten. Hierzu zählt auch die Beschneidung der Bundeskompetenzen im Bildungsbereich, weil die Föderalismusreform mit dem „Wettbewerbsföderalismus“ einer desaströsen Konkurrenz zwischen den Bundesländern nunmehr Tür und Tor öffnet, was den (Hoch-)Schülern in finanzschwachen Ländern besonders schadet, können die guten Lehrkräfte doch leichter abgeworben werden. Offenbar will man weniger die Armut von Kindern als die Armut an Kindern bekämpfen. Denn das künftig an die Stelle des Erziehungsgeldes tretende, ein Jahr lang gezahlte und bei 1.800 EUR pro Monat gedeckelte Elterngeld in Höhe von 67 Prozent des Nettolohns bzw. -gehalts soll vor allem hoch qualifizierte, gut verdienende Frauen motivieren, (mehr) Kinder zu bekommen und schnell wieder in den Beruf zurückzukehren. Arbeitslose und Geringverdiener/innen haben im Vergleich mit heute keine Vorteile. Auch die Altersarmut wird längerfristig eher zunehmen, wofür der geplante „Nachholfaktor“ und höhere Abschläge durch Anhebung des Rentenzugangsalters von 65 auf 67 Jahre sorgen dürften. „Nullrunden“ für Rentner/innen sind mit Sicherheit kein Beitrag zur „Generationengerechtigkeit“: Erstens treffen sie nicht in erster Linie jetzige Rentner/innen, sondern Jahrgänge, die gegenwärtig noch oder noch nicht erwerbstätig sind. Zweitens haben sie negative Folgen bezüglich des gesellschaftlichen Engagements und familialer Unterstützungsleistungen der Betroffenen, worunter Kinder und Enkel leiden würden. Auch verschlechtert die Erhöhung des Rentenzugangsalters die Arbeitsmarktchancen kommender Generationen. Gerade wer in den Ruf nach „Generationengerechtigkeit“ einstimmt, müsste darum bemüht sein, dass auch Heranwachsende noch einen hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat und das bisherige Maß an sozialer Sicherheit vorfinden, statt es weiter zu verringern. Für eine noch größere soziale Schieflage sorgt die Verbesserung der Abschreibungsbedingungen für Unternehmen. Seit über 30 Jahren, als die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt damit begann, verabreicht jede Regierung dem Land im Grunde dieselbe Medizin: Entlastung des Kapitals und Entfesselung der Marktkräfte. Da sie nie wirkte, erhöhte man regelmäßig die Dosierung, ohne zu erkennen, dass in Wirklichkeit die Medizin die Krankheit ist. Die neue Regierung folgt der alten Philosophie, dass die Arbeitslosigkeit sinke, wenn man mit den Beiträgen (der Arbeitgeber) zur Sozialversicherung die Lohnnebenkosten drückt. Es kommt aber gar nicht auf deren Höhe, vielmehr auf die Höhe der Lohnstückkosten an, welche in der Bundesrepublik wegen einer überproportional wachsenden Arbeitsproduktivität seit Jahren weniger stark steigen als in den mit ihr auf dem Weltmarkt konkurrierenden Ländern. Dies hat 2004 zu dem kaum beachteten Rekordexportüberschuss in Höhe von 156,7 Mrd. EUR geführt, der 2005 trotz Dollarschwäche und hohem Mineralölpreis noch übertroffen wird. Nicht zufällig ist Deutschland – bezogen auf die Leistung pro Erwerbstätigem oder pro Kopf der Bevölkerung – mit riesigem Abstand „Exportweltmeister“. Hinge das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft von niedrig(er)en Lohn- bzw. Lohnnebenkosten ab, wie allenthalben behauptet wird, müssten in Bangladesch und Burkina Faso eigentlich Vollbeschäftigung und Luxus herrschen. Wer die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland auf Personalzusatzkosten zurückführt, verwechselt Ursache und Wirkung: Die steigende Erwerbslosigkeit ist für hohe Lohnnebenkosten verantwortlich, aber nicht umgekehrt. Die geplanten „Korrekturen“ an Hartz IV, mit denen 3,8 Mrd. EUR eingespart werden sollen, kann man trotz Anhebung des Arbeitslosengeldes II in Ostdeutschland an seine Höhe in Westdeutschland als „Hartz V“ bezeichnen, stellen sie doch eine Fortsetzung und Verschärfung des Drucks auf (Langzeit-)Arbeitslose dar. Heranwachsende und junge Erwachsene unter 25 Jahren wieder in der Abhängigkeit von ihren Eltern zu belassen und ihnen per Mittelentzug die Möglichkeit der Gründung eines eigenen Hausstandes zu nehmen, ist einer so reichen und hoch individualisierten Gesellschaft unwürdig. Das oft beschworene Problem der sinkenden Geburtenrate wird damit nicht gelöst, sondern eher verschärft. Verlierer der Großen Koalition sind die Kleinen Leute, Hauptleidtragende dürften Rentner/innen, (Langzeit-)Arbeitslose, Sozialhilfebezieher/innen und die Familien von Geringverdiener(inne)n sein.
Gebildet wurde eine große Koalition gegen den Sozialstaat, der nicht nur für Massenarbeitslosigkeit verantwortlich, sondern auch zum Sündenbock einer verfehlten Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik der etablierten Parteien gemacht wird. Weniger Sozialstaat bedeutet aber nicht mehr Freiheit, sondern größere Ungleichheit, mehr soziale Ungerechtigkeit und wachsende Unzufriedenheit. Wohin eine Politik der Spaltung in Gewinner und Verlierer zusammen mit sozialräumlicher Segregation führt, zeigt der nächtliche Aufruhr in den französischen Trabantenstädten. Prof. Dr. Christoph Butterwegge leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Seine aktuelle Buchveröffentlichung: Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2005 | Christoph Butterwegge | Von Christoph Butterwegge.
Nach der Bundestagswahl vom 18. September 2005 wurde das überraschend schlechte Abschneiden der CDU/CSU und ihrer Kanzlerkandidatin Angela Merkel zu Recht auf Defizite im sozialen Bereich zurückgeführt. Vor allem die Debatte um den früheren Verfassungsrichter Paul Kirchhof und sein zwar relativ einfaches, aber sozial unausgewogenes und extrem ungerechtes Steuermod ... | [
"Altersarmut",
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"Umsatzsteuer"
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"Sozialstaat",
"Steuern und Abgaben",
"Ungleichheit, Armut, Reichtum",
"Wahlen"
] | 18. November 2005 14:21 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=224&share=email |
Wolfgang Streeck sollte endlich dazu stehen, dass er sich an der ideologischen und publizistischen Vorbereitung von Hartz IV beteiligte | Der frühere Chef des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln spielt heute gerne die Rolle des Gegners der neoliberalen Ideologie. Aber er hat sich leider immer noch nicht dazu durchringen können, seine vorbereitende Mitverantwortung für die neoliberal geprägte Agenda 2010 einzugestehen. In den letzten Tagen gab es dazu einen Disput zwischen Norbert Häring und Wolfgang Streeck. Anlass für diesen Disput war die Tatsache, dass sich Norbert Häring in der Einführung zu einer Besprechung des neuen Buches von Streeck auf die NachDenkSeiten und deren Kritik an Streeck bezogen hat. Norbert Häring hat von dem neuen Disput gestern auf seinem Blog berichtet. Der Vorgang insgesamt ist in mehrerer Hinsicht interessant und aktuell. Albrecht Müller.
Erstens sehen heutzutage immer mehr Menschen, wie verheerend der Rückgriff auf die neoliberale Ideologie war: Millionen Menschen sind in den Niedriglohnsektor und in die soziale Unsicherheit abgeschoben worden, in unsichere Arbeitsverhältnisse, in Leiharbeit, in Befristung und in ein Leben ohne ausreichende soziale Sicherung. Sie und nicht nur sie, wir alle haben ein Anrecht darauf, zu klären und festzuhalten, wer für diesen Irrweg verantwortlich ist und welche Rolle die sogenannte Wissenschaft dabei gespielt hat. Um Letzteres geht es bei dem Disput mit Professor Streeck. Zweitens ist der Vorgang ein Musterbeispiel dafür, wie sich angesehene Wissenschaftler von Politikern benutzen lassen, um ein politisches Projekt voranzutreiben. Professor Wolfgang Streeck und sein Gefährte Heinze haben 1999 einen Essay im Spiegel veröffentlicht, der die Tore für Schröders und Hombachs Projekt „Niedriglohnsektor“ angelweit aufgestoßen hat. Darüber haben die NachDenkSeiten am 7. Mai 2013 kritisch berichtet und auf den Spiegel-Titel mit dem Essay von Streeck und Heinze verlinkt. Ich weise auf diesen Text noch einmal hin, weil es wirklich ein Schlüsseltext ist – ein Text von historischer Relevanz. Drittens ist der Vorgang interessant, weil daran auch sichtbar wird, welche seltsamen Vorstellungen manche Sozialwissenschaftler von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen haben. Streeck und Heinze sehen zum Beispiel im Dienstleistungssektor eine klar abgrenzbare Einheit der Volkswirtschaft. So ist das nicht. Die Sektoren und auch die Arbeitsmärkte sind verwoben. – Die sogenannten Lohnnebenkosten sehen sie als Last und als Ursache für Arbeitslosigkeit – übrigens ganz ähnlich wie im Kanzleramtspapier vom Dezember 2002 beschrieben, für das der heutige Bundespräsident in seiner Funktion als Chef des Bundeskanzleramtes verantwortlich war. Lohnnebenkosten sind in der Regel die Beiträge, die die Lohnabhängigen für ihre soziale Sicherheit leisten. Viertens ist – in einem Kontext mit Drittens – die Polemik gegen das wirtschaftspolitische Instrumentarium des britischen Nationalökonomen Keynes interessant und dabei auch die Feindseligkeit gegenüber dem damaligen Bundesfinanzminister und SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine. Dazu zitiere ich eine Passage aus dem Essay der beiden Sozialwissenschaftler Streeck und Heinze: Wenn diese Herrschaften sich über die an Keynes orientierte Wirtschaftspolitik kritisch hermachen, dann nennen sie das Ziel ihrer Attacken ‚Vulgär-»Keynesianismus«‘. Was ist das denn im Unterschied zum echten Keynesianismus? Einfach so dahergeredet. Und sie scheuen sich nicht, sich in innerparteiliche Auseinandersetzungen einzumischen. Die Äußerungen über den damals gerade zurückgetretenen Bundesfinanzminister sind eindeutig. Lafontaine sei „glücklicherweise schon vor Eintritt bleibender Schäden“ zurückgetreten. Übrigens: Professor Wolfgang Streeck hat nicht nur versäumt, seine Mitwirkung an der Vorbereitung der Agenda 2010 zu bedauern, er hat auch noch kein Wort des Bedauerns zu seinen verächtlichen Worten über Oskar Lafontaines wirtschaftspolitische Linie gefunden. | Albrecht Müller | Der frühere Chef des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln spielt heute gerne die Rolle des Gegners der neoliberalen Ideologie. Aber er hat sich leider immer noch nicht dazu durchringen können, seine vorbereitende Mitverantwortung für die neoliberal geprägte Agenda 2010 einzugestehen. In den letzten Tagen gab es dazu einen Disput zwischen Norbert Häring und Wolfgang Streeck. ... | [
"Häring, Norbert",
"Keynesianismus",
"Lafontaine, Oskar",
"prekäre Beschäftigung",
"Streeck, Wolfgang"
] | [
"Agenda 2010",
"einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte",
"Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft"
] | 09. September 2021 9:05 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=75858&share=email |
Binnennachfrage | Das ist eine Grafik aus der Sendung „Börse vor 8“ vom 10.7.2019. (Der Hinweis darauf kommt vom NachDenkSeiten-Leser Dr. Manfred Hentz.) Mit Grafik und Text wird auf primitive Weise den Bürgern eingebläut, dass „Export = Wohlstand“ sei.
Der vor allem vom Export angetriebene Leistungsbilanzüberschuss von 260 Milliarden im Jahr 2018 ist real betrachtet ein Zeichen dafür, dass die deutsche Volkswirtschaft um vieles mehr an Gütern und Dienstleistungen nach außen liefert, als sie importiert und hierzulande in Anspruch nimmt. Dafür erwerben Wirtschaftssubjekte in Deutschland Forderungen gegenüber dem Ausland. Das ist real betrachtet kein Vorteil. Es gibt überhaupt keinen Grund zum Feiern. Albrecht Müller. Dieser Artikel ist auch als gestaltete, ausdruckbare PDF-Datei verfügbar. Zum Herunterladen klicken Sie bitte auf das rote PDF-Symbol links neben dem Text. Weitere Artikel in dieser Form finden Sie hier. Wir bitten Sie um Mithilfe bei der Weiterverbreitung. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. | [] | [] | 11. Juli 2019 16:56 | https://www.nachdenkseiten.de/?tag=binnennachfrage&paged=3 |
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Leserbriefe zu „Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht – wer noch bei Verstand ist, sollte jetzt aufwachen“ | Jens Berger ruft hier um Hilfe. Denn noch nie sei die Gefahr eines atomaren Konflikts mit all seinen verheerenden Folgen nach Ansicht der Wissenschaftler so groß gewesen. Das Bulletin of the Atomic Scientists habe seine berühmte Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht umgestellt. Das sei der niedrigste Wert, den das von Albert Einstein gegründete Institut jemals gemeldet habe. Erinnert wird daran, dass „jeder Bundestagsabgeordnete ´ausschließlich seinem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden´ ist“. Unser Bildungssystem und die Journalistenschulen hätten epochal versagt, wenn es in den Redaktionen lediglich Kriegstreiber gebe. Danke für die interessanten E-Mails. Hier nun eine Auswahl der Leserbriefe. Zusammengestellt von Christian Reimann.
1. Leserbrief Sehr geehrter Herr Berger, Ihr Artikel von heute trifft so was von ,” den Nagel auf den Kopf”, dass sich jeder Mensch, der noch bei klarem Verstand ist, fragen muss: Was ist in den Redaktionen unserer Medien los? Ist die Furcht, sachlich, unabhängig, kritisch Regierungspolitik zu bewerten, so groß vor Jobverlust? Auch ich schaue so gut wie kein ÖR mehr, eigentlich höchstens Wissenschaftsdokus u.ä. Gestern verstieß ich gegen mein Gelübde, kurz 19 Uhr Heute Journal, sofort wieder aus, unerträglich. Freunde sagten, gestern die Tagesschau habe sich erstaunlicherweise viel besser bemüht, mal sachlich, parteilich ausgewogen zu berichten. Ob Illner, Will, Hart aber fair, Monitor, Panorama u.ä. haben in unserem gesamten Umfeld Hausverbot; wir kaufen keine Tageszeitungen mehr, den vor Jahren noch beliebten Spiegel oder Stern, treffen auch unsere Sanktionen. Waren die einst im Supermarkt sofort vergriffen dümpeln aktuellen Ausgaben noch tagelang gestapelt vor sich hin. Immer öfter höre ich:” Bitte nicht am Telefon ..,”wenn ich mit politisch interessierten Menschen rede. Unsere einst erfolgreiche Stütze der Demokratie, unsere Medien, schaffen sich selbst ab. Bemerken die das nicht? Da ist eine Kriegsrhetorik, da wird über Waffensysteme spekuliert, den Russen wurde schon vor Monaten in allen Print- u. Fernsehmedien der totale Untergang prophezeit. Muss man sich vorstellen, genauso liefs es bei der Machtergreifung der Faschisten ab? Es gab so viele Kriege nach 1945, selbst zum Irak-Krieg, Afghanistan, Libyien – von Vietnam nicht zu reden – gab es sehr laute, kritische Medienberichterstattung. Jemen, Schweigen. Was passiert also gerade, dass locker ” vom Hocker” die Russen so was von provoziert werden, dass denen fast nichts anderes bleibt, als mal ins Atomwaffenarsenal nachzuschauen? Wer manipuliert unsere Medien? Von unserer Leserin S.D. 2. Leserbrief Sehr geehrter Herr Berger, in Ihrem heutigen Beitrag “Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht – wer noch bei Verstand ist, sollte jetzt aufwachen” schreiben Sie Gehen Sie wirklich davon aus, dass unsere Abgeordneten heute überhaupt noch ein Gewissen haben, wenn die dem Treiben der NATO seit nahezu einem Jahr – genau genommen seit Jahren – zusehen, ohne sich dazu auch mal kritisch zu äussern? Also ich nicht!
Von einigen wenigen wie zB Frau Wagenknecht und Frau Dagdelen mal abgesehen. Nachdenkliche Grüsse,
KK 3. Leserbrief Lieber Herr Berger, vielen Dank für Ihre Arbeit und insbesondere den heutigen Artikel,er hilft mir heute ganz persönlich weiter,wir sind nicht ganz alleine, untenstehende mail hab ich gestern an meine Bundestagsabgeordneten versendet,Frau Gräßle antwortete schnell, ich bin sprachlos …. Sehr geehrte Frau Gräßle,sehr geehrte Frau Lang , ich bin fassungslos, hilflos und sprachlos, so möchte ich Ihnen als meine Vertreterinnen im deutschen Bundestag sagen: Hätte mein Opa damals in großer Verzweiflung in Rußland seinen Karabiner nicht nur in den Mund genommen , sondern auch abgedrückt,könnte ich Ihnen diese Zeilen nicht schreiben, meine Mutter würde nicht existieren, meine Kinder auch nicht . Jetzt sollen wieder deutsche Panzer rollen gegen Rußland. Unser aller Leben stehen unter diesem unfassbar grausamen Geschehen vor gerade mal 80 Jahren. Ich bitte Sie inständig, treten Sie für Verständigung und Verhandlungen ein. Wirken Sie gegen das Harte und Unversöhnliche. Danke für Ihre Arbeit und Grüße aus dem Wahlkreis, Sehr geehrter Herr Köble, vielen Dank für Ihre eMail, die leider die Ursache des Krieges und folglich unsere unbedingt notwendige Unterstützung für ein überfallenes Land nicht berücksichtigt – sondern sie mit dem Angriffskrieg Hitlers gleich setzt. Ich empfinde Ihre Zeilen als Hohn für die Opfer in der Ukraine und werde es mit dieser kurzen Antwort bewenden lassen. Dr. Inge Gräßle MdB Herzlichen Gruß,
Steffen Köble 4. Leserbrief Sehr geehrter Jans Berger, Sie schreiben im vorletzten Absatz: Von mir hierzu folgendes: genau wie ein Mörder seine Tat nicht freiwillig gesteht und um diese zu vertuschen sogar oft dazu bereit ist nochmal zu morden, genau so verhalten sich meines Erachtens (m.E.) unsere abgehobenen deutschen, verantwortlichen RegierungspolitikerInnen, ParlamentarierInnen und Parteien (u.a.) im Ukraine-Konflikt! Genau wie ein Mörder um seine Tat weiß, weiß m.E. auch die oben genannte abgehobene deutsche Politik-Kaste nämlich ganz genau das sie an der Entwicklung in der Ukraine seit 1991 inkl. der (weiter)Entwicklung/Duldung der politisch faschistischen Gesinnung in der Ukraine bis hin zum m.E. provozierten Einmarsch Russlands in die Ukraine mit die Hauptschuld tragen. Und genau wie ein Mörder i.d.R. erst nach zwingender Beweisführung UND (!!) unter Druck gesteht, so verhält sich m.E. auch oben genannte Politik-Kaste. Die Beweisführung im Fall Ukraine-Konflikt ist m.E. zwingend und eindeutig, was fehlt ist der Druck! Und da m.E. der Rechtsstaat/die Demokratie in Deutschland (insb. diesbezüglich) nicht mehr funktionieren, also seitens der rechtsstaatlichen/demokratischen (Kontroll)Institutionen diese Beweisführung/dieser Druck nicht kommt, muss der Druck aus der Bevölkerung kommen, was er nicht tut! Damit möchte ich sagen, dass m.E. oben genannte abgehobene deutsche Politik-Kaste den Verstand tatsächlich verloren hat, nicht aufwachen wird und lieber uns alle mit in den Abgrund/ins Verderben/in den Tod reißt bevor diese freiwillig einlenken/gestehen! Das ist tragisch aber m.E. die Realität (zumindest bei einer Politik/Ideologie wie wir sie im Moment leider haben)! Meine Hoffnung bleibt bis zum Schluss! Herzliche Grüße
Andreas Rommel 5. Leserbrief Hallo Herr Berger, Sie haben leider AUSNAHMSLOS recht. Seit Corona habe ich keine Sendung im Fernsehen angeschaut. Ich habe die Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien nur begrenzt angesehen, weil ich wußte, das ist nur entweder die halbe Wahrheit oder gelogen. Die Berichte zum Ukrainekrieg höre und sehe ich mir gar nicht an, weil ich Bluthochdruck bekomme. Ich bin froh, daß Putin nicht so emotional ist wie ich. Die Justiz macht auch noch fleißig mit. Die blieben doch nach dem zweiten Weltkrieg in Amt und Würden. Die passen sich an!! Jeder Euro ist es Wert, daß Sie und Ihre Kollegen weiter arbeiten können. Liebe Grüße
aus dem Salzburger Land
Agnes Fink 6. Leserbrief Sehr geehrter Herr Berger,
bezugnehmend auf Ihren Artikel ein paar Anmerkungen.
Was kann getan werden das die Öffentlichkeit sensibilisiert wird ? Gibt es niemanden der Anklage gegen die Bundesregierung erhebt. Es gibt ja doch einiges was unserem Grundgesetz und auch dem Völkerrecht zumindest nicht 100 % entspricht (Waffenlieferung in ein Kriegsgebiet, Merkels Aussage bezüglich Minsk, usw. wie ja bestens bekannt von ihnen).
Es ist doch müßig nur die Leute zu informieren die eh schon kritisch sind ! Die Frage ist doch wie eine breite Öffentlichkeit informiert werden kann.
Denkanstöße: Des Weiteren nehme ich auch eine etwas eingeschränkte Wahrnehmung bei ihren Berichten wahr.
In Amerika wird ja schon darüber gesprochen Russland zu schwächen und dann gegen China zu ziehen. Niemand betrachtet die neue Seidenstraße als Reaktion Chinas nachdem die USA ja ganz klar formuliert die Seeherrschaft weiterhin zu dominieren und auch zu kontrollieren. Dann kommt natürlich Russland mit ins rennen da ein gr0ßer Teil der Seidenstraße ja durch Russland führt.
Deutschlands Spagat mit dem Hamburger Hafen ist doch ein Signal die Türen nicht ganz zu verbarrikadieren.
Besten Gruß und Danke für Ihre Arbeit
Gruß aus Maine USA
Michael Kaufman 7. Leserbrief Sehr geehrter Herr Berger,
zu dem von Ihnen beschworenen Aufstand der Vernünftigen wird es jetzt so wenig wie in Coronazeiten kommen, die Coranazeit wirkt vielmehr geradezu als Generalprobe für die jetzigen Zustände.
Ob der Westen je der Hort der Vernunft war, für den er sich selbst gerne hält, sei einmal dahingestellt. Wie er allerdings in einen derartigen Zustand der Sehnsucht nach weltfremder Radikalität wie während Corona und jetzt aktuell im Ukrainekonflikt kommen konnte, ist doch erklärungsbedürftig.
Man muss das wohl insgesamt als Zeichen kulturellen Niedergangs ansehen – wer hätte je gedacht, dass eine menschlich und intellektuell dermaßen unterbelichtete Person wie Annalena Baerbock als deutsche Außenministerin und in Schulmädchenenglisch über „unseren Krieg“ mit Russland blubbern darf? Hier werden sämtliche selbstverständlichen Standards mühelos unterboten und man fragt sich, was da in Deutschland in den letzten Jahrzehnten schiefgelaufen ist. Stimmt es vielleicht wirklich, dass die Seichtheit der Konsumgesellschaft das Erwachsenwerden und die persönliche Reife – wie in der Person der deutschen Außenministerin paradigmatisch verkörpert – systematisch verhindert – das politische Amt als Selbsterfahrungskurs?
Viel deutet darauf hin, dass dem westlichen Individualismus das gesellschaftliche Projekt abhanden gekommen ist und er sich darum mit religiöser Begeisterung in ein Weltrettungsprojekt nach dem anderen – Opfer (siehe LGBTQ) verzweifelt gesucht – stürzt. Altersübergreifend scheinen zunehmend pubertäre Maßstäbe zu gelten – jeder Smartphonebesitzer ein Nabel der Welt.
Möglicherweise schwant dem Westen sein eigener Bedeutungsverlust und die scheibchenweise Waffenlieferungen in die Ukraine dienen als Selbstbestätigung der eigenen Bedeutsamkeit. Natürlich rutscht man so – als Geisel des radikalen Regimes eines schon längst kollabierten Staates – aus Sucht nach dieser Bedeutsamkeit (Deutschland als Führungsmacht) immer tiefer in den Konflikt hinein.
Woher aber sollen auf einmal die Staatsmänner und -frauen kommen, das zu verhindern?
Den deutschen Sofagenerälen und Maulhelden kann – man wagt es kaum auszusprechen – nur ein deutlicher russischer Erfolg Einhalt gebieten und die Eskalationsspirale beenden. Beruhigend ist das nicht.
Herzlich
EJ 8. Leserbrief «Es ist nur noch zum Verrücktwerden.» Sie haben recht! Und was nützt uns das? Sie haben recht mit Ihren Analysen zu Dortmund und Dr. Ganser. Sie haben recht … Sie haben recht mit Ihrem Verständnis zur Blindheit unserer (Gross-)Elterngeneration! Die Grünen haben sich zu Kriegstreibern entwickelt. Stimmt alles! Die sog. Demokratie in Deutschland besteht darin, alle 4 Jahre ein paar Kreuzchen, die nicht einmal mehr einen Unterschied machen, zu machen. Dann machen ein paar Figuren 4 Jahre lang, was sie wollen, bzw., was Ihnen aufgetragen wird, dass sie wollen sollen. Sie sagen ihrem Volk das auch ins Gesicht oder erklären das Land so nebenbei «im Krieg mit Russland». Und? Was passiert? Was macht das Volk? Was machen die Medien? Blöde Fragen! Wir sehen’s ja. Es braucht keine Beweise mehr dafür, dass etwas Grosses im Gange ist. Etwas ganz Grosses, bei dem wir ganz klein rauskommen werden. So oder so. Was also können wir noch tun? Es tut mir weh, wenn ich sehe, wie sehr Sie recht haben und wie wenig das hilft. Es braucht einen Ruck, der durch die Länder gehen muss! Nur wie macht man das? Was können wir noch tun? Es ist zum Verrücktwerden. Freundliche Grüsse und besten Dank für Ihre Arbeit!
N.G. 9. Leserbrief Sehr geehrter Herr Berger und NDS Redaktion, Erstens ist einmal festzustellen dass wir uns in einer Erstsituation befinden: Zum ersten mal in der Menschheitsgeschichte befindet sich die Welt in einer
Kriegssituation in dem eine Atommacht sich einer potentiell existenzbedrohenden Lage befindet. In dieser Situation kann jede Fehleinschätzung egal von welcher Seite, egal ob politischer oder militärischer Art, egal wie groß oder klein, der kürzeste Weg in die Katastrophe sein. Ein Hilferuf von Jens Berger, ihm möchte ich ans Herz legen dass solang die psychologischen und massenpsychologischen Mechanismen die am Werk sind in den Gehirnen der Regierungen der NATO Staaten unbeachtet bleiben, jede Argumentation an die Vernunft dazu verdammt ist wirkungslos zu verpuffen. Sollte es gelingen dass die atomare Selbstzerstörung vermieden werden kann, nun, es gibt eine Reihe von Aufgaben die man realisieren könnte um Wiederholung zu vermeiden.
Davon werde ich nachfolgend eine Reihe auflisten, aber Achtung, sie lesen sich spektakulär und unrealisierbar, man sollte sie sich trotzdem einmal durch den Kopf gehen lassen. Die Personen die nominiert sind politische Spitzenpositionen einzunehmen, wie Kanzler, Präsidenten, Minister, Staatssekretäre, Parteivorsitzende und Fraktionsvorsitzende sind nicht nur auf eine fachliche Qualifikation zu prüfen, sondern sie sollten auch psychologische Tests bestehen müssen die ausweisen dass sie befähigt sind das Amt einzunehmen, besonders in Krisensituationen. Die UN sollte die Kriegsdefinition überarbeiten, Beispiel Krieg ist auch ohne Boots on the ground.
Es ist zu überdenken ob der UN Sicherheitsrat nicht komplett neu strukturiert oder abgeschafft werden sollte. Besondere Beachtung gilt dem Vetorecht. Sollte eine Regierung und sehr wichtig auch die Kombination Regierung/Parlament Symptome zeigen dass sie dabei sind der Bevölkerung schweren Schaden zuzufügen, sollte es eine Notstopp Möglichkeit geben ihnen die Entscheidungsmacht zeitweilig oder permanent zu entziehen, bis sie wieder bei sinnen sind. Die Immunitätsregelung von Politikern sollte neu gestaltet werden, damit diesen klar ist dass sie ihrer Verantwortung nicht entkommen können, eine Amtsniederlegung alleine ist unzureichend. Politiker sind zu schützen vor Druck und Beeinflussung von aussen egal ob diese aus Wirtschaft oder von den Regierungen anderer Staaten kommt. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden den Medien Einhalt zu gebieten falls sie die Rolle von Kriegstreibern übernehmen. Sehr schwierig, da die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, der unabhängige Journalismus trotzdem garantiert bleiben müssen = keine wilde Zensur. Die Gefährlichkeit der USA ist zu erkennen und es sollten Wege gesucht werden sich von ihr zu entflechten, egal wie lange es dauert. Mit freundlichem Gruß
Patrick Janssens 10. Leserbrief Lieber Herr Berger, Ihr “Hilferuf” spricht mir aus der Seele. Wohin, wohin in aller Welt wird uns dieser ungebremste, hemmungslose, entsetzliche Kriegs-Irrsinn unserer Regierung, unserer Journalisten, großer Teile unserer Mitbürger noch führen, wenn nicht in eine Katastrophe von unaussprechlichen Ausmaßen? Für mich stellt sich immer dringender die Frage, was man konkret als normaler Bürger tun kann, um sich diesem globalen Selbstmord entgegenzustellen. Ein hilfloser Vorschlag: Wäre es nicht möglich, dass Ihre Redaktion einmal sämtliche Demonstrationstermine der nächsten Zeit, bei denen gegen Aufrüstung, Waffenlieferungen und Atomwaffen auf die Straße gegangen wird, zusammenstellt, gerade auch im Hinblick auf den baldigen Jahrestag des Krieges am 24.2.? Was kann man sonst tun? Wie lässt sich dieser Wahnsinn bloß stoppen? Hier immerhin zwei Links zu den geplanten Veranstaltungen von Friedensorganisationen in den nächsten Wochen: Verzweifelte Grüße und herzlichen Dank für Ihre unermüdliche Arbeit
E.R. 11. Leserbrief Deutschland spielt wieder Krieg. Denn genau darum geht es ja, um ein Spiel, nicht wahr, jedenfalls, wenn man der in Pandemiezeiten geschmiedeten Werteallianz des medien-politischen Apparats glauben will. Reinpanzern, aufräumen, Hände abwischen, weitermachen. Mit der Gewissheit des moralingesättigten Gralsritters. Unter übelkeiterregendem medialem Getöse, von den Menschen weitestgehend in der typisch westlichen Arroganz abgenickt, wenn nicht sogar gefordert. Es ist anzunehmen, dass das Kanzlerzaudern nichts als ein Scheinmanöver war, eine Finte, um den Eindruck zu erwecken, wohlüberlegt und mit der schützenden Hand über seinen ihm anvertrauten Landsmännern und -frauen zu agieren. Gibt man in der mit einem gefährlichen Monopol ausgestatteten Wikipedia den Begriff „Fals flag operation“ ein, so findet man bis auf den Tonkin-Zwischenfall keine einzige weitere amerikanische Operation; und dass die USA – mit Deutschland am mit Nieten bestückten Gängelband – einer der Hauptakteure und -profiteure sind, ist so schwer zu durchschauen wie die Triebkräfte eines der ersten Comic-Kapitalisten der Geschichte, Dagobert Duck. Alles andere als eine Ente ist das imperialistisch-großspurige Gebaren der weiß-protestantischen Weltwächter, nicht nur ein Mal haben politische Kapazitäten in den vergangenen Jahren ihre wahren Motive stolzbrüstig sogar öffentlich proklamiert – aber das ist ja bereits bekannt… Man weiß kaum noch, wo einem der Kopf steht, in Anbetracht dieses kollektiven, jedes Aber systematisch abwürgenden Veitstanzes, es schwindelt einem, wenn man sich die von Politik und Medien diktierten und erfolgreich indoktrinierten Selbsterhöhungsformeln anhört, man begreift plötzlich, dass dem Untergang jeder Zivilisation noch immer interne Verwerfungen vorausgegangen sind. Wahrlich: eine Zeitenwende… Eine allerdings, die es zu hinterfragen gilt. Denn darum geht es doch wirklich: die perfide unser Kollektivbedürfnis korrumpierenden Wir-Parolen der Kriegsgeifernden zu hinterfragen. So lange, bis wir eine befriedigende Antwort erhalten. Oder ist es dafür bereits zu spät? Christoph Linher 12. Leserbrief Sehr geehrter Jens Berger,
sehr geehrtes NachDenkSeiten Team,
Es muss doch eigentlich jedem Einzelnen bewußt sein, dass die Menschheit in einer Ära permanenter und eskalierender Krisen lebt, weil Sie es so wollen. Wollte die Mehrheit des Weltbevölkerung es nicht, wäre es sicherlich anders. Als Kurzbeispiele seinen angefügt: Kriege, Pandemien, wirtschaftliche Schocks, politische und wirtschaftliche Spaltung, automatische Überwachung und Verhaltensbeeinflussung sowie der Zusammenbruch der Biosphäre, um nur einige zu benennen, bestimmen menschliches Überlebens-Dasein – aber nicht erst seit Heute. Und nun auch noch Ihr Beitrag zu – 90 Sekunden vor Mitternacht der Weltuntergangsuhr.
Ihr Artikel, passt ja wie die Berühmte “Faust aufs Auge”. Hier kommt mein kleiner Tatsachenbericht dazu: Als ich meinen 2 Freunden am 25. Januar 2023, um 15:31 Uhr, den Hinweis – Ukraine-Krieg lässt Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorrücken – gelesen, auf www.derstandard.de, mit meinem persönlichen Sendungs-Kommentar auf Telegramm – Ich zitiere wörtlich; Hi ihr Lieben Freunde, Das sind ja schöne Aussichten für die Zukunft. Gruß von W. – zusendete, erhielt ich, um 18:16 Uhr, folgende Rückantwort von Einem – Aber was kann man machen?
Meine knappe Antwort lautete: Es ist doch ganz einfach. Wenn Milliarden Menschen weltweit sich erheben würden, wäre die Welt eine friedlichere und gerechtere. Wenn der IQ aber nicht ausreicht, dann ist es auch nicht möglich. Es scheint mir nicht nur in Deutschland so zu sein, wo das Unterwerfungsbedürfnis der Grundcharakterzug des Deutschen ist, sondern dieses Virus grassiert weltweit. Mehr muss man eigentlich nicht wissen. (ENDE) Danach kam bis heute, den 26.01.2023, um 18:52 Uhr, keine Rückmeldung mehr.
So, sehr geehrter Jens Berger,
Und wenn sie mir jetzt noch erklären können warum in all den Jahrhunderten vor der Existenz der NachDenkSeiten, und seit Existenz der NachDenkseiten, zu allen von Ihnen, sowie ihren Mitarbeitern, geschriebenen Artikeln, zu allen von uns verfassten Leserbriefen und jetzt auch noch zu diesem Artikel, die Welt nicht friedlicher und gerechter geworden ist, gebe ich ihnen dieses wahrhaftige Zitat, als kleinen Hinweis, noch einmal zur Kenntnis.
(Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.” (Albert Einstein)
Noch weitere Fragen?
Mit freundlichen Grüßen
Ein in recht großer Sorge lebender Vater und Bürger dieses Landes
Herr Werner Matzat 13. Leserbrief Hallo Jens, es ist schön zu spät. Die US-Führung oder “globalist elite” hat gestern bereits mindestens sieben B-52 Nuklearbomber mit Kernwaffen nach Europa verlegt. Die Leopard-ii und Bradley’s sind nur Täuschung. Es ging noch nie um die Ukraine. Die US-Führung verlegt viele Abrams in die Ukraine – nicht für die Ukraine – sondern für danach!! Die faschistische kanadische Vize-Premierministerin Freeland, deren Vater bereits mit Andrej Melnik und seinen Banderas enge Sache machte, hat es in Davos klar formuliert: Die russischen Resourcen würden für die Weltwirtschaft einen gewaltigen Schub bedeuten! Die US-Führung bereitet einen nuklearen Luftschlag gegen Russland vor, aus dessen Mitte ein taktisch nuklearer Enthauptungsschlag erfolgen soll. Danach will man mit den in der Ukraine bis dahin massiv geparkten Abrams Russland stückweise zerschlagen. Das ist von den westlichen Eliten seit Jahrzehnten beschlossen und der Plan wird jetzt exekutiert. Gegen “Unmenschen” kann man nicht mehr menschlich argumentieren. Diese Agenda kann nur mit absoluter und rücksichtsloser Gewalt gestoppt werden! Russland wird bei den ersten Anzeichen eines Angriffs mit einem massiven Nuklearschlag gegen den Westen reagieren. Eine Sarmat-II kann gleichzeitig 10 unterschiedliche Ziele mit einer Sprengkraft von jeweils 800 Kilotonnen pro Ziel angreifen. Little Boy in Hiroshima hatte dagegen (nur) 25 Kilotonnen!! Das ergibt eine Gesamtsprengkraft von knapp 8 MegaTonnen, verteilt – nur für eine Sarmat. Russkand wird bei einem Angriff gleich mehrere davon starten. Die Sarmat-Systeme sind hypersonic schnell, besitzen Stealth-Eigenschaften, sind voll steuerbar und können die USA auch über die Antarktis aus angreifen. Ein Schiff der Admiral Gorschkow-Klasse, dass momentan im Westatlantik operiert, kann mehrere hypersonic-schnelle Zirkon-Missiles absetzen (9 Mach und mehr). Diese erreichen die US-Küste in wenigen Minuten, ganz zu schweigen von Avangard hypersonic glide missiles mit Mehrfach-Sprengköpfen. Gegen diese Feuerkraft anzutreten, grenzt an Wahnsinn. Aber die westlichen Eliten glauben in ihrem Wahnsinn daran, dennoch einen Krieg gegen Russland gewinnen zu können. Sie sind in dieser Konvergenz gefangen und unterschätzen völlig die tödliche Gefahr, die von Russland’s hyper-modernen Waffensystemen ausgeht. Sie sind in dem Glauben gefangen, dass der Gegner auf einen “Hammerschlag” mit einem Hammer antwortet. Russland könnte aber sofort einem Vorschlag-Hammer beginnen. Ich denke, ein Nuklearkrieg ist nicht mehr aufzuhalten, weil die westlichen Eliten – in ihrem Irrsinn gefangen – diesen wollen. Richten wir uns darauf ein, mehr ist nicht mehr zu tun… Grüße
Roland Otto 14. Leserbrief Lieber Herr Berger,
ich bin bei klarem Verstand und hellwach – in diesen sorgenvollen Tagen auch mehr und mehr des nachts, was mir den nötigen Schlaf raubt. Braucht es 90 Sekunden, um den berüchtigten roten Knopf zu drücken? Beziehungsweise, wieviel Vorlaufzeit ist nötig, um den Knopf bei vollem Verstand und in vollster Verantwortung zu drücken, wenn jahrelang entsprechend provoziert und gedemütigt wurde? 90 Sekunden oder weniger? Oder mehr? Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen, mir ist so schon bange genug! Vor Jahren zur Zeit des Kalten Krieges habe ich einen Artikel im “Stern” gelesen (den ich heute wie alle linientreue Medien meide). “Die Lehre von Hiroshima: Jede Waffe, die es gibt, wird auch eingesetzt”, von Mario R. Dederichs. In dem aufbewahrten Artikel ging es um den damals in Amerika gezeigten Film “The day after” und die Reaktionen darauf. Da der Film rein fiktiver Natur war, wurde die reale Apokalypse von Hiroshima dieser im Artikel entgegenstellt. Die wurde durch den Augenzeugen Wilhelm Kleinsorge, ein deutscher Jesuitenpater in Hiroshima, in dem 1946 erschienenen Buch “Hiroshima” des US-Journalisten John Hersey beschrieben. Zitat:”Ich empfand die Atomexplosion wie den Zusammenstoß eines Kometen mit der Erde. Alle Gebäude ringsum waren zerstört, der Himmel verfinstert. Die Überlebenden mussten vor einem gewaltigen Feuersturm flüchten, der sich rasend schnell ausbreitete. Überall hörte man die Stimmen von Verschütteten – Tasukete kure – helfen Sie mir, wenn es möglich ist”, Zitat Ende. Es liest sich noch schlimmer, im Azano-Park in Hiroshima hatte Pater Kleinsorge eine Begegnung, die ihn nie mehr losließ. Zitat:” Haben Sie etwas zu trinken, hörte ich jemanden aus einem Gestrüpp fragen. Ich fand dort 20 japanische Soldaten, alle in dem gleichen grauenvollen Zustand. Ihre Gesichter waren vollkommen verbrannt, die Augenhöhlen leer, die geschmolzenen Augäpfel waren über die Wangen hinabgeronnen. Ihr Mund war nur eine verschwollene, eitrige Wunde; sie waren nicht imstande, die Lippen so weit zu öffnen, dass man den Schnabel einer Teekanne hätte einführen können”, Zitat Ende. Ich denke, ich muss nicht weiter zitieren, es reicht! Hoffentlich auch bei der Kriegstreiber-Meute aus Politik und Medien usw. Müssen wir dieses Szenario durch deren kranken Größenwahn auch erwarten? Oder wollen die sich einbuddeln, Tee trinken und abwarten? “Hurra, hurra – die Schule brennt”? Nein, Deutschland brennt im atomaren Feuersturm, Ihr Dummköpfe! Ich habe Euch nicht gewählt und lasse mich nicht für eine scheinheilige “freiheitliche” Demokratur verheizen! Schämt Euch! Ich hisse hier die weiße Fahne und bin und bleibe eine friedliche Nachbarin!
Entsprechende Grüße
Claudia L. 15. Leserbrief Liebe Nachdenkseitenmacher
Gestern, 26.1.2023, und heute, 27.1.2023, sind in den Nachdenkseiten zwei bemerkenswerte Artikel zur aktuellen Kriegsgefahr erschienen nämlich “Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht – wer noch bei Verstand ist, sollte jetzt aufwachen” von Jens Berger und “Doomsday? Atomkriegsgefahr? – Wie langweilig! Warum die Weltuntergangsuhr (fast) keinen interessiert” von Leo Ensel. Beides sind hervorragende Artikel, wofür ich mich herzlich bedanke.
Beiden Artikeln ist die Beklemmung anzumerken angesichts der Tatsache, dass in nächster Zeit der Ausbruches eines grossen Krieges droht, welcher alle bisherigen Kriege in den Schatten stellen würde und dass wir auf der anderen Seite ein Volk vorfinden, welches davon kaum Notiz zu nehmen scheint, und geradezu apathisch den alltäglichen Geschäften nachgeht. Ich frage: Was geht hier vor, wissen denn die Menschen nicht, was uns droht?
Sollte es zu einem atomaren Schlagabtausch kommen, dann würde alles enden. Haben sich alle klar gemacht, was das bedeutet?
Als erstes ist festzustellen, dass über den Zustand danach nicht mehr berichtet werden kann. Was wir tun können, ist uns jetzt, vorher, vorzustellen, wie es danach aussehen könnte. Wir wissen nicht, ob danach Leben überhaupt noch möglich ist, Menschen wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht mehr geben. All jene, Politiker, Medienschaffende, Kommentatoren, Influencer, Freunde, … werden diesen Krieg nicht überleben. Auch nicht die grössten Kriegshetzer, auch Frau Baerbock, Herr Habeck nicht. (Und auch Joe Biden nicht). Alles was wir unter Kultur verstehen, wird nicht mehr stattfinden, es gibt dann keine Schauspieler, keine Künstler und kein Publikum mehr. Es wird auch keinen Historikerstreit mehr darüber geben, wer den Krieg begonnen hat, denn es wird keine Historiker mehr geben. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wird ein abruptes Ende finden. Der Planet Erde wird seine Bahnen weiter ziehen ohne menschliche Besatzung. All das sollten sich unsere Mitmenschen einmal überlegen. Allerdings ist es schwierig, solche Gedanken zu fassen angesichts des propagandistischen Trommelfeuers welches jeden Tag auf uns niederprasselt. Und auch alle Kriegshetzer sollten sich die Konsequenzen ihrer Propaganda überlegen, bzw. man müsste sie mit diesen Fakten konfrontieren.
Vielleicht wendet man ein, dass ein solcher alles vernichtende Krieg ja nur eine Beschränkung auf das schlimmste Szenario sei, und es völlig unwahrscheinlich sei. Dagegen zweierlei: Das Einzige, was uns bleibt, ist die Aufklärung darüber, in welcher Gefahr wir uns befinden. Zugegeben, wir führen einen Kampf David gegen Goliath. Dennoch uns bleibt nichts anderes: Wir sollten immer und immer wieder versuchen, diese Gedanken zu verbreiten. Wie man den NDS entnehmen konnte, ist die Äusserung dieser Gedanken jetzt auch nicht mehr ohne Gefahren, denn wenn man solches äussert, steht man bereits mit einem Bein im Gefängnis.
Wie auch immer, angesichts der Katastrophe, welche uns droht, sollten wir insbesondere denen, welche uns „Verrat am Freiheitskampf der Ukraine“ vorwerfen, entgegnen, dass sie abgesehen davon, dass die Ukraine ein autoritärer Staat ist, sie sich gut überlegen sollten, wofür sie argumentieren, denn auch sie können nicht ausschliessen, dass ihre Eskalationsforderungen zu einem atomaren Holocaust führen, den sie nicht überleben werden.
Mit freundlichen Grüssen
Günter Baigger
PS! Dank an die Nachdenkseiten, welche in diesen verrückten Zeiten eine Stimme der Vernunft darstellen. 16. Leserbrief Sehr geehrter Hr. Berger,
in Ihrem Artikel über die Dooms Day Clock, dessen Inhalt ich nur zustimmen kann, schreiben Sie ziemlich am Ende.
Offensichtlich doch, leider, und sie sitzen sogar im Gremium der Dooms Day Clock (DDC). Ich verfolge diese Bulletins schon seit vielen Jahren und fand deren Inhalte bisher gut und auch die Aufgabe, wenigstens einmal im Jahr die Bürger zum ernsthaften Nachdenken über den Zustand der welt anzuregen. Jetzt aber bin ich doch etwas verblüfft. Beim Thema Biowaffen bezieht sich der DDC- Ausschuss auf eine Bewertung des US-Department of State: “Russland unterhält ein offensives biologisches Waffenprogramm”. Und weiter: “Das Risiko, dass Russland in eine biologische Kriegsführung eintreten wird wird größer mit zunehmend chaotischere Zuständen in der Ukraine, wodurch Standards der Kriegsführung geschwächt werden.”
Hier werden doch ganz offensichtlich Dinge ins Gegenteil verkehrt und ich werde den Eindruck nicht los, das sich DDC – Macher sich als Propagandisten des Außenministeriums benutzen lassen.? Klar ist es möglich, sogar wahrscheinlich, dass Russland im Besitz von Biowaffen ist, so wie die US-Amerikaner selbst. Auch chemische! Aber eine russische Patentanmeldung für Biowaffen habe ich im Internet nun doch noch nicht gefunden, solche der USA aber schon, siehe hier und hier.
Hat Russland Biolabors außerhalb seines Staatsgebiets? Wir wissen es nicht. Haben die USA Biolabors außerhalb ihres Staatsgebiets?
Selbstverständlich: In der Ukraine. Und natürlich haben die Amerikaner nun Angst davor, dass die Russen die Kontrolle über die US-Biolabore in der Ukraine bekommen könnten: Ukraine Has Biological Research Facilities, Concerned Russian Forces May Seek To Gain Control: US – YouTube
Und was wird in den US-Laboren in der Ukraine hergestellt? Bestimmt kein Kaugummi. Nicht zuletzt der Sohn von Joe Biden spielt bei der Errichtung dieser Labors eines sehr fragwürde Rolle, um es ganz vorsichtig auszudrücken (man weiß ja heutzutage nicht mehr, ob einem für solche Aussagen nicht irgendwann ein Amtsgerichtsurteil mit 2.000 Euro oder 40 Tagessätzen auf den Tisch flattert). Jetzt wird allen Ernstes vom DDC-Gremium befürchtet, dass bei den “chaotischen Zuständen in der Ukraine” Russland in einen Biowaffenkrieg eintreten könnte? Welch Oligarchen in der Ukarine und den USA haben denn diese chaotischen Biolaborzustände herbeigeführt? Kein Wort der DDC- Macher über Biolabore der USA in der Ukraine, kein Wort über die in China? Und das nur, weil man eine Analyse des US-Außenministeriums für diese Beurteilung zugrunde legt. Was sonst ist von einem russischen Kriegsgegner zu erwarten?
Ich hatte von diesen Wissenschaftlern diesbezüglich eine etwas differenziertere Bestandsaufnahme des Gefahrenpotentials für die Welt erwartet. Bei allem Wohlwollen für deren guten Absicht ist das Ergebnis dieses Jahr zu diesem Punkt enttäuschend.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Biebel 17. Leserbrief Sehr geehrte Redaktion der Nachdenkseiten,
zum Artikel „Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht – wer noch bei Verstand ist, sollte jetzt aufwachen.“ von Jens Berger.
Ja, es ist schwer, dieses unerträgliche Kriegsgeschrei und Kriegsbegeisterung hier Tag für Tag in den Medien ertragen zu müssen. Nun kann man vor den blauen-gelben Fähnchenschwenkern und „Panzer, Panzer!“-Schreihälsen in Politik und Medien resigniert einknicken; sie einfach als eine Bande von Idioten abstempeln und sich selbst in seine Blase zurückzuziehen. Doch das bringt ja nichts. Deren Erfolg in der propagandistischen Beeinflußung großer Teile der Bevölkerung liegt ja daran, dass sie die Ursachen des Krieges in der Ukraine simplifizieren und damit eine nicht so einfach zu wiederlegende Kausallogik verbreiten. Motto: „Russland hat die Ukraine überfallen und ist damit der Aggressor – fertig! Was gibt es daran zu deuteln?“ Abgesehen davon, dass es schon ein tieferes Hintergrundwissen, nicht nur zur politischen, ethnischen und sozialen Ausgangslage in der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit 1991 auf der einen Seite als auch zum Grad der Beeinflußung der Medien und Politik der EU- und NATO Staaten durch Interessen- und Lobbyverbände (hier insbesondere durch die Rüstungsindustrie) auf der anderen Seite bedarf, um diese scheinbar einfache Logik wirksam in Frage zu stellen, ist es ja durchaus so, dass deren Argumentation in einigen Aspekten so falsch nicht ist. In meinen Augen ist Russland nicht das Unschuldslamm, dass, durch den „kollektiven Westen unter der Führung der USA“ in die Ecke gedrängt, in der Ukraine lediglich seine Sicherheitsinteressen verteidigt. Das insbesondere Polen und die baltischen Länder als besonders als russophob und aggressiv auftreten liegt ja nicht nur daran, dass deren (jüngere) Führungseliten in den transatlantischen Kaderschmieden und Softpower-Netzwerken sozialisiert und eingenordet wurden. Dort kommt nicht zuletzt tatsächlich die böse Erinnerung an die imperiale Politik des zaristischen Rußlands und auch der ehemaligen Sowjetunion zum Tragen (s. polnische Teilungen in deren Ergebnis ein unabhängiger Staat Polen von der Bildfläche verschwand, die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion 1940 sowie der Krieg der Sowjetunion gegen Finnland 1939/40). Nun kann man annehmen, dass die russische Förderation (seit 1992) hier eine grundlegende andere Einstellung zu seinen Nachbarn und generell innerhalb seiner „Einflußzone“ hat. Wobei schon allein die Verwendung des Terms „Einfluß- und Sicherheitszone“ bei jeden Nachbarn ein Gruseln hervorrufen dürfte. Meines Wissens hat sich Rußland aber weder unter Jelzin noch unter Putin größere Mühe gegeben, das sich z.T. über Jahrhunderte aufgestaute Misstrauen, insbesondere bei seinen westlichen Nachbarn, nachhaltig abzubauen. Als Vergleich ziehe ich hier einmal die großen Anstrengungen heran die Frankreich und Deutschland seit Ende des zweiten Weltkrieges zur gegenseitigen Versöhnung unternahmen. Etwas Vergleichbares habe ich im russisch-polnischen Verhältnis etwa nicht gesehen. Und Russland sehe ich hier durchaus in einer Bringschuld. Nun sind russische Streitkräfte in die Ukraine einmarschiert. Unabhängig von den tatsächlichen Gründen für diese Invasion ist das natürlich eine 1A vertrauenserweckende Maßnahme im Bezug auf das Verhältnis Rußlands zu seinen Nachbarstaaten. Diese differenzierte Sichtweise ist unbedingt wichtig, denke ich. Der erste Abwehrreflex, der einem entgegen springt, wenn man das Engagement des Westens in der Ukraine kritisiert, ist (fast immer) ein entrüstetes Unverständnis darüber, wie man nur den „bösartigen“ Aggressor Russland verteidigen kann. Eine kritische Einordnung der Rolle Russlands ist da sehr hilfreich. Absolut wichtig (und aus meiner Sicht auch der einzige Weg in der öffentlichen Debatte gegen die geeinte Front der Kriegstreiber a la Strack-Zimmermann etwas zu erreichen) ist den Fokus auf die simple Frage zu legen, wo das Alles enden soll…. und wo sie (die blau-gelben Fähnchenschwenker) auch ganz persönlich enden werden? Wenn man gegen Verlängerung dieses Krieges andiskutiert, sollten daher meiner Meinung zwei Punkte im Vordergrund stehen: Punkt 1) Der Verweis auf den Umstand, dass jede Verlängerung des Krieges Russland näher an den Punkt bringt, entscheiden zu müssen, den Einsatz wirklich massiv zu erhöhen. Auch wenn Russland über sehr große Ressourcen verfügt und Verluste besser wegstecken kann als die Ukraine, ewig werden sie das Spielchen auch nicht spielen können. Irgendwann müssen sie den Krieg endgültig zu entscheiden suchen. Das heißt dann Generalmobilmachung und Umstellung des ganzen Landes auf Kriegswirtschaft…. und dies schließt dann letztendlich Schläge gegen Aufklärungs- und Nachrichtenmittel, auf Kommando-/Entscheidungszentren, Ziele der Rüstungsindustrie, Informations- und Transportinfrastruktur der NATO Staaten nicht aus. Was dann los ist, kann man sich leicht vorstellen. Will man das wirklich?
Punkt 2) Der Verweis auf die wirklich schon perverse Heuchelei und Niedertracht mit der sich hier der sogenannte „kollektive Westen“ gegenüber Russland aufspielt. Da wäre zu fragen wie man denn die schon ungezählten Einmischungen in die Angelegenheiten anderer Länder, die Führung ebenso völkerrechtswidriger Angriffskriege der USA und auch der NATO, insbesondere gegen den Irak 2003, Restjugoslawien 1999 sowie die ungerufene, militärische Einmischung der USA und anderer NATO Länder in Syrien bewertet? Und das sind nur die Beispiele aus der jüngsten Geschichte. Und jetzt spielt sich dieser „Westen“ als der moralisch lupenreine, weiße Ritter und Beschützer der Ukraine auf? Jetzt werden Krokodilstränen über die Entbehrungen der ukrainischen Zivilbevölkerung vergossen aber 500.000 (!) tote irakische Kinder (bestätigt durch die ehemalige US Außenministerin Albright) als Ergebnis der US-Sanktionen und Krieg gegen den Irak sind diesen Brüdern & Schwestern scheißegal? Das ist lächerlich! Die westlichen Panzer- und weitere Waffenlieferungen an sich eskalieren den Krieg meines Erachtens nicht, sie haben „nur“ den Zweck, die Ukraine quasi „im Geschäft“ (also im Krieg) zu halten, da den Ukrainern die alten sowjetischen schweren Waffen ausgehen und Ersatz gibt es für die nicht. Aber sie verlängern dadurch den Krieg und das ist das Gefährliche!
Mit freundlichen Grüßen,
Thomas Heyn Anmerkung zur Korrespondenz mit den NachDenkSeiten Die NachDenkSeiten freuen sich über Ihre Zuschriften, am besten in einer angemessenen Länge und mit einem eindeutigen Betreff. Es gibt die folgenden E-Mail-Adressen: Weitere Details zu diesem Thema finden Sie in unserer „Gebrauchsanleitung“. | Redaktion | Jens Berger ruft hier um Hilfe. Denn noch nie sei die Gefahr eines atomaren Konflikts mit all seinen verheerenden Folgen nach Ansicht der Wissenschaftler so groß gewesen. Das Bulletin of the Atomic Scientists habe seine berühmte Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht umgestellt. Das sei der niedrigste Wert, den das von Albert Einstein gegründete Institut jemals gemeldet habe. Erinne ... | [] | [
"Leserbriefe"
] | 01. Februar 2023 10:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=93267&share=email |
Die vier Gesichter des Donald Trump: Trottel, Monster, Retter oder Realist? | Das Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem US-Pendant Donald Trump bietet Anlass, die unterschiedlichen Darstellungen und Wahrnehmungen der Person, des Politikers und des Medien-Charakters Donald Trump zu untersuchen. Auch wenn man angesichts des Verwirrspiels Trumps teils im Nebel stochert, so ist eines sicher: Die in den Medien dominierende Darstellung, Donald Trump sei ein einsamer Idiot, ist simpel und falsch. Von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Ende vergangener Woche haben in London über 200.000 Menschen gegen Donald Trump demonstriert – ich bin nicht sicher, ob ich teilgenommen hätte. Nicht, dass an der Politik und der Person Trumps nicht zahlreiche Dinge auszusetzen wären – aber: So selbstverständlich wie sich viele der Demonstranten auf ihre Ablehnung des stilisierten Medien-Charakters Donald Trump einigen können, so fragwürdig sind einige der von ihnen statt dessen präferierten Modelle. Teils wird nicht konkretisiert, was man sich „statt Trump“ für eine Politik der USA wünscht – teils werden ganz offen die aggressiven „Globalisten“ um die US-Demokratin Hillary Clinton umarmt. Ersteres ist ungenügend, Letzteres ist inakzeptabel. Zudem ist unklar, wofür genau Trump steht: Seiner kriegerischen Rhetorik steht real eine teils eher entspannende Haltung gegenüber: Auf verbale und taktische Pseudo-Eskalationen sind nun mehrmals Kehrtwenden hin zu Entspannung (Nordkorea, Russland) oder begrenztem Rückzug (Syrien) gefolgt – im Falle Iran bleibt abzuwarten, ob Trump wieder diesem Muster folgen wird bzw. welche der beiden sich aktuell bekämpfenden Macht-Gruppen in den USA sich durchsetzen kann. Andererseits werfen die USA unter Trump so viele Bomben wie noch nie und eskalieren nochmals die Forderungen nach erhöhten Rüstungsetats. Die Signale sind also widersprüchlich und verwirrend. Sehr wahrscheinlich ist aber zumindest, dass Trumps scheinbar chaotische Amtsführung und seine angeblich einsam in der Nacht abgesetzten Tweets Teil einer wohlgeplanten und von einem großen Team umgesetzten Strategie sind. Mit Trump-Kritik auf der „richtigen“ Seite Vor allem die Innenpolitik des US-Präsidenten muss sehr kritisch betrachtet werden, da Trump hier seinen bösen Worten meist auch schlimme Taten wie die grausame Isolierung der Migrantenkinder, eine generelle Mobilisierung durch Rassismus oder riskante Finanz-Deregulierungen folgen lässt. Der wirtschaftsliberale Radikal-Kapitalist Trump ist darum keineswegs jener Retter der Arbeiterklasse, wie es seine Wahlkampagne suggeriert hat. Insofern kann man sich leicht auf eine Ablehnung der Person und der Symbolik Trumps einlassen – schließlich befindet man sich damit auf jeden Fall auf der komfortablen, „richtigen“ Seite. Allerdings ist die angebotene Alternative inakzeptabel: Abschreckend ist bereits die aufreizend arrogante Haltung vieler Gegner Trumps sowie ihre teils merkwürdigen Koalitionen aus „liberalen“ und russen-feindlichen US-Kriegstreibern einerseits sowie „linken“ Subkulturen andererseits. Man kann festhalten: Trump hat einen abstoßenden Politikstil eingeführt und innenpolitisch mindestens fragwürdig agiert. Aber auf der anderen Seite hat er einerseits überraschend viele seiner (teils auch positiven) Wahlkampf-Impulse versucht umzusetzen – dazu zählt auch die angestrebte und angefeindete Entspannung mit Russland. Andererseits sind viele dieser Versuche am immensen Widerstand der Wahlverlierer und des von ihnen eingesetzten tiefen Staates gescheitert oder gebremst worden. Ein Teil des anarchischen und groben Eindrucks von Trumps Handeln rührt auch her von erzwungenen Abwehrmaßnahmen gegen die offiziellen und verdeckten Angriffe gegen seine Politik. Welche Macht-Gruppe steht hinter Trump? Eben dieser unverblümte Einsatz etwa der Geheimdienste gegen Trump widerlegt die hiesige und internationale Medien-Darstellung, Trump sei ein einsamer und infantiler Trottel. Wäre er das, so hätte ihn die breite Koalition seiner Gegner aus Geheimdiensten, Medien, Militär und Silicon Valley mutmaßlich längst eingehegt. An Versuchen hat es nicht gemangelt, zum Teil ist es geglückt: Trump wurde als russische Handpuppe verleumdet, seine Regierungs-Mannschaft wurde von Generälen eingekreist und seine Mitarbeiter mit Prozessen und schmutzigen Tricks bekämpft. Aber scheinbar hat Trump mächtige Personen im Rücken – sonst wäre er nicht mehr im Amt. Bei der Demo in London schwebte die riesige hämische Darstellung Trumps als böses Baby in Ballonform über den Menschen. Das ist ein gutes Sinnbild für die verkürzte und verharmlosende Sichtweise auf Trump, den man doch – wie alle US-Präsidenten – nicht als irren Einzeltäter, sondern als relativ machtlosen Repräsentanten „seiner“ Machtgruppe sehen muss. Bei der gängigen unbefriedigenden Trump-Analyse überlagert aber die Person die Gruppe – eine geglückte Ablenkung. Mutmaßlich verfolgt Trump hinter den selbst verursachten Ablenkungen eine Agenda – da er als Einzelkämpfer nicht überleben würde, ist es nicht seine persönliche, sondern die mächtiger Förderer. Wer sind diese Unterstützer und was wollen sie wirklich? Ein Atomkrieg, wie in jüngerer Vergangenheit oft medial geunkt wurde, ist es wahrscheinlich nicht. Manche Beobachter vermuten das Gegenteil, oder stark vereinfacht ausgedrückt: Im Kreis der Trump-Unterstützer sind nach dieser Lesart einflussreiche Personen, die vom sehr teuren System der internationalen US-Basen nicht profitieren. In deren Auftrag zertrümmert Trump dieses System, um die dadurch freien Ressourcen neu einzusetzen – zum Leidwesen der auch deutschen Clinton-Unterstützer, die das internationale Basen-System notfalls durch Kriege noch ausbauen wollten. Durch diese Haltung würde Trump noch lange nicht zum Pazifisten und auch nicht zum freundlichen Partner der Europäer. Parallel-Welten in den USA So wie es mehrere öffentliche Charaktere Trumps gibt, so existieren auch in den Vereinigten Staaten Parallelwelten: Neben den Trump-Unterstützern ist da vor allem die von Hillary Clinton repräsentierte Gruppe der „Globalisten“. Sie benötigen für ihr Konzept von internationaler US-Dominanz das System der US-Militärbasen. Sie kontrollieren weite Teile des tiefen Staates und nahezu alle großen Medien. Sie haben ihre Niederlage noch nicht verwunden. Auf diese Gruppe beziehen sich deutsche Transatlantiker, wenn sie von den “guten” USA sprechen. Diese Gruppe ist in Deutschland noch immer einflussreich. Deutsche Transatlantiker geraten durch Trump jedoch in eine Zwickmühle: Trump zieht den Phrasen von den USA als gutmeinender Friedensmacht das propagandistische Fundament weg. Think-Tanks, Politiker und Journalisten müssen aktuell Trump kritisieren, wollen aber gleichzeitig die NATO erhalten, was in einem wenig überzeugenden medialen Eiertanz mündet. Dass US-Demokraten und deutsche Transatlantiker Trump dabei als kriegstreiberisches Monster darstellen, ist Heuchelei. Dass diese Heuchelei nicht thematisiert wird, ist ein weiteres Beispiel für die Gleichförmigkeit unserer Medienlandschaft. Trump ist außenpolitisch bisher(!) eher ein Schaf im Wolfspelz, auf die extreme Kriegsrhetorik folgten bislang wie gesagt „nur“ symbolische, militärisch irrelevante Angriffe wie jene beiden Raketenattacken auf Syrien. Jenseits einer auch dem Druck „liberaler“ Medien geschuldeten kriegerischen Rhetorik ist Trumps Außenpolitik in ihrer Wirkung(!) – nicht in ihrer Erscheinung – mutmaßlich weniger aggressiv als die unter Obama oder Bush. Es ist ein Zeichen der Zeit: Verletzungen des Stils werden übler genommen als große Kriege. Lob kommt von den „Liberalen“ erst, wenn Bomben fallen. Auch viele deutsche Pseudolinke würden einer sanft sprechenden, aber Krieg führenden Hillary Clinton einem polternden, aber (angeblich!) die US-Kriegsmaschine zurückziehenden Donald Trump den Vorzug geben. Nach dieser Sicht wiegen blutige Feldzüge weniger schwer als ein paar Twitter-Peinlichkeiten. Das Ende der NATO? Manche sehen hinter Donald Trumps Entertainment-Maschine also eher einen kühlen Realisten, der die neue multipolare Welt akzeptiert hat. In der Gewissheit, dass sich das amerikanische Imperium überlebt habe, betreibe er zielstrebig dessen Rückbau – etwa durch die Demontage alter Bündnisse, die mit den hohen Kosten einer Militärpräsenz verbunden sind, wie in Deutschland. Kostenminimierung und damit die Aufgabe von Militärbasen sei das Gebot der Stunde. All die Tweets und Drohungen und das ganze kriegerische Gebaren Trumps sei nur der Theaterdonner, der einen (angeblichen!) realen Rückzug aus Kostengründen überdecken solle. Alle in diesem Text geschilderten Theorien zur US-Außenpolitik stochern im Nebel und können nicht als gesichert oder belegt bezeichnet werden. Bei allen Unwägbarkeiten in der Beurteilung von Trumps „realen Motiven“ scheint eines aber offensichtlich: Trump treibt die EU mit vielem, was er tut, in die Arme der Russen und Chinesen. Es ist schwer zu glauben, dass das konzeptlos und „aus Versehen“ geschieht. Aller kriegerischer Rhetorik von den zu erhöhenden Rüstungs-Etats zum Trotz erlaubt er Europa damit erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Gedankenspiele, die eine Abschaffung der NATO beinhalten. In unseren Medien wird die „Drohung“ Trumps, die US-Truppen aus Europa abzuziehen und damit die NATO zu begraben, als großes Unheil dargestellt. Tatsächlich wäre das aber Vorbedingung jeder europäischen Selbstbestimmung. Insofern ist die unerhörte Ankündigung Trumps real eine große Chance. Ob sie ergriffen wird, und wenn ja, wie sie umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt. Diese Fragen müssten aber jetzt diskutiert werden: Die Zeit drängt – in Helsinki werden dieser Tage wichtige Weichen gestellt. | Tobias Riegel | Das Treffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem US-Pendant Donald Trump bietet Anlass, die unterschiedlichen Darstellungen und Wahrnehmungen der Person, des Politikers und des Medien-Charakters Donald Trump zu untersuchen. Auch wenn man angesichts des Verwirrspiels Trumps teils im Nebel stochert, so ist eines sicher: Die in den Medien dominierende Darstellung, Donald ... | [
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] | 16. Juli 2018 10:31 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=44973&share=email |
Bundesparteitag der LINKEN: Ein gruftiges Paralleluniversum | Man weiß in den meisten Feldern schlicht nicht, wofür die Partei nun eigentlich steht, bei all den Formelkompromissen, den salbungsvollen Beschwörungen, den trotzigen Durchhalteparolen und den abgestandenen Allgemeinplätzen. Von Rainer Balcerowiak. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Auf den ersten Blick wirkte alles wie immer. 580 Delegierte waren eingeladen, um sich am Freitag zur dreitägigen 1. Sitzung des 9. Bundesparteitags der LINKEN in Halle unter dem Motto „Bereit für ein gerechtes Morgen“ zu versammeln. Im Mittelpunkt der Tagesordnung standen die Beratung und die Abstimmung über einen Leitantrag zur künftigen politischen Ausrichtung sowie die Neuwahl des Vorstandes. Die Besetzung der Doppelspitze der Parteiführung war im Vorfeld bereits ausgehandelt worden. Ines Schwerdtner und Jan van Aken werden die Nachfolge von Janine Wissler und Martin Schirdewan antreten, die bereits vor einiger Zeit erklärt hatten, nicht erneut kandidieren zu wollen. Aber natürlich war diesmal absolut nichts „wie immer“. Denn im Gepäck der Delegierten befand sich eine Serie von insgesamt vier desaströsen Wahlniederlagen auf EU- und Landesebene, begleitet von Erosionsprozessen und dem endgültigen Ausstieg des Flügels um die frühere Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, deren von ihr im Januar 2024 gegründetes und nach ihr benanntes Bündnis die Linke sowohl in der Wählergunst als auch in der öffentlichen Präsenz deutlich in den Schatten stellt. In den ersten Wochen nach dem Bruch mit Wagenknecht versuchte es die Rest-LINKE mit einer Art trotzige Aufbruchseuphorie und verwies auf eine regelrechte Eintrittswelle. Doch dann kamen die Wahlschlappen und schnell taten sich in der Partei neue Bruchlinien auf, etwa die Haltung zur NATO, Waffenlieferungen an die Ukraine und die Kriegsführung Israels betreffend, was vor zwei Wochen auf dem Berliner Landesparteitag zu einem handfesten Eklat führte. Man könnte also meinen, dass der Bundesparteitag die womöglich allerletzte Chance sein könnte, die Fehler und Versäumnisse der LINKEN in den vergangenen Jahren offen und schonungslos zu benennen, statt immer nur auf das verheerende, zerstörerische Wirken der schrecklichen Sahra zu verweisen. Vor allem müsste man sich auf eine einigermaßen kohärente Grundlage der eigenen Politik in den wichtigsten Feldern verständigen, um überhaupt als relevante politische Kraft wahrgenommen werden zu können. Denn derzeit werden der LINKEN laut Umfragen weder in der Friedens-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, noch im Umgang mit der Migration nennenswerte Kompetenzwerte attestiert. Wie auch, denn man weiß in den meisten Feldern schlicht nicht, wofür die Partei nun eigentlich steht, denn außer den innerparteilichen Lagern geschuldeten, mühsam gedrechselten Formelkompromissen kommt da so gut wie gar nichts. Das gilt auch für den in mühsamen Hintergrundgesprächen unter maßgeblicher Beteiligung des designierten neuen Führungsduos erarbeiteten Leitantrag, der am Sonnabend nach nur teilweise lebhafter Diskussion mit einigen Änderungen verabschiedet wurde. Stinkbomben im Vorfeld des Parteitags Vom vielbeschworenen „Blick nach vorn“ oder gar einem Aufbruch war auf dem Parteitag — abgesehen von einigen salbungsvollen Beschwörungen und trotzigen Durchhalteparolen — jedenfalls wenig bis nichts zu merken. Auch das war erwartbar, denn im Vorfeld hatten einige Repräsentanten diverse, kräftige Stinkbomben platziert. Die als Hoffnungsträgerin für das Erreichen neuer Wählerschichten als EU-Spitzenkandidatin nominierte Öko- und Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete stimmte als „Einstand“ im EU-Parlament für eine Resolution, die deutlich mehr Waffenlieferungen und vor allem die Aufhebung der Beschränkungen des Einsatzes westlicher Waffen gegen Ziele im russischen Hinterland vorsah. Der ebenfalls im EU-Parlament sitzende, scheidende Parteivorsitzende Martin Schirdewan enthielt sich der Stimme und berichtete den nd-Lesern Ende August, dass er bei seinen Gesprächen in Peking für eine „breite diplomatische Allianz von Brasilien bis China“ geworben habe, „um Putins Regime endlich wirksam zu isolieren“. Und sein Nachfolger als Co-Parteivorsitzender, Jan van Aken, bedauerte im Spiegel, dass Deutschland nach dem Beginn der russischen Militäroperation gegen die Ukraine im Februar 2022 nicht sofort ein 100-prozentiges Ölembargo gegen Russland vollzogen habe. Der scheidenden Parteivorsitzenden Janine Wissler fiel auch nichts anderes ein, als sich in ihrer Abschiedsrede am BSW abzuarbeiten, den „allgemeinen Rechtsruck“ zu beklagen und einen großen Haufen Allgemeinplätze zu verkünden, garniert mit ein bisschen Optimismus und einer nahezu hymnischen Würdigung für die „vielen großartigen Menschen“ in und außerhalb der Partei, die für das Gute und Schöne kämpfen. Für stehende Ovationen für die gründlich gescheiterte Vorsitzende reichte das allemal. Die allgegenwärtigen Schatten des drohenden Scheiterns bei der Bundestagswahl in einem Jahr und dem damit verbundenen Sturz in die bundespolitische Bedeutungslosigkeit konnte das Geklatsche aber auch nicht vertreiben Was dann als „Generaldebatte“ folgte, waren in erster Linie blumige Schilderungen der schlimmen Verhältnisse in unserem Land in allen möglichen Bereichen und die linken Antworten darauf. Auch ein bisschen Eingeständnis, dass man im Kampf gegen diese Verhältnisse einige Fehler gemacht habe, die man jetzt korrigieren werde. Auffällig allerdings, dass die auf LINKEN-Parteitagen sonst üblichen Beschimpfungen jeweils anders orientierter Strömungen weitgehend unterblieben. Dennoch wurde in vielen Beiträgen auch deutlich, dass die Partei erhebliche Probleme haben wird, sich in drei zentralen Fragen – Migration, Ukraine und Israel/Gaza – auf einen tragfähigen Kompromiss zu verständigen. Am Sonnabend ging die zunehmend redundante Generaldebatte dann noch einige Stunden weiter. Unter dem Motto „Die LINKE ist stark, die LINKE ist da, und die LINKE wird weiter eine politisch starke Kraft bleiben“, wie es der Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann formulierte. „Damit der Rentner nicht mehr Flaschen sammeln muss“, wie der anschließend auftretende scheidende Ko-Vorsitzende und EU-Abgeordnete Martin Schirdewan in seiner Abschiedsrede erläuterte, die fast noch dröger war als die seiner Kollegin Wissler. Auch bei ihm viel Geschimpfe über das BSW und sein „prorassistisches“ Auftreten im EU-Parlament, aber kein Wort über seine EU-Kollegin und Kriegsfreundin Carola Rackete. Doch auch das reichte für stehende Ovationen und eine theatralische Abschiedszeremonie für die beiden Ex-Vorsitzenden, obwohl deren Hauptverdienst offensichtlich darin besteht, den zahlreichen Sargnägeln für die Partei, die bereits ihre Vorgänger — allen voran Katja Kipping – eingeschlagen hatten, weitere hinzuzufügen. Beredtes Schweigen zu strittigen Themen Nun also Aufbruch. Mit dem mehrfach geäußerten Versprechen, nach dem Parteitag an „hunderttausenden Türen zu klingeln“, um zu erfahren, was die Menschen bedrückt, und das dann direkt in den Bundestag zu bringen. Und mit einem nach weiteren zähen Debatten um ursprünglich 261, aber von der Antragskommission teilweise zusammengefassten Änderungsanträge schließlich verabschiedeten Leitantrag mit dem recht indifferenten Titel „Gegen den Strom“. In dem geht es viel um Fokussierung auf soziale Themen wie Mieten, höhere Löhne und Renten, dazu „Kampf gegen rechts“, ein bisschen Frieden, ein bisschen Klima und ein bisschen Allerlei. Und mit so viel Formelkompromissen bei den Streitfragen Ukraine, Israel und Migration, dass das Aufbrechen der innerparteilichen Konfliktlinien wohl nur eine Frage von wenigen Tagen sein wird. Abgelehnt wurden unter anderem alle Änderungsanträge, die den Ukraine-Krieg deutlicher als geopolitisches Schlachtfeld charakterisieren wollten oder sich strikt gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine richteten. Anträge zur Antisemitismusdefinition wurden zur späteren Beratung vorsichtshalber an den Parteivorstand überwiesen. Und mit neuen Gesichtern. Mit der Quereinsteigerin Ines Schwerdtner, die erst im August 2023 in die Partei eintrat und zuvor vor allem als Publizistin tätig war, unter anderem als Chefin des Magazins Jacobin. Sie hatte von vornherein keinen Hehl daraus gemacht, an die Parteispitze zu streben. Und mit dem Ex-Bundestagsabgeordneten Jan van Aken, der sich als Biowaffenexperte einen Namen gemacht hat. Schwerdtner nannte ihre Partei in ihrer Bewerbungsrede „unglaublich lebendig“, und sie werde gebraucht: „Bitte lasst euch nichts anderes einreden“. Doch auch sie hatte nur ein paar abgestandene Allgemeinplätze zu bieten: gegen rechts, gegen einen „Blackrock-Kanzlerkandidaten“, für „Klarheit, Fokus und Glaubwürdigkeit“. Dazu ein bisschen Friedensrhetorik, aber keine Position zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch von Schwerdtner gab es eine hilflos-dümmliche Tirade gegen das BSW und – ohne direkte Namensnennung – gegen Sahra Wagenknecht. Für die Krise ihrer Partei trügen diejenigen die Verantwortung, die „noch bis zum letzten Tag lächelnd in eine Kamera, Scampi-Pizza essend, diese Partei ausgezehrt haben. Sie sollten sich schämen“, so die Analyse der neuen Vorsitzenden zum Niedergang ihrer Partei. Es folgte eine extrem brave Fragerunde mit extrem braven Antworten: Kandidatur für den Bundestag? (Ja) Für oder gegen das Bedingungslose Grundeinkommen? (eher skeptisch) Wie die älteren Genossen besser einbinden? (Patenschaftsprogramme) Wieder mehr eine Ost-Partei? (Jein). Ihr im Vorfeld gepflegtes Image der jungen, unverbrauchten Erneuerin dürfte nach diesem Auftritt bereits schwer gelitten haben. Auch Jan van Aken hatte wenig mehr als ein paar Sprechblasen zu bieten. Etwas überraschend lediglich sein Vergleich linker Solidarität mit der erlebten Gemeinschaft in seinen Zeiten als katholischer Messdiener. Auch von ihm kein Wort zu den strittigen Themen. Und ohnehin: „Jetzt ist Schluss mit Zoff! Wir gehen nach dem Parteitag da raus und rocken die Republik.“ Aber das klang weniger nach Rock’n’ Roll, sondern eher nach bemühtem Bierzelt-Sound. Auch an ihn (mit einer Ausnahme) hauptsächlich öde Fragen und öde Antworten. In den Bundestag? (derzeit eher nicht) Wie gegen Querschüsse in der Partei vorgehen? (mal gucken) Waffenlieferungen nach Israel und an die Ukraine? Ist das Vorgehen in Gaza ein Genozid? (will er am Sonntag was sagen). Dann ging es zur Urne. Jan van Aken erhielt ziemlich gute 88 Prozent, Ines Schwerdtner eher durchwachsene 79,8 Prozent. Danach ein bisschen Budenzauber mit Bühnenfeuerwerk und Lightshow. Und eigentlich hätte man diesen Parteitag jetzt auch beenden können, denn wer interessiert sich schon für die Besetzung der nachgeordneten Posten und endlose Fensterreden zu nachrangigen Anträgen. Das könnte man nun wirklich online erledigen. Man könnte jetzt eigentlich rausgehen und in Halle schon mal damit anfangen, an Haustüren zu klingeln, um die frohe Botschaft zu verkünden. Man hat jetzt zwei neue Gesichter an der Spitze, einen blumigen Leitantrag mit vielen Sprechblasen, Formelkompromissen und Leerstellen. Und man wartet jetzt auf den beschworenen Aufschwung. Der natürlich nicht kommen kann und wird, denn das ist alles viel zu dünn, abgeschmackt und erkenntnisresistent. Immerhin: Trotz der misslichen Lage der Partei und dem drohenden Absturz in die Bedeutungslosigkeit haben die Autoren des Leitantrags ihren Humor noch nicht ganz verloren. Dort heißt es gegen Ende: „Nach der Bundestagswahl 2025 treten wir wie verabredet in eine programmatische Debatte ein, die bis 2027 abgeschlossen sein wird.“ Bleibt allerdings die Frage, ob sich dann noch irgendjemand dafür interessieren wird. Wenigstens einen Bundesparteitag wird es irgendwann aber noch geben, denn schließlich muss ja jemand das Licht ausmachen. Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier. Titelbild: nitpicker / Shutterstock | Rainer Balcerowiak | Man weiß in den meisten Feldern schlicht nicht, wofür die Partei nun eigentlich steht, bei all den Formelkompromissen, den salbungsvollen Beschwörungen, den trotzigen Durchhalteparolen und den abgestandenen Allgemeinplätzen. Von Rainer Balcerowiak.
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"DIE LINKE"
] | 21. Oktober 2024 9:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=123397&share=email&nb=1 |
Die Stimme einer NachDenkSeiten-Leserin im Angesicht des Karnevals: Wir sind wie “Papierschiffe gegen den Strom” | In der vergangenen Nacht kam die folgende Mail. Albrecht Müller.
Anmerkung Albrecht Müller: So ist es, liebe Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten. „Trotzdem“, trotz des Konformismus und des erkennbaren Seitenwechsels von ehedem meist aufklärenden Medien wie TAZ, FR, Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, der Stern und teilweise sogar die Blätter. Sogar die Kölner Stunksitzung, berühmt wegen der angeblichen Bereitschaft, gegen den Strich zu bürsten, ist in wichtigen Teilen stromlinienförmig. Zum Beispiel bei Minute 3:30 folgende, wo die Sitzungspräsidentin den Eindruck verbreitet, Fakes seien vor allem das Problem des „Netzes“, oder ab Minute 57, wo Putin mit Trump und Erdogan zusammengespannt wird. Soweit sind wir gekommen: Die sich für die Guten und Aufgeklärten halten, sind im Einheitsbrei untergetaucht und produzieren die gleichen Sprechblasen und Kampagnen. | Albrecht Müller | In der vergangenen Nacht kam die folgende Mail. Albrecht Müller.
Gerade habe ich mal im Fernsehen so durchgezappt und natürlich ist überall in den öffentlichen Sendern Karneval mit den herrlichen Büttenreden, einschließlich Rosenmontagsumzügen.
Donald Trump ist DAS Thema - leider im Sinne der Regierung und des Mainstreams.
Wie Prof. Mausfeld schon sagte, es wird nichts ausgelassen ... | [
"Vierte Gewalt"
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"Medienkritik"
] | 28. Februar 2017 8:25 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=37196&share=email&nb=1 |
Eine überflüssige Konjunkturprognose | Angesichts der Vielzahl der Wirtschaftsprognosen ragt die „Gemeinschaftsdiagnose“ [PDF – 5.3 MB] der ohnehin wirtschaftspolitisch gleich gepolten Wirtschaftsinstitute nicht mehr aus dem heraus, was man schon oft gelesen hat. Man fragt sich warum das Bundeswirtschaftsministerium überhaupt 4 Forschungsinstitute (das Ifo Institut des Professors Sinn, das Instituts für Weltwirtschaft des Professors Snowers, des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle des Professors Professors Blum oder des RWI des Professors Schmidt) und dazu noch mehrere kooperierende Forschungsstellen beschäftigen und bezahlen muss, von denen man jedenfalls was ihre wirtschaftswissenschaftlichen Bewertungsmaßstäbe und dementsprechend was ihre wirtschaftspolitischen Empfehlungen anbetrifft, ohnehin von vorneherein weiß, was als Ergebnis herauskommt. Wolfgang Lieb
Seit 2006 habe ich mich der Mühe unterzogen sowohl das Frühjahrsgutachten als auch das Herbstgutachten dieser Forschungsinstitute zu lesen und auf den NachDenkSeiten zu kommentieren. Der Tenor war fast immer der gleiche und reichte regelmäßig für eine Erfolgsmeldung des auftraggebenden Wirtschaftsministers: erfreuliches Wachstum, Arbeitslosigkeit sinkt, Inlandsnachfrage wächst, Löhne steigen. Auch die wirtschaftspolitischen Empfehlungen wiederholten sich mit minimalen Varianten: Haushaltskonsolidierung fortsetzen (selbst im Rezessionsjahr 2009), Zurückdrängung des Staates aus der Wirtschaft, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Steuersenkungen oder keinesfalls Steuererhöhungen, „Reformkurs“ fortsetzen, Lohnzurückhaltung, Sozialleistungen senken, Inflationsbekämpfung durch höhere Leitzinsen. Die Wachstumsprognosen des diesjährigen Frühjahrsgutachtens von 2,8 % in 2011 und von 2,0% in 2012 hat man – ein zehntel mehr oder ein zehntel weniger – schon oft gelesen. Im Übrigen, wenn man die Prognosewerte des letzten Frühjahrsgutachtens (1,5%) mit dem Ist-Wert des Jahres 2010 (3,6%) vergleicht, dann wird deutlich, wie viel Kaffeesatzleserei da betrieben wird. (Die Rechtfertigung dieser Fehleinschätzung im letzten Jahr ist den Gutachtern gerade mal eine halbe Seite wert. S. 28) Das einzig Hilfreiche ist, dass man alle halbe Jahre sozusagen ein update der neuesten Daten und das erleichtert die Sucharbeit, wenn man Zahlen für andere Zwecke braucht. Aber wenn eine Regierung ohnehin den gleichen wirtschaftspolitischen Glaubenslehren anhängt, wie diese Institute, dann kann man vom sog. Gemeinschaftsdiagnose wirtschaftspolitisch kaum noch etwas Überraschendes erfahren. Für einen wirtschaftsliberalen Wirtschaftsminister hat das Gutachten nahezu ausschließlich eine Public-Relation-Funktion, wie Brüderle schon am Abend im Fernsehen bei Maybrit Illner mal wieder aufdringlich bewiesen hat. „Deutschland erlebt einen kräftigen Aufschwung“, heißt es da, gerade so als ob 2,8 oder danach 2,0 Prozent nach dem Einbruch von 2009 schon wieder Anlass zu Übertreibungen wären. Quelle: Statistisches Bundesamt, 2010 Da wird eine stärkere Binnennachfrage gefeiert, obwohl die Privaten Haushalte gerade mal jeweils 0,7% zum Anstieg des BIP beitragen. Wenn überhaupt, fallen die Anlageinvestitionen im Binnenmarkt mit 1,0 bzw. 09% ins Gewicht. Für Ausrüstungsinvestitionen wird eine kräftig Zunahme von 10,5 % (2011) und 7,6% (2012) erwartet. (S. 34) Und darauf kommt es ja den neoklassischen Ökonomen an, nämlich dass die hiesigen Unternehmen investieren. Den privaten Konsum braucht man in der Welt dieser Wirtschaftsökonomen ohnehin nicht. Die Unternehmen machen ja ohnehin alles alleine, sie konsumieren, investieren und exportieren, wenn es sein muss an die Wesen vom Mars. (Heiner Flassbeck) Auch künftig werden sich die Einkommenszuwächse vor allem aus einer kräftigen Zunahme der Gewinn- und Vermögenseinkommen speisen. Trotz einer prognostizierten Steigerung der Bruttolöhne wird sich die Umverteilung von den Arbeits- auf die Kapitaleinkommen fortsetzen. Die Kaufkraft soll sich real um gerade einmal 1,0% erhöhen. (S. 34) Dabei lagen die effektiven Stundenlöhne im Jahre 2011 gegenüber dem Vorjahr um 0,1 % niedriger. Und nebenbei wird bemerkt, dass angesichts des Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Produktivität um 1,0% und angesichts der Tatsache, dass die nominalen Lohnstückkosten ihr Niveau vom Vorjahr um 1,1 % unterschritten, sich die Gewinnsituation der Unternehmen spürbar verbessert habe. (S. 36) Gemessen am Produktionsniveau lägen die realen Arbeitskosten 2012 immer noch niedriger als vor Beginn der Lohnmoderation im Jahr 2004. (S. 37) Da wird in dem Gutachten beim Arbeitsmarkt von einem „regelrechten Boom“ (S. 37) gesprochen und als Erfolg vermeldet, dass etwa 60 % (!) des Beschäftigungsaufbaus in Vollzeitstellen stattfand und die Beschäftigung in der Arbeitnehmerüberlassung weiter zunimmt, wenn man angesichts der inzwischen beschönigenden Statistiken unter 3 Millionen Arbeitslosen liegt. Die Qualität der Arbeitsplätze, dass jeder 5. Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor gelandet ist, ist für die Gutachter vernachlässigbar. Die Arbeitsplatzqualität spielt für unsere Kartoffelmarkt-Ökonomen keine Rolle, der Preis der Arbeit bildet sich ja auf dem Markt und wenn der Preis der Arbeit eben seinen Mann nicht mehr ernährt, dann ist die Arbeit eben auch nicht mehr Wert. Da werden der Rückgang der Arbeitsproduktivität und die Zunahme der Lohnstückkosten (um 1,0 %) durch inzwischen leichte Lohnerhöhungen kritisch betrachtet, schon wird wieder die Gefahr einer „Lohn-Preis-Spirale“ an die Wand gemalt (S. 29), ganz so als hätte Deutschland nicht im letzten Jahrzehnt durch permanentes Lohndumping unsere europäischen Nachbarn niederkonkurriert und dadurch wesentlich zu den Leistungsungleichgewichten gegenüber unseren europäischen Nachbarn beigetragen. Der weitere Anstieg der Exporte um 9,8% (2011) und 6,5% (2012) auch in die Mitgliestaaten der EWU wird nicht etwa problematisiert sondern als Erfolg vermeldet. (S.30) Die schwache Konjunktur in den Peripherieländern des Euroraums (Griechenland, Portugal, Spanien) dürfte sich nach Meinung dieser Exporten kaum bemerkbar machen, da deren Anteil an der Gesamtausfuhr Deutschlands nur gering sei. (S. 31) Obwohl man mit eine restriktiven finanzpolitischen Impuls in Relation zum nominalen BIP von 0,4 bzw. 0,9 % rechnet, werden der Konsolidierungskurs der Regierung und die Vorgaben der „Schuldenbremse“ gelobt. (S. 29, 44)) Die sinkenden Sozialleistungen u.a. durch das sog. „Sparpaket“ werden positiv gewürdigt (S. 40) Und natürlich ist man gegen die Finanztransaktionssteuer (S. 29). Fazit: Die „Gemeinschaftsdiagnose“ spielt auf der alten Leier, die ja bekanntlich aufgrund ihrer wenigen Saiten und nur geringem Tonumfang ziemlich eintönig ist und sich auf die Wiederholung des altbekannten beschränkt. Solange das Bundeswirtschaftsministerium nicht endlich einmal auch neue und alternative (wirtschaftspolitische) Saiten aufzieht und auch abweichende ökonomische Ansätze bei der Begutachtung zu lässt, werden wir auch in Zukunft nur die altbekannten, ewig gleichen Wiederholungen hören.
Die „Gemeinschaftsdiagnose“ wird weiter nur die Funktion haben, die Wirtschaftspolitik ihres jeweiligen Arbeitgebers in höchsten Tönen zu loben – sofern er dem neoliberalen Kurs der beauftragten Forschungsinstitute folgt. Typisch für die monetaristische Grundeinstellung der Forschungsinstitute ist ihre Kritik an den institutionellen Reformen der Europäischen Währungsunion. Scharf werden die Mechanismen zur Korrektur „makroökonomischer Ungleichgewichte“ – einer der Hauptursachen der derzeitigen Schuldenkrise der sog. Peripherstaaten – kritisiert. Die Ungleichgewichte stellten keineswegs notwendigerweise eine Gefahr für die Währungsunion dar, sie spiegelten nur die strukturellen Unterschiede wider. Diese Mechanismen könnten nur „zu schwer zu rechtfertigenden Eingriffe in die marktwirtschaftliche Ordnung genutzt werden“ (S. 48) und damit die Grundlage des Wohlstandes in der EU beschädigt werden. Offener kann man seine Marktideologie nicht zur Schau tragen.
Massiv wenden sich unsere Marktgläubigen dagegen, dass der Pakt fordere, dass sich die Arbeitskosten entsprechend der Produktivität entwickeln sollten. Damit wäre der Wirtschaftspolitik die Möglichkeit genommen „für anpassungsfähige Arbeitsmärkte zu sorgen“ (S. 49) – auf deutsch übersetzt: auf weitere Flexibilisierung und weiteres Lohndumping zu setzen. Selbst hinter den mehr als vagen Stabilisierungsmechanismen auf EU-Ebene fürchten unsere Gutachter „eine Tendenz zu wirtschaftspolitischem Zentralismus“. Viele Vorlagen der EU entfernten sich vom Leitbild der Marktwirtschaft. Die Forschungsinstitute verlangen deshalb vielmehr die „Einrichtung eines dauerhaften Krisen- und Insolvenzmechanismus für Euroländer“ als weitaus wichtigstes Reformwerk. Die Forschungsinstitute die hier so locker über die Insolvenz von Staaten daherreden, verweigern damit eine wirkliche Analyse der Schuldenkrise der südeuropäischen Länder. Griechenland oder Portugal (bei Irland liegt die Lage anders) haben sich doch vor allem deshalb im Ausland verschuldet (verschulden müssen), weil sie unter anderem gerade durch Deutschland mit seinem jahrzehntelangen Lohndumping in hohe Leistungsbilanzdefizite getrieben worden sind und durch den gemeinsamen Euro, das Geld, das sie zum Zahlen brauchen nicht mehr autonom drucken konnten. Wer wirklich das Ziel hat, dass die Europäische Währungsunion zu einer politischen Union zusammenwächst, der muss die außenwirtschaftlichen Probleme innerhalb der EWU lösen. Wer das nicht will, sollte besser gleich so ehrlich sein, ein Ausscheiden der verschuldeten Länder aus der EWU zu empfehlen.
Eine von den Forschungsinstituten in einem Insolvenzverfahren notwendige „Umschuldung“ („Hair-Cut“) würde – einmal abgesehen von den unabsehbaren Folgen für das Finanzsystem – die außenwirtschaftlichen Probleme innerhalb der EWU bestenfalls vertagen.
(Siehe Flassbeck [PDF – 75 KB]) | Wolfgang Lieb | Angesichts der Vielzahl der Wirtschaftsprognosen ragt die „Gemeinschaftsdiagnose“ [PDF - 5.3 MB] der ohnehin wirtschaftspolitisch gleich gepolten Wirtschaftsinstitute nicht mehr aus dem heraus, was man schon oft gelesen hat. Man fragt sich warum das Bundeswirtschaftsministerium überhaupt 4 Forschungsinstitute (das Ifo Institut des Professors Sinn, das Instituts für Weltwirtschaft des Professor ... | [
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] | 08. April 2011 17:05 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=9032 |
Haben Lehrer/innen es nötig, gegen Geld Lobbyarbeit für die Deutsche Versicherungswirtschaft zu betreiben – und dazu ihre Schulen und Schüler zu missbrauchen? | Gestern wurde in Stuttgart der Lehrerpreis des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) verliehen. Er ist mit insgesamt 23.000 € dotiert und wurde an Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe I und II aus Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Bayern während der Bildungsmesse didacta überreicht. Wofür? Der GDV hat zusammen mit Partnern vielfältige Materialien für komplette Unterrichtseinheiten zur privaten Altersvorsorge vorbereitet. Die gibt es hier: www.safety1st.de . Interessierte sollten sich diese verschiedenen Unterrichtsmaterialien anschauen. Sie enthalten die gängigen Propagandaelemente: Dass die gesetzliche Rente nur noch das Existenzminimum sichere, dass ihr größtes Problem der demographische Wandel sei, dass sich die Alterslast zum Beispiel vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2050 fast verdoppele (wie „dramatisch“ die Alterung vor dem Jahr 2000 war, wird wie üblich unterschlagen). Und dann wird für Privatvorsorge geworben, um „spätere Versorgungslücken“ auszugleichen. Dass sich mit der Privatvorsorge nichts an den demographischen Relationen ändert, wird natürlich nicht gesagt. LehrerInnen, die diese Grundlinien der privaten Versicherungswirtschaft besonders engagiert im Unterricht umsetzen, werden mit Geldpreisen belohnt. Albrecht Müller.
Darauf ist der GDV dann auch mächtig stolz. Und der Bundeswirtschaftsminister übernimmt die Schirmherrschaft. Hier der Link zur Pressemitteilung des GDV zur gestrigen Preisverleihung. Siehe auch Anhang. Dass es in Deutschland schon Lehrer gibt, für die die Teilnahme an einer solchen Lobbyveranstaltung kein Problem darstellt, kann ich mir irgendwie denken, obwohl ich das bereits für eine grobe Missachtung unserer demokratischen Ordnung halte. Dass es Schulleitungen und ganze Kollegien gibt, die es ohne Murren hinnehmen, dass die Schüler und damit auch die Schulen für die Absatzförderung von Finanzprodukten benutzt werden, verstehe ich nicht. Wenn Ihnen in den genannten Bundesländern Lehrerteams begegnen, die am Wettbewerb der Versicherungswirtschaft teilgenommen haben, dann sollten Sie – als Kolleginnen/en, als Eltern oder als Kommunalpolitiker – die mit dem GDV zusammenarbeitenden Lehrerinnen und Lehrer zur Diskussion auffordern. Es sollte in der Öffentlichkeit klar werden, was hier gespielt wird und wozu unsre Kinder missbraucht werden. Seltsamerweise werden die Preisträger weder in der Pressemitteilung des GDV noch sonstwo auf der Webseite des Preisverleihers genannt. Das ist eigentlich unüblich. Normalerweise werden Preisträger öffentlich genannt, weil dies bei normalen Preisen eine Ehre ist. Offenbar spüren sowohl die Preisträger als auch der Gesamtverband, dass dieser Preis eher ehrenrührig ist. Wie auch immer, ich habe beim GDV um Namensnennung gebeten. Ich wollte die Damen und Herren fragen, ob zum Beispiel in ihrer Unterrichtseinheit demnächst auch der Zusammenhang zwischen dem gerade veröffentlichten einzigartigen Rekordgewinn der Allianz AG (8 Mrd. Euro nach Steuern) und dem Treiben der Preisträger an ihren Schulen vorkommt. Mich würde auch interessieren, ob in ihren Unterrichtseinheiten die politische Korruption vorkommt, die mit der Umstellung auf die Privatvorsorge verbunden ist (Informationen dazu z.B. siehe hier oder hier. Mich würde einfach und ganz ehrlich interessieren, wie eine prämierte Umsetzung der Vorgaben des GDV aussieht. Noch einmal die Bitte an Sie in Ihrer Eigenschaft als Eltern, Großeltern, Kommunalpolitiker oder einfach als Bürger/innen einer Kommune, die Schulträger ist: Prüfen Sie, ob in Ihrem Bereich diese Lobbyarbeit stattgefunden hat. Sensibilisieren Sie bitte die einschlägigen Personen und Gruppen.
Oft ist nur Ahnungslosigkeit und mangelnde Sensibilität ausschlaggebend für die Beteiligung an einer solchen Lobby-Veranstaltung. Dann hilft Sensibilisierung. Anhang: 21.02.2008 | Pressemeldungen
Gewinner des GDV-Lehrerpreises „Vordenker gesucht“ ausgezeichnet Altersvorsorge als Unterrichtsthema? Die Siegerbeiträge des ersten Lehrerpreises des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft und der Stiftung Jugend und Bildung zeigen: es geht! Kreativ, jugendgerecht, schulalltagstauglich und fachlich fundiert haben sich die bundesweit insgesamt 20 Teilnehmerteams mit diesem Thema auseinandergesetzt. Die eingereichten Konzepte sehen Unterricht in Deutsch, Politik, Wirtschafts- und Arbeitskunde, Religion/Ethik, Geschichte, Biologie, Mathematik, Englisch, Französisch und sogar Sport vor. „Die Fähigkeit zur finanziellen Lebensplanung ist ein Bildungswert mit hoher Rendite für die Selbstverwirklichung der Einzelnen und die freiheitliche Gesellschaft insgesamt” appelliert der Präsident des GDV, Dr. Bernhard Schareck. Das Bundeswirtschaftsministerium begrüßt ausdrücklich die Initiative der Versicherungswirtschaft: “Vordenker gesucht” leistet einen wichtigen Beitrag zur Vorsorgebildung. Der Bundeswirtschaftsminister Michael Glos hat deshalb die Schirmherrschaft für den Wettbewerb übernommen.
Die mit insgesamt 23.000 Euro dotierten Preise wurden heute an Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe I und II aus Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Bayern während der Bildungsmesse didacta in Stuttgart überreicht.
Ansprechpartner:
Heidemarie Orlob
Tel.: 030 / 20 20 – 55 70
[email protected] | Albrecht Müller | Gestern wurde in Stuttgart der Lehrerpreis des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) verliehen. Er ist mit insgesamt 23.000 € dotiert und wurde an Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe I und II aus Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Bayern während der Bildungsmesse didacta überreicht. Wofür? Der GDV hat zusammen mit Partnern vielfältige Materialien für komplette Unterric ... | [
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] | 22. Februar 2008 9:27 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=3002&share=email |
Ob die Deutschen mal begreifen, dass sie die Gewalttaten auch ihrer Bundeskanzlerin und den Kriegen ihrer Freunde in den USA etc. zu verdanken haben? | Es ist bei uns tabu, darüber zu sprechen, ja sogar darüber nachzudenken, woher Selbstmordattentate und andere Gewalttaten kommen. Da ist die Rede von religiösem und von terroristischem Hintergrund. Aber über den Hintergrund des Terrors spricht man nicht; darüber denkt man nicht einmal nach. Wenn man ein bisschen nachdenkt, dann kommt man schnell zum Schluss: Deutschland muss seine Beteiligung an den Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Syrien und wo auch immer beenden, und den USA untersagen, ihren angeblichen Kampf gegen den Terror über Militärbasen in Deutschland zu führen. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Bisher wird die Debatte über die einfachen und offensichtlichen Zusammenhänge in Deutschland verweigert, vor allem von der Politik und von den Medien. Und dass die Menschen dann verängstigt sind und nicht nachspüren und nicht nachforschen, wem sie die aktuelle und immer mehr steigende Bedrohung verdanken, das kann man ihnen kaum vorwerfen. Sie fürchten die Etiketten, Spekulant und Verschwörungstheoretiker genannt zu werden. Wer will solche Etiketten schon an sich kleben haben? Noch dazu dann, wenn er oder sie nur die wirklichen Zusammenhänge beschrieben hat. Die NachDenkSeiten fürchten diese Etiketten nicht, weil sie genügend Leserinnen und Leser haben, die selbstständig nachdenken und deshalb Verständnis dafür haben, dass wir uns Gedanken über die Zusammenhänge zwischen den gewaltsamen und tödlichen Anschlägen hier bei uns und der Kriegführung und Destabilisierungspolitik des Westens machen. Selbstmordattentäter fallen nicht vom Himmel, sie sind auch nicht alle religiös getrieben und gesteuert. Vermutlich die wenigsten. Und: Selbstmord zu begehen, macht auch keinen Spaß. Das sind lauter einfache Erkenntnisse. Und dennoch sind diese Zusammenhänge besser zu verstehen, wenn man sich die Terroristenerzeugung konkret vorstellt: Der Westen hat mit seinen Kriegen unter Federführung der USA und kräftiger Beteiligung von Frankreich, Großbritannien und anderer NATO Partner den Anstoß für Hunderttausende von Menschen gegeben, sich irgendwann für die angetane Gewalt zu rächen. Unter Hunderttausenden finden sich dann einige, die das Letzte hergeben, ihr Leben, um dieser Rache Ausdruck zu verleihen. Dazu bedarf es keiner religiösen Motive. Dazu bedarf es nicht einmal unbedingt der seelischen Erkrankung. Als Katalysator zu einer solchen Bereitschaft zum Letzten wirkt die Arroganz des Westens. Das Gequatsche über Freiheit und Menschenrechte von Leuten, die die einfachsten Menschenrechte, das Recht auf Leben und Unverletzlichkeit, täglich verletzen. Als Katalysator wirkt die Ignoranz. Das Von-sich-weg-schieben dieser einfachen Zusammenhänge. Die Medien schauen wie die Politikerinnen und Politiker weg. Sie interessieren sich nicht für diese Zusammenhänge. Sie erfinden einfache Formeln: Hat der Täter einen islamistischen Hintergrund? Hat er einen religiösen Hintergrund? Hat er einen Migrationshintergrund? Ist er ideologisch vorbelastet? So verschleiern sie die wahren Ursachen der wachsenden Gewalt und vor allem unsere Selbstbeteiligung. Sie decken auch die Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel. Warum fragen sie nicht: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den offenen Armen von Frau Merkel und der Einladung zur Flucht nach Deutschland mit dem, was jetzt und künftig passiert? Ganz konkret: Kann man junge Syrer einladen, nach Deutschland zu fliehen, wenn man gleichzeitig nicht dafür sorgt, dass sie in der Praxis Asyl bekommen? Auch in Bayern. – Kann man so großzügig einladen, ohne gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sich auch junge Menschen, denen die Heimat und die familiären Bezüge genommen worden sind, hier wirklich physisch und psychisch zurechtfinden? Man kann diese Fragen ja alle mit Nein beantworten, wenn die Sache das nahelegt. Aber man muss sie wenigstens stellen. Und genau das geschieht in Deutschland nicht. Deshalb steht die Bundeskanzlerin immer noch im Glanze da, obwohl sie uns und unser Land persönlich in den Morast geführt hat. Was zu tun ist, steht am Anfang dieses Textes: Deutschland muss seine Beteiligung an den einschlägigen Kriegen beenden. Der erste Schritt: die Erklärung dieser Absicht und zugleich die Aufforderung an die NATO-Partner einschließlich der USA, ihren sichtbar eskalierenden und erfolglosen Kampf gegen den Terror einzustellen, weil sie mit diesem kriegerischen Kampf die Massenbasis des IS beschaffen und verstärken. Die weiteren Schritte sind sehr mühsam: die Aussöhnung mit den betroffenen Völkern. Wie man mit dem selbst gezüchteten und von „Freunden“ wie Saudi-Arabien geförderten Terror des IS umgeht, ist eine zweite Frage. Aber diese Frage sollte und kann man von der anderen trennen. Wir sollten jedenfalls aufhören, immer weiter die Massenbasis für den Terror des IS zu schaffen. | Albrecht Müller |
Es ist bei uns tabu, darüber zu sprechen, ja sogar darüber nachzudenken, woher Selbstmordattentate und andere Gewalttaten kommen. Da ist die Rede von religiösem und von terroristischem Hintergrund. Aber über den Hintergrund des Terrors spricht man nicht; darüber denkt man nicht einmal nach. Wenn man ein bisschen nachdenkt, dann kommt man schnell zum Schluss: Deutschland muss seine Beteiligun ... | [
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] | 25. Juli 2016 16:58 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=34364 |
Lafontaine, Oskar | Kommentar in der FAZ von Stefan Dietrich. Das ist eine interessante Analyse der Strategien über mögliche Mehrheiten im Bundestag – unter anderem mit folgenden Aspekten. | [] | [] | 17. Mai 2007 15:52 | https://www.nachdenkseiten.de/?tag=lafontaine-oskar&paged=8 |
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Jens Berger in Dannenberg zum Thema „Armut und kein Ausweg“ | An diesem Donnerstag habe ich das Vergnügen, einer Einladung des Ev.-luth. Kirchenkreises Lüchow-Dannenberg zu folgen. Der Kirchenkreis veranstaltet dort zusammen mit seinen Kooperationspartnern die sehr interessante Veranstaltungsreihe „Armut und (k)ein Ausweg“, zu der ich einen Vortrag zum Thema „Wem gehört Deutschland?“ beitragen werde. Selbstverständlich wird es auch bei dieser Veranstaltung wieder viel Zeit zur Diskussion geben. Ich würde mich freuen, Leser der NachDenkSeiten in Dannenberg begrüßen zu dürfen.
WANN:28. April 2016 um 19:00
WO: Diakoniebahnhof
Am Ostbahnhof 1
29451 Dannenberg (Elbe)
PREIS: kostenlos
KONTAKT: Ev. Akademie im Wendland
05841 961477 Weitere Informationen entnehmen Sie bitte den Internetseiten des Veranstalters und dem Flyer zur Veranstaltung. | Jens Berger | An diesem Donnerstag habe ich das Vergnügen, einer Einladung des Ev.-luth. Kirchenkreises Lüchow-Dannenberg zu folgen. Der Kirchenkreis veranstaltet dort zusammen mit seinen Kooperationspartnern die sehr interessante Veranstaltungsreihe „Armut und (k)ein Ausweg“, zu der ich einen Vortrag zum Thema „Wem gehört Deutschland?“ beitragen werde. Selbstverständlich wird es auch bei dieser Veranstaltu ... | [
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] | 25. April 2016 10:02 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=33113&share=email&nb=1 |
„Unicheck“: Die Täuschung geht weiter | Als neueste Nachricht berichtet „Unicheck“ über eine aktuelle Emnid-Umfrage: „Mehr als drei Viertel von Ihnen wollen künftig mehr Leistung und Angebot von Ihren Unis fordern. Neun von zehn wollen zudem mit darüber bestimmen, wie ihr Geld verwendet wird.“ Kein Hinweis darauf, dass die Umfrage im Auftrag der INSM durchgeführt wurde und dass „Unicheck“ ein Ziehkind dieser neoliberalen Lobbyorganisation ist.
Die Umfrage muss allerdings für ihre Initiatoren eine Riesenenttäuschung sein, denn über zwei Drittel der befragten Studierenden (67%) lehnen Studiengebühren auch noch nach ihrer Einführung ab und 83% bezweifeln, dass die von ihnen in fünf Bundesländern bezahlten Studiengebühren „tatsächlich für eine bessere Ausbildung verwendet werden.“ „Die Gebühren müssen das Vertrauen der Studierenden noch verdienen“ meint „Unicheck“ und tröstet sich damit, dass 62% der Befragten meinen, dass Studiengebühren die Ausbildung an den Hochschulen verbessern „könnten“.
Die exakte Fragestellung würde einen interessieren, vielleicht meinten die Befragten eher, dass Studiengebühren die Studienbedingungen verbessern ´müssten` und nicht im allgemeinen Hochschulhaushalt versickern dürften. Wolfgang Lieb. | Wolfgang Lieb | Als neueste Nachricht berichtet „Unicheck“ über eine aktuelle Emnid-Umfrage: „Mehr als drei Viertel von Ihnen wollen künftig mehr Leistung und Angebot von Ihren Unis fordern. Neun von zehn wollen zudem mit darüber bestimmen, wie ihr Geld verwendet wird.“ Kein Hinweis darauf, dass die Umfrage im Auftrag der INSM durchgeführt wurde und dass „Unicheck“ ein Ziehkind dieser neoliberalen Lobbyorgan ... | [
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] | 12. April 2007 8:12 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=2248&share=email |
Das Attentat in Caracas – Zwischen Gänsefüßchen und Bekenner-Schreiben | Caracas. Samstag, 4. August 2018, 5:41 Uhr des späten Nachmittags. Auf der über die Landesgrenzen hinaus bekannten Avenida Bolívar ehrt die venezolanische Regierung mit einer festlichen Gala-Parade den 81. Jahrestag der Gründung der Bolivarischen Nationalgarde. Auf einer Tribüne hält Präsident Nicolás Maduro eine kämpferische Festrede mit einem Aufruf, nun sei die Zeit für die wirtschaftliche Erholung Venezuelas gekommen. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
In der Video-Live-Übertragung ist plötzlich ein Knall zu hören. Maduro und die ihn Umgebenden, darunter seine Ehefrau Cilia Flores, zucken zusammen, schauen besorgt nach oben. Für Momente wird die Rede unterbrochen. Im Schnittbild einer zweiten Kamera ist zu sehen, wie die auf der Allee strammstehenden Soldaten die Reihen der Gedenkfeier brechen und in sämtliche Himmelsrichtungen davonlaufen, um in Deckung zu gehen. Die Übertragung wird nun endgültig unterbrochen. Über soziale Netzwerke wird Minuten später ein Videoausschnitt verbreitet, der die blitzschnelle Sicherung Maduros mit Schildern und selbst einem Regenschirm durch seine Leibwächter zeigt. Im Hintergrund sind der geschriene Befehl „In Deckung, in Deckung – abschotten, Castillo!“ und die aufheulenden Sirenen losbrausender Regierungsfahrzeuge zu hören. Drohnen mit Sprengstoff und offizielle Reaktionen In einer schon kurze Zeit später landesweit ausgestrahlten Fernsehübertragung erklärte Informationsminister Jorge Rodríguez, erste Untersuchungen hätten „eindeutig belegt, dass es sich um ein Attentat mit drohnenähnlichen Fluggeräten auf die Person des verfassungsmäßigen Präsidenten der Bolivarischen Republik Venezuela, Nicolás Maduro Moro”, gehandelt habe. Laut Rodríguez hätten „mehrere Fluggeräte in der Nähe der Präsidenten-Tribüne und Teilbereichen der Parade Sprengladungen detonieren lassen”. Innenminister Néstor Reverol machte am 5. August nähere Angaben zum Geschehen. So seien zwei Drohnen, beladen mit je 1,0 Kg des C4-Plastiksprengstoffs, explodiert, bevor sie ihr Ziel erreichten. Der Anschlag habe niemanden getötet, jedoch sieben Gendarmen der Bolivarischen Nationalgarde verletzt. In einem halbstündigen Fernsehauftritt am späteren Samstagabend schilderte der Staatspräsident die Vorgänge aus erster Hand. „Ein Fluggerät explodierte vor mir – eine beeindruckende Explosion, Kameraden! … Zunächst dachte ich, da seien Feuerwerke außer Kontrolle geraten oder so ein Ding sei zum Abschluss des Festakts abgefeuert worden … Doch dann bemerkte ich, dass alle Soldaten noch strammstanden, als plötzlich – innerhalb weniger Sekunden, vielleicht Bruchteilen von Sekunden – eine zweite Explosion hinter der Tribüne zu hören war, wo die Vertrauten und ihre Familienangehörigen auf meiner rechten Seite standen; was Sie auf den Bildern sehen können, in denen Menschen vor der Druckwelle davonlaufen…”. Überraschend – man könnte auch sagen, etwas überstürzt – wirkte allerdings Innenminister Reverols Mitteilung auf einer Pressekonferenz, sechs der am Attentat Beteiligten seien bereits verhaftet, „des Terrorismus und des missglückten Magnizids” angeklagt worden. Gegen einen der Inhaftierten lägen seit August 2017 Haftbefehle für die Teilnahme am Angriff auf die Militärkaserne Paramacay vor. Bei einem zweiten Beschuldigten handele es sich um einen Gewalttäter aus dem Umfeld der als Guarimbas bekannten Straßensperren, der 2014 zwar festgenommen, doch mit einem Verfahrensvorteil wieder auf freien Fuß gesetzt worden war. Über die übrigen Beschuldigten machte Reverol keine Angaben, erklärte jedoch, weitere Verhaftungen seien nicht ausgeschlossen. Präsident Maduro und Außenminister Jorge Arreaza beeilten sich mit der Unterstellung, die Ermittlungen deuteten auf das benachbarte Kolumbien und das US-amerikanische Florida als Brennpunkte der Verschwörung (Venezuela. Arreaza: Las investigaciones arrojan como puntos focales de la conspiración a Florida y Bogotá – Resumen Latinoamericano, 05. August 2018). Maduro begründete seinen Vorwurf gegen Kolumbien mit Verweis auf Worte des noch amtierenden Präsidenten Juan Manuel Santos, wonach die venezolanische Regierung auf dem Sterbebett läge. „Santos brauchte solch ein Erfolgserlebnis, bevor er am 7. August abdankt“, provozierte der venezolanische Präsident während seiner Fernsehansprache. Es steht zwar außer Zweifel, dass Kolumbiens rechtsradikaler Ex-Präsident Álvaro Uribe in der Vergangenheit in die Anheuerung von Killern für Anschläge in Venezuela involviert war, doch die Vorlage, wenn nicht von Beweisen, so doch von einwandfreien Indizien, hätte wohl der Anschuldigung gegen Santos die erwünschte Glaubwürdigkeit verliehen. Journalisten-Festnahmen Während der Wirren über den Anschlag berichtete vom Samstag auf Sonntag die venezolanische Bundesgewerkschaft der Medien-Angestellten (SNTP), sieben Journalisten seien für mehrere Stunden während und nach dem Attentat vom Militär in Caracas festgenommen worden. Zunächst twitterte SNTP, Journalisten und Angestellte von VIVOPlay und TV Venezuela – darunter Neidy Freytes, Cesar Diaz und Alfredo Valera – würden an unbekanntem Aufenthaltsort festgehalten. Dem folgte die Mitteilung, César Saavedra, Kameramann des privaten TV-Senders Telemundo, der die Explosionen aufgezeichnet hatte, sowie Kameramann Yornel Morales vom Sender Caracol und die Reporter Alejandro Carreño und Fernando Llano von Globovisión und Associated Press seien auch „verschwunden”. Nach SNTP-Angaben hätten „Beamte der Bolivarischen Nationalgarde (GNB), nachdem die erste Explosion in der Nähe der Avenida Bolivar zu hören war, Kamera und Übertragungstechnik der Teams von VIVOPlay und TV Venezuela beschlagnahmt”. Wenige Stunden später bestätigte SNTP „die Freilassung aller inhaftierten Medienmitarbeiter … Die sieben, die von der Generaldirektion für militärische Spionageabwehr festgenommen wurden, sind bereits in Sicherheit” (La prensa venezolana denuncia que siete periodistas fueron detenidos durante el atentado contra Maduro – ABC Internacional, 05. August 2018). Jedoch mit einem letzten Tweet vom 5. August um 12:02 Uhr mittags, mit dem Hashtag #ALERTA, warnte die Gewerkschaft, in Wirklichkeit seien insgesamt „11 Journalisten und Medienschaffende willkürlich festgenommen worden, von denen einige geschlagen, andere beraubt” wurden. „Wir lehnen diese Umtriebe ab und fordern die Bestrafung der Verantwortlichen für die Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Opfer und des gemeinschaftlichen Anrechts auf Information”, hieß es in der Erklärung. Gänsefüßchen trotz Bekenner-Manifest: Relativierungen und Verschwörungstheorien Kurz nach den Explosionen stellten die überwiegend regierungskritischen einheimischen und internationalen „Leitmedien” die offizielle Version infrage. Von der US-amerikanischen CNN über die Londoner BBC (Venezuela: lo que se sabe del “atentado” en contra del presidente Nicolás Maduro y del grupo que se lo atribuyó – 05. August 2018) und dem Guardian (Venezuela’s Nicolás Maduro survives apparent assassination attempt – 05. August 2018) bis zur Berliner Morgenpost des Springer-Konzerns (War Vorfall in Venezuela Attentat oder Inszenierung? – 05. August 2018) wurde das Attentat entweder mit Anführungszeichen oder mit Adjektiven wie „mutmaßlich” und „angeblich” relativiert. Zunächst wurden vermutliche Augenzeugen, darunter Feuerwehrleute, zitiert, die behaupteten, es habe sich nicht um mit Sprengstoff bestückte Drohnen gehandelt, sondern um die Explosion eines Gasbehälters in einem Gebäude an der Avenida Bolívar. Obwohl diese Version sehr bald mit der Dokumentation vom Einschlag einer Drohne in ein Mietshochhaus (siehe Foto) entkräftet wurde, führten Vertreter der Theorie eines selbstinszenierten Anschlags ins Feld, damit habe die Maduro-Regierung von der Warnung des IWF ablenken wollen, der Ende Juli erklärt hatte, die Inflation in dem südamerikanischen Ölstaat werde eine Million Prozent zum Jahresende 2018 erreichen. Dies sei nicht das erste Mal, dass Präsident Maduro einen Anschlag gegen sich anprangere und auch diesmal keine Beweise zur Unterstützung seiner Anschuldigungen
vorgelegt habe, monierte BBC. Skeptizismus sei zum Teil deshalb berechtigt, weil die offizielle Übertragung der Veranstaltung keine Drohne gezeigt habe, noch sei nach lokalen Medienberichten solch ein Flugkörper von Beteiligten an der Gedenkfeier gesehen worden. Dabei fragt sich doch auch der erfahrene Leser, unter welchen Umständen und wieviel Zeit gewissenhafte Redakteure für Internationales mangels eigener Vor-Ort-Korrespondenten sich – wenn überhaupt – für ihre Recherchen nehmen. Auch diese Schlussfolgerungen waren überstürzt. Sie wurden ein zweites Mal mit der Verbreitung eines Drohnen-Videos des u.a. für die Zeitschrift Vice und Amnesty International tätigen Fotojournalisten und Kameramanns Daniel Blanco entkräftet. Klaus Ehringfeld von der Berliner Morgenpost leistete sich ein Oxymoron mit Lachnummer. „Nicolás Maduro ist wohl einem Angriff auf sein Leben entgangen. Doch gab es wirklich ein Attentat auf den venezolanischen Präsidenten?”, schrieb er in seinem Einleitungssatz. Noch gäbe es „mehr Fragen als Gewissheiten im Zusammenhang mir [sic!] den beiden Detonationen, durch die auch sieben Mitglieder der GNB verletzt wurden und die Panik bei Tausenden Soldaten und Nationalgardisten”, führte Ehringfeld zur Bekräftigung der Skepsis an der Version der Regierung an, relativierte jedoch zum Schluss seine eigene Vorbehalte mit dem Hinweis, „der Theorie der Selbstinszenierung widerspricht aber ein Bekennerschreiben einer abtrünnigen, bisher unbekannten Gruppe Militärs auf [sic!], die sich ´Soldados de franela´ (Stoff-Soldaten) nennen, weil sie sich das Gesicht angeblich mit einem Stück Stoff vermummen …”. Die “Flanell-Soldaten” Mit dem Tweet vom 4. August 2018 20:18 Uhr bekannte sich eine auf Twitter unter dem Namen “Flanell-Soldaten” auftretende Gruppe zu dem Attentat und erklärte: „Mit dem Unternehmen sollten 2 mit C4 beladene Drohnen fliegen. Ziel war die Präsidenten-Tribüne. Scharfschützen der Ehrengarde schossen die Drohnen ab, bevor sie das Ziel erreichten. Wir haben dennoch gezeigt, dass sie verwundbar sind. Es (das Ziel) wurde heute nicht erreicht, es ist aber nur eine Frage der Zeit”. Die „Flanell-Soldaten“ behaupten, ihre Reihen setzen sich aus „patriotischen und loyal zu den Menschen in Venezuela stehenden, militärischen und zivilen Mitgliedern” zusammen, die von „Rechts- und Verfassungsloyalität“ bewegt seien (El grupo que se atribuye el presunto atentado contra Maduro en Venezuela – La Tercera, 05. August 2018). Obwohl Propagandazwecken dienlich, ist der Hinweis der Gruppe, sie sei unter „Offizieren, Unteroffizieren, Klassen und Soldaten, die bereit sind, ihr Leben aufzuopfern” verankert, durchaus glaubhaft. Querverbindungen zu bzw. Rekrutierungen im Umfeld der Hubschrauber-Attentäter vom Juli 2017 sind jedenfalls naheliegend. Sie erklären die verständliche, jedoch restriktive Informationspolitik der Regierung Maduro über die Hintermänner des Anschlags und das eventuelle Ausmaß abtrünniger Militärs im Bündnis mit rechtsradikalen Barrikaden-Helden. Die „Flanell-Soldaten“ sprechen bekanntermaßen und fatalerweise „im Namen” der
Bolivarischen Nationalen Streitkräfte (FANB), auf deren Treue Präsident Maduro schwört, auf deren zunehmender Untreue umgekehrt die in covert operations des Irak-Krieges erprobte Agentur Stratfor wettet, worauf ich vor einem knappen Jahr auf den NachDenkSeiten hingewiesen habe. Die Attentäter prangern an, dass „viele staatliche Einrichtungen Buchstabe und Geist der Verfassung ignoriert haben”, weshalb „die FANB beschlossen” hätten, „einen Kampf zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit, Souveränität der Nation, der territorialen Integrität und der öffentlichen Ordnung“ zu führen. Bei erstem Hinhören ein durchaus anerkennenswertes Gelöbnis auf den demokratischen Rechtsstaat – bei genauerem Hinschauen eine denkbare Falle der rechtsradikalen Opposition im Verbund mit US-amerikanischen Regime-Changern. Im Redeschwall der Schwüre und Wetten darf angenommen werden, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Sicherheitsapparat der Maduro-Regierung seit geraumer Zeit prüft, welche Durchschlagskraft solche patriotisch und verfassungstreu tönenden Bekenntnisse in der Truppe besitzen. | Frederico Füllgraf |
Caracas. Samstag, 4. August 2018, 5:41 Uhr des späten Nachmittags. Auf der über die Landesgrenzen hinaus bekannten Avenida Bolívar ehrt die venezolanische Regierung mit einer festlichen Gala-Parade den 81. Jahrestag der Gründung der Bolivarischen Nationalgarde. Auf einer Tribüne hält Präsident Nicolás Maduro eine kämpferische Festrede mit einem Aufruf, nun sei die Zeit für die wirtschaftlich ... | [
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] | 06. August 2018 12:41 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=45344&share=email&nb=1 |
Angie im Wunderland | Wenn die Sonne der politischen Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten. Der Schatten, den Angela Merkel wirft, wird von Tag zu Tag länger – wobei nicht immer klar ist, ob die Kanzlerin in der Krise wächst, oder ob die Sonne der politischen Kultur immer weiter sinkt. Angela Merkel wirkt in ihrer zweiten Regierungszeit sakrosankt. Die Presse verweigert jegliche kritische Auseinandersetzung mit ihr, die Demoskopen vermelden im Wochentakt neue Rekord-Umfragewerte und noch nicht einmal die größte Oppositionspartei hat die Traute, sich im kommenden Wahlkampf mit der Kanzlerin anzulegen. Inhaltlich lässt sich der grassierende Merkel-Hype nicht nachvollziehen, ist ihre Regierungsbilanz doch mehr als durchwachsen. Dies alles erinnert eher an ein fiktives Wunderland, das vor Paradoxen und Absurditäten nur so strotzt. Von Jens Berger
Man kann einen Menschen, der sich standhaft weigert, seine Positionen mit der Realität in Einklang zu bringen als „starrsinnig“ bezeichnen – man könnte jedoch auch das freundlichere Wort „prinzipientreu“ verwenden. Wer sich weigert, Entscheidungen zu treffen, wird gemeinhin als „entscheidungsschwach“ bezeichnet – meint man es gut mit ihm, benutzt man lieber den Begriff „eisern“. Doch wann haben Sie zuletzt einen Zeitungsartikel gelesen, der Angela Merkel als starrsinnig und entscheidungsschwach beschrieb? Glaubt man den Medien, ist die Kanzlerin nicht verbohrt, unbelehrbar, uneinsichtig, borniert, halsstarrig oder obstinat, sondern rigide, apodiktisch, bestimmt, disziplinarisch, resolut, rigoros, unbeugsam, unerbittlich, und unnachgiebig. Sie merken es bereits, all diese Begriffe beschreiben mehr oder weniger dasselbe, unterscheiden sich jedoch in der Konnotation und die Medien sind emsig bemüht, der Kanzlerin nur positive Konnotationen zuzuschreiben. Seit 1945 gab es wohl keinen deutschen Politiker, der von der hiesigen Presse derart unkritisch begleitet wurde. Es scheint beinahe so, als sei Angela Merkel für die schreibende Zunft kein Wesen von dieser Welt, an das man irdische Maßstäbe anlegen könnte. So ist es auch kein großes Wunder, das zwischen Schein und Sein eine riesige Lücke klafft. Die Legende besagt, dass Angela Merkel die Krisenkanzlerin sei, die Deutschland mit ruhiger Hand durch den Orkan der Finanz- und Eurokrise steuert und nun ganz Europa in den deutschen Tugenden schult. Es ist erstaunlich, wie es zu dieser Legende kommen konnte und noch erstaunlicher ist es, dass nicht nur die Parteigänger Merkels, sondern auch die vermeintlich unabhängige Presse diese Legende glaubt und munter weiterstrickt. Bei wirklich unabhängiger Betrachtung stellt sich Merkels Rolle in der Eurokrise nämlich ein wenig anders dar und kommende Historiker werden sich wahrscheinlich verwundert die Augen über die Verfehlungen des zeitgenössischen Journalismus reiben. Im Frühjahr 2010 war es niemand anderes als die deutsche Kanzlerin, die als erste offen die Option in den Ring warf, Griechenland pleite gehen zu lassen. Diese Sätze entfachten die Eurokrise, die bis zu diesem Zeitpunkt nur eine griechische Budgetkrise war. Über die Motive der Kanzlerin herrscht bis heute Unklarheit. Wollte sie die Krise forcieren, um ihre Macht auf ganz Europa auszuweiten? Oder wollte sie ganz profan ihrem Parteifreund Jürgen Rüttgers helfen, der sich damals mitten im Wahlkampf befand? Wie dem auch sei, den Preis für Merkels Geschwätzigkeit zahlen nun nicht nur die Griechen, sondern ganz Europa. War es das wert? Eine der großen Untugenden der Kanzlerin ist es, nicht aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, sondern unbeirrbar ihren Kurs fortzusetzen – koste es, was es wolle. Als Frau Merkel im Sommer 2011 bar jeder Vernunft darauf pochte, bei der „Euro-Rettung“ den Privatsektor auch gegen dessen Willen in Haftung zu nehmen, löste sie die nächste Eskalationsstufe aus, die mit voller Wucht nun auch Italien und Spanien traf. Glaubt man der Legende, behütet Angela Merkel den deutschen Staatsschatz vor den gierigen Blicken der Südeuropäer, wie einst der Zwerg Alberich den Nibelungenhort. Die Frage, ob es überhaupt der billionenschweren Rettungspakete und –schirme bedürft hätte, wenn die deutsche Kanzlerin schon zu Beginn der Krise Führungsstärke gezeigt hätte, stellt bezeichnenderweise jedoch niemand. Hätte Deutschland 2010 einen Kanzler gehabt, der auch nur rudimentäre Kenntnisse über die Mechanismen der Finanzmärkte besitzt, wäre es nie zu einer Eurokrise gekommen und der Steuerzahler wäre gar nicht erst in die Verlegenheit gekommen, ein Rettungspaket nach dem anderen zu schnüren. Anstatt echte Führungsstärke zu beweisen und der Eurokrise zum Wohl der Europäer abseits der eingeschlagenen ideologischen Trampelpfade zu begegnen, zeigt sich Merkel einmal mehr unbelehrbar und zwingt ganz Europa den neoliberalen Kurs auf, unter dem Deutschland schon lange zu leiden hat. Das ist weitaus mehr als eine bloße Frage der Ideologie, führt ihre Politik doch dazu, dass Millionen Menschen, die nichts für die Krise können, ihre Arbeit verlieren, Lohneinbußen hinnehmen und – was wohl am schwersten wiegt – ganzen Generationen ihre Chance an der sozioökonomischen Teilhabe nimmt. Nur ein Narr wird glauben, dass die Millionen junger Spanier, Italiener, Griechen und Iren, die heute vor dem Scherbenhaufen ihrer Existenz stehen, nicht ihren Glauben an die Demokratie verlieren. All dies scheint die deutsche Presse nicht zu stören. Vielleicht nimmt man die Auswirkungen der Merkelschen Politik auch schlicht und ergreifend überhaupt nicht wahr, reicht der schreiberische Horizont doch oft nur bis zum Querlesen des nächsten Sinn- oder Hüther-Interviews. Wenn es so sein sollte, dass jedes Volk die Medien hat, die es verdient, ist Deutschland wahrlich von allen Göttern verlassen. Es ist jedoch zu einfach, die offenbar durchaus vorhandene Anerkennung der Bevölkerung nur mit der merkelfreundlichen Berichterstattung erklären zu wollen. Die Legenden, die rund um die Kanzlerin gesponnen wurden, scheinen sich vielmehr auf tragische Art mit der seit Jahren offen gestreuten Abstiegsangst ganzer Bevölkerungsschichten zu ergänzen. Was Griechenland im Großen, sind die prekären Arbeitsverhältnisse und Hartz IV im Kleinen. Man hat sich – wenn man „noch“ nicht selbst betroffen ist – mit der herrschenden Ideologie arrangiert und redet sich ein, dass jegliche Solidarität mit den Schwächeren am Ende nur denjenigen schadet, die sich solidarisch zeigen. Es ist durchaus bekannt, das es heutzutage jeden erwischen kann und das soziale Netz bereits so löcherig ist, dass es im Fall von Arbeitslosigkeit keinen Schutz mehr bietet. Gleichzeitig wird uns immer wieder eingetrichtert, dass Deutschlands Wirtschaft auf einem soliden Pfad ist und es uns „immer noch“ vergleichsweise gut geht. Doch mit was wird hier eigentlich verglichen? Natürlich geht es uns im Vergleich zu den Griechen oder den Spaniern „immer noch“ gut. Uns ging es jedoch auch vor der Krise besser als den Südeuropäern. Zum Glück verfügt Deutschland nun einmal über ein sehr solides wirtschaftliches Rückgrat, das noch nicht einmal die neoliberale Politik der letzten Regierungen zerbrechen konnte. Man sollte sich daher auch lieber die Frage stellen, wie gut es uns gehen könnte, hätte die Politik nicht mit Vollgas den Weg in die neoliberale Sackgasse genommen. Doch diesen Vergleich stellt niemand an. Fast scheint es so, als wolle gar nicht daran denken, was alles besser sein könnte. Nicht nur Politik und Medien, auch die Bevölkerung hat nach Jahren der Indoktrination ihre visionäre Kraft verloren. Es geht nur noch darum, nicht selbst zu den Verlierern zu gehören und da wagt man es erst gar nicht, die Paradoxen und Absurditäten aus Angies Wunderland zu hinterfragen. Merkels Erfolg wäre wohl undenkbar, wenn unsere Gesellschaft nicht derart visionsträge wäre. Analog tragen all diejenigen die Verantwortung für die hoffnungslose Situation, die aus Denkfaulheit, politischem Kalkül oder blankem Opportunismus mit an der Legende der eisernen Kanzlerin stricken. Es darf nicht sein, dass ein Gewerkschaftsboss die Kanzlerin (wofür eigentlich?) über den grünen Klee lobt und im gleichen Atemzug der Linken jeglichen Gestaltungswillen abspricht. Man kann nicht gleichzeitig die Kanzlerin loben und ihre neoliberale Agenda kritisieren – sollte der DGB diesen Widerspruch nicht sehen, macht er sich lächerlich. Auch die große Oppositionspartei SPD macht sich nur noch lächerlich, wenn sie es aus politischem Kalkül ablehnt, gegen die Kanzlerin in den Wahlkampf zu ziehen. Nun ist freilich nicht so, dass die momentane SPD-Führung auch nur im Verdacht stünde, so etwas wie eine Vision zu haben – in früheren Tagen versuchte man im Willy-Brandt-Haus jedoch noch zumindest den Eindruck zu erwecken, als sei dies anders. Nicht nur die Medien, auch die Gewerkschaften und die SPD erwecken in puncto Merkel den Eindruck, als hätten sie geschlossen ihre Arbeit niedergelegt. Dies ist eine weitere Paradoxie und Absurdität aus Angies Wunderland. Wen mag es da verwundern, dass auch die Bevölkerung kapituliert und in die fiktive Parallelwelt flieht, in der die Sparpolitik die Konjunktur ankurbelt, die Deregulierung des Arbeitsmarktes Wohlstand für alle schafft und Angela Merkel Europa mit eiserner Hand aus der Krise dirigiert? | Jens Berger | Wenn die Sonne der politischen Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten. Der Schatten, den Angela Merkel wirft, wird von Tag zu Tag länger – wobei nicht immer klar ist, ob die Kanzlerin in der Krise wächst, oder ob die Sonne der politischen Kultur immer weiter sinkt. Angela Merkel wirkt in ihrer zweiten Regierungszeit sakrosankt. Die Presse verweigert jegliche kritische Ausein ... | [
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] | 08. Februar 2012 10:32 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=12162&share=email |
Zahlungen an Journalisten in der Ära Merkel – Ampel-Regierung mauert auch hier | Zwischen März und Juni 2023 war bekannt geworden, dass die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren rund 2,3 Millionen Euro an circa 200 Journalisten, mehrheitlich bei ARD und ZDF beschäftigt, für diverse Aufträge gezahlt hatte. Den NachDenkSeiten liegen jetzt die Antworten der Bundesregierung auf eine weitere Anfrage vor, in welcher die Offenlegung der Zahlungen an ausgewählte Journalisten in der Zeit von 2013 bis 2017 eingefordert wurde. Die Antworten gleichen einem Déjà-vu. Zahlungen des BND an Journalisten werden eingeräumt, aber als „Verschlusssache“ (VS), ein Großteil der Zahlungen anderer Ministerien sogar einen Geheimhaltungsgrad höher als „VS – Vertraulich“ eingestuft. Das Auswärtige Amt liefert gar keine Zahlen und Namen. Besonders fragwürdig sind die Zahlungen des Bundespresseamtes. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download So lautet die erste von insgesamt neun Fragen in der auf den 5. April 2023 datierten und erst nach mehreren Monaten beantworteten Kleinen Anfrage der AfD-Fraktion unter dem Titel „Zahlungen von Bundesministerien an Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und privatrechtlicher Medien 2013 bis 2017“. Als Begründung für die lange Verzögerung bei der Antwort verwies die Bundesregierung auf die zur Beantwortung der Fragen erforderliche „umfangreiche Ressortabfrage“. Inhaltlich ist die zweite Frage identisch, zielt aber auf Journalisten von privatrechtlich organisierten Medien ab. Die Antwort der Bundesregierung auf die beiden Fragen lautet im besten Behördendeutsch: Runtergebrochen auf eine etwas verständlichere Sprache heißt dies, die Bundesregierung macht die Namen der von der Vorgängerregierung bezahlten Journalisten nur öffentlich, wenn die jeweiligen Journalisten dem zustimmen. Die in der Antwort genannten Anlagen unterscheiden sich wie folgt: Anlage 1 und 2 enthalten Namen und Bezüge der Journalisten, die sich mit der Veröffentlichung ihres Namens und der Vergütung einverstanden erklärt haben, Anlagen 3 und 4 hingegen sind nur in der Geheimschutzstelle des Bundestags zugänglich. Sie sind als „VS – Vertraulich“ eingestuft. In der Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages wird die Einstufung als „VS – Vertraulich“ wie folgt definiert: Im Falle der Zahlungen des Justizministeriums (BMJ) an Journalisten von 2013 bis 2017 sieht die Auflistung dann beispielsweise so aus: Wie ersichtlich werden fast alle Zahlungen und Namen der Journalisten, im konkreten Fall vom ZDF, nur in der Anlage 3 aufgeführt, sind also als „VS – Vertraulich“ eingestuft und nicht für die Öffentlichkeit einsehbar. Es stellt sich allerdings die Frage, wie glaubhaft es ist, dass die Höhe der Zahlung und Name des Journalisten bei der Moderation einer Veranstaltungsreihe des BMJ zur Präsentation von Filmen wie „Der Staat gegen Fritz Bauer“ oder „Nebel im August“ die Definition von VS – Vertraulich als „den Interessen oder dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder abträglich oder für einen fremden Staat von Vorteil sein könnte“ erfüllen. Eine ähnliche Frage stellt sich im Falle der jahrelangen und beinahe monatlichen Zahlungen des Bundespresseamtes (BPA) an einen Journalisten für die Erstellung von Videomaterial, der sonst vor allem für den deutschen Auslandssender Deutsche Welle (DW) tätig war. In diesem Fall wird zwar der Name genannt, die Höhe der Zahlung aber als VS – Vertraulich eingestuft. Grundsätzlich stellt sich im Falle dieser über Jahre und fast im Monatsrhythmus erfolgten Zahlungen zudem die Frage, wie unabhängig ein solcher Journalist vor solch einem Hintergrund noch über den Kanzler und das ihm direkt unterstellte BPA berichten kann: In seiner Selbstdarstellung auf dem Portal LinkedIn erklärt der in der Auflistung des BPA als „freiberuflich“ betitelte Journalist Danijel Višević seine Tätigkeit wie folgt: Es sei dem Leser überlassen, zu bewerten, ob man als „Kommunikationsstratege“ für die damals amtierende Kanzlerin und gleichzeitig für den Deutschen Auslandssender Deutsche Welle tätig sein kann, eingedenk der Programmgrundsätze der DW wie „Ermöglichung einer unabhängigen Meinungsbildung“ und „nicht einseitig eine Partei oder sonstige politische Vereinigung“ unterstützt werden darf. Wie wenig glaubhaft und widersprüchlich in diesem Zusammenhang die Einstufung als „VS – Vertraulich“ ist, ergibt sich zudem aus der Antwort der Bundesregierung auf die Frage zu bezahlten Tätigkeiten von Journalisten für den Bundesnachrichtendienst (BND). Die Informationen zur Zusammenarbeit von Journalisten mit dem BND (unter anderem Klarnamen und Zahlungshöhe) wurden, wie bereits in der vorherigen Antwort, von der Bundesregierung einer niedrigeren Geheimhaltungsstufe („VS – Nur für den Dienstgebrauch“) zugeordnet als die Informationen zu entsprechenden Zahlungen der Bundesbehörden und Ministerien. Bezugnehmend auf den Bundesnachrichtendienst wird erklärt, dass die Antworten „nicht offen“ erfolgen können und daher „als Verschlusssache (VS) mit dem niedrigsten Geheimhaltungsgrad „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft werden. Begründet wird dies wie folgt: Zur besseren Einordnungsmöglichkeit anbei eine Darstellung über die vier VS-Geheimhaltungsstufen und deren jeweilige offizielle Definition: Ein aufschlussreiches Beispiel für die Drehtüreffekte zwischen Leitmedien und Ministerien bietet wiederum die Auflistung der Zahlungen an Journalisten des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Wobei man dem BMZ und der von ihr bezahlten Journalistin immerhin zugutehalten muss, dass sie im Gegensatz zum überwiegenden Teil der anderen Ministerien und Journalisten bereit sind, Namen und Höhe der Zahlungen offenzulegen. So bezahlte das BMZ rund 7.500 Euro für „Redenschreiben“ an die „freiberufliche“ Journalistin Friederike Bauer: Ein Blick auf Bauers LinkedIn-Account zeigt aber auf, dass Bauer zuvor 14 Jahre für die FAZ und danach fünf Jahre als „Senior Managerin“ beim BMZ tätig war. Sie hatte also eine gehobene Position in dem Ministerium inne, welches sie dann später, als sie wieder in die journalistische Welt zurückgekehrt war, regelmäßig für das Verfassen von Reden entlohnte. Reden in der Frequenz hält in einem Ministerium wie dem BMZ eigentlich nur der zuständige Minister, das war im betreffenden Zeitraum der CSU-Politiker Gerd Müller. Auch hier stellt sich die Frage, wie kritisch und unabhängig eine Journalistin mit Schwerpunkt Entwicklungspolitik über die entsprechenden Aktivitäten des BMZ berichten kann, wenn sie zugleich von diesem bezahlt wird und mutmaßlich Reden für den verantwortlichen Minister verfasst. Problembewusstsein bei der Bundesregierung? Fehlanzeige Ein Problembewusstsein angesichts der Zahlungen von mindestens 2,3 Millionen Euro an ausgewählte Journalisten scheint es bei der Bundesregierung bis heute nicht zu geben. Bezüglich der genannten Summe ist zu betonen, dass es sich dabei nur um die öffentlich bekannte Summe in den Jahren 2018 bis 2022 handelt. So sind die Zahlungen von 2013 bis 2017 aus den aufgeführten Gründen (Verschlusssache) nur in Einzelfällen der Öffentlichkeit bekannt, der Gesamtbetrag der in den letzten zehn Jahren an Journalisten geflossenen Geldern liegt daher aller Wahrscheinlichkeit nach signifikant höher. Aufschlussreich auch die bereits in der vorherigen Antwort (Bundestagsdrucksache 20/5822) von der Bundesregierung angeführte Begründung, wieso „die dokumentierte Auftragspraxis durch Bundesministerien oder Bundesbehörden […] nicht in Konflikt mit der Bedeutung journalistischer Arbeit als Kontrollinstanz staatlichen Handelns oder mit dem Prinzip der Staatsferne des Rundfunks” steht: Doch dieser Einschätzung widersprechen nicht nur die im vorliegenden Artikel aufgezeigten konkreten Fälle, sondern unter anderem auch der Verfassungsrechtler und ehemalige Co-Vorsitzende der Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK), Prof. Dr. Rupert Scholz. Er bewertet die bezahlte Nebentätigkeit von Journalisten für Regierungsstellen als „hochproblematisch“ und spricht von „ein Stück Korrumpierung“: Titelbild: Screenshot der Anfrage | Florian Warweg | Zwischen März und Juni 2023 war bekannt geworden, dass die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren rund 2,3 Millionen Euro an circa 200 Journalisten, mehrheitlich bei ARD und ZDF beschäftigt, für diverse Aufträge gezahlt hatte. Den NachDenkSeiten liegen jetzt die Antworten der Bundesregierung auf eine weitere Anfrage vor, in welcher die Offenlegung der Zahlungen an ausgewählte Journalisten ... | [
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] | 27. Juli 2023 10:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=101710&share=email&nb=1 |
Albrecht Müller E. Elf Mythen, den Komplex Schulden, Staatsquote und Sozialstaat betreffend | Auszug aus: “Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren.” Seiten 289 – 312:
Sehr viele Menschen machen sich Sorgen um die Staatsverschuldung – vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Landes mit Inflation und Währungsreform sehr verständliche Sorgen. Deshalb ist Sparen in Deutschland eine ernsthafte und populäre Angelegenheit. Das Problem jedoch ist, wie man wirklich sparen kann und wie man es schaffen könnte, von den hohen Schulden runterzukommen. Die bisherigen Versuche jedenfalls waren nicht erfolgreich. Dabei fehlt es nicht am guten Willen, eher schon am Verständnis dafür, wie man in einer Volkswirtschaft sparen kann. Das geht, jedenfalls wenn man es richtig anpackt. Auch Deutschland kann, wenn die richtige Wirtschaftspolitik gemacht wird, seine Schulden wieder abbauen. Es gibt keinen Grund zur Panik.
Viele ziehen eine direkte Verbindung zwischen Staatstätigkeit und Ausbau des Sozialstaats einerseits und zum Stand der Schulden andererseits. Diese Beziehung ist nicht zwangsläufig so. Wer glaubt, an den hohen Staatsschulden sei der Sozialstaat schuld, macht es sich zu einfach. Die soziale Sicherung gegen die Risiken des Lebens kann hocheffizient sein und um vieles sicherer als sich auf die Eigenverantwortung zu verlassen. Viele Probleme unseres Landes, gerade beim Zusammenwachsen der sehr uneinheitlichen Teile Deutschlands, sind ohne Solidarität ohnehin nicht zu lösen.
Was soll staatlich organisiert werden und was privat? Ist Deregulierung angesagt oder brauchen wir gelegentlich sogar mehr Regeln? Sollen staatliche Unternehmen weiter privatisiert werden? Das sind Fragen, die man nicht mit vorgefertigten Ideologien beantworten kann. Wir müssen uns angewöhnen, die Antworten auf solche Fragen ohne Scheuklappen und Vorurteile zu optimieren.
Bei den heute so gängigen Reformdebatten werden die Kosten der deutschen Einheit in der Regel nicht als ein Faktor, der unsere volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit belastet, in Rechnung gestellt. Was einheitsbedingt ist – etwa der Anstieg der Schuldenquote oder der Sozialabgabenquote oder der Nettokreditaufnahme –, wird in vielen Debatten der Sozialstaatlichkeit zugeschrieben. Wir beobachten so den erstaunlichen Vorgang, dass die deutsche Einheit und ihre Folgekosten benutzt werden, um das Sozialstaatsversprechen des Grundgesetzes zu unterwandern und auszuhöhlen. Auch dieser Versuch gründet auf Denkfehlern, auf Lügen und Legenden. Sie werden in den folgenden Kapiteln analysiert. Denkfehler 30: »Wir sind überschuldet.« Variation zum Thema: »Das geht zu Lasten unserer Kinder.« Dass viele Menschen Sorge haben, der Staat sei überschuldet, und dass sie das bedrückt, das kann man sehr gut verstehen, zumal in Deutschland. Die Erinnerung an Inflation und Staatsverschuldung in den zwanziger und dreißiger Jahren ist noch nicht aus den Köpfen. Die überlieferte Sorge wird wachgehalten, und dagegen wäre auch nichts zu sagen, wenn damit nicht ganz bewusst Ängste geschürt würden.
Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte betrug 2003 etwas mehr als 1,3 Billionen Euro. Die Einordnung und Bewertung dieser dramatisch erscheinenden Zahl ist nicht einfach. Dazu einige relevante Fakten und Argumente. Vorübergehend Schulden zu machen kann sinnvoll sein Selbstverständlich wäre es am besten, der Staat, also Bund, Länder, Gemeinden und die öffentlichen Einrichtungen und Körperschaften, hätte keine oder wenige Schulden. An drei Beobachtungen wird jedoch sichtbar, dass sich dieses Vorhaben nicht immer realisieren lässt und dass es kein Drama ist, wenn staatliche Stellen vorübergehend Schulden machen: Abbildung 12: Jährlicher Anstieg der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte (in Milliarden Euro) in den Jahren um die Wiedervereinigung Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04, Berlin 2003, S. 573 1988 betrug die Gesamtverschuldung 461 Milliarden Euro. Sie stieg in diesem Jahr um 27,7 Milliarden, 1990 dann mit 63,7 Milliarden um mehr als das Doppelte, in den folgenden Jahren um 60, 87, 83, 78, 170 und 68 Milliarden Euro. In der Phase des höchsten Engagements, zwischen 1990 und 1998, stieg sie um insgesamt 690 Milliarden und damit um das 1,5fache des gesamten Schuldenstands von 1988.
Dabei wurde ein Teil der Staatsausgaben sogar den Sozialversicherungssystemen aufgedrückt. Die Schulden wären noch ein ganzes Stück höher, wenn die Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen nicht einen beachtlichen Teil der Soziallasten der Vereinigung und der Sozialfolgelasten getragen hätten und noch immer tragen würden (Näheres dazu siehe Denkfehler Nr. 40, S. 364). Tabelle 25: Schuldenstand der öffentlichen Haushalte in Deutschland 1970, 1980, 1990, 2000 und 2003 [1] Der »Ausreißer« von 1995 mit 170,6 Milliarden folgte daraus, dass das »Vermögen« der Treuhand in das Bundesvermögen übernommen wurde. Da die Treuhand hohe Schulden hatte, stieg die Bundesschuld um diesen extrem hohen Betrag. Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04, Berlin 2003, S. 573 Wenn man sich die Entwicklung der Staatsschulden (Gesamtverschuldung) im Zeitablauf seit 1970 anschaut (siehe Abbildung 25), stellt man fest, dass die Schulden 1970 noch niedrig lagen, um dann mit 175,2 Milliarden bis zum Jahr 1980 beachtlich anzusteigen. Das ist zum einen die Folge der Reformpolitik und der damit verbundenen Investitionen in den siebziger Jahren, zum anderen eine Folge der Konjunktureinbrüche durch die Ölpreisexplosionen. Selbst unter Beachtung der Preissteigerungen schneiden die siebziger Jahre nicht schlechter ab als die achtziger Jahre; nominal ist der Zuwachs in den Siebzigern mit 175 Milliarden geringer als in den achtziger Jahren mit 299 Milliarden; der eigentliche Anstieg der Schulden fiel mit 673 Milliarden in die Zeit der neunziger und der folgenden Jahre.
Der Vergleich zwischen den achtziger und den siebziger Jahren ist deshalb von Interesse, weil die siebziger Jahre in der heutigen Debatte einer besonderen Ächtung unterliegen. Die Ironie der Geschichte will jedoch, dass der Schuldenzuwachs in diesen zehn Jahren trotz Ölpreisexplosionen und den daraus folgenden Konjunktureinbrüchen und trotz der dagegengesetzten Konjunkturprogramme und der ausgabewirksamen Reformen jener Zeit deutlich geringer ausfiel als in den Achtzigern – jenem Jahrzehnt, das schon wesentlich von den politischen und ideologischen Kräften bestimmt war, die nichts von Konjunkturankurbelung halten und den Staatshaushalt durch angebliches Sparen sanieren wollen. Dass das offensichtlich aber nicht funktioniert, kann man bis heute sehen (siehe dazu auch Denkfehler Nr. 31, S. 305). Die Linken und die Keynesianer machen Schulden, die Wirtschaftsliberalen und die Angebotsökonomen sparen? – Ein persönlicher Bericht zu einem gängigen Vorurteil: Dank solcher Sprüche wie des oben zitierten von Hans-Olaf Henkel, dem früheren Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, fürs Schuldenmachen seien die Politiker und da wieder vornehmlich die Linken und die Gewerkschaften verantwortlich; die Wirtschaft, die Konservativen und die Neoliberalen stehen fürs Sparen. In der Praxis sieht die Welt anders aus, viel bunter und differenzierter. Dazu ein kurzer Bericht aus meiner praktischen Tätigkeit als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt und als Bundestagsabgeordneter: Die Polemik gegen die siebziger Jahre wäre um vieles glaubwürdiger, wenn jene, die schon ab Mitte der siebziger Jahre wesentlichen Einfluss auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie auf die Geld- und Zinspolitik hatten und mit der Wende von Schmidt zu Kohl 1982 selbst das Ruder in die Hand bekamen, wenigstens andeutungsweise zeigen könnten, dass sie mit ihrer Linie Erfolg hatten. Selbst wenn man die besondere Beanspruchung durch die deutsche Vereinigung in Rechnung stellt, kann man jedoch in den Neunzigern – wie in den Achtzigern – keinen nachhaltigen Erfolg der Wirtschaftsliberalen feststellen. Wenn sie sich Sorgen um die Schulden machen, sollten sie sich mit den achtziger und nenziger Jahren beschäftigen. Deutschland ist kein besonders sündiger Schuldenmacher Will man die Entwicklung der Schulden in Deutschland, auch unter Beachtung der deutschen Vereinigung, richtig bewerten, dann macht es Sinn, diese Daten mit denen anderer Länder zu vergleichen. Um die Vergleichbarkeit herzustellen, eignet sich das Verhältnis von Staatsverschuldung zum Bruttoinlandsprodukt, das heißt man setzt die Staatsschulden in Beziehung zu den Gütern und Dienstleistungen, die wir in unserer Volkswirtschaft jährlich produzieren (siehe dazu Tabelle A3 im Anhang, S.408). Ein solcher Vergleich zeigt: Die Schulden des Gesamtstaats – also Bund, Länder und Gemeinden zusammengerechnet – machten im Jahr 2002 62,4 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts aus. Wir haben also in diesem einen Jahr gut ein Drittel mehr produziert als wir insgesamt bräuchten, um die Staatsschulden zurückzuzahlen. Das haben wir zwar nicht vor, aber es zeigt die Größenordnung der Staatsschulden im Vergleich zu der jährlichen und bisher immer wiederkehrenden Wirtschaftsleistung. Selbstverständlich wollen und können wir nicht unser ganzes Bruttoinlandsprodukt für die Tilgung von Schulden verwenden, denn wir wollen leben und nicht nur Schulden zurückzahlen. Aber der Vergleich der Schulden mit der Wirtschaftsleistung pro Jahr nimmt den in der Öffentlichkeit diskutierten Zahlen etwas von ihrer Dramatik.
Wir haben also 62,4 Prozent Schulden gemessen an der jährlichen Leistung. Die Vergleichsziffer für Österreich lag bei 67,6 Prozent, die für Belgien sogar bei 105,4 Prozent, die für Großbritannien bei 50,3 Prozent, die der Vereinigten Staaten bei 61 Prozent, und ganz hoch lag sie für Japan mit 147,2 Prozent; die vielgerühmten Schweden liegen mit 59,7 Prozent nicht weit von uns entfernt (allerdings muss man mit Respekt anerkennen, dass die Schweden in den letzten Jahren die Schuldenrelation verringert haben), Frankreich hat mit 67,1 Prozent einen höheren Schuldenstand als wir. (Alle genannten Ziffern beziehen sich auf 2002.) Wenn man das Verhältnis von Schulden und Bruttoinlandsprodukt einerseits und diese Rate im Vergleich zu anderen Ländern andererseits nüchtern betrachtet, zieht man der bei uns üblichen Dramatisiererei schon den Boden unter den Füßen weg. Weder in Frankreich noch in den USA, in Österreich oder Schweden gibt es eine vergleichbar hysterische Debatte. Es ist aufschlussreich, die genannten Ziffern mit den Daten von 1991 zu vergleichen, also dem Jahr nach der deutschen Vereinigung. Damals lagen wir mit 38,8 Prozent noch ganz niedrig, niedriger als Großbritannien mit 44,3 Prozent, Österreich mit 57,5 Prozent weit über uns, genauso Dänemark mit 71,8 Prozent, das seine Schulden übrigens in Relation zum Bruttoinlandsprodukt abgebaut hat und heute nur noch bei 51,9 Prozent liegt. Auch Deutschland hat in den neunziger Jahren Schulden abzubauen versucht, aber die Sparversuche zwischen 1992 und 1997 waren konjunkturelle und fiskalische Fehlschläge, die Wachstumsrate erreichte im Durchschnitt nur einen (schlechten) Wert von 1,2 Prozent, die Arbeitslosenquote stieg von 8,5 Prozent auf 12,7 Prozent. Trotz Sparversuchen ist es in dieser Phase nicht gelungen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren. Das hängt mit der deutschen Einheit zusammen, aber nicht nur (siehe dazu Denkfehler Nr. 31, S. 305). Warum jammern der Grünenpolitiker und Fellow der Bertelsmann Stiftung Oswald Metzger und der Spiegel-Redakteur und Buchautor Gabor Steingart und all die Initiativen und Konvente, die bei uns so vehement gegen Deutschland Stimmung machen, nicht auch über die Staatsschulden von Österreich und von Frankreich, von Japan und Belgien oder in den USA und vor allem über deren Auslandsverschuldung? Da gäbe es unendlich viel mehr zu beklagen als über das eigene Land. Warum engagieren sich diese gut besoldeten Kritiker so vehement dafür, die Lage des eigenen Landes so schwarz zu malen? Wenn ihre Sorge um die Schulden echt wäre, müssten sie sofort aufhören, den Standort Deutschland mieszumachen, denn diese Miesmacherei ist Gift für die dringend notwendige Belebung unserer Konjunktur und des Wachstums in Deutschland. Nur über eine bessere Auslastung der Kapazitäten und den Abbau der Arbeitslosigkeit wird es gelingen, mehr Steuern einzunehmen und Schulden zurückzuzahlen. Die Wirtschaftsbelebung ist die Grundvoraussetzung für wirkliches Sparen. Dass man mit Deklarationen und schönen Bekenntnissen nicht weiterkommt, müsste sich nach der Erfahrung mit dem »Sparkommissar« Hans Eichel langsam herumsprechen. Trotz bester Absichten hat er es seit 1999 nicht geschafft, Schulden abzubauen, im Gegenteil. Seine vom Mainstream der Meinungsmacher beklatschte »Sparpolitik« hat die Konjunktur weiter in den Keller getrieben und mit ihr die Einnahmen an Steuern und Sozialbeiträgen. Die außerordentliche Veränderung der deutschen Schuldenrate in Relation zu anderen Ländern spiegelt deutlich erstens die große finanzielle Last wider, die die Vereinigung mit sich gebracht hat, und zweitens die miserable Auslastung unserer volkswirtschaftlichen Kapazitäten und damit die miserable Konjunkturpolitik nach neoliberalem Muster. Wenn es uns gelänge, die Kapazitäten unserer Volkswirtschaft richtig auszu Lasten, würden wir auch den Einigungsprozess besser bewältigen und wären nicht so in die Staatsverschuldung geraten. Nach Schätzungen gehen uns durch die Unterauslastungen jährlich 150 Milliarden Euro verloren. Selbst wenn nur ein Teil davon zur Vermeidung weiterer Verschuldung genutzt worden wäre, hätte das über einen Zeitraum von zwölf Jahren ausgereicht, um die Verschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt wenigstens auf dem Niveau von 1990 zu halten. Wir sind überschuldet, das geht zu Lasten unserer Kinder? Von Überschuldung spricht man normalerweise, wenn die Passiva die Aktiva übersteigen. Es gibt keine Belege dafür, dass dies bei unserer Volkswirtschaft oder beim Staat der Fall ist. Vielmehr hat Deutschland eine aktive Vermögensbilanz gegenüber dem Ausland. Die Kinder erben nicht nur die Schulden, sondern auch die Forderungen. Und sie erben die Infrastruktur. Ob man sagen kann, wir lebten zu Lasten unserer Kinder, hängt unter anderem davon ab, wie man die Infrastruktur bewertet. Wenn man der Meinung ist, dass die vorherige Generation und die jetzige Generation eine Menge aufgebaut haben, auf dem unsere Kinder und Enkel weiterbauen können, dann ist es nicht schlimm, wenn diese Investitionen zum Teil über Kredite finanziert worden sind und auch die künftigen Generationen daran abzahlen. Wenn man allerdings der Meinung ist, dass wir unser Haus und die Infrastruktur haben verlottern lassen, sieht das kritischer aus. Meine zwanzigjährige Tochter macht mich in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass allein der Neubau der Bahnstrecke von Köln nach Frankfurt rund 6 Milliarden Euro gekostet hat. Die Strecke von Nürnberg nach Erfurt kostet rund 5 Milliarden, und für den Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin waren 10 Milliarden Euro veranschlagt. Wenn man die 11 Milliarden Euro, die alleine für zwei Eisenbahnteilstrecken aufgewendet wurden, und die Umzugskosten der Regierung in Relation setzt zu den 1300 Milliarden Euro Staatsverschuldung und bedenkt, wie viele Investitionen dieser Art es in Deutschland gibt, dann verliert man den Schrecken vor einer vermeintlichen Überschuldung.
Sollen übrigens der Umzug und die damit zusammenhängenden Bauten in Berlin allein von der jetzt arbeitenden Generation bezahlt werden? Als Abgeordneter habe ich damals zwar gegen den Umzug gestimmt, weil ich dies in Zeiten europäischer Integration für eine Fehlinvestition hielt. Aber die Mehrheit war anderer Meinung. Dem habe ich mich wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger zu fügen, und ich verteidige das Verfahren, die Kosten nicht nur einer Generation anzu Lasten. Dass die heute erwachsene Generation nicht auf Kosten der Kinder und Enkel lebt, erkennt man leicht an der Höhe der Sparquote. Wie in Denkfehler Nr. 11 schon ausführlich erläutert (siehe S. 161), sparen die Deutschen rund 10 Prozent ihres jährlich erarbeiteten Einkommens und damit mehr als die meisten vergleichbaren Nationen. Aufs ganze gesehen sorgt die heute aktive Generation immer noch für die kommenden Generationen vor, sie spart und investiert. Wenn Gerhard Schröder meint, wir würden aufessen, wovon unsere Kinder und Enkel auch noch leben müssen, dann zeigt er damit nur, dass er entweder von Ökonomie wenig versteht, oder aber, dass er die populären Sprüche liebt und deshalb in amtliche Panikmache verfällt. Er befindet sich dabei allerdings in »guter Gesellschaft«. »Das Land hängt am Tropf der Banken, die Schulden wirken wie ein schleichendes Gift, das die Muskeln lähmt und den Atem erstickt. (…) Eine Rückzahlung der Erblast ist schon heute unvorstellbar, sagen alle Ökonomen.« Spiegel, 19.5.2003 Können wir die Schulden wieder loswerden? 1,3 Billionen Euro sind viel Geld, aber dennoch sind diese Schulden zu bewältigen. Es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen. Wir haben gute Möglichkeiten, die Staatsschulden wieder zu reduzieren: Privatisierung ist keine Lösung Einige Kritiker der hohen Schulden raten dazu, dass der Staat staatliche Vermögen privatisieren solle, um seine Schulden abzubauen. Das kann man machen, es kann aber auch ein »Schuss in den Ofen« sein. Niemand käme im Privatleben auf die Idee, es sei in jedem Fall gut, das eigene Haus zu verkaufen, um Schulden zu tilgen. Wenn das Vermögen wertvoll ist und notwendig für das Wohlergehen einer Familie, wird man es nicht verkaufen, auch wenn man damit Schulden zurückzahlen könnte. Auf keinen Fall wird man ohne Zwang verkaufen, wenn man einen schlechten Preis für das Haus erzielt. Nicht viel anderes gilt für öffentliches Vermögen: Wenn man zum Beispiel Anteile an der Deutschen Telekom oder an der Post AG zu einem schlechten Kurs verkauft, machen das Volk insgesamt und die Volkswirtschaft kein gutes Geschäft. Dann wird Vermögen verschleudert. Das ist kein gutes Geschäft für den, der verkauft, es ist aber meist ein gutes Geschäft für den, der kauft. Sinnigerweise raten oft diejenigen zur Privatisierung, die bei solchen Privatisierungsvorgängen viel Geld verdienen, weil sie billig einkaufen oder weil sie an den Provisionen kräftig verdienen oder weil sie einen der hochdotierten Posten ergattern wollen, die mit der Privatisierung oder Teilprivatisierung von Staatsunternehmen geschaffen werden. So ist es bei der Privatisierung von Post und Telekom und bei der Umwandlung der Bahn in eine Aktiengesellschaft geschehen. Hochdotierte Jobs – auch für Spezis. Um den Abbau der Staatsschulden geht es dabei nur in zweiter Linie. Stimmungsmache mit sogenannten impliziten Schulden Das Thema Schulden ist angstbesetzt. Um so schlimmer, dass diese Ängste auch mit sehr unlauteren Behauptungen geschürt werden. So rechnen der frühere haushaltspolitische Sprecher der Grünen Oswald Metzger und andere inzwischen auch die Leistungsversprechen der Sozialversicherungen zu den Schulden. Sie nennen dieses Leistungsversprechen »die implizite Verschuldung«. Mit den 1,3 Billionen Euro »explizite Schulden« kommen sie dann auf die gigantische Zahl von 5,7 Billionen Euro. Diese Addition klingt einleuchtend, ist es aber nicht. Die erworbenen Leistungsversprechen sind keine Schulden. Es handelt sich in einem einigermaßen intakten System von Sozialversicherungen und privaten Versicherungen um Ansprüche, die die späteren Leistungsempfänger durch Prämien- beziehungsweise Beitragszahlungen erworben haben. Ihre Beiträge werden im Umlageverfahren für Leistungen an die Älteren beziehungsweise – im Falle von Krankenversicherungen – an die jeweils gerade Kranken ausgezahlt. Jene, die später dann mit der Rente oder im Krankheits- und Pflegefall eine Leistung in Anspruch nehmen, haben ihren Beitrag zum System früher geleistet. Und jene, die schon früher Leistungsempfänger waren, haben wieder eine Generation früher ihre Beiträge geleistet. Dieses System kann gestört werden, wenn nicht für eine ausreichende Auslastung der Volkswirtschaft gesorgt wird und so zu wenig Beiträge eingezahlt werden oder wenn sogenannte versicherungsfremde Leistungen auf den Beitragszahlern abgeladen werden, wie dies im Zuge der deutschen Vereinigung geschehen ist. Aber dieser Mangel der vergangenen Jahre rechtfertigt weder die fundamentale Kritik am System selbst noch die übertreibende Addition zu den Schulden. Das ist reine Demagogie. Denkfehler 31: »Wer spart, baut Schulden ab.« Variationen zum Thema: Beginnend mit dem Jahr 1999 waren wir für einige Zeit Zeugen eines spannenden Wettstreits zwischen Deutschland und Frankreich um die beste und erfolgreichste wirtschaftspolitische Konzeption zur Konsolidierung der Staatsfinanzen. Damals regierte in Frankreich Ministerpräsident Jospin, in Deutschland hatte die rotgrüne Koalition nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine, der gerade ein halbes Jahr im Amt war, eine neue Linie in der Finanzpolitik eingeschlagen, die eng mit dem Namen das Bundesfinanzministers Hans Eichel verbunden ist. Man nannte ihn damals »Sparkommissar«, und seine Popularität war mit der Wahrnehmung dieser Rolle enorm gestiegen. Die Schulden des Bundes hatten sich in der Zeit von Helmut Kohls Kanzlerschaft auf 1,5 Billionen, also auf 1500 Milliarden DM, verfünffacht; der Bund musste jährlich rund 82 Milliarden Mark aufwenden, um die Zinsen für seine Schulden zu bezahlen. Der »Eiserne Hans« nahm sich vor, eisern zu sparen. Im Jahr 2006 – so seine Zielmarke – sollte mit einer Nettokreditaufnahme von Null ein ausgeglichener Haushalt erreicht werden. Auch wenn die Betroffenen – Bauern, Rentner und Arbeitslose – protestierten, Finanzminister Eichel erntete Zustimmung bei einem großen Teil der Medien, bei Sprechern der Wirtschaft, der Wissenschaft und im Grundsatz auch bei der Opposition. Frankreich entschied sich schon zwei Jahre vor dieser Weichenstellung zu einem anderen Konzept, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Oktober 1997 notierte: »Die Regierung Jospin hat die Stärkung der inländischen Massenkaufkraft zu einem Ziel ihrer Wirtschaftspolitik erhoben, um auf diese Weise die Konsumnachfrage und damit das Wirtschaftswachstum anzuregen.« Die französische Regierung entlastete die Bezieher von Löhnen und belastete dafür stärker die Bezieher von Kapitaleinkommen; sie legte ein großes Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit auf und ermunterte die Konsumenten, ihr Geld auszugeben, anstatt es zu sparen. Sie setzte darauf, dass sich die Belebung der Konjunktur für den Fiskus auszahlt, dass also die Einnahmen an Steuern und Beiträgen wegen steigender Umsätze, Löhne und Einkommen ebenfalls steigen. 1999 resümierte die FAZ: »Die Regierung Jospin stellt die Förderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage durch einen Verzicht auf eine konsequent dem Sparziel verpflichtete Politik vor die rasche Sanierung der angespannten Staatsfinanzen.« Bei volkswirtschaftlichem Wachstum und Sparerfolg haben die Franzosen 1999 die Nase vorn. »Frankreich senkt das Staatsdefizit deutlich«, meldete das Handelsblatt im September 1999, und die damals noch existierende Woche notierte unter der Überschrift »Früchte des Wachstums«: »Verkehrte Welt? Während Deutschland ums Sparpaket streitet, schwimmt Frankreich im Geld.« Infolgedessen könne Frankreich die Staatsschulden beschleunigt tilgen und obendrein das größte Steuersenkungsprogramm seit zehn Jahren auflegen.
In Deutschland wie in anderen Ländern sind die Schulden der öffentlichen Hände hoch, das ist unbestritten. Deshalb muss etwas geschehen. Wie aber kommt man zum Sparerfolg? So wie Frankreich Ende der neunziger Jahre oder so wie Deutschland? Auf deutscher Seite überträgt man die Lebenserfahrung eines einzelnen, also die Erfahrung von privaten Haushalten und Unternehmen, auf die gesamte Volkswirtschaft. Darin liegt ein Denkfehler. Wenn eine Familie weniger ausgibt und spart, hat sie am Ende des Jahres Schulden abgebaut oder Vermögen angesammelt. Wenn aber der Staat in einer labilen Wirtschaftslage seine Ausgaben zusammenstreicht, dann ist überhaupt nicht gewährleistet, dass er am Ende mehr Geld in der Kasse hat. Es gibt volkswirtschaftlich betrachtet nämlich einen Unterschied zwischen Sparabsicht und Sparerfolg.
Gibt der Staat zum Beispiel weniger für Investitionen bei der Deutschen Bahn aus, dann haben Tiefbauunternehmen im Gleisbau und die Waggonbaubetriebe weniger Arbeit, es werden weniger Löhne ausgezahlt und weniger Maschinen gekauft. Kürzt der Bund das Geld der Arbeitslosen und der Rentner, dann trifft das Gruppen, die ihre Einkommen in der Regel ausgeben, jetzt aber sparen müssen. Das spürt der Einzelhandel und bald auch die zuliefernde Industrie. Alle nüchtern kalkulierenden Unternehmen, deren Kapazität nicht voll ausgelastet ist, werden nicht gerade ermuntert sein, durch Investitionen neue Kapazitäten aufzubauen, wenn sie überall nur noch »sparen, sparen, sparen« hören. Das schwächt die Konjunktur und damit auch die staatlichen Einnahmen. Deshalb garantiert in der heutigen konjunkturellen Situation, die von hoher Arbeitslosigkeit und unausgelasteten Kapazitäten in vielen Betrieben gekennzeichnet ist, die wohlklingende Sparabsicht noch lange nicht den Sparerfolg. Mit diesem Denkfehler stieg Hans Eichels Populärität – und es stiegen die Schulden. Der Theorie der sogenannten Angebotstheoretiker folgend hat Finanzminister Eichel darauf gebaut, dass durch seinen Sparwillen in der Bevölkerung wie in der Wirtschaft Vertrauen entsteht, und er hat wohl auch darauf spekuliert, es könnte mit Hilfe der Medien gelingen, einen Stimmungsumschwung in Deutschland einzuleiten. In diesem Fall könnte die Annahme der Angebotstheoretiker greifen, und die Unternehmen würden unabhängig von ihren Absatzchancen und unausgenutzten Kapazitäten investieren; das bedeutet aber, dass sie irrationale Investitionsentscheidungen treffen, nur weil der Staat sagt, er wolle sparen.
Für so irrational halte ich die deutschen Unternehmer nicht. Das deutsche Konzept hat nicht funktioniert, die Franzosen behielten die Nase vorn, und wir brachen im Jahr 2000 und später erneut wegen einer falschen Wirtschaftspolitik ein. Nicht ohne Grund warnten damals amerikanische Wirtschaftswissenschaftler in einem Appell an ihre deutschen Kollegen vor einer falschverstandenen Sparpolitik und wiesen darauf hin, die USA könnten sich in den neunziger Jahren auch deshalb einer niedrigen Arbeitslosigkeit erfreuen, weil dort eine expansive Geld- und Finanzpolitik betrieben worden ist. Man kann die falsche Konzeption in Deutschland nicht allein der jetzigen Bundesregierung und ihrem Finanzminister anlasten. Sie entspringt einer Misere der wirtschaftspolitischen Debatte, unter der das Land schon seit Jahren leidet. Das hat viel mit der Entwicklung einer medial bestimmten Kommunikation und Gesellschaft zu tun. Der Mainstream der deutschen Wissenschaft und Publizistik und infolgedessen auch der Politik hat sich auf ein recht primitives, aus einzelwirtschaftlichen Erkenntnissen gespeistes Verständnis von der Ökonomie reduziert. Dass man in der Ökonomie alle verfügbaren Instrumente nutzen sollte, dass es auf Sparerfolg und nicht nur auf Sparabsicht ankommt, dass man die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge und Rückwirkungen beachten muss und nicht von einzelwirtschaftlich gültigen Erfahrungen auf die gesamte Volkswirtschaft schließen darf: Solche vernünftigen Erkenntnisse haben in einer der schnellen und gefälligen Medienbotschaft verpflichteten Wissenschaft nur noch geringe Chancen.
Der Rückblick auf den Wettstreit zwischen Deutschland und Frankreich ist in verschiedener Hinsicht interessant: Tabelle 26: Tatsächliche Entwicklung zwischen 1998 und 2001 in Frankreich und Deutschland*
* Hier werden wegen der internationalen Vergleichbarkeit die von der OECD verwendeten Zahlen benutzt. Sie weichen zum Beispiel bei den Werten für die Arbeitslosenquote von den Ziffern des Statistischen Bundesamts ab. Quelle: OECD (Hrsg.): Economic Outlook 2003, Paris 2003, S. 195, 209 und 227 Diese parallelen Erfahrungen bestätigen, dass die Wirkungszusammenhänge in einer Volkswirtschaft anders verlaufen als in einer Familie. Wenn eine Familie mit durchschnittlichem Einkommen beschließt, im nächsten Jahr 1000 Euro zu sparen, dann schafft sie das in der Regel. Sie fährt nicht in Ferien, sie geht nicht mehr aus, sie kauft sich keine neuen Kleider. Wenn hingegen der Bundesfinanzminister beschließt, 30 Milliarden Euro weniger Schulden zu machen, dann schafft er es in diesen konjunkturell schlechten Zeiten nicht, wie man schon mehrmals sehen konnte. Er macht, wenn er in einer Depression sparen will, mit seiner Sparabsicht den Sparerfolg zunichte, weil weniger Steuern und Arbeitslosenbeiträge eingenommen werden und höhere Zuschüsse des Bundes zu den Arbeitslosenversicherungen fällig werden.
Daraus folgt: Wer als Finanzminister in einer Krisenlage mehr ausgibt und weniger zu sparen beabsichtigt, spart am Ende vielleicht mehr und macht weniger Schulden. Dieser Zusammenhang ist in der deutschen und europäischen Diskussion immer noch nicht begriffen: Als die Bundesregierung aus der Erfahrung lernen wollte und die dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen beschloss, da formulierte die Redaktion der ZDF-Sendung Berlin Mitte am 26. Juni 2003 den klassischen Trugschluss: »Steuern runter, Schulden rauf.« Wenn die Konjunktur jedoch anspringt, stimmt dieser Schluss nicht. Dann kann die Verschuldung am Ende geringer sein als ohne stimulierende Steuersenkung. Und wenn die Konjunktur weiter lahmt, auch weil man nicht den Mut hat zum »Steuern runter«, dann kann gerade deshalb der Fall »Schulden rauf« eintreten. Volkswirtschaftliche Abläufe machen einzelwirtschaftlich geprägte Erwartungen zur Makulatur. Der Bundeskanzler hat versucht, gegen den Denkfehler anzugehen. Zu spät. Und bei den meisten Medien mit wenig Erfolg.
So ähnlich war es auch bei der öffentlichen Debatte im Umfeld des Vermittlungsverfahrens zur Steuerreform im November 2003. Der Denkfehler »Wir werden nicht zulassen, dass 80 Prozent der Steuersenkung mit höheren Schulden bezahlt werden« galt als logische Einlassung. Zweifel an der volkswirtschaftlichen Logik eines solchen Satzes hat nur eine verschwindende Minderheit. Die Verblendung, gestiftet von Angebotsökonomen der Chicago-Schule und gefördert von einzelwirtschaftlichem Denken der Mehrheit, ist fast nicht wegzukriegen.
Das gleiche Spiel dann bei einem neuen Versuch der Koalitionsspitze, angesichts nochmals trüberer Konjunkturaussichten und sinkender Steuerschätzungen Ende April/Anfang Mai 2004 den Kurs zu korrigieren. »Regierung bricht Konsolidierungskurs ab« lauteten die ebenso eintönigen wie sinnlosen Schlagzeilen. Was man beim Sparversuch nicht erreicht hat, die Konsolidierung, das kann man wohl nicht abbrechen. Wieder scheiterte die Regierung an einer zu tiefst irrationalen veröffentlichten Meinung und am darin wohlgebetteten Bundesfinanzminister. Ein weiteres Beispiel für das herrschende Missverständnis ist die Reaktion auf die Entscheidung des Rats der Wirtschafts- und Finanzminister der EU-Staaten (»Economic and Financial Council« oder kurz Ecofin-Rat) vom 25. November 2003, das von der EU-Kommission eingeleitete Strafverfahren gegen Deutschland und Frankreich wegen der Verletzung der Maastricht-Kriterien auszusetzen. Die daraufhin einsetzende massive Kritik – Tod des Stabilitätspakts, Gefahr für den Euro, Abkehr von der Sparpolitik – gründete auf dem Denkfehler, dass Deutschland effektiv sparen würde, wenn es der Aufforderung der EU-Kommission nachkäme, noch 4 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einzusparen. Das Gegenteil kann richtig sein, dass nämlich mit weiteren Sparabsichten der angestrebte Erfolg noch mehr zunichte gemacht wird. Deshalb ist es auch richtig, auf eine vernünftige Auslegung des EWU-Stabilitätspakts zu pochen, der durchaus Spielraum lässt für beschäftigungspolitische Initiativen. Wenn diese Interpretation keinen Rückhalt findet, sollte man versuchen, eine rationalere Interpretation des Maastrichter Vertrags festzuschreiben. Denn wenn eine Fessel Millionen Menschen unglücklich macht und obendrein das erklärte Hauptziel nicht erreicht, nämlich tatsächlich zu sparen und nicht nur die Absicht dazu zu haben, dann muss man sie sprengen.
Hans Eichels publizistischer Erfolg gründete auf einer desinformierten Öffentlichkeit – das ist unser wahres Problem. Wenn wir nicht lernen, die Denkfehler in der ökonomischen Debatte und Willensbildung zu vermeiden, wenn wir nicht lernen, die Lügen und die Legenden zu durchschauen, dann wird es auch weiterhin eine fehlerhafte Meinungsbildung und daraus folgend bedrückend schlechte politische Entscheidungen geben. In den letzten Jahren war die regierende Politik nicht irrationaler als die Meinungsmacher. Sie hat gelegentlich versucht, aus dem Ghetto des einzelwirtschaftlichen und dogmatischen Denkens auszubrechen. Allerdings hat sie es versäumt, um die Meinungsführerschaft zu kämpfen, was besonders dann notwendig ist, wenn die öffentliche Debatte schon in ihren Grundstrukturen so vorurteilsbeladen ist wie bei dem Thema »Wer spart, der spart«. Tabelle A3: Staatsschuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in vergleichbaren Ländern | Albrecht Müller | Auszug aus: "Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren." Seiten 289 – 312:
Sehr viele Menschen machen sich Sorgen um die Staatsverschuldung – vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Landes mit Inflation und Währungsreform sehr verständliche Sorgen. Deshalb ist Sparen in Deutschland eine ernsthafte und populäre Angelegenheit ... | [
"Müller, Albrecht",
"Reformlüge",
"Staatsschulden"
] | [
"Finanzpolitik",
"Veröffentlichungen der Herausgeber",
"Wirtschaftspolitik und Konjunktur"
] | 30. November 2004 15:10 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=96&share=email&nb=1 |
Gert-Ewen Ungar | Gert-Ewen Ungar, Jahrgang 1969, studierte in Frankfurt am Main Philosophie und Germanistik, lebt jetzt in Berlin und arbeitet als Pädagoge in der Sozialpsychiatrie. Seit 2014 absolviert er regelmäßig Reisen nach Russland und berichtet über seine dortigen Erfahrungen. Er ist regelmäßiger Autor bei RT Deutsch. Sein öffentlich bekannter Name ist ein Anagramm, das während seiner Abiturfeier 1988 entstand und das er seitdem für seine kreativen Arbeiten nutzt. | [] | [] | 04. Juni 2025 10:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?gastautor=gert-ewen-ungar |
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Israel: König Bibi ist tot, lang lebe König Bibi! | Nach den Knesset-Wahlen im April gab es ein Kopf-an-Kopf-Rennen und war es ungewiss, ob Benjamin Netanyahu (in Israel gemeinhin nur „Bibi“ genannt) sein fünftes Kabinett zusammengestellt bekommen würde.
Heute, fünf Monate später, befindet sich Israel nach den Neuwahlen vom 17. September in der exakt selben Situation. Bevor das Land vielleicht bald zum dritten Mal an diesem Punkt steht – „Neuneuwahlen“ werden schon zaghaft diskutiert – hier nun ein Blick auf die Wahlen, das Phänomen Netanyahu und das aus linker, friedensorientierter Sicht katastrophale Parteiensystem Israels. Von Jakob Reimann.
Seit Ende 2018 brodelt es in der israelischen Regierung. Im November kam es nach einer vermasselten israelischen Geheimdienstoperation in Gaza zum heftigsten Schlagabtausch seit dem letzten großen Gaza-Krieg im Sommer 2014. Aus Protest über den folgenden Waffenstillstand verließ Verteidigungsminister und Ultra-Falke Avigdor Lieberman die Regierung. Der rechtsaußen angesiedelte Bildungsminister Naftali Bennet wollte dessen Amt – und bekam es nicht. Das Kabinett Netanyahu IV begann, sich zu zerfleischen, und hatte in der Konsequenz nur noch eine hauchdünne Knesset-Mehrheit von einem Sitz (die NachDenkSeiten berichteten).
Ausschlaggebend wurde ein Streit zwischen den säkularen und religiösen Kräften um das Recht orthodoxer Jüdinnen und Juden, den mehrjährigen Militärdienst zu verweigern. Zwar schwebt über allen Konflikten der massive Korruptionsskandal um Netanyahu und seine bevorstehende Anklage wegen Bestechung in mindestens drei Fällen, doch zerbrach die Regierung letztendlich am Streit um die Wehrpflicht der Orthodoxen. Im Dezember 2018 lösten sich Regierung und Parlament auf und es wurden vorgezogene Wahlen für April 2019 ausgerufen. Diese gewann Netanyahus Likud im Nachkomma-Bereich und erhielt genau wie die neugegründete Wahlgemeinschaft Blau-Weiß unter Generalleutnant Benny Gantz 35 der insgesamt 120 Knesset-Sitze. Präsident Reuven Rivlin beauftragte Netanyahu mit der Regierungsbildung innerhalb von sechs Wochen, doch scheiterte dieser daran, die erforderlichen 61+ Sitze zusammenzubekommen. In der letzten Nacht des Ultimatums boxte die Knesset einen Likud-Vorstoß durch, das Parlament aufzulösen – schon wieder. Nur so konnte verhindert werden, dass Präsident Rivlin Blau-Weiß und Benny Gantz das Mandat übertrug. Die Times of Israel spricht zu Recht von einer „schockierenden Wendung der Ereignisse“ – nie zuvor in der israelischen Geschichte scheiterte eine Regierungsbildung. Wiederum wurde die Frage um die Wehrpflicht zur entscheidenden Bruchlinie, Netanyahu war unfähig, beide Blöcke zueinander zu bringen. Seine Avancen, via Postengeschacher die Sozialdemokraten mit ins Boot zu holen, scheiterten ebenso wie die Versuche, eine Einheitsregierung aus Likud und Blau-Weiß zu bilden – Benny Gantz begrüßte diese zwar, doch nur unter der Voraussetzung, dass der Likud “König Bibi“ ein für alle Mal versenken würde. Doch Netanyahu als versierter Schachspieler hat über die Jahre jede innerparteiliche Konkurrenz kaltgestellt oder aus der Partei hinaus- und in die Bildung ultrarechter Splitterparteien hineingetrieben – „Likud, c’est moi“. Es gibt schlicht und ergreifend keine alternative Führung in der Partei, mit der die von Gantz favorisierte Einheitsregierung hätte realisiert werden können. Im Vorfeld der Neuwahl zum 17. September hat sich wenig geändert. Netanyahus Likud schluckte zwar im Vorfeld die rechte Kleinstpartei Kulanu samt deren vier Sitze, büßte jedoch erheblich ein und verlor in der Summe sechs Mandate (32). Auch Benny Gantz‘ Blau-Weiß verlor Stimmen, doch konnte die Partei mit einem Sitz Vorsprung (33) hauchdünn stärkste Kraft werden. Die arabischen Parteien, die im April noch in mehreren Fraktionen antraten, bündelten sich für die September-Wahlen zur Vereinten Liste – einem Zusammenschluss aus hauptsächlich Kommunisten, Grünen, Linksaußen und Feministen mit pan-arabischen Nationalisten und einigen Muslimisch-Konservativen – und wurden mit 13 Sitzen klar zur drittstärksten Kraft und damit eventuell gar zum neuen Oppositionsführer. Obwohl Blau-Weiß gewann, beauftragte Präsident Rivlin erneut Netanyahu mit der Regierungsbildung, doch drängte er beide Spitzenkandidaten zur Bildung einer Einheitsregierung mit rotierendem Ministerpräsidenten – vergebens. Seit jeher stand im Zentrum des Blau-Weiß-Wahlkampfs, unter keinen Umständen mit Netanyahu einen Deal einzugehen. Gantz spielte hierbei stets die Moralkarte, schließlich könne er nicht mit Bibi verhandeln, wenn diesem in naher Zukunft drei Gerichtsverfahren wegen Bestechung drohten. Wir befinden uns in der exakt selben Situation wie vor einem halben Jahr: Eine Regierungsbildung scheint unerreichbar, die Verhandlungen führen nirgendwohin. Verschiedene Unmöglichkeiten Es gibt nun eine Handvoll Szenarien, wie es weitergehen kann, die alle nur funktionieren können, wenn jeweils eine Partei eine ihrer heiligen Kühe schlachten würde; eine Auswahl: Eine Einheitsregierung aus Likud und Blau-Weiß, was die Mehrheit der Israelis bevorzugt; Bedingung für Gantz: Netanyahus Rücktritt (was 52 Prozent der Israelis wollen, doch dieser höchstwahrscheinlich nicht tun wird). Zwar bringen sich bereits einige lebensmüde Likudniks zaghaft in Stellung, um mit einer stumpfen Feile am Throne König Bibis zu sägen, doch hat dieser den Likud in eine innerparteiliche Diktatur verwandelt und wird jeden von ihnen politisch vernichten. Gantz könnte sich die Vereinte Liste in seinen Block holen und so mit einer arabischen Regierungsbeteiligung etwas wahrhaft Historisches schaffen (was er jedoch bereits ausgeschlossen hat). Auch könnte Gantz sich Netanyahu unterwerfen und doch mit diesem eine Einheitsregierung bilden: Doch auch das wird Gantz niemals tun, will er sich nicht – wie etwa die SPD nach ihrem wochenlangen No-GroKo-Getöse und anschließender Unterwerfung – seinen eigenen politischen Sarg nageln. Bleibt immer noch die Neuneuwahl – die dritte in einem Jahr, die buchstäblich niemand will, doch die von Tag zu Tag realistischer wird. Eine dieser Optionen ist so unwahrscheinlich wie die andere. Auch internationale Kommentatoren halten sich diesmal sehr zurück – wollen sie doch nicht wie nach den April-Wahlen mit „todsicheren“ Prognosen ihr journalistisches Kapital weiter verbrennen. Auch ich verweigere mich der Kaffeesatzleserei, doch beschleicht mich langsam das schaurige Gefühl, dass Netanyahu – ob seiner überwältigenden Politfinten wird er der „Magier“ genannt – noch einen letzten fetten Hasen aus dem Hut zieht und es irgendwie schafft, im Amt zu bleiben. Trotz Korruptionsskandal, trotz drohenden Anklagen, trotz Wahlniederlage. König Bibi ist tot, lang lebe König Bibi… Die Schreckgespenste der israelischen Rechten Zur Wahl 2015 verbreitete Netanyahu in einem Video noch die Verschwörungstheorie: „Arabische Wähler strömen in Scharen zur Wahl, linke NGOs bringen sie in Bussen hin.“ Das war zwar glatt gelogen, doch funktionierte das Täuschungsmanöver und Netanyahus Wahlkampf der Angst sicherte ihm die nächste Amtszeit. Schließlich kann Bibis Basis durch nichts derart aufgescheucht werden wie durch die zwei liebsten Feindbilder der israelischen Rechten: „Araber“ und „Linke“. Zum Wahltag im September besuchte Bibi mit Frau Sara eine Mall in Jerusalem und verkündete der jubelnden Masse, „die Medien versuchen vor euch zu verbergen, dass ein überraschend hoher Anteil der arabischen Bevölkerung zur Wahl geht“, ebenso die Linken. Team Netanyahu produzierte gar halbminütige Audiobotschaften, die „am Wahltag auf die Telefone Hunderttausender Wähler“ übertragen wurden: „Nach unseren Daten ist die Wahlbeteiligung in der arabischen Gemeinschaft sehr hoch, genau wie in den linken Hochburgen, die die rechte Herrschaft stürzen wollen. … Ich bitte Sie, [zur Wahl] zu gehen und für die rechten Parteien zu stimmen.“ Ein pikantes – und möglicherweise strafrechtlich relevantes – Detail: Die Botschaften wurden bereits vor der Wahl aufgenommen, Bibis „Daten“ waren Fake News, Haaretz veröffentlichte die Audios bereits am Vortag der Wahl. Die arabische Wählerschaft quittierte ihm seine Lügen und Spaltung vor der Wahl mit tatsächlich historischer Wahlbeteiligung – ein klassisches Eigentor. Doch abgesehen von dieser verzweifelt-lächerlichen Anekdote selbst ist ein weiterer Satz des Audios bedeutend, weil er für so viel mehr steht: „Wir könnten mit einer linken Regierung aufwachen, die Jerusalem spalten und Teile des Landes an den Feind übergeben könnte.“ Wenn wir über die martialische Rhetorik hinwegsehen – und darüber, dass das Team Bibi Palästina als „der Feind“ tituliert –, bleibt die Worthülse „linke Regierung“. Gemeint ist Benny Gantz und seine als Mitte-Links wahrgenommene Blau-Weiß. Eine Betrachtung des – vermeintlichen – Netanyahu-Gantz-Konflikts verrät uns viel über den katastrophalen Zustand des israelischen Parteiensystems. Rechts vs. Rechts – die Tragik israelischer Parteien Blau-Weiß ist keine Partei, sondern eine für die Wahl im April 2019 neugegründete Wahlliste, ein Sammelbecken, dessen gemeinsamer Nenner und einziger Selling-Point ist: „Wir sind nicht Netanyahu“. Zumindest nicht wortwörtlich, denn: Sie setzt sich zusammen aus der neoliberalen „Es gibt eine Zukunft“ des TV-Stars Jair Lapid (Finanzminister unter Netanyahu), aus der 2019 vom Likudnik Moshe Ya’alon (Stabschef, Vize-Premier und Verteidigungsminister unter Netanyahu) gegründeten militaristischen, rechtsnationalistischen Telem und der „Widerstandskraft für Israel“ von Benny Gantz (unter anderem Oberbefehlshaber unter Netanyahu) sowie dem Parteilosen Gabi Ashkenazi (Generalstabschef unter Netanyahu). Auch die meisten weiteren Blau-Weiß-Führungspersonen hielten Ministerposten oder andere hochrangige Positionen in Militär und Regierung unter Netanyahu. Allein dieser Blick aufs Personal dekonstruiert den Politzirkus, die Farce, irgendwelche politischen Unterschiede oder gar ideologischen Konflikte zwischen Blau-Weiß und dem Likud konstruieren zu wollen. Würden alle Personen, die in Netanyahus Kabinett dienten, von der Blau-Weiß-Liste gestrichen, bliebe niemand übrig. Blau-Weiß ist Netanyahu durch und durch, rechtsaußen – es als „links“ zu bezeichnen, ist einfach absurd. „In Israel gibt es keine Linke. Es gibt einzig eine Rechte in verschiedener Gestalt“, beschreibt Gideon Levy, der wohl bekannteste inner-israelische Kritiker, Anfang des Jahres in Haaretz das Dilemma, dass im Grunde – bis auf die Kommunisten und die Vereinigte Arabische Liste – alle Parteien nur schlechter Abklatsch des Likud sind und von Likudniks gegründet wurden, um sich dem allesfressenden schwarzen Loch namens Bibi zu entziehen. Es ist unmöglich, sich im Likud-Schatten vom König zu profilieren und so sind all die rechten Kleinstparteien bloße Likud-Iterationen, die jeweils vollständig auf ein, zwei charismatische, ambitionierte Rechtsaußen wie Lieberman, Shaked, Bennet oder Kahlon zugeschnitten sind. Blau-Weiß – die Levy der „nationalistischen Rechten“ zuordnet – ist so erfolgreich, weil dort mehrere dieser Likud-Verschnitte gebündelt wurden. Es geht einzig um Gesichter, nicht um Inhalte: „Die Parteien laufen alle demselben Ziel entgegen, nur unter verschiedenen Namen. Alle glauben sie an das Gleiche“, so Levy weiter. „Ein Einparteienregime wie in Kuba, Iran und Nordkorea – nur freiwillig“. Als Beleg für seine Einschätzung nennt Levy allen voran die parteienübergreifende Befürwortung der völkerrechtswidrigen Besatzung Palästinas, zu der es Null Dissens gibt, sowie die Unterstützung für das hochumstrittene Nationalstaatsgesetz von 2018, welches festschreibt, dass in Israel „das Recht auf nationale Selbstbestimmung“ einzig dem „jüdischen Volke“ vorbehalten ist. Auch wird dem Arabischen seine Stellung als Amtssprache aberkannt und der voranschreitende illegale „jüdische Siedlungsbau“ im besetzten Westjordanland zum „nationalen Wert“ erhoben, wodurch Israels tragische Entwicklung hin zum Apartheidstaat nun in die Verfassung aufgenommen wurde, wie Menschenrechts-NGOs aufs Schärfste verurteilen.
„Israel ist nicht der Staat all seiner Bürger“, kommentiert Netanyahu das Nationalstaatsgesetz auf Instagram: „Israel ist der Nationalstaat allein des jüdischen Volkes!“ (Warum bekämpfen einige Teile der vermeintlichen Linken in Deutschland noch immer mit Schaum vorm Mund die These, “Israel ist ein Apartheidstaat“, wenn Netanyahu selbst es hier doch mit Stolz verkündet?) Auch Netanyahus „Kontrahent“ Benny Gantz hat kein Problem mit der ethnokratischen Agenda des Gesetzes. Gantz leitete die Bodenoffensive im Libanon-Krieg 2006, der von massiven Kriegsverbrechen der israelischen Truppen gekennzeichnet war. Von 2011 bis 2015 war er Generalstabschef und damit höchster Militär im Land. Der Gazakrieg von 2012 wurde von ihm geleitet, wie auch der Krieg 2014, in dem Gantz – genau wie sein heutiger Blau-Weiß-Kollege und damaliger Verteidigungsminister Ya’alon – eine katastrophale Rolle spielte. Der Gaza-Krieg 2014 war ein Massaker an der Zivilbevölkerung, Tausende Menschen wurden getötet. Ein israelischer Soldat, der bei der Bodenoffensive in Gaza dabei war, erzählte mir in einer Bar in Tel Aviv von der Order, die Soldaten sollten ohne zu überlegen auf alles schießen, was sich bewegt. Von den über einem Dutzend Menschen, die er getötet hat, konnte er bei keinem einzigen sicher sagen, ob es sich um einen Zivilisten oder einen Kämpfer handelte – der General, der diese Lehrbuch-Kriegsverbrechen befehligte, ist also ein „Linker“. Ein Kriegsverbrecher als „linke“ Alternative. Im Wahlkampf spielte Gantz wiederholt die Militärkarte und versuchte, sich rechts neben Netanyahu als der größere Kriegsfalke zu präsentieren. Seine Kampagne veröffentlichte ein martialisches Video, in dem Beerdigungen und Trauermärsche in Gaza gezeigt werden, während ein Counter die 1.364 unter Gantz Getöteten hochzählt. Ein anderes Video prahlt, Gantz habe „Teile des Gazastreifens in die Steinzeit zurückgeschickt“. Wiederholt warf Gantz Netanyahu Schwäche im Umgang mit Gaza und dem Westjordanland vor und sprach sich für gezielte Tötungen von Hamas-Kommandeuren genau wie Politikern aus. „Jedes Ziel ist angemessen“, so Gantz auf Twitter, „[wir] müssen sie eliminieren“. Wie sein ehemaliger Boss Bibi, ist auch Gantz ein Anti-Iran-Falke und will die unter Netanyahu initiierte Kooperation mit den Diktaturen in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten – die beide Israel nicht einmal als Land anerkennen – weiter ausbauen und intensivieren. Eine Anekdote entlarvt die Absurdität des herbeigeschriebenen „Unterschieds“ zwischen Gantz und Netanyahu. Letzterer versprach wenige Tage vor der September-Wahl, er werde das palästinensische Jordantal offiziell annektieren, wenn er gewählt würde. Am Leben der Menschen würde dies zwar nichts ändern – schließlich steht ganz Palästina seit 1967 unter israelischer Militärherrschaft. Doch würde eine Annexion das Hirngespinst namens Zweistaatenlösung, dem westliche Politiker so gerne hinterherjagen, auch ganz offiziell platzen lassen. (Ein kleiner Seitenhieb: Seit März 2014 wissen wir bekanntlich, dass „Annexionen“ das Werk expansionistischer Tyrannen sind und drakonische Sanktionen des Westens nach sich ziehen – ob Israel wohl auch sanktioniert wird?) Als Netanyahu sein Annexionsversprechen bekanntmachte, hagelte es vom „Kontrahenten“ Gantz nicht etwa Kritik für die dreiste Ankündigung, Artikel 2 der UN-Charta brechen zu werden, nein, er beanspruchte die Urheberschaft des geplanten Völkerrechtsbruchs für sich: „Wir freuen uns, dass der Ministerpräsident endlich einlenkt und den Plan von Blau-Weiß zur Anerkennung des Jordantals übernimmt.“ Gazakrieg, Besatzung, Apartheid, Jordantal – im Grunde duellieren sich beide „Kontrahenten“ um die Frage: Wer ist der größere Verbrecher? Titelbild: Hadrian / Shutterstock | Jakob Reimann | Nach den Knesset-Wahlen im April gab es ein Kopf-an-Kopf-Rennen und war es ungewiss, ob Benjamin Netanyahu (in Israel gemeinhin nur „Bibi“ genannt) sein fünftes Kabinett zusammengestellt bekommen würde.
Heute, fünf Monate später, befindet sich Israel nach den Neuwahlen vom 17. September in der exakt selben Situation. Bevor das Land vielleicht bald zum dritten Mal an diesem Punkt steht – „Neun ... | [
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] | 14. Oktober 2019 12:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=55589&share=email&nb=1 |
Damit uns niemand vorwirft, wir hätten nicht vorher gewarnt: Ohne eine Kurskorrektur verliert Rot-Grün auch noch in NRW die Mehrheit | Bei nahezu allen Wahlen seit der Verkündung der Agenda 2010 ging es mit der SPD bergab. In Sachsen ist sie mit 9,8% gar als Splitterpartei angekommen. Auch das Ergebnis in Schleswig-Holstein (minus 4,4% für die SPD bei gleichzeitigen plus 5% für die CDU) hätte man noch vor kurzem als „politischen Erdrutsch“ bezeichnet. Für den SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering, war die Niederlage von Heide Simonis ein weiterer Beweis dafür, dass die SPD sich aus dem tiefen Loch „rausgebuddelt“ hat. Wie tief unten muss sich eigentlich die SPD im Keller wähnen, wenn es für sie nach jeder Niederlage aufwärts geht?
Wenn Sie in der Suchfunktion unserer NachDenkSeiten etwa „Wahlen SPD“ eingeben, werden Sie auf eine Vielzahl von Beiträgen verwiesen, in denen wir uns kritisch damit auseinander setzten, dass das Spitzenpersonal der SPD im Bund und in den Ländern eine Niederlage ihrer Partei nach der anderen als Aufstieg aus der Talsohle umdeutete.
Das mochte im Hinblick auf die in der Mediengesellschaft so wichtige „Deutungsshoheit“ als taktisches Mittel zur Beeinflussung der veröffentlichten Meinung zwar noch hinnehmbar sein – und teilweise hat es ja auch tatsächlich dazu beigetragen, dass sich in den Meinungsumfragen das Stimmungstief für die SPD etwas aufhellte. Das hatte aber mit der Lebenswirklichkeit der Menschen und der Stimmungslage vor allem von potentiellen SPD-Wählerinnen und -Wählern nur wenig zu tun. Natürlich hat die Flutwelle in Südasien und das vernünftige Hilfsangebot der Bundesregierung, die wirtschaftlichen Probleme eine Weile etwas in den Hintergrund gedrängt. Auch dass die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einigermaßen reibungslos ablief, hat manchem einige Sorgen genommen und die Stimmung der Bevölkerung im Januar für die Bundesregierung etwas verbessert.
(Wobei es einen allerdings schon erstaunt, dass es neuerdings als Erfolg gilt, wenn staatliche Transferleistungen pünktlich ausbezahlt werden.) Wir haben auf den NachDenkSeiten immer wieder begründet, dass die SPD ohne ein klares Bekenntnis zum Sozialstaat und ohne eine aktive Wirtschaftspolitik nicht nur unser Land nicht voran bringen kann sondern darüber hinaus ihre Wähler enttäuscht und den konservativen Kräften den Weg zur Macht bereitet.
Ohne eine solche Kurskorrektur wird es der SPD nicht gelingen, die sozialen Schichten wieder zurück zu gewinnen und vor allem die für die Vertrauenswerbung unverzichtbaren Multiplikatoren zu aktivieren, die sie für Wahlsiege braucht.
Wer meint, er könne in der „Mitte“ zurückholen, was er bei den sozial Schwächeren, bei den sozial Denkenden und bei solidarisch Fühlenden verloren hat, der übersieht, dass er damit – wie wenn man ein Gummiband an der linken Seite loslässt – das gesamte politische Spektrum nach „rechts“ (ins konservative Lager) rutschen lässt. Damit wird für die SPD eine erkennbare Abgrenzung oder eine offensive Gegenposition zu CDU/FDP schwieriger und bei einer negativen allgemeinen Stimmungslage eine Wechselstimmung ausgelöst, die selbst einer Opposition, der die Menschen letztlich auch nichts zutrauen, an die Macht hilft.
Darauf zu hoffen, dass die Leute die SPD letztlich doch „als das kleinere Übel“ wählten, ist vergeblich, wenn es den Menschen egal wird, ob Sozialdemokraten oder Konservative das größere Übel über sie bringt. Im Gegenteil, gegenüber den „Sozis“ ist die Enttäuschung sogar noch größer. Allein mit den Wählerinnen und Wähler aus den Arbeitnehmerschichten und nur mit den Menschen, die das Gefühl haben, dass sie zu den „Modernisierungsverlierern“ gehören, oder ausschließlich mit den „kleinen Leute“, die darauf angewiesen sind, dass sie eine „politische Schutzmacht“ haben, wird die SPD zwar keine Mehrheit gewinnen, aber ohne diese große Zahl von Menschen wird auch die letzte verbliebene rot-grüne Landesregierung, nämlich die in NRW, ihre Mehrheit verlieren. Manche – vor allem Anhänger der SPD – haben uns vorgeworfen, wir würden schwarz malen. Die Niederlagen seien nicht darauf zurück zu führen, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Agenda-Kurs ablehne, sondern darauf, dass die „Reformen“ schlecht vermittelt worden seien, dass handwerkliche Fehler gemacht worden seien, dass die SPD nicht geschlossen genug sei, dass die Stimmung besser werde, wenn erst die Erfolge der Reformen einträten. Mit solchen oder ähnlichen Ausflüchten wurde eine Diskussion darüber verweigert, was die angeblich „objektiv notwendigen“ Reformen, gemessen an den damit verbundenen Versprechungen und Erwartungen, tatsächlich erbracht haben, ob die Richtung überhaupt stimmt und ob die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition gut beraten sind, einen Reformkurs fortzusetzen, der bei weiteren höchstens mäßigen Erfolgen allenfalls den Druck auf eine Erhöhung der Dosis verstärkt. Dass die Zahl der Arbeitslosen nach der Umsetzung der vierten und letzten Stufe der Hartz-Reformen im Laufe des Januar 2005 gegenüber dem Dezember 2004 –statistische Effekte hin oder her – noch einmal um über eine halbe Million betroffener Menschen angestiegen ist, hat viele, die – wenn auch von Zweifeln genagt – wenigstens noch eine gewisse Hoffnung auf die Hartz-Gesetze gesetzt hatten, bitter enttäuscht. Alle Umfragen beweisen es: Nur noch eine kleine Minderheit in der Bevölkerung glaubt an einen Wirkungszusammenhang zwischen den Reformen der Agenda und einer Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen oder bei der Altersversorgung. Und kaum einer glaubt noch daran, dass von diesen Reformen die dringend notwendige wirtschaftliche Belebung ausgehen könnte. Der Schock, den der Anstieg der Arbeitslosigkeit auf weit über 5 Millionen Menschen auch bei denjenigen ausgelöst hat, die (noch) einen Arbeitsplatz besitzen, konnte mit einem „He!de“-Wahlkampf in Schleswig-Holstein nicht aufgefangen werden.
Dort verlor die SPD bei den Arbeitern weit überdurchschnittlich, nämlich 13% und bei den Arbeitslosen 12% ihrer Wähler. Die SPD hat insgesamt etwa 76.000 Stimmen verloren. Ein großer Teil ehemaliger SPD-Wähler (50.000) wählten mit der CDU lieber gleich das Original statt der Kopie und ein beachtlicher Teil (30.000) resignierte und wählte gar nicht mehr. Auch in NRW sackte die SPD bei den jüngsten Umfragen (-3%) auf historisch einmalig niedrige 36% (bei Forsa) bzw. (-2) auf 35% (bei infratest dimap). Schwarz/Gelb bekäme nach der gegenwärtigen Stimmungslage am 22. Mai nach 39 Jahren SPD-Regierung eine Mehrheit. Die CDU macht auf ihrem Parteitag in Bochum auf Aufbruchsstimmung. Wie aber reagiert die SPD?
Der Kanzler fordert „Rückgrat bei den Reformen“, der Wirtschaftsminister ruft – wie die SZ so schön karikierte – „Folgt mir!“ und fordert mit verbundenen Augen auf dem Weg in den Abgrund eine weitere Senkung der Unternehmenssteuern – ohne sehen zu wollen, dass die schon gemachten Steuergeschenke an die Unternehmen zwar hohe Gewinne aber keinerlei Investitions- und schon gar keine Wachstumsdynamik ausgelöst haben. Dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück, der bei weitem nicht einen so hohen Amtsbonus erwerben konnte (42:34), wie seine Kollegin aus dem hohen Norden(51:37), und dem das Wasser derzeit schon weit über dem Hals steht, fällt nichts besseres ein, als ins Clementsche Horn zu pusten und zu fordern, „die Unternehmensbesteuerung wettbewerbsfähig (zu) machen“. Oder: „Wir brauchen dringend eine Senkung der zu hohen Lohnzusatzkosten“, oder: „Ich habe nie erwartet, dass Hartz IV nach acht Wochen bereits Rendite (?) abwirft“. (So im Interview in der FR v. 4.3.05).
Konjunkturprogramme hält er für „Schwachsinn“. (so in Bild am Sonntag v. 6.3.05) Ist das eigentlich Selbstkasteiung oder Gedächtnisverlust?
Als früherer Mitarbeiter im BMFT unter Hans Matthöfer und Volker Hauff von 1976 – 1981, hätte man gerade von ihm erwarten dürfen, dass er sich noch daran erinnerte, dass der „Schwachsinn“ der damaligen Konjunkturprogramme immerhin 1976 einen Wachstumsschub von 5,3% oder 1979 immerhin von 4,2% auslöste und die Arbeitslosigkeit deutlich absenkten. Steinbrück setzt offenbar lieber auf die Durchhalteparolen aus Berlin und hofft, dass er für seine Nibelungentreue zum Kanzler und zum Wirtschaftsminister vom Wähler gelobt wird, so als ob „Verlässlichkeit“ auf einem Kurs, der bislang keine vorzeigbaren Erfolge nachweisen kann, schon Sympathie und Vertrauen schaffen könnten. Von eigenständiger kritischer Bestandsaufnahme des „Reform“-Kurses, oder gar von einer Neujustierung keine Spur.
Wäre Steinbrück Wirtschaftsminister von NRW, könnte man ja noch Verständnis für seinen „Wirtschaftskurs“ aufbringen, nur, „die Wirtschaft“ wird ihn – bei allem Applaus für seine Grußworte – nicht wählen.
Was hat die SPD davon, wenn die Konservativen über den amtierenden Ministerpräsidenten erzählen, dass er zwar gegenüber seinem Herausforderer der bessere Mann für die Wirtschaft sei, dass er aber leider in der falschen Partei ist?
Obwohl er, oder gerade weil er nicht müde wird, den Jargon angebotsorientierter Ökonomen zu sprechen, trauen nur noch 27% der Wählerinnen und Wähler bei der Förderung des Wirtschaftsstandortes NRW der SPD mehr zu als der Union; die CDU kommt dagegen auf 44% (Umfrage im Auftrag des wdr in der Sendung „Westpol“ vom 6.3.05).
Für eine Mehrheit braucht er zumal als Sozialdemokrat eben vor allem die Arbeitnehmer, die Rentner und diejenigen, denen es schwer fällt, etwa die zusätzlichen Lasten der Gesundheitsreform zu tragen. Und gerade diese großen Wählergruppen wenden sich seit geraumer Zeit immer mehr von der SPD ab, weil sie sich von dieser Partei nicht mehr wahrgenommen, angesprochen und vertreten und schon gar nicht mehr geschützt fühlen. Wem die Veränderung der Farbe der politischen Landkarte in Deutschland, wem das letzte Dutzend Wahlen nicht die Erkenntnis eines dramatischen Vertrauensverlustes gerade der typischen SPD-Wählerschaft vermittelt hat, der stellt wohl die selbst eingeredeten „Sachzwänge“ über das demokratische Wählervotum oder noch härter: Der schafft eine Stimmung, bei der es den Menschen ziemlich egal ist, wer an der Regierung ist. Und da hilft dann auch nicht das Ausweichen auf einen Personalwahlkampf mehr – zumal der Amtsbonus nicht gerade groß ist. Da kann es auch nicht mehr ins öffentliche Bewusstsein vordringen, wenn der nordrhein-westfälische SPD-Vorsitzende und Wirtschafts- und Arbeitsminister, Harald Schartau, im Mittagsmagazin des wdr vom 3.3.05 sibyllinisch über „Maßnahmen zur Konjunkturankurbelung“ spricht:
„Sagen wir es mal so:Wir reden jetzt über ein Programm, das noch keiner kennt, und von dem noch nicht einmal jemand weiß, ob die Bundesregierung in der Tat will. Aber wenn sie solche Überlegungen anstellt – und ich halte Überlegungen zur weiteren Ankurbelung der Konjunktur an sich für unabdingbar, da muss schon was passieren…“ Mit so zaghaften Andeutungen kann man keinen Enttäuschten ansprechen. Und schon gar nicht kann man damit das Vorurteil von 44% der Wählerinnen und Wähler aufbrechen, dass die CDU eher in der Lage sei, Arbeitsplätze zu schaffen. Der SPD trauen das gerade mal noch 22% der Befragten zu. (s.o.„Westpol“ vom 6.3.05). Man kann es zwar sachlich nicht mehr verstehen, aber immerhin vielleicht noch aus taktischen Gründen nachvollziehen, dass die nordrhein-westfälische SPD 11 Wochen vor einer Wahl die Agenda-Politik der rot-grünen Bundesregierung nicht in Frage stellen möchte. Aber wenigstens könnte man energisch die Verbesserung des Betreuungsangebots bei der Bundesagentur für Arbeit einklagen, man könnte wenigstens Vorschläge machen, wie man sein Versprechen gegenüber der zunehmenden Zahl von arbeitslosen Jugendlichen auf ein konkretes „Arbeitsangebot“ einhalten möchte. Warum springt man nicht dem künftigen Vorsitzenden des Sachverständigenrates Bert Rürup zur Seite, der in diesem Jahr immerhin einen Verteilungsspielraum für Lohnerhöhungen von zwei Prozent sieht, damit die Binnennachfrage wieder stärker wird? Mit solchen Positionen könnte man wenigstens wieder mal daran erinnern, dass man vor lauter Verbesserungen der Investitionsbedingungen für die Unternehmen auch noch an die Arbeitnehmer denkt. Dass Steinbrück zusammen mit Stoiber und Milbradt bei der Anpassung der Rundfunkgebühren mal locker gegen alles Recht in die Finanzautonomie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eingegriffen haben, mag nur ein paar Intellektuelle und einige Eltern geärgert haben, die im Kommerzfernsehen eine Katastrophe für unsere Kinder sehen. Dass sich die Staatskanzlei mit völlig daneben liegenden Argumenten mit dem Westdeutschen Rundfunk anlegte, ärgert nicht nur das wdr-Personal vom Pförtner bis zum Intendanten, sondern viele Multiplikatoren weit über das Funkhaus hinaus. Warum muss man sich als Ministerpräsident einer rot-grünen Koalition, an die Spitze der Kritiker stellen, wenn es um das von Brüssel weitgehend vorgegebene und von Rot-Grün in Berlin schon ausgehandelte Antidiskriminierungsgesetz geht? Selbst wenn man sich dadurch erhoffte, bei der Wirtschaft, ja sogar bei grünenfeindlichen Betriebsräten und Belegschaften der chemischen Industrie Sympathien zu gewinnen, so sollte man doch gleichzeitig auch wissen, dass ein Streit zwischen Parteien einer bestehenden Regierungskoalition im Zweifel beiden Partnern schadet. Peer Steinbrück hat auf einem Programmkonvent im November 2004 in Bochum versucht, sein „Macherimage“ und seine „Unternehmerlastigkeit“ dadurch aufzulockern, dass er sich der Frage des „Zusammenhalts in unserer Gesellschaft“ gestellt hat. „Menschlich bleiben“, so lautete sein Appell..
Es war zwar für jeden Kundigen erkennbar, dass er damit einer Debatte um soziale Gerechtigkeit ausweichen wollte. Wer, wie er, so auf den Agenda-Kurs eingeschworen ist, dem hätte man natürlich auch nicht abgenommen, wenn er auf die in Nordrhein-Westfalen bewährte, schon zu Zeiten der CDU-Regierung unter Karl Arnold geprägte Erfolgs-Formel zurückgegriffen hätte, dass Nordrhein-Westfalen „das soziale Gewissen der Republik“ bleiben müsse. Das hätte aus seinem Mundes gesprochen allenfalls ironisches Schmunzeln ausgelöst.
Aber immerhin, er versuchte „weichere“ Töne anzuschlagen. Außer einem kräftiges Lob von Ehrenämtlern als „Helden des Alltags“ war das Thema aber leider kaum sachlich unterfüttert.
Man kann durchaus das Antidiskriminierungsgesetz nur unter dem Blickwinkel einer zusätzlichen Belastung für die Wirtschaft sehen, wenn man aber „Menschlichkeit“ zu einem politischen Anliegen erklärt, müsste man ein paar Sätze mehr zu einem solchen Gesetzesvorhaben und seinen Zielen sagen, als dass man ankündigt, es in der vorliegenden Form im Bundesrat zusammen mit CDU-Ministerpräsidenten ablehnen zu wollen.
Das passt mit der wohlklingenden Formel des Wahlprogramms „Das Herz nicht verlieren“ einfach nicht zusammen. „Mit Peer Steinbrück schaffen wir es“ lautet jetzt der Kampfruf der nordrhein-westfälischen SPD, wenn man aber einmal danach sucht, wo der Ministerpräsident oder wo etwa sein Wahlprogramm Themen oder Töne anklingen lassen, mit denen diejenigen Wählerinnen und Wähler angesprochen fühlen könnten, die sich von der SPD im Stich gelassen fühlen, dann kann man lange suchen. Peer Steinbrück gefällt sich vor allem in der Rolle desjenigen, der sagt „was Sache ist“. Dass es nur die verengte angebotsorientierte ökonomische Sicht auf die „Sache“ ist übersieht er leider meist. Und vor allem: Er scheint zu wenig im Blick zu haben, dass die „Sache“ etwas mit den Menschen zu tun hat. Es sind aber nicht die „Sachen“ die zur Wahl gehen, sondern die Menschen.
Weil es weniger darum zu gehen scheint, die „Sachen“ den Menschen anzupassen, sondern die Menschen „den Sachen“ (oder den angeblichen Sachzwängen), fällt es vielen Menschen schwer seiner Politik ihr Vertrauen zu schenken. Manchmal kann man sich des Gefühls nicht erwehren, als wäre Peer Steinbrück nur noch vom Willen beseelt, „klar zu sagen, was Sache ist“, als dass noch ein energischer Wille vorhanden wäre, in Nordrhein-Westfalen weiter zu regieren. Das wäre deshalb so schlimm, weil der Herausforderer Jürgen Rüttgers zwar regieren will, aber bisher in allem was er angepackt hat, bewiesen hat, dass er nicht regieren kann. Als Ministerpräsident würde er vermutlich eher als PR-Manager von IHK, DIHT, Gesamtmetall und anderer Systemveränderer fungieren. Der verbliebene Rest des Sozialstaates und der Arbeitnehmerrechte würden noch radikaler geschliffen. | Wolfgang Lieb | Bei nahezu allen Wahlen seit der Verkündung der Agenda 2010 ging es mit der SPD bergab. In Sachsen ist sie mit 9,8% gar als Splitterpartei angekommen. Auch das Ergebnis in Schleswig-Holstein (minus 4,4% für die SPD bei gleichzeitigen plus 5% für die CDU) hätte man noch vor kurzem als „politischen Erdrutsch“ bezeichnet. Für den SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering, war die Niederlage von Heide Si ... | [
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] | 08. März 2005 17:48 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=485 |
Hinweise des Tages 2 | Heute unter anderem zu folgenden Themen: Landtagswahlen; Brüderle-Affäre; Thomas Fricke – Und jetzt noch ein Pakt für den Frühling; Leistung die Leiden schafft; Athen versilbert Staatseigentum, will 50 Milliarden dafür; Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt; Einkommen für ausländische Fachkräfte: Brüderle strebt Senkung der Grenzen an; EGB warnt vor Brüsseler Lohnpolizei; Globalisierung: Seeleute zeigen Flagge; Lernen aus Japan?: Atomkraftbefürworter machen mobil; In den USA stehen die öffentlichen Bibliotheken unter Beschuss; Straßburger Richter sprechen Italien frei; Jemens Regierung rüstet sich für den Millionenprotest; Schutz für Straftäter in Uniform; Linke bekommen mehr Spitzel; Süß und kernlos; Gleich mehrfach gestraft: GEZ kassiert auch bei Soldaten im Ausland ab; Vorauseilender Gehorsam beim NDR – Dann lieber Praktikanten; Wilfried Schmickler – Die Gier; Großdemonstration gegen Atomkraft am Samstag; zu guter Letzt: Volker Pispers – Atomunfall in Japan, Krieg in Libyen (JB)
Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert: Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin. | Jens Berger | Heute unter anderem zu folgenden Themen: Landtagswahlen; Brüderle-Affäre; Thomas Fricke - Und jetzt noch ein Pakt für den Frühling; Leistung die Leiden schafft; Athen versilbert Staatseigentum, will 50 Milliarden dafür; Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt; Einkommen für ausländische Fachkräfte: Brüderle strebt Senkung der Grenzen an; EGB warnt vor Brüsseler Lohnpolizei; Globalisierung: Seeleute ... | [] | [
"Hinweise des Tages"
] | 25. März 2011 16:31 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=8821 |
Inhalt und Vorwort des neuen Kritischen Jahrbuchs | Wir sind jetzt in der Schlussproduktion des Kritischen Jahrbuchs 2009/2010. Hier die notwendigen Informationen und hier auch noch das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort. Das Kritische Jahrbuch erscheint am 15. Dezember und wird noch vor Weihnachten ausgeliefert. Bitte bestellen Sie bald. Es hilft Ihnen zu Ihrer eigenen Orientierung und auch als Hinweis auf die NachDenkSeiten bei Personen, die diese Informationsquelle noch nicht kennen. | Albrecht Müller | Wir sind jetzt in der Schlussproduktion des Kritischen Jahrbuchs 2009/2010. Hier die notwendigen Informationen und hier auch noch das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort. Das Kritische Jahrbuch erscheint am 15. Dezember und wird noch vor Weihnachten ausgeliefert. Bitte bestellen Sie bald. Es hilft Ihnen zu Ihrer eigenen Orientierung und auch als Hinweis auf die NachDenkSeiten bei Personen, die ... | [
"Das kritische Jahrbuch"
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"Aufbau Gegenöffentlichkeit",
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] | 24. November 2009 15:14 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=4360&share=email |
Bild: Im Namen des Volkes gegen dessen Interessen | Das Mysterium „Bild“ beschäftigte schon Generationen von Medienkritikern, auch die Nachdenkseiten haben ihre Kampagnen gegen den Sozialstaat, gegen Transfer-Empfänger und Minderheiten analysiert. Nun haben sich auch Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz im Auftrag der Otto Brenner Stiftung (OBS) an die Aufgabe herangewagt, Deutschlands größte Tageszeitung zu analysieren. In ihrer Studie »Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihre Mägde« gelingt es den beiden Autoren, die Bild ein Stück weit zu entmystifizieren und einen Blick auf einige ihrer Wirkmechanismen zu werfen. Auch wenn noch viele Fragen offen bleiben, so stellt die aktuelle OBS-Studie eine wertvolle Hilfe für all diejenigen dar, die sich ein genaueres Bild von der Bild machen wollen. Jens Berger
Wer würde der Aussage widersprechen, dass die Bild-Zeitung das am stärksten polarisierende Medium der Republik ist? Wahrscheinlich niemand – und genau in der Polarisierung besteht der große Erfolg der Bild-Zeitung. Doch streng genommen ist diese Aussage falsch – zum Polarisieren gehört nämlich nicht nur eine große Gegnerschaft, sondern auch eine große Anhängerschaft. Die Bild ist zwar Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, öffentlich bekennende Anhänger sind jedoch eher Mangelware. Bild stützt sich vielmehr auf eine von ihr selbst ernannte „schweigende Mehrheit“. Die wohl überraschendste These des Medienwissenschaftlers Hans-Jürgen Arlt und des Publizisten Wolfgang Storz ist, dass es sich bei der Bild gar nicht um ein journalistisches Produkt handelt. Um journalistischen Mindeststandards zu genügen, müsste die Bild nicht nur journalistisch arbeiten, sondern zunächst einmal überhaupt den Vorsatz haben, den Leser zu informieren. Das ist bei der Bild aber gerade nicht der Fall. Die Bild bildet die Realität nicht ab, sie versucht die Wirklichkeit nach ihrer Weltsicht zu formen, und wenn ihr das nicht gelingt, beschreibt sie eben eine Scheinrealität. Was nicht in das Raster der Bild-Meinung passt, wird ignoriert. Statements werden nicht rezipiert, sondern selbst produziert. Diese Charakterisierung mag in abgeschwächter Form auf viele Medien zutreffen, in einer derartigen Konzentration ist sie jedoch nur bei der Bild-Zeitung zu finden. Die Bild ist demnach eher ein PR-Organ in eigener Mission, nicht „Fakt“, sondern „Fiktion“. Der fehlende Wahrheitsanspruch und die mangelnde Übereinstimmung mit der Realität werden dabei nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sind geradezu Grundpfeiler der Blatt-Strategie. Die „Pleite-Griechen“-Kampagne Um die Methodik der Bild-Zeitung zu sezieren, untersuchten Arlt und Storz exemplarisch die Bild-Berichterstattung während der Euro- und Griechenland-Krise. In den Monaten März bis Mai 2010 erzählte die Bild-Zeitung ihren Lesern eine von Anfang an „durchgestylte“, dramaturgisch aufbereitete Fiktion, die mit der Realität nur ansatzweise etwas zu tun hatte und mit ökonomischer Rationalität schon gar nicht, die aber wegen ihrer emotionalen Stilblüten nationales Interesse hervorrief. Das Drehbuch war denkbar einfach, von Stereotypen durchzogen und appellierte dabei nicht nur an altbekannte Ressentiments, sondern auch an niedrigste Instinkte. (aus der OBS-Studie »Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihr Mägde«) Aufbauend auf diesem Grundgerüst hämmerte die Bild über drei Monate in 121 Artikeln ihre Version von der Griechenland-Krise in die veröffentlichte Meinung. Dabei nahm sie einerseits äußerst selektiv korrekte Fakten auf, drehte sich andere so zurecht, bis sie ins eigene Bild passten und ließ andererseits sämtliche Tatsachen und Argumente weg, die Zweifel an der Bild-Version wecken könnten. So wurde beispielsweise in den 121 Artikeln kein einziges Mal erwähnt, dass es sich bei den „Griechenland-Hilfen“ der EU nicht um ein Geschenk, sondern um Kredite handelt, die – ordentlich verzinst – auch wieder zurückgezahlt werden müssen. Wenn es sich bei der Bild um ein journalistisches Produkt handeln würde, so könnte man hier mit Fug und Recht von Manipulation sprechen. Wenn man allerdings der Argumentation von Arlt und Storz folgt, nach der die Bild ein fiktionales Werk ist, sind diese Manipulationen vielmehr integraler Bestandteil der Bild-Zeitung. Anhand des Beispiels Griechenland-Berichterstattung lässt sich das Muster der Bild-Kampagnen entschlüsseln: Bild versucht nicht, die Komplexität eines Sachverhaltes zu vermitteln, sondern bricht diesen Sachverhalt mit aller Macht auf eine Erzählebene herunter, die auf latenten Vorurteilen aufsetzt und die der Leser auch ohne jegliches Hintergrundwissen sofort versteht. Hier sind die Guten (das sind „wir“, die Bild-Leser), dort sind die Bösen. Die Guten sind fleißig, ehrlich, redlich und sparsam, die Bösen sind faul, verlogen und wollen nur unser Geld, das „wir“ hart erarbeitet haben. Dabei wird moralisiert, emotionalisiert und personifiziert, was das Zeug hält. Bei näherer Betrachtung erinnert die Bild-Version der Geschehnisse eher an ein Stück aus dem Kasperle-Theater. Die handelnden Personen sind „der (böse) Grieche“, „der (gute) deutsche Steuerzahler“ und „die Bundeskanzlerin“, die nach dem festgelegten Plot unter dem Beifall der Zuschauer für Recht, Ordnung und Gerechtigkeit sorgen soll. Bild beschreibt nicht die Realität, sondern versucht sie zu formen Um dieser – doch recht profanen – Erzählstruktur den Anschein journalistischer Arbeit zu geben, bedient sich die Bild-Zeitung des vollen medialen Instrumentariums. In der Bild gibt es Interviews, Kommentare und Leitartikel, persönliche Briefe die jedoch stets nicht darum bemüht sind, dem Leser alternative Sichtweisen zu eröffnen, sondern sich wie aus einem Guss in die Erzählstruktur einfügen. Journalistische Arbeit besteht beispielsweise darin, Interviewpartner zu suchen, die zu dem jeweiligen Thema etwas Strittiges, Kompetentes, Neues oder Interessantes beitragen können. Bei der Bild steht die vorgefertigte Aussage im Mittelpunkt und erst danach sucht sich die Bild eine Person, die sich mit dieser Aussage zitieren lässt. Zwar ist es der Bild natürlich am liebsten, wenn diese Person Rang und Namen hat, zur Not begnügt man sich aber auch mit Hinterbänklern oder Randfiguren mit geringem Renommee. So übernahm während der Griechenland-Krise beispielsweise der „FDP-Finanzexperte“ (Bild) Frank Schäffler wiederholt die Rolle des Zitatlieferanten. Irgendein Hinterbänkler oder Polit-Ruheständler findet sich anscheinend immer, wenn die Bild einen Namen für jede noch so abstruse These benötigt. Neben Schäffler nahmen während der Griechenland-Krise auch immer wieder der berühmt-berüchtigte Hans-Werner Sinn und der Steuerzahler-Präsident Karl Heinz Däke die Rolle des “Experten“ zur Bild-These an. Die Betrachtung der Griechenland-Berichterstattung erfüllt für Arlt und Storz dabei nur das konkrete Beispiel, anhand dessen sie die „Methode Bild“ auch im Großen zu erklären versuchen. Dabei gehen sie sehr gründlich vor. Neben der Sprache, der Bild-Auswahl, der Typografie und publizistischen Feinheiten gibt es kaum ein Feld, das die Autoren nicht analysieren, und in ihre These, die Bild-Zeitung sei kein journalistisches Produkt, einpassen. Besonders interessant fällt dabei die Suche nach dem eigentlichen Erfolgsrezept der Bild-Zeitung aus: Wie kann eine Zeitung, die nicht journalistisch arbeitet und der noch nicht einmal von ihren eigenen Lesern geglaubt wird, eigentlich den Anspruch erheben, ein „Leitmedium“ zu sein? Die Antwort auf diese Frage bleibt jedoch auch nach der Lektüre der Studie offen. Die Funktion des „Leitmediums“ Bild scheint vielmehr eine selbsterfüllende Prophezeiung zu sein – solange die gesellschaftlichen und politischen Eliten an das „Leitmedium“ Bild glauben und ihre Beziehung zu Bild an diesem Glauben ausrichten, wird die Bild auch ein „Leitmedium“ sein. Die Bild-Zeitung inszeniert sich als Leitmedium und die Republik fällt nur allzu gerne auf diese Inszenierung herein. Für ihre Inszenierung greift die Bild regelmäßig auf moderne Marketingmethoden zurück. Das Bild-Logo ist omnipräsent und die Bild gibt Millionen Euro für Werbekampagnen aus, bei denen nicht das Produkt, sondern das Image beworben wird. Dafür nutzt die Bild willfährige Prominente, die sogar kritische Stimmen zu Bild äußern dürfen. Die Kritik gehört jedoch zum Programm, „beweist“ sie doch, dass Bild ernst zu nehmen ist und polarisiert. Nur wenige Prominente, wie die Sängerin Judith Holfernes, durchschauen dieses Spiel und weigern sich, ihren guten Namen für die Bild herzugeben. Selbst der Linken-Politiker Gregor Gysi wirbt mit seinem Namen für die Bild, obgleich er in deren Berichterstattung auf einer Stufe mit dem Leibhaftigen steht. Im Namen des Volkes gegen dessen Interessen Die Bild stellt sich selbst konsequent und penetrant als „Stimme des Volkes“ dar. Mit Vorliebe tut die Bild so, als sei sie der Anwalt des kleinen Mannes, der dessen Interessen gegen „die da oben“ vertritt. So wenn etwa persönliches Fehlverhalten von Politikern oder einzelnen Wirtschaftsbossen angeprangert wird. Bei näherer Betrachtung zerfällt diese Selbstdarstellung jedoch zu Staub. Bild vertritt in der Grundlinie stets die Interessen der Eliten und versucht, diese mittels populistischer Verdrehung als die Interessen des Volkes zu verkaufen. Bild stellt den kleinen Hartz-IV-Betrüger als moralisch verkommenes Wesen dar, geht aber regelmäßig mit den „Großkopferten“, wie beispielsweise dem AWD-Gründer Christoph Maschmeyer, „ins Bett“. Wirtschafts- und sozialpolitisch vertritt die Bild stets Positionen, die sich gegen die Interessen des kleinen Mannes richten. Der große Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit geht jedoch auch an den Bild-Lesern nicht spurlos vorbei. Sobald es um konkrete Reizthemen geht, hat das Volk ganz andere Vorstellungen als die selbsternannte Stimme des Volkes. So fährt die Bild beispielsweise seit Jahren eine Kampagne gegen Mindestlöhne, die bei den Lesern nicht wirklich anzukommen scheint. In jeder Umfrage hat hier die übergroße Mehrheit des Volkes eine diametral andere Meinung als Bild. Auch bei anderen Reizthemen taucht dieser Konflikt immer wieder auf. Einzig bei nicht-politischen Themen kann die Bild-Zeitung bei ihren Lesern als „die Stimme des kleinen Mannes“ noch punkten. Folgt man der Argumentation von Arlt und Storz, wird die Bild ohnehin nicht wegen des Politikteils gelesen. Die berühmt-berüchtigte „Seite 2“ mit den politischen Kommentaren und den als Nachrichten getarnten Manipulationen sei – so die Autoren – die am wenigsten gelesene Seite des Blattes. Paradoxerweise wird diese „Seite 2“ jedoch von Politik und Medien als großer Machtfaktor angesehen. Politiker haben Angst, von der Bild schlecht dargestellt, ja geradezu verfolgt zu werden und verweigern dem Springer-Blatt daher nur sehr selten einen Wunsch. Besonders schwer wiegt jedoch der Umstand, dass die politischen Eliten nicht zwischen Volkes Meinung und der Meinung der Bild unterscheiden können. Für sie – und wahrscheinlich nur für sie – besteht zwischen diesen beiden Meinungen kein Unterschied. Bild macht Politik, nicht indirekt, sondern direkt. Da die Bild grundsätzlich eine (rechtspopulistisch) konservative und marktliberale Linie vertritt, ist es für die Parteien dieses Spektrums natürlich verführerisch, die Bild als Sprachrohr des Volkes zu sehen. Vielleicht ist die momentane Schwäche von Union und FDP auch auf diese (Selbst-)Täuschung zurückzuführen. Schwarz-Gelb regierte zwar zwei Jahre am Volk, aber nicht an der Bild-Zeitung vorbei. Nun kassiert man in Berlin die Quittung dafür. (aus der OBS-Studie »Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihr Mägde«) Der politische Teil der Bild-Zeitung ist jedoch mehr als ein profanes politisches Sprachrohr der Bild-Macher. Ohne Politikteil wäre das Image der Bild ein anderes – sie würde ihre gefühlte Leitmedienfunktion verlieren und würde insgesamt weniger ernst genommen und wohl weniger gekauft werden. Selbstverständlich ist die Bild nicht „nur“ ein Meinungs-, sondern vor allem ein Geldmacher. Die Bild gehört trotz kontinuierlich sinkender Auflage zu den profitabelsten Printmedien der Welt. Die Angstmaschine und was man gegen sie tun kann In einem Song der Band „Die Ärzte“ wird behauptet, die Bild bestünde aus „Angst, Hass, Titten und dem Wetterbericht“. Dem ist nur schwer zu widersprechen – die Wirkung und die Macht von Bild erstrecken sich weniger auf das Feld der konkreten politischen Einflussnahme, sondern vielmehr auf die emotionale – und vielfach irrationale – Ebene. Ihre Kampagnenfähigkeit hat die Bild laut Arlt und Storz schon lange verloren. Auch das in der OBS-Studie beobachtete Beispiel der Bild-Kampagne gegen die EU-Hilfen für Griechenland blieb bekanntermaßen – trotz anfänglicher verbaler Annährungen der Regierung an die Bild-Linie – erfolglos. Die Studie führt auf, dass die Anstrengungen der Bild in diesem Fall von der Bundesregierung ganz einfach ignoriert wurden. Dem ist jedoch kritisch entgegenzuhalten, dass die Bundesregierung zu Beginn der Krise sehr wohl an ihrer monetaristischen Linie festhalten wollte, die sich letztlich – wenn auch auf anderem Niveau – gar nicht so sehr von der Bild-Linie unterscheidet. Wenn diese Kampagne auf die Leserschaft überhaupt eine Wirkung hatte, dann die, die Politik- und Politikerverdrossenheit noch weiter zu steigern. Die Bild vermag es, die Regierungspolitik auf eine bestimme Linie zu drängen. Das galt für Gerhard Schröder, der meinte „mit Bild, BamS und Glotze“ regieren zu können, und das gilt ebenso für Angela Merkel. Bild ist ein Sprachrohr für mächtige wirtschaftliche Interessen und erledigt deren populistische „Drecksarbeit“. So ist Bild unmittelbar verbandelt mit der Finanzwirtschaft (z.B. bei der Kampagne für die VolksRente mit der Allianz). Momentan macht sie macht sich wieder einmal zur Propaganda-Agentur für die Atomlobby (Kohl-Interview, durch Schüren von Ängsten vor steigenden Stromkosten ohne Atomkraftwerke). Die Bild-Zeitung ist kleinbürgerlicher Wegbereiter für einen rechtspopulistischen Trend in Deutschland und bereitet ähnlich wie in der Weimarer Zeit die Hugenberg-Presse den Boden für eine rechts-konservative Politik im Interesse von mächtigen Wirtschaftsinteressen. Bild hetzt! – gegen alles, was nicht ins erzkonservative, stets nationalchauvinistisch geprägte Raster der Bild passt. Bild hat sich Sarrazin, wie ein Bauchredner seiner Puppe bedient. Bild hetzt gegen Migranten, gegen den Islam, gegen Linke, gegen die 68er und ihre Erben, gegen liberale Werte und gegen Arbeitslose sowie Hartz-IV-Empfänger. Bild ist sozialdarwinistisch bis ins Mark und steht dabei weit außerhalb des ansonsten gesellschaftlich tolerierten politischen Spektrums. Bild blockt die Empörung vieler Menschen über soziale Ungerechtigkeiten gegen die „Gewinner“ aus den Verteilungskämpfen ab und lenkt den Zorn auf die sozial an den Rand Gedrängten, auf Minderheiten und auf Ausländer. Bild schürt den „Klassenkampf im Armenhaus“. Diese Hetze zeigt – anders als die politischen Kampagnen – auch sehr wohl ihre Wirkung. Wenn man der Frage nachgeht, warum Teenager in der brandenburgischen Pampa, in der es fast keine Migranten gibt, ausländerfeindlich werden, findet man die Antwort in der Bild. Und mit der Sarrazin-Kampagne ist es Bild gelungen das politische Spektrum ins Rechtspopulistische zu verschieben. Die wirkungsvollste Waffe gegen die Bild ist die Ächtung. Wobei Ächtung in diesem Zusammenhang weit über die populäre (Stammtisch-)Kritik hinausgeht, mit der Bild ganz offen kokettiert. Das Image des Underdogs, der – nicht immer eleganten – Stimme der schweigenden Mehrheit lässt sich nur dann zerstören, wenn man die Bild ganz klar dort verortet, wo sie sich ja auch befindet – nicht innerhalb, sondern außerhalb der nach demokratischen Maßstäben tolerierbaren Meinungspluralität. Die Achillesferse von Bild wäre für Arlt und Storz deren Reputation. Doch anstatt Bild auszugrenzen, umarmen die politischen und gesellschaftlichen Eliten das publizistische Schmuddelkind; anstatt sie zu enttarnen – oder zumindest zu ignorieren – zitieren die „Qualitätszeitungen“ immer wieder unvoreingenommen aus diesem Medium, dem man nach strenger Auslegung journalistischer Maßstäbe das Attribut „Zeitung“ entziehen müsste. Schlussendlich erinnert Bild an den Kaiser mit seinen neuen Kleidern aus Andersens Märchen. Um die Öffentlichkeit erkennen zu lassen, dass der Kaiser nackt ist, braucht es jedoch mehr als eine OBS-Studie. Aber jeder große Marsch beginnt mit dem ersten Schritt. Leider verliert sich die OBS-Studie im zweiten Teil sehr häufig in technischen Fragen, die zwar für Journalistik-Studenten relevant sein mögen, das breite Publikum aber weniger interessieren dürften. Sehr viele Manipulationen der Bild werden von den Autoren ganz einfach unter den Tisch fallen gelassen. Vor allem die neoliberale Agenda der Bild wird in der OBS-Studie nur am Rand gestreift. Auch wenn es nicht Zielsetzung der Studie war, eine allumfassende Medienkritik zu erheben, muss man den Autoren doch vorhalten, dass hier ohne Not kritisches Potential verschenkt wurde. | Jens Berger | Das Mysterium „Bild“ beschäftigte schon Generationen von Medienkritikern, auch die Nachdenkseiten haben ihre Kampagnen gegen den Sozialstaat, gegen Transfer-Empfänger und Minderheiten analysiert. Nun haben sich auch Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz im Auftrag der Otto Brenner Stiftung (OBS) an die Aufgabe herangewagt, Deutschlands größte Tageszeitung zu analysieren. In ihrer Studie »Drucksa ... | [
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Der ungehörte Lehrerprotest | Plötzlich erkennen Politiker die Schulschließungen als „Fehler“ der Corona-Politik an. Über die menschenverachtenden und sinnlosen Vorschriften, denen Kinder und Jugendliche über ein Jahr lang in der Schule ausgesetzt waren, sowie über die Lehrer, die protestierten und einen hohen Preis zahlten, soll möglichst niemand mehr sprechen. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Bedingungen, die er selbst nicht schaffen kann“, erklärte einst der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde. Es liege allein an den Bürgern, Verantwortung für ihr freiheitliches Gemeinwesen zu übernehmen, um dessen Fortbestand zu sichern. In der größten Krise seit Bestehen der Bundesrepublik hatten Lehrer an staatlichen Schulen die Aufgabe, beispiellose staatliche Repressionen gegenüber Kindern und Jugendlichen durchzusetzen. Im Gegensatz zu Böckenfördes Mahnung taten die meisten dies reibungslos, teils verbissen, vor allem aber unhinterfragt: Sie trennten, testeten und maskierten die jungen Menschen, zwangen sie zur regelmäßigen Preisgabe ihres „Impfstatus“, schlossen sie von Prüfungen oder gleich ganz von der Schule aus, und nicht selten demütigten sie sie öffentlich, wenn sich Kinder und Jugendliche den euphemistisch „Maßnahmen“ genannten Rechtsverstößen nicht zu 100 Prozent beugten. Denunziation gehörte an vielen Schulen plötzlich zur Tagesordnung und wurde von Lehrern teilweise energisch befördert. Die wenigen Pädagogen, die ihre Zweifel artikulierten oder sogar offen protestierten, ernteten mindestens die soziale, teilweise aber auch die physische Ausgrenzung aus ihren Kollegien sowie massive Probleme mit den Vorgesetzten und Behörden bis hin zur Kündigung, wie die folgenden Geschichten belegen. Von Paul Pretoria[*]. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Protest durch Remonstration? Verbeamteten Lehrern steht zum Protest das Instrument der sogenannten Remonstration zur Verfügung. Das Wort stammt vom Lateinischen ab und bedeutet die formelle Darlegung von Argumenten und Fakten gegen eine als unrechtmäßig angesehene Anweisung. In der Realität bedeutet sie das Ende der Beamtenlaufbahn. „Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen [müssen] unverzüglich […] geltend“ gemacht werden, verkündet das Bundesbeamtengesetz, und der Beamtenbund ergänzt, dies diene „der behördeninternen Selbstkontrolle“ sowie „der haftungs- und disziplinarrechtlichen Entlastung des Beamten bei rechtswidrigen Weisungen“. Wird eine Weisung trotz Remonstration von zwei vorgesetzten Instanzen aufrechterhalten, müssen Beamte sich fügen, allerdings nicht, wenn „das aufgetragene Verhalten die Würde des Menschen verletzt“. So weit die Theorie. (Zur wechselhaften Geschichte des deutschen Remonstrationsrechts siehe hier) Wie die folgenden persönlichen Berichte belegen, war der Weg der Remonstration gegen Coronamaßnahmen ausnahmslos aufreibend, entmutigend und sinnlos. Lehrer, die ihre Fragen und Bedenken minutiös mit Links zu Studien, Rechtsgutachten, Gesundheitsbehörden und Fachartikeln untermauerten, wurden mit zwei Sätzen und mit Hinweis auf die aktuelle Verordnung abgespeist. Eindringlich vorgetragene Gewissensnöte wurden in eiskaltem Behördendeutsch vom Tisch gefegt. Gerne arbeiteten die Behörden mit kafkaesken Verwirrungstaktiken. So wurde landauf landab erklärt, man könne nicht gegen Verordnungen remonstrieren, sondern nur gegen Anweisungen der Schulleitung. Als ob das eine vom anderen unabhängig sei. Damit wurde versucht, die Schulleitungen aus der Schusslinie und den Lehrern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Manche Behörden gingen so weit, die überragende Bedeutung der Remonstrationspflicht zu betonen, um im nächsten Satz festzustellen, dass man im Falle der Coronamaßnahmen definitiv nicht remonstrieren könne. Kurzum: Die menschliche und grundrechtliche Katastrophe, die per Verordnung über die Schulen gekommen war, wurde mit allen Mitteln der Verwaltungskunst totgeschwiegen und ignoriert. Blieben die Lehrer stur und widersetzten sich weiter, weil sie bestimmte Handlungen nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, wurden sie bedroht und eingeschüchtert. Viele von ihnen haben das staatliche Schulsystem in der Folge verlassen. Die ach so hoch gepriesene Remonstration, so viel ist sicher, erwies sich angesichts noch nie dagewesener staatlicher Übergriffigkeiten gegenüber den jüngsten Gesellschaftsmitgliedern als stumpfes Schwert. Die wenigen, die es schwangen, schadeten nur sich selbst. Schützen konnten sie niemanden, nicht die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen und schon gar nicht das freiheitliche Gemeinwesen. Den Schulfrieden gestört Jan Voigt ist Diplommathematiker und Quereinsteiger in der Lehrerausbildung an einer weiterführenden Schule. Er stört sich an der fehlenden Evidenz für die Wirksamkeit der sogenannten Alltagsmaske. Folglich trägt er sie selbst nicht und zwingt auch die Schüler nicht dazu. Als er zur Schulleitung zitiert wird, betont er mangelnde Untersuchungen zu Wirksamkeit und Gefahrenpotenzial der Masken. Die Antwort lautet: Die Regeln werden nicht in der Schule gemacht, müssen aber befolgt werden. Der Lehrer fragt vergeblich, wer für eventuelle Schäden hafte. „Ich habe mich gefragt, wo die Grenze des Gehorsams in der Schule ist“, erinnert er sich. Als er die Maske weiterhin nicht trägt und bei der Schulleitung Beschwerden eingehen, erhält er eine schriftliche Dienstanweisung, die Maske zu tragen und auch die Schüler dazu zu zwingen. Er remonstriert mit einem kurzen Schreiben, in dem er seine Fragen zur möglichen Schädlichkeit bei gleichzeitiger Wirkungslosigkeit der Masken formuliert. Er erhält keine Antwort. Im neuen Schuljahr spitzt sich der Konflikt zu. Es herrscht jetzt die durchgehende FFP2-Maskenpflicht für alle auf dem gesamten Schulgelände. Schon Zehnjährige tragen die Maske mindestens fünf Stunden täglich. Gleichzeitig wird die Testpflicht zu Hause eingeführt, und Lehrer müssen sogenannte Nachtests, die vor der Schule vergessen wurden, beaufsichtigen und dokumentieren. Voigt schreibt an die Schulleitung und rechnet anhand von Zahlen des RKI die hohe Falsch-positiv-Rate der Selbsttests vor. Wie ist es zu rechtfertigen, dass gesunde Schüler aufgrund falscher Testergebnisse verängstigt und isoliert werden, fragt er. Auch diese Frage bleibt unbeantwortet. Wenige Tage später verlässt eine Schülergruppe seinen Unterricht, begibt sich zur Schulleitung und erklärt dort, Herr Voigt setze die Maskenpflicht nicht streng genug um. Der Schulleiter übernimmt daraufhin die laufende Unterrichtsstunde und stellt das allgemeine Maskentragen sicher. Es folgt ein Gespräch mit dem Dezernenten. Voigt störe durch sein eigensinniges Verhalten den Schulfrieden nachhaltig, wird ihm vorgeworfen, es gebe Beschwerden von Kollegen, Eltern und Schülern. Er habe im „System Schule“ sämtliche Vorgaben umzusetzen, seine fortgesetzte Weigerung könne zur Kündigung führen. Das Unterrichten wird ihm nunmehr untersagt. Der Pädagoge betont seine Pflicht zu remonstrieren, wenn er von der Unrechtmäßigkeit von Anweisungen überzeugt sei, und erklärt, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Maske auch nach zwei Jahren nicht stattgefunden habe. Er erlebe, dass viele Kinder unter Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit litten und dankbar seien, wenn sie die Masken kurz abnehmen dürften. Er könne darin keine Störung des Schulfriedens sehen. Die Studien zu Schäden durch Maskentragen, die der Lehrer mitgebracht hat, möchte der Dezernent nicht sehen. Voigt bietet an, den CO2-Gehalt der Luft unter einer Schülermaske probehalber zu messen. Es wird abgelehnt. Er fragt, was der Sinn von CO2-Messgeräten in den Klassenzimmern sei, wenn der CO2- Gehalt unter den Masken weitaus höher sei als in der Luft im Klassenzimmer. Er erntet Schulterzucken. „Dieses krasse Beispiel hat mir gezeigt, dass die Kollegen das eigene Denken eingestellt hatten“, so der Lehrer. Wenige Tage nach diesem Gespräch erhält er die außerordentliche Kündigung. Darin werden seine Verletzungen der Corona-Verordnung pedantisch anhand von Tagen, Unterrichtsstunden und Aussagen im Kollegenkreis aufgelistet. Es wird deutlich, dass er unter genauer Beobachtung durch die Schulgemeinschaft gestanden hatte. Sein Verhalten verstoße nicht nur gegen „geltendes Recht“, sondern setze Schüler und Kollegium einer erheblichen Gesundheitsgefahr aus, so die Behörde. Eine „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ sei nicht mehr möglich. Jan Voigt arbeitet nun an einer freien Schule. Sein Fazit: Charakterlich ungeeignet Marian Nöhre ist Beamter auf Probe an einem Berufskolleg. Er arbeitet viel mit Schülern in schwierigen Verhältnissen, hat Sonderpädagogik studiert. In seiner Freizeit rappt er mit den Rapbellions. Seine Zwischenbewertung von Schulleitung und Ausbildern ist sehr gut, er sei ein toller Lehrer, wird ihm bescheinigt. „Die Maskenpflicht war ein Warnschuss für mich“, erinnert er sich. „Ich wusste, dass das für viele unserer Schüler sehr schlimm werden würde.“ Nachdem er beobachtet, wie eine Schülerin unter der Maske kollabiert, verfasst er seine erste Remonstration. Zu diesem Zeitpunkt müssen „Alltagsmasken“ in der Schule getragen werden. Der Pädagoge belegt anhand des RKI, dass Alltagsmasken keinen Fremdschutz gewährleisten. Genau das werde den Schülern aber suggeriert. Er wisse, dass auch asthmatische Schüler keine Maskenbefreiung bekämen, so der Lehrer, weil die Ärzte Angst hätten. Er zitiert unter anderem Christian Drosten und Karl Lauterbach, die Masken vor Corona als wirkungslos bzw. bei falscher Handhabung als gefährlich bezeichnet hatten. Die Maskenpflicht in der Schule sei nicht nur unsinnig, sondern verfassungswidrig, so sein Fazit, er könne sie nicht umsetzen. Die Behörde antwortet nicht. Der Schulalltag wird zunehmend belastend für Nöhre. „Zwillinge liefen an ihrem Geburtstag Hand in Hand herum. Eine Lehrerin stürzte auf sie zu und trieb sie hysterisch auseinander. Die Leute sind durchgedreht“, erinnert sich Nöhre. „Schüler wurden nach Hause geschickt, wenn die Maske nur ein bisschen schief saß. Ich hatte morgens vor der Schule Herzrasen und Atemnot vor Stress.“ Die Vorgaben verschärfen sich weiter. Es folgen die FFP2-Maskenpflicht sowie die Testpflicht. „Man hat den volljährigen Schülern das Kindergeld gestrichen, wenn sie die Tests nicht gemacht haben“, so der Lehrer. „Wir haben die Jugendlichen massiv genötigt.“ In seiner zweiten Remonstration wiederholt Nöhre seine Bedenken bezüglich der Maskenpflicht, verweist auf die mittlerweile umfangreiche Studienlage und signalisiert trotzdem seine Bereitschaft, sich eines Besseren belehren zu lassen. Bezüglich der Tests betont er, dass die Infektiosität asymptomatischer Menschen nie nachgewiesen worden sei. Die Tests seien unzuverlässig, potenziell gefährlich und unverhältnismäßig. Sie seien nur angeblich freiwillig, in Wirklichkeit bestehe enormer Druck auf die Jugendlichen. Er kündigt an, die Tests weder anzuleiten noch zu dokumentieren. Das sei „offensichtlich falsch“. Das Schreiben endet mit einer Liste von Fragen: Warum kommt Schweden ohne Nötigung von Schülern aus? Wie schützen die Maßnahmen in der Schule die gefährdeten Personen in der Gesellschaft? Ist es verhältnismäßig, jungen Menschen auf Verdacht ihre Grundrechte zu entziehen? Wie können Beamte angesichts von politisch motivierten Maßnahmen neutral bleiben? Wenige Tage später kommt eine Antwort der Bezirksregierung, die plötzlich auch auf seine erste Remonstration eingeht. Seine Einwände werden allerdings ignoriert. Dagegen betont die Behörde, Remonstrationen gegen Erlasse seien grundsätzlich nicht möglich. Es folgt eine schriftliche Missbilligung, auf die Nöhre nicht reagiert, weil er immer noch auf eine inhaltliche Klärung hofft. Wenige Tage später schreibt ihm sein Schulleiter in einer sehr kurzen E-Mail, er habe eben erfahren, dass der heutige Tag Nöhres letzter Arbeitstag gewesen sei. Nöhre möge so gut sein, seine Sachen schnellstmöglich abzuholen und seine Schlüssel abzugeben. Als der angehende Lehrer seiner Frau die E-Mail zeigen möchte, ist sein Schulmail-Konto bereits gesperrt. Die junge Familie ist von einem Tag auf den anderen ohne Einkommen. Die offizielle Kündigung kommt per Post. Nöhre fehle die „charakterliche Eignung“ für den Beamtenstatus, so die Bezirksregierung. Er sei unfähig, sich „im Schulsystem zu integrieren und Dienstanweisungen zu befolgen“. Zusätzlich zur Weigerung, Coronamaßnahmen umzusetzen, werden ihm Verspätungen, Täuschung von Kollegen sowie sein Interview mit dem Kanal @FaktenFriedenFreiheit vorgeworfen, in dem er Kritik an den Schulmaßnahmen übt. Die Behördenbeamtin bezeichnet Textstellen aus dem Rapbellions-Song „Ich mach da nicht mit“ als „aufhetzend und gewaltverherrlichend“. Lehrer wie Sie wollen wir nicht, so die Botschaft. „Sie mussten mich mit allen Mitteln als unzuverlässigen, charakterlosen Menschen darstellen“, erklärt der Pädagoge. „Es wurde alles aufgebauscht, um mich kündigen zu können. Ich hätte Gegenwind von irgendjemandem toll gefunden, aber die allermeisten Menschen in der Schule sind feige und rückgratlos und machen bei allem mit.“ Marian Nöhre hat Deutschland in der Zwischenzeit mit seiner Familie verlassen. An seiner Statt unterrichtet vermutlich ein Lehrer, der keine Fragen stellt und beflissen tut, was man ihm befiehlt. Titelbild: ANUPONG RAJSUPA/shutterstock.com | Redaktion | Plötzlich erkennen Politiker die Schulschließungen als „Fehler“ der Corona-Politik an. Über die menschenverachtenden und sinnlosen Vorschriften, denen Kinder und Jugendliche über ein Jahr lang in der Schule ausgesetzt waren, sowie über die Lehrer, die protestierten und einen hohen Preis zahlten, soll möglichst niemand mehr sprechen. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Bedingungen ... | [
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] | 16. März 2023 13:11 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=94986&share=email&nb=1 |
Alle unterstützen die Privatisierung der Bahn – und keiner sagt warum. | Haben Sie irgendwo schlüssig begründet bekommen, warum die Bahn privatisiert werden soll und was ein Börsengang bringen soll? Ich habe es bisher nicht verstanden. Ich höre nur hohle Worte wie in der unten wiedergegebenen Presseerklärung des Bundesministeriums für Verkehr, Wolfgang Tiefensee. Albrecht Müller.
Drei Anmerkungen will ich dazu machen: Anhang: Presseerklärung 09. November 2006, Nr.: 364/2006
Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee hat die Koalitions-Entscheidung zur Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG begrüßt. “Wir haben eine sehr gute Lösung gefunden. Damit ist die Modelldiskussion beendet. Im Vordergrund stehen jetzt die vereinbarten Grundzüge eines Börsenganges. Die Koalition hat ihre Handlungsfähigkeit bewiesen und den weiteren Fahrplan auf dem Weg zur Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG erstellt. Der Koalitionsausschuss hat das Ergebnis heute bestätigt und sich den Inhalten angeschlossen. Die Koalition unterstreicht damit ihren politischen Willen, die Teilprivatisierung der Bahn noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen”, so Tiefensee.
“Der gemeinsame Antrag ist nach Verabschiedung durch den Bundestag das Gerüst zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfes. Mein Haus wird möglichst bis zum 31. März 2007 einen Gesetzentwurf vorlegen, auf dessen Basis die Teilprivatisierung der Bahn beschlossen werden soll”, sagte der Minister. Die DB AG behält die Möglichkeit, Schienenverkehr und Infrastruktur in einer wirtschaftlichen Einheit zu betreiben und zu bilanzieren. Zusätzliche Schulden und Risiken für den Bundeshaushalt und damit finanziellen Belastungen für den Steuerzahler sind ausgeschlossen. Der Wettbewerb auf der Schiene wird noch stärker gefördert. Die Weichen sind gestellt, die DB AG in ihrer positiven wirtschaftlichen Entwicklung weiter zu unterstützen”, so Tiefensee.
“Darüber hinaus sieht der Antrag eine Fortführung des Beschäftigungsbündnisses und des konzerneigenen Arbeitsmarktes vor. Zur Sicherung des diskriminierungsfreien Netzzugangs und eines fairen Wettbewerbs auf der Schiene werden die Regulierungsinstrumente der Bundesnetzagentur entsprechend den vorliegenden Erfahrungen fortentwickelt.” | Albrecht Müller | Haben Sie irgendwo schlüssig begründet bekommen, warum die Bahn privatisiert werden soll und was ein Börsengang bringen soll? Ich habe es bisher nicht verstanden. Ich höre nur hohle Worte wie in der unten wiedergegebenen Presseerklärung des Bundesministeriums für Verkehr, Wolfgang Tiefensee. Albrecht Müller.
Drei Anmerkungen will ich dazu machen:
Der Börsengang wird als etwas Erstrebe ... | [
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] | 10. November 2006 17:36 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=1856&share=email&nb=1 |
Werden Kinder in den USA übertherapiert? | Die US-amerikanische Journalistin Abigail Shrier setzt sich in ihrem Buch „Bad Therapy. Why the Kids Aren’t Growing up“ kritisch mit Psychotherapie, vor allem in Bezug auf Kinder, auseinander. Auch wenn das Buch offensichtliche methodische Schwächen hat, so könnte die Argumentation dennoch zu einer Debatte über eine kritischere Wahrnehmung von Psychotherapie beitragen. Eine Rezension von Tobias Reichardt. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Die Linke hatte oft ein kritisches Verhältnis zu Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Sie argwöhnte, soziale und ökonomische Probleme würden psychologisiert, also zu individuellen Problemen gemacht. Sie hat Unterscheidungen von „krank“ und „gesund“ infrage gestellt und behauptet, dass teilweise schlicht unangepasste Menschen zu Kranken erklärt würden. Psychiatrische Anstalten wurden als Orte der Herrschaftsausübung kritisiert, die Missbrauch begünstigten. Eine pychiatriekritische Bewegung hat zu grundlegenden Reformen der Versorgung psychisch Kranker geführt. Die Anzahl großer Anstalten ging zurück. Die Sozialpsychiatrie wurde geschaffen, die die Erkrankten in ihrer gewohnten Umgebung unterstützt und so eine Abschiebung in Kliniken nach Möglichkeit vermeidet. Wenn auch oft zugespitzt und übertrieben, war diese linke Kritik an der Psychiatrie doch unter vielen Aspekten berechtigt. Sie hat zu gesellschaftlichen und medizinischen Fortschritten geführt. In den letzten Jahrzehnten haben sich große Teile der Linken, wie vielfach beobachtet worden ist, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dies gilt auch für ihr Verhältnis zur Psychologie, das nicht länger kritisch ist. Die Linke hat ihre Skepsis gegenüber Psychologie und Psychiatrie verloren. Wir erleben in den westlichen Gesellschaften einen Bedeutungsgewinn, ja einen Kult der Psychologie, der von der Linken eher befördert als kritisiert wird. Kritik an dieser Entwicklung formulieren eher Liberale und Konservative. So setzt sich die US-amerikanische Journalistin Abigail Shrier in ihrem 2023 erschienenen Buch „Bad Therapy. Why the Kids Aren’t Growing up“ kritisch mit der Psychotherapie, vor allem in Bezug auf Kinder, auseinander. Bekannt wurde Shrier mit ihrem Werk „Irreversible Damage: The Transgender Craze Seducing Our Daughters“ (2020, deutsch 2023: „Irreversibler Schaden: Wie der Transgenderwahn unsere Töchter verführt“). In der deutschsprachigen Öffentlichkeit wird „Bad Therapy“ bisher nicht beachtet. Im angelsächsischen Bereich wurde das Buch vor allem von Rechten, Konservativen und Nonkonformisten positiv rezipiert. So konnte Shrier ihre Thesen etwa in den Podcasts von Jordan Peterson, Joe Rogan, Ben Shapiro, Coleman Hughes, Bill Maher und bei „Unherd“ präsentieren. Shrier ist keine Psychologin. Sie stützt ihre Erkenntnisse nicht auf eigene Studien oder ein profundes Studium und Durchdenken der einschlägigen Literatur, sondern vor allem auf eine Vielzahl von Interviews, die die Autorin mit Experten, Jugendlichen und Eltern geführt hat. Shrier leugnet keineswegs die Existenz und Behandlungsbedürftigkeit psychischer Krankheiten. Sie ist jedoch der Auffassung, dass es eine große Gruppe von Personen gebe, die nicht wirklich krank sind, sondern unsicher, ängstlich, einsam oder traurig. Um diese Gruppe, denen Shrier zufolge Psychotherapien nicht helfen, sondern eher schaden, gehe es in ihrem Buch. „Bad Therapy“ besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil (Kapitel 1 bis 3) legt die Autorin die Begriffe „Iatrogenesis“ und „Bad Therapy“ dar. Die Autorin erklärt, inwiefern Therapie denn überhaupt schaden könne. Der Begriff der Iatrogenese (griech. etwa: „Erzeugung durch den Arzt“) meint, dass eine Krankheit durch die Therapie erst hervorgerufen oder eine bestehende Krankheit verschlimmert wird, was grundsätzlich aus verschiedenen Gründen denkbar ist. So kann es etwa zu Behandlungsirrtümern oder zu Infektionen während eines Krankenhausaufenthalts kommen. Meistens, vor allem bei körperlichen Krankheiten, gebe es aber einen handfesten Behandlungsgrund, der dieses Risiko rechtfertige. In Psychotherapien sei nun aber gerade dies oft nicht der Fall. Manche Menschen ließen sich therapieren, ohne einen wichtigen Grund zu haben. Doch auch die Psychotherapie berge Risiken. So könne eine Therapie dazu führen, dass ein Patient sich als krank wahrnehme, ohne dies wirklich zu sein. Ein seelisches Leiden könne über Gebühr an Aufmerksamkeit und Gewicht gewinnen. Therapie könne auch dazu führen, dass Konflikte mit Familienmitgliedern noch verstärkt werden, wenn auf diese Konflikte etwa in den therapeutischen Gesprächen die Aufmerksamkeit gelenkt werde. Eine Therapie könne schließlich zu einer Abhängigkeit des Patienten von der Therapie führen. Shrier weist darauf hin, dass der Mensch auch andere Methoden habe, mit psychischen Problemen umzugehen, als sich in Therapie zu begeben – wie das Gespräch mit Freunden, die Beschäftigung mit einer als sinnvoll empfundenen Tätigkeit, Humor oder Sport. Diese Selbstheilungsprozesse könnten durch eine Therapie gestört werden. Shrier weist darauf hin, dass psychische Krankheiten unter amerikanischen Jugendlichen zu einer Mode, einem Trend, manche würden sagen: einer Hysterie geworden sind. Jugendliche, die keine Diagnose vorzuweisen haben, fühlten sich unter ihren Altersgenossen zurückgesetzt. Obwohl sie immer mehr Aufmerksamkeit und Behandlung finde und immer mehr Geld für sie ausgegeben werde, werde die psychische Gesundheit in den USA und anderen westlichen Ländern immer schlechter. Zwischen 1990 und 2007 sei die Anzahl der psychisch kranken Kinder um das 35fache gestiegen. Die Autorin wendet sich dagegen, solche Zahlen damit abzutun, dass einfach nur mehr Kinder, vielleicht voreilig, diagnostiziert würden: Sie seien zu einem großen Teil offenbar wirklich krank: Auch die Zahl der Suizide von Jugendlichen sei erheblich gestiegen. Nach Shrier geht die Zunahme psychischer Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen auf eine Werteveränderung und damit auch eine Veränderung in der Erziehung zurück. Das Ergebnis dieser Veränderung sei, dass die Generation Z die ängstlichste Generation der Geschichte sei. Junge Menschen glaubten nicht mehr daran, dass sie in der Welt zurechtkämen, geschweige dass sie sie positiv verändern könnten. Selbst für normale Herausforderungen, die mit dem Auszug aus dem Elternhaus verbunden sind, bräuchten die Jugendlichen heute die Vorbereitung durch einen Therapeuten. Solche Therapeuten seien jedoch oft nicht hilfreich: Die „Methoden und Behandlungen, die Experten für psychische Gesundheit (mental health experts) befürworten und anwenden, machen junge Menschen schon jetzt kränker, trauriger und vergrößern ihre Angst vor dem Erwachsenwerden“ (S. 38, Übersetzung hier und im Folgenden TR). Shriers Kritik gilt vor allem der Therapie bei Kindern, die keine Möglichkeit haben, eigenständig Entscheidungen über Behandlungen zu treffen. Therapie bei Kindern sei oft ein fragwürdiges Mittel. Die Probleme und auch die Möglichkeiten zu ihrer Lösung seien in der Regel eher bei den Erwachsenen, bei den Eltern zu suchen. Shrier kritisiert die mit Therapien häufig einhergehende Konzentration auf die eigenen Emotionen des therapierten Individuums. Hierin komme eine extrem individualistische Gesellschaft zum Ausdruck. Negative Emotionen wie Ängste würden hierdurch hervorgerufen oder verstärkt. Das Sprechen über Probleme helfe nicht immer. Manche kämen besser alleine mit ihren Problemen zurecht. Kleinere Probleme und Leiden könne man auch bewältigen, indem man sie ignoriert oder unterdrückt. Diagnosen könnten demoralisierend und stigmatisierend wirken, obwohl Shrier auch die positiven Potenziale von Diagnosen nicht leugnet. Dazu kommen die enormen Risiken, die mit einer medikamentösen Behandlung verbunden sind. Der zweite Teil (Kapitel 4 bis 10) stellt den inhaltlichen und quantitativen Hauptteil des Buches dar. „Bad Therapy“ wird laut Shrier heute nicht nur von Therapeuten, sondern auch von anderen Berufsgruppen, vor allem in Schulen, ausgeübt. Hierzu zählen neben Lehrern auch Schulpsychologen, Sozialarbeiter und sogenannte „school counselors“, die erhebliche, von Eltern nicht kontrollierte Macht über Kinder ausüben. Diese Personengruppen seien daran beteiligt, an amerikanischen Schulen auffallend viele angeblich therapiebedürftige Beschwerden zu identifizieren, so z.B. die „Angst“ (anxiety) davor, den Schulbus zu verpassen. Shrier kritisiert die an US-amerikanischen Schulen praktizierte Methode des „social-emotional learning“. Diese werde von der Vorstellung geleitet, dass nahezu alle Kinder traumatisiert seien und schwere emotionale Probleme aufwiesen, bei denen sie Hilfe benötigten. Shrier sieht darin jedoch die Gefahr einer Verstärkung der Probleme. Leiden könne durch übertriebene Aufmerksamkeit verstetigt und vermehrt werden, Schulen übertrieben die negativen Erlebnisse und Befindlichkeiten von Schülern und verwiesen diese in Therapien. „Sie ermutigen jedes Kind, permanent über sich selbst und seine Schwierigkeiten nachzudenken.“ (S. 152) Dieses exzessive Reflektieren über sich selbst helfe jedoch nicht, sondern schaffe eher Probleme oder vergrößere sie. Die Autorin stellt eine maßlose Ausweitung des Begriffs „Traumatisierung“ fest: Traumata würden durch ausufernde Interpretationen überall gesehen. Sie sind nach manchen renommierten Fachleuten sogar im Körper von Individuen gespeichert (selbst wenn diese davon gar nichts wissen). Traumata könnten auch an die Kinder vererbt werden. Auch wenn man also selbst überhaupt nichts Belastendes erlebt hat, könne man auf diese Weise angeblich durch das Unglück eines Vorfahren „traumatisiert“ sein. Shrier sieht darin „einen weiteren Versuch der Experten für psychische Gesundheit, jeden zu pathologisieren” (S. 135). Natürlich leugnet Shrier nicht, dass es Kinder gibt, die schwierige Startbedingungen haben und tatsächlich besonderer Hilfe bedürfen. Sie ist jedoch dagegen, solche Kinder in Watte zu packen. Stattdessen betont sie hier die Rolle hoher Erwartungen. Man solle seine Erwartungen nicht reduzieren, sondern im Gegenteil auch Kinder, die es schwerer haben, durch hohe Ziele und Vertrauen auf ihre Fähigkeiten anspornen, statt sie durch die Kultivierung des Opferstatus zu hemmen. Shrier kritisiert in diesem Sinne auch die Opferkultur, die den Opferstatus einer Person hervorhebt und ihre Aktivität, Subjektivität, ihre Fähigkeiten, auch Schwierigkeiten zu bewältigen, tendenziell unterschätzt. Diese Kritik der Opferkultur ist im Rahmen der Kritik an der „woken“ Ideologie auch von zahlreichen anderen Autoren des englischen wie des deutschen Sprachraums bekannt, etwa von Jonathan Haidt oder John McWhorter. Vielfach wurde und wird (auch im Zusammenhang mit ethnischer Diskriminierung) darauf hingewiesen, dass eine Opfermentalität die Lage der vermeintlich oder auch wirklich Diskriminierten nicht verbessert (z.B. von Ahmad Mansour). Menschen als Opfer zu sehen, erscheint auf den ersten Blick als empathisch. Empathie sei jedoch zwiespältigen Charakters: Sie könne sehr selektiv sein. Wenn sie nicht rational reflektiert wird, fragt sie nicht danach, was etwa dem „Opfer“ wirklich hilft und ob der Opferstatus tatsächlich nicht überwindbar ist. Auf der anderen Seite wird auch der Täter-Status nicht hinterfragt, sondern wie ein Stempel verwendet. Als Negativbeispiele dafür, wie Empathie in Aggression umschlägt, führt Shrier die offenbar an manchen amerikanischen Schulen herrschende Denunziationskultur an, in der Schüler sich gegenseitig tyrannisieren, indem sie einander vorwerfen, etwas „Verletzendes“ oder Diskriminierendes gesagt oder getan zu haben. Shrier macht die Prinzipien von Vernunft und Gerechtigkeit gegenüber der bloßen Empathie stark. Anstatt Kinder primär als zu schützende Opfer zu sehen, plädiert die Autorin für eine Erziehung, die Kindern auch bei psychischen Leiden, bei Enttäuschungen, Niederlagen und Kummer, Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit zutraut und sie auffordert, nach vorne zu schauen, anstatt sich übermäßig auf die eigenen verletzten Gefühle zu konzentrieren. Shrier spricht davon, dass Eltern Angst vor den eigenen Kindern hätten, keine Autorität mehr für diese darstellten, Kinder kein „Nein“, keine Grenzen mehr erführen. Hierdurch werde ihnen eine übermäßige Verantwortung auferlegt. Die westliche Kultur unterminiere die elterliche Autorität, welche an Psycho-Experten ausgelagert werde. Dabei plädiert Shrier keineswegs reaktionär für eine Rückkehr in veraltete, autoritäre Erziehungsmodelle. Sie hebt aber Irrwege des westlichen Individualismus in der Erziehung hervor und plädiert für einen Mittelweg zwischen modernen und traditionellen Elementen in der Erziehung. Die individualistische, inklusive Pädagogik, die sich höchst tolerant gibt und deren Vertreter viele warme Worte für „Vielfalt“ haben, ist keineswegs immer so harmlos, wie sie scheint. Wenn das Kind von den Normen abweicht und Konflikte entstehen, wird dies nicht unbedingt mehr geduldet als bei traditionellen, autoritären Ansätzen. Kinder werden jedoch in solchen Fällen nicht erzogen, sondern mit Medikamenten oder Therapien traktiert. „Jahrelang haben Experten versucht, die Konflikte (idiosyncrasies) der Eltern-Kind-Interaktion auszubügeln – und in den letzten zwei Jahrzehnten waren sie fast erfolgreich. Sie injizierten Ideologie und falschen Perfektionismus in die Eltern-Kind-Beziehung und unterwarfen jeden Aspekt ihrer Prüfung und Beurteilung” (215 f.). Shrier wendet sich dagegen, negative Gefühle wie Trauer oder Wut stets als pathologisch zu betrachten. Vielmehr seien sie normale Bestandteile des Lebens und speziell der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Man habe sich erzieherisch mit ihnen auseinandersetzen, in der Regel aber nicht therapeutisch. Der Schlussteil des Buches (Kapitel 11 und 12) enthält vor allem erzieherische Ratschläge, die freilich in den vorherigen Teilen bereits angedeutet wurden. Shriers Vorstellungen über Erziehung sind keineswegs extrem, ausgefallen oder reaktionär. Ihre Schlüsse sind nicht durch politische Ideologie geprägt, sondern folgen dem gesunden Menschenverstand und wissenschaftlichen Erkenntnissen: „Kinder brauchen Freiraum von der Aufsicht durch Erwachsene. Sie entwickeln sich, indem man ihnen Unabhängigkeit zugesteht, ein gewisses Maß an Verantwortung, Autonomie und, ja: auch Fehler. Sie lernen nicht, etwas selbst zu tun, wenn wir es für sie tun.” (S. 216) Eltern sollen ihre Erziehungsverantwortung wahrnehmen und sie weder an Therapeuten noch an ihre Kinder abgeben: „Wenn Ihr Teenager sich herausfordernd benimmt, behalten Sie einen kühlen Kopf. Bleiben Sie dabei, dass Sie die Verantwortung haben. Geben Sie Ihr Kind nicht sofort an einen Experten für psychische Gesundheit ab.” (S. 218) Shrier unterstreicht die Gesellschaftlichkeit des Menschen und der Erziehung, was geschichtlich einmal ein Anliegen der Linken war, aber heute nach rechts gewandert zu sein scheint. Bereits zuvor wurde auf ein Interview mit dem prominenten konservativen Psychologen und Intellektuellen Jordan Peterson verwiesen, in dem dieser betont, dass der Mensch nur in Gesellschaft psychisch gesund ist. Die gegenwärtige Psychologie dagegen versuche, den Menschen zu isolieren und auf seine individuellen Gefühle zu reduzieren. Shrier betont – und dies ist zweifellos ein Punkt, an dem ihre Positionen für den Konservatismus anschlussfähig sind – die Bedeutung von Familie und Tradition für die gesunde Entwicklung des Individuums. Smartphones will sie möglichst aus Schulen und Kinderzimmern verbannen. Sie wendet sich dagegen, sich auf Diagnosen zu fixieren. Psychotherapien seien nur etwas für Fälle, in denen andere Mittel wirkungslos sind: „Bringen Sie Ihr Kind erst dann zu einem Therapeuten, wenn Sie alle anderen Optionen ausgeschöpft haben.“ (S. 246) Die Grenzen des Buches sind unverkennbar: Die wissenschaftliche Tiefe ist gering. Psychologische Theorien und Fachdiskussionen kennt die Autorin offenbar in erster Linie aus den Interviews, die sie mit Experten geführt hat. Sie stellt keine Bezüge zur Geschichte der Pädagogik, der Psychologie und der Psychiatriekritik her, die sie möglicherweise kaum kennt. Das Buch beschränkt sich weitgehend auf die Verhältnisse in den USA, die der Autorin aus eigener Anschauung vertraut sind. Nach welchen Kriterien die Interviewpartner ausgesucht wurden und wie die Auswertung erfolgte, darüber erfährt man wenig. Ob die Auswahl ausgewogen oder eher einseitig war, bleibt somit ungewiss. Anekdoten aus ihrer eigenen Familiengeschichte sind ansprechend, haben aber wenig Beweiskraft. Nichtsdestoweniger überzeugt das Buch in seiner Intention und Argumentation und wird hoffentlich zu einer kritischeren Wahrnehmung von Psychologie und Psychotherapie beitragen. Die westliche Welt befindet sich offenbar in einer psychologischen Krise. Bei allen Unterschieden zu den USA lassen sich so manche Phänomene, die Shrier kritisiert, auch in Deutschland wiederfinden. Auch in Deutschland wird die psychische Gesundheit von Jugendlichen mit Sorge betrachtet. Das Bundesfamilienministerium fördert in einem Modellprojekt „Mental Health Coaches“ an Schulen. Die Zahl von Fehltagen aufgrund psychischer Krankheit hat signifikant zugenommen. Dabei sind insbesondere junge Menschen betroffen. Unlängst hat eine Studie (Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“) gezeigt, dass ein großer Teil der Jugend in Deutschland anscheinend verängstigt und sorgenvoll in die Zukunft blickt – was offenbar auch zu Sympathie für die AfD führt. Wenig selbstbewusste, verängstigte Menschen suchen Schutz bei populistischen „Führern“. In den sozialen Medien prahlen Jugendliche mit ihren angeblichen psychischen Krankheiten, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, psychische Krankheiten weiter zu „entstigmatisieren“, d.h. zu normalisieren. Zweifellos ist Kranken zu helfen. Wenn man Shrier folgt, so ist diese „Entstigmatisierung“ jedoch ihrerseits zu hinterfragen. Die westliche individualistische Kultur, spezifische Erziehungsstile und ein unkritisches Verhältnis zur Psychologie scheinen teilweise psychische Labilitäten und Krankheiten noch zu verstärken. Psychologisierung und Therapeutisierung passen zur Opferkultur der Woken. Die politischen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind jedoch mit einer immer stärkeren Konzentration auf subjektive Befindlichkeiten und mit Therapien nicht zu bewältigen. Shriers Buch ist ein Aufruf, den Menschen nicht nur als leidendes und zu schützendes Individuum, sondern im Geiste der Aufklärung als zumindest potenziell unabhängiges und rationales Wesen zu betrachten. Gerade die Linke sollte es aufmerksam lesen. Abigail Shrier: Bad Therapy. Why the kids aren’t growing up. Sentinel (Penguin Group), New York City 2024, 320 Seiten, gebundene Ausgabe, ISBN 979-8217097425, 24,58 Euro Über den Autor: Tobias Reichardt ist Professor für Soziale Arbeit am Hamburger Standort einer privaten Hochschule. Ursprünglich hat er Philosophie und Geschichte studiert und umfangreich zu philosophischen, historischen, gesellschaftstheoretischen Themen und zum Sozialwesen publiziert. Titelbild: missSIRI / Shutterstock | Tobias Reichardt | Die US-amerikanische Journalistin Abigail Shrier setzt sich in ihrem Buch „Bad Therapy. Why the Kids Aren’t Growing up“ kritisch mit Psychotherapie, vor allem in Bezug auf Kinder, auseinander. Auch wenn das Buch offensichtliche methodische Schwächen hat, so könnte die Argumentation dennoch zu einer Debatte über eine kritischere Wahrnehmung von Psychotherapie beitragen. Eine Rezension von Tobia ... | [
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] | 09. November 2024 15:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=124430 |
Ein Leserbrief von R. K. zu: Grenzen der Freiheit, auch der Satire | Herr Massarrat bezeichnet seinen Text als “nüchterne Analyse”, für die “die Zeit … allmählich reif” sei. Das ist sehr großspurig formuliert. Denn tatsächlich handelt es sich lediglich um die ausführliche Darstellung seiner Überzeugungen hinsichtlich Religion und Satire. Von Argumenten weit und breit keine Spur. Letztlich laufen seine Forderungen an die Satire darauf hinaus, diese möge sich selbst aufgeben und Tucholsky sei kräftig ins Genick und sonstwohin zu schlagen – obwohl Herr Massarrat doch so gegen Gewalt ist. Über Religion ist, da es sich um einen Glauben handelt, ein Gespräch im Sinne von Verständigung nicht wirklich möglich. Denn im Glauben zählen keine Argumente, sondern Überzeugungen. Was unterscheidet folglich eine Religion von einer politischen Anschauung? Nichts. Denn auch diese beruht auf Überzeugungen. So laufen die Forderungen von Herrn Massarrat darauf hinaus, die Satire möge nicht nur aufhören, sich mit den verschiedenen Religionen zu beschäftigen, sondern auch die politischen Überzeugungen und die politisch Überzeugten nicht weiter zu behelligen. Auch wenn der Islam keine Religion des Krieges sein sollte – was über das Christentum ganz sicher auch während der Kreuzzüge und der Inquisition behauptet wurde -, darf ein hörender und sehender Mensch nicht ignorieren, dass im Namen des Islam reichlich Kriege und Mord und Totschlag veranstaltet wurden und werden. Dass die USA mit der CIA und ihrer Armee seit 1945 wahrscheinlich weit mehr Opfer zur Strecke gebracht haben als diejenigen, die im Namen des Islam morden, spricht Letztere nicht frei – schon gar nicht von Satire. Mit freundlichen Grüßen
R. K. | Wolfgang Lieb |
Herr Massarrat bezeichnet seinen Text als "nüchterne Analyse", für die "die Zeit ... allmählich reif" sei. Das ist sehr großspurig formuliert. Denn tatsächlich handelt es sich lediglich um die ausführliche Darstellung seiner Überzeugungen hinsichtlich Religion und Satire. Von Argumenten weit und breit keine Spur. Letztlich laufen seine Forderungen an die Satire darauf hinaus, diese möge sich ... | [] | [
"Leserbriefe"
] | 02. März 2015 9:59 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=25247&share=email |
Unternehmen Universität – Wie die manageriale Revolution die akademische Forschung und Lehre verändert | Die unternehmerische Universität entmachtet die wissenschaftliche und die akademische Gemeinschaft und die Fachgesellschaften als Treuhänder des Erkenntnisfortschritts im inneren Kern der Wissenschaft und der Wissensvermittlung in ihrem Außenverhältnis zur Gesellschaft. Die kollektive Suche nach Erkenntnis als Kollektivgut und der kollektive Prozess der Bildung und des Wissenstransfers in die Gesellschaft in der Hand der wissenschaftlichen und der akademischen Gemeinschaft sowie der einzelnen Fachgesellschaften wird von der privatisierten Nutzung des Erkenntnisfortschritts, der Bildung und des Wissenstransfers durch unternehmerische Universitäten im Wettbewerb um Marktanteile abgelöst. Dieser grundlegende institutionelle Wandel bedroht die innere akademische Freiheit und unterwirft Bildung und Wissenstransfer äußeren Zwecken. Er bedeutet eine zunehmende Engführung der Wissensevolution und die Schrumpfung des aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt resultierenden Erneuerungspotentials der Gesellschaft. Die Gleichschaltung aller Funktionsbereiche der Gesellschaft im Zuge der globalen Hegemonie des Marktparadigmas und der Umwandlung von Organisationen mit ganz unterschiedlichen Aufgaben in Unternehmen ist ein Beweis dafür, wie weit die Verarmung des Wissens in den Gesellschaftswissenschaften schon fortgeschritten ist.
Von Richard Münch[*]
Die Selbststeuerung der Forschung und Lehre durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, deren disziplinäre Spezifizierung in der Treuhänderschaft der Fachgesellschaften und die akademische Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden in der Universität bilden die institutionelle Grundlage für die funktionale Ausdifferenzierung der Wissenschaft in der Moderne. Diese funktionale Ausdifferenzierung der Wissenschaft hat einerseits das ungehinderte Vorantreiben des Erkenntnisfortschritts und andererseits die produktive Umsetzung von unverfälschtem wissenschaftlichem Wissen in der Gesellschaft ermöglicht. Es ist daran zu sehen, dass die funktionale Ausdifferenzierung der Wissenschaft und ihre Leistungsverflechtung mit der Gesellschaft auf höchst singulären institutionellen Bedingungen beruht, die sich keineswegs von selbst in einem evolutionären Prozess herausbilden. Sie sind in einem historischen Vorgang entstanden und können ebenso in einem historischen Prozess wieder verschwinden und einem anderen institutionellen Arrangement Platz machen.[1] Wissenschaft als ökonomischer Prozess
Es gibt deutliche Zeichen dafür, dass sich in der Gegenwart ein historischer Wandel der Wissenschaft vollzieht. Im Zentrum dieses Prozesses steht die Ablösung der Treuhänderschaft der wissenschaftlichen und der akademischen Gemeinschaft sowie der Fachgesellschaften für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt und dessen Verbreitung in der Gesellschaft durch einen Markt, auf dem unternehmerisch geführte Universitäten miteinander um Wettbewerbsvorteile in der Attraktion von Forschungsgeldern, Wissenschaftlern und Studierenden konkurrieren.[2] Dieser Wettbewerb ist so angelegt, dass es Sieger und Besiegte geben muss. Darin unterscheidet sich der neue Wettbewerb zwischen unternehmerisch geführten Universitäten grundsätzlich vom Wettbewerb der Forscher um Anerkennung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft. Die Forscher verstehen ihre Beiträge zur Forschung als Erwiderung des Geschenks der Mitgliedschaft in dieser mit höchster Ehre ausgestatteten Gemeinschaft. Sie forschen in kollektiver Anstrengung zwecks Erzeugung von neuem wissenschaftlichem Wissen als einem Kollektivgut.[3] In diesem Wettbewerb der Forscher um Anerkennung gibt es keine Gewinner und keine Verlierer, weil jeder Erkenntnisfortschritt und die damit verbundene Ehre letztlich der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft zugutekommt, an der jeder einzelne Forscher einen Anteil hat. Auch der am wenigsten erfolgreiche Forscher bekommt etwas von dem aus vielen Einzelleistungen zusammengesetzten Glanz einer ganzen Disziplin ab. Natürlich gibt es unterhalb dieser Illusio der wissenschaftlichen Praxis immer schon auch den Kampf um Prestige.[4] Er wurde jedoch von einer vitalen wissenschaftlichen Gemeinschaft in denjenigen Grenzen gehalten, die für eine kollegiale Zusammenarbeit noch zuträglich waren. Dieser Kollegialität setzt die unternehmerische Universität ein Ende. Was bedeutet es aber, wenn die Wissenschaft in einen Markt umgestaltet wird, auf dem Universitäten um Markanteile konkurrieren? Das Neue ist zunächst, dass die Universität einen Akteursstatus erhält, den sie zuvor nicht hatte, und dass dieser Akteursstatus in Analogie zu Wirtschaftsunternehmen interpretiert wird.[5] Das Unternehmen Universität muss demgemäß mit analogen Mitteln des strategischen und operativen Managements geführt werden. Zu diesem Zweck muss die Universitätsleitung das Heft in die Hand bekommen und nach strategischen Entscheidungen Ressourcen in erfolgversprechende Forschungs- und Lehrfelder investieren sowie aus weniger erfolgversprechenden Feldern abziehen. Was den strategischen Zielen im Wege steht, muss abgestoßen werden. In operativer Hinsicht muss sich die universitäre Unternehmensführung von den Fesseln der akademischen Selbstverwaltung befreien und sich einen Durchgriff in alle Abteilungen hinein verschaffen. Über die Einstellung eines Mitarbeiters an einem Lehrstuhl entscheidet deshalb nicht mehr der Lehrstuhlinhaber, sondern die Universitätsleitung. Der in eigener Verantwortung handelnde Professor wird zum Angestellten des Universitätsunternehmens degradiert. In diesem anscheinend unbedeutenden Schritt zeigt sich die ganze Tragweite der sich vollziehenden Machtverschiebung. Sie impliziert, dass nun ein Universitätsmanagement weit ab vom realen Geschehen von Forschung und Lehre das Heft in die Hand nimmt, nach global verbreiteten Rationalitätsmodellen über das strategische Geschäft entscheidet und die Operationen kontrolliert. Der Professor muss sich nun sagen lassen, was zu tun ist, um zu punkten. Sein eigenes Wissen ist nur noch Rohmaterial, das es per Rückmeldung in das „moderne“ Wissensmanagement einzuspeisen gilt. Per Gesetz wird den Universitäten eine Kosten- und Leistungsrechnung verordnet. Der ganze Betrieb wird einem von oben gesteuerten und überwachten „Prozess-Management“ unterworfen, bei dem das Endprodukt – der Student und der Wissensverwerter als zufriedener Kunde – vorgibt, was von der Universitätsleitung, über die Verwaltung bis zum einzelnen Lehrer/Forscher getan werden muss, um ans Ziel zu gelangen. Von dieser managerialen Umgestaltung der Wissenschaft verspricht man sich messbare Effizienzgewinne, das heißt mehr und tiefgreifendere wissenschaftliche Durchbrüche sowie reflektiertere und erfolgreichere Absolventen in kürzerer Zeit. Es wird auf diese Weise ein klassisches professionelles Tätigkeitsfeld einer externen Kontrolle unterworfen, das ein Höchstmaß an grundsätzlich nicht messbarer, auf Abweichung von Standards zielender und nicht voraussagbarer Kreativität verlangt und von einem kaum zu übertreffenden Maß an intrinsischer Motivation mit einem Arbeitseinsatz von gut 60 bis 80 Stunden in der Woche geprägt ist. Um diese Transformation der akademischen Lehre und Forschung zu vollenden, muss ein wachsender Kontrollapparat mit neuen Verwaltungsstellen aufgebaut werden, der die Forscher und Lehrer mit laufender Berichterstattung über ihr Tun in Atem hält und für Forschung und Lehre keine Zeit lässt. Es wächst der Verwaltungsapparat und es schrumpfen Forschung und Lehre. Die versprochenen Effizienzgewinne können deshalb nicht als eine tragfähige soziologische Erklärung dafür dienen, dass sich die manageriale Umgestaltung von Forschung und Lehre so unaufhaltsam ausbreitet, wie es in der Gegenwart zu beobachten ist. Vielmehr bietet sich eine neoinstitutionalistische Erklärung an.[6] Nachdem die Protagonisten von New Public Management mit weltweitem Erfolg zuerst einmal erzählt haben, wie ineffizient öffentliche Einrichtungen arbeiten und die Erfahrung aus der Praxis dieser Einrichtungen nicht mehr zählt, herrscht totale Unsicherheit, die dadurch bewältigt wird, dass man den Propheten der Effizienzsteigerung und damit der Herde folgt. Wenn das alles auch noch so viel kostet und mehr Effizienzverluste als –gewinne bringt, ist man in der Herde gut aufgehoben. Aufwändige Verfahren des Qualitätsmanagements müssen jetzt die „Qualität“ von Forschung und Lehre sichern.[7] Die Verwaltung ist nicht länger Diener der Professoren, sondern operatives Kontrollorgan der Universitätsleitung. Sie betreibt nicht mehr „altmodische“ Kameralistik und bürokratische Aktenführung nach Sachgebieten, sondern „modernstes“ Prozessmanagement, gleichwohl in der Übergangszeit noch mit altgedientem Personal, das mit seiner neuen Rolle noch nicht richtig zurechtkommt, in der Regel schlicht überfordert ist. Weil die Umstellung von Bürokratie auf Prozessmanagement zunächst noch als Fassadenbau betrieben wird, gibt es für das wissenschaftliche Personal noch eine Atempause. Richtig treffen wird das neue Universitätsmanagement erst die nächste Generation von Wissenschaftlern. Jetzt schon sichtbar wird aber die zunehmende Aufblähung der Management- und Kontrollakte. Dazu kommt noch, dass alte Verwaltungstätigkeiten wie die Führung von Prüfungsakten und die Buchführung über eingenommene und ausgegebene Drittmittel und neue Aufgaben der Administration – wie die Dokumentation von Forschungs- und Lehrtätigkeit zwecks Kontrolle durch das Universitätsmanagement – den Lehrstühlen aufgebürdet werden. Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter und Sekretariate müssen einen zunehmenden Teil ihres Zeitbudgets für diese „fortschrittliche“ Art der Administration verwenden. Für Forschung und Lehre selbst bleibt immer weniger Zeit. Im Interesse der strategischen Positionierung ihrer Universitätsunternehmen müssen sie außerdem einen wachsenden Aufwand der Initiierung, Beantragung, Koordination, Dokumentation, Vor-, Begleit- und Nachevaluation von Forschungsverbünden betreiben und selbst regelmäßig als Gutachter an der Evaluation anderer Forschungsverbünde teilnehmen.[8] Damit kann ein Professor mit Mitarbeitern Woche für Woche, Jahr für Jahr sein gesamtes Zeitbudget aufbrauchen. Umso mehr Mitarbeiter werden deshalb benötigt, damit überhaupt noch geforscht, publiziert und gelehrt werden kann. Typischerweise will das neueste Programm der Forschungsförderung, die selbst diese totale Fesselung von Forschung und Lehre verursacht hat, einzelnen glücklichen Forschern eine Auszeit gewähren, z.B. an einem der neu geschaffenen Centres for Advanced Studies der neuen „Exzellenz-Universitäten“. Oder sie dürfen sich in ein neu geschaffenes geisteswissenschaftliches Forschungszentrum zurückziehen. Gleichzeitig wird zur Kompensation dieses neuen akademischen Luxus eine wachsende Schar von habilitierten Ersatzlehrkräften benötigt. Man forciert auf diese Weise die Trennung von Forschung und Lehre und entzieht der Wissenschaft eine wesentliche Ressource ihrer ständigen Erneuerung. Die Geisteswissenschaften verlieren die Bodenhaftung in der akademischen Lehre und verirren sich in Höhen, zu denen die Studierenden keinen Zugang mehr finden. Letztere wandern deshalb gleich in die praxisorientierten Studiengänge ab. Die Geisteswissenschaften machen sich so für das normale Studium überflüssig.[9] Akkumulation von Kapital Im strengen Sinn muss es unternehmerischen Universitäten in erster Linie um die Akkumulation von Kapital gehen. Sie investieren in Bildung und Forschung, um daraus Renditen zu erzielen, die wiederum in Bildung und Forschung fließen können.[10] Erfolgreiche Unternehmen, wie die amerikanischen Privatuniversitäten, sind in der Lage, größere Teile ihres Kapitals in anderen Geschäften z.B. in Finanzgeschäften, anzulegen, die höhere Renditen versprechen. Dass damit auch größere Risiken einhergehen, mussten sie im Gefolge der globalen Finanzkrise im Herbst 2008 erfahren. Sie haben schwere Verluste hinnehmen müssen. Das Geschäft mit der Bildung und Forschung trägt sich nicht direkt durch Studiengebühren und Patenteinkünfte, sondern indirekt durch die Steigerung des Prestigewertes der Universität als Marke, der Staat, Stiftungen, Privatunternehmen und individuelle Sponsoren veranlasst, Geld zu geben. Dazu gehören umfangreiche Fundraising-Aktionen, um den Kapitalstock zu erhöhen. Es gilt, materielles Kapital (Geld) und symbolisches Kapital (Prestige) in einem zirkulären Prozess zu akkumulieren.[11] Neu mit einem Globalhaushalt in die Autonomie entlassene universitäre Unternehmen verstehen das ihnen zur Verfügung stehende Budget nicht mehr kameralistisch als einen Betrag, den man bis Jahresende zu verausgaben hat, um im folgenden Jahr vom Wissenschaftsministerium erneut mit einem Budget ausgestattet zu werden. Das Budget ist nun ihr Kapital bzw. ihr Kapitalstock, den es strategisch zum Zweck der Vermehrung des Kapitals zu investieren gilt. Unternehmerisch geführte Universitäten müssen deshalb in erster Linie an Tätigkeiten interessiert sein, die Geld einbringen, und zwar mehr als vorher verausgabt wurde. Die ständige Erhöhung des verfügbaren Kapitals muss Ziel jeder einzelnen Entscheidung sein. Um das zu erreichen, wirbt man um Sponsoren, die damit geehrt werden, dass die gestifteten Einrichtungen – Professuren, Bibliotheken, Gebäude, Forschungszentren – ihren Namen tragen. Man bemüht sich um reputierte Forscher, die Drittmittel einwerben oder den Namen der Universität durch viel beachtete Publikationen in die Öffentlichkeit tragen, und man sucht Studierende, die selbst schon viel kulturelles Kapital mitbringen, um als erfolgreiche Absolventen die Universität in den höheren Rängen von Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Politik und Verwaltung zu repräsentieren.[12] All das ist nur für solche Universitäten möglich, die schon über die nötige kritische Masse an materiellem (Geld, attraktive Lage) und symbolischem (Tradition, Reputation) Kapital verfügen. Wer das nicht hat, kann an diesem Wettbewerb überhaupt nicht teilnehmen. Wird ein Studiengang als ein auf einem Markt zu veräußerndes Produkt begriffen und werden Studierende nicht mehr als Teil einer akademischen Gemeinschaft betrachtet, in der sie in ihrer Rolle eine Mitverantwortung an der Gestaltung des Studiums tragen, sondern als Kunden, die es zu bedienen gilt, dann müssen Studiengänge durch Programme angereichert werden, die weit über die rein akademisch Lehre hinausgehen, z.B. durch ein umfangreiches Angebot an Sprach-, Kommunikations- und Trainingskursen zur Selbstvermarktung und durch einen attraktiven Service der Jobvermittlung an renommierte Arbeitgeber. All das verlangt Investitionen in Begleitprogramme, die der akademischen Lehre selbst entzogen werden müssen, wenn das Unternehmen nicht in Geld schwimmt.[13] Die Erhöhung der Attraktivität von Studiengängen geht deshalb unter Bedingungen der Finanzknappheit – das heißt im mittleren und unteren Preissegment – mit der Senkung ihrer wissenschaftlichen Qualität einher. Der Wettbewerb um Studierende ist demnach ein Überbietungswettbewerb, der das Studieren immer teurer macht. Das ist ganz nahe liegend, wenn Universitäten in Unternehmen umgewandelt werden. Unternehmen wollen Geld verdienen und erreichen das in der Regel dadurch, dass sie mit hohem Marketingaufwand die Bereitschaft von Ministerien, Sponsoren und Studierenden erzeugen, Geld in das Produkt zu investieren, weil sie sich davon selbst materielle (bessere Verdienstchancen) oder symbolische (höhere Reputation) Gewinne versprechen. Daran ist zu erkennen, dass sich auf dem universitären Bildungsmarkt – wie in den USA zu beobachten – eine Stratifikation in ein Premiumsegment der teuren Elitebildung, eine kostengünstigere standardisierte Ausbildung für die Mittelschichten und eine billige Notbildung für die neue Unterschicht herausbildet. Dabei wird der Markt für das Premiumsegment in den USA von den privaten Universitätsunternehmen mit exorbitant hohen Studiengebühren und nur noch wenigen konkurrenzfähigen staatlichen Universitäten beherrscht, während sich die große Mehrheit der Staatsuniversitäten mit ihren lokalen Dependancen das Geschäft mit der regionalen Mittelklasse teilt und die Communnity Colleges die unterste Bildungsschicht versorgen. Auf diesem Bildungsmarkt entscheidet das verfügbare materielle und symbolische Kapital darüber, in welchem Segment eine Universität tätig ist. Von einem offenen Wettbewerb kann hier nicht wirklich die Rede sein. Lediglich die Privatuniversitäten und einige wenige staatliche Universitäten einzelner Bundesstaaten liefern sich einen harten Überbietungswettbewerb durch luxuriöse Studienbedingungen und den Prestigewert ihrer Abschlüsse. Die lokalen Campuse der State Universities haben lange Zeit in der Regel als einzige Anbieter den regionalen Markt in ihrer unmittelbaren Umgebung, die Community Colleges einen lokalen Markt bedient. Dabei ergibt sich eine starke Ähnlichkeit des Angebots im jeweiligen Segment. Profilbildung durch Spezialisierung findet infolge der segmentären und regionalen Aufteilung der Klientel nur sehr begrenzt statt. Von einer Differenzierung durch Wettbewerb kann deshalb nicht gesprochen werden. Die tatsächliche Differenzierung bedeutet vielmehr eine segmentäre, regionale und lokale Beschränkung des Wettbewerbs. Seit den 1980er Jahren haben sich im mittleren Segment private Anbieter von berufsqualifizierenden Abschlüssen deutlich vermehrt, die Bildung explizit als ein Geschäft zwecks Erzielung von Renditen für beide Seiten – Anbieter wie Abnehmer – betreiben.[14] Die Staatsuniversitäten sehen sich zum Mithalten gezwungen. Infolgedessen sind die eher allgemeinbildenden Programme der Humanities im Sinne eines Liberal Arts College und mit ihnen die Professoren der Humanities in den Staatsuniversitäten vom Aussterben bedroht, wie eine aktuelle Studie feststellt. Sie überleben nur noch unter dem Schutzschild der mit
besonderem Prestige versehenen Bachelorabschlüsse der reicheren Spitzenuniversitäten, das heißt als Statusgut, aber nicht als Bildung für gute Staatsbürger.[15] Profilbildung soll aber auch durch die Konzentration auf besonders starke – in der Regel schon besser ausgestatte – Fächer geschehen. Zu diesem Zweck soll das Universitätsmanagement schwach „aufgestellte“ Fächer schließen und schon starke Fächer bzw. Teilgebiete in diesen Fächern ausbauen, vor allem, wenn damit eine „Alleinstellung“ erreicht wird. Dabei ist „internationale Sichtbarkeit“ zum Maß der Dinge geworden. Das lässt sich nur mit Fächern erreichen, die schon weitgehend internationalisiert sind, so dass Fachkulturen und ihre Verwurzelung in nationalen Traditionen gar keine Rolle mehr spielen. Im Sog von Sonderforschungsbereichen und Exzellenzclustern erfolgt dann ein Maß der Konzentration von Forschungsgebieten auf wenige Standorte, das den Wettbewerb ganz gegen die Begleitrhetorik gerade nicht befördert, sondern beseitigt. An den dominanten Standorten wird mit sinkendem Grenznutzen immer mehr Forschungskapital angehäuft, während der Rest der Standorte an Unterinvestition leidet und im Kampf um Sichtbarkeit untergeht.[16] In den wenig internationalisierten Disziplinen – wie den Geisteswissenschaften – hat diese Strategie noch nicht einmal den Effekt, international einflussreicher zu werden. Für das Studienangebot bedeutet diese Profilbildungsstrategie ein Überangebot des Gleichen und einen Mangel an Vielfalt am Studienort. Als Unternehmen können Universitäten gar nicht mehr Universitäten im ursprünglichen Wortsinn bleiben, vielmehr mutieren sie zu Spezialhochschulen mit eingeschränktem Lehrangebot und Forschungsprofil. Nur die reichsten Universitäten sind kapitalkräftig genug, um im symbolischen Kampf um Sichtbarkeit noch ein breiteres Spektrum an Studiengängen und Forschungsprogrammen finanzieren zu können. Gewiss benötigt ein Fach oder ein Fachgebiet die jeweilige kritische Masse, um in Forschung und Lehre mithalten zu können. Bei welcher Ausstattung dieser Punkt erreicht ist, jenseits dessen jede weitere Investition mit einem sinkenden Grenznutzen verbunden ist, ergibt sich keineswegs von selbst aus dem Profilierungswettbewerb zwischen den Universitäten. Vielmehr tendiert dieser Wettbewerb unreguliert zur Konzentration von Forschungsmitteln auf wenige Zentren, gegebenenfalls nur auf ein Zentrum, weil sich der Wettbewerb als Überbietungswettbewerb vollzieht, der nicht auf Effizienz, sondern auf Effektivität im Aufbau symbolischer Macht in einem Feld zielt. Es obsiegt nicht die effizientere, sondern die durch Größe und reichhaltigeres Kapital sichtbarere Institution. Es entwickelt sich eine Art von akademischem Kannibalismus, der vom alten Modell der Forschung und Lehre als Gabe für die wissenschaftliche und die akademische Gemeinschaft weit entfernt ist. Die reicheren Universitäten werben den ärmeren die besten Forscher ab. Wer nicht reich ist, kann in dieser Ordnung des Kannibalismus nur durch extreme Spezialisierung auf ganz wenige Fächer überleben. Verlust der akademischen Freiheit, externe Instrumentalisierung der Wissenschaft Wie man sieht, ist das ein ganz anderer Wettbewerb, der zwischen universitären Unternehmen ausgetragen wird, als es dem Wettbewerb der Forscher und Lehrer um Anerkennung durch die wissenschaftliche und die akademische Gemeinschaft entsprechen würde. Die Forscher und Lehrer sind nicht mehr selbständige Akteure in diesem Wettbewerb, sondern Humankapital, das von einem starken Universitätsmanagement investiert wird, um Rendite zu erzielen. Über das, was geforscht und gelehrt wird, muss deshalb das Universitätsmanagement entscheiden. Das kann nicht mehr den Forschern und Lehrern allein überlassen bleiben, schon gar nicht der korporativen Selbstverwaltung der Universität durch die Professoren. Die Folge davon ist, dass Studiengänge nicht nach ihrer von Fachgesellschaften treuhänderisch bestimmten sachlichen Notwendigkeit, sondern nach Marktgängigkeit angeboten und deshalb von wissenschaftlichem Ballast befreit und um allerlei Begleitprogramme angereichert werden. Forschung findet in Forschungsverbünden statt, die das Potential zur Akkumulation von umfangreichen Drittmitteln haben. Das hat zur Folge, dass trotz Profilbildungsrhetorik je nach öffentlichem Interesse vielerorts versucht wird, gleichartige Zentren aufzubauen, die für öffentliche und private Drittmittelgeber attraktiv erscheinen. Unter dem OECD-Regime der Mobilisierung von Bildung als Humankapital für zukünftiges Wirtschaftswachstum ist z.B. die Bildungsforschung zu einem solchen Renner geworden.[17] Auf der Suche nach Kapitalgebern verfallen deshalb gleich alle Universitäten auf die Strategie, ihre alte Erziehungswissenschaft in empirische Bildungsforschung umzuwandeln. Es gibt dann von anderen Teilgebieten des Faches zu wenig und von einem Teilgebiet zu viel. Wenn man das Angebot an Studiengängen ganz dem strategischen Management überlässt und keine Fachgesellschaft darüber wacht, kann offensichtlich die Vielfalt des Angebots leicht dem Einheitsbrei modischer Strömungen weichen. Der Höhepunkt dieser Ökonomisierung der Wissenschaft findet sich in der strategischen Verwertung von Forschungsergebnissen für Patente, deren Erlöse von den Universitäten zur Kapitalbildung genutzt werden. Das Tor zu dieser lukrativen Welt eines akademischen Kapitalismus hat in den USA 1980 der Bayh-Dole-Act geöffnet. Seitdem können Universitäten Patente verwerten, die aus Forschung resultieren, zu der vom Bund Zuschüsse beigesteuert wurden. Anschließend ist die Zahl der von Universitäten angemeldeten Patente sprunghaft angestiegen.[18] Der deutsche Gesetzgeber hat gut ein Vierteljahrhundert später nachgezogen und verspricht sich ein ähnlich florierendes Geschäft für die Universitäten. Das Neue daran ist die tendenzielle Umwandlung von wissenschaftlichem Wissen als Kollektivgut in ein privates Gut, dessen Erträge von dem universitären Unternehmen, an dem es generiert wurde, exklusiv verwertet werden. Die Forscher müssen deshalb dem Verwertungsinteresse der Universität den Vortritt vor der Erstveröffentlichung ihrer Ergebnisse überlassen. Sie selbst werden nur marginal an den Erträgen beteiligt. Vor allem werden sie vom Status des Mitglieds der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf den Status eines Unternehmensmitarbeiters reduziert, der/die das Unternehmensinteresse über das Wohl der wissenschaftlichen Gemeinschaft stellen muss. Hier sieht man den entscheidenden Punkt des sich vollziehenden Wandels. Die wissenschaftliche Gemeinschaft und ihre Fachgesellschaften und die akademische Gemeinschaft werden entmachtet. An ihre Stelle tritt das universitäre Unternehmen, das wissenschaftliches Wissen und akademische Bildung allein unter dem Gesichtspunkt betrachtet, welche Kapitalerträge sich damit erwirtschaften lassen, einschließlich der Attrahierung von Sponsorengeldern, was durchaus auch geisteswissenschaftlichen Zentren zugutekommen kann. Die Voraussetzung dafür sind Sponsoren, die daran ein ausdrückliches Interesse haben. Davon kann am ehesten die Pflege klassischer Disziplinen wie Archäologie, Früh- und Kunstgeschichte profitieren. Die generelle Folge aber ist die Einschränkung der akademischen Freiheit im Interesse der unternehmerischen Kapitalakkumulation im Innenverhältnis der Wissenschaft und die Instrumentalisierung für externe Zwecke im Außenverhältnis. Die Universität verliert die innere Freiheit und die äußere Balance, die Talcott Parsons und Gerald M. Platt als eine Errungenschaft der amerikanischen Universität im 20. Jahrhundert beschrieben haben.[19] Die Forscher im inneren Kern sind nicht mehr Herr des Verfahrens, sondern verwertbares Humankapital. Die Professoren und Studierenden sind nicht mehr Teil einer akademischen Gemeinschaft, die autonom bestimmt, was es zu wissen gilt. Die einen werden zu Verkäufern, die anderen zu Käufern eines Bildungszertifikats, über dessen Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr der Sachwert, sondern der Prestigewert entscheidet. Die akademische Bildung in der Hand der akademischen Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden weicht einem segmentär, regional und lokal differenzierten Bildungsmarkt. Der Transfer des wissenschaftlichen Wissens in die Praxis verliert die Anbindung an die Grundlagenforschung, verselbständigt sich und gerät unter das Diktat der externen Verwertungsinteressen. Die Protagonisten dieses Wandels beschwichtigen Kritiker mit dem Hinweis, dass heute gar nicht mehr eindeutig zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung unterschieden werden könne, vielmehr beides in eins falle. Die Wissenschaftsforschung beschreibt diese Entwicklung als anscheinend zwangsläufigen Prozess hin zum „mode 2“ der Wissensproduktion. Auch im Verhältnis zur Öffentlichkeit macht sich eine Instrumentalisierung der Wissenschaft für externe Zwecke bemerkbar.[20] Auf der Suche nach Kapital und Leistungspunkten reißen Wissenschaftler in der politischen Beratung die Trennzäune zwischen Wissenschaft und Politik ein, indem sie im Interesse des politischen Erfolgs die Augen vor nichtintendierten Folgen ihrer Vorschläge schließen. Zu beobachten ist das z.B., wenn Ökonomen in Regierungskommissionen bei der Frage der Rentenreform nicht mehr nur beraten, sondern gezielt eine Strategie wie z.B. die hoch riskante Privatisierung der Altersvorsorge durchzusetzen versuchen und in der Öffentlichkeit dafür werben. Die dadurch erfolgende Korrumpierung des wissenschaftlichen Wissens findet ihren Höhepunkt darin, dass dieselben Ökonomen Gutachten für die profitierenden Versicherungskonzerne verfassen und gegen Bezahlung Vorträge vor deren Mitarbeitern halten. Auf derselben Linie liegt der Wechsel eines Wissenschaftlers in die Vorstandsränge eines Finanzdienstleisters, nachdem er als Leiter einer Regierungskommission eine Rentenreform eingeleitet hat, von dem Finanzdienstleister erheblich profitieren, weil nun viele Millionen verunsicherte Bürger Beratung benötigen, wie sie ihr Geld in einer privaten Rentenversicherung anlegen sollen. Auch das ist „mode 2“ der Wissensproduktion. Fazit Die unternehmerische Universität entmachtet die wissenschaftliche und die akademische Gemeinschaft und die Fachgesellschaften als Treuhänder des Erkenntnisfortschritts im inneren Kern der Wissenschaft und der Wissensvermittlung in ihrem Außenverhältnis zur Gesellschaft. Die kollektive Suche nach Erkenntnis als Kollektivgut und der kollektive Prozess der Bildung und des Wissenstransfers in die Gesellschaft in der Hand der wissenschaftlichen und der akademischen Gemeinschaft sowie der einzelnen Fachgesellschaften wird von der privatisierten Nutzung des Erkenntnisfortschritts, der Bildung und des Wissenstransfers durch unternehmerische Universitäten im Wettbewerb um Marktanteile abgelöst. Dieser grundlegende institutionelle Wandel bedroht die innere akademische Freiheit und unterwirft Bildung und Wissenstransfer äußeren Zwecken. Er bedeutet eine zunehmende Engführung der Wissensevolution und die Schrumpfung des aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt resultierenden Erneuerungspotentials der Gesellschaft. Die Gleichschaltung aller Funktionsbereiche der Gesellschaft im Zuge der globalen Hegemonie des Marktparadigmas und der Umwandlung von Organisationen mit ganz unterschiedlichen Aufgaben in Unternehmen ist ein Beweis dafür, wie weit die Verarmung des Wissens in den Gesellschaftswissenschaften schon fortgeschritten ist. | Wolfgang Lieb | Die unternehmerische Universität entmachtet die wissenschaftliche und die akademische Gemeinschaft und die Fachgesellschaften als Treuhänder des Erkenntnisfortschritts im inneren Kern der Wissenschaft und der Wissensvermittlung in ihrem Außenverhältnis zur Gesellschaft. Die kollektive Suche nach Erkenntnis als Kollektivgut und der kollektive Prozess der Bildung und des Wissenstransfers in die ... | [
"Ökonomisierung",
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"unternehmerische Hochschule"
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"Chancengerechtigkeit",
"Hochschulen und Wissenschaft",
"Markt und Staat"
] | 19. März 2013 9:26 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=16573&share=email&nb=1 |
Gedanken zur US-Wahlnacht und zur Berichterstattung | Seit Tagen schon werden wir auf die US-Präsidentenwahl eingestimmt. Die gestrigen Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auch “Die Anstalt” des ZDF und Markus Lanz zum Beispiel waren voll vom Thema. Ungefähr ab Mitternacht wurde dann auf den öffentlich-rechtlichen Kanälen ARD, ZDF und Phoenix bis in den Morgen davon berichtet – mit vielen Berechnungen, Analysen und Interviews. Warum eigentlich so intensiv? Warum so viel? So ist das eben. Die Vasallen müssen wissen, was und wie beim Imperator gespielt wird. Es folgen ein paar Beobachtungen. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Vorher noch der Hinweis auf die neueste Entwicklung heute früh: Trump erklärt sich zum Sieger. Siehe Screenshot der ARD-Meldung. Nun aber die Beobachtungen von heute Nacht. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Zuneigung notiere ich, was mir auffiel: | Albrecht Müller | Seit Tagen schon werden wir auf die US-Präsidentenwahl eingestimmt. Die gestrigen Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auch "Die Anstalt" des ZDF und Markus Lanz zum Beispiel waren voll vom Thema. Ungefähr ab Mitternacht wurde dann auf den öffentlich-rechtlichen Kanälen ARD, ZDF und Phoenix bis in den Morgen davon berichtet - mit vielen Berechnungen, Analysen und Interviews ... | [
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] | 04. November 2020 12:09 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=66505&share=email&nb=1 |
WSI: Beschlüsse des Koalitionsausschusses in Sachen Mindestlohn setzen hohe Hürden | Der Mindestlohn-Kompromiss der Großen Koalition bringt allenfalls eine Teillösung des Niedriglohnproblems. Er baut hohe Hürden für die Ausweitung des Entsendegesetzes auf und sieht ein umständliches branchenbezogenes Verfahren für Lohnuntergrenzen vor. Zu diesem Ergebnis kommt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) in einer ersten Analyse des Koalitionsbeschlusses. “Bestenfalls werden die geplanten Regelungen zu einem Flickenteppich von unterschiedlichen Lohnuntergrenzen führen”, resümieren die WSI-Forscher Reinhard Bispinck, Thorsten Schulten und Claus Schäfer.
Wir geben diese Analyse des WSI hier wieder: Arbeitnehmer-Entsendegesetz
Künftig soll das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf die Branchen ausgedehnt werden, in denen mindestens 50 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden sind. Diese Voraussetzung gilt in der bisherigen Fassung des Entsendegesetzes nicht. Ob auf dieser Grundlage tatsächlich weitere 10 bis 12 Branchen das Entsendegesetz anwenden können, ist unsicher, denn verlässliche Daten dazu liegen nicht vor und sind auch in vielen Fällen nur sehr schwer zu ermitteln. Auch wenn die Voraussetzung erfüllt ist, kommt ein tariflicher Mindestlohn nach dem Entsendegesetz nur dann zustande, wenn die Arbeitgeberverbände dazu bereit sind und die jeweilige Branche tariflich bundesweit erfasst wird. Das heißt, dass bereits einzelne regionale Arbeitgeberverbände eine solche Lösung blockieren können. In vielen Niedriglohnbranchen gibt es zurzeit keine flächendeckenden aktuellen Lohn- und Gehaltstarifverträge. Dazu zählen unter anderem das Bäckerhandwerk, das Bewachungsgewerbe, der Erwerbsgartenbau, das Fleischerhandwerk, die Floristik, das Friseurhandwerk, das Hotel- und Gaststättengewerbe und die Systemgastronomie. Mindestarbeitsbedingungsgesetz
Für alle Branchen, die die Voraussetzung zur Anwendung des Entsendegesetzes nicht erfüllen oder für die es überhaupt keine tariflichen Regelungen gibt, soll ein Mindestlohn auf der Grundlage des zu modernisierenden Mindestarbeitsbedingungsgesetzes von 1952 festgesetzt werden können. Dies bedeutet, dass für jeden einzelnen Wirtschaftszweig jeweils ein gesondertes Verfahren geführt werden muss. Im Ergebnis kommt es zu einer kaum kontrollierbaren Vielzahl von regional unterschiedlichen branchenbezogenen Mindestlöhnen. Viele kleinere Branchen werden höchstwahrscheinlich ganz durch die Maschen eines solchen Gesetzes fallen, so die Forscher. Nach der Analyse des WSI wird sich in der Praxis rasch zeigen, dass der Kompromiss die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen und für viele Niedriglohnbezieher keine Verbesserungen bringen wird. Hierzu bedarf es nach Auffassung der Wissenschaftler neben einer allgemeinen Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, die allen Branchen grundsätzlich die Nutzung dieses Instruments ermöglicht, einen branchenübergreifenden einheitlichen Mindestlohn, der bei Vollzeitbeschäftigung einen angemessenen Lebensunterhalt sichert. | Wolfgang Lieb | Der Mindestlohn-Kompromiss der Großen Koalition bringt allenfalls eine Teillösung des Niedriglohnproblems. Er baut hohe Hürden für die Ausweitung des Entsendegesetzes auf und sieht ein umständliches branchenbezogenes Verfahren für Lohnuntergrenzen vor. Zu diesem Ergebnis kommt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) in einer ersten Analyse des K ... | [
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] | 19. Juni 2007 15:27 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=2419&share=email |
Leserbriefe zu “‚Für Sama‘ – Kitsch und Kriegsverlängerung für Syrien” | Der Artikel „‚Für Sama‘ – Kitsch und Kriegsverlängerung für Syrien“ hat einige Leser zu Briefen angeregt. Wir geben einige der Zuschriften hier wieder. Zusammengestellt von Redaktion.
1. Leserbrief Hallo NDS, sehr geehrter Herr Riegel, unwillkürlich mußte ich beim Lesen Ihres Artikels an den Film “Erik der Wikinger” denken – an die Atlantianer, die, an Weintrauben lutschend und Blumenkränzchen tragend, “Wir versinken nicht!” skandieren, während das Meerwasser ihnen schon ins Erdgeschoß läuft. Die Realitätsverweigerung der Medien ist ja bekannt, auch die Einflußnahme der CIA auf den Kulturbetrieb, und es würde mich kein bißchen wundern, wenn man im Wahrheitsministerium schon längst auf den Gedanken gekommen ist, einige der Pentagon-PR-Leute, von denen der damalige AP-Chef gesprochen hat, auch bei den Filmproduktionsstätten und Filmbesprechungsmultiplikatoren zu installieren. Ich werde mir den Film wahrscheinlich nicht ansehen, daß Krieg Sch… ist, das weiß ich schon. Nein, denn wenn sich dem interessierten Bürger in den letzten zwei Jahrzehnten etwas erschlossen hat, dann der simple Umstand, daß die Wirklichkeit keine Oscars bekommt. Frieder Wagners Filme zum Beispiel (für deren Entstehung die Crew und Protagonisten sogar ernsthafte Erkrankungen in Kauf genommen haben), die WDR-Doku über den Kosovo, oder auch ein Vortragsabend über Syrien des esoterischen Nazi-Alienagenten Ganser: totschweigen, aus dem Programm werfen, denunzieren ist da angesagt.
Ob da nicht doch hin und wieder ein Mister X beim Chef eines Senders anruft, der zu sehr aus der Reihe tanzt und sich mit besonderer Wahrheitsliebe hervortut? Auch das würde mich kein bißchen wundern. Jamie Shea bringts auf den Punkt; und danach folgen ein paar Minuten einer Doku, die sicherlich auch keinen Kritiker-Jubelsturm ausgelöst hat, aber ganz gut zeigt, womit wir es in Wahrheit zu tun hatten (und natürlich immer noch haben; wahrscheinlich sogar viel umfangreicher als damals): youtu.be/LIcu1rzsAhs?t=25 Mit freundlichen Grüßen
J.B. 2. Leserbrief Sehr geehrter Herr Riegel, Ich habe den Kinofilm noch nicht gesehen, empfand die Aufmachung aber sofort als eine “BRUTKASTENLÜGE” (s. USA/Kuwait 1990). Dazu habe ich auf der Web Site von Vanessa Beeley zwei sehr aufschlussreiche Berichte gefunden [1][2]. Brisant, Zum Hauptdarsteller: “Hamza Al-Khateab” ist Zahed Katurji [3].
Der Grund, warum der Hauptdarsteller unter dem Pseudonym Dr. Hamza Al-Khateab auftritt, ist offenbar der, dass er sich früher mit ISIS-Enthauptern und Kinderschändern hat fotografieren lassen! Es existieren Twitter-Fotos und ein Video von der Enthauptung eines 12-jährigen Palestinenser-Jungen [4]. Sein Freund war angeblich der Al-Zinki-Terrorist Maayouf Abu Bahr.
Haarsträubend, diese schamlose Propaganda im Film. [1] Rick Sterling, 5.feb 2020: “For Sama, A beautiful yet deceptive documentary that betrays reality in Syria”
thewallwillfall.org/2020/02/05/for-sama-a-beautiful-yet-deceptive-documentary-that-betrays-reality-in-syria/ [2] Vanessa Beeley, 13.feb 2020: “Oscar-nominated “For Sama” will put Al Qaeda back on Hollywood’s red carpet”
thewallwillfall.org/2020/02/13/oscar-nominated-for-sama-will-put-al-qaeda-back-on-hollywoods-red-carpet/ [3] Julia Rampen, 2.nov 2017: “The last doctor out of eastern Aleppo ..”
newstatesman.com/world/middle-east/2017/11/last-doctor-out-eastern-aleppo-you-can-t-just-turn-your-back-and-walk-away [4] Walid @walid970721, Feb 6 2020
twitter.com/walid970721/status/1224726286649692160 Mit freundlichen Grüßen
S.K. 3. Leserbrief Lieber Tobias Riegel,
Zwei Ebene in diesem Film. Die erste Ebene beschreibst du sehr gut, aber warum die zweite Ebene ?
hat dieser Film überhaupt den Anspruch auf dieser zweiten Ebene einzugehen ?
Zur Erinnerung:
Der Film ist ein Liebesbrief der jungen Mutter Waad al-Kateab an ihre Tochter Sama. Über einen Zeitraum von fünf Jahren erzählt sie von ihrem Leben im aufständischen Aleppo, wo sie sich verliebt, heiratet und ihr Kind zur Welt bringt, während um sie herum der verheerende Bürgerkrieg immer größere Zerstörung anrichtet. Ihre Kamera zeigt auf berührende und unmittelbare Weise Verlust, Überleben und Lebensfreude inmitten des Leids. Waad muss sich entscheiden, ob sie fliehen und ihre Tochter in Sicherheit bringen oder bleiben und den Kampf für die Freiheit weiterführen soll, für den sie schon so viel geopfert hat.
Da die heutige Generation keinen Krieg miterlebt hat, sind solche Filme leider notwendig. Was du als zweite Ebene bezeichnest, ist ein völlig anderes Thema !
Liebe Grüße
D.H. 4. Leserbrief Hinweis bzw. Leserbrief zum Artikel “Für Sama – …”, 5.3., von Tobias Riegel: Liebe Nachdenkseiten, Ich möchte auf Folgendes hinweisen (Bestimmt ist es Ihnen auch selbst untergekommen!): Genau so eine der Lobeshymnen auf den Film “Für Sama”, wie sie Tobias Riegel in seinem Beitrag kritisiert, ist unter dem Titel “Konfetti und Bomben” in Jakob Augsteins “der Freitag” vom 5.3. erschienen. Der Autor des Artikels ist Arno Raffeiner. Um die schlimme Situation in Aleppo während der Belagerung (bis Dezember 2016) zu instrumentalisieren, wird etwa folgendes erzählt: Gekocht werden kann nur von Ungeziefer befallener Reis, aber, so eine Nachbarin der Erzählerin im Film: “Trotzdem hersche kein Mangel: Kugeln Fassbomben, Chlorgas – alles, was Assad gefällt, bekommt man jeden Tag frei Haus geliefert.” Auch die Weißhelme sind “eine Gruppe Freiwilliger, die nach Bombeneinschlägen zur Stelle sind, um die Verschütteten aus den Trümmern zu befreien.” Also: Von Assad kommen Kugeln, Fassbomben und Chlorgas (also all das was ihm die westlichen Nachrichten vorwerfen), und die Weißhelme sind die großen Helfer! Diese Filmvorstellung im “der Freitag” zeigt, wie das Kriegsleid und ebenso die Tapferkeit und der Humor der Bürger auch bei sonst durchaus kritischen Teilen der Öffentlichkeit zum Manipulieren benutzt werden kann. Grüße von
M.K. 5. Leserbrief Sehr geehrte Damen und Herren der Nachdenkseiten. Zu Ihrem heutigen Beitrag “„Für Sama“ – Kitsch und Kriegsverlängerung für Syrien” habe ich bei “Blauer Bote Magazin ” gelesen, dass Reuters am 03.03.2020 folgendes veröffentlichte: Zitat Damit gesteht Angela Merkel das höchste Völkerrechtsverbrechen und den Angriffskrieg gegen Syrien. Mit freundlichen Grüßen.
G.C. Anmerkung zur Korrespondenz mit den NachDenkSeiten Die NachDenkSeiten freuen sich über Ihre Zuschriften, am besten in einer angemessenen Länge und mit einem eindeutigen Betreff. Es gibt die folgenden Emailadressen: Weitere Details zu diesem Thema finden Sie in unserer „Gebrauchsanleitung“. | Redaktion | Der Artikel „‚Für Sama‘ – Kitsch und Kriegsverlängerung für Syrien“ hat einige Leser zu Briefen angeregt. Wir geben einige der Zuschriften hier wieder. Zusammengestellt von Redaktion.
1. Leserbrief
Hallo NDS, sehr geehrter Herr Riegel,
unwillkürlich mußte ich beim Lesen Ihres Artikels an den Film "Erik der Wikinger" denken - an die Atlantianer, die, an Weintrauben lutschend und Blumen ... | [
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] | 10. März 2020 11:10 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=59156&share=email&nb=1 |
Ein Musterbeispiel für die Eroberung von wichtigen politischen Einrichtungen. Von Jochen Scholz. | Am 2. November 2017 brachten die NachDenkSeiten einen Bericht über die üblich gewordene Eroberung wichtiger Einrichtungen durch Lobbyisten. Dieser Text folgte auf andere Beiträge, in denen wir darauf aufmerksam gemacht hatten, wie wichtige Einrichtungen unserer Gesellschaft von neoliberalen und Nato-orientierten Kräften erobert werden. Angeregt davon schickte uns Jochen Scholz, jahrelang Berufsoffizier und friedenspolitisch aktiv, einen Bericht über seine Erfahrungen. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Ein junger Mann löst sich zu Beginn der 1970er Jahre aus seiner konservativ geprägten politischen und gesellschaftlichen Sozialisation, die stark durch die Seminare der in Landesverbänden organisierten „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise“ beeinflusst worden war. Der Kreis der meist ehrenamtlichen Referenten setzte sich unter anderem aus ehemaligen Mitarbeitern der Wehrmachts-Propagandakompanien, des Göbbelsministerium „für Volksaufklärung und Propaganda“ sowie der Wochenzeitung „Das Reich“ zusammen. Zu den Zielgruppen gehörten die künftigen Führungskräfte von Polizei, Zoll, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr. Dem jungen Mann eröffnen sich innen- wie außenpolitisch mit dem Antritt der Regierung Brandt-Scheel und deren Ministern Gerhard Jahn und Walter Arendt völlig neue Horizonte, und er beschließt, die das ganze Land erfassende Aufbruchstimmung nach dem eher drögen und veränderungsscheuen Agieren der bisherigen Bundesregierungen mitzugestalten: er tritt in die SPD ein.
Nach den langen Jahren der Regierungsabstinenz gab es 1998 endlich eine reale Chance für seine Partei, die nächste Bundesregierung zu führen. Also stürzte er sich in den Wahlkampf für rot-grün, der von den Themen soziale Gerechtigkeit und einer Außenpolitik geprägt war, die Friedenspolitik sein sollte. Die Reminiszenzen an die Wahlkämpfe von Willy Brandt waren unverkennbar. Seine persönliche Enttäuschung setzte jedoch bereits vor Antritt der neuen Regierung Schröder/Fischer, am 12. Oktober des Wahljahres wegen Entwicklungen und Entscheidungen ein, die ihm durch das Beziehungsgeflecht in seinem beruflichen Umfeld nahezu in Echtzeit bekannt wurden: Auf die Zusicherung von Außenminister Kinkel hin, dass der Bundestag zu jedem NATO-Beschluss gefragt werden müsse, gibt Schröder die geforderte Zusage. Wie viel Kinkels Zusicherung wert war, zeigte sich in den Monaten danach. Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober 1998, der Bundesrepublik Jugoslawien unter deutscher Beteiligung militärische Gewalt anzudrohen, ging ohne weitere Befassung des Parlaments am 24. März 1999 unter sozialdemokratischer Führung in den ersten völkerrechtswidrigen Krieg Deutschlands seit 1945 über. Unser inzwischen nicht mehr ganz so junger Mann gibt noch nicht auf. Er lässt sich Ende 1998 vom Parteifreund und Direktor des „Institut(s) für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“ an der Universität Hamburg, Dieter S. Lutz, in die von ihm ins Leben gerufene „Kommission Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ (Bundeswehrkommission) berufen. Das 1971 gegründete Institut hat den Auftrag, „friedensrelevante Forschung verstärkt zu fördern“. Seine beiden ersten Direktoren, der General a. D., Friedensforscher und geistige Vater der „Inneren Führung“ der Bundeswehr, Wolf Graf Baudissin (1971 bis 1984) und Egon Bahr (1984 bis 1994) waren hinsichtlich der Umsetzung dieses Forschungsauftrags über jeden Zweifel erhaben. Dieter S. Lutz (1994 bis 2003) versuchte gegen die nach 1990 immer deutlicher werdenden Tendenzen, Deutschlands Kultur der Zurückhaltung in der Außenpolitik zugunsten einer vermeintlichen, an den Verbündeten orientierten „Normalität“ zu ersetzen, den Kurs seiner beiden Vorgänger fortzuführen. Dazu gehörte es auch, die Arbeitsgremien mit Personen zu besetzen, die eine militärisch gestützte Interessenpolitik und einen laxen Umgang mit dem Völkerrecht als einen historischen Rückschritt ansahen. Dies gelang zwar, die erarbeiteten Konzepte und Arbeitspapiere fanden jedoch in der Politik keine Abnehmer mehr, weil sich die rot-grüne Bundesregierung zwischen 1998 und 2002 dem außenpolitischen Kurs der US-Präsidenten Clinton und George W. Bush widerspruchslos untergeordnet hatte. Beispielhaft hierfür steht Bundeskanzler Schröders Forderung nach der „Enttabuisierung des Militärischen“ . Von einem sozialdemokratischen Regierungschef hätte man eigentlich eine Haltung erwarten dürfen, wie sie der 2016 verstorbene Karl Feldmeyer in der FAZ vom 23. 11. 2002 formulierte: Karl Feldmeyer kam damit den Vorstellungen von Dieter Lutz hinsichtlich einer verfassungsgemäßen Außen- und Sicherheitspolitik ziemlich nahe. Zum Erscheinungszeitpunkt des Leitartikels war Lutz bereits zutiefst enttäuscht über seine Partei und auch zunehmend desillusioniert, was seine Einflussmöglichkeiten betraf. Unser Protagonist konnte seinen Weg in die sich abzeichnende Resignation bei vielen Gelegenheiten beobachten. Nachdem durch den Rücktritt Oskar Lafontaines von allen Partei- und Regierungsämtern im April 1999 ein neuer Parteivorsitzender gewählt werden musste, berieten die sich zur Parlamentarischen Linken zählenden Abgeordneten und Unterstützer am Vorabend in ihrem Bonner Stammlokal „Linde“ über den Leitantrag, der die Delegierten aufforderte, der Fortsetzung des seit drei Wochen anhaltenden Krieges gegen Jugoslawien zuzustimmen. Während der Debatte saß Dieter Lutz mit versteinertem Gesicht auf seinem Platz und war unfähig, mit Argumenten in die Diskussion einzugreifen. Am folgenden Tag, während des Ganges durch die Reihen der Parteitagsdelegierten, wiederholte er ein um das andere Mal tief getroffen: Stell Dir vor, so etwas machen unsere Leute! Aber er fing sich noch einmal und machte zusammen mit seinem Stellvertreter Reinhard Mutz am 24. März 2001 den Versuch, mit einem Offenen Brief die Abgeordneten des Deutschen Bundestages für die Idee zu gewinnen, eine unabhängige Untersuchung der Hintergründe und Folgen dieses Krieges einzuleiten. Der Vorschlag enthielt die zwei Jahre nach dem Geschehen gewonnenen Einsichten und vor allem Erkenntnisse über das Lügengebäude – im heutigen Sprachgebrauch Fake News – mit dem der Krieg gerechtfertigt worden war, so wie einige unleugbare Fakten über seine Völkerrechtswidrigkeit. Die einzig bekanntgewordene Reaktion aus dem Bundestag stammt vom seit 1998 stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden und Zuständigen für Außenpolitik, Gernot Erler. Er hatte seine politische Laufbahn der Unterstützung aus dem Freiburger Umfeld der Friedensbewegung zu verdanken und galt bis 1998 als links. Bereits während der oben erwähnten Sitzung in der „Linde“ hatte sich gezeigt, dass er seine Überzeugungen – er war u. a. Fördermitglied im „Darmstädter Signal“ – zugunsten der Karriere ad acta gelegt hatte, obwohl an diesem Abend noch Anzeichen von schlechtem Gewissen wegen der Vorwürfe aus seinem Freiburger Parteiumfeld zu erkennen waren. Bei der schäbigen Antwort an seinen Parteifreund Lutz hatte sich das schlechte Gewissen längst verflüchtigt, schließlich musste er den „Laden zusammenhalten“. Das war natürlich wichtiger, als sich an Völkerrecht und Verfassung zu halten. Wie die Überschrift seines Interviews mit der Badischen Zeitung – „Friedenspolitik ist mein Lebensthema“ – vor diesem Hintergrund einzuordnen ist, muss wohl nicht weiter erläutert werden. Dieter Lutz ist es hoch anzurechnen, dass er entgegen des Kurses seiner (Regierungs-)Partei und deren finanziellen Druckmitteln im Institut und seiner „Bundeswehrkommission“ für die personelle Kontinuität sorgte, die dessen Auftrag erfordert. Nach seinem frühen Tod 2003 und der Interimszeit bis 2006 sieht dies heute anders aus. Da wurden Studien und Arbeitspapiere gemeinsam mit einem Offizier erstellt, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter der grünen Bundestagsfraktion beim Sonderparteitag im Mai 1999 in Bielefeld jubelnd die Arme hochgerissen hatte, als die Delegierten der Fortsetzung des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien zustimmten. In die Kommission wurden aktive und ehemalige Bundestagsabgeordnete berufen, deren außenpolitischer Horizont nicht über die Vasallentreue zur NATO-Führungsmacht hinausreicht, die gleichwohl jedoch stets behaupten, dem Frieden verpflichtet zu sein, u. a. Winfried Nachtwei. Wer dessen verbale Eiertänze liest – hier und hier – und sie mit den Argumenten im Offenen Brief von Dieter Lutz vergleicht, dem dürfte es schwerfallen, den ehemaligen grünen Bundestagsabgeordneten als dessen Gleichgesinnten anzusehen; zumal Nachtwei noch heute einige längst als Lügen entlarvte Begründungen für den Angriffskrieg hochhält und dem KFOR-Einsatz der Bundeswehr seine Referenz erweist: „Nachtwei: KFOR darf kein vergessener Einsatz sein“. Den Antrag „Die Luftangriffe sofort beenden und mit der Logik der Kriegsführung brechen“ beim Bielefelder Sonderparteitag 1999 seiner Partei hatte er hingegen nicht mitgetragen, obwohl es eigentlich in der Logik seiner Enthaltung bei der Abstimmung am 16. Oktober 1998 über den „Antrag der Bundesregierung über die Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt“ gelegen hätte, mit dem für Deutschland das Verhängnis begann. Nicht besser sieht es bei Lars Klingbeil (SPD) aus, der bis vor Kurzem Mitglied der Bundeswehrkommission war und sich beim „Förderkreis des Deutschen Heeres“ als Rüstungslobbyist betätigt. Dessen Nachfolge trat Niels Annen an, der als außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion zu vertreten hat, was sich die Partei 2017 in ihr Regierungsprogramm geschrieben hatte: „Die NATO ist und bleibt ein tragender Pfeiler der transatlantischen Partnerschaft. Sie ist für Frieden und Sicherheit in einer Zeit neuer internationaler Unsicherheiten und Herausforderungen unverzichtbar.“ Wer einst „Senior Resident Fellow“ beim German Marshall Fund in Washington war und Mitglied der Atlantikbrücke ist, gibt dann solche Propagandasprüche von sich: Auch Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) ist während seiner Zeit als Mitglied des Verteidigungsausschusses nicht als Gegner einer global einsatzfähigen Bundeswehr aufgefallen Der Charakter der einst von Dieter Lutz gegründeten Bundeswehrkommission hat sich grundlegend verändert. Sie ist unter der neuen Leitung zu einem Organ geworden, das im Grundsatz den außen- und sicherheitspolitischen Kurs der jeweiligen Bundesregierung mitträgt. Damit reiht sie sich ein in die Institutionen, die sich einer transatlantisch konformen Beratung verschrieben haben wie die Stiftung Wissenschaft und Politik, der deutsche Teil des German Marshall Fund, die Bundesakademie für Sicherheitspolitik oder das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Wie in zahlreichen anderen Gremien wird auch am ISFH mit zielgerichteter Personalpolitik verhindert, was schon Friedrich II. von Preußen von Politikberatung forderte: Ich habe Sie zum Stabsoffizier gemacht, damit Sie wissen, wann Sie nicht gehorchen sollen. Ob die wenigen aus der Ära Lutz in der Kommission Verbliebenen das Steuer noch einmal herumreißen können, bleibt nach dem Tod von Reinhard Mutz am 13. Dezember 2017 fraglich. Nachbemerkung: unser Protagonist ist nach 2009 aus der Bundeswehrkommission ausgeschieden. | Albrecht Müller | Am 2. November 2017 brachten die NachDenkSeiten einen Bericht über die üblich gewordene Eroberung wichtiger Einrichtungen durch Lobbyisten. 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] | 15. Januar 2018 15:34 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=41922 |
Die Terror-Indoktrination | Der Islam strebt nach der Weltherrschaft und ist eine Terror-Religion? Das Kopftuch ist ein Symbol der Unterdrückung? Überall zwischen uns leben „Schläfer“? In deutschen Moscheen werden Terroristen akquiriert? Muslime bedrohen „unsere Werte“ und haben bereits qua Religion eine gefährliche Neigung zu Gewalt? Glauben Sie etwas hiervon? Dann sind Sie womöglich Opfer geheimdienstlicher Psychotechniken geworden. Ein Opfer, das nun in einem Weltbild gefangen ist, mit dem es kaum mehr anders vermag als den neokolonialen, kriegerischen Interessen der Mächtigen emotional Folge zu leisten. Konkret also etwa die Mehrzahl der Armen der Welt pauschal als Terroristen und einige der rohstoffreichsten Länder des Planeten als zu zivilisierende Horte der Barbarei wahrzunehmen. Das legen zumindest die Erkenntnisse des Filmemachers Moritz Enders nahe, dessen Dokumentation zur Verstrickung westlicher Geheimdienste in das Attentat auf Johannes Paul II. soeben im ZDF zu sehen war. Jens Wernicke sprach mit ihm.
Herr Enders, gerade lief auf ZDFinfo eine gekürzte Fassung der Dokumentation „Schüsse auf dem Petersplatz“, die Sie zusammen mit Werner Köhne gedreht haben, und deren Langfassung im ersten Quartal nächsten Jahres auf arte zu sehen sein wird. Warum dieser Film? Was ist für Sie oder uns so wichtig – an einem über 35 Jahre zurückliegenden Attentat? Das Attentat auf Papst Johannes Paul II. ist eines der ganz großen politischen Verbrechen des letzten Jahrhunderts gewesen, ähnlich bedeutend wie das auf John F. Kennedy. Einige haben es sogar als Jahrhundertverbrechen bezeichnet. Aber Sie haben natürlich recht, wenn Sie fragen: Was hat das mit uns heute im Jahr 2015 zu tun? Ist es mehr als einfach ein Stück Zeitgeschichte? Ich denke, ja. Ich denke, dass das Papstattentat exemplarisch ist für das Phänomen des Terrorismus, für tatsächliche oder vermeintliche internationale Verstrickungen in diesen sowie für die anschließende propagandistische Instrumentalisierung des jeweiligen Ereignisses. Insofern ist das Thema nach wie vor aktuell. Können Sie bitte einmal zusammenfassen, was damals geschah, wie hierüber berichtet wurde – und worin sich Ihre Recherchen nun von den damaligen Erkenntnissen unterscheiden? Nicht nur, aber auch, weil ich zurzeit dieses Attentates erst 4 Jahr alt war. Ich weiß sozusagen nichts davon… Was man sicher weiß, ist, dass ein Attentäter namens Mehmet Ali Agca am 13. Mai 1981 auf den Papst geschossen hat. An dem Tag hatten sich zahlreiche Gläubige auf dem Petersplatz versammelt, um dem Pontifex zuzujubeln. Johannes Paul II. stand auf einem offenen Wagen, der langsam über den Platz rollte. So wirkte es, als würde er durch die begeisterte Menschenmenge schweben. Agca gab dann die Schüsse aus wenigen Metern Entfernung ab, allerdings aus einer ungünstigen Schußposition, da sich vor ihm noch einige Personen befanden, über die er hinwegschießen musste. Mit seiner Aktion verwundete er den Papst zwar schwer, tötete ihn aber nicht. Was man nach wie vor nicht sicher weiß, ist, wie viele Schüsse abgegeben wurden und ob diese aus ein und derselben Waffe stammten. Die meisten unserer Interviewpartner haben von drei Schüssen gesprochen, doch es gibt auch Leute, die meinen, es seien vier gewesen. Zwei der entsprechenden Projektile wurden von der italienischen Polizei sichergestellt, ein drittes verblieb in Besitz des Vatikans und konnte von der italienischen Polizei nicht untersucht werden. Auch sind einige Fotos aufgetaucht, die Fragen aufwerfen. Auf einem sieht man etwa einen jungen Mann vom Petersplatz flüchten. Viele meinen, dass es sich hier um Oral Celik handelt, ein Mitglied der türkischen Grauen Wölfe und Verbindungsmann dieser Organisation zu westlichen Geheimdiensten. Celik wurde wohl über viele Jahre vom französischen Geheimdienst protegiert. Hierzu haben wir stichhaltige Aussagen des Ermittlungsrichters Rosario Priore und des Anwalts Michele Gentiloni, der Celik verteidigt hat, nachdem dieser nach jahrelangem Gezerre von den französischen Behörden endlich an Italien überstellt worden war. Und ein weiteres Foto zeigt angeblich Sergej Antonov, den Leiter einer bulgarischen Airline in Rom, wenige Meter von Ali Agca entfernt. Nach einer Lesart, die in der Öffentlichkeit viel Anklang gefunden hat, sei Antonov aber in Wirklichkeit der Chef des bulgarischen Geheimdienstes in Rom gewesen. Er habe das Attentat in Rom in Auftrag gegeben, stellvertretend für einen sowjetischen Geheimdienst, den KGB oder den GRU, weil der Papst in Polen, seinem Heimatland, mit der Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność zu viel Unruhe gestiftet hätte. Und, sind Sie dieser Spur nachgegangen? Waren die Russen bzw. war deren Geheimdienst in das Attentat verstrickt? Der Ermittlungsrichter Rosario Priore, der sich viele Jahre lang mit dem Attentat beschäftigt hat, sagte uns, dass er sich nicht vorstellen könne, dass heute noch jemand auf die Idee käme, diese “bulgarische Spur” ernsthaft zu verfolgen. Die Autoren David Eisenhower und John Murray nehmen in ihrem absolut lesenswerten Buch „Warwords – U.S. Militarism, the Catholic Right and the ‚Bulgarian Connection‘” diese sogenannte “bulgarische Spur” fein säuberlich auseinander. Ähnliches tut die ehemalige SPIEGEL-Korrespondentin in Rom, Washington und New York Valeska von Roques in ihrem Buch “Verschwörung gegen den Papst”. Die Journalisten Marco Ansaldo und Yasemin Taskin haben nachgelegt und das Werk “Uccidete il Papa” veröffentlicht. Auch ihrer Meinung nach ist die “bulgarische Spur” völlig haltlos. Marco Ansaldo hat Werner Köhne und mich freundlicherweise auch zu dem Ort begleitet, an dem Agca von einem Bulgaren namens Sergej Antonov mit dem Anschlag auf den Papst beauftragt worden sein will. Was genau wissen wir heute? Antonov war seinerzeit festgenommen worden, nachdem Agca ausgesagt hatte, er hätte sich mit ihm und zwei weiteren Bulgaren in Antonovs Wohnung getroffen, um das Papstattentat vorzubereiten. Agca hat inzwischen mindestens hundert Varianten zu den Hintergründen des Verbrechens verbreitet, aber auch zu diesem relativ frühen Zeitpunkt konnte man ihn wohl kaum als glaubwürdig einstufen. Zudem strotzte Agcas Aussage vor Widersprüchen. An einem bestimmten Tag will er in Antonovs Wohnung von dessen Ehefrau mit Tee und Keksen bewirtet worden sein, doch die befand sich zu dem Zeitpunkt nachweislich in Bulgarien. Agca konnte zwar viel zu Antonov sagen, etwa, dass es sein Hobby war, kleine Schnapsflaschen zu sammeln. Und von seinen angeblichen Mitverschwörern kannte er vielleicht noch den Leberfleck auf der Nasenspitze. Er wußte aber nicht, wie groß oder klein sie waren. Zudem hätte man sich fragen können, in welcher Sprache der Plan zum Anschlag eigentlich ausgeheckt worden sein sollte. Denn Agca konnte seinerzeit nur Türkisch, das Antonov aber nicht beherrschte. Endgültig aufgeflogen ist Agcas Falschaussage aber, als ihn ein Ermittler nach der Beschaffenheit von Antonovs Wohnung befragte. Konkret ging es um eine bewegliche Trennwand, wie sie sich diese in allen Wohnungen des Gebäudes befanden, nicht aber in der von Antonov. Agca tappte in die Falle und verstieg sich zu der Aussage, dass sich eine derartige Wand auch im Wohnzimmer Antonovs befunden habe. Mit anderen Worten: Agca kannte die Aufkleber der Schnapsflaschen, die Antonov gesammelt hatte, wußte aber nicht, wie es in dessen Wohnung aussah. Interessant in diesem Zusammenhang ist es, dass direkt unter Antonov der Rektor der Universität “Pro Deo” wohnte, ein Mann namens Felix Morlion, der engste Kontakte zur CIA unterhielt. Der Journalist Marco Ansaldo geht davon aus, dass Agca im Gefängnis von Geheimdienstmitarbeitern für seine Aussage instruiert worden ist. Das würde auch erklären, warum Agca zwar die Gesichter seiner Mitverschwörer beschreiben konnte, nicht aber ihre Körpergröße kannte. Man hatte ihm offensichtlich Portraitfotos gezeigt. Man könnte auch vermuten, dass Felix Morlion nicht gewußt hatte, dass ausgerechnet die Wohnung von Antonov nicht mit einer derartigen Trennwand bestückt war wie all die anderen Wohnungen in diesem Haus. …aber das Foto, das Antonov angeblich auf dem Petersplatz zeigt? Über dieses Foto ist viel diskutiert worden. Der ehemalige Senator Paolo Guzzanti, der einer parlamentarischen Untersuchungskommission vorgesessen hatte, glaubt, dass dieses Foto tatsächlich Antonov zeigt. Hierfür habe er zwei Gutachten anfertigen lassen. Viele andere meinen allerdings, es stelle einen amerikanischen Touristen dar, der Antonov nur ähnele. Der habe sich dann auch bei den Behörden gemeldet, um das Mißverständnis aufzuklären. Ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten, frage mich allerdings, ob jemand, der ein Verbrechen in Auftrag gibt, zur Tatzeit tatsächlich am Tatort erscheinen würde. Dann hätte er ja kein Alibi. Und Antonov hatte für die Tatzeit übrigens sogar eines. Allerdings kein wasserdichtes. Sie haben über Felix Morlion gesprochen, der im gleichen Wohnhaus lebte wie Sergej Antonov und enge Kontakte zu CIA unterhielt. Spielte die CIA denn eine prominente Rolle in der Angelegenheit? Für eine aktive Verstrickung der CIA oder anderer Geheimdienste in den Anschlag haben wir keine Anhaltspunkte gefunden. Aber zumindest hat die CIA eine prominente Rolle gespielt, als er darum ging, das Attentat dem bulgarischen Geheimdienst anzuhängen. Um zu erfahren, wie sie das gemacht haben, haben wir Melvin Goodman interviewt, seinerzeit Chefanalyst für UDSSR-Fragen bei der CIA. Er sagte uns, dass die CIA bewusst Informationen gestreut hat, die dann von europäischen Journalisten aufgegriffen wurden. Die stießen dann also – allerdings nicht zufällig – auf einige Indizien, die eine bulgarische Verstrickung nahelegten. Diese wurden zuerst in Zeitungsartikeln verarbeitet. Und dann kam die Stunde von Claire Sterling, die unter anderem für die New York Times und den Reader´s Digest schrieb. Sie fasste das alles in einem Buch zusammen und meinte nun, die Schuld der Bulgaren endgültig belegt zu haben. Vielleicht nicht für alle überraschend ist dabei, dass Sterling selbst enge Kontakte zur CIA unterhielt. Wie dem auch sei, dieses Buch bekam William Casey, der damalige Direktor der CIA, zwischen die Finger und regte sich furchtbar darüber auf, dass ihn seine eigenen Analysten nicht mit so erlesenen Informationen versorgen konnten wie er sie im Buch von Claire Sterling gefunden habe. Die Analysten hätten dann Mühe gehabt, ihn davon zu überzeugen, dass es sich genau andersherum verhielt und Casey vielmehr der eigenen CIA-Propaganda auf den Leim gegangen sei. Diese “bulgarische Spur” war – zumindest in der Form, wie sie der Öffentlichkeit verkauft wurde – ein reines Propagandaprodukt. Darin stimmen alle der circa 20 Experten, die wir zu diesem Thema befragt haben, überein, mit Ausnahme des ehemaligen Senators Paolo Guzzanti. Und dennoch hat sie ihren Zweck erfüllt. Denn auch, wenn fast alle Fachleute der Meinung sind, dass es die Bulgaren nicht gewesen sind, glaubt auch heute noch eine große Mehrheit in der italienischen Bevölkerung, dass die Bulgaren hinter dem Attentat stecken. Immer wieder haben wir gehört: “Ach, das waren doch diese Bulgaren!” Ein gutes Beispiel für Framing und Agenda-Setting, für die gezielte und hochprofessionelle Manipulation der öffentlichen Meinung durch Propaganda und Geheimdienste… Tatsächlich ist die Frage, wem man nach einem politischen Verbrechen, einem Attentat oder einem Massaker die Schuld dafür in die Schuhe schieben kann, entscheidend. Wer die Öffentlichkeit von seiner Lesart der Dinge überzeugen kann, hat es anschließend viel leichter, den gewünschten politischen Kurs zu bestimmen. Um zu erfahren, wie sich so etwas konkret bewerkstelligen läßt, sind wir nach Mailand zu Aldo Giannuli gefahren. Giannuli hat in Italien viel beachtete Bücher über die Geheimdienste und deren Medienmanipulationen geschrieben. Die Mechanismen, die da ineinandergreifen, sind relativ komplex. Aber man kann sie vielleicht wie folgt zusammenfassen: Es kommt auf emotionalisierendes Bildmaterial an, das Unterdrücken wichtiger Informationen und auf die richtige Montage der verbleibenden und nach Möglichkeit wahren Elemente. Man sollte also im Grunde mit der Wahrheit lügen und die einzelnen meist wahren Informationen wie Mosaiksteine so zusammensetzen, dass sie ein völlig anderes Bild ergeben – das sich anschließend dann propagandistisch verwerten lässt. Wesentlich dabei sei allerdings, so Giannuli, die gewünschten Narrative innerhalb der ersten zwei, drei Wochen zu etablieren. Dann blieben sie in der Regel im öffentlichen Bewusstsein verankert. Nachträgliche Enthüllungen könnten hieran kaum mehr etwas ändern. Ich finde, es ist wichtig, das zu verstehen, denn auch so wird Politik gemacht. Politik gemacht? Ja, sicher. Nehmen Sie zum Beispiel den Abschuss des Verkehrsflugzeuges MH17 über der Ukraine im letzten Jahr. Wir – und damit meine ich jetzt die normalen Medienkonsumenten – wissen nicht, was da passiert ist. Aber bei der Bevölkerung soll sich der Eindruck verfestigen, daran seien “die Separatisten und damit irgendwie die Russen schuld”. Dafür gibt es allerdings keine Beweise und zudem werden wohl, wie ich gelesen habe, entscheidende Funksprüche, die ja vielleicht für die Aufklärung des Vorfalls hilfreich sein könnten, unter Verschluß gehalten. Doch darauf kommt es nach einiger Zeit auch gar nicht mehr an. Dann hat sich die Geschichte ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. So funktioniert Propaganda. Führen Sie das doch bitte ein wenig aus… Was wird da „wie“ genau gemacht? Welche „Mechanismen“ psychischer Manipulation werden wie gegen unsere Vernunft in Stellung gebracht? Wie ich eben schon angedeutet habe, ist die suggestive Montage anhand von Meldungen, die fast alle, wenn nicht sogar wirklich alle, stimmen, fundamental. Ideal ist eine Mischung aus Weglassungen und Suggestionen. Ich gebe Ihnen mal ein ganz plattes Beispiel: Stan und Ollie haben sich in der Wolle. Ollie haut Stan eine runter. Daraufhin haut Stan Ollie eine runter. Das ganze habe ich gefilmt. Ich kann jetzt den ersten Teil weglassen und nur zeigen, dass Stan Ollie eine runterhaut. Ich kann auch, ohne zu lügen, sagen, dass es vorher zu Diskrepanzen zwischen den beiden gekommen ist. Das stimmt, verschweigt aber etwas ganz Wesentliches: Ollie hat auch zugeschlagen, und zwar vorher. Aber durch diese Weglassung suggeriere ich schon mal: Stan ist der Gewalttäter und Ollie das Opfer. Jetzt zeige ich vielleicht noch, wie der ohnmächtige Ollie von der Feuerwehr auf einer Bahre abtransportiert und in einen Krankenwagen geschoben wird. Nehmen wir nun an, ich habe ein Foto von Stan, dass drei Tage vorher aufgenommen worden ist. Seine Freundin hat ihm gerade einen Kuchen gebacken und Stans Augen sprühen vor Freude. Ich bringe jetzt ein paar Hintergrundinformationen zu Stan – etwa, dass er aus Reutlingen ist oder ähnliches – und zeige dazu dieses Foto. Ohne formal zu lügen, suggeriere ich damit nun, dass Stan sich darüber freut, dass er Ollie k.o. geschlagen hat. Ich weiß, das klingt jetzt sehr simpel. Es ist, als säße jemand vor einem Klavier und würde immer nur auf zwei der Tasten drücken, ohne jede Phantasie. Zum Starpianisten macht ihn das allein ganz sicher noch nicht. Dazu müßte er schon mit mehr Virtuosität auf der gesamten Klaviatur der propagandistischen Möglichkeiten spielen… Aber es ist eben nur ein Beispiel; und die Geheimdienste beherrschen, das kann ich Ihnen versichern, die gesamte Klaviatur virtuos. Bei Ihren Manipulationen geht jedenfalls nicht darum, zu lügen – denn Lügen können später ja auffliegen -, sondern darum, entscheidende Informationen wegzulassen; um die Reihenfolge, in der Nachrichten verbreitet werden; um die Art und Weise, in der Dinge mit dem Vorfall in Zusammenhang gebracht werden, die mit ihm zwar nichts zu tun haben, dennoch aber eine gewisse Verantwortlichkeit nahelegen. Darum also, wie Sinn indiziert [PDF] wird. Und wichtig ist natürlich immer auch das Auslegen falscher Spuren… Falsche Spuren? Meinen Sie damit das, was ich inzwischen als „Elefantenspuren“ bezeichne? Dass Terroristen in letzter Zeit dazu neigen, ihre Personalausweise zu Attentaten mitzunehmen und bei oder nach diesen dann zu verlieren? So etwas in der Art? Als man Ali Agca auf dem Petersplatz festnahm, trug er keine Dokumente bei sich, nur eine Art Laufzettel, auf dem stand, was er zu tun hätte. Später fand man dann einen gefälschten Reisepass, der auf einen anderen Namen ausgestellt war. Vielleicht war es damals bei Terroristen ja noch nicht in Mode, ihre Dokumente mit zu den Orten ihrer Verbrechen zu nehmen, so wie es heute der Fall zu sein scheint. Zudem gab es beim Papstattentat in dem Sinne ja keine “Elefantenspur”, sondern stattdessen unendlich viele kleine, fast so wie nach einem verregneten Open-Air-Konzert, wo sie hunderte von Fußabdrücken im Schlamm vorfinden. Es gab die Einzeltäter-Hypothese, verschiedene vatikanische Spuren, eine Mafia-Spur, islamistische Spuren, Spuren, die zu verschiedenen Geheimdiensten zu führen schienen – und all das in verschiedenen Kombinationen. Es wurde auch gemutmaßt, dass die CIA und der KGB unter einer Decke gesteckt hätten, weil der Papst dabei war, die sogenannte Logik von Jalta durcheinanderzubringen. Und unter all diesen Spuren wurde eben auch die “bulgarische” gelegt, wie wir gesehen haben, mit einigem Geschick. Aldo Giannuli hat uns erläutert, mit welchen Techniken man falsche Spuren legen kann. Zunächst müsse man aber verstehen, dass es nicht nur zu den Aufgaben der Geheimdienste gehöre, Informationen einzusammeln, sondern auch, welche in Umlauf zu setzen. Vielleicht ließen die sich ja einem Journalisten unterjubeln, der sich kaufen lässt, oder aber, wenn auch nicht notwendigerweise, selbst für einen Geheimdienst arbeitet.
Auf dem Schreibtisch eines Staatsanwalts könne man einen anonymen Brief plazieren, ein Foto oder ähnliches. Und man könne dafür sorgen, dass jemand bei der Polizei auf stichhaltige Indizien stößt. Das alles würde sich ganz langsam zu einem Gesamtbild verdichten. Laut Giannuli brauche man für so etwas eine gute Regie, die etwa wisse, wann man eine bestimmte Nachricht verbreiten und wann man zwei Empfänger verschiedener Nachrichten zusammenbringen müsse, damit die sich in ihrer Meinung gegenseitig bestärkten. Das seien komplexe Operationen, die mit langem Atem und großer Akribie umgesetzt werden müßten. Aber genau darin seien Geheimdienste seit Jahren und Jahrzehnten „geschult“; das sei ihr Tagesgeschäft, das keiner so gut beherrsche wie sie. Und was lehrt uns das? In Summe wohl vor allem, dass man nach jedem Attentat zuerst einmal mit Ruhe und Besonnenheit … alle vermeintlichen Fakten überprüfen und sich nicht gleich ins Boxhorn und also Angst einjagen lassen sollte? Dieses Petitum kam unlängst auch von Daniele Ganser im Interview, der zudem noch Beispiele für derlei „Geheimdienst-Manipulationen“ beisteuerte, vor denen man sich hüten solle… Auch Daniele Ganser haben wir ja für unsere Dokumentation interviewt. Tatsächlich sollten wir uns immer klarmachen, dass die Geschichte eines Attentats – oder eines anderen politischen Verbrechens – mit dem Ereignis selbst gar nicht endet, sondern in gewisser Weise erst beginnt: Nach dem Ereignis versuchen alle möglichen – in aller Regel mächtigen – Parteien, die Deutungshoheit hierüber zu erlangen. Dabei kommen die eben erwähnten Methoden zum Einsatz, die uns Aldo Giannuli erläutert hat. Um es mit den Worten des ehemaligen Senators Paolo Guzzanti auszudrücken: „Es gibt immer eine Wahrheit hinter der Wahrheit und dahinter verbirgt sich eine weitere.“ Natürlich kann es auch sein, dass die erste Wahrheit irgendwo stimmt – aber wie will man das genau wissen? Ja, es geht daher gerade bei Attentaten darum, äußerste Skepsis zu bewahren und nicht gleich alles zu glauben, was in den ersten Tagen – gerade, wenn die Geschichte auf „Elefantenspuren“, wie Sie das nennen, fußt – berichtet wird. Wir sollten uns einfach immer vor Augen halten: Eine der ureigensten Aufgaben der Geheimdienste ist es ja nicht, zu informieren, sondern zu desinformieren. Das klingt doch alles ein wenig nach Verschwörungstheorie… Wir können uns nicht immer wegducken und alles als Verschwörungstheorie abtun, was uns sonst zwingen würde, uns mit unangenehmen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Zunächst einmal: Wenn ein politisch motiviertes Verbrechen geschieht, in das mehr als eine Person verstrickt ist – natürlich gibt es da auch immer wieder Einzeltäter –, handelt es sich dabei automatisch um eine Verschwörung. Wie die genau ausgesehen hat, welche Personen darin involviert gewesen sein mögen – dazu kann man dann Theorien entwickeln. Sinnvollerweise sollten sich diese auf nachweisbare Fakten stützen. Und sollte man sich bewusst sein, dass man dabei womöglich immer auch einmal bewusst falsch gelegten Spuren folgt; so, wie ich es eben erläutert habe. Gleichwohl muss man feststellen, dass gewisse Vorgänge erst in einem großen zeitlichen Abstand von der Öffentlichkeit akzeptiert werden. So bestreitet heute kaum noch jemand, dass der iranische Premierminister Mossadegh unter Mitwirkung der CIA gestürzt wurde. Und Salvador Allende in Chile auch. Auch, dass der Irak vor dem zweiten Golfkrieg keine Massenvernichtungswaffen besaß, hat sich mittlerweile ja rumgesprochen. Irgendwann dürfen Sie solche Dinge offen aussprechen ohne als Spinner zu gelten. Wahrscheinlich ab dem Zeitpunkt, ab dem auch die Massenmedien das nicht mehr bestreiten. Aber wenn Sie Dinge hinterfragen, die noch nicht so lange zurückliegen, gelten Sie eben als “Verschwörungstheoretiker”. Heute wissen wir allerdings – und das haben wir zu einem großen Teil den Recherchen von Daniele Ganser zu verdanken –, dass es zur Zeit des Papstattentats NATO-Geheimarmeen gab, die immer wieder in Terrorakte verstrickt waren und dann dazu falsche Spuren legten. Besonders aktiv waren sie in Italien und in der Türkei – zwei Ländern, in denen links gerichtete Regierungen an die Macht hätten kommen können und die für die USA von großer geostrategischer Bedeutung gewesen sind. Viele unserer Interviewpartner haben uns gesagt, dass in dieser Zeit der Terrorismus gezielt genutzt wurde, um den Machtzuwachs linker Parteien zu verhindern. Gerhard Feldbauer: „Um jeden Preis fernhalten“ Nun ist das Thema Terror ja zurzeit aktueller denn je. Ich denke da etwa an die Attentate im Januar und dann wieder im November in Paris. Sehen Sie denn Parallelen zwischen dem, was Sie recherchiert haben, und dem, was uns nun gerade als unabdingbare Notwendigkeit, in einen „Krieg gegen den Terror“ zu ziehen, verkauft werden soll? Ich denke schon, dass es da Parallelen gibt. Der Papsattentäter Ali Agca wird dem Umfeld der rechtsgerichteten Gruppierung der Grauen Wölfe zugeschrieben, auch wenn uns der ehemalige Chef der Grauen Wölfe, Musa Serdar Çelebi, gesagt hat, dass er da von außen eingeschleust worden sei. Die Grauen Wölfe waren seinerzeit nämlich ein Mittel, das die Amerikaner nutzten, um in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen und so letzten Endes einen Militärputsch zu erzwingen, der 1980 dann ja auch erfolgte. Und Daniele Ganser sagte uns, Agca habe der NATO-Stay-Behind-Organisation „Gladio“ angehört. Der Untersuchungsrichter Rosario Priore, der ein lesenswertes Buch über den internationalen Terrorismus geschrieben hat – “Intrigo Internazionale” – sagte uns, dass der Terrorismus immer auch ein Herrschaftsinstrument der Staaten sei. Laut Priore stecken staatliche Institutionen – in der Regel in Form von Geheimdiensten – oft mit den Terroristen unter einer Decke und versuchten hierdurch, den Terrorismus zu steuern und zu instrumentalisieren. “Operationen unter falscher Flagge” und Staatsstreiche gehörten ebenfalls zu ihrem Repertoire. Werner Köhne und ich haben uns nun in unserer Dokumentation mit einem Ereignis beschäftigt, das sich im Jahr 1981 zugetragen hat. Unsere Recherchen haben uns hauptsächlich nach Italien und – dank der Vermittlung der Journalistin Yasemin Taskin – in die Türkei geführt. Und für diese beiden Staaten und für die Zeit der siebziger und frühen achtziger Jahre trifft der Vorwurf einer staatlichen Verstrickung in verschiedene Terrorakte sicherlich zu. Wir könnten jetzt natürlich wohlwollend unterstellen, dass das alles Geschichte ist und heute nicht mehr vorkommt. Rosario Priore allerdings sagte uns, dass es bei dem Phänomen des Terrorismus immer auch um die Kontrolle von Bodenschätzen und die entsprechenden Handelsrouten gehe. Und wenn wir nun einen Blick auf den Nahen Osten werfen, dann stellen wir fest, dass es da Öl, Gas, Bürgerkrieg und Terrorismus gibt. Die Saudis, die Türken, die Amerikaner und vielleicht auch andere haben hier Terroristen ausgebildet und ausgerüstet, um Assad zu stürzen – auch wenn die Amerikaner Wert darauf legen, zu betonen, dass sie vorzugsweise “moderate Rebellen” ausgebildet und ausgerüstet hätten. Ich habe gelesen, dass unter dem östlichen Mittelmeer riesige Erdgasvorkommen vermutet werden – in einem Gebiet, das zu Syrien gehört – und dass der Iran und Katar ebenfalls über reichlich Erdgas verfügen. Katar würde gern eine Pipeline durch Syrien legen, um sein Gas bis ans Mittelmeer zu pumpen – aber das geht nicht, solange Assad an der Macht ist. Womöglich aber hätte Erdgas aus Katar das Potential, die russische Stellung auf dem europäischen Energiemarkt zu schwächen? Dann wäre der auch von außen befeuerte syrische Bürgerkrieg eben auch ein indirekter Angriff auf Russland, der Konflikt um Syrien wäre in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland von zentraler Bedeutung. Das ist sicherlich nur ein Aspekt von vielen in dieser verworrenen Situation, in der noch etliche weitere Parteien offen oder verdeckt ihr eigenes Süppchen kochen. Jedenfalls dürfte die eben nur sehr knapp skizzierte Gemengelage deutlich machen, dass sich der Krieg in Syrien leicht zu einem Flächenbrand ausweiten kann. Hier kämpft jeder gegen jeden und seit die syrische Armee nun dabei ist, mit Unterstützung der Russen den sogenannten „Islamischen Staat“ zurückzudrängen, haben es alle auf einmal eilig, da unten ebenfalls mitzumischen, aus Angst, ihnen könnten die Felle wegschwimmen. Ich halte es für einen schwerwiegenden Fehler, dass sich nun auch Deutschland an diesen völkerrechtswidrigen Interventionen beteiligen will. Wir sollten uns ernsthaft fragen, ob wir in Deutschland das Völkerrecht endgültig in die Mülltonne der Geschichte treten oder ob wir nicht besser darauf hinarbeiten sollten, dass dasselbe wieder respektiert wird, auch und vor allem von der westlichen Staatengemeinschaft. Eines jedenfalls sollte uns klar sein: Den Terrorismus werden wir mit Interventionen wie der in Syrien nicht besiegen. Aber ist das aktuell überhaupt – und wie behauptet – die Triebfeder des Handelns der westlichen Staaten? Und schlittern wir da nicht gerade in eine Situation hinein, deren Konsequenzen wir überhaupt nicht absehen können? Ich denke, hierin liegt ein entscheidender Unterschied zu dem Anschlag auf Papst Johannes Paul II. Denn 1981 hatte die Logik von Jalta noch Bestand, nach der jede der beiden damaligen Supermächte – die USA und die Sowjetunion – in ihrer eigenen Einflußsphäre weitgehend freie Hand hatte. Zwar unterstützten die USA in Afghanistan und Polen religiöse und politische Bewegungen, um die Position der Sowjetunion zu unterminieren. Aber trotzdem, scheint es mir, wollte man das bestehende Machtgefüge nicht unkontrolliert zum Einsturz bringen. Das Attentat, das möglicherweise – dies vermutet zumindest Marco Ansaldo – tatsächlich von Ali Agca und seinen Kumpanen, die nun allerdings wiederum enge Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten hatten, ausgeheckt worden ist, wurde zwar propagandistisch instrumentalisiert, andererseits aber wollte man es ja „nur“ den Bulgaren und damit nur indirekt den Sowjets in die Schuhe schieben. Und selbst darüber herrschte innerhalb der CIA wohl keine Einigkeit. Die Zeiten des Kalten Krieges waren sicherlich auch brandgefährlich, andererseits aber auch überschaubarer. Der Terrorismus der Zeit – ob nun staatlich unterwandert, gesteuert oder nicht – schien politischer zu sein und über den sogenannten “Clash of Civilizations” wurde seinerzeit wohl auch noch nicht sinniert. Heute hingegen erleben wir die Herrschaft der staatlichen Willkür. Und diese Entwicklung sollten wir schleunigst stoppen. Und was tun wir nun am besten angesichts dieser Erkenntnisse – mitten in einer immer weiter eskalierenden globalen Gewaltspirale? Was raten Sie? Auch wenn das Leben lebensgefährlich ist und schon immer war: Wir sollten die Kontrolle über unsere Gedanken behalten und uns nicht manipulieren lassen. Wir sollten nicht ängstlich, sondern mutig sein. Oder besser: Wir sollten ängstlich und mutig sein. Denn Angst ist nicht das Gegenteil von Mut. Das sind meiner Ansicht nach Unentschlossenheit und Bequemlichkeit. Seien wir also nicht zu bequem, die Dinge zu hinterfragen. Dabei geht es auch gar nicht so sehr um die Wahrheit – denn wer kennt die schon? Es geht vor allem darum, dass wir uns die Fähigkeit des kritischen Denkens bewahren. Ich bedanke mich für das Gespräch. Moritz Enders, geboren 1964 in Berlin, studierte Geschichte in Rom, lebte lange in Spanien und war dort unter anderem journalistisch tätig. Er erhielt ein Stipendium für die “European Business and Management School” in London, und ist heute hauptsächlich als Rechercheur, Autor und Regisseur für TV-Dokumentationen tätig. Weiterschauen: Daniele Ganser: Die NATO und ihre Geheimarmeen Gaby Weber: Desinformation: Ein Lehrstück über die erwünschte Geschichte Weiterlesen: Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jenswernicke.de. Dort können Sie auch eine automatische E-Mail-Benachrichtigung über neue Texte bestellen. | Jens Wernicke |
Der Islam strebt nach der Weltherrschaft und ist eine Terror-Religion? Das Kopftuch ist ein Symbol der Unterdrückung? Überall zwischen uns leben „Schläfer“? In deutschen Moscheen werden Terroristen akquiriert? Muslime bedrohen „unsere Werte“ und haben bereits qua Religion eine gefährliche Neigung zu Gewalt? Glauben Sie etwas hiervon? Dann sind Sie womöglich Opfer geheimdienstlicher Psychotec ... | [
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] | 15. Dezember 2015 9:13 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=29570&share=email&nb=1 |
„Die Debatte um Kurt Beck ist eine Posse” | Der SPD-Chef Kurt Beck gilt den Schröder-Anhängern und den konservativen Medien als Unsicherheitsfaktor. Ein Gespräch mit Wolfgang Lieb in der Jungen Welt. Quelle: junge Welt | Wolfgang Lieb | Der SPD-Chef Kurt Beck gilt den Schröder-Anhängern und den konservativen Medien als Unsicherheitsfaktor. Ein Gespräch mit Wolfgang Lieb in der Jungen Welt.
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] | 03. April 2008 8:40 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=3115&share=email |
Informationen am Abend – eher „So sollst Du denken“ im Deutschlandfunk | Der Deutschlandfunk (DLF) ist ein Sender des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks. Seine Aufgaben, seine Rechte und Pflichten sowie weitere Festlegungen sind im Rundfunkstaatsvertrag geregelt. Vorangestellt ist in diesem Vertrag von Objektivität und Unparteilichkeit die Rede. Daran halten wollen oder können oder dürfen die Mitarbeiter des Senders sich wohl nicht, zu dem subjektiven Befund kommt man als Zuhörer, immer wieder, leider. Sonst kämen solche Sendungen wie die „Informationen am Abend“, welche wochentags ab 18.10 Uhr ausgestrahlt werden und jederzeit im Internet nachhörbar sind, nicht zustande. Ein Kommentar von Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Die Lektüre von DLF-Produktionen macht mitunter keine Freude. Von schlichter, sachlicher Information kann in diversen Beiträgen einfach keine Rede sein, nein, obwohl die Stimmen sonor und vertrauenserweckend klingen. Wie selbstverständlich verkaufen die Sprecher und Sprecherinnen Umstände und die Erläuterungen wie Gasknappheit und Krieg geschickt so, damit es verfängt, indem man hierzulande so zu ticken habe: regierungs- und linientreu. Nix da ist es mit Unparteilichkeit oder gar Objektivität (siehe Rundfunkstaatsvertrag) – der öffentlich-rechtliche Sender, also unser aller Sender, glänzt mit unverhohlener Propaganda, mit Einseitigkeit, mit der unverhohlenen Vermittlung eines Weltbildes, das Ereignisse, Zustände und Meinungen den vorherrschenden Richtungen entsprechend zurechtbiegt und diese damit als gegeben und einzig richtig verkauft. Der stete, latente Unterton flüstert einem zu: „Wir sind die Guten. Das, was geschieht, ist in unserem Interesse.“ Ja? Die DLF-Akteure machen sich wie in den „Informationen am Abend“ nicht die Mühe, in Beiträgen, die die vorherrschende Richtung verbreiten, die bekehren sollen, eine Gegenstimme gegenüberzustellen. Statt Informationen tönen meinungsmachende Aussagen in der Sendung „Informationen am Abend“, auch am Dienstag (26.7.22). Diese Produktion ist kein Ausrutscher. In Stil, Aufmachung und Inhalt kommen einige Beiträge der Belehrung des Hörers gleich daher, geraten wie eine regierungsamtliche Verlautbarung offiziell und inoffiziell gewünschter Ansichten, Aussichten und Zielstellungen. In der Sendung erfuhr man unter anderem: Die EU verabschiedete einen „Gas-Notfallplan“. Bundesaußenministerin Baerbock reiste nach Tschechien. Und das Böse läge im Osten. Sogleich ging es in die Vollen. Der Hörer vernahm: Die Sanktionen wirkten – gegen Russland. Es gehe bergab und dabei bleibe es – in Russland. Der beschlossene Notfallplan der EU in Sachen Energieversorgung, Sparen inklusive, sende zwei Signale nach Russland, an Putin und auch an uns, die Bundesbürger: Mit dem Notfall-Plan der EU seien dramatische Ereignisse für einen harten Winter abgewendet. Es stellt sich für den Hörer indes heraus: Der Plan ist ein einziger weichgespülter Kompromiss der Mitgliedsstaaten, viele Staaten der EU hätten sich gewehrt, darum gäbe es viele Ausnahmen. Dennoch, es würde alles nach Plan laufen, auch im Falle eines russischen Gaslieferungsstopps, hieß es. Bundeswirtschaftsminister Habeck könne sich vorstellen, mehr als 15 Prozent Gas einzusparen. Insgesamt sollten in Europa 45 Milliarden Kubikmeter Gas einsparbar sein, das im Fall eines harten Winters. Das Sparen geschehe, um eine Versorgungskrise abzuwenden, deren Ursache einzig ein möglicher Stopp der Lieferungen aus Russland wäre. So das DLF. Der Sprecher holte weiter aus: Das Putin-Regime habe zwei Gründe, strategischen Druck aufzubauen: 1. über hohe Gaspreise die europäische Solidarität aufzubrechen und 2. doch noch Nord Stream II ans Netz zu bringen. Dass dann der russische Konzern Gazprom aktuelle Lieferungen von Gas weiter reduziere, das brachte den DLF-Sprecher zu der Aussage: „ … a n g e b l i c h wegen der Wartung einer weiteren Turbine.“ Wie gesagt – Informationen am Abend. Informationen … Baerbock reiste nach Tschechien. Man erfuhr, dass Außenministerin Annalena Baerbock in Prag weilte und das Weltbild-Zurechtrücken begann: Mit ihrem tschechischen Kollegen besuchte sie die Gedenkstätte Lidice. Der DLF war dabei und übertrug einen O-Ton, in welchem der tschechische Minister die Gräuel der Nazis in Lidice mit Russland verglich und sogleich von den Bösen sprach. Minister Lipowski forderte, dass dem Bösen keine Zugeständnisse gemacht werden dürften, es sei nötig, stark zu sein. Ministerin Baerbock hatte die finale Erklärung zu Russlands Tun gegen die Ukraine parat: Die völlige Unterwerfung der Menschen und der Ukraine sei das Ziel. Und: Man brauche in der Ukraine einen langen Atem. Was Frieden sei, das würden einzig und allein die Menschen in der Ukraine entscheiden. In der gleichen Sendung wurde dann über neue Waffenlieferungen gen Kiew informiert… Der Zuhörer, er ist der Lernende, klar. Wir haben zu lernen laut DLF: alternativlos ist es, Gas zu sparen und/oder teuer zu kaufen, alternativlos ist, den Russen abzulehnen, Handelsbeziehungen und eben auch Lieferungen sind „Abhängigkeiten“, die man aufgeben müsse. EU-Pläne sind nicht das Papier wert. Die Verhandler in Brüssel ficht es nicht an, sie verdienen künftig ja noch eine kleine Summe mehr. An all dem Zweifel haben? Fragen gar? Etwa: Was folgt danach, sind Länder wie Katar und die USA fern von Begriffen wie Abhängigkeiten und nationale Interessen? In Russland herrscht ein Regime. Sagt das DLF. Und Verhandlungen, Entspannung gar – das ist was für Weicheier. Man müsse stark sein, der Frieden, das entschieden die Ukrainer. Zusammenfassend formuliere ich gegenüber beim DLF veröffentlichten Aussagen entschieden Einspruch. Ein Notfall-Plan, der nicht funktioniert, den braucht niemand. Gasturbinen zu reparieren, geschieht nicht angeblich. Eine zweite Gasleitung existiert. Die Station der Leitungsankunft in Lubmin – sie arbeitet, diese Information ist schnell im Internet zu finden. Die Krise rund um Gas und Energie und Preise verursachen wir Europäer und unsere Freunde in den USA selbst. Die Gasspeicher in Deutschland sind aktuell genauso gefüllt wie im gleichen Zeitraum 2021. Für einen Krieg braucht man keinen langen Atem, wenn man ihn schnell beendet und alles dafür tut. Ministerin Baerbocks Engagement und das ihrer Kollegen ist dafür sehr übersichtlich. Lieber stark und unnachgiebig sein, so wie es der tschechische Minister markig ausdrückt, nein – da macht der einfache Bürger nicht mit. Dass auch in Tschechien viele Menschen nicht kriegstrunken sind, sei dem Herrn nebenbei gesagt. Und nochmal zum Gas: Immerhin sind in Tschechien die Gasspeicher so prall gefüllt wie lange nicht, was im Gegensatz zu den Füllständen in Deutschland in unserem Nachbarland gern und deutlich vermeldet wird. Hat das bei uns den Grund, dass man mit dem Zurückhalten der Information „Speicher gefüllt so wie 2021“ das angefachte Paniklevel nicht hochhalten kann? Mein Einspruch, ich weiß, die Worte finden keinen Eingang in DLF-Inhalte. Doch wäre Vielfalt angesagt. Als Zuhörer und Lernender machte ich mich auf, den Rundfunkstaatsvertrag herzunehmen, in dem es im zweiten Abschnitt heißt: Titelbild: (C) Deutschlandfunk | Frank Blenz | Der Deutschlandfunk (DLF) ist ein Sender des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks. Seine Aufgaben, seine Rechte und Pflichten sowie weitere Festlegungen sind im Rundfunkstaatsvertrag geregelt. Vorangestellt ist in diesem Vertrag von Objektivität und Unparteilichkeit die Rede. Daran halten wollen oder können oder dürfen die Mitarbeiter des Senders sich wohl nicht, zu dem subjektiven Befund kommt ma ... | [
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] | 01. August 2022 9:30 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=86460&share=email&nb=1 |
Wladimir Putins Rede. Es sieht so aus, als wisse er, wo der Schuh drückt | Zwei Wochen vor den russischen Präsidentschaftswahlen beschreibt Wladimir Putin Russland in einer Rede vor der Föderalen Versammlung als aufstrebende Volkswirtschaft, die aber noch Modernisierungsdefizite hat. In ein Wettrüsten mit dem Westen – wie in den 1980er Jahren – werde man sich nicht hineinziehen lassen, erklärte Putin. Der russische Präsident, der Mitte März erneut für das Präsidentenamt kandidiert, wirkte entspannt, aber konzentriert, so als ob er gar nicht im Wahlkampf, sondern auf einer gewöhnlichen politischen Veranstaltung war. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Und hier zu Ihrer Verfügung die offizielle englische Fassung der Putin-Rede: Presidential Address to the Federal Assembly • President of Russia (kremlin.ru). Dass Putin sich im Wahlkampf befindet, merkte man nur an einigen optischen Details. Zu der Rede vor der Föderalen Versammlung, zu der die Abgeordneten der beiden russischen Parlamentskammern und geistliche Würdenträger gehören, waren diesmal auch Vertreter verschiedener sozialer Gruppen eingeladen worden. Das Bild im Konferenzsaal Gostiny Dwor am Roten Platz war diesmal bunter. Man sah nicht nur Herren und Damen in dunklen Kostümen. Im Saal saßen auch größere Gruppen von Soldaten in ordensgeschmückter Ausgeh-Uniform und jüngere Leute in bunten Overalls. Schwerpunkt der Rede: Soziale und wirtschaftliche Entwicklung In seiner Rede vor der Föderalen Versammlung setzte Wladimir Putin den Schwerpunkt auf die Fragen Soziales, Familie und Wirtschaft. Die Außenpolitik spielte nur eine Randrolle. Das war auf den ersten Blick erstaunlich angesichts der Spannungen mit den westlichen Staaten. Aber Putin demonstrierte mit seiner Schwerpunktsetzung, dass Russland sich vom Konflikt mit dem Westen nicht davon abbringen lässt, seine soziale und wirtschaftliche Infrastruktur weiterzuentwickeln. Der Präsident erklärte, der Westen versuche, Russland wieder in das Wettrüsten reinzuziehen und „den Trick zu wiederholen“, den man schon in den 1980er Jahren gegen die Sowjetunion angewandt habe. Putin: „Diese Leute haben vergessen, was Krieg ist“ Zu der Drohung des französischen Präsidenten, Truppen in die Ukraine zu schicken, erklärte Putin, „wir erinnern an das Schicksal derer, die mal ihre Kontingente auf das Territorium unseres Landes geschickt haben. Aber heute werden die Folgen für die möglichen Angreifer viel tragischer sein. Sie müssen endlich begreifen, dass wir auch Waffen haben, die Ziele auf ihrem Territorium zerstören können. Alles was sie sich jetzt ausdenken, womit sie die ganze Welt ängstigen, das alles droht zu einem Konflikt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen zu werden und das bedeutet die Zerstörung der Zivilisation. Verstehen diese Leute das etwa nicht? Wissen Sie, das sind Leute, die nicht durch schwere Prüfungen gegangen sind. Sie haben schon vergessen, was Krieg ist.“ Irreführende Berichterstattung von Tagesschau.de Die Berichterstattung der deutschen Medien über die Putin-Rede war irreführend. Tagesschau.de titelte, „Putin warnt Westen vor Truppeneinsatz in der Ukraine“. Die Tagesschau machte aus einem Neben-Thema der Rede – dem Konflikt in der Ukraine – das Hauptthema. Warum? Weil die Wiedergabe einer Putin-Rede, in der es um die weitere Entwicklung der Sozialsysteme und der Wirtschaft in Russland geht, nicht in das Bild passt, welches die deutschen Medien von Russland malen, einem Land, welches angeblich kurz vor dem Zusammenbruch stand. Ja, Putin, der sich am 15. März zur Wiederwahl für das Amt des Präsidenten Russlands stellt, machte auch Wahlkampf. Aber er brachte keine Phrasen, sondern klapperte Stück für Stück alle Bereiche des russischen Staatswesens ab und stellte klar, wo man in Zukunft mit staatlicher Hilfe Modernisierungen anschieben und soziale Lücken stopfen will. Putin erinnerte sich an soziale Gruppen in der Gesellschaft, die sonst nie Thema seiner Pressekonferenzen sind. Den Bewohnern der nordöstlichen Territorien Russlands, die nicht an Gasleitungen angeschlossen sind, versprach er Zuschüsse von umgerechnet 320 Millionen Euro für Heizgeräte. Putin gestand ein, dass die Beschäftigten in der Forstwirtschaft und beim Naturschutz „sehr wenig“ verdienen. Ihre Löhne würden erhöht, denn sie erfüllten für Russland eine sehr wichtige Aufgabe. Die Rede dauerte zwei Stunden und sechs Minuten. Sie war vollgefüllt mit Zahlen. Der Präsident erklärte, dass das russische Wirtschaftswachstum stabil ist und dass das wirtschaftliche Gewicht der BRICS-Staaten von Jahr zu Jahr wächst. „Nationale Programme“ zu „Familie“, „Jugend“, „langes Leben“, „Fachkräfte“ und „IT“ Putin kündigte fünf neue „nationale Programme“ an. So viele „nationale Programme“ auf einmal hat es noch nie gegeben. Mit dem Programm „Familie“ soll die Lebensqualität von Familien erhöht und die Geburtenentwicklung gefördert werden. Mit dem Programm „Jugend“ soll die Ausbildung von Jugendlichen gefördert werden. Mit dem Programm „Langes, aktives Leben“ sollen ländliche Gebiete gefördert werden, wo die Lebenserwartung niedriger ist als im Landesdurchschnitt. Ein viertes Programm heißt „Fachkräfte“. Es soll dafür sorgen, dass Russland genug ausgebildete Fachkräfte für eine moderne Wirtschaft hat. Das fünfte Programm mit dem Titel „Ökonomie der Daten“ soll bis 2030 für umgerechnet sieben Milliarden Euro eine digitale Plattform für alle wirtschaftlichen und sozialen Bereiche entwickeln. In seiner Rede rief der Präsident dazu auf, die künstliche Intelligenz aktiv für die Modernisierung des Landes zu nutzen. Putin: „Wir haben zu viel aus dem Ausland gekauft“ Die russische Wirtschaft habe in ihrem Entwicklungstempo die G7-Staaten überholt, erklärte der Präsident. Bald werde Russland zu den vier größten Volkswirtschaften gehören. Die Ausgangsbedingungen für dieses ehrgeizige Ziel sind allerdings alles andere als einfach. Die russische zivile Luftfahrt nutzt heute hauptsächlich Maschinen von Airbus und Boeing. Das gestand Putin unumwunden ein. Man muss wissen: Seit der Auflösung der Sowjetunion sind in Russland nur zwei neue Verkehrsflugzeuge entwickelt worden, Superjet und MC 21. Beim MC 21 hat die Serienfertigung gerade erst begonnen. Der russische Präsident erklärte, Russland müsse bis 2030 zu den führenden 25 Ländern gehören, die Industrieroboter entwickeln. Dazu muss ich anmerken, ich habe in den letzten 15 Jahren bei Fabrikbesichtigungen nur ausländische und keinen einzigen russischen Industrieroboter gesehen. Russland muss in diesem Sektor also bei fast Null anfangen. Aber ein Ziel zu setzen, das kann ein Anreiz sein, die Sache jetzt endlich in die Hand zu nehmen. Ein Steigerung der Produktivität in der Industrie ist für Russland besonders wichtig, weil es an Fachkräften mangelt. Der russische Präsident will, dass der Anteil der Hightech-Produkte auf dem russischen Markt in den nächsten sechs Jahren um das Eineinhalbfache steigt. Bis 2030 müsse der Marktanteil an ausländischen Hightech-Produkten „auf 17 Prozent gesenkt“ werden. Dazu muss ich erklären: Wer heute in russische Elektronik-Geschäfte kommt, findet zwar vom Handy bis zum Computer alles. Aber einen populären russischen Computer für den Privatgebrauch oder ein populäres russisches Handy gibt es bis heute nicht. Putin will jetzt Ingenieursschulen, die es noch zu Sowjetzeiten zuhauf gegeben hatte, die dann aber nicht mehr finanziert wurden, wieder aufbauen. Bis 2028 müssten ein Million Spezialisten für den Hightech-Bereich ausgebildet werden, erklärte der Präsident. Linkswendung des Präsidenten? Linke Kritiker hatten in der Vergangenheit kritisiert, dass der wirtschaftsliberale Flügel der russischen Elite nur noch „in Projekten denkt“, dabei brauche die russische Wirtschaft und der soziale Sektor für eine nachhaltige Entwicklung langfristige Pläne. Offenbar ist dieser Gedanke bei Wladimir Putin inzwischen angekommen. Putin schlug vor, in Zukunft einen Haushalt für drei Jahre und eine Finanzplanung für sechs Jahre zu verabschieden. Für russische Verhältnisse fast revolutionär klangen Putins Sätze zur „gerechteren Verteilung der Steuerlast“. Seit Putins Amtsantritt 2000 zahlen Arbeiter und Millionäre den gleichen Steuersatz von 13 Prozent. Die Forderung der Kommunistischen Partei nach einer progressiven Steuer, wie sie in fast allen europäischen Ländern üblich ist, hat die russische Führung bis heute ignoriert. Nun erklärt der russische Präsident überraschend, „man müsse nachdenken über eine gerechtere Verteilung der Steuerlast auf die Seite derer, die hohe Unternehmens- oder persönliche Einkünfte haben“. Bis 2030 müsse das Steuersystem modernisiert werden. Es sei nötig, „die Steuerlast für Familien zu senken, die Wirtschaft zu stimulieren und die Steuerschlupflöcher zu schließen“. „Alles hängt von unseren Soldaten ab“ Am Schluss seiner Rede kam Putin dann doch nochmal auf die angespannte Situation vor Russlands Westgrenze zu sprechen. Er erklärte: „Die Erfüllung aller genannten Pläne hängt direkt von den Soldaten ab, die jetzt an der Front kämpfen, von dem Mut und der Entschlossenheit unserer Kampfgenossen, die sich für uns, für das Vaterland opfern. Eine tiefe Verbeugung vor Euch, Kameraden.“ Nach diesen Worten standen die Versammelten spontan auf. Putin erklärte, man müsse Soldaten, die an der Militäroperation in der Ukraine teilgenommen haben, den Weg in leitende Positionen in der Wirtschaft und im Staat öffnen. Kriegsveteranen würden bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen ab sofort bevorzugt. Das Wort Elite sei inzwischen in vielerlei Hinsicht diskreditiert. Doch Menschen, die im Krieg das Vaterland verteidigt haben, gehörten „zur wirklichen Elite“. Ulrich Heyden, Moskau, 29.02.24 | Ulrich Heyden | Zwei Wochen vor den russischen Präsidentschaftswahlen beschreibt Wladimir Putin Russland in einer Rede vor der Föderalen Versammlung als aufstrebende Volkswirtschaft, die aber noch Modernisierungsdefizite hat. In ein Wettrüsten mit dem Westen – wie in den 1980er Jahren - werde man sich nicht hineinziehen lassen, erklärte Putin. Der russische Präsident, der Mitte März erneut für das Präsidenten ... | [
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] | 01. März 2024 10:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=111833 |
„der Freitag“ – auf dem rechten Auge blind? | In der „Freitag Community“ können Kiew-Kritiker gejagt werden. Die Chefredaktion greift erst ein, wenn man „Ukraine-Verteidigern“ freundliche Beziehungen zu ukrainischen Nazis nachweist. Von Ulrich Heyden Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Seit 1992 berichte ich für die Wochenzeitung “der Freitag” aus Moskau und anderen Orten Russlands und der Nachbarrepubliken (hier meine Artikel und Posts). Als ich am Mittwoch eine Mail vom Chefredakteur des “Freitag”, Philip Grassmann, bekam, traf mich das wie ein Schlag. „der „Freitag“ werde, so lange der Ukraine-Krieg andauert, keine Artikel mehr von mir veröffentlichen, schrieb Grassmann. Auch eine Akkreditierung von mir in Moskau könne man nicht unterstützen. Ich bin seit 2015 für den „Freitag“ in Moskau akkreditiert. Diese Akkreditierung muss Jahr für Jahr vom Chefredakteur neu beantragt werden. Die Akkreditierung ist die Grundvoraussetzung für die Arbeit eines ausländischen Journalisten in Moskau und zugleich die Voraussetzung für die Beantragung eines Jahres-Visums. Ich hatte seit 2014 schon mehrere Zeitungen als feste Abnehmer verloren, so die „Sächsische Zeitung“ und die Zürcher „Wochenzeitung“, doch „der Freitag“, so schien mir, werde mein fester Begleiter durch alle Stürme bleiben, war er doch – bei aller konstruktiver Kritik – immer russland-freundlich. Kein Geld, keine Akkreditierung Das Schreiben vom Chefredakteur des „Freitag“ kam mir äußerst ungelegen. An mein Konto in Deutschland komme ich aufgrund der Russland-Sanktionen nicht mehr ran und jetzt noch das … Die Träume meiner gehässigen Gegner im Internet, die frohlockten, bald müsse ich „mit einem Platz auf einer Parkbank im Gorki-Park“ vorliebnehmen, schienen sich zu realisieren, wenn nicht – zu meinem großen Glück – Albrecht Müller von den NachDenkSeiten sofort Unterstützung bei der Akkreditierung anbot. An dieser Stelle ein großes Dankeschön! Hetzjagd im Forum Freitag.de Der schäbige Brief des „Freitag“-Chefredakteurs rief mir ein Ereignis in Erinnerung, welches sich vor zwei Jahren ereignete und welches mir in der aktuellen Situation wie ein Schlüsselereignis vorkommt. Deshalb möchte ich darüber berichten. Zunächst die Vorgeschichte: Seit acht Jahren werde ich in «der Freitag Community» — einem für alle Internet-User zugänglichen öffentlichen Forum, wo jeder Interessierte seinen eigenen Blog führen kann — von drei deutschen „Ukraine-Verteidigern“ regelrecht gejagt. Ich habe seit 2014 auf meinem Blog bei der Freitag-Community immer wieder Ereignisse in der Ukraine problematisiert, insbesondere wenn es um die Einschränkung der Menschenrechte und der Medienfreiheit ging. Wie Scharfschützen lagen sie auf der Lauer Nachdem ich in der „Freitag Community“ aktiv wurde, fand sich sehr schnell eine Gruppe von drei Forenten („Kolobok“, „mber“ (Martin Dietze) und Wilfried Jonas), welche mich koordiniert aggressiv angriffen und alles, was ich schrieb, in ellenlangen Posts als „Putin- und RT-Zeug“ runtermachten. Die Zeit von der Veröffentlichung eines Posts von mir in der „Freitag Community“ und dem Auftreten der drei „Ukraine-Verteidiger“ dauerte nicht länger als eine Stunde. Wie Scharfschützen lagen sie auf der Lauer. Und das acht Jahre lang. Eine echte Leistung! Die Drei wiesen jegliche Kritik an der Politik der Staatsstreich-Regierung in Kiew zurück. Sie behaupteten von sich, sie seien engstens mit der Ukraine verbunden, hätten das Land vielmals bereist, sie hätten dort viele Freunde und würden auch Opfer „der russischen Aggression“ kennen. Ich dagegen säße in Moskau und habe keine Ahnung von der Ukraine. Dass ich 2016 ein fünfjähriges Einreiseverbot in die Ukraine bekam, war für die Drei der Beweis, dass ich kein Journalist, sondern ein Kreml-Propagandist sei. Die Forderung der Drei: „der Freitag“ soll sich von seinem Autor distanzieren Immer wieder fragten die Drei auch, wie es denn sein könne, dass die Redaktion eines so angesehenen Blattes wie dem „Freitag“ Artikel von einem „Putin-Schreiberling“ in der gedruckten Ausgabe veröffentliche. Es war eine regelrechte Hetzjagd. Nur noch selten wagten Forenten, die eine neutrale Haltung zur Ukraine hatten, sich an den „Debatten“ zu beteiligen. Die Redaktion des „Freitag“ griff nicht ein. Sie forderte die Drei auch nicht zu einem sachlichen Ton auf. Erst dachte ich, ich könnte den drei „Ukraine-Verteidigern“ mit Argumenten das Wasser abgraben, doch das stellte sich als Illusion heraus, da sie sich nicht auf meine Argumente einließen und stattdessen von mir forderten, ich müsse mich zu ihren Argumenten äußern. Sie stellten also Bedingungen, wie auf meinem Blog in der „Freitag Community“ über die Ukraine zu diskutieren sei. Einmal machte ich mich über sie lustig. Doch auch das half nicht. Die Jagd auf mich ging weiter. Ein Foto, welches sofort gelöscht wurde Anfang Mai 2020 postete ich dann ein Foto, auf dem Martin Dietze, einer der drei „Ukraine-Verteidiger“ und Gründer des Deutsch-Ukrainischen Kulturvereins in Hamburg, freundlich lächelnd neben Wasil Maruschinez, dem ukrainischen Konsul in Hamburg, zu sehen ist. Das Foto entstand am Rande einer Veranstaltung im Hamburger Konsulat der Ukraine. Die Veranstaltung hatte Dietze mitorganisiert. Doch kurz nachdem ich das Foto in meinem Blog auf der „Freitag Community“ publiziert hatte, wurde es von Freitag.de gelöscht. Ich hatte damals unter dem Foto kommentiert, dass es merkwürdig ist, dass Martin Dietze im ukrainischen Konsulat in Hamburg eine Veranstaltung mit dem ukrainischen Konsul durchführte, obwohl dieser Konsul ein eingefleischter Nazi ist. Maruschinez wurde selbst für Kiew untragbar und im Mai 2018 vom ukrainischen Außenministerium von seinem Posten abberufen. Hatte denn Dietze bei der Vorbereitung der Veranstaltung in Hamburg rein gar nichts mitbekommen von der nazistischen Einstellung dieses Konsuls?, fragte ich in meinem Post zum Foto. Wie wurde Maruschinez 2018 enttarnt? Der ukrainische Blogger Anatoli Schari hatte sich Zugang zum Facebook-Account des Konsuls verschafft und dort eine große Zahl pro-nazistischer und antisemitischer Fotos und Posts vorgefunden. All das hatte Schari am 12. Mai 2018 auf seinem Video-Kanal publiziert (Video mit deutschen Untertiteln). Der Kanal hat 2,9 Millionen Abonnenten. Angebliche Verletzung journalistischer Standards Am 5. Mai 2020 erhielt ich vom Freitag-Chefredakteur Philip Grassmann einen Brief, in dem er erklärte, er habe das Foto löschen lassen, weil es eine Verleumdung sei. Er schrieb: „Sehr geehrter Herr Heyden, uns erreichen Beschwerden über ihre Berichterstattung auf Freitag.de. Ich habe keine Sympathien für Rechtsextreme, aber es geht über eine sicherlich zulässige Verdachtsberichterstattung weit hinaus, wenn Sie jemandem unterstellen, dass er mit Rechtsextremen oder Faschisten sympathisiert, nur weil er auf einem Foto mit einer entsprechenden Person abgelichtet worden ist. Sie sind Journalist und ich möchte Sie bitten, dann Ihren Verdacht auch inhaltlich zu recherchieren – und zwar mit direkten Zitaten und nicht mit Unterstellungen oder Meinungen von anderen Personen.“ Ich wunderte mich damals, dass der Freitag-Chefredakteur jahrelang schweigend zuguckt, wie ich, ein Autor, dessen Artikel im Freitag regelmäßig gedruckt werden, in der „Freitag Community“ mit übelsten Unterstellungen angegriffen und in einem hetzerischen Tonfall gejagt wurde. Und dass dieser Chefredakteur erst eingriff, als ich das freundliche Verhältnis zwischen Martin Dietze, einem der gegen mich in üblem Ton hetzenden „Ukraine-Freunde“, und dem ukrainischen Nazi-Konsul in Hamburg öffentlich machte. Daher meine Frage: Genießen Verteidiger der Staatsstreich-Regierung in der Ukraine bei „der Freitag“ besonderen Schutz? Ulrich Heyden, Moskau, 24.03 22 P.S. Ergänzungen der NachDenkSeiten-Redaktion: 1. Hier ist übrigens der Briefwechsel zwischen dem Chefredakteur des Freitag und Ulrich Heyden. 2. Beim Freitag gibt es einige sehr gute und standhafte Redakteure. Dass der Verleger Augstein die von Ulrich Heyden geschilderten Aktionen des Chefredakteurs deckt, lässt allerdings tief blicken und befürchten, dass der Freitag seinen Vorgängern taz und Blätter folgen könnte. | Ulrich Heyden | In der „Freitag Community“ können Kiew-Kritiker gejagt werden. Die Chefredaktion greift erst ein, wenn man „Ukraine-Verteidigern“ freundliche Beziehungen zu ukrainischen Nazis nachweist. Von Ulrich Heyden
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] | 25. März 2022 12:05 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=82304&share=email&nb=1 |
Ist die Linkspartei der Steigbügelhalter von Merkel und Westerwelle? Oder stimmt genau das Gegenteil? Ist die Linkspartei die einzige Chance, Schwarz-Gelb noch zu verhindern? | “Wir müssen den Leuten deutlich machen, daß wer PDS/WASG wählt, im Ergebnis Merkel und Westerwelle bekommen wird”, sagt Heiko Maas, der saarländische SPD-Chef. Das Abreagieren von Wut in der Wahlkabine könne also zu einem über vier Jahre hinweg “äußerst unerfreulichen” Ergebnis führen, das will er den Saarländern jetzt klarmachen. So berichtet die Welt am Sonntag am 31.7.2005. – Das klingt ja ganz logisch, könnte man denken. De facto ist es jedoch eine Zumutung: die SPD hat seit 1999 sechs ihrer Ministerpräsidenten bei Wahlen verloren, davon fünf an schwarz-gelb. Auch beim Bund schien vor dem Auftreten der Linkspartei alles klar: Schwarz-gelb lag klar vorn.
Die letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen wurden von Rot und Grün mit Pauken und Trompeten verloren. Auch die bundesweiten Umfragen waren so eindeutig, dass in der Union und bei der FDP schon das Fell des Bären verteilt wurde. Erst mit dem Auftreten der Linkspartei und vor allem mit ihrem Versuch, auch jene Menschen wieder für Politik und für die Wahl zu interessieren, die von der Politik nichts mehr erwarteten, weil es ihnen zu dreckig geht, weil sie arbeitslos sind, weil sie nicht über die Runden kommen und deshalb auch mal rechts gewählt haben, oder einfach zuhause geblieben sind. Der Eintritt des Linksbündnisses in die politische Arena hat Bewegung in die gesamte Konstellation gebracht und überhaupt erst die Chance eröffnet, Schwarz-gelb zu verhindern. Das ist die Lage. Diese Einschätzung wird übrigens im gleichen Blatt, also auch in der Welt am Sonntag vom 31.7. bestätigt. In einem anderen Artikel heißt es dort: Soweit aus der WamS. Das Linksbündnis trägt also eher dazu bei, Guido Westerwelle und seine Spaßpartei politisch zu entsorgen, als dass Schwarz-Gelb als Drohkulisse aufgebaut werden könnte. Dies alles nimmt der SPD-Vorsitzende von der Saar nicht wahr. Volkstümlich würde man Heiko Maas im Saarland einen „Dummbappler“ nennen. Das wäre noch freundlich. Ansonsten müsste man sagen, er will die Wählerinnen und Wähler für dumm verkaufen. Wie das sein Parteivorsitzender in Berlin, Franz Müntefering, vormacht, wenn er so tut, als würden mit Neuwahlen die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zu Gunsten der SPD verändert. | Albrecht Müller | "Wir müssen den Leuten deutlich machen, daß wer PDS/WASG wählt, im Ergebnis Merkel und Westerwelle bekommen wird", sagt Heiko Maas, der saarländische SPD-Chef. Das Abreagieren von Wut in der Wahlkabine könne also zu einem über vier Jahre hinweg "äußerst unerfreulichen" Ergebnis führen, das will er den Saarländern jetzt klarmachen. So berichtet die Welt am Sonntag am 31.7.2005. - Das klingt ja ... | [
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] | 01. August 2005 8:14 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=716 |
amerika21 | Amerika21 ist ein Nachrichtenblog, auf dem verschiedene deutschsprachige Fachautorinnen und -autoren Nachrichten, Übersetzungen und Analysen aus Lateinamerika veröffentlichen. | [] | [] | 01. April 2023 11:45 | https://www.nachdenkseiten.de/?gastautor=amerika21&paged=22 |
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Die Allgemeinheit muss für die Schulden der FDP haften und der Aufschrei bleibt aus | Niemand dürfe auf Kosten der Allgemeinheit leben. Dies ist seit Jahren das sozial- und rentenpolitische Credo der FDP. Für das eigene Handeln gelten diese Grundsätze jedoch offenbar nicht, wie der bizarre Streit um die Schulden der FDP-Fraktion bei einem Rentenversicherer zeigt. Würde man eine Fraktion rechtlich wie ein normales Unternehmen behandeln, hätten sich die FDP-Granden nach Ansicht der Fachzeitschrift Legal Tribune wohl des Bankrotts strafbar gemacht. Da es hier jedoch offenbar eine Gesetzeslücke gibt, muss nun die Allgemeinheit für rund sechs Millionen Euro nie gezahlter Rentenbeiträge der FDP geradestehen. Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Der 27. September 2009 war wohl der bislang schönste Tag im Leben der FDP. Dank eines Ergebnisses von 14,6% konnten die Liberalen mit 93 Abgeordneten in den 17. Bundestag einziehen. Doch die Freude währte nicht lang. War der 27. September 2009 der schönste Tag, dann war der 23. September 2013 wohl der schlimmste Tag im Leben der FDP. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte scheiterten die Liberalen an der Fünf-Prozent-Hürde und zogen damit nicht in den 18. Bundestag ein. Damit löste sich auch die bisherige Bundestagsfraktion der FDP auf und mehr als 100 feste Mitarbeiter der Fraktion mussten entlassen werden. Damit stellte sich jedoch das Problem, wie mit deren an die Arbeitsverhältnisse des Öffentlichen Dienstes angepassten Zusatzversorgung, die seit 2002 als Betriebsrente firmiert, umzugehen ist. Die Fraktionsmitarbeiter der FDP waren dafür bei der Rheinischen Zusatzversorgungskasse (RZVK) in einem Umlageverfahren versichert – offenbar traut die FDP den von ihr propagierten kapitalgebundenen Altersvorsorgeprodukten selbst nicht über den Weg. Mit der Auflösung der FDP-Fraktion, die nach Parteiengesetz organisatorisch ja strikt von der Partei selbst getrennt sein muss, standen den bereits erworbenen Anwartschaften der Fraktionsmitarbeiter nun aber keine Prämienzahlungen des Arbeitsgebers mehr gegenüber und die alte FDP-Fraktion hatte bar jeder ordentlichen kaufmännischen Sorgfaltspflicht in den letzten zwei Jahren ihrer Existenz die Rücklagen in Höhe von acht Millionen Euro – rechtlich umstritten – verpulvert und es versäumt, Rückstellungen für die Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter zu bilden. So kam es, wie es kommen musste. Die FDP-Fraktion in Liquidation wollte und konnte die ausstehenden Forderungen der Versorgungskasse ihrer Mitarbeiter nicht begleichen. Laut einem Gutachten der RZVK betrug damals die Forderungssumme stolze 5,8 Millionen Euro. Wäre die FDP-Fraktion ein Unternehmen, hätte man das Verpulvern der Rückstellungen und Rücklagen wohl als Straftat gewertet und der damalige Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle hätte sich zusammen mit den verantwortlichen Fraktionsgeschäftsführern wegen Bankrott (§ 283 StGB) vor Gericht verantworten und auf eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren einstellen müssen. Das rechtliche Wesen einer parlamentarischen Fraktion ist jedoch umstritten und obgleich den Fraktionen eine ordnungsgemäße Buchführung vorgeschrieben ist, die Rückstellungen für drohende Verluste vorschreibt, konnte sich die FDP-Fraktion, die sich seit der Wahlniederlage 2013 in Liquidation befand, bislang ohne rechtliche Folgen aus der Verantwortung stehlen. Schuld daran ist auch die Rheinische Zusatzversorgungskasse, die es auf Rat ihrer Anwälte hin unterlassen hat, die FDP-Fraktion rechtlich zu belangen. Aufgrund der nicht vorhanden Geldmittel der liquidierten Fraktion sei die Forderung unabhängig von deren rechtlicher Durchsetzbarkeit schlicht nicht realisierbar. Es ist sicherlich nur ein Zufall, dass der für die Abwicklung zuständige RZVK-Geschäftsbereichsleiter Zusatzversorgung offenbar ein langjähriges FDP-Mitglied ist. So kam es, dass die RZVK ihre Forderungen an die FDP ganz einfach verjähren ließ und nun die übrigen 340.000 RZVK-Versicherten den Fehlbetrag querfinanzieren müssen. Die Aufsicht der RZVK obliegt übrigens paradoxerweise nicht der BaFin oder dem Bundesfinanzministerium, sondern dem nordrhein-westfälischen Heimatministerium, das vom Koalitionspartner der FDP geführt wird. Um die Lücke zu schließen, kürzte die RZVK zum Jahreswechsel die Ansprüche von rund 21.500 Versicherten um bis zu 25%, die sich für eine kapitalgedeckte Zusatzrente entschieden haben. Anders als beim Umlagesystem gibt es bei kapitalgedeckten Systemen einen „freiwilligen“ Anteil der Versicherer, der bei prekären finanziellen Engpässen auch schon mal gestrichen werden kann. Wäre es für die Geschädigten nicht so bitter traurig, man müsste an dieser Stelle schallend lachen – die FDP, die stets kapitalgedeckte Altersvorsorgemodelle propagiert und umlagefinanzierte Modelle verteufelt, entzieht sich mit einem rechtlich fragwürdigen Trick den Forderungen des Umlagesystems und sorgt so dafür, dass ein schlechter abgesichertes kapitalgedecktes Modell zusammenbricht. „Besser“ könnte man die Ruchlosigkeit der FDP und die Konstruktionsfehler einer kapitalgedeckten Altersvorsorge wohl kaum demonstrieren. Die ehemaligen Fraktionsmitarbeiter der FDP können nur heilfroh sein, dass die Partei ihrem eigenen Geschwätz zur Altersvorsorge keinen Glauben schenkt. Erstaunlich mag es auf den ersten Blick sein, dass die alten Gläubiger der FDP-Fraktion leer ausgehen, obgleich die FDP doch seit 2017 wieder im Bundestag vertreten ist. Hier gibt es jedoch eine zweite Gesetzeslücke. Die aktuelle FDP-Fraktion ist rechtlich gesehen eine neue juristische Person, die nicht die Rechtsnachfolge der alten FDP-Fraktion angetreten hat und daher auch weder zivil- noch strafrechtlich für die Taten der alten FDP-Fraktion rechenschaftspflichtig ist. Die RZVK kann sich mit ihrer Forderung also nur an die alte FDP-Fraktion in Liquidation wenden, bei der es jedoch anscheinend nichts zu holen gibt. Zeitgleich greift die neue FDP-Fraktion ihren Teil von den 115 Millionen Euro jährlich ab, die die Bundestagsfraktionen vom Steuerzahler bekommen. Man kann nur hoffen, dass der Wähler seine eigenen Schlüsse aus diesem Skandal zieht und einer Partei, bei der ordentliche kaufmännische Buchführung offenbar genauso wie Anstand und Moral ein Fremdwort ist, künftig ihre Stimme verweigert. Und wenn demnächst ein Maulheld der FDP mal wieder über Menschen herzieht, die seiner Meinung nach auf Kosten der Allgemeinheit leben, dann erinnern Sie ihn doch einfach mal daran, wer in diesem Staat tatsächlich auf Kosten der Allgemeinheit lebt. Titelbild: Mattis Kaminer/shutterstock.com | Jens Berger | Niemand dürfe auf Kosten der Allgemeinheit leben. Dies ist seit Jahren das sozial- und rentenpolitische Credo der FDP. Für das eigene Handeln gelten diese Grundsätze jedoch offenbar nicht, wie der bizarre Streit um die Schulden der FDP-Fraktion bei einem Rentenversicherer zeigt. Würde man eine Fraktion rechtlich wie ein normales Unternehmen behandeln, hätten sich die FDP-Granden nach Ansicht d ... | [
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] | 19. Februar 2019 12:47 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=49445&share=email&nb=1 |
Die Weißwäscher aus Nürnberg | Eine „grundsätzlich positive Einschätzung“ hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) [PDF – 895 KB] nach fünf Jahren Hartz IV. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn das IAB ist eine Abteilung der Bundesagentur für Arbeit und die BA hat „ihre Aufgaben, im Rahmen des für sie geltenden Rechts“ durchzuführen. Erstaunlich wäre allenfalls, wenn das IAB das geltende Recht der Hartz-Gesetze in Frage stellen würde. Das muss nicht heißen, dass die vorgelegten Zahlen falsch sind, aber bei ihrer Interpretation fungiert das IAB als Weißwäscher einer gescheiterten „Reform“. Wolfgang Lieb
Für das IAB ist Hartz IV deswegen auch nicht ein Gesetz, mit dem „Druck“ auf die Arbeitslosen gemacht werden soll, jede angebotene Stelle zu jedem angebotenen Preis anzunehmen, es ist auch kein Druckinstrument zur Durchsetzung von Lohndumping, Arbeitszeitverlängerungen etc. gegenüber den regulär Beschäftigten, die sich um ihre Arbeitsplätze fürchten müssen. Nein, für das IAB leitet das SGB II, in dem Hartz IV geregelt wurde, die „Vorstellung, dass gesellschaftliche Teilhabe sich am besten über die Teilhabe am Erwerbsleben erreichen lässt.“
Und um dieses hehre Ziel der Teilhabe zu erreichen, muss eben „gefordert“ werden. Auch wenn das Fordern vor allem darin besteht, dass jemand im Regelfall nach einem Jahr Arbeitslosigkeit und nach dem Verzehr seines „Schonvermögens“ in die Bedürftigkeit fällt und – wenn er ein Arbeitsangebot für unzumutbar hält – mit Sanktionen (d.h. Kürzungen der Mittel unter das Existenzminimum) verfolgt wird. Diesen Zwang nennt man also beschönigend „Aktivierung“ In der Sprache der Weißwäscher aus Nürnberg hört sich dies Erpressungssituation so an: „Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik soll deshalb in erster Linie darauf ausgerichtet sein, die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu eigenverantwortlichem und autonomem Handeln zu befähigen.“ Immerhin gesteht das IAB auch ein, dass es bei dieser „Reform“ nicht nur Licht, sondern auch Schatten gibt. So sei „der Anspruch, individuell passende Betreuungs- und Aktivierungsleistungen anzubieten, in der Praxis noch nicht immer hinreichend eingelöst.“ Den Zwang von Hartz IV, so gut wie jede Arbeit anzunehmen, in sog. Arbeitsgelegenheiten (1-Euro-Jobs) oder in prekäre Jobs gedrückt zu werden, nennt das IAB also den Anspruch auf das Angebot einer individuell passenden Aktivierungsleistung. Dies Art der Aktivierung erinnert einen an den Ausspruch des legendären Mafia-Chefs Al Capone: „Mit einem freundlichen Wort und einer Pistole in der Hand erreicht man mehr als mit einem freundlichen Wort allein.“ Da hebt das IAB positiv hervor, dass „die Zahl der erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen…seit 2006 kontinuierlich zurückgegangen sei“, nämlich um rd. 520.000 von 5,4 Millionen auf 4,9 Millionen Menschen. Rechnet man allerdings mit den Zahlen seit Mitte 2005, dann ist die Hilfebedürftigkeit heute immer noch auf demselben Niveau wie vor fünf Jahren. Aussagekräftiger wäre darüber hinaus die Antwort, wo die aus dem „Bestand“ gefallenen „Hilfsbedürftigen“ gelandet sind. Nur ein Viertel der Betroffenen schafft pro Jahr den Ausstieg aus Hartz IV und wer den Weg aus Hartz IV schafft, arbeitet oft in so genannten prekären Verhältnissen, sagt dazu Claus Schäfer vom WSI. „Die Hälfte der Jobs, die Hartz-IV-Empfänger annehmen, sind befristet, 29 Prozent arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus“, gesteht der Leiter der IAB-Studie, Mark Trappmann ein. Nur jede/r Zweite, die/der kein Hartz IV mehr bekommt, wechselt in eine Beschäftigung. 17 Prozent sind weiter arbeitslos und bekommen deswegen keine staatliche Unterstützung mehr, weil z.B. der Lebenspartner eine Stelle gefunden hat oder der Lohn über den Sätzen einer Bedarfsgemeinschaft liegt. 6 Prozent gehen in Rente oder werden Hausfrau/-mann. Wie hier mit Statistik geschönt wird, lässt sich auch an folgendem Beispiel zeigen: Noch vor kurzem, als es um die Rechtfertigung der Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ging, titelte das IAB: „Besserung für Ältere am Arbeitsmarkt“ [PDF – 1.2 MB]. Dass die Zahl der Hartz IV-Empfänger seit 2006 um 17,7 Prozent auf über 700.000 gestiegen ist, wird jetzt natürlich nicht mehr – wie in der vorausgegangenen Studie – mit den Segnungen der Anhebung des abschlagsfreien Rentenalters auf 67 Jahre oder der Einschränkung der Frühverrentung begründet. Und natürlich werden wie immer vom IAB die positiven Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen auf die Arbeitslosigkeit gerühmt: Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen (wohlgemerkt im SGB II) sei keineswegs „nur der positiven Konjunktur der Jahre 2006 bis 2008 geschuldet“. Es fehlten zwar „belastbare kausalanalytische Befunde“ aber es gebe „Anzeichen (!) dafür, dass infolge der Einführung des SGB II strukturelle Arbeitslosigkeit abgebaut werden konnte“ . Die indirekten Hinweise für diese Behauptung, nämlich dass sich das Verhältnis zwischen den offenen Stellen und der Arbeitslosenzahl verbessert habe, sind allerdings mehr als vage. Damit man nicht von der Wirklichkeit Lügen gestraft wird, fügt man vorsichtshalber hinzu, dass es nicht absehbar sei, ob sich die die positive Entwicklung mit der Finanz- und Wirtschaftskrise fortsetzen werde.
Dass die Krise auf dem Arbeitsmarkt noch nicht bei den Hartz IV-Empfängern angekommen ist, ergibt eigentlich für jeden, der eins und eins zusammenzählen kann, schon daraus, dass die Krise bisher ein Stück weit durch Kurzarbeit aufgefangen wurde und die neu Entlassenen zunächst noch überwiegend ein Jahr Arbeitslosengeld erhalten. Es drohten zwar neuerliche Verfestigungstendenzen und ein Anwachsen der Sockelarbeitslosigkeit, dennoch versteigen sich die Auftragsforscher des IAB in die Behauptung, „dass sich die Arbeitsmarktpolitik auch und gerade im Rahmen des SGB II auf dem richtigen Weg befinde“. Immerhin wird in der Studie beklagt, dass insbesondere Alleinerziehende ein hohes Risiko haben, dauerhaft im Leistungsbezug zu bleiben: Mehr als die Hälfte von ihnen ist drei Jahre ununterbrochen im Bezug. Es wird auch erwähnt, dass Erwerbstätigkeit allein zur Überwindung des Hilfsbezugs in vielen Fällen nicht ausreiche, immerhin seien 1,3 Millionen erwerbstätige Hilfsbedürftige im Bestand der Grundsicherung. Im Zusammenhang mit den geringen Erfolgen der sog. Eingliederungsvereinbarungen (also etwa der Leistungsnachweis über Suchbemühungen) lüftet die Studie ein für die Forscher bislang offenbar unentdecktes Geheimnis: „In erster Linie ist dies ein Hinweis darauf, das Aktivierung nur erfolgreich sein kann, wenn auf der Arbeitsnachfrageseite auch genügend adäquate Jobs für erwerbsfähige Hilfsbedürftige verfügbar sind.“
Für diese unglaubliche Erkenntnis brauchte man beim IAB offenbar fünf Jahre. Und noch eine Banalität bekommt vom IAB wissenschaftlichen Weihen: „Die befragten ALG-II-Bezieher nahmen ihre gesundheitliche Situation häufig als eher schlecht wahr, wobei dies auch psychische Probleme mit einschließt.“ Diese Erkenntnis hätte man billiger haben können: dazu hätte man die Beteiligten Wissenschaftler nur vor einem Jahr kündigen müssen und sie dann als Arbeitslose fragen müssen, wie es ihnen geht. Einer der die Studie präsentierenden Wissenschaftler meinte, dass sich die Menschen wieder besser fühlten, wenn sie wieder arbeiten gehen würden. “Wer sechs Euro in der Stunde verdient, ist zufriedener als jene, die in Hartz IV verbleiben”, berichtet IAB-Forscher Mark Trappmann. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte man die Autoren auch als Kabaretteinlage bei „Neues aus der Anstalt“ präsentieren können. Wenigstens wird angedeutet, dass die Übergänge aus Arbeitsgelegenheiten (1-Euro-Jobs) in reguläre Beschäftigung selbst bei Betrieben, bei denen arbeitsmarktpolitische Maßnahmen das „Kerngeschäft“ seien „nicht allzu häufig“ seien. „Einmal Hartz IV – länger Hartz IV“ titelt der Spiegel zu Recht. „Neueste ökonometrische Untersuchungen“ zeigten, dass sich die Substitution regulärer Beschäftigung durch Arbeitsgelegenheiten wissenschaftlich nicht nachweisen ließe. Ach hätten sich die Wissenschaftler doch nur einmal etwa in den Stadtpark oder in eine Pflegeeinrichtung begeben und hätten mit eigenen Augen, statt durch ökonometrische Untersuchungen gesehen, welcher ansonsten ganz regulär bezahlter Arbeit dort durch 1-Euro-Jobber nachgegangen wird.
Dass die 1-Euro-Jobs die traditionellen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) abgelöst haben, versteht sich von selbst, die sog. Arbeitsgelegenheiten sind schlicht billiger. Immerhin findet sich die kritische Anmerkung: Woher der politische Wind am IAB weht, zeigt sich am Schluss der Studie, wo sich die Wissenschaftler ganz offen in die politische Debatte einmischen, ausdrücklich wendet sich die Studie gegen den von Sozialverbänden und Politikern erhobenen Vorwurf, Hartz IV sei Armut durch Gesetz: Bei der Erkenntnis, dass die Armut mit Hartz IV eher zurückgegangen ist müssen die beteiligten Forscher aber ziemlich viel „simuliert“ haben. Natürlich sinkt die relative Armut von Hartz-IV-Empfängern, wenn immer mehr Niedriglöhner und Arbeitnehmer in prekärer Beschäftigung hinzukommen. Wird Armut etwa dadurch präventiv bekämpft, dass die mittleren und unteren Einkommen insgesamt sinken und immer mehr Menschen arm werden oder an die Armutsgrenze geraten? Dazu Claus Schäfer vom WSI ganz ohne „Politiksimulation“: “Da die Mehrheit der Menschen, die früher im Arbeitslosen- und Sozialhilfesystem waren, Einkommen verloren hat, hat Hartz IV eindeutig die Armut erhöht”.
Quelle: tagesschau.de Da auch das IAB davon ausgeht, dass es 2010 und 2011 vermehrt zu Übertritten von Arbeitslosengeldempfängern (deren Zahl seit Ausbruch der Krise um 18,5% oder 170.00 gestiegen ist) zu Hartz-IV-Beziehern kommen wird, warnen die Forscher schon vorsorglich vor einer auch nur „temporären Abkehr vom Aktivierungskonzept“. Wie schon anfangs erwähnt ist diese Warnung keineswegs erstaunlich für ein Institut, dessen Aufgabe es ist, die Hartz-Reformen wissenschaftlich für richtig und erfolgreich zu erklären.
Wie sagte doch der Direktor des IAB, Joachim Möller, bei der Vorstellung der Studie: „Die Öffentlichkeitsarbeit im Zuge der Einführung war eine Katastrophe…Eigentlich müsste es “Plus-ein-Euro-Job heißen”. Über diese Verbesserung der Kommunikation werden die 1-Euro-Jobber in Begeisterung ausbrechen. Es bleibt dabei, dass die Hartz-Reform als gescheitert gilt, liegt für deren Befürworter ausschließlich an der schlechten Vermittlung der Reformen. Und deshalb müssen halt auch die wissenschaftlichen Weißwäscher ran, um die Reformen besser zu vermitteln. | Wolfgang Lieb | Eine „grundsätzlich positive Einschätzung“ hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) [PDF - 895 KB] nach fünf Jahren Hartz IV. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn das IAB ist eine Abteilung der Bundesagentur für Arbeit und die BA hat „ihre Aufgaben, im Rahmen des für sie geltenden Rechts“ durchzuführen. Erstaunlich wäre allenfalls, wenn das IAB das geltende Recht der Hart ... | [
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Vortrag und Diskussion mit Albrecht Müller zu Aktuellem und zu „Brandt aktuell“ in Walzbachtal-Wössingen bei Karlsruhe am 4.4.. | Am Freitag, den 4. April 2014, um 19 Uhr bin ich auf Einladung der örtlichen SPD im Wössinger Hof, Wössinger Straße. Anlass für die Einladung ist mein kürzlich erschienenes Buch “Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger”. Wir werden über dieses Buch und die dort angesprochenen aktuellen Fragen sprechen. Aus aktuellem Anlass wird es dabei auch um das zurzeit verspielte Erbe Willy Brandts gehen: das Ende der Konfrontation zwischen West und Ost. Und konstruktiv um die Frage, was heute notwendig wäre, um neue Kriegsgefahren zu vermeiden und die Teilung Europas noch einmal zu überwenden. Selbstverständlich wird auch über die Klischees zu sprechen sein, die über den früheren Kanzler verbreitet werden. Willy Brandt wird von Geschichtsschreibern geistig entsorgt, weil man von ihm für heute zu viel lernen könnte. Das will man aber nicht.
Die Veranstaltung am 4. April ist offen für alle politischen Schattierungen. Sie sind herzlich eingeladen. Albrecht Müller
Walzbachtal-Wössingen liegt im Kraichgau östlich von Karlsruhe. Der Ort ist mit der S 4, die zwischen Karlsruhe und Heilbronn verkehrt, auch mit einem öffentlichen Verkehrsmittel erreichbar. Hier die Einladung zur Veranstaltung: Du bist wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten?
Sie waren von Willy Brandt begeistert?
Sie vermissen heute Politiker vom Format eines Willy Brandt?
Oder: Sie halten Brandt für abgehoben, depressiv und erfolglos. Wie auch immer – Sie sind/Du bist dann richtig bei einem spannenden Termin der SPD Walzbachtal: Am Freitag, den 4. April 2014, 19 Uhr
im Wössinger Hof (Wössinger Straße) wird
Albrecht Müller aus seinem kürzlich erschienenen Buch
“Brandt aktuell” lesen, über die Klischees berichten, die über den früheren Kanzler verbreitet werden, und zeigen, was man von Willy Brandt für heute lernen könnte. Albrecht Müller hat eng mit Brandt zusammen gearbeitet, 1972 leitete er den Wahlkampf für ihn und ab 1973 war er Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. In seinem Buch “Brandt Aktuell – Treibjagd auf einen Hoffnungsträger” beschreibt Müller, wie politische Gegner und einige Medien, aber auch Parteifreunde, systematisch gegen den Kanzler arbeiteten und intrigierten. Für Albrecht Müller war der SPD-Vorsitzende ein Hoffnungsträger, dessen politische Botschaften und Methoden heute fehlen. Sein Fazit: Obwohl Brandt nur viereinhalb Jahre Bundeskanzler war, war er einer der wichtigsten Kanzler Deutschlands. Albrecht Müller ist in Heidelberg geboren, war auch Ghostwriter von Karl Schiller, Bundestagsabgeordneter für die Südpfalz und ist Autor vieler kritischer Bücher (u.a. Machtwahn, Reformlüge, Meinungsmache) und Herausgeber des kritischen Internet-Blogs www.nachdenkseiten.de Sie sind/Ihr seid herzlich willkommen. Die Schmankerl für unsere Gäste an diesem Abend: www.spd-walzbachtal.de | Albrecht Müller | Am Freitag, den 4. April 2014, um 19 Uhr bin ich auf Einladung der örtlichen SPD im Wössinger Hof, Wössinger Straße. Anlass für die Einladung ist mein kürzlich erschienenes Buch "Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger". Wir werden über dieses Buch und die dort angesprochenen aktuellen Fragen sprechen. Aus aktuellem Anlass wird es dabei auch um das zurzeit verspielte Erbe Willy Bra ... | [
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Arme brauchen Hilfe, keine Diskriminierung | Werden Arme in unserer Gesellschaft diskriminiert? Ja, sagt der Journalist Christian Baron (siehe sein Interview mit den NachDenkSeiten ). Recht hat er. Deshalb hat er vergangene Woche die Initiative #unten ins Leben gerufen. Seitdem haben sich zahlreiche Twitternutzer zu Wort gemeldet. Ihre Tweets geben einen unverblümten Einblick in eine Realität, die nicht geleugnet werden darf: Im reichen Land Deutschland existiert Armut. Und: Wer arm ist, wer von #unten kommt, ist im Alltag Demütigung und Ausgrenzung ausgesetzt. Das muss sich ändern. Möglichst schnell. Ein Kommentar von Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Wer arm ist, braucht Hilfe. Was er nicht braucht, sind Diskriminierung, Demütigung, Ausgrenzung und Benachteiligung. Doch genau das ist es, was arme Menschen in Deutschland erleben. Immer wieder. Schon Kinder und Teenager, die mit ihren Eltern in Armut leben, werden oft aufgrund ihrer bescheidenen Lebensverhältnisse sozial abgewertet und ausgegrenzt. Die Entwürdigung der Armen beginnt früh und zieht sich durch alle Lebensphasen. Auch an Orten, an denen die Achtung der Würde des Menschen erwartet werden könnte, sind diejenigen, die aus armen Verhältnissen kommen, Diskriminierungen ausgesetzt. Ein Beispiel dafür liefert Aylin Karabulut, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Duisburg-Essen, die sich an der Twitter-Diskussion zu #unten beteiligt und einen Dialog wiedergibt, den ein Student ihr erzählt hat: Ist diese Schilderung glaubwürdig? Ja. So sieht es aus, wenn die soziale Herkunft selbst dann noch eine Rolle spielt, wenn sich die in Armut Aufgewachsenen einen für sie eher unüblich hohen Bildungsgrad erarbeitet haben. Anders gesagt: Wenn Menschen, die aus den unteren Schichten kommen, selbst an einer Universität aufgrund ihrer Sozialisation diskriminiert werden, wie sieht es dann erst an anderen Orten aus? Wie sieht der Umgang mit Armen im Alltag aus? Wir leben in einer Gesellschaft, in der weite Teile der Bürger wissen, dass für Rassismus kein Platz ist. Wer Menschen aus anderen Ländern mit Ressentiments begegnet, wer Ausländern pauschal mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen entgegentritt, wer Migranten aufgrund ihrer Herkunft unterstellt, sie seien kriminell, den identifizieren wir schnell als Rassisten. Zu Recht! Aber wie sieht es aus, wenn es um Vorurteile und Diskriminierungen geht, die gegen die Menschen aus den unteren sozialen Schichten gerichtet sind? Wie fein sind hier die Detektoren von uns als Gesellschaft? Schlagen sie früh genug an? Nein: Wenn es um den „Rassismus“ gegenüber den Armen geht, befinden wir uns nicht einmal in der Entwicklungsphase. Wie sonst ist es zu erklären, dass noch im Jahr 2015 der Deutsche Journalistenpreis für ein Interview vergeben wird (Titel: Trösten und Triezen. Nicht als Verlinkung verfügbar, aber über Google zu finden), in dem der Direktor eines Jobcenters auf die Frage, was die Verleihfahrräder vor dem Jobcenter bedeuten, ohne kritisches Nachfragen vonseiten des Journalisten sagt: Da ist es, das Vorurteil. Da ist sie, die Diskriminierung – offensichtlich nicht mal bemerkt von der Jury. Dem Armen (pauschal) kann man allenfalls ein Rad an die Hand geben, mit dem er zum Bewerbungsgespräch radeln darf. Man weiß doch, wie „die“ so sind. Gibt man „denen“ (unseren Kunden) Geld für eine Fahrkarte in die Hand, versaufen und verrauchen sie es. Das ist es, was man aus diesen Zeilen lesen darf. Das Traurige an dem angeführten Zitat ist: Ausführungen wie diesen dürften weite Teile der Mittel- und Oberschicht applaudieren. Also gerade auch diejenigen, die sich vehement gegen Rassismus aussprechen, hegen oft tief verinnerlichte Vorurteile gegen Arme – was auch daran liegt, dass sie deren Leiden, Lebenssituationen und Verhalten nicht verstehen. Sie blicken auf die Armen wie der Rassist auf den Ausländer. Der Arme, der ist irgendwie anders. Nicht so wie wir. Alleine schon die Sprache. Wie der redet. Sein Verhalten. Dumm (ungebildet) ist er auch noch. Nein, die Armen sind nicht so wie wir. Die sind anders (schlechter, weniger wert). Sicher, eine Chance kann man ihnen geben. Aber bitte: Gebt ihnen kein Geld. Leiht ihnen ein Fahrrad. Bewegung schadet bekanntlich nichts. Zugespitzt ist das jene Haltung, wie sie in unserer Gesellschaft gegenüber den Armen weit verbreitet ist. Diese Denke ist auch die Basis für eine Sprache im Umgang mit den Armen, die in ihrer Kälte, Empathielosigkeit und Brutalität ihresgleichen sucht – und das ganz ohne #aufschrei. Deshalb: #unten. | Marcus Klöckner | Werden Arme in unserer Gesellschaft diskriminiert? Ja, sagt der Journalist Christian Baron (siehe sein Interview mit den NachDenkSeiten ). Recht hat er. Deshalb hat er vergangene Woche die Initiative #unten ins Leben gerufen. Seitdem haben sich zahlreiche Twitternutzer zu Wort gemeldet. Ihre Tweets geben einen unverblümten Einblick in eine Realität, die nicht geleugnet werden darf: Im reichen ... | [
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] | 14. November 2018 12:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=47192&share=email |
Auswärtiges Amt in Erklärungsnot: Welcher Völkerrechts-Artikel legitimiert die Bombardements von Gaza? | Artikel 51 der UN-Charta legitimiert das Selbstverteidigungsrecht eines Staates nur im Fall des Angriffs durch einen anderen Staat. Dies zudem nur, bis der UN-Sicherheitsrat über die getroffenen Maßnahmen informiert und eine Entscheidung über deren Recht- wie Verhältnismäßigkeit getroffen wurde. Doch weder der Gazastreifen noch die Hamas gelten im völkerrechtlichen Verständnis als staatliche Akteure. Die immer wieder von der Bundesregierung wiederholte Rechtfertigung, Israel habe nach den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober das „völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung“, kann also zumindest nicht über Artikel 51 legitimiert werden. Vor diesem Hintergrund fragten die NachDenkSeiten bei der Bundespressekonferenz nach. Der Antwortversuch des Auswärtigen Amts geriet nicht wirklich überzeugend. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Egal ob Tausende Wohngebäude zerstört, Tausende Kinder getötet oder UN-Schulen und medizinische Einrichtungen im Gazastreifen dutzendfach von der israelischen Armee bombardiert werden, die Standardantwort der Bundesregierung auf Fragen, ob dieses Vorgehen völkerrechtskonform ist, lautet seit rund drei Wochen: Wie sieht es aber ganz konkret mit dem „völkerrechtlich verbrieften Recht“ Israels aus, auf das die Bundesregierung so oft in den letzten Wochen verwiesen hat? Wie bereits ausgeführt, ist dies im Völkerrecht im Fall des aus Gaza erfolgten Angriffs mitnichten so klar geregelt, wie es Auswärtiges Amt und Bundeskanzler behaupten, da Hamas als nichtstaatlicher Akteur gilt, und laut Artikel 51 der UN-Charta nichtstaatliche Akteure keine Angriffe im Sinne des Völkerrechts ausführen. Wenn eine Tat wie die am 7. Oktober keinem souveränen Staat zugeordnet werden kann, dann gilt dies im völkerrechtlichen Verständnis nicht als militärischer Angriff, sondern als Terrorakt. Das macht in der völkerrechtlichen Bewertung einen enormen Unterschied hinsichtlich der Legitimation beim Einsatz von Streitkräften und entsprechenden Waffensystemen. Im Falle des Gazastreifens kommt noch ein anderer Aspekt hinzu. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die übergroße Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft, darunter auch die USA und die Bundesregierung, bezeichnen den Gazastreifen ebenso wie Ostjerusalem und die Westbank als „von Israel besetzte Gebiete“. Diese Einschätzung bezüglich des Gazastreifens bestätigte das Auswärtige Amt erst kürzlich gegenüber den NachDenkSeiten, nachlesbar direkt in den Protokollaufzeichnungen vom 11. Oktober des AA: Zahlreiche Völkerrechtler und Politologen weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass, wenn der Gazastreifen als völkerrechtlich besetzt gilt, dies „weitreichende Konsequenzen“ in der Bewertung des Ausmaßes der völkerrechtlich legitimierten militärischen Maßnahmen durch Israel habe. So verweist etwa der an der walisischen Swansea-Universität lehrende Politologe Dennis R. Schmidt gegenüber dem FREITAG (Ausgabe vom 19. Oktober 2023) darauf, dass das Völkerrecht das Recht zum Gewalteinsatz von Besatzungsmächten massiv einschränkt und diesen zudem „vielfältige Pflichten“ hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern auferlegt. Vor diesem skizzierten völkerrechtlichen Panorama fragten die NachDenkSeiten auf der Bundespressekonferenz nach und wollten vom Auswärtigen Amt wissen, welcher konkrete Artikel in der UN-Charta die aktuellen „Selbstverteidigungsmaßnahmen“ Israels legitimiere und ob das AA, da es den Gazastreifen als „besetztes Gebiet“ bewertet, auch die damit einhergehenden völkerrechtlichen Begrenzungen des Gewalteinsatzes gegeben sieht: Protokollauszug von der Bundespressekonferenz am 23. Oktober 2023: Frage Warweg Sie haben ja noch einmal betont, Israel habe ein völkerrechtbasiertes Recht auf Selbstverteidigung. Gleichzeitig haben Sie auch immer wieder von den Terrorangriffen gesprochen. Jetzt ist ja das allgemeine Verständnis zumindest in Bezug auf Artikel 51 der UN-Charta, dass das ausschließlich Bezug auf den Angriff staatlicher Akteure nimmt. Mich würde interessieren: Sieht die Bundesregierung dieses von Ihnen erwähnte Selbstverteidigungsrecht in Bezug auf Artikel 51, oder greifen angesichts dessen, dass es sich bei der Hamas und dem Gazastreifen ja nicht um einen staatlichen Akteur gehandelt, ein anderes Kapitel oder ein anderer Artikel in der UN-Charta? Fischer (AA) Ich glaube, es ist unbestritten, dass dieser umfassende Terrorangriff, den die Hamas mit mehr als 1.400 Toten, deutlich mehr als 100 Verschleppten und vielen, vielen Verletzten gegen Israel geführt hat, völkerrechtlich das Recht auf Selbstverteidigung auslöst. Dieses Selbstverteidigungsrecht muss natürlich im Rahmen des Völkerrechts ausgeübt werden. Ich habe in den letzten Tagen auch niemanden gesehen, der das in irgendeiner Weise bestritten hätte. Zusatzfrage Warweg Zum einen gibt es zahlreiche Völkerrechtler, die tatsächlich hinterfragen, ob zumindest Artikel 51 in diesem Fall eines nichtstaatlichen Akteurs greift. Eine weitere Frage: Sowohl Ihr Kollege als auch Frau Hoffmann haben bei meiner letzten Frage diesbezüglich gesagt, dass die Bundesregierung nach wie vor den Gazastreifen, Ostjerusalem und auch die Westbank als von Israel besetztes Gebiet bezeichnet. Jetzt sieht das Völkerrecht für Gewaltanwendung durch die Besatzungsmacht noch weit stärkere Limitationen vor. Da würde mich auch interessieren: Sieht das AA Israel als Besatzungsmacht im Gazastreifen an und infolgedessen auch die vom Völkerrecht etablierten, weit stärkeren Begrenzungen, was den Gewaltansatz angeht, auch im Falle einer Selbstverteidigung? Fischer (AA) Ich glaube, diese Frage ist hier jetzt schon mehrmals diskutiert worden, und ich habe ihr nichts hinzuzufügen. Anmerkung der Redaktion: Im Gegensatz zur Darlegung des AA-Sprechers war die Thematik, dass wenn – was die Bundesregierung tut – der Gazastreifen als von Israel „besetztes“ Territorium bewertet wird, ganz andere völkerrechtliche Mechanismen greifen, erstmals am 23. Oktober angesprochen worden. Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 23. Oktober 2023 | Florian Warweg | Artikel 51 der UN-Charta legitimiert das Selbstverteidigungsrecht eines Staates nur im Fall des Angriffs durch einen anderen Staat. Dies zudem nur, bis der UN-Sicherheitsrat über die getroffenen Maßnahmen informiert und eine Entscheidung über deren Recht- wie Verhältnismäßigkeit getroffen wurde. Doch weder der Gazastreifen noch die Hamas gelten im völkerrechtlichen Verständnis als staatliche ... | [
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] | 27. Oktober 2023 10:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=105849&share=email |
Wie kroatische Emigranten die politische und wirtschaftliche Landschaft der Anden verwandelten – Teil 1: Die faschistische Bastion Santa Cruz in Bolivien | Viel ist über den christlich-fundamentalistischen Fanatismus des herausragenden, jungen Führers des Staatsstreichs in Bolivien, Luis Fernando Camacho, geschrieben worden, doch kaum über die Ursprünge dieses Fanatismus und die Beziehungen Camachos zur kroatischen Einwanderer-Szene in Oriente, dem Osten Boliviens. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Retronarrativ erzählt fällt als Erstes auf, dass die Camachos eine vielzitierte, weil mehrfach in den Panama-Papers-Skandal involvierte Familie ist. Luis Fernandos Vorfahren machten mit Boliviens Erdgasreserven ein Vermögen, verloren jedoch einen Teil davon, als Präsident Evo Morales die Erdöl- und Gasvorkommen verstaatlichte. Hellhörig macht Camachos kulturelle und politische Ausbildung in der Unión de la Juventud Cruceña (Jugendbund von Santa Cruz – UJC). Die faschistisch ausgerichtete Gruppe sorgte bereits vor Jahrzehnten für Schlagzeilen wegen des Hitlergrußes ihrer Mitglieder. Doch die UJC war niemals bloß ein extemporärer rechtsradikaler Spinnerverein, sondern vor allem ein paramilitärischer Kampfverband, mit erwiesener Beteiligung an mehreren Verschwörungen zur Ermordung von Evo Morales sowie an Angriffen auf linke Aktivisten, indigene Bauern und Journalisten. Gerade dreiundzwanzigjährig wurde Camacho im Jahr 2002 zum stellvertretenden Vorsitzenden der UJC gewählt. Zwei Jahre später verließ er die Organisation, um sich dem Aufbau eines Familienzentrums und dem Aufstieg in das Pro-Santa-Cruz-Bürgerkomitee zu widmen. Das harmlos klingende Komitee war jedoch eine rechtsradikale Separatisten-Organisation, die mit dem Vorwand stärkerer regionaler Autonomie Evo Morales mit der Abspaltung der gesamten Media Luna, also dem als Halbmond bekannten Zentrum und Osten Boliviens, drohte. Einer der führenden Köpfe der Separatisten war der Bolivianer kroatischer Abstammung, Branko Marinkovic, Camachos Vorgänger im Bürgerkomitee Pro Santa Cruz. Im Dezember 2010 erhob die bolivianische Generalstaatsanwaltschaft wegen einer mutmaßlichen Verschwörung zur Ermordung von Evo Morales und der Planung terroristischer Anschläge Anklage gegen 39 Personen, darunter Marinkovic, nun als früherer Bürgermeister von Santa Cruz. Der illustre Angeklagte bestritt seine Involvierung und setzte sich zunächst in die USA ab, ließ sich aber bald im benachbarten Brasilien nieder, dessen Justiz beide Augen vor den schweren Beschuldigungen zudrückte. Zu den Vorwürfen der Volksverhetzung, des Separatismus, ferner der Bildung und Finanzierung einer terroristischen Vereinigung paarte sich außerdem eine Anklage wegen schwerer Steuervergehen durch Eröffnung von Offshore-Konten mit dem Ziel der Geldwäsche. Marinkovic lebt in Brasilien, steht jedoch nach wie vor in enger Verbindung mit seinem „camarada“ aus der faschistischen Szene, Luis Fernando Camacho. Dieser machte sich jüngst stark für eine Änderung des Gesetzes, das einen zweijährigen Wohnsitz in Bolivien als Voraussetzung für die Aufstellung einer Kandidatur vorschreibt, damit Marinkovic sich wahlpolitisch betätigen kann. Vom Salpeter zur Ustaša: zwei Wellen kroatischer Einwanderung Die annähernd 5.000 Nachkommen kroatischer Emigranten werden im bolivianischen Osten durch eine zahlenmäßig kleine, jedoch sehr mächtige Gruppe von Familien-Clans vertreten. Sie beherrschen die Molkerei-Industrie, Brauereien und sind mit dem Banken-Kapital verflochten. Zu den führenden Köpfen zählen unter anderem der ehemalige Präsident des Bürgerkomitees für Santa Cruz, Branko Marinkovic, der Unternehmer und ehemalige Vizepräsidentschaftskandidat Ivo Kuljis, der Unternehmer und Eigentümer der Tageszeitung Zeitung Pagina Siete, Raul Garafulic, sowie der Besitzer der Firma Atocha, Pablo Ivanovic, und der Unternehmer Zvonko Matkovic; allesamt Millionäre. Die erste Welle kroatischer Einwanderer nach Bolivien begann zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg. Angezogen vom damaligen Salpeter-Boom in der Atacama-Wüste und ausgestattet mit österreichischen Reisepässen gingen damals rund 25.000 Kroaten, zumeist aus verarmten bäuerlichen Verhältnissen, in der vormals bolivianischen Hafenstadt Antofagasta von Bord. Nach dem Zusammenbruch des Salpeter-Tagebaus verblieb nur eine Minderheit in der seit 1883 zu Chile gehörenden Atacama-Wüste an der Küste des Pazifiks und gründete Familien, zu deren Nachkommen Chiles reichster Luksic-Clan, mit einem geschätzten Vermögen von annähernd 15 Milliarden Euro, gehört und Gegenstand des zweiten Teils dieser Chronik ist. Viele Kroaten versuchten jedoch einen neuen Anfang im bolivianischen Osten und wirkten fast 50 Jahre später, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Anziehungspol für die zweite Einwanderungswelle. Die „Ratten“ Die zweite Woge hatte andere Gründe. „Noch bevor das Schiff, das heißt Nazideutschland, sank und seine Verbündeten sich dem antifaschistischen Block ergaben, verließen die Ratten ihre Länder. Nicht nur Deutschland, auch Litauen, Polen, die Tschechoslowakei und vor allem Kroatien waren Heimat tausender von Kollaborateuren, Opportunisten und überzeugter Faschisten, die sich während des Krieges als Folterer ihrer eigenen Völker betätigt hatten. Dieser ganze Abschaum musste fliehen und er tat es wie die Ratten, die nachts durch die Kanalisation entkommen“, beschrieb der Publizist Markus Besser in einem Essay die Nachkriegs-Besiedlung des bolivianischen Ostens. In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzten die USA die bolivianische Regierung unter Druck, sie möge den in den sowjetisch besetzten Gebieten, aber auch den von der westeuropäischen Justiz verfolgten Mitgliedern der faschistischen kroatischen Ustaša Zuflucht gewähren. So leitete die CIA, neben dem Deutschen Klaus Barbie – alias „Altmann“ – hunderte kroatische Faschisten nach Bolivien, die sich als Helfershelfer der Wehrmacht und der SS des Völkermordes schuldig gemacht hatten; Verbrechen, die exemplarisch in der historischen Dokumentation “The Last Bullet for the Last Serb”: The Ustaša Genocide von Michele Frucht Levy dargestellt sind. Am Startloch der Rattenlinien – die Fluchtrouten, von den US-Geheimdiensten rat lines genannt – agierte der kroatische Priester Krunoslav Draganovic. Er organisierte die Flucht von Deserteuren aus Deutschland unter russischer Besatzung, die sich nach dem österreichischen Salzburg und von dort nach Italien zum Preis von 1.000 bis 1.500 US-Dollar pro Flüchtling absetzten. Mit Hilfe der US-amerikanischen Geheimdienste und dem Segen der katholischen Kirchenhierarchie stattete Draganovic die „Ratten“ mit falschen Papieren aus, vor allem mit Transitgenehmigungen, Pässen des Roten Kreuzes und Visa aus lateinamerikanischen Ländern. Kroatischer Faschismus in Santa Cruz Das waren die Großeltern derjenigen, die heute im bolivianischen Osten die Zügel in der Hand haben und derzeit die relevanten Entwicklungsprojekte in der prosperierenden Öl-, Agrar-, Viehzucht- und Industrieregion überwachen. Branko Marinkovic gehört dazu und Luis Fernando Camacho war sein Novize. „Die Enkel dieser berühmten Völkermörder sind Menschen, die mit harten rassistischen und antikommunistischen Ideologien erzogen und ausgebildet wurden, und sie fühlen sich als die Garanten des rasanten und beachtlichen wirtschaftlichen Fortschritts ihrer Provinzen. Sie haben sich Mühe gegeben, ihre Mitglieder vom Drogen- und Geldwäschegeschäft fernzuhalten und sind stolz darauf, als legitime Gruppe von den USA anerkannt zu werden. Sie pflegen direkte Kontakte zum CIA und haben mit der (Drogenbekämpfungsbehörde) DEA zusammengearbeitet, um die Coca-Pflanzungen und den Kokainhandel zu kontrollieren. Sie waren die großen Verbündeten von (Diktator) General Hugo Banzer während seiner gesamten politischen Laufbahn und wurden von diesem mit großzügigen Zuschüssen für ihre Infrastruktur während seiner beiden Regierungen unterstützt“, kommentierte der chilenische Historiker und Publizist Antonio Gil in einer Chronik aus dem Jahr 2008. Doch der Text Gils enthält eine Schlüsselpassage zum Verständnis des zugleich finsteren und lächerlichen religiösen Fundamentalismus der derzeitigen Putschisten in La Paz; nicht nur Camachos, sondern auch der sich selbst zur Nachfolgerin Evo Morales‘ erklärten Jeanine Añez. „Symptomatisch haben sie in Anlehnung an den kroatischen Halbmond – der 1482 die letzte Hochburg Europas gegen die Expansion des Osmanischen Reiches darstellte – ihre Gegend mit dem Symbol des Halbmonds versehen, worunter sie auch geografisch bekannt wurde“, erinnert Gil. Diesmal wurde der Halbmond jedoch als „Wahrzeichen der Zivilisation” gegen die Feinde der Globalisierung und des Fortschritts eingesetzt, nämlich gegen die indigenen Collas und ihren Präsidenten Evo Morales. Es war bekannt, dass für die kroatischen Faschisten der Sturz des – rassistisch betont – Indios Evo nach ihrer Niederlage im Jahr 2008 keine Priorität besaß, doch der Plan wurde niemals ad acta gelegt. Für die Kroaten und ihre weißen Landsleute spanischer Abstammung stand von jeher fest: Sie wollen eine weiße, „tüchtige“, „aufgeklärte“ Nation schaffen, die nichts mehr mit dem Colla-Plateau im Westen – mit der Hauptstadt La Paz – gemein hat, für das sie „täglich Steuern zahlen“ müssen. „Es gibt Leute im Weißen Haus und im Pentagon, die die Schaffung eines neuen Landes in der Region mit freudigen Augen sehen … Es ist damit zu rechnen, dass die Kroaten nicht zögern werden, auf die alten Praktiken ihrer Großeltern zurückzugreifen, falls Morales den von ihnen entworfenen strategischen, regionalen Ansprüchen gewaltsam widerspricht. Für die Kroaten des bolivianischen Ostens gilt General Custers Devise: Der einzige gute Indianer ist ein toter Indianer“, schlussfolgerte Gil mit bitterer Ironie. Und behielt recht. Auf Evo Morales waren Ende November 50.000 Dollar Kopfgeld ausgesetzt worden. Er konnte nicht anders, er musste nach Mexiko fliehen. Titelbild: Moyano Photography/shutterstock.com | Frederico Füllgraf | Viel ist über den christlich-fundamentalistischen Fanatismus des herausragenden, jungen Führers des Staatsstreichs in Bolivien, Luis Fernando Camacho, geschrieben worden, doch kaum über die Ursprünge dieses Fanatismus und die Beziehungen Camachos zur kroatischen Einwanderer-Szene in Oriente, dem Osten Boliviens. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
Retronarrativ erzählt fällt als Erstes auf, ... | [
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] | 12. Januar 2020 11:45 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=57596 |
Ein Jahr Putsch in Myanmar – Teil 1: Eine Chronik der Ereignisse | Der Jahrestag des Putsches ist ein Tag der Schande für Myanmar. Der Tag des Putsches begann mit Razzien in der Morgendämmerung. Regierungsmitglieder und Aktivisten der NLD, darunter Staatsrätin Aung San Suu Kyi, wurden verhaftet, die Telefon- und Internetverbindungen wurden unterbrochen. Panzer rollten in die Hauptstadt Naypyitaw. Staatspräsident Win Myint wurde seines Amtes enthoben und die Macht wurde von General Min Aung Hlaing übernommen, der den Ausnahmezustand ausgerufen hatte.
Wir wollen hier eine kurze Zeitreise über das vergangene Jahr machen, bevor wir uns dem aktuellen Stand des Widerstandes und den Perspektiven für das Land widmen. Von Marco Wenzel
Schon Monate vor den Wahlen am 8. November 2020 bereitete sich General Hlaing, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, auf einen zu erwartenden überwältigenden Wahlsieg von Suu Kyis Nationaler Liga für Demokratie (NLD) vor und drohte mit Konsequenzen, sollte die Wahl in seinen Augen nicht fair ablaufen, will sagen: falls die Wahlen ein für das Militär unakzeptables Resultat erbringen sollten. Der überwältigende Wahlsieg der NLD und die schallende Ohrfeige für die Partei des Militärs, die USDP, schmeckte den Generälen natürlich nicht. Sie befürchteten, dass das Volk in einer zweiten Amtsperiode der NLD auf ein Weitertreiben der demokratischen Reformen für das Land und damit auf eine Beschränkung der Macht des Militärs drängen würde. Verfassungsgemäß darf das Militär 25% der Parlamentssitze an seine Leute vergeben, fast alle verbleibenden 75% der Sitze hatte die NLD gewonnen. Drei Tage nach der Wahl gab die USDP eine Pressekonferenz, bezeichnete das Komitee, das für die Abhaltung und Überwachung der Wahlen eingesetzt worden war, als korrupt und forderte Neuwahlen, was angesichts des korrekten Ablaufs der Wahlen vom Wahlkomitee abgelehnt wurde. Auch internationale Beobachter bescheinigten, dass die Wahlen ordnungsgemäß abgelaufen waren. Das Militär brauchte jedoch einen Vorwand, um zu verhindern, dass die NLD weitere fünf Jahre regieren konnte, und hielt an seinem Narrativ von den gefälschten Wahlen fest. Es setzte seine Kampagne fort und bereitete den Staatsstreich vor. Ende Januar begannen ultranationalistische Gruppen im ganzen Land, pro-militärische Kundgebungen zu veranstalten. Gepanzerte Fahrzeuge tauchten in den großen Städten auf. Es wurde klar, dass bald etwas passieren würde. Am 1. Februar 2021, dem Tag, an dem das Parlament zur Bildung einer zweiten NLD-geführten Regierung zusammentreten sollte, putschte das Militär und nahm die Volksvertreter fest. Unbeugsamer Widerstand Nach wenigen Tagen der Schockstarre wurde die Bewegung des zivilen Ungehorsams (Civil Disobedience Movement – CDM) von Angestellten des öffentlichen Gesundheitswesens und anderen Staatsbediensteten ins Leben gerufen. Die Lehrer streikten und die Schüler und Studenten boykottierten den Unterricht. Die Straßenproteste gegen den Putsch, die am 4. Februar in Mandalay begannen, breiteten sich bald in ganz Myanmar aus. Als die Proteste nicht abebbten, erhielten die Sicherheitskräfte den Befehl, auf die Demonstranten zu schießen. Am 9. Februar wurde der 20-jährigen Mya Thwe Thwe Khine von Scharfschützen der Polizei in den Kopf geschossen, sie starb 10 Tage darauf. Ende Februar/Anfang März nahmen die Demonstrationen weiter an Stärke zu, die Arbeiter und Angestellten begann zu streiken. Gleichzeitig griff das Militär immer härter durch, um die Proteste zu unterdrücken. Die Zahl der Verhafteten und der Todesopfer stieg täglich an. Bis Ende März waren bereits über 500 Zivilisten getötet worden. [1] Am 26. Februar sprach sich der ständige Vertreter Myanmars bei den Vereinten Nationen, Kyaw Moe Tun, gegen den Putsch aus. Angehörige des Botschaftspersonals in mehreren Ländern schlossen sich ihm an und erklärten ebenfalls ihre Solidarität für die gewählte Regierung und weigerten sich, die Militärjunta als ihren Arbeitgeber anzuerkennen. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Gewalt am 27. März, als die Tatmadaw den Tag der Streitkräfte feierten und am selben Tag über 100 Demonstranten erschossen. [2] Die Menschen begannen nun, vorsichtiger zu werden. Sie erkannten, dass sie mit friedlichen Demonstrationen nicht viel ausrichten konnten und nur ihr eigenes Leben riskierten. Sie begannen, sich mit bewaffneten Aktionen und Guerillaaktionen gegen das Militär zur Wehr zu setzen. Um die Opposition zu unterdrücken, verbot die Junta alle Oppositionszeitungen und verhaftete zahlreiche Journalisten. Gleichzeitig bereitete sie Geheimprozesse mit erfundenen Anklagen gegen Aung Suu Kyi und andere verhaftete Oppositionelle vor. Immer mehr Menschen gingen in den Untergrund, viele junge Menschen flohen in die Gebiete, die von den bewaffneten ethnischen Organisationen kontrolliert wurden, um sich dort militärisch für den bewaffneten Widerstand schulen zu lassen. Derweil bereitete die Junta ein Verbot der NLD vor. Ende März überfiel die Karen National Liberation Army (KNLA), der bewaffnete Flügel der Karen National Union (KNU), einen militärischen Außenposten in dem von der KNLA kontrollierten Gebiet. Die Junta reagierte jetzt erstmals mit Luftangriffen und vertrieb Tausende von Zivilisten aus ihren Häusern. Ebenfalls Ende März begannen lokale Widerstandsgruppen in der Region Sagaing, sich mit traditionellen handgefertigten Jagdgewehren gegen die Regimekräfte zu wehren. Im April breitete sich der bewaffnete Widerstand weiter aus, in allen Städten und Regionen bildeten sich lokale Untergrundgruppen, die meist nachts Überfälle und Bombenanschläge gegen Einrichtungen der Junta oder Attentate gegen deren Anhänger ausführten. Lokale Gruppen überfielen Polizeiposten, steckten sie in Brand, nahmen die erbeuteten Waffen mit und töteten Spitzel und Kollaborateure der Junta. Parallel dazu überfielen die Armeen der ethnischen Gruppen vorgeschobene Militärstützpunkte und Polizeiposten und legten Hinterhalte gegen Truppenbewegungen. Der Widerstand organisiert sich Die CDM-Kampagne, die von Mitarbeitern des staatlichen Gesundheitswesens unmittelbar nach dem Staatsstreich vom 1. Februar ins Leben gerufen wurde, war eine der kraftvollsten und wirkungsvollsten Antworten des Volkes, sich der Militärdiktatur zu widersetzen. Das Militärregime reagierte darauf mit der Entlassung von fast 140.000 Lehrern sowie weiteren tausenden Bediensteten aus dem Gesundheitswesen, der Stromversorgung, der Eisenbahn, der Forstwirtschaft usw. Wenige Tage nach dem Putsch, als sich bereits die Bewegung des zivilen Ungehorsams formiert hatte, trafen sich Parlamentarier, die der Festnahme entkommen waren, an einem geheimen Ort und gründeten ein Schattenparlament aus ihrer Mitte, das CPRH. Ihr Ziel war es, aus dem Untergrund heraus den Widerstand zu organisieren und die Bevölkerung soweit wie möglich zu unterstützen. Viele von ihnen waren zu dem Zeitpunkt bereits von der Junta zur Fahndung ausgeschrieben. Mitte April verkündeten sie die Bildung einer Schattenregierung der Nationalen Einheit (NUG) mit Ministerien, die für die verschiedenen Bereiche zuständig sind. Sie nahmen Verhandlungen mit den ethnischen Organisationen und ihre Armeen auf mit dem Ziel, die einzelnen Widerstandskräfte zu vereinen und den Kampf gegen das Militär zu bündeln. Sie rief alle Staatsbediensteten auf, ihren Dienst zu verlassen. Sie warnte alle Kollaborateure mit der Militärjunta und drohte für nach dem Sieg der Revolution mit empfindlichen Strafen für jede Zusammenarbeit mit der Junta an. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war die Ankündigung von Plänen zur Auszahlung der Gehälter der streikenden Staatsbediensteten. Im Mai verkündete die NUG die Bildung einer Volksverteidigungstruppe (People’s Defence Force, PDF) zur Bekämpfung der Junta, die der NUG untersteht und die der Kern einer späteren neuen burmesischen Armee werden soll. Die NUG arbeitet zusammen mit Vertretern der ethnischen Organisationen an der Ausarbeitung einer Verfassung für eine zukünftige föderale Republik Myanmar, in der alle ethnischen Gruppen gleiche Rechte haben werden. Auf die Gründung der PDF hin erklärte die Militärjunta die NUG zu einer „terroristischen Organisation“. Seltsam: Die größten Terroristen in Myanmar nennen ihre Gegner Terroristen. Am 7. September verkündete die NUG den lange erwarteten Beginn eines “Widerstandskrieges” gegen die Junta und rief die Menschen im ganzen Land zum Aufstand auf. Im Juni eskalierte der bewaffnete Widerstand mit Hinterhalten, Zusammenstößen und Angriffen vor allem, aber nicht nur, in den ethnischen Staaten. In den ethnischen Karenni-Gebieten führten Widerstandskämpfer in der dritten Maiwoche umfangreiche Angriffe durch. Täglich wurden Polizisten, Soldaten und Regimekollaborateure angegriffen. In einem offensichtlichen Versuch, von solchen Angriffen abzuschrecken, verurteilte die Junta im März 16 Personen wegen der Ermordung eines mutmaßlichen Informanten und seiner beiden Söhne zum Tode. Die Krise weitete sich auf den Nordwesten Myanmars aus, wo das Militär am 15. Juni in der Region Magway ein ganzes Dorf in Brand setzte und alle Häuser zerstörte. [3] Im Juli plagte eine erneute Covid-Welle Myanmar. Die Junta schloss Krankenhäuser, streikende Mediziner wurden verhaftet und die Junta verbot die Verteilung von Sauerstoff, es sei denn unter militärischer Kontrolle. In Yangon starben täglich zwischen 600 und 1.000 Menschen an Covid-19. [4] Am 26. Juli annullierte das Regime die Wahlergebnisse von 2020, am 1. August ernannte sich Min Aung Hlaing selbst zum Premierminister einer Übergangsregierung. In der dritten Augustwoche begann das Militär mit Säuberungsaktionen in Dörfern entlang des Chindwin-Flusses, nahe der Grenze zwischen den Regionen Magway und Sagaing. Nachdem die NUG am 7. September offiziell zum bewaffneten Aufstand aufgerufen hatte, begann das Militär eine neue Terrorkampagne in der Region Magway, bei der 25 Zivilisten getötet und 100 Häuser niedergebrannt wurden. In der Chin-Stadt Thantlang feuerten die Soldaten am 18. September Artilleriegranaten ab und setzten 18 Häuser in Brand. Das Militär zog wie gewohnt marodierend durch die Dörfer im gesamten Land und rächte sich an der Zivilbevölkerung, wenn sie die Aufständischen nicht finden konnten. Es begannen regelmäßige Bombardierungen aus der Luft, ganze Dörfer wurden in Brand gesetzt, die Felder der Bauern wurden abgefackelt und es wurde gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war. Am 23. September begannen die Geheimprozesse gegen Aung Suu Kyi, ihre Mitarbeiter und Parteigenossen. Das Ziel ist, die NLD zu zerschlagen und Suu Kyi für den Rest ihres Lebens hinter Gitter zu bringen. Erst wenn das geschafft ist, wird die Junta wieder Wahlen abhalten, Scheinwahlen, von denen sie mangels Opposition sicher sein kann, dass sie sie auch gewinnen wird. Ende Oktober, nachdem die in der Regenzeit aufgeweichten Böden abgetrocknet waren und die Pisten wieder befahrbar wurden, startete das Militär eine Großoffensive (Operation Anawrahta), um den bewaffneten Widerstand zu brechen. Aber die Guerillakämpfer und die ethnischen Armeen waren gut vorbereitet und töteten mindesten 1.300 Juntasoldaten in verschiedenen Schlachten und Auseinandersetzungen. Die Verluste der Volksbefreiungsbewegung waren gering. Am 1. Dezember erlaubte die UN-Vollversammlung Myanmars Anti-Junta-UN-Botschafter Kyaw Moe Tun, als ständiger Vertreter des Landes im Amt zu bleiben und verschob eine Entscheidung über seine Rolle bis September 2022. Ebenfalls im Dezember verhängte eine korrupte Militärjustiz erste Urteile gegen Aung Suu Ky und ihre Mitstreiter. Weitere unzählige Prozesse stehen noch aus, alle mit erfundenen Anklagen und absurden Höchststrafen. Wenn die Revolution siegt, werden die politischen Gefangenen noch am selben Tag freikommen, wenn sie verliert, werden sie im Gefängnis sterben. Ein Schlachtfest zum Jahresende Der Monat Dezember war geprägt von täglichen militärischen Auseinandersetzungen, Attentaten gegen das Regime und Massakern an der Zivilbevölkerung zur Einschüchterung und als Racheakt. Die Massaker vertiefen den Hass auf das Militär. Seit Dezember fliegt das Militär fast täglich Bombenangriffe gegen vermutliche aufständische Dörfer, entweder aus Helikoptern oder aus Jagdflugzeugen. Inzwischen sind etwa 500.000 Menschen in Myanmar auf der Flucht. Ganze Dörfer wurden entweder niedergebrannt oder wurden von den Bewohnern aufgegeben. Das Zuchtvieh verbrannte entweder in den Ställen oder wurde von den Militärs getötet, um der Bevölkerung die Lebensgrundlage zu entziehen. Die Felder liegen brach, die Bauern trauen sich nicht mehr, sie zu bestellen. Gleichzeitig sind die Preise für Saatgut und Dünger unerschwinglich geworden. Die nächste Hungersnot ist vorprogrammiert. Am 13. Dezember feuerte das Militär Artilleriegranaten auf ein Dorf in der Region Sagaing ab, stürmte es anschließend und setzte 100 Häuser in Brand. Am nächsten Tag stürmten rund 200 Junta-Soldaten das Dorf Lay Kay Kaw Myothit nahe der thailändischen Grenze im Bundesstaat Karen. Sie verhafteten etwa 20 Personen, darunter einen NLD-Abgeordneten. Neun Menschen, darunter zwei Kinder, wurden am 17. Dezember in dem Dorf Hnan Khar in der Gemeinde Gangaw in der Region Magway tot aufgefunden. Die Entdeckung erfolgte Tage nachdem das Militär das Dorf mit drei Hubschraubern angegriffen hatte. Am Weihnachtsmorgen wurden die Überreste von mindestens 35 verkohlten Leichen in der Nähe eines Dorfes im Bundesstaat Karenni gefunden. In den letzten Monaten setzte das Militär immer wieder Hubschrauber ein, um Soldaten in Dörfer zu fliegen, die im Verdacht stehen, Widerstandskämpfer zu beherbergen, und zwang die Bewohner zur Flucht, während ihre Häuser von den Besatzungstruppen in Brand gesteckt wurden. Ein Massaker am Heiligabend an Dutzenden von Zivilisten in der Nähe von Moso im Bundesstaat Kayah wurde von der UN verurteilt. Es beendete das Jahr auf besonders grausame Weise und zeigte, wie weit das Regime zu gehen bereit ist, um die Bevölkerung Myanmars zur Unterwerfung zu zwingen. Knapp die Hälfte der Einwohner des Staates sind übrigens Christen, was den Tag des Angriffs auf Moso besonders symbolträchtig macht. Am 10. Januar dieses Jahres wurde Aung San Suu Kyis immer länger werdende Haftstrafe um weitere vier Jahre verlängert, nachdem sie für schuldig befunden worden war, illegal eingeführte Walkie-Talkies zu besitzen und gegen die Beschränkungen des Covid-19-Gesetzes verstoßen zu haben. Ihr drohen nun Jahrzehnte hinter Gittern wegen einer immer länger werdenden Liste von angeblichen Vergehen. [5] Um die Kommunikation zwischen den Aufständischen und den Nachrichtenaustausch zwischen Myanmar und dem Ausland zu unterbinden, beabsichtigt die Junta, das Cybergesetz weiter zu verschärfen und die Nutzung von VPN unter Strafe zu stellen. Am 21. Januar gaben zwei der weltgrößten Erdölproduzenten, die US-amerikanische Chevron und das französische Total, bekannt, dass sie sich wegen der angespannten Menschenrechtslage aus Myanmar zurückziehen wollen. Die Opposition und die NUG hatten das schon seit Langem gefordert. Am selben Tag verhängte die korrupte Militärjustiz weitere Todesurteile gegen Regimegegner. Die 5. Brigade der Karen National Union (KNU) gab am 29. Januar eine Erklärung ab, in der sie alle Beamten, die dem Militärrat in Hpapun, Bezirk Mudaw, im Karen-Staat, unterstehen, auffordert, die Stadt zu verlassen. „Die Nichteinhaltung der KNU-Erklärung wird Konsequenzen nach sich ziehen. Die Frist für die Einhaltung ist der 10. Februar 2022.“ Zum ersten Jahrestag des Putsches am letzten Dienstag, 1. Februar, hatte die Bevölkerung zu einem landesweiten Schweigestreik aufgerufen. Die Menschen wurden aufgefordert, an diesem Tag zu Hause zu bleiben und die Geschäfte wurden aufgefordert, am 1. Februar zu schließen. Ein erster Schweigestreik fand am bereits 24. März letzten Jahres statt, der zweite am 10. Dezember. Beide Streiks erwiesen sich als große Erfolge und brachten das Regime in große Verlegenheit. Die Kampagne war ein Erfolg, da die Menschen landesweit in den Häusern blieben und die öffentlichen Plätze des Landes größtenteils menschenleer waren. Der Streik vom letzten Dienstag war umso bedeutender, da er trotz aller Versuche des Regimes, ihn zu verhindern, erfolgreich war. Um den Schweigestreik zu torpedieren, organisierte das Militärregime Einkaufsfahrten zu Supermärkten in Rangun und bat Dorf- und Bezirksverwalter, Auto- oder Motorradfahrten auf der Autobahn zu organisieren, um den Anschein zu erheben, dass während der Streikstunden doch Menschen auf der Straße waren. Die Junta organisierte zudem Marathon- und Fahrradrennen unter den Anhängern des Militärs, um den stillen Streik zu stören. In einigen Städten organisierte die Junta am Dienstag kaum besuchte Pro-Militär-Kundgebungen mit Familienangehörigen von Regime-Soldaten und Anhängern des Militärs. Das Regime feierte das erste Jahr seiner Herrschaft standesgemäß mit der Verlängerung des Ausnahmezustands, der bereits zu Beginn des Putsches verhängt worden war. Myanmars Junta hat in der vergangenen Woche mehr als hundert Menschen verhaftet und angeklagt, weil sie in den sozialen Medien Beiträge zur Unterstützung der Anti-Regime-Bewegung veröffentlicht haben. Seit dem Putsch hat die Junta 1.510 Menschen getötet und weitere 11.800 inhaftiert. Das Militärregime hat sich illegal an die Macht geputscht. Seit März des vergangenen Jahres ziehen die Tatmadaw marodierend durch die Dörfer und Städte, verprügeln oder erschießen willkürlich Passanten und Demonstranten, zerstören Eigentum und stehlen, was sie gebrauchen können, und schlagen kaputt, was sie nicht mitnehmen können. Und sie bleiben dabei straflos, keiner kann sie verklagen. Kriegsrecht und Ausnahmezustand bedeuten, dass es kein Recht mehr gibt. Was Recht ist in Myanmar, ist der Willkür der Tatmadaw überlassen. Ein Jahr nach der Machtübernahme bleibt die Militärjunta ein illegales Gebilde, das mit Brutalität und Angst regiert und keine Lösung für die anhaltende Krise hat. Die Militärjunta ist die verhassteste Institution im ganzen Land. Die vergangenen 12 Monate waren eine Tragödie für Myanmar. Sie haben das Land um Jahrzehnte zurückgeworfen und das Volk an den Rand einer Hungersnot gebracht. Und sie haben den Hass auf das Militär und die Verachtung für es noch weiter verstärkt. Die Gräben zwischen Volk und Militär sind unüberwindlich geworden. Es wird keine Zukunft für Myanmar geben, in der die Tatmadaw noch mit von der Partie sein werden. Mit dem Putsch am 1. Februar 2021 haben die Tatmadaw ihr Todesurteil unterschrieben. Karte von Myamar:
Quelle: Administrative Map of Myanmar Titelbild: R. Bociaga/shutterstock.com | Marco Wenzel | Der Jahrestag des Putsches ist ein Tag der Schande für Myanmar. Der Tag des Putsches begann mit Razzien in der Morgendämmerung. Regierungsmitglieder und Aktivisten der NLD, darunter Staatsrätin Aung San Suu Kyi, wurden verhaftet, die Telefon- und Internetverbindungen wurden unterbrochen. Panzer rollten in die Hauptstadt Naypyitaw. Staatspräsident Win Myint wurde seines Amtes enthoben und die M ... | [
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] | 06. Februar 2022 14:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=80465 |
Sahra Wagenknecht kommt am 5. Juni zum 21. Pleisweiler Gespräch | Das war schon für den April 2010 geplant. Wir mussten es leider aus familiären/gesundheitlichen Gründen absagen. Damals war das Interesse sehr groß. Deshalb freuen wir uns umso mehr über Sahra Wagenknechts neuerliche Zusage.
Sahra Wagenknecht ist eine der selten gewordenen Politiker/Innen, die Interessantes zu sagen haben und eben nicht nur Sprechblasen absondern. Ihr gerade erscheinendes Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ ist ein neuer Beleg für diese Einschätzung. Das Gespräch wird vermutlich interessant und spannend werden.
Bitte vormerken: Sonntag, den 5. Juni um 11:00 Uhr in 76889 Pleisweiler-Oberhofen, Dorfgemeinschaftshaus, Weinstraße 71. Albrecht Müller.
Hier gleich noch einige technische Hinweise mit der Bitte um Beachtung: | Albrecht Müller | Das war schon für den April 2010 geplant. Wir mussten es leider aus familiären/gesundheitlichen Gründen absagen. Damals war das Interesse sehr groß. Deshalb freuen wir uns umso mehr über Sahra Wagenknechts neuerliche Zusage.
Sahra Wagenknecht ist eine der selten gewordenen Politiker/Innen, die Interessantes zu sagen haben und eben nicht nur Sprechblasen absondern. Ihr gerade erscheinendes Bu ... | [
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] | 06. Mai 2011 10:35 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=9342 |
Manning, Chelsea | Die Whistleblowerin Chelsea Manning befindet sich seit gut sechs Wochen in Beugehaft (davon 28 Tage in Isolationshaft) in den USA und Julian Assange, der ihre brisanten Informationen vor 9 Jahren mittels Wikileaks und mehrerer großer Zeitungen veröffentlicht hat, muss sich in einem englischen Hochsicherheitsgefängnis gegen seine drohende Auslieferung an die USA wehren. Die Zeitungen, bei denen es sich u.a. um den SPIEGEL, den englischen Guardian und die New York Times handelt, halten sich im Falle von Manning und Assange auffällig zurück oder veröffentlichen Klatsch-Artikel über Assanges angebliches Benehmen in der Botschaft von Ecuador, bei dem sich das Lesen nur dahingehend lohnen könnte, um erneut zu erkennen, dass der Guardian als ein unabhängiges Medium ausgedient hat. Ein Bericht von Moritz Müller. Unser Bild zeigt zwei besorgte Mitbürger in Brüssel. | [] | [] | 25. April 2019 14:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?tag=manning-chelsea&paged=2 |
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Gehört das Wort Mob zu Ihrem Sprachschatz? Ist es ein Wort, das unter Demokraten gebraucht werden kann? (Nr.2.) | Wahrscheinlich wird das Wort „Mob“ nur von einer Minderheit genutzt. Aber es fällt auf, wie oft in letzter Zeit davon Gebrauch gemacht wird. Zum Beispiel als eine große Zahl von Trump-Anhängern das Kapitol besetzte. Frau von der Leyen nutzte das Wort in ihrem diesjährigen Beitrag zur virtuellen WEF-Sitzung in Davos. Siehe hier. Auch in einem Spiegel-Beitrag zur Besetzung des Kapitols taucht das Wort auf (Minute 0:12). Bundespräsident Steinmeier spricht hier von „bewaffnetem Mob“. Die Bild-Zeitung gebraucht das Wort in Bezug auf den „Sturm“ von Demonstranten auf die Treppen des Reichstags am 1. August 2020. Es wird dabei auch mit den Querdenkern verbunden. Auch im Artikel eines Friedensaktivisten und NDS-Autors tauchte das Wort auf. Diese auffallende Häufung und Mischung hat mich dazu veranlasst, die im Titel aufgeworfene Frage zu stellen. Nach meinem Empfinden hat dieser Begriff im Gedankenaustausch und im Streit unter Demokraten nichts zu suchen. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Zunächst will ich noch auf weitere Beispiele für den Gebrauch aufmerksam machen: Das Etikett Mob wird also freimütig verteilt und angeheftet. Das ist erstaunlich. Es ist erstaunlich, weil in einer demokratischen Gesellschaft die mit dem Gebrauch verbundene herablassende Art des Umgangs miteinander eigentlich ausgeschlossen sein sollte. Mit der Etikettenverteilung direkt verbunden ist eine Grundeinstellung, die man mit einer heute oft gängigen Haltung markieren könnte: „Wir sind die Guten“. Dort sind die Asozialen. – Das ist beim Reden und Schreiben über den Vorgang am und im US-Kapitol so gewesen; das war bei der Kennzeichnung der Demonstration auf den Treppen des Reichstags so; das kennzeichnete die Haltung gegenüber Pegida. Teilweise waren bei diesen Gelegenheiten äußerst unsympathische und teilweise gewaltbereite Menschen unterwegs. Aber rechtfertigt dies den Quasi-Ausschluss aus der demokratischen Gesellschaft? Die Verwendung des Wortes Mob ist immer zugleich Exklusion statt Inklusion. Wollen wir mit den Ausgeschlossenen wirklich so verfahren? Wenn man die Bereitschaft zur Gewalt gegenüber einem „Ausländer“, wie in einem der Beispiele oben gezeigt, einbezieht, wenn man gar die NSU-Morde und den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten in die Erwägungen einbezieht, dann erscheint der Gebrauch des Begriffes Mob noch verharmlosend zu sein. Aus meiner Sicht gibt es trotzdem gute Gründe dafür, das Wort Mob aus dem Sprachgebrauch der politischen Debatte zu streichen. In den USA wird man gut daran tun, die Menschen, die das Kapitol gestürmt haben, nicht pauschal zu verurteilen. Wenn man Brücken schlagen will zu diesen Anhängern von Trump, was allgemein von den Siegern der Wahl verkündet wird, dann wird man die mit dem Gebrauch des Wortes Mob verbundene Stigmatisierung unterlassen müssen. Dann wird man auch den Ursachen nachgehen müssen. Dann wird man untersuchen müssen, warum so viele US-Amerikaner meinen, zu den Verlierern der wirtschaftlichen, sozialen und regionalen Entwicklung zu gehören. Analoges gilt für uns hierzulande. P. S.: Weil das Thema dieser kurzen Betrachtung viel mit der Frage zu tun hat, ob wir wirklich in einer Demokratie leben, ist dieser Artikel die Nr. 2 der Serie Leben wir wirklich in einer Demokratie? (Nr.1) | Albrecht Müller | Wahrscheinlich wird das Wort „Mob“ nur von einer Minderheit genutzt. Aber es fällt auf, wie oft in letzter Zeit davon Gebrauch gemacht wird. Zum Beispiel als eine große Zahl von Trump-Anhängern das Kapitol besetzte. Frau von der Leyen nutzte das Wort in ihrem diesjährigen Beitrag zur virtuellen WEF-Sitzung in Davos. Siehe hier. Auch in einem Spiegel-Beitrag zur Besetzung des Kapitols taucht da ... | [
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] | 08. Februar 2021 16:53 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=69627 |
Mit neuem Rückenwind: Die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 | Wir machen auf aktuelle Termine und Ereignisse aufmerksam und dokumentieren die Rede des Verkehrsexperten Winfried Wolf bei der Montagsdemonstration vom 18. Juni 2018. Bleiben wir am Ball. Dann bleiben wir „oben“! – Der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist auch eine „staatspolitische“ Aufgabe. Dieser Begriff mag übertrieben klingen. Tatsächlich ist er berechtigt. Denn was in Stuttgart geschieht, widerspricht aller Vernunft, der demokratischen, der verkehrspolitischen und der fiskalischen Vernunft. Was dort geschieht, ist Zeichen einer Bunkermentalität und einer gewissen politischen Korruptheit der Verantwortlichen bei der Bahn und beim Bund. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Drei aktuelle Termine beim Dauerbrenner Stuttgart 21 sind wichtig: Es handelt sich um eine der vielen „außerordentlichen“ Demos gegen Stuttgart 21. Denn an jedem Wochenanfang seit nunmehr fast acht Jahren gibt es die Montagsdemo gegen Stuttgart 21 und seit acht Jahren gibt es das 18 Quadratmeter große Mahnwachenzelt gegenüber dem Hauptbahnhof, Tag und Nacht besetzt, bei minus 15 und bei plus 35 Grad. Die NachDenkSeiten dokumentieren im Folgenden die Rede von Winfried Wolf, gehalten am letzten Montag, dem 18.6., auf der 420. Montagsdemonstration. Rede Winfried Wolf // 420. Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21 // 18. Juni 2018 Die Katz´auf dem Baum.
Oder: Wir als Freiwillige Feuerwehr
für unseren Bahnhof und für unsere Stadt Liebe Freundinnen, liebe Freunde, Der letzte Montag war mit der Bundestagsanhörung zu Ausstieg und Umstieg bei Stuttgart 21 ein großer Erfolg für die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21. Alle Parteien hatten dieser Anhörung – erstaunlicherweise – zugestimmt. Es war eine öffentliche Anhörung; die Tribüne im Saal war gut besetzt – zu 90 Prozent mit Gegnerinnen und Gegnern von Stuttgart21. Es gab eine Übertragung in einen zweiten Saal. Und es gab deshalb auch eine Aufzeichnung der Anhörung. Letzteres ist außerordentlich wichtig. Das offizielle Wortprotokoll der Anhörung dürfte erst nach der Sommerpause vorliegen. Und es passiert mitunter, dass bei einem solchen offiziellen Protokoll das eine und andere zu protokollieren „vergessen“ wird, weil es z.B. nicht eindeutig zu hören bzw. zu verstehen war … wobei das dann auch mal auf besonders brisante Aussagen zutrifft. Hannes Rockenbauch hatte für diese Anhörung extra seinen Urlaub unterbrochen. Und er hat dort einen ganz exzellenten Job gemacht. Er war der einzige Sachverständige, der konkret war, der die Fakten parat hatte, der erfrischend und überzeugend auftrat. Er war auch eindeutig unter allen Sachverständigen der Sieger nach Punkten. Dass es kein k.o.-Sieg war, lag schlicht an den wenig demokratischen Umständen dieser Anhörung: Es gibt da keine Einleitungen der Sachverständigen – also keine, und sei es eine kurze – Darstellung der eigenen Position. Die Sachverständigen dürfen nur auf Fragen antworten. Die Fragen stellen die Abgeordneten, wobei diese je Runde nur zwei Fragen formulieren dürfen. Aus Gründen der Zeitknappheit werden dann die Fragen fast immer nur von dem oder der jeweiligen Abgeordneten an „ihren“ Sachverständigen gestellt. Auch eine Art Kreuzverhör ist nicht zulässig; Sachverständige können nicht andere Sachverständige ansprechen; jedenfalls gibt es dann darauf keine direkten Antworten. Das ist schlicht ein verbürokratisierter und undemokratischer Rahmen. Und so lief auch die gesamte Anhörung recht steril ab – wozu vor allem auch die flachen, wenig qualifizierten Beiträge der Sachverständigen, die die Pro-S21-Parteien geladen hatten, beitrugen. Volker Lösch, der extra zur Anhörung gekommen war und der auf der Tribüne saß, sagte hinterher sinngemäß: „Man verliert da jede Illusion in eine seriöse Debatte und in ein verantwortungsvolles parlamentarisches Verfahren.“ Dennoch, ich wiederhole das: Die Anhörung war wichtig. Sie markiert einen wichtigen Erfolg für uns. Wir kommen – und dies gilt seit rund einem halben Jahr – aus der Defensive heraus. Dies lässt sich auf drei Ebenen verdeutlichen: Erste Ebene – die S21-Befürworter haben den Kampf mit Argumenten pro S21 aufgegeben. Zweite Ebene – Stuttgart 21 ist auch offiziell ein Finanzdesaster. Dritte Ebene – Stuttgart 21 wurde 2001 nur deshalb neu gestartet, weil es dafür eine Schmiergeldzahlung des Landes Baden-Württemberg in Höhe von einer Milliarde Euro gab. Dafür gibt es seit dieser Anhörung auch einen Kronzeugen. Zur ersten Ebene – der Kapitulation der S21-Befürworter und deren Verzicht, mit Argumenten für Stuttgart 21 zu werben. Diese Feststellung wurde bereits durch die Wahl der Sachverständigen, die die S21 befürwortenden Parteien vertreten, deutlich. Das trifft zu auf Thomas Bopp, der den Verband Region Stuttgart vertritt. Dieser betonte in seinem Statement vor allem, wie groß und dicht besiedelt Stuttgart und die Region sei. Wie wichtig die neue „City Süd mit viel neuem Gewerbe“ am Flughafen und an der Messe sei. Daher, so Bopp, sei „es wichtig, dass das auch so gebaut wird“ – dass der Flughafen an die Neubaustrecke angeschlossen werde. Dabei ist ja gerade dies seit einem halben Jahr nicht gesichert. Wichtige konkrete Fragen konnte er nicht beantworten. So wurde an ihn die Frage gerichtet, wie hoch die Stationsentgelte im neuen S21-Bahnhof sein würden („Wenn S21 unwirtschaftlich ist, dann muss das ja am Ende irgendjemand zahlen!“). Antwort Bopp: Die Kosten der zukünftigen Stationsentgelte „sind nicht bekannt“. Manfred Leger, Leiter des Projektes Stuttgart-Ulm, sagte gleich zwei Mal auf entsprechende Fragen: „Mein Job ist die Fertigstellung von Stuttgart 21 und nicht, mich mit Alternativen zu beschäftigen.“ Ok, das mag ja zutreffen. Aber warum, so die Frage, wird so ein Mann dann als Sachverständiger zum Thema Ausstieg und Umstieg bei Stuttgart 21 benannt? Professor Bernd Hillemeier war ein weiterer Sachverständiger pro S21. Bei diesem Herrn handelt es sich um einen reinen Betonfachmann. Er ist seit fünf Jahren Mitglied im Projektbeirat von Stuttgart21 (und der Neubaustrecke nach Ulm). Dafür erhält er eine „Aufwandsentschädigung“, über deren Höhe die DB keine Auskunft erteilt. Von Professor Hillemeier werden im Internet als geflügelte Worte festgehalten: „Die Grenzen des Betons sind die Grenzen unserer Phantasie“. Auf diesem Niveau bewegten sich auch seine Aussagen vor dem Ausschuss. Sein Eröffnungssatz lautete: „Das Schlimmste wäre, wenn die weißen Kelchstützen bei dem Bahnhof nicht hinkämen.“ Er verglich dann die Schönheit des Kelchstützenbetons mit der unzureichenden Qualität des Betons des Bundestagsgebäudes, in dem die Anhörung stattfand. Professor Walter Wittke, noch ein Pro-S21-Sachverständiger, erschien für die Pro-S21-Parteien bereits dadurch qualifiziert, da seine Firma primär vom Bau von S21 lebt. Sein einziges, kurzes Statement bezog sich ausschließlich auf die Tunnelarbeiten. Er behauptete da, die „Abdichtungen“ mit Silikon-Injektionen würden „hundert Jahre halten“. Schließlich war noch kurzfristig Prof. Martin aktiviert worden. Dieser behauptete; „K21“ und „Umstieg21“ seien „identisch“, man habe da bei „Umstieg21“ „nur die Namen gewechselt“. Was belegt, dass der Herr sich das Umstieg21-Konzept nicht einmal angeschaut hat. Auffallend war das Niveau der Beiträge, das kaum zu unterbieten war. Dazu zwei Beispiele: Leger antwortete auf die Frage nach den Gleiskapazitäten: „Der heutige (Kopf-) Bahnhof verträgt (!) 30 Züge je Stunde. Mit S21 sind 49 Züge möglich.“ Hannes sagte in einer seiner Antworten dazu: Alle Planungen für den Brandschutz „sind für maximal 32 Züge ausgelegt“. Es gebe den „Nachweis, dass der Kopfbahnhof 50 Züge schafft“. Dazu gab es dann keinen Widerspruch. Bopp äußerte: „Ein Kopfbahnhof ist nicht mehr zukunftsweisend […] Es wird ja immer so getan, als hätten wir einen phantastischen, gut funktionierenden Kopfbahnhof. Doch dort ist die Infrastruktur am Ende ihres Lebenszeitraums“. Da lautet doch die Frage, ob die Frankfurter ihren Kopfbahnhof nicht dringend abreißen sollten, weil „nicht mehr zukunftsweisend“. An die DB in Leipzig ist die Frage zu richten, warum der dortige Kopfbahnhof mit vielen Hunderten Millionen Euro ausgebaut und modernisiert wurde; warum dort der Bopp´sche Sachverstand noch keinen Einzug gehalten hat. Bilanz: Es gab am 11.6.in der Anhörung kein einziges seriöses Argument pro S21. Das war ein krasser Unterschied zur Anhörung vor knapp acht Jahren, im November 2010. Damals hatten die S21-Befüworter mit Volker Kefer einen zumindest halbwegs intelligenten Vertreter. Man ist fast geneigt, diesen Zeiten einer eher fundierten Debatte nachzutrauern. Zweite Ebene. Stuttgart 21 mit dem offiziellen Attest „Finanzdesaster“. Als Sabine Leidig als Abgeordnete im Rahmen einer ihrer Fragen Vergleichbares hinsichtlich der Unwirtschaftlichkeit von S21 sagte, widersprach ihr die SPD-MdB Kirsten Lühmann. Diese sagte, das sei doch nichts Neues; auch Grube habe bereits gesagt, S21 sei „unwirtschaftlich“. Das ist falsch – hier gibt es schon diese neue Qualität. Grube hat Vergleichbares eher en passant gesagt – und dies erst kurz vor seinem Abgang vom Gleisacker. Bahnchef Lutz hingegen hat am 18. April vor dem Verkehrsausschuss offensiv und unmissverständlich gesagt, Stuttgart 21 sei „komplett unwirtschaftlich“. Und er nannte erstmals dafür eine Zahl: S21 bringe „2,227 Milliarden Euro“ Verlust. Diese Zahl selbst ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Sie ist erstens sehr hoch. Das wäre ein Verlust, der rund zwei Jahresgewinne der DB vernichtet. Und die Zahl ist willkürlich. Die Frage stellt sich doch: In welchem Zeitraum gibt es diesen Verlust? Wenn ein Projekt unwirtschaftlich ist, dann ist es in jedem Jahr unwirtschaftlich. Eine zu kleine Bahnhofskapazität schafft dann Jahr um Jahr Verlustbeiträge, weil Schienenverkehr nicht stattfinden kann, weil ein Teil des Schienenverkehrs andere Strecken – Umwege – nehmen muss. Damit müssen die jeweiligen Jahresverlustbeiträge bei einem Projekt, das hundert Jahre und mehr Bestand haben soll, auch mal hundert genommen werden. Da kommt am Ende ein gigantischer Betrag, weit mehr als 2,227 Milliarden Euro, heraus. Thyssen hat z.B. soeben ein riesiges Stahlwerk-Projekt in Brasilien aufgegeben –wegen Unwirtschaftlichkeit. Das kostete den Konzern 8 Milliarden Euro Investitionen, die komplett abzuschreiben sind. Die Unwirtschaftlichkeit hätte pro Jahr „nur“ ein paar hundert Millionen Euro ausgemacht. Doch das wäre halt mit einigen Dutzend Jahren zu multiplizieren gewesen. Daher Ausstieg komplett. Wobei es da eines neuen Konzernbosses – Hiesinger mit Namen – bedurfte, um diesen radikalen, aber betriebswirtschaftlich richtigen Schnitt realisieren zu können. Bilanz dieser zweiten Ebene: Bahnchef Lutz hat hier ein richtiges Fass aufgemacht. Seine Aussage, S21 sei unwirtschaftlich, unterlegt mit einer sehr hohen Verlust-Zahl und in Kombination mit dem Wissen, dass es mit Umstieg21 eine Alternative gibt, heißt, dass der Untreue-Paragraf des Strafgesetzbuchs, §266, damit sehr konkret ins Spiel kommt. Ich zitiere den nochmals: „„Wer […] die ihm […] obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren […] bestraft.“ Vor diesem Hintergrund haben unsere Juristen, Eisenhart von Loeper und Dieter Reicherter, ihre Strafanzeigen gegen die Bahnverantwortlichen nochmals nach-munitioniert. Dritte Ebene – der 1- Milliarde-Euro-Schmiergeld-Beleg. Hier waren die schriftlichen und mündlichen Aussagen des Sachverständigen Thilo Sarrazin höchst erhellend. Dieser erklärte [im Folgenden zusammenfassend und verkürzt wiedergegeben]: Ich kam Anfang 2000 zur DB; der damals neue Bahnchef Mehdorn holte mich. Er bat mich, eine Liste zu erstellen mit allen Bahn-Infrastrukturprojekten hinsichtlich deren Wirtschaftlichkeit. Das tat ich. Das Ergebnis lautete: Der „Eiserne Rhein“ – eine Güterverkehrsstrecke – „lag ganz vorne“. Das Projekt VCD 8.1/8.2 – die Neubaustrecke Berlin – München über Erfurt – „lag sehr weit hinten“. Und dann wörtlich in der Anhörung: „Dahinter [an letzter Stelle] stand nur noch Stuttgart 21“ – als das unwirtschaftlichste Projekt überhaupt. Hier war auch die Begründung von Sarrazin interessant: „… weil es keine Kapazitätserweiterung und nur minimale Fahrzeitverkürzungen brachte“. Wir wollen ja jetzt nicht kleinlich sein und nicht darauf beharren Trotz dieser ernüchternden Einstufung wurde das Projekt S21 dennoch neu aktiviert. Es war zuvor, so auch Sarrazin, unter Bahnchef Ludewig, „eingefroren“ worden. Sarrazin selbst erhielt laut Eigendarstellung von Mehdorn den Auftrag, das Projekt neu auf die Tagesordnung zu setzen. Den Grund dafür liefert Sarrazin in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Anhörung. In dieser heißt es: „Nach [Mehdorns] Bekundungen spielte dabei eine maßgebliche Rolle die Zusage des Landes Baden-Württemberg, im Fall einer Einigung [also der S21-Aktivierung; W.W.] die Nahverkehrsleistungen des Landes pauschal an die DB zu vergeben.“ Und so wurde verfahren. Und es war Sarrazin selbst, der dann am 24. Juli 2001 in Stuttgart für die Deutsche Bahn AG den Vertrag zur Reaktivierung des Bahnprojekts Stuttgart 21 unterzeichnete. Das ist eine Bombe. Zumal MdB Matthias Gastel in der Anhörung ergänzte, dass nach Berechnungen des grün geführten Verkehrsministeriums auf diese Weise eine Milliarde Euro zu viel für den neuen Nahverkehrsvertrag bezahlt wurden. Um dies zu verstehen, ein kleiner Exkurs: Seit der Bahnreform von 1994 sind die Länder für den Schienenpersonennahverkehr verantwortlich. Das sind alle Regionalbahnen, die Regionalexpressbahnen, die S-Bahnen und, in Baden-Württemberg, die IRE-Züge. Dafür zahlt der Bund Jahr für Jahr an die Länder (nach aktuellen Zahlen) 8 Milliarden Euro sogenannte Regionalisierungsmittel; Baden-Württemberg erhält davon den anteilmäßigen Betrag, aktuell mehr als eine Milliarde Euro – pro Jahr. Mit diesem Geld bestellen die Länder Nahverkehrsleistungen – bei der Nahverkehrstochter der DB, DB Regio, oder bei privaten Betreibern (in Zukunft hier im Raum Stuttgart bei Abellio und bei Go ahead). Natürlich sind die Länder dabei gehalten, mit diesen ihnen anvertrauten Bundesmitteln und Steuergeldern verantwortlich umzugehen – diese verantwortlich im Interesse der Fahrgäste, der Umwelt und des Klimas einzusetzen. Doch die damalige Landesregierung benutzte dieses Geld faktisch für Bestechung. Sie zahlte eine Milliarde mehr als erforderlich. Was dann ja auch der Kick-off dafür war, dass dann das Land auch noch offiziell eine knappe Milliarde Euro zusätzlich zahlte, dass die Stadt für eine knappe halbe Milliarde das frei werdende Bahngelände vorab abkaufte und dass die Flughafengesellschaft noch einen satten Betrag zusätzlich kofinanzierte … Sodass die DB am Ende fast drei Milliarden Euro an Extra-Einnahmen verbuchen und nunmehr S21 als „wirtschaftlich“ bezeichnen konnte. Das, was die Landesregierung da machte, erfüllt den Tatbestand der Veruntreuung von Steuergeldern. Und dann noch eine Veruntreuung zugunsten eines unwirtschaftlichen Projekts, das mit Kapazitätsabbau und zusätzlicher Klimabelastung verbunden ist. Wir haben Vergleichbares zwar immer geahnt, auch gewusst. Dennoch haben wir seit dieser Anhörung eine neue Situation. Neu ist: Damit ist auch klar: Lutz log am 18.4. im Ausschuss. Und Grube log vielfach im Ausschuss. Beide wussten von vornherein und immer, in allen Phasen der Planung und des Baus von Stuttgart21: Dieses Projekt ist unwirtschaftlich. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang – im Rahmen der Anhörung – die Haltung der Grünen. Matthias Gastel sagte, S21 sei ein „hochgradig gesteuertes und politisch fragwürdiges Projekt“. S21 sei „teuer und unwirtschaftlich“. Doch dann: „Wir akzeptieren, dass 70 Prozent der Tunnel in Stuttgart bereits gebohrt sind.“ Der Mann hat die Staatsräson bereits voll verinnerlicht. Es gilt: Augen zu und durch den Anhydrit. Dabei baut Gastel sogar Fake news ein. „70%“. Er sagt nicht: „30 Prozent der Projektsumme sind bislang verbaut“. Er will damit suggerieren, man könne ohnehin nichts mehr machen und verfälscht gezielt die Wirklichkeit. Matthias Lieb vom VCD Baden-Württemberg trug als von den Grünen beauftragter Sachverständiger eine vergleichbare Kritik an S21 vor. Zu teuer. Zu wenig Kapazität. Seine Folgerung lautet dann jedoch: S21 weiterbauen. Aber den Kopfbahnhof oder Teile desselben erhalten. Also alle S21-Kosten akzeptieren, alle S21-Risiken eingehen. Und dann obenauf noch den Kopfbahnhof zumindest in Teilen stehen und umbauen lassen. Was ja heißt: Nochmals mehr Kosten. Da letzteres nicht kommen wird, wenn S21 weitergebaut wird, heißt auch dass: Die Staatsräson wird voll verinnerlicht. Und dann war da und ist da Cem Özdemir. Er forderte im Vorfeld ein „mea culpa“ von den S21-Betreibern. Wörtlich: „Die Kritiker [von S21] hatten bisher in fast allen Punkten recht.“ Also: S21 ist Kapazitätsabbau. S21 ist völlig überteuert. S21 ist unwirtschaftlich. Dennoch sei, so Cem Özdemir, der point of no return längst erreicht: „Wir müssen jetzt nach vorne schauen und darauf achtgeben, dass kein infrastrukturelles Nadelöhr entsteht.“ Das ist natürlich schräg, weil Özdemir doch gerade sagte, dass zutrifft, dass mit S21 ein solches Nadelöhr entsteht. Nach vorne schauen heißt da, in einen Tunnel ohne Ende glotzen. Da hilft dann nur noch der fragwürdige Rückgriff auf eine schwäbische Volksweisheit. Özdemir: „Jetzt isch die Katz de Baum nauf“. Auch hier das pure Staatsräson-Denken. Wir sind in Baden-Württemberg in der Regierung, an der Macht. Wollen wir an der Regierungsmacht bleiben, dann müssen wir mit den Mächtigen deren garstige Lieder singen. Und wir – liebe Freundinnen und Freunde? Wir wissen, wenn die „Katz den Baum nauf isch“, dann gibt es eine Lösung: Man ruft die Freiwillige Feuerwehr. Und oft ist die dann bereit zu einer Extra-Übung. Und wenn wir jetzt sagen „Oben bleiben“ – dann meinen wir natürlich nicht die Katz. Sondern uns und unsere Bewegung. Und wir betonen: Wir agieren nach 420 Montagsdemonstrationen und nach acht Jahren Mahnwache weiter als Freiwillige Feuerwehr | Winfried Wolf | Wir machen auf aktuelle Termine und Ereignisse aufmerksam und dokumentieren die Rede des Verkehrsexperten Winfried Wolf bei der Montagsdemonstration vom 18. Juni 2018. Bleiben wir am Ball. Dann bleiben wir „oben“! - Der Widerstand gegen Stuttgart 21 ist auch eine „staatspolitische“ Aufgabe. Dieser Begriff mag übertrieben klingen. Tatsächlich ist er berechtigt. Denn was in Stuttgart geschieht, ... | [
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Wissenschaft zur Waffe! Hochschulen haben neuerdings Bundeswehr und Rheinmetall zu dienen | An der Hochschule Flensburg verhindert studentischer Widerstand die Einführung eines Fachs „Wehrtechnik“. Das macht Hoffnung angesichts politischer Bestrebungen, die an etlichen Universitäten bestehenden Zivilklauseln „unschädlich“ zu machen. Bayern gibt den Vorkämpfer: Dort muss für die Armee geforscht werden. Und auf dem Campus in München Garching hat die deutsche Truppe schon einmal auf Probe geballert. Von Ralf Wurzbacher. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Es gibt sie noch: Fälle von Widerstand gegen den beherrschenden militaristischen Zeitgeist im Zeichen von „Zeitenwende“, Hochrüstung und „Kriegsertüchtigung“. Die Hochschule Flensburg macht einfach nicht mit. Am Mittwoch der Vorwoche hätte der Konvent des Fachbereichs Maschinenbau, Verfahrenstechnik und maritime Technologien grünes Licht für die Einführung eines Studienmoduls „Wehrtechnik“ geben können. Aber es setzte die rote Karte! Das Gremium, bestehend aus Professoren, Hochschulmitarbeitern und Studierenden, wies das Ansinnen in aller Deutlichkeit zurück. Nach geheimer Abstimmung blieben bei sieben Nein-Stimmen, zwei Enthaltungen und einer Ja-Stimme keine Fragen offen. Damit entschied sich die Flensburg University of Applied Sciences wieder für den Frieden – nach zwei Jahren, in denen man mit dem Antipoden immerhin geflirtet hatte. Bis zum zurückliegenden Wintersemester gab es bereits einen Kurs zum Thema „Wehrtechnik“, allerdings nur als Wahlfach und außerhalb des regulären Lehrplans. Dietrich Jeschke, Professor für Maschinenbau, wollte mehr. Vor einem Monat machte er den Vorstoß, das Angebot im offiziellen Curriculum zu verankern und künftig für Inhalte wie Kettenfahrzeugtechnik, Ballistik und ABC-Sicherheit sogenannte Credit Points zu vergeben. Dafür hatte er eigens die Rüstungsfirma Flensburger Fahrzeugbau-Gesellschaft (FFG) an Land gezogen. Die bot sich an, für die Dauer von zunächst fünf Jahren eine Stiftungsprofessur zu finanzieren, möglicherweise im Verbund mit anderen Waffenschmieden aus Schleswig-Holstein. Überdies sollte ein örtlicher Schützenverein für das Projekt gewonnen werden – weil für die Arbeit mit Gewehren und Geschützen ein Waffenschein erforderlich wäre … Kein Schützenfest Jeschke hatte sein Konzept vor fünf Wochen dem Konvent vorgestellt und stieß dort prompt auf renitente Studierendenvertreter. Um sich mehr Gehör zu verschaffen, stellten sie gemeinsam mit Hochschülern der Europa-Universität Flensburg die Initiative „Campus ohne Wehrtechnik“ auf die Beine und betrieben auf dem Hochschulgelände mit Plakaten und Flyern Aufklärungsarbeit. In einem vor acht Tagen veröffentlichten Offenen Brief, unterzeichnet von insgesamt über 400 Studierenden, Uni-Beschäftigten und Flensburger Bürgern, appellierten sie an die Gremiumsmitglieder, das Vorhaben zu stoppen. Gewarnt wird darin vor einem „Image- und Glaubwürdigkeitsverlust“, einer „fatalen Signalwirkung“ und davor, „Forschung und Lehre systematisch in den Dienst militärischer Interessen zu stellen“. Fazit: Der Schritt „würde unsere Hochschule in eine Richtung bewegen, die weder den moralischen Prinzipien noch den Zukunftsanforderungen unserer Studierenden und Gesellschaft entspricht“. Die Argumentation überzeugte. Der Konvent habe sich „klar gegen die Einrichtung der vorgeschlagenen Vertiefungsrichtung ausgesprochen“, äußerte sich Frithjof Marten, Dekan des Fachbereichs 1, in einer Medienmitteilung der Hochschulleitung. „Mit dem heutigen Beschluss wird diese Möglichkeit damit nicht weiterverfolgt.“ Auch das fragliche „Wahlmodul“ zu „Wehrtechnik“ hat sich damit erledigt. Dieses sei nach Ablauf der Testphase „nicht fortgeführt“ worden, heißt es in der Erklärung. Die Aktiven von „Campus ohne Wehrtechnik“ zeigten sich anschließend erleichtert. „Wir leben in einer Zeit, in der rechte Kräfte immer stärker werden und sozial-ökologische Krisen zunehmen“, ließ sich Sprecherin Clara Tempel zitieren. „Gerade jetzt sollten wir an Hochschulen keine Kooperationen mit Rüstungsunternehmen aufbauen, sondern zukunftsfähige Lösungen für eine Welt im Wandel entwickeln.“ Forschen fürs Morden Flensburg ist ein Fels in der Brandung. Tatsächlich sehen sich Deutschlands Hochschulen und Forschungsinstitute derzeit einer heftigen Stimmungsmache ausgesetzt. Demnach müsse die Wissenschaft ihre Distanz zum Militärischen aufgeben und sich aktiv in den Dienst der deutschen und europäischen Streitkräfte stellen. Dabei ist das längst Realität, wenn auch nicht über die volle Breite der Hochschullandschaft. Schon heute fließen hierzulande mehrere Milliarden Euro jährlich an Dutzende Hochschulen, die im naturwissenschaftlichen, medizinischen und sozialwissenschaftlichen Bereich für Militärs und Rüstungsfirmen öffentliche Forschung betreiben. Aber eben nicht alle lassen sich einspannen. Etliche Standorte, bundesweit insgesamt rund 80 an der Zahl, verpflichten sich per Zivilklausel dazu, ausschließlich für friedliche und zivile Zwecke zu forschen. In wenigen Bundesländern, aktuell in Bremen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, ist dieses Bekenntnis sogar in den Landeshochschulgesetzen verbrieft. Nicht immer werden die Vorgaben auch befolgt, insbesondere in Fällen, in denen es um sogenannte Dual-Use-Anwendungen geht, aus denen sich sowohl militärischer als auch ziviler Nutzen ziehen lässt. Gleichwohl bilden Zivilklauseln doch eine einigermaßen robuste Schutzmauer gegen Übergriffigkeiten interessierter Kreise, die aus Hochschulen Forschungsanstalten für Militärs und Rüstungsindustrielle machen wollen. Zudem sind entsprechende Regeln mit Blick auf die Öffentlichkeit von hohem symbolischen Wert, gerade heute. Sie signalisieren: „Alle reden vom Krieg, wir verschreiben uns dem Frieden.“ Unter Beschuss Auch und gerade deswegen geraten die Schutzmauern dieser Tage heftigst unter Beschuss. Beispiel Hessen: Dort haben sich fünf der 14 staatlichen Hochschulen „eine freiwillige Verpflichtung auferlegt, keine Forschung mit militärischem oder sicherheitsrelevantem Nutzen zu betreiben oder zu unterstützen“. Sie befinden in Frankfurt, Kassel, Darmstadt, Marburg und Geisenheim im Rheingau. Ihre Rolle missfällt der Politik zusehends. Bereits im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Landesregierung heißt es, man wolle die „Hochschulleitungen bei der Überprüfung von Zivilklauseln“ unterstützen. Jetzt hat Wissenschaftsminister Timon Gremmels (SPD) nachgelegt. Vor dem Hintergrund der Rede von US-Vizepräsident James David Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz und der „unberechenbaren Äußerungen“ von Präsident Donald Trump müsse man die Zivilklauseln mit den Hochschulen „intensiv diskutieren – natürlich unter Berücksichtigung der Hochschulautonomie“. Angesichts zusätzlicher Milliarden für die Bundeswehr solle darauf geachtet werden, „dass möglichst viel davon zur Wertschöpfung in Deutschland beiträgt“. Drastischer formulierte es der FDP-Landtagsabgeordnete Matthias Büger: Die veränderte Sicherheitslage erfordere es, „dass die Forschung zur Sicherheit unserer Freiheit beiträgt“. Er verlangt „klare gesetzliche Vorgaben, die Zivilklauseln verbieten – denn sonst wird die Forschungssicherheit und somit auch die Sicherheit des Landes und der Bürger gefährdet“. Söder marschiert voraus Bayern ist Hessen schon voraus. Bekannt für ihre Nähe zu den vielen im Freistaat ansässigen Rüstungsunternehmen, hat die Landesregierung mit dem seit 1. August 2024 geltenden „Gesetz zur Förderung der Bundeswehr“ Zivilklauseln kurzerhand verboten. Nach dessen Wortlaut hätten die Hochschulen mit der deutschen Armee „zusammenzuarbeiten, wenn und soweit das Staatsministerium auf Antrag der Bundeswehr feststellt, dass dies im Interesse der nationalen Sicherheit erforderlich ist“. Ferner dürften erzielte Forschungsergebnisse „auch für militärische Zwecke der Bundesrepublik Deutschland oder der NATO-Bündnispartner genutzt werden“, und weiter: „Eine Beschränkung der Forschung auf zivile Nutzungen (Zivilklausel) ist unzulässig.“ Gegen das Gesetz läuft eine Popularklage, eingereicht unter anderem von Friedensaktivisten und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sie verweisen auf die Verfassung, die die Freiheit von Forschung und Lehre garantiere. Zudem schränke verpflichtende Forschung für militärische Zwecke die „Gewissensfreiheit“ ein. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ficht das nicht an. Ein von ihm im Frühjahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz präsentierter „Masterplan“ zielt darauf, das bayerische Modell in ganz Deutschland auszurollen, also ein „bundesweites Verbot von Zivilklauseln an den Hochschulen“ zu etablieren. Vorbilder: USA und Israel Im Positionspapier „Forschungssicherheit im Lichte der Zeitenwende“ vom März 2024 in Regie des früheren Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ist sehr konkret skizziert, wo die Reise hingehen soll. Demnach müssten „die Möglichkeiten für eine bessere Verzahnung zwischen militärischer und ziviler Forschung erörtert “ werden. Außerdem sei ergebnisoffen zu diskutieren, „wie Zivilklauseln zweckmäßig ausgestaltet werden können, um der zunehmend schwierigeren Differenzierbarkeit von Forschung angesichts einer Vielzahl möglicher Einsatzzwecke gerecht zu werden“. Als Vorbilder werden explizit Israel und die USA benannt. Diese setzten „erfolgreich und synergetisch in einem zivil und militärisch geprägten Ökosystem Forschung in technologische Innovation um“. Was einmal das BMBF war, firmiert neuerdings unter BMFTR. Wobei das R für Rüstung steht und die Federführung Dorothee Bär (CSU) innehat, die als damalige „Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung“ schon 2018 so weitsichtig war, den Einsatz von Flugtaxis hierzulande auf 2025 terminieren. Daraus wurde nichts, dafür klappte es jetzt mit dem Aufstieg samt Agenda zum Überfliegen. Auf dieser stehen der Bau des ersten Fusionsreaktors der Welt, eine KI-Offensive für Superrechner („AI-Gigafactory“), eine nationale „Hyperloop“-Referenzstrecke, eine Raketenrampe in der Nordsee und eine deutsche Astronautin auf dem Mond. Bei solchen Ambitionen brauchen Forscher Beinfreiheit, viel Geld und Zuarbeit von außen. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD ist sodann auch von der Schaffung einer „Förderkulisse für Sicherheits- und Verteidigungsforschung einschließlich Cybersicherheit und sicherer Infrastrukturen“ die Rede mit dem Ziel, „Kooperation von Hochschulen und außeruniversitärer Forschung mit Bundeswehr und Unternehmen gezielter zu ermöglichen“. Soldaten ins Klassenzimmer Bei ihrem Chef rennt sie damit offene Türen ein. Neubundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte Zivilklauseln schon vor zwei Jahren als „nicht mehr zeitgemäß“ abgetan und daneben einen „ungehinderten Zugang“ der Bundeswehr zu staatlichen Lehranstalten empfohlen. Flugs fand auch dieser Punkt „Zugang“ ins schwarz-rote Regierungsprogramm: „Wir verankern unsere Bundeswehr noch stärker im öffentlichen Leben“, steht da geschrieben, „und setzen uns für die Stärkung der Rolle der Jugendoffiziere ein, die an den Schulen einen wichtigen Bildungsauftrag erfüllen.“ Derlei kann man heute ohne Hemmungen verfechten. Der alte und neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hatte ebenfalls bei der Münchner Sicherheitskonferenz dafür geworben, die Kooperation zwischen der Bundeswehr und Universitäten zu vertiefen. Die FDP pocht auf eine „agile Verteidigungsforschungsanstalt nach amerikanischem Vorbild, die sich auf den Technologietransfer zwischen Militär und Wissenschaft sowie auf die Förderung von Forschungsprojekten mit militärischen oder Dual-Use-Anwendungen konzentriert“. Der ehemalige Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ließ sich im Januar von der Tageszeitung (taz) mit den Worten zitieren, man müsse „die strikte Trennung von militärischer und ziviler Nutzung und Entwicklung überdenken“. Krieg zum Anfassen Genau das passiert bereits mancherorts. Die Technische Universität (TU) Chemnitz teilte zuletzt mit, ihre Zivilklausel im Prozess der Novellierung der Grundordnung „zeitgemäß“ anpassen zu wollen. Auch an der TU Berlin soll es entsprechende Bestrebungen geben. Dazu machen berufene Köpfe das Publikum glauben, dass Zivilklauseln sowieso nichts verbieten, da auch die „Erfüllung des Verteidigungsauftrags der Wahrung von Frieden dient“, wie es in einer Stellungnahme der bayerischen Sektion des Deutschen Hochschulverbands (DHV) vom März 2024 heißt. Das Papier war auf das seinerzeit noch in Vorbereitung befindliche „Bundeswehrgesetz“ gemünzt. Fazit: „Im Ergebnis bestehen keine Bedenken gegen die intendierten Neuerungen.“ Die Firma dankt. Übrigens: Vor einem halben Jahr gab es auf dem Campus der TU München Krieg zum Anfassen. Beim Forschungsreaktor der Uni in Garching fielen im Oktober Schüsse, Schützenpanzer und Militärjeeps mit montierten Maschinengewehren durchkämmten das Gelände, Soldaten patrouillierten, machten Jagd auf „Terroristen“ und brachten sie zur Strecke. Keine Sorge: War alles nicht ernst gemeint, bloß ein Manöver der Bundeswehr zur Simulation eines Angriffs auf kritische Infrastruktur. Manchen Beteiligten war dennoch mulmig zumute. Zeitgleich im hohen Norden an der Ostsee herrschte Frieden. Darauf ein Flens. Titelbild: CampusOhneWehrtechnik | Ralf Wurzbacher | An der Hochschule Flensburg verhindert studentischer Widerstand die Einführung eines Fachs „Wehrtechnik“. Das macht Hoffnung angesichts politischer Bestrebungen, die an etlichen Universitäten bestehenden Zivilklauseln „unschädlich“ zu machen. Bayern gibt den Vorkämpfer: Dort muss für die Armee geforscht werden. Und auf dem Campus in München Garching hat die deutsche Truppe schon einmal auf Pro ... | [
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] | 19. Mai 2025 9:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=133122&share=email&nb=1 |
Nebenkriegsschauplätze zum Krieg in Afghanistan | Es wird auch für wenig kritische Zeitgenossen immer deutlicher, dass der Afghanistan-Krieg ein absurdes und tödliches Abenteuer ist. Die Opfer unter Zivilisten, die toten Soldaten, spätestens der erkennbare Bruch zwischen dem gerade von deutscher Seite früher einmal kräftig gefeierten und in Bonn installierten Präsidenten Karzai und den USA/Nato machen dies deutlich. Es wird immer mehr sichtbar, dass jene recht hatten, die von vornherein gegen diesen Einsatz waren und den Abzug immer wieder gefordert haben, und dafür als Populisten beschimpft wurden. Jetzt wird auf Seiten der Kriegsbefürworter die Propaganda verschärft. Albrecht Müller
Da sind vielleicht ein paar Hinweise auf die erkennbaren Ausflucht-Linien hilfreich: Dass der Afganistan-Krieg mit deutscher Beteiligung vor allem dem Gewöhnen an und Einüben von Einsätzen der Bundeswehr und der Nato out of area dienen soll und die humanitären Gründe vorgeschoben wurden, wird natürlich nicht erwähnt. Anlage 1: Afghanische Wahrheiten
Kommentar von Julian Reichelt
07.04.2010 – 00:22 UHR Die schweren Kämpfe von Kunduz zwingen uns, den Wahrheiten des Afghanistan-Krieges ins Auge zu sehen. Wie gut sind unsere Soldaten ausgerüstet? Erstens. Das Lehmhütten-Dorf, in dem am Karfreitag drei deutsche Soldaten fielen, wird noch in Jahrzehnten genauso arm und elendig aussehen wie vor fünf Tagen. Die Menschen dort wollen keine Fremden. Oft nicht einmal dann, wenn sie kommen, um zu helfen. Zweitens. Der Tod im Krieg ist nur im Hollywood-Film glorreich und heldenhaft. Ein 25-Jähriger, der in Afghanistan fällt, stirbt unter grauenvollen Schmerzen, so einsam wie ein Mensch nur sterben kann. Weit weg von seiner Familie. Drittens. Unsere Soldaten sind ihrem Feind hoffnungslos unterlegen. Die Taliban kämpfen in Dörfern, in denen sie aufgewachsen sind. Sie verstecken sich in Wassergräben, in denen sie als Kinder geplanscht haben. Sie kennen jeden Zweig und haben keine Angst zu sterben.
Wahr ist auch: Deutschland und die NATO haben das Terrornetzwerk al-Qaida in Afghanistan zerstört. Das ist ein herausragender Erfolg. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir militärisch kaum mehr erreichen werden. Quelle: BILD Anlage 2: Bild Kommentar von Ernst Elitz*
Deutschland trauert
07.04.2010 – 23:49 UHR An den Särgen der gefallenen Soldaten weinen die Mütter, die Väter, Freunde und Kameraden.
Ihre Verzweiflung ist unsere Verzweiflung.
Ihr Schmerz erschüttert das ganze Land.
Die Kanzlerin, die Bundesregierung, der Bundestag haben entschieden, dass die Bundeswehr in Afghanistan gegen den Terror kämpft – an der Seite der Amerikaner, der Briten, der Franzosen, der Italiener …
Alle haben Opfer gebracht.
US-Präsident Obama hat vor den Särgen salutiert. Frankreichs Sarkozy hat sich vor den Toten verneigt. Berlusconi hat die Angehörigen umarmt und Tränen mit ihnen vergossen.
Stark muss sein, wer trauernde Angehörige in dieser Stunde tröstet.
Wenn nicht die Kanzlerin an der Trauerfeier teilnimmt, warum dann nicht wie in den USA und Frankreich das Staatsoberhaupt? Bundespräsident Horst Köhler steht für das ganze Volk.
Morgen an den Särgen von Nils B., Robert H. und Martin A., ist die Stunde, in der er mit den Müttern und Vätern trauern und den Soldaten der Bundeswehr zeigen kann:
Ich kenne Eure Verzweiflung. Ich bewundere Euren Mut. Ihr kämpft gegen den Terror.
Vor Euch verneigt sich das Land. Quelle: BILD *Prof. Ernst Elitz ist Gründungsintendant des Deutschlandradios | Albrecht Müller | Es wird auch für wenig kritische Zeitgenossen immer deutlicher, dass der Afghanistan-Krieg ein absurdes und tödliches Abenteuer ist. Die Opfer unter Zivilisten, die toten Soldaten, spätestens der erkennbare Bruch zwischen dem gerade von deutscher Seite früher einmal kräftig gefeierten und in Bonn installierten Präsidenten Karzai und den USA/Nato machen dies deutlich. Es wird immer mehr sichtba ... | [
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] | 08. April 2010 12:54 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=5109&share=email&nb=1 |
Nordkorea: Ein „Schmuddelkind” wird 75 | Pjöngjang, die Metropole der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK – Nordkorea), präsentierte sich am vergangenen Wochenende wieder einmal in Festtagsstimmung mit bis ins letzte Detail choreografierten Paraden und publicityträchtigem Auftritt ihrer politischen Führung. Das Land beging den 75. Jahrestag seiner Staatsgründung am 9. September 1948 durch Kim Il-Sung, dem Großvater des amtierenden Staatschefs Kim Jong-Un. Seit seinem Tod im Sommer 1994 ist Kim Il-Sung laut Verfassung der DVRK „Ewiger Präsident“ des Landes, weshalb das Präsidialamt abgeschafft ist. Anmerkungen jenseits „werteorientierter und regelbasierter Außenpolitik“ von Rainer Werning. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Achtung unter Freunden Während der Feierlichkeiten am vergangenen Wochenende saßen Kim Jong-Un und seine Tochter auf einem Balkon über dem ausladenden Kim-Il-Sung-Platz im Zentrum Pjöngjangs, um die Paraden zu beobachten. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte eine Grußbotschaft übermittelt, und eine chinesische Partei- und Regierungsdelegation unter der Leitung von Liu Guozhong, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas und Vizepremier des Staatsrats Chinas, führte Gespräche mit dem Gastgeber, die laut Agenturberichten „in einer herzlichen und freundlichen Atmosphäre“ stattfanden. In einem aktuellen Interview mit der russischen Nachrichtenagentur TASS brachte Alexander Mazegora, Moskaus Botschafter in Pjöngjang, auch trilaterale Manöver zwischen Russland, der Volksrepublik China und Nordkorea ins Gespräch. Dies sei, so der Botschafter, als gemeinsame Antwort auf die Militärübungen der USA mit ihren Alliierten in der Region angebracht. Die Ansichten Russlands und Nordkoreas in internationalen Angelegenheiten stimmten fast vollständig überein, erklärte Mazegora. Die Grundlage dafür ist in seinen Augen Pjöngjangs „bedingungslose Unterstützung der russischen Position zur Ukraine-Krise“. Es herrsche „taktisches und strategisches gegenseitiges Verständnis“ zwischen den beiden Seiten. So ist es nicht verwunderlich, dass in den Medien die Nachricht gehypt wird, es stünde nach 2019 ein neuerliches Zusammentreffen von Putin und Kim in der russischen Stadt Wladiwostok kurz bevor. So das zutrifft, ginge es offensichtlich um Deals in puncto Waffen, Militärtechnologien sowie Lebensmittel und anderer Güter des täglichen Bedarfs. Dass beide Seiten militärisch näher zusammenrücken, ist seit längerer Zeit erkennbar. Ende Juli besuchte der russische Verteidigungsminister Sergei K. Schoigu Pjöngjang, um anlässlich des 70. Jahrestages der Unterzeichnung des Waffenstillstands am Ende des Koreakriegs an offiziellen Festlichkeiten teilzunehmen. Er wurde geradezu wie ein Popstar behandelt, und es ward dies der erste Besuch eines russischen Verteidigungsministers in Nordkorea seit dem Ende der Sowjetunion. Schoigu verfolgte dabei nicht nur die große „Siegesparade“ in Pjöngjang, er besuchte gemeinsam mit Kim Jong-Un auch eine Ausstellung von nordkoreanischen Waffen. Kim und Schoigu sollen sich laut Agenturberichten zu militärischen Fragen ausgetauscht haben. Dabei sei es um den Schutz der Souveränität, der Entwicklung und der Interessen beider Länder vor dem Hintergrund der „selbstherrlichen und willkürlichen Praktiken der Imperialisten“ gegangen. Um angesichts mehrerer neuerlicher Großmanöver US-amerikanischer Truppenverbände mit südkoreanischen Einheiten auf der Halbinsel ein weiteres Zeichen der eigenen Stärke zu setzen, ließ Nordkorea Mitte vergangener Woche sein erstes angeblich atomwaffenfähiges U-Boot vom Stapel. Beobachtern zufolge verfügt es über zehn Abschussrohre für ballistische Raketen. Die Ausrüstung der Marine mit Atomwaffen müsse vorangetrieben werden, um US-amerikanischen und südkoreanischen Provokationen vorzubeugen, wurde Staatschef Kim Jong-Un am Freitag von der staatlichen nordkoreanischen Nachrichtenagentur KCNA zitiert. In all den Jahren folgte Pjöngjangs Nomenklatura knallhart ihrer systemimmanenten Logik: Wenn schon nicht international geachtet, will die DVRK als selbsterklärte neunte Atommacht allein um des Überlebens willen auf Augenhöhe geächtet sein. Verachtung vonseiten der Feinde „The Impossible State“ („Der unmögliche Staat“) lautet der Titel des im Jahre 2013 in New York erschienenen Buches aus der Feder von Victor D. Cha. In diesem voluminösen Opus, das nahezu 550 Seiten umfasst, begab sich der Autor auf Spurensuche in Sachen Nordkorea, dessen vergangene Geschichte und Zukunftsperspektiven den Hauptfokus seiner Abhandlung bilden. Victor Cha war ehemaliger nationaler außenpolitischer Berater und als Direktor für asiatische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses verantwortlich für Japan, Nord- und Südkorea, Australien und Neuseeland. Während der Amtszeit von George W. Bush (2001 bis 2009) diente er dem Präsidenten als Chefberater in puncto Nordkorea. Allein der Titel dieses Buches ist bezeichnend für die politische Position und Einstellung Washingtons vis-à-vis der Volksrepublik. Nichts hätte man sich bereits seit Langem sehnlicher herbeigewünscht als das Verschwinden der DVRK von der politischen Landkarte. Und unter vielen Nordkoreanern hat sich – vor allem nach dem desaströsen Koreakrieg (1950 bis 1953) – ein Amerikabild ins Gedächtnis gebrannt, das geprägt ist von der immensen Verwüstung des Landes. Überliefert sind Stellungnahmen von US-Bomberpiloten in jenen Tagen, da sich diese darüber „beklagten“, es gäbe in Nordkorea „partout keine Ziele“ mehr. Was seitens der USA und ihrer Verbündeten als „Polizeiaktion“ der UNO deklariert war, dauerte drei lange Jahre und forderte furchtbare Opfer: Dreieinhalb Millionen Koreaner und eine Million Chinesen verloren ihr Leben; fast drei Millionen Amerikaner taten Dienst in Korea, 36.914 von ihnen wurden getötet, über 100.000 verwundet. An gegenseitigen Attacken bitterster Art hat es nie gemangelt. US-Präsident George W. Bush beispielsweise nannte Kim Jong-Il, den Vater des amtierenden nordkoreanischen Staatschefs, einen „Pygmäen“ – was in Pjöngjang die Retourkutsche provozierte, die USA seien „eine Nation von Kannibalen“ und „(befallen) von moralischer Lepra“. Und Ex-Präsident Donald J. Trump schwadronierte während seiner Rede vor der UN-Vollversammlung im Herbst 2017 von „der Vernichtung Nordkoreas“ samt „des Raketenmanns Kim“. Was Trump und den so Gescholtenen nicht daran hinderte, sich Mitte Juni 2018 persönlich zu einem wahrlich historischen Gipfel im südostasiatischen Stadtstaat Singapur zu treffen! Dies verleitete den langjährigen CIA-Mitarbeiter und Washingtons früheren Botschafter in Südkorea, Donald P. Gregg, bereits vor Jahren zu dem Statement: Koloniale Vermächtnisse Nach langjähriger japanischer Kolonialherrschaft (1910 bis 1945) widerfuhr Korea aufgrund seiner geostrategischen Lage das unsägliche „Pech“, als Kolonie nun auch noch – anstelle des Aggressors Japan – geteilt worden zu sein! Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die USA und die Sowjetunion, hatten sich nämlich darauf verständigt, das ostasiatische Land zunächst treuhänderisch zu verwalten – und das entlang einer sprichwörtlich am Reißbrett gezogenen Linie entlang des 38. Breitengrads, die seinerzeit im US-State Department ersonnen ward. Südlich davon hatten die USA und nördlich davon die Sowjetunion das Sagen. Schroffe Konflikte waren programmiert, die schließlich im Sommer 1950 zum Bruderkrieg führten, der rasch internationalisiert und erst drei Jahre später lediglich mit einem Waffenstillstandsabkommen enden sollte. In Südkoreas Metropole wurde nach dem Kriegsende seitens der US-amerikanischen Militärregierung (USAMGIK) der eigens aus dem Exil eingeflogene antikommunistische Hardliner Rhee Syngman als Führungsperson installiert, während im Norden Kim Il-Sung, einer von zahlreichen antijapanischen Partisanen, zur politischen Leitfigur avancierte – freilich mit tatkräftiger Unterstützung seitens des sowjetischen Generaloberst Terenti F. Schtykow. Dieser hatte nicht nur die Befreiung Nordkoreas vom japanischen Kolonialjoch beaufsichtigt; er fungierte 1945 bis 1948 de facto auch als Chef der dort stationierten Roten-Armee-Besatzungstruppen und sodann bis 1950 als Moskaus erster Botschafter in der DVRK. Unter Schtykows Ägide gelang Kim Il-Sung der Aufstieg zur politischen Macht, und es war der sowjetische General, der auch maßgeblich am Entwurf der ersten nordkoreanischen Verfassung sowie an der Durchführung einer umfassenden Agrarreform im Frühjahr 1946 beteiligt war. Rhee Syngman hatte am 15. August 1948 endgültig die Teilung Koreas besiegelt, als er die Republik Korea (ROK – Südkorea) ausrief. Knapp vier Wochen später zog Kim Il-Sung nach und proklamierte in Pjöngjang die DVRK. Südkorea war als antikommunistischer „Frontstaat“ par excellence ein Hort der Reaktion, einstige projapanische Kollaborateure blieben dort unbehelligt und die politische Legitimation Rhees blieb stets gering. Kim indes konnte sich immerhin als Nationalist und antijapanischer Partisanenkämpfer präsentieren, dem Zeitzeugen volksnahe und charismatische Führungsqualitäten bescheinigten. Mit den jeweiligen Staatsgründungen hatten sich die sozialpolitischen Konflikte auf der Halbinsel dermaßen verschärft, dass bewaffnete Auseinandersetzungen immer häufiger stattfanden. Was ursprünglich als Klassenkampf begann, wuchs sich sukzessiv zum Bürgerkrieg aus und entfaltete eine Eskalationsdynamik durch die Internationalisierung des Krieges als Koreakrieg. An ihm waren von 1950 bis 1953 22 Länder entweder mit Kampftruppen oder mit medizinischen Einheiten zur Unterstützung Südkoreas unter der Flagge der Vereinten Nationen, wiewohl unter US-Oberkommando, beteiligt. Auf Seiten Nordkoreas kämpften Freiwilligenverbände der chinesischen Volksarmee sowie eine nicht genau bekannte Zahl sowjetischer Piloten. Während ausländische Truppen die DVRK nach dem Krieg verließen, verblieben UN-Verbände und US-Truppen (aktuell 28.500 Mann) bis heute ununterbrochen in Südkorea – ein Anachronismus ohnegleichen! Und es ist ein US-amerikanischer Viersternegeneral (aktuell General Paul J. LaCamera), der als unzeitgemäßer Prokonsul im gut 60 Kilometer südlich der südkoreanischen Metropole Seoul gelegenen Hauptquartier Camp Humphreys residiert, der zurzeit weltweit größten US-Militärbasis außerhalb des nordamerikanischen Kontinents. So zerstörerisch der Koreakrieg war und bis heute immer noch eines Friedensvertrags harrt (!), so aufgeheizt aggressiv blieb seitdem das bilaterale Klima zwischen Seoul und Pjöngjang – was nicht ausschloss, dass es zwischenzeitlich kurze Phasen der Entspannung gab, für die beispielsweise Südkoreas Präsident Kim Dae-Jung als Architekt einer sogenannten „Sonnenscheinpolitik“ im Dezember 2000 der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde. „Sozialismus in den eigenen Farben“ Bereits um die Jahreswende 1990/1991 hatten Nord- und Südkorea einen Aussöhnungs- und Normalisierungsvertrag ausgehandelt, der den beiderseitigen Austausch in den Bereichen Kultur, Wirtschaft und Politik vorsah und gemeinsame Besuchsprogramme ermöglichen sollte. Die Vertragsunterzeichnung fiel allerdings in eine für Nordkorea überaus bedeutsame Umbruchphase. In Berlin war die Mauer gefallen, der Zusammenbruch der Sowjetunion und anderer realsozialistischer Regime in Osteuropa stand bevor. Für Pjöngjang bedeutete die Politik von Glasnost und Perestrojka in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow nichts Gutes. Man witterte eine – so wörtlich – „ideologische Kontaminierung“ und zog kurzerhand die im Ausland befindlichen beziehungsweise dorthin beorderten Kader und Techniker ab und schickte sie wieder nach Hause. Auf die Umbruchphase in Osteuropa reagierte Pjöngjang auf seine Weise; es schottete sich gegenüber der (westlichen) Außenwelt ab, setzte stärker als zuvor auf ideologische Erziehung und Kampagnen, entwarf das Konzept des „Sozialismus in den eigenen Farben“ und propagierte den „starken und gedeihenden Staat“. Neben den Entwicklungen in der Sowjetunion und in Osteuropa gab es in der Volksrepublik selbst auch schwerwiegende innen- und wirtschaftspolitische Probleme. Die abrupte Umstellung des Handels auf Devisenbasis, immense Rüstungsausgaben (etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) sowie komplette Ernteausfälle in Folge verheerender Naturkatastrophen führten in einigen Regionen zu akuter Hungersnot und das Land nahezu in den Ruin. Trotzdem kollabierte das Land entgegen der Prognosen vieler sogenannter Experten internationaler Denkfabriken nicht. Einerseits unterschätzten diese die Zusammensetzung und das mit Bedacht austarierte Machtgefüge der politisch dominanten Führungsschicht. Zum anderen trug Pjöngjangs zelebrierte Dschutsche- (Juche-)Ideologie, seine Variante einer autozentrierten Entwicklung und das Besinnen auf die eigenen Kräfte, mit dazu bei, sich weder eng an Moskau oder an Beijing angelehnt zu haben. In der sino-sowjetischen Auseinandersetzung um die Führungsrolle in der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung in den frühen 1960er-Jahren steuerte Pjöngjang einen außenpolitischen Kurs der Äquidistanz, was ihm mitunter den Vorwurf des „Zentrismus“ eintrug. Seit 1994 schwelt ein Konflikt um Nordkoreas Nuklearprogramm, der zumindest bis zum Jahr 2000 deeskaliert werden konnte. Während Pjöngjang sich zu Abstrichen bereit erklärte, erhielt es im Gegenzug Sicherheitsgarantien im Rahmen eines bilateral mit Washington ausgehandelten „Rahmenabkommens“ („Agreed Framework“). Ende Oktober 2000 weilte sogar die bis dahin höchstkarätige US-Delegation unter Leitung von Außenministerin Madeleine Albright zur Staatsvisite in Pjöngjang. Gastgeber Kim Jong-Il, der Sohn des Staatsgründers und Vater des amtierenden Staatschefs, zeigte sich zuversichtlich, den Atomstreit beilegen zu können. Selbst über ein mögliches Treffen zwischen US-Präsident Clinton und Kim Jong-Il wurde seinerzeit verhandelt, das dann aber wegen der Eskalation im palästinensisch-israelischen Konflikt – so die offizielle Begründung – abgesagt wurde. Überhaupt: 2000 war ein für Korea bedeutsames Jahr. Im Sommer fand der erste innerkoreanische Gipfel in Pjöngjang statt. Auf der Halbinsel standen die Zeichen auf Entspannung, zumal auch und gerade die EU dort Flagge zeigten. Der damalige EU-Ratsvorsitzende, Schwedens Premier Göran Persson, sowie EU-Außenkommissar Chris Patten und der EU-Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, reisten nach Pjöngjang und Seoul, um den innerkoreanischen Dialog ausdrücklich gutzuheißen. Nordkorea nahm derweil volle diplomatische Beziehungen mit mehreren westlichen Ländern auf – darunter ab März 2001 auch mit der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus stornierte Pjöngjang die Produktion und Ausfuhr aller Raketen mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern. In zwei strategischen Fragen – in der Atompolitik und bei den ballistischen Raketen – kamen sich Pjöngjang und Washington so nahe, dass nicht nur ein Konsens zustande kam, sondern die gesamte Sicherheitsarchitektur in der Region davon zu profitieren schien. Washington lockerte sogar einige Wirtschaftssanktionen und setzte sich für erhöhte Hilfslieferungen an die Volksrepublik ein. All diese vielversprechenden Avancen wurden mit dem Amtsantritt von US-Präsident George W. Bush buchstäblich über Nacht zur Makulatur. Für ihn zählte die DVRK zur „Achse des Bösen“. Vor allem die von Bush angezettelten Feldzüge gegen Afghanistan und Irak ließen in Pjöngjang die Alarmglocken schrillen. Dort reklamierte man fortan für sich das „Recht auf den Besitz des größtmöglichen Abschreckungspotenzials“. Im Klartext: Das eigene Atomprogramm wurde ausgeweitet und das Raketenarsenal beträchtlich aufgestockt, modernisiert und wiederholt getestet. Apropos Bedrohungsfaktor auf der Koreanischen Halbinsel beziehungsweise wer bedroht da eigentlich wen? Der oben erwähnte US-Viersternegeneral LaCamera ist in Personalunion Oberkommandierender der United States Forces Korea (USFK), des Kommandos der Vereinten Nationen (United Nations Command – UNC) sowie des ROK/U.S. Combined Forces Command (CFC) – mit momentan noch immer auf südkoreanischem Boden stationierten 28.500 US-Soldaten. Im Kriegsfall gar wären die südkoreanischen Streitkräfte ebenfalls seinem Befehl untergeordnet! Da hat Pjöngjang wahrlich allen Grund, dem Ziehvater und Zuchtmeister einer „werteorientierten und regelbasierten Ordnung“ zu misstrauen.[*] Titelbild: LMspencer/shutterstock.com | Rainer Werning | Pjöngjang, die Metropole der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK – Nordkorea), präsentierte sich am vergangenen Wochenende wieder einmal in Festtagsstimmung mit bis ins letzte Detail choreografierten Paraden und publicityträchtigem Auftritt ihrer politischen Führung. Das Land beging den 75. Jahrestag seiner Staatsgründung am 9. September 1948 durch Kim Il-Sung, dem Großvater des amtierend ... | [
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] | 14. September 2023 9:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=103762 |
Der systematische Missbrauch des schönen Wortes Freiheit | Bush redet unentwegt von Freiheit, auch Westerwelle, auch Angela Merkel, auch Barack Obama. Sie reden alle von Freiheit. Und wenn man genau hinhört, dann entdeckten man, dass dieses schöne Wort nur noch eine Hülse ist. Man kann darin verstecken, was man will: Bush seine Kriege, Angela Merkel ihr Nichtstun gegen die Arbeitslosigkeit, Guido Westerwelle sein mangelndes Profil und manche Journalisten ihre Unfähigkeit zu kritischen Fragen mit Substanz. Ein Musterbeispiel dafür ist der Einstieg zu einem Interview mit Gregor Gysi im Berliner Tagesspiegel vom Sonntag “Gysi, du hast schon einen Knall“, siehe Anhang. Dass Freiheit formal wenig nutzt, wenn man sie kaum leben kann, weil die ökonomische und soziale Lage dies nicht zulässt, haben wir alle irgendwann gelernt. Die drei Interviewer fragen trotzdem ziemlich ahnungslos.
Als der Artikel im Tagesspiegel auf meinen Tisch kam, ging gerade auch eine Mail eines Freundes der NachDenkSeiten und gelegentlichen Lieferanten von Hinweisen auf interessante Artikel ein. Der Absender ist ein Bürger Thüringens, gut ausgebildet, gezeichnet vom Arbeitsplatzverlust in seiner Heimat. Er fährt heute wöchentlich von Thüringen nach München. Ich gebe wieder, was er mir geschrieben hat und frage, was er nicht gefragt hat: Was ist das für eine Freiheit, wenn ich auskommen muss ohne Arbeitsplatz in meiner heimischen Umgebung, wenn ich bis zur Aufopferung flexibel und mobil sein muss. Flexibilität, Mobilität, soziale Unsicherheit werden von den Agitatoren der Freiheit als besonders symbiotisch zur Freiheit dargestellt. Das ist wohl eher eine nicht erfahrene Propagandaversion. Die Realität sieht anders aus. Ich zitiere: Ihm wie allen früheren Bürgerinnen und Bürgern der DDR haben wir die Wende als Gewinn an Freiheit verkauft. Wenn wir das ernst nehmen wollen und wenn wir wollen, dass es ernst genommen wird, dann müssen wir mehr tun für ihre soziale Sicherheit und für ihre Chance und Möglichkeit, einen Arbeitsplatz in der Nähe ihrer Heimat zu finden. Aber nichts entscheidendes geschieht. Dafür viele viele Worte. Freiheit Freiheit Freiheit. Sie gebrauchen das Wort wie eine Schablone, auch wie ein Paravent, hinter dem sie ihre a-sozialen und zugleich freiheitsfeindlichen Aktivitäten verstecken. Für empirische Sozialforscher und Politikwissenschaftler müsste es reizvoll sein, der Frage nachzugehen, wie es die um die tatsächlich gewonnene Freiheit der ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR steht. Eine solche Bilanz wäre nach bald 20 Jahren fällig und übrigens ein Gebot der Fairness. Anhang: “Gysi, du hast schon einen Knall“ Der Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, spricht mit dem Tagesspiegel über Freiheit, Gleichheit – und Eitelkeit. Zudem warnt er vor Kältetoten in Deutschland, wenn die Konzerne künftig keine Sozialtarife anbieten. | Albrecht Müller | Bush redet unentwegt von Freiheit, auch Westerwelle, auch Angela Merkel, auch Barack Obama. Sie reden alle von Freiheit. Und wenn man genau hinhört, dann entdeckten man, dass dieses schöne Wort nur noch eine Hülse ist. Man kann darin verstecken, was man will: Bush seine Kriege, Angela Merkel ihr Nichtstun gegen die Arbeitslosigkeit, Guido Westerwelle sein mangelndes Profil und manche Journalis ... | [
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] | 29. Juli 2008 15:34 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=3366 |
Clement kennt keine Skrupel. Oder: Wie sich eigene Interessen und das Allgemeininteresse decken. | Der ehemalige Superminister zeigt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk keinerlei Verständnis für die Kritik daran, dass er als ehemaliger „Energieminister“ einen Aufsichtsratsposten bei einer Tochter des Energie-Oligopolisten RWE angenommen hat. Im Gegenteil, trotzig kündigt er an: „Ich werde übrigens noch mehrere Mandate wahrnehmen, damit ich das gleich deutlich hinzugefügt habe…. Da können sich manche Leute darüber das Maul zerreißen. Das wird mich nicht sonderlich beschäftigen.“
Für Clement sind solche Mandate kein Problem: Sie seien „nicht immer nur“ in seinem Interesse, sondern auch im allgemeinen Interesse. „Ich habe immer (nur) eine Energiepolitik – übrigens auch schon als Journalist – vertreten.“
Das dürfte jedenfalls keine Energiepolitik gewesen sein, die nicht auch im Interesse des Stromriesen RWE gewesen wäre.
Zur Information: Der ehemalige Supersminister Wolfgang Clement ist seit Dezember 2005 im Aufsichtsrat der Berliner Dussmann-Gruppe (50.000 Mitarbeiter, Umsatz 2,3 Milliarden Euro). Seit Ende Januar 2006 ist er im Aufsichtsrat der Berliner Landau-Media A.G; diesen Job hat er vom neuen Umweltminister Sigmar Gabriel übernommen. Neuerdings ist er auch noch bei RWE-Power in Essen engagiert (18.000 Mitarbeiter, 3,3Milliarden Euro Umsatz). Ab April wird er neuer Kolumnist in der „Welt am Sonntag“. Anfang des Jahres ist er Gertrud Höhler als Mentor des Förderprojektes „Top Job – die hundert besten Arbeitgeber im Mittelstand“ nachgefolgt. Top Job ist ein Marketinginstrument für mittelständische Arbeitgeber ausgerichtet von der Kommunikationsagentur compamedia GmbH. Außerdem lässt er sich von der Internationalen Künstler- und Medienagentur Paul Spiegel für Vorträge vermitteln. Nach seiner Ankündigung im DLF-Interview wird man diese Liste fortschreiben können. | Wolfgang Lieb | Der ehemalige Superminister zeigt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk keinerlei Verständnis für die Kritik daran, dass er als ehemaliger „Energieminister“ einen Aufsichtsratsposten bei einer Tochter des Energie-Oligopolisten RWE angenommen hat. Im Gegenteil, trotzig kündigt er an: „Ich werde übrigens noch mehrere Mandate wahrnehmen, damit ich das gleich deutlich hinzugefügt habe…. Da kö ... | [
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] | 21. Februar 2006 15:15 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=1053&share=email |
Rot-Grün im Bunker | Bundesregierung und Koalitionsspitze trafen sich in den vergangenen Tagen in Neu-Hardenberg zu einer Klausur. Dabei wurde deutlich, dass Bundesregierung und Koalition bei dem, was sie Reformen nennen, „durchzumarschieren“ gedenken: keine Revision vom Hartz IV, keine Entspannung des Verhältnisses zu den Gewerkschaften, keine Zugeständnisse an die ostdeutschen Länder, wenn die ostdeutschen Ministerpräsidenten sich heute Abend mit dem Bundeskanzler treffen. Dabei gäbe es gute Gründe, speziell diese Reform zu überdenken, und viel gute Gründe, mit den Gewerkschaften anders umzugehen. Anders als öffentlich der Eindruck entstanden ist, haben sie bisher viele Affronts von Seiten der rot-grünen Koalition weggesteckt. Vermutlich war das die falsche Strategie.
Einige Anmerkungen zu den einzelnen Punkten: | Albrecht Müller | Bundesregierung und Koalitionsspitze trafen sich in den vergangenen Tagen in Neu-Hardenberg zu einer Klausur. Dabei wurde deutlich, dass Bundesregierung und Koalition bei dem, was sie Reformen nennen, „durchzumarschieren“ gedenken: keine Revision vom Hartz IV, keine Entspannung des Verhältnisses zu den Gewerkschaften, keine Zugeständnisse an die ostdeutschen Länder, wenn die ostdeutschen Minis ... | [
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] | 13. Juli 2004 10:04 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=338&share=email&nb=1 |
Kalkar: Steuerzentrale für den „Real World War” | Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, wird die Friedensbewegung einen anderen Blick auf diesen Tag richten, als das die Regierungsparteien und große Teile der Opposition tun: Die Friedenskräfte erinnern statt an den „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ an den 2+4-Vertrag der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und der beiden deutschen Staaten. In ihm haben sich die Staaten verpflichtet, eine europäische Friedensordnung aufzubauen, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten – somit auch die Russlands – berücksichtigt. Von Bernhard Trautvetter. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Am 3. Oktober demonstrieren Friedenskräfte bundesweit von Hamburg bis München, von Berlin bis ins nordrhein-westfälische Kalkar und darüber hinaus für eine „Friedens- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient“ und damit gegen die NATO-Expansion, die mit den vertraglichen Verpflichtungen Deutschlands, ohne die die Sowjetunion der Deutschen Einheit nie zugestimmt hätte, bricht. Sie tun dies in einer Zeit, in der die Ampel-Parteien und die CDU sowie die AfD eine Steigerung der Militärausgaben auf zwei Prozent der Gesamtwirtschaftlichen Leistung auf ihre Agenda geschrieben haben. Abrüstung statt Aufrüstung, Diplomatie statt Eskalation sind Kernforderungen der Friedenskräfte. Die Friedensbewegung an Rhein und Ruhr demonstriert bereits seit fast 10 Jahren in Kalkar gegen die von dort ausgehende Kriegsgefahr. Damals rückte die dortige Strategieschmiede »Joint Air Power Competence Centre« in ihren Tagungsunterlagen einen großen Krieg in Europa in den Bereich des Möglichen. Sie machten Staaten an der russischen Grenze als Ausgangspunkte für diesen Flächenbrand aus, also Staaten, die im Prozess der NATO-Expansion das größte Konfliktpotenzial bergen. Die Antwort der Strategen ist ein ‚angemessener Mix nuklearer und konventioneller „Fähigkeiten“, in anderen Worten, die Vorbereitung eines im Raum stehenden Atomkrieges. Da die NATO-Luftleitzentrale für den militärischen Luftraum zuständig ist, begleitet sie auch die seit Jahren regelmäßig stattfindenden Nato-Atomkriegsmanöver »Steadfast Noon« und »Cold Igloo«. Die von der NATO so genannte nukleare Teilhabe bedeutet, dass Deutschland US-Atomwaffen unter Verletzung des Atomwaffensperrvertrages für den Atomkrieg bereithält. In Kalkar und seiner Nachbargemeinde Uedem befindet sich zusätzlich das »Zentrum Weltraumoperationen« und das militärische »Geoinformationszentrum«. Damit kann die NATO satellitengestützt jedes Kriegsgeschehen in weiten Teilen der Erdkugel kontrollieren und ihre Luftwaffe dort jeweils steuern. Das »Geoinformationszentrum« dient der präzisen Vermessung von Angriffszielen. Somit ist Kalkar/Uedem für die Steuerung und Kontrolle auch von Atomschlägen nutzbar. Dies bewährte sich auch beim NATO-Großmanöver AIR DEFENDER 2023, für das die Strategen in Kalkar/Uedem das Szenario miterstellten und die Einsatzbefehle planten und erstellten. Dieses Mammut-Luftkriegsmanöver begründete die NATO mit dem Krieg in der Ukraine. In dem Manöver kamen auch die US-Atombomber F-35 zum Einsatz; damit ging es auch hier konkret an den Rand des Untergangs Europas. Zum Szenario des Manövers gehört, dass Deutschland zu einem Viertel von einer feindlichen Macht besetzt ist. Der „Befreiungsschlag“, den die NATO in ihrer Begründung des Manövers in den Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt stellte, rahmt sich in einen Krieg mit der Atommacht Russland ein. Die antirussische Stimmungsmache ist so brandgefährlich wie verlogen: Russland hätte schon aus rein militärischer Sicht gegen die Kräfte der NATO überhaupt keine Chance, Deutschland zu überfallen: Schon die reinen Zahlen verdeutlichen das, denn die Nato gibt circa das 15-Fache des russischen Militärhaushalts für ihren Militärsektor aus. Im Manöver ‚Kalkar Sky 22‘ ging es gegen eine Macht in East Cerasia. Wenn wir die drei Buchstaben ‚CER‘ weglassen, landen wir in East-Asia, also in China. Im Frühjahr 2024 folgt das erneut rekordverdächtig große Manöver »Steadfast Defender«. Der Name alleine verbindet das Atomkriegsmanöver »Steadfast Noon« mit dem Mega-Manöver dieses Jahres »Air Defender 2023«. Kalkar/Uedem wird eine zentrale Rolle in der Steuerung des Manövers spielen, ist es doch aktuell die Schaltzentrale für die Führung aller NATO-Luftbewegungen in Europa. Es folgt ein Zitat von der Bundeswehr-Website, die über diese Aufwertung des deutschen Standorts Kalkar triumphiert: Die NATO erweist sich auch hier wiederum überdeutlich als ein Bündnis, das aus der bewohnbaren Erde potenziell einen unbewohnbaren Planeten machen könnte – und sie nennt das »Real World«. Dieser sprachliche Trick soll wohl die Zerstörung des Lebens als Ausdruck eines Realismus mundgerecht für die Strategen machen, die das auszuführen haben. Es ist zu hoffen, dass die Bevölkerung rechtzeitig aufwacht. Es ist zu hoffen, dass der Friedensaktionstag am 3. Oktober die Unterstützung erhält, die gebraucht wird, um eine lebensrettende Wende durchzusetzen. In Kalkar und auch anderswo. Titelbild: Fortis Design / shutterstock.com | Bernhard Trautvetter | Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, wird die Friedensbewegung einen anderen Blick auf diesen Tag richten, als das die Regierungsparteien und große Teile der Opposition tun: Die Friedenskräfte erinnern statt an den „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ an den 2+4-Vertrag der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und der beiden deutschen Staaten. In ihm haben sic ... | [
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Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft wirbt mit Merkel und Beck | Dass Guido Westerwelle sein Konterfei für die INSM hergibt, wundert einen nicht, dass Angela Merkel als Inhaberin eines Staatsamtes sich als Reklameträgerin für diese (sich selbst so nennende) „neoliberale“ Propagandaagentur hergibt, ist schon bemerkenswert, dass noch nicht einmal Kurt Beck etwas dagegen unternimmt, in Anzeigen für die von den Arbeitgebern der Metall- und Elektroindustrie mit 8,8 Millionen Euro finanzierte Kampagne für einen marktradikalen Abbau des Sozialstaats platziert zu werden, beweist nur wie sich FDP, CDU und inzwischen auch die SPD vor den Karren der von dieser Initiative vorangetriebenen Ideologie spannen lassen [PDF – 855 KB].
Die SPD kann sich noch nicht mal herausreden, dass Kurt Beck ohne ihre Zustimmung für die INSM wirbt, denn das Foto stammt (laut Quellenangabe) von der sozialdemokratischen Werbeschrift „Schwerpunkte sozialdemokratischer Politik in der Bundesregierung 2006“.
Es gab einmal Zeiten in der SPD, da wurde Werbung für den politischen Gegner parteischädigend genannt – aber vielleicht ist die INSM ja gar kein politischer Gegner mehr. | Wolfgang Lieb | Dass Guido Westerwelle sein Konterfei für die INSM hergibt, wundert einen nicht, dass Angela Merkel als Inhaberin eines Staatsamtes sich als Reklameträgerin für diese (sich selbst so nennende) „neoliberale“ Propagandaagentur hergibt, ist schon bemerkenswert, dass noch nicht einmal Kurt Beck etwas dagegen unternimmt, in Anzeigen für die von den Arbeitgebern der Metall- und Elektroindustrie mit ... | [
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Digitalisierung, Industrie 4.0 und der fehlende philosophische Ansatz – Leserbriefe zum Grundeinkommen | Das Thema Grundeinkommen polarisiert nun bereits seit mehr als einem Jahrzehnt die deutsche Öffentlichkeit. Da ist es kaum verwunderlich, dass wir zu unserem Beitrag „Das Grundeinkommen ist kein `No-Brainer´“ zahlreiche Leserzuschriften bekamen. Es macht jedoch keinen Sinn, all diese Mails zu veröffentlichen, da sie oft sehr lang sind und die Argumente sich in großen Teilen gleichen. Daher habe ich mir zwei repräsentative kritische Mails herausgesucht und gleich im Text selbst auf die Leserbriefe geantwortet. Als kleinen Anhang gibt es dann noch zwei Zuschriften von Lesern, die sich für die gewonnenen Informationen bedanken. Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Bevor wir auf die Leserbriefe selbst eingehen, möchte ich Interessierte noch einmal darauf aufmerksam machen, dass die NachDenkSeiten sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt mit dem Thema beschäftigen und es zahlreiche Artikel gibt, die gute Informationen beinhalten. Darunter u.a. Weitergehende Informationen können Sie auch der gut gemachten Verdi-Publikation „Bedingungsloses Grundeinkommen“ entnehmen (zwei PDFs und eine Präsentation, beides unten auf der Seite verlinkt) Nun zu den Leserbriefen. Einige Leser wollten sich gar nicht auf die Frage der Finanzierbarkeit einlassen, sondern sehen ein BGE zwischen den Zeilen als „alternativlos“. Begründet wird dies mit der zunehmenden Rationalisierung und der damit angeblich einhergehenden zu erwartenden Massenarbeitslosigkeit. Repräsentativ dafür ist diese Zuschrift unseres Lesers Volker Frühling: Jens Berger: Dabei wird unterstellt, dass ein BGE tatsächlich die „Armut beseitigen“ würde. Und eben das lasse ich nicht gelten, wie ich im Artikel ja recht ausführlich darstelle. JB: Auch auf unserer Facebook-Seite kamen immer wieder die Schlagworte „Industrie 4.0“ und „Digitalisierung“, um die Notwendigkeit eines BGE herzuleiten. Das ist nicht wirklich verwunderlich, da diese beiden Schlagworte ja in den letzten Jahren inflationär von Medien und Verbänden in Szene gesetzt wurden, um das „reformmüde“ Volk zu weiteren Einschnitten in den Sozialstaat zu überreden. Dazu hatte erst vor wenigen Wochen Albrecht Müller einen Artikel geschrieben und auch die dazugehörigen Leserbriefe sind sehr interessant. Zum Schlagwort „Industrie 4.0“ hatte übrigens der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske eigens ein Vorwort für unser Jahrbuch 2014/2015 verfasst. Diese Thesen sind übrigens keinesfalls neu und wurden auch in diesem Kontext 1995 vom amerikanischen Zukunftsforscher Jeremy Rifkin in seinem einschlägigen Buch „Das Ende der Arbeit“ veröffentlicht. Ärgerlicherweise wurden diese Thesen jedoch viel zu selten kritisch überprüft und werden stattdessen bis heute unreflektiert nachgeplappert. Dabei ist das Buch nun auch schon 23 Jahre alt und man kann bereits einordnen, ob der Zukunftsforscher die Zukunft korrekt vorhergesagt hat. Eben dies ist nämlich nicht der Fall. Seine Kernthese vom Ende der Arbeit belegt Rifkin mit der Prognose, dass im Jahre 2010 (also 15 Jahre nach Erscheinen des Buches) der weltweite Anteil der Menschen, die im industriellen Sektor arbeiten, auf 12% und bis 2020 gar auf 2% gesunken sein soll. Laut aktuellen Zahlen der ILO betrug der Anteil 2017 jedoch 21,5% und damit sogar mehr als im Jahre 1995 (20,9%), in dem Rifkin das Ende der Arbeit prognostizierte. Rifkins 2% wirken da wie ein schlechter Scherz, werden aber in stets neuen Variationen auch heute noch unter das Volk gebracht. Nur dass jetzt die Arbeit natürlich nicht 2020, sondern erst 2050 zu Ende geht. Nun ja. Nach – je nach Definition – drei, vier oder gar fünf Jahrzehnten Digitalisierung ist es nicht so, dass uns die Arbeit ausgehen würde. Ganz im Gegenteil. Was wir momentan haben, ist ein Mangel an ordentlich bezahlter Arbeit. Aber das hat nur sehr, sehr wenig mit der Digitalisierung oder der Rationalisierung zu tun. Der Paketbote, der Wachmann oder die Friseurin sind ja nicht durch die Digitalisierung oder die Rationalisierung zu Niedriglöhnern geworden und in den ultramodernen durchrationalisierten Produktionshallen der Automobilindustrie werden keine schlechten Löhne bezahlt. Nur, dass der Mitarbeiter, der früher den Kotflügel ans Chassis geschweißt hat, an seinem alten Arbeitsplatz heute durch einen Roboter ersetzt wurde und daher nun am Soundeffekt der Gummidichtungen feilt. Die Arbeit ist nicht weg, sie hat sich vielmehr verlagert. Die prognostizierte Massenarbeitslosigkeit (Rifkin prognostizierte, dass bis 2020 fünf Sechstel der Werktätigen ihre Arbeit verlieren werden) ist ausgeblieben und wenn heute derartige Prognosen aufgestellt werden, so sind sie auch nicht glaubwürdiger; oder um es wissenschaftlicher zu formulieren: Derlei Prognosen fehlt schlichtweg die empirische Basis. JB: Das ist auszuschließen, da (s.o.) gerade die Menschen im Niedriglohnsektor ja weder durch die Rationalisierung oder Digitalisierung noch die Globalisierung bedroht werden. Mein Zeitungsbote wird auch in den nächsten Jahren weder durch eine Drohne oder einen kambodschanischen Boten ersetzt werden. JB: Wie schon geschrieben, ging die „Urprognose“ von Rifkin sogar von 5/6 aus. Offenbar muss man mit riesigen Zahlen klotzen, um wahrgenommen zu werden und seine Bücher verkaufen zu können. JB: Wenn ein Mensch 1.000 Euro BGE bekommt, dann 200 Euro Krankenkasse und 400 Euro Miete zahlen muss, hat er nicht mehr oder weniger Geld zur freien Verfügung als ein heutiger Empfänger von Hartz IV oder der Grundsicherung. Im Artikel bin ich auch auf die indirekten Empfänger der Sozialausgaben eingegangen, die durch das BGE zur Disposition gestellt werden. Sorgen Lehrer, Kindergärtner oder Altenpfleger nicht für Nachfrage? Hinzu kommt ein weiterer sehr wichtiger Faktor, wenn es um die Gesamtnachfrage geht: Was ist denn mit dem Geld zur Finanzierung des BGE? Wenn die Mittelschicht durch höhere Abgaben und/oder höhere Steuern zur Finanzierung herangezogen wird, wird auch Nachfrage vernichtet. Selbst wenn einige Nettoempfänger nun etwas mehr freies Geld zur Verfügung hätten, wäre dies gesamtwirtschaftlich nur eine „Rechte-Tasche-Linke-Tasche-Umverteilung“. JB: Gegenfrage: Verlieren die Menschen wirklich ihren Arbeitsplatz? Die Statistiken geben das einfach nicht her. Der zweite zentrale Kritikpunkt einiger Leser war die Fokussierung auf die „ökonomische Betrachtung“. Wobei ich ganz ehrlich sagen muss, dass ich mit derlei Kritik nicht sonderlich viel anfangen kann. Es ist doch klar, dass ich das Thema aus sozioökonomischer und gesamtwirtschaftlicher Perspektive betrachte. Die soziologischen oder philosophischen Aspekte sollen Autoren abhandeln, die sich mit so etwas besser auskennen. Auf diese Themen geht auch unser Leser Volker Jansen kritisch ein, der uns folgenden kritischen Brief geschrieben hat: JB: Bereits am Anfang muss ich da leider widersprechen. Wie ich im Artikel ausgeführt habe, ist bei einem derart tiefgreifenden Eingriff eine „Erprobung und Optimierung“ wohl nicht möglich. Denn wie soll man die von mir angesprochenen Zweitrundeneffekte denn „erproben“? JB: Da muss man freilich zwischen den propagierten Zielen des BGE und dem politischen Instrument BGE trennen; vor allem dann, wenn man wie die meisten Kritiker der Überzeugung ist, dass man die Ziele mit dem Instrument gar nicht erreichen kann. Das Ziel, das jeder Mensch ein möglichst selbstbestimmtes Leben frei von Zwängen führen kann und die Gemeinschaft ihm dafür einen sozioökonomischen Basissatz zur Verfügung stellt, ist beispielsweise für mich bereits durch die Grundrechte im Grundgesetz festgelegt und ich halte die Hartz-IV-Gesetzgebung und hier insbesondere die Sanktionen für verfassungswidrig. Dieses Ziel eines BGE teile ich demnach. Ich teile jedoch nicht den Ansatz, dass eine solche Leistung bedingungslos(!) sein darf; nicht nur, weil dies dem Prinzip des Sozialstaates widerspricht, sondern auch weil ich es für nicht zweckdienlich halte, wenn jedermann einen Sockelbetrag von der Gemeinschaft überwiesen bekommt. Würde man die Bedingungslosigkeit wegfallen lassen, würden sich auch die sehr schwerwiegenden ökonomischen Bedenken einfangen lassen, da dann der Umverteilungsbedarf wesentlich geringer wäre. JB: Es kann doch nicht Aufgabe der Gemeinschaft sein, ein aus den Fugen geratenes Niedriglohnsystem am Leben zu erhalten! Ziel muss es sein, dass diese Menschen von ihrer Arbeit leben können. Wenn man dies nicht so deutlich sagt und die Differenz aus einem Topf ausgleichen will, in den wir alle einzahlen, dann ist dies nichts anderes als eine Subventionierung von Unternehmen, die keine gesellschaftlich tragbaren Löhne zahlen. Daher ist die Einbeziehung von Vollzeitarbeitnehmern in die BGE-Debatte m.E. auch nicht sinnvoll. JB: Na selbstverständlich, aber braucht es dafür ein Umverteilungsmonster, bei dem eine Billion Euro umverteilt werden muss? Es kann doch nicht sein, dass wir den Raubbau an der gesetzlichen Rente einfach akzeptieren und keine notwendige Wiederherstellung eines gerechten Rentensystems fordern, sondern den Ausweg in einer Utopie sehen, die – das sehen ja selbst die meisten Befürworter des BGE so – noch gar nicht richtig durchdacht und auch mittel- bis langfristig kaum eine Chance auf Verwirklichung hat. Lassen Sie uns für eine gerechte Rente kämpfen, dann müssen wir die Armutsrentner auch nicht mehr vor den Karren der BGE-Forderungen spannen. JB: Natürlich. Gehen Sie bitte nicht den Neoliberalen auf den Leim, die durch ihre Sabotage des Sozialsystems nun den Eindruck vermitteln wollen, ein solches System sei nicht mehr zeitgemäß oder gar dem Untergang geweiht. Die lachen sich nämlich ins Fäustchen, wenn sie mitbekommen, dass Kritiker nun selbst das Sozialsystem abschreiben und abschaffen wollen. JB: Ganz einfach: Fast gar keine. Ich habe von einem Anhänger des BGE gelesen, dass man als Arbeitnehmer mit dem BGE im Rücken frei verhandeln könne und nicht erpressbar sei. Ist das so? Mal ganz ehrlich: Wie viele Arbeitnehmer kämen mit 1.000 Euro (vor Krankenversicherung und Miete bzw. Tilgung des Immobilienkredits) aus? Freiheit ist das nicht. Und da sind wir wieder beim Teufelskreis des BGE. Ein finanzierbares BGE ist zu niedrig, um die Menschen wirklich „frei“ zu machen und ein BGE, das die Menschen „frei“ macht, ist schlicht unfinanzierbar. Und das sind keine Spitzfindigkeiten eines Ökonomen, die die philosophische Ebene ignorieren, sondern schlicht Fakt. Man kann durchaus gesellschaftliche Utopien entwerfen. Aber man sollte dann auch klar sagen, dass es sich um Utopien handelt, die mittel- bis langfristig nicht realisierbar sind. Daher weigere ich mich auch, Betrachtungen darüber anzustellen, welchen Einfluss ein BGE auf die Kultur oder das Zusammenleben hätte. Natürlich gab es aber wieder auch zahlreiche sehr positive Zuschriften, wie diesen Brief von Udo Wellhöfer: Zufrieden war auch unser Leser Hans Becker: | Jens Berger | Das Thema Grundeinkommen polarisiert nun bereits seit mehr als einem Jahrzehnt die deutsche Öffentlichkeit. Da ist es kaum verwunderlich, dass wir zu unserem Beitrag „Das Grundeinkommen ist kein `No-Brainer´“ zahlreiche Leserzuschriften bekamen. Es macht jedoch keinen Sinn, all diese Mails zu veröffentlichen, da sie oft sehr lang sind und die Argumente sich in großen Teilen gleichen. Daher hab ... | [
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] | 09. Januar 2018 13:09 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=41849&share=email&nb=1 |
Suchergebnisse mindestlohn | Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (AT) | [] | [] | 15. Oktober 2021 16:05 | https://www.nachdenkseiten.de/?s=mindestlohn&Submit_x=0&Submit_y=0&paged=20 |
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Erfolge beim Aufbau von Gegenöffentlichkeit nicht unter den Teppich kehren | Meine Beiträge zu Anne Wills letzter Sendung und zum Umgang mit Olaf Henkel, haben eine kleine Diskussion mit NachDenkSeiten-Freundinnen/en über die Wahrnehmung und Darstellung der Aufklärungserfolge ausgelöst. Weil dies für viele unserer Leser von Interesse sein könnte, und übrigens viele von Ihnen zu den wahrnehmbaren Erfolgen beitragen, sei auf die Diskussion kurz eingegangen. Albrecht Müller.
Zum Hintergrund: Einige NachDenkSeiten-Leser/innen hatten kritisiert, dass ich in meinem ersten Beitrag vom 8. Februar nicht darauf hingewiesen hatte, dass das Publikum auf Henkel und Co. erstaunlich kritisch reagierte und die Argumente von Geißler und Wagenknecht unterstützten. Ich habe dann im zweiten Beitrag noch einmal auf die Machenschaften von Henkel hingewiesen und empfohlen, nachzusetzen und weiter die Methoden und Machenschaften dieser Kreise aufzuklären. Daraufhin erreichte uns eine interessante Mail aus Siegen: Soweit die Mail aus Siegen. Die Empfehlung, Erfolge nicht einfach wegzustecken, ist vermutlich richtig. Ein anderer NachDenkSeiten-Leser weist auf die Kommentare zu einzelnen Artikeln und die dort oft erkennbare aufgeklärt kritische Stimmung hin. Ich zitiere auch seine Mail: Die Strukturen der Meinungsmache sichtbar zu machen, war in der Tat der Grundgedanke bei der Gründung der NachDenkSeiten.
Wir hätten diese Arbeit aber bisher und könnten sie auch künftig ohne die vielen interessanten Hinweise unserer Leserinnen und Leser nicht leisten. Ihnen und insbesondere den täglich mitarbeitenden Helferinnen und Helfern gilt deshalb Lob und Anerkennung in gleicher Weise. Sie sind mit uns und übrigens einer Reihe anderer Medien die Träger und Förderer des „Langsam erwachen sie“ und damit auch die Adressaten der folgenden Mail: Damit es weiter bergauf geht: Machen Sie bitte andere Menschen in Ihrem Umfeld auf die NachDenkSeiten aufmerksam und nutzen Sie, wenn es Ihnen nicht lästig ist, die Foren und Kommentare der einschlägigen Medien.
Wir hören inzwischen zwar oft Klagen darüber, dass kritische Beiträge von den Redaktionen verändert oder herausgeworfen werden. Das sollten wir als Schwäche sehen und nachsetzen. | Albrecht Müller | Meine Beiträge zu Anne Wills letzter Sendung und zum Umgang mit Olaf Henkel, haben eine kleine Diskussion mit NachDenkSeiten-Freundinnen/en über die Wahrnehmung und Darstellung der Aufklärungserfolge ausgelöst. Weil dies für viele unserer Leser von Interesse sein könnte, und übrigens viele von Ihnen zu den wahrnehmbaren Erfolgen beitragen, sei auf die Diskussion kurz eingegangen. Albrecht Müll ... | [
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] | 12. Februar 2010 13:09 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=4520 |
Hinter dem Streit um die Nachfolge von Ursula Engelen-Kefer als DGB-Vize-Chefin steht mehr als eine Personalfrage. | Gerade in Zeiten einer Großenkoalition, wo der politische Streit eher unter den Teppich gekehrt wird, wo die kleinen Oppositionsparteien nicht mehr in die veröffentlichte Debatte vordringen, wären die großen gesellschaftlichen Institutionen, wie die Gewerkschaften gefordert, außerparlamentarisch die Regierung anzutreiben und die von ihr gemachte Politik, mit den eigenen Vorstellungen und Konzepten zu konfrontieren. Statt nun alle, wirklich alle Kraft darauf zu konzentrieren, auf dem Feld einer arbeitnehmerorientierten Sozial- und Wirtschaftspolitik in die Offensive zu gehen, betreiben einige „hohe Gewerkschaftsfunktionäre“ eine ziemlich jämmerliche Personaldebatte, um die Nachfolge von Ursula Engelen-Kefer als stellvertretende DGB-Vorsitzende.
Mit der Bildung einer großen Koalition wurde der von Schröder mit seiner Agenda eingeleitete „Reformkurs“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stabilisiert. Die eindimensional angebotsorientierte Wirtschaftspolitik wird fortgesetzt, in der Koalitionsvereinbarung steht weiterhin die Verbesserung der Investitionsbedingungen für die Unternehmen mit weiteren Steuererleichterungen, erweiterte Abschreibungsbedingungen und Investitionsanreizen im Vordergrund. Das auf vier Jahre angelegte „Investitionsprogramm“ ist eher ein Placebo.
Die Sozialpolitik, so hört man uni sono, soll sich auf Fürsorge für Bedürftige reduzieren.
Vor allem wegen dieses angestrebten, in der Koalition nicht mehr kontroversen Systemswechsels weg von einer solidarischen Absicherung gegen die Risiken des Arbeitsmarktes und weg von einer eine auskömmlichen umlagefinanzierten Altersvorsorge, wäre es wichtig, dass die Gewerkschaften, als die Vertretung der Arbeitnehmer, die von diesem Systemwechsel unmittelbar betroffen sind, das Schweigekartell der Großkoalitionäre mit ihren eigenen Vorstellungen und Konzepten des im Grundgesetz verankerten Sozialstaates konfrontieren. Da Politik in einer zunehmend medial vermittelten Demokratie vor allem über Personen vermittelt wird, wäre es wichtig, dass es im geschäftsführenden Bundesverstand des DGB kompetente, kampferfahrene und mutige Stimmen gäbe, die sich auf dem Feld der Sozial-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits- oder Rentenpolitik öffentliches und politisches Gehör verschaffen könnten. Die seit 16 Jahren dem DGB-Bundesvorstand angehörende stellvertretende Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer hat das mit all ihrer Kraft immer wieder getan. Sie hat die Positionen des DGB vehement vertreten, wo andere Gewerkschaftsvertreter schon mit der Schere des Kompromisses im Kopf in die Debatte gingen. Sie hat im öffentlichen und medialen Streit oft genug ziemlich alleine gelassen mit ihrer Fachkompetenz gegen den Strom angekämpft.
Als zerbrechlich wirkende Frau wurde sie mit ihrer Renitenz nur allzu oft offen oder hinter vorgehaltener Hand von den politischen Platzhirschen und den machohaften Medienprofis als „Nervensäge“ abgestempelt. Sie hat sich in Expertenkreisen Respekt verschafft, aber sich selbst unter den Gewerkschaften, aber auch im SPD-Bundesvorstand, in der Union und schon gar in der FDP nur wenige „Freunde“ geschaffen. Sie musste deshalb viele verdeckte und offene Anfeindungen aushalten. Weil sie Prinzipientreue nicht mit Sturheit oder gar Unbelehrbarkeit verwechselt hat, war sie durchaus zu Kompromissen bereit und hat ihren Kopf dafür hingehalten, was ihr oft wiederum Kritik von der eigenen Gewerkschaftsbasis eingetragen hat. Oft saß sie also zwischen allen Stühlen. Die Vize-Chefin des DGB ist nun 63 Jahre alt, und in diesem Alter wäre es ihr zu gönnen, wenn sie sich aus der vordersten Front der Gewerkschaftsarbeit etwas zurückziehen könnte. Nichts dagegen zu sagen also, wenn sich die Findungskommission der verschiedenen Einzelgewerkschaften Gedanken über eine Nachfolge macht. Für eine Organisation, die ihren Bundeskongress unter das Motto stellt „Die Würde des Menschen ist unser Maßstab“, ist allerdings die Form, in der diese Nachfolgedebatte geführt wird, alles andere als angemessen. Da wird argumentiert, man könne nicht glaubhaft gegen die Rente mit 67 Jahren mobilisieren, wenn man jemand im Alter von 63 nochmals wählen würde, da wird über die Bande der Medien gespielt, es wird anonym Boshaftes kolportiert, sie wird in die linke Ecke gestellt und vor allem wird sie als Traditionalistin, als Vertreterin des „alten“ oder nostalgischen Sozialstaatsdenkens abgetan. Spätestens hier geht die Personaldebatte über die Personen weit hinaus und trifft das Kernanliegen der Gewerkschaftsbewegung, nämlich die Zukunft einer arbeitnehmerorientierten Sozialpolitik. Haben sich nicht schon allzuviele in den Spitzen der Einzelgewerkschaften und im DGB entgegen der Beschlusslage und entgegen mancher Reden auf Gewerkschaftstagen mit der „gründlichen Umgestaltung des Sozialstaates“ und mit einer Reduktion der Sozialsysteme auf eine „Grundversorgung“ abgefunden? Wird von Gewerkschaften wie der IG BCE oder von Transnet nicht schon ganz offen mit einer Spaltung der Gewerkschaftsbewegung gedroht? Hat nicht ein großer Teil der Funktionäre trotz verbaler Attacken die „Hartz-Reformen“, die Privatisierung der Rente oder die Gesundheitsreform vor allem auf dem Rücken der Patienten schon längst geschluckt? Hat man sich nicht schon die Tolerierung des „Agenda-Kurses“ dadurch abkaufen lassen, dass (jedenfalls vorläufig und auf der gesetzlichen Ebene) nicht weiter in die Tarifautonomie eingeschnitten werden soll? Hat man nicht auch in der Gewerkschaftsbewegung – ähnlich wie in der SPD – schon längst unausgesprochen und unausdiskutiert einen Kurswechsel „von oben“ vollzogen? Das wären die Themen, die vor einer personellen Neuaufstellung des DGB-Bundesvorstandes an- und ausgesprochen werden müssten. Und auf diesem Feld müssten sich mögliche Nachfolgerinnen oder Nachfolger profilieren und sich mit Engelen-Kefer streiten und messen, damit die Delegierten eine politische Wahl- und Personalentscheidung treffen könnten.
Die zentrale Frage für den gewerkschaftlichen Dachverband müsste sein, wer wäre in der Lage und wer hätte die Statur gerade in einer Phase, in der die gewerkschaftliche Programmatik und die Interessen der Arbeitnehmer auf dem Feld der Sozialpolitik völlig in die Defensive geraten sind, Ursula Engelen-Kefer zu ersetzen und ihre Rolle besser auszufüllen. Stattdessen wird hinter verschlossenen Türen und bei Pressegesprächen allenfalls mit geschlossenem Visier über Äußerlichkeiten der langjährigen DGB-Vorsitzenden gelästert. Das ist eine Form des Streits, der weder solidarisch, geschweige denn der schwierigen und schwach geworden Position der Gewerkschaften in der politischen Auseinandersetzung angemessen ist. Zum Schaden für den DGB und für die von ihm vertretenen Arbeitnehmer. Die Arbeitgeberseite und vor allem die Versicherungswirtschaft, mit der Engelen-Kefer wegen des sog. Rückholfaktors bei der „Riester-Rente“ in heftigem Streit lag, dürften erleichtert aufatmen. | Wolfgang Lieb | Gerade in Zeiten einer Großenkoalition, wo der politische Streit eher unter den Teppich gekehrt wird, wo die kleinen Oppositionsparteien nicht mehr in die veröffentlichte Debatte vordringen, wären die großen gesellschaftlichen Institutionen, wie die Gewerkschaften gefordert, außerparlamentarisch die Regierung anzutreiben und die von ihr gemachte Politik, mit den eigenen Vorstellungen und Konze ... | [
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] | 25. Januar 2006 14:24 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=1029&share=email |
Buchrezension: Neue Wirtschaftspolitik – von Richard Werner | Nicht Deregulierung und Liberalisierung sind Richard Werner zufolge die Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand, sondern eine ausreichende und zielgerichtete Bankkreditversorgung. Die Hauptverantwortung für Spekulationskrisen und Rezessionen weist er den Zentralbanken zu. Seine Thesen scheinen außergewöhnlich solide empirisch fundiert zu sein. Eine Rezension von Kai Ruhsert. „Lesezeit ist knapp, man sollte sie nicht an zeitgenössische Spinner und Fanatiker verschwenden“, riet einst ein Ökonom den Lesern seines Blogs, als er nach empfehlenswerter Fachliteratur gefragt wurde. Wer sich an diese Empfehlung zu halten versucht, blendet aus der eigenen Wahrnehmung unter Umständen aber auch sehr fundierte Kritik an den Lehren des volkswirtschaftlichen Mainstreams aus. Kriterien dafür, ob die Thesen eines weniger bekannten Außenseiters Aufmerksamkeit verdienen, kann die Empirie liefern. Richard Werner, Inhaber des Lehrstuhls für Bankwissenschaften an der Universität von Southampton, will in „Neue Wirtschaftspolitik“ eine empirisch begründete Antwort auf die Frage geben, welchen Einfluss Geld- und Finanzpolitik tatsächlich auf das Wirtschaftswachstum ausüben können. Sein Anspruch reicht erheblich weiter, als nur einige Widersprüche der bisherigen volkswirtschaftlichen Lehre zur Realität aufzuzeigen: „Die erste Hälfte dieses Buches ist damit beschäftigt, zu zeigen, dass die heutige Makroökonomie mehr Fiktion als Realität ist. Die zweite Hälfte zeigt einige Grundlagen einer nicht-fiktiven, sondern realistischen und daher wissenschaftlichen Volkswirtschaftslehre.“ Einordnung in die wirtschaftspolitische Debatte Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Kollegen geht Richard Werner davon aus, dass der Vorgang der Markträumung durch ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage eine Ausnahmeerscheinung ist: Diese Kritik richtet sich gegen alle bedeutenden Strömungen der Volkswirtschaftslehre, unabhängig davon, ob sie angebots- oder nachfrageorientiert sind. *1 Deregulierungen steht Werner skeptisch gegenüber. Zu zahlreich seien die Beispiele, wie der Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen Partikularinteressen bediente, den Volkswirtschaften insgesamt jedoch schadete und Wohlstandsverluste verursachte. In den analytischen Kapiteln distanziert Richard Werner sich überaus deutlich vom „Mainstream der traditionellen Ökonomie“. Seine konkreten Politikempfehlungen entfernen sich hingegen nicht allzu weit von dem, was manche andere Autoren als expansiven Mix aus Geld-, Lohn- und Finanzpolitik vorschlagen. Der wichtigste Unterschied besteht in der präzisen, empirisch fundierten Analyse der Interdependenzen der Einzelmaßnahmen. Richard Werner beschreibt detailliert, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit staatliche Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur die gewünschte Wirkung entfalten können: Werner baut auf bekannten Arbeiten auf: Zur Kreditmengenrationierung zitiert er u.a. Veröffentlichungen von Joseph E. Stiglitz. Die sogenannte „produktive Kreditschöpfung“ war von der deutschen Reichsbank unter ihrem Präsidenten Hjalmar Schacht von 1933 bis 1937 als wirtschaftspolitisches Steuerungsinstrument praktisch eingesetzt worden; einige Bekanntheit hatte 1931 bereits ein Referat von Wilhelm Lautenbach mit dem Titel „Konjunkturbelebung durch Investition und Kreditausweitung“ erlangt. Richard Werner leistet vor allem eine Überprüfung und iterative Vertiefung der damit zusammenhängenden Thesen anhand der Ergebnisse von Zeitreihenanalysen. Besondere Aktualität gewinnt dieses Buch durch die wirtschaftspolitische Diskussion in Deutschland im Dezember 2008. Die Überzeugung, der Staat müsse etwas zur Ankurbelung der Konjunktur tun, hat sich durchgesetzt; kaum jemand will sich nachsagen lassen, zu spät gehandelt zu haben. Doch die Gemeinsamkeiten enden bereits bei der Analyse der Situation (Rezession, beginnende Deflation oder Depression? Liquiditäts- oder Investitionsfalle?). Und niemand wagt eine Prognose, ob die weltweit beschlossenen Konjunkturprogramme die erhoffte Wirkung zeigen oder (wie im Japan der neunziger Jahre) scheitern werden. Besonders vor diesem Hintergrund allgemeiner Konfusion beeindruckt die Argumentation von Richard Werner durch Klarheit und Stringenz. Das Rätsel der japanischen Krise Zu Beginn des Buches erläutert Werner, wie Japan in den neunziger Jahren in eine schwere, wirtschaftliche Krise geriet, deren Verlauf bis heute unerklärlich zu sein scheint (Hervorhebungen von KR): Richard Werner lebte in den neunziger Jahren selbst in Japan. Für ihn war das Rätsel der japanischen Krise Anlass für Zweifel an der zeitgenössischen Ökonomie: Auf der Suche nach einer umfassenden und belastbaren Erklärung der Ereignisse in Japan entwickelt Richard Werner in seinem Buch „Neue Wirtschaftspolitik“ einige ungewöhnliche Hypothesen. Werner entschied sich für einen streng ökonometrischen Ansatz: Ausnahmslos jede Annahme muss sich einer empirischen Überprüfung unterziehen. Eine Reihe geläufiger Aussagen der traditionellen Ökonomie (z.B. über die Zinsabhängigkeit des Wachstums, die Funktionsweise des Kreditmarkts oder die Grenzen der Fiskalpolitik) bestehen diese Tests nicht und stellen sich als Irrtümer heraus. Wie leicht scheinbares Wissen über gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge durch einfache, empirische Überprüfungen in Frage gestellt werden kann, soll an einem Beispiel aufgezeigt werden. Zins und Konjunktur Unbestritten ist, dass die Konjunktur von vielen Faktoren beeinflusst wird. Die große Mehrheit der Ökonomen geht ferner davon aus, dass die Geldpolitik über Veränderungen der Leitzinsen auf das Wirtschaftswachstum einwirken kann: Höhere Zinsen dämpfen die Konjunktur, niedrigere Zinsen haben hingegen eine tendenziell belebende Wirkung, so die Annahme. Richard Werner dazu: Beispielhaft seien hier zwei Vertreter der EZB zitiert. So postuliert etwa Gertrude Tumpel-Gugerell, Mitglied des Direktoriums der EZB, wachstumsfördernde Wirkungen niedriger Zinsen: Quelle: EZB Otmar Issing, ebenfalls Mitglied des Direktoriums der EZB, warnt umgekehrt vor den Folgen hoher Zinsen: Quelle: EZB Ein Blick in das Wirtschafts-Wiki des Handelsblatts bestätigt die weite Verbreitung dieser These: Quelle: Handelsblatt Überprüfung der These Wenn es den behaupteten Einfluss von Zinsniveauänderungen auf das Wachstum tatsächlich gäbe, müssten Zins und Wachstum negativ korrelieren. Da für beide Größen Zeitreihen über mehrere Jahrzehnte vorliegen, steht einer statistischen Überprüfung nichts entgegen. Hier die grafische Darstellung des Verlaufs der beiden Größen in Japan (die Nummerierungen der Abbildungen wurden aus dem Buch übernommen): Richard Werner dazu: Ebenso in den USA: Richard Werner: Der praktische Versuch zeigt, dass jeder Betrachter dieser Grafiken Zeitintervalle sucht und findet, die seine Überzeugung zu bestätigen scheinen. Eine unvoreingenommene Sichtung der Diagramme für die USA, Japan, Europa und Deutschland ergibt, dass Zins und Wachstum zwar manchmal gegensinnig verlaufen, das Wachstum dem Zins jedoch meist vorausläuft. In Deutschland etwa folgten Basiszinssatz und Tagesgeldindex dem Wirtschaftswachstum im Zeitraum von 1998 bis 2008 recht genau mit einer Verzögerung von ca. einem Jahr (siehe z.B. das Wachstums-Observatorium von Prof. Dr. Thomas von der Vring [PDF – 580 KB]). Diese Beobachtung wird von Kleinstquadrat-Regressionen der nominalen und realen Werte von Wachstum und Zins in Japan und den USA aus den Jahren 1982 bis 2002 schließlich bestätigt: „Wir stellen fest, in allen vier Fällen finden sich keine Anzeichen, die auf eine negative Korrelation hindeuten – alle Koeffizienten für Zinsen sind positiv und signifikant.“ *2 Wachstum und Geldpolitik Die Annahme, höhere Zinsen würden das Wachstum bremsen und niedrigere es tendenziell fördern, ist also ohne empirische Grundlage. Das ist für Richard Werner jedoch keineswegs ein Grund, die Bedeutung der Geldpolitik in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Als Ergebnis einer Reihe weiterer, empirischer Untersuchungen weist er den Zentralbanken sogar eine überragend große Verantwortung für das Wachstum zu. Einerseits hätten Zentralbanken die Konjunktur durch eine zu kontraktive Geldpolitik häufig abgewürgt; andererseits seien sie wiederholt für die Entstehung von Spekulationskrisen verantwortlich gewesen, indem sie in großem Umfang Kredite für nichtproduktive (d.h. spekulative) Verwendungen zuließen. Welche Größen sind wirklich wachstumsrelevant? Wenn der Zins als exogene Größe, mit der sich das Wachstum beeinflussen lässt, ausscheidet, stellt sich die Frage, welche anderen Größen diesen Platz einnehmen können. Ein kritischer Blick auf die bislang als gültig angesehenen Annahmen weist den Weg zu neuen Hypothesen. Der angebliche Einfluss der Zinsen auf das Wachstum beruht auf der Annahme einer indirekten Wirkung: Steigen die Zinsen, so würden Investitionen wegen der teureren Finanzierung verschoben oder ganz gestrichen. Das wirke sich dämpfend auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und somit auf das Wachstum aus. Diese Wirkungskette erscheint nur auf den ersten Blick uneingeschränkt plausibel. Bei genauerem Hinsehen fallen mindestens zwei implizite Annahmen auf, die es zu hinterfragen gilt: Zu a: Nur Banken schöpfen neues Geld Richard Werner zufolge werde die Bedeutung der Banken häufig unterschätzt, was Ausgangspunkt für eine lange Kette von Missverständnissen sei. Zwischen Banken und Nichtbanken-Finanzinstitutionen gibt es einen fundamentalen Unterschied: „Anders als in den meisten Lehrbüchern dargestellt, schafft jede einzelne Bank durch die Vergabe eines Kredits neue Kaufkraft und neues Geld.“ Wenn eine Bank von einem Kunden eine Geldeinlage entgegennimmt, dann kann sie diese vollständig als Reserve bei der Zentralbank einreichen. Dies versetzt sie in die Lage, anschließend einen Kredit zu vergeben, der nicht durch Einlagen in gleicher Höhe gedeckt sein muss (weil Richard Werner zufolge auch der Kredit als Einlagengutschrift bei der Bank verbucht wird und zu einer Bilanzverlängerung führt). So kann eine Bank bei einer Einlage von z.B. 100 Euro und einer (ebenfalls beispielhaft angenommenen) Mindestreserve von 1% einen Kredit in Höhe von 9.900 Euro gewähren. Dieses Geld und diese Kaufkraft gab es vorher nicht! Richard Werner hierzu: Im Gegensatz dazu agiert der Nichtbankenfinanzsektor nur als Intermediär, der Geld von Anlegern entgegennimmt und an Gläubiger weiterreicht. Anders als bei Banken muss jeder Kredit vollständig durch Einlagen gedeckt sein. Richard Werner leitet daraus die Annahme eines Verdrängungseffekts ab: Wird eine Investition aus Sparanlagen finanziert, so wird kein neues Kapital und damit keine neue Kaufkraft geschaffen, sondern nur bereits vorhandenes Kapital von einer Verwendung abgezogen und in eine andere umgelenkt. Einen Effekt auf das BIP hätte dies nicht. *3 Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen: Zu b: Kreditmengenrationierung Ein weiteres Missverständnis betrifft das Wesen des Kreditmarkts. Mehr Nachfrage nach Kredit habe mehr Kreditvergabe zur Folge, so die mehr oder weniger implizite Annahme. Tatsächlich ist die Nachfrage nach Bankkrediten immer größer als das Angebot, auch in Zeiten schwacher Konjunktur oder hoher Zinsen. Stets finden die Banken mehr als genügend Kreditsuchende, um das zulässige und von ihnen selbst angestrebte Volumen an Krediten auszubringen. Wer von den Banken als Kreditnehmer abgelehnt wird, muss das benötigte Kapital aus anderen Quellen beschaffen. Der Bankkreditmarkt erweist sich bei genauerem Hinsehen als rationierter Anbietermarkt. Einen markträumenden Gleichgewichtspreis als Ergebnis von Angebot und Nachfrage gibt es bei Bankkrediten nicht. Daraus leitet Richard Werner die These ab, dass Zinsänderungen keinen Einfluss auf das Bankkreditvolumen haben. Das Volumen an ausgebrachten Krediten hänge nicht von der Nachfrage der Kreditnehmer, sondern von der Risikobereitschaft der Banken und von ihren Refinanzierungsmöglichkeiten ab. Letztere werden von der Zentralbank bestimmt. Bankkredite und Wachstum Die Kreditschöpfung der Banken unterliegt der Aufsicht und Kontrolle der jeweiligen Zentralbank. Sie allein entscheidet über eine expansivere oder kontraktivere Ausrichtung der Geldpolitik. Auf der Suche nach wachstumsbeeinflussenden Faktoren, die exogener Natur sind, also grundsätzlich der Kontrolle durch Geld- oder Fiskalpolitik unterliegen, ist die Kreditschöpfung der Banken somit ein geeigneter Kandidat: Diese wird nicht vom mehr oder weniger freien Spiel der Marktkräfte bestimmt, sondern unterliegt der administrativen Kontrolle durch Institutionen. Aber kann sie auch tatsächlich das Wirtschaftswachstum beeinflussen? Bei der Klärung dieser zentralen Frage auf empirischem Wege ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass ein Teil der Bankkredite für das Wirtschaftswachstum von vornherein irrelevant ist: In anderen Worten: Ein Teil der Kreditschöpfung wird in der Regel für BIP-neutrale Transaktionen verwendet, die nichts zum Wachstum beitragen.
Möchte man also untersuchen, inwieweit die Bankkreditvergabe sich auf das Wachstum auswirkt, so ist eine Kreditdisaggregation nach BIP-relevanter und BIP-neutraler Verwendung unumgänglich. Der BIP-neutrale Anteil der Kredite kann mit den öffentlich zugänglichen Statistiken nicht genau bestimmt werden. Es lässt sich aber doch grob sagen, dass spekulative Investitionen typischerweise vom Immobiliensektor, dem Baubereich *4 oder Finanzinstitutionen ohne Bankstatus getätigt werden. Bankkredite an diese drei Sektoren blendete Richard Werner daher bei seinen empirischen Untersuchungen aus. Richard Werners Wachstumshypothese Werner räumt der produktiv verwendeten Bankkreditschöpfung einen entscheidenden Einfluss auf das Wirtschaftswachstum ein:
„Da die Mehrzahl der Transaktionen mit Buchgeld (oder „Bankgeld“) bezahlt wird, muss eben Geld dieses Typs in zunehmendem Umfang verfügbar sein, damit Wachstum möglich wird. Die Menge des Geldes, die für neue Transaktionen zur Verfügung steht, unterliegt einer Budgetrestriktion. Diese wird vorgegeben durch die Kreditschöpfung. Insbesondere gilt: Der Anstieg der Kreditschöpfung, welche der Finanzierung BIP-wirksamer Transaktionen dient, ist notwendige und hinreichende Bedingung für das Wachstum des nominalen BIP: (1) ∆ (PrY) = Vr∆Cr (1) ist die aufgeschlüsselte Quantitätsgleichung; darin gilt
Pr = BIP-Deflator
PrY = nominales BIP
Vr = Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, das für BIP-relevante Transaktionen verwendet wird
Cr = Kreditschöpfung für BIP-relevante Verwendungen“ Die Granger-Analyse Im Mittelpunkt des Buches steht die ökonometrische Gewinnung eines Wachstumsmodells auf Basis der japanischen Wirtschaftsdaten. Damit soll die Frage beantwortet werden, welche Werkzeuge der Geld- und Finanzpolitik tatsächlich wachstumsrelevant sind. Richard Werner über das von ihm angewandte Testverfahren: Ausgangspunkt ist ein allgemeines und umfassend formuliertes Wachstumsmodell, das allen (auch den traditionellen) Erklärungsmustern Raum bietet; alle bekannten und häufig diskutierten Einflussgrößen bekommen ihren Platz und somit die Gelegenheit, sich empirisch zu bewähren. Darunter sind: Die nicht signifikanten Parameter werden schließlich mit Hilfe des Granger-Kausalitätstests auf Basis der ökonomischen Zeitreihen Japans aussortiert. Wikipedia über den Granger-Kausalitätstest (Stand Dezember 2008): „In der Ökonometrie begnügt man sich mit einem z. B. gegenüber der Philosophie eingeschränkten Kausalitätsbegriff. Bei diesem steht die zeitliche Ordnung der Variablen im Vordergrund. Entscheidend geprägt wurde der Kausalitätsbegriff der Ökonometrie von Granger. Dieser arbeitet mit der Prämisse, dass die Vergangenheit die Zukunft bestimmt und nicht umgekehrt. Sie besagt, dass eine Variable X für Y Granger-kausal ist, wenn bei einer gegebenen Informationsmenge bis zum Zeitpunkt t-1 im Zeitpunkt t die Variable Y besser prognostiziert werden kann, als ohne den Einbezug der Variablen X.“
Quelle: Wikipedia In anderen Worten: Der von Richard Werner angewandte Granger-Kausalitätstest kann bei Vorliegen einer Korrelation zwischen zwei Größen Ursache und Wirkung bestimmen. Dabei geht man von der Annahme aus, dass die Wirkung zeitlich verzögert eintritt und die Steuervariable sich zuerst ändern muss. Die Ergebnisse der Tests sind eindeutig: Anwendung auf verschiedene Länder Japan: Deutschland: Schweiz: Die These, das Wachstum werde vorrangig von der Bankkreditschöpfung bestimmt, wirft eine Reihe von Fragen auf: Die Grenzen der Kreditschöpfung Für die Befürchtung, Richard Werner wolle ohne Rücksicht auf die Inflation den Geldmarkt fluten, besteht kein Grund. Ein großer Teil des Buches befasst sich damit, wie Zentralbanken Spekulationsblasen verursachten, indem sie Kredite mit nichtproduktiver (=spekulativer) Verwendung förderten. Hinsichtlich der Folgen einer gesteigerten Kreditschöpfung ist zwischen mehreren Fällen zu unterscheiden: Die Preiswirkung der Kreditschöpfung bei Vollbeschäftigung: Denn Anders verhält es sich bei der Finanzierung nicht BIP-relevanter Investitionen: Wieder anders sieht es bei der Finanzierung von Konsum aus: Das gesamtwirtschaftlich optimale Ziel ist die (Hierbei kann die Fiskalpolitik unterstützend eingreifen, immer vorausgesetzt, sie wird per Kreditschöpfung finanziert.) Der Weg zum Ziel führt über die Banken: Richard Werner plädiert für direkte Eingriffe des Staates. Dieser „könnte … direkt in die Entscheidungsprozesse eingreifen“, indem er „entscheidet, wie groß das Kreditvolumen insgesamt sein darf … und wem … die neu geschaffenen Mittel überlassen werden sollen. Bei der Überwachung der privaten Geschäftsbanken steht der Zentralbank die ganze Bandbreite von formellen Weisungen bis zu formlosen Empfehlungen zu Gebote.“ Dieses Vorgehen habe sich nicht nur in der Vergangenheit bewährt: Eine Europäische Zentralbank, die sich nur der Inflationsbekämpfung verpflichtet sieht und die Konsequenzen ihrer Entscheidungen dank völliger Unabhängigkeit vor niemandem verantworten muss, ist für diese Aufgabe natürlich nicht geeignet. Welche Rolle bleibt der Fiskalpolitik? Die gigantischen Konjunkturprogramme im Japan der Neunziger gelten als gescheitert. Warum schlugen sie fehl? Schon ein erster Blick auf die private und öffentliche Nachfrage in Japan von 1990 bis 2001 weist eine nahezu spiegelbildliche Entwicklung aus: Auch diese Hypothese hat Richard Werner empirisch überprüft. Wird das aktuelle nominale BIP zerlegt in die Komponenten private und öffentliche Nachfrage, so kann der Zusammenhang zwischen privater Nachfrage und Staatsausgaben untersucht werden: „Sollte eine vollständige Mengenverdrängung (pro gegebener Kreditschöpfung) vorliegen, so würde die Regression … für die Staatsausgaben“ einen Koeffizienten von -1 ergeben müssen.
Das ermittelte Ergebnis für den Zeitraum 1983 bis 2001 liegt bei -0,974! In anderen Worten: Staatliche Konjunkturprogramme, die nicht von einer expansiven Geldpolitik in Form erhöhter Kreditschöpfung (der Zentralbank und der Geschäftsbanken) unterstützt werden, müssen fehlschlagen: Aus aktuellem Anlass: Zur Verhinderung von Bankenkrisen Richard Werner sieht die Ursachen für Bankenkrisen zum einen in einer Fehlsteuerung durch die Zentralbanken und zum anderen in einer unzureichenden Regulierung der Kreditvergabe. Die Praxis der Kreditschöpfung richtet sich heutzutage nur nach den kurzfristigen, betriebswirtschaftlichen Einzelinteressen der Banken. Gesamtwirtschaftliche Erfordernisse (etwa die Vermeidung spekulativer Kreditvergabe oder die Notwendigkeit, die Produktivität der Volkswirtschaft insgesamt zu steigern) finden bei der konkreten Entscheidungsfindung infolge der weltweiten Deregulierung des Finanzsektors keine Berücksichtigung mehr.
Institutionelle Veränderungen vorausgesetzt, wäre Vorbeugung aber durchaus möglich: Maßnahmen gegen eine Bankenkrise Die Rezension der 1990er Jahre in Japan war von einer Austrocknung der Kreditschöpfungsquellen geprägt. Auf die Frage, was gegen die Bankenkrise in Japan hätte getan werden können, hält Richard Werner eine originelle Antwort bereit: Kritikpunkte Fazit: Empfehlenswert und wichtig. Richard Werner räumt mit Vorurteilen der traditionellen Ökonomie auf und entwickelt Grundlagen für ein neues Verständnis der Wirkungen von Geld- und Fiskalpolitik, die für eine aktive Wachstumspolitik von großer Bedeutung sein könnten. Richard Werner
Neue Wirtschaftspolitik
Verlag Fran Vahlen, München
496 Seiten
ISBN 978 3 8006 3247 3 Fußnoten: | Kai Ruhsert | Nicht Deregulierung und Liberalisierung sind Richard Werner zufolge die Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand, sondern eine ausreichende und zielgerichtete Bankkreditversorgung. Die Hauptverantwortung für Spekulationskrisen und Rezessionen weist er den Zentralbanken zu. Seine Thesen scheinen außergewöhnlich solide empirisch fundiert zu sein. Eine Rezension von Kai Ruhsert.
„Lesezeit ... | [
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] | 12. Dezember 2008 12:01 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=3662 |
Nachtrag zur „Anstalt“: Reales Rentenminus 34%!! – Der Faktencheck der Sendung enthält interessante Zahlen | Dass Riester, Rürup, Raffelhüschen, Schröder, Steinmeier, Merkel, Schäuble, Müntefering und Nahles noch einen einigermaßen ordentlichen Ruf haben, zeugt vom gebrochenen Rechtsempfinden. Denn diese Personen haben die Rentner enteignet; sie haben es bewusst getan und sie machen so weiter, um der Finanzwirtschaft ein lukratives Geschäftsfeld zu eröffnen. – Im Faktencheck der „Anstalt“ finden Sie eine Menge Zahlen und Material zum Thema (wie auch zu den anderen Themen der Sendung ). Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Bei Ziffer 8. finden Sie die Informationen zur Rente. Vergleicht man die kaufkraftbereinigte Rente, die ein Versicherter nach 35 Beitragsjahren mit Durchschnittslohn im Jahr 2000 erhalten hat mit der Summe, die er bei gleichen Bedingungen heute erhält, haben wir ein reales Rentenminus von 34 %!!! Um diese Lücke auszugleichen, müsste man absurde Beiträge ansparen und eben nicht nur, wie behauptet, vier Prozent, sondern bei den Minizinsen wohl mindestens 20%, wahrscheinlich mehr. Ingo Schäfer, früher Arbeitnehmerkammer Bremen, jetzt DGB, hat für „Die Anstalt“ gerechnet, was man in die deutschen Altersvorsorge-„Säulen“ stecken müsste, um eine Österreichische Rente rauszukriegen. Hier ein Abschnitt aus dem Faktencheck: Ein Rechenbeispiel: Rente – auf dem Papier um 16,9 Prozent gesunken, real um ca. 34 Prozent!! Im Jahr 2000 betrug der Zahlbetrag einer Durchschnittsrente (35 Jahre Versicherte) laut Tabelle der Rentenversicherung 1021 Euro (S.123) Die Differenz zur heutigen Nettorente von 848 Euro beträgt nominell 16,9 Prozent. Der Rentenbetrag von 2000 entspricht allerdings heute preisbereinigt 1285 Euro. Die Differenz zu den 848 Euro, die heute gezahlt werden, beträgt also real 437,89 Euro. oder 34 Prozent ! … Man muss 20 Prozent vom Lohn in Zusatzvorsorge stecken, um Rentenkürzungen auszugleichen Bei unterstellten 2 Prozent Verzinsung, die im Moment nirgends zu bekommen sind, beträgt der errechnete Zusatzbeitrag, den man neben der gesetzlichen Rente ansparen muss, 18 Prozent, laut Ingo Schäfer von der Arbeiterkammer Bremen. Und so weiter im Faktencheck der „Anstalt“. Wenn Sie das Thema interessiert, dann lesen Sie dort bitte mehr und schauen Sie sich auf jeden Fall die Sendung an, falls Sie sie am Dienstag nicht gesehen haben. Das war unser Artikel dazu mit dem Link auf „Die Anstalt“: Wer den von der Anstalt belegten Ausverkauf bei Rente und Autobahn begriffen hat, versteht nicht mehr, dass CDU, CSU und SPD überhaupt noch Wähler haben. PowerPoint Präsentation zur Kampagne betreffend demographischer Wandel und Privatisierung der Altersvorsorge Die Mehrheit der Medien hat die Kampagne für die Privatvorsorge und gegen die gesetzliche Rente mitgemacht und massiv befeuert. Sie sind mitverantwortlich für die Enteignung der Rentner. Und sie haben schon wegen ihrer Beteiligung daran viel von ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die weitverzweigte und zugleich massive Kampagne zu Demographie und Altersvorsorge habe ich in einer PowerPoint Präsentation dokumentiert: Hier ist der Link zur Dokumentation. | Albrecht Müller | Dass Riester, Rürup, Raffelhüschen, Schröder, Steinmeier, Merkel, Schäuble, Müntefering und Nahles noch einen einigermaßen ordentlichen Ruf haben, zeugt vom gebrochenen Rechtsempfinden. Denn diese Personen haben die Rentner enteignet; sie haben es bewusst getan und sie machen so weiter, um der Finanzwirtschaft ein lukratives Geschäftsfeld zu eröffnen. - Im Faktencheck der „Anstalt“ finden Sie ... | [
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Mittelstand | Die folgende Geschichte ist eine für die herrschende politische Klasse sicher ganz und gar unbedeutende. In meiner Heimatstadt, in meiner Region (und nicht nur hier) trägt sich Tag für Tag Schicksalhaftes zu. Beispiel: Wieder (!) dreht eine traditionsreiche Bäckerfamilie den Schlüssel an der Tür ihres Unternehmens für immer um und schließt. Dieses Drama steht für den jämmerlichen, skandalösen Zustand unseres Landes, in dem voller negativer Energie stur und zynisch dem Aufrüsten in allen Bereichen Vorfahrt gewährt wird, während die Zivilgesellschaft, das tägliche Leben bis hin zum Backen unser aller täglich Brotes mehr und mehr vor die Hunde gehen. Die Politik hat dagegen lediglich Phrasen parat und wählt lieber eine neue Brotbotschafterin, die schön PR-tauglich in die Kamera lächelt und Brezelteig rollt. Ein Zwischenruf von Frank Blenz. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. | [] | [] | 28. Juli 2024 12:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?tag=mittelstand |
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Die „Letzte Generation“: Aufstieg und Fall einer Klima-Sekte | Das Ende war dann doch recht unspektakulär. Am 29. Januar teilte die „Letzte Generation“ (LG) in einer Presseerklärung mit, dass sie künftig keine klebrigen Blockaden mehr auf Straßen durchführen werde. Schon in den vergangenen Monaten war die Gruppe kaum noch mit derartigen Aktionen öffentlich in Erscheinung getreten. Von Rainer Balcerowiak. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Das Datum war nicht zufällig gewählt. Exakt zwei Jahre vorher hatten 24 Aktivisten der Gruppe erstmals eine in Deutschland bislang unbekannte Protestform zelebriert. Sie blockierten Straßen nicht nur durch reine physische Präsenz, sondern klebten sich mit schnell härtenden Klebstoffen am Asphalt fest, um eine schnelle Auflösung der Blockaden zu verhindern. Zuvor waren sie vor allem mit einem Hungerstreik im Spreebogenpark im Berliner Regierungsviertel in Erscheinung getreten, der am 30. August 2021 begann und am 25. September beendet wurde. Ziel der Aktion war es, die Spitzenkandidaten der Parteien im Vorfeld der Bundestagswahlen zu öffentlichen Gesprächen und verbindlichen Aussagen über die künftige Klimapolitik zu veranlassen, worauf sich diese natürlich nicht einließen. Auch ihre Hauptforderung – die Einrichtung eines mit legislativen Kompetenzen ausgestatteten „Bürgerrats“ für den Klimaschutz – fand keine Resonanz. Die LG kam keineswegs aus dem Nichts, sondern war eine Art Ausgründung der bereits seit 2018 zunächst in England und später in vielen europäischen Ländern aktiven Gruppe „Extinction Rebellion“, die sich als eine Art radikaler Flügel der Klimabewegung „Fridays for Future“ positionierte und entsprechend agierte. Eingebunden war und ist die LG in ein internationales Netzwerk namens „A 22“, in dem sich zehn Organisationen aus Europa, den USA, Kanada und Neuseeland zusammengeschlossen haben. Den finanziellen Background lieferte vor allem der US-amerikanische „Climate Emergency Fund“, für dessen Anschubfinanzierung die Öl-Erbin Aileen Getty gesorgt hatte. Dieses Geld ermöglichte auch der LG die schnelle Schaffung professioneller Strukturen, bis hin zur Bezahlung von Voll- und Teilzeitaktivisten in Leitungsebenen. Was anfangs als eine Art verwirrt-radikalisierte Jugendbewegung wahrgenommen wurde, entpuppte sich bei näherem Hinsehen alsbald als streng hierarchisch organisierte Gruppe mit teilweise sektenähnlichen Strukturen. An der Spitze stehen das dreiköpfige „Kernteam“ und darunter das „Strategieteam“, das grundlegende Entscheidungen trifft und an Arbeitsgemeinschaften wie „Finanzteam“ und „Presseteam“ weitergibt. Eine Ebene darunter agieren regionale Strategieteams, die wiederum die lokalen Aktionsgruppen anleiten. Die Rekrutierung neuer Mitstreiter erfolgte über ein System von Online- und Präsenzschulungen, Fragebögen und persönlichen Gesprächen. Wer dann immer noch entschlossen war und für gefestigt genug befunden wurde, absolvierte eine oder mehrere Trainingseinheiten, bevor es an die Klebefront ging. Im Besitz der absoluten Wahrheit Doch der Sektencharakter wird vor allem beim ideologischen Background sichtbar. Man beruft sich auf nicht hinterfragbare „Erkenntnisse der Wissenschaft“, laut denen die Menschheit auf „Kipppunkte“ zusteuere, deren Erreichen einen irreversiblen Selbstzerstörungsmechanismus auslöst, der über Flut-, Dürre- und Hungerkatastrophen in die weitgehende Unbewohnbarkeit des Planeten münden würde. Und daher wähnt man sich als letzte Generation, die diesen Prozess noch aufhalten kann und im Sinne eines universellen Naturrechts auch muss. Die konkreten Forderungen der LG an die deutsche Politik, an deren Erfüllung sie die mögliche Beendigung ihrer Blockadeaktionen knüpfen wollte, wirken angesichts des prophezeiten nahenden Öko-Armageddons allerdings ziemlich plüschig: Tempo 100 auf allen Autobahnen und dauerhafte Einführung eines 9-Euro-Tickets für den Nahverkehr – also das, was jede x-beliebige Juso-Ortsgruppe ebenfalls fordert. Es liegt auf der Hand, dass sich genervten Autofahrern auf ihrem durch sanfte Öko-Krieger unterbrochenen Arbeitsweg der unmittelbare Zusammenhang zwischen Flutkatastrophen in Bangladesch, 9-Euro-Ticket und ihrer Zwangspause nicht so richtig erschloss. Auch die Kartoffelbrei-Attacke von zwei LG-Aktivisten gegen ein Bild des französischen Impressionisten Claude Monet im Potsdamer Museum Barberini wirkte kaum aufklärerisch im Sinne des Kampfes gegen den Klimawandel. Doch gerade in den ersten Monaten der LG-Aktionen, für die in den Hochzeiten bundesweit rund 500 Aktivisten einsetzbar waren, gab es in linksliberalen und sogar konservativen Kreisen ein gewisses anerkennendes Grundverständnis. So erklärte Georg Bätzing, Limburger Bischof und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in einer Predigt: „Man kann zu diesen Leuten und ihren Aktionen stehen, wie man will, aber irgendwie wurden sie aus der Lethargie geweckt, die noch viel zu viele von uns entspannt in die Zukunft blicken lässt.“ Das Lebensgefühl dieser Aktivisten ähnele dem der frühen Christen in der Urkirche, die sich als letzte Generation vor dem Anbruch des Reiches Gottes verstanden hätten, so Bätzing. Und als vor allem Teile der CDU/CSU von einer drohenden „Klima-RAF“ hyperventilierten und ein Verbot der LG als kriminelle Vereinigung forderten, initiierten Schauspieler des Bonner Stadttheaters einen Solidaritätsaufruf mit der LG, den binnen weniger Wochen über 1.200 Kulturschaffende unterzeichneten, darunter der Intendant der Schaubühne Berlin Thomas Ostermeier, der Kabarettist Rainald Grebe und Kathrin Röggla, Vizepräsidentin der Akademie der Künste. Auch die Justiz reagierte keineswegs einheitlich. Während in Bayern LG-Aktivisten mit mehrwöchiger Präventivhaft und drastischen Strafen rechnen mussten, wurde ein Freiburger Klimaaktivist freigesprochen, der sich an der Blockade einer viel befahrenen Bundesstraße und weiteren Aktionen beteiligt hatte. Das Gericht kam nach mündlicher Verhandlung zu dem Schluss, angesichts des Klimanotfalls, in dem sich Deutschland objektiv betrachtet befinde, sei die Aktion nicht als verwerflich im Sinne des Strafgesetzes anzusehen. Sogar vom Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, gab es eine Art demokratisches Gütesiegel. Er halte die Klimaaktivisten nicht für extremistisch, und sie stellten die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht infrage, sagte Haldenwang in einer Gesprächsrunde des SWR. Die „Letzte Generation“ sage im Grunde: „He, Regierung, ihr habt so lange geschlafen, ihr müsst jetzt endlich mal was tun (…). Also, anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man die Funktionsträger zum Handeln auffordert“. Die Erweckung der Massen blieb aus Doch irgendwann war der ganze Hype dann weitgehend vorbei. Die Blockade-Aktionen, die sich hauptsächlich auf Berlin konzentrierten, waren bald nicht mehr als lästige Alltagsnerverei. Die Polizei hatte sich darauf eingestellt und gelernt, die angeklebten Aktivisten schnell und professionell von der Straße zu lösen – handelsübliches Speiseöl erwies sich dabei als äußert effektiv. Dazu kam ein kleines PR-Desaster, das den Nimbus der Klima-Kämpfer beträchtlich ankratzte. So wurde im Februar 2023 bekannt, dass zwei Aktivisten ihren Gerichtstermin in Bad Cannstadt nicht wahrnehmen konnten, weil sie in den Urlaub nach Thailand geflogen waren, was entsprechende Häme auslöste. Die LG verteidigte die Flugreiselust der Mitglieder: „Sie haben den Flug als Privatleute gebucht, nicht als Klimaschützer. Das muss man auseinanderhalten“, hieß es in einer Erklärung. Insbesondere beeinflusse es auch nicht, „wie richtig oder falsch Forderungen an die Bundesregierung sind“. Immer mehr Aktivisten wurden im Laufe der Zeit zu Geld- oder Bewährungsstrafen verurteilt, zudem drohen erhebliche Schadensersatzforderungen, etwa für Blockade-Aktionen an Flughäfen. Die angestrebte „Erweckung“ der Massen im Kampf gegen den Klimawandel blieb jedenfalls aus. Im Gegenteil: Die Zahl der aktionsbereiten Unterstützer schrumpfte rapide, wie Lars Werner, Mitglied des LG-Strategieteams, anlässlich der Rückzugserklärung im Spiegel einräumte: „Wären weiter genügend neue Menschen dazugekommen, damit andere sich eine Atempause nehmen können, hätten wir gesagt: Wir gehen diesen Weg genauso weiter“, so Werner. Aber vor allem hat sich auch die politische Stimmung in Deutschland gedreht. Die Angst vor dem Klimawandel ist auf der Prioritätenlisten der meisten Bürger von ziemlich weit oben nach ganz weit hinten gerutscht. Der Begriff „Klimaschutz“ ist mittlerweile gründlich desavouiert, nicht zuletzt aufgrund des absurden Heizungsgesetzes und allgemein einer Energie- und „Klimaschutzpolitik“, die von den meisten Bürgern vor allem als massive Bedrohung ihrer materiellen Existenz wahrgenommen wird. Und wie man effektiv Autobahnen blockiert und Innenstädte lahmlegt, haben unlängst die Bauern gezeigt – dummerweise mit Anliegen, mit denen die LG eher wenig anfangen kann. Deren letzte, einigermaßen spektakuläre Aktion war die zweimalige Beschädigung des Brandenburger Tors in Berlin durch ein paar Kübel orangener Farbe. Bei der „Letzten Generation“ wird man künftig jedenfalls kleinere Brötchen backen. Gehorteter Klebstoff wurde in Berlin bereits öffentlich verschenkt. Als gescheitert sieht man sich allerdings keineswegs. In der Rückzugserklärung heißt es über die seit der ersten Klebeaktion vergangenen zwei Jahre: „Wir haben es geschafft, bundesweit in weit über 1.000 Vorträgen über die Klimakatastrophe und das Versagen der Bundesregierung aufzuklären und haben in ebenso vielen Protesten unseren entschlossenen Widerstand dagegen auf die Straße getragen. Niemand in Politik und Öffentlichkeit konnte diesen Widerstand gegen das Versagen der Bundesregierung in den letzten zwei Jahren ignorieren, wie tausende Presseartikel und hunderte Gespräche mit Politiker:innen bis hinauf zu Bundes-Minister:innen beweisen“. Es bleibe das Ziel der Letzten Generation, „jene kritische Masse an Menschen auf die Straßen zu mobilisieren, die es braucht, damit dieser Wunsch (nach Rettung des Planeten) auch Realität wird. Denn „wir stehen 2024 als Gesellschaft noch näher am Abgrund als 2022“. Hauptprotestform sollen künftig nicht näher erläuterte „ungehorsame Versammlungen“ sein. Außerdem werde man verstärkt Politiker und andere Entscheider „öffentlich und vor laufenden Kameras zur Rede stellen“ sowie „verstärkt Orte der fossilen Zerstörung für unseren Protest aufsuchen, so wie es in der Vergangenheit schon bei Protesten an Öl-Pipelines, Flughäfen oder dem Betriebsgelände von RWE der Fall war“. Dazu käme ein „einfacher Appell“ an den „hoch angesehenen“ Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, „öffentlich und ehrlich über die Klimazerstörung und das notwendige Umsteuern zu sprechen. Die Details dieses Appells werden in den kommenden Monaten in Form eines Briefes ausgearbeitet werden.“ Vielleicht wird aus der klandestinen Klima-Sekte auf diesem Wege jetzt eine hundsgewöhnliche NGO, die dann gemeinsam mit Fridays for Future, dem BUND und der Grünen Jugend ab und zu einen sogenannten „Klimastreik“ ausruft und irgendwo demonstriert. Aktuell hat man sich in die „Brandmauer gegen den Faschismus“ eingereiht und für die gleichnamige Aktion am 3. Februar sogar auf eine angeblich für diesen Tag irgendwo geplante „Massenbesetzung“ verzichtet. Denn es seien „ganz besonders die Faschisten, die die Lebensgrundlagen von Milliarden Menschen unwiederbringlich zerstören wollen und das fossile Weiter-so mitten im beginnenden Klimakollaps weiter forcieren“, hieß es zur Begründung. In der Versenkung verschwinden will man jedenfalls nicht. Seit Ende 2023 ist die Marke „Letzte Generation“ und die dazugehörende bildliche Markendarstellung beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldet. Titelbild: Vincenzo Lullo/shutterstock.com | Rainer Balcerowiak | Das Ende war dann doch recht unspektakulär. Am 29. Januar teilte die „Letzte Generation“ (LG) in einer Presseerklärung mit, dass sie künftig keine klebrigen Blockaden mehr auf Straßen durchführen werde. Schon in den vergangenen Monaten war die Gruppe kaum noch mit derartigen Aktionen öffentlich in Erscheinung getreten. Von Rainer Balcerowiak.
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] | 07. Februar 2024 10:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=110702&share=email |
Stell dir vor, es ist Zeitenwende und keiner macht mit | Das neueste Buch des Propaganda-Forschers Jonas Tögel „Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren“ gibt einen erhellenden Einblick in die Militärplanung und -strategien zu einem möglichen Krieg zwischen Russland und dem westlichen Bündnis und ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den Frieden. Eine Rezension von Maike Gosch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Alle reden aktuell vom Krieg, aber über die konkreten Folgen, den möglichen Ablauf und das Ausmaß eines solchen möglichen Krieges in und um Europa wissen wir dennoch viel zu wenig. Es werden „Bunker-Apps“ geplant, Krankenhäuser üben „Triage“ wie schon zu Corona-Zeiten, und die etablierten Parteien überbieten sich mit Forderungen nach Waffenlieferungen an die Ukraine sowie Erhöhung des deutschen Wehretats; auch die Bundeswehr pflastert die Städte mit Werbung zu, mit der sie um junge Männer wirbt. Trotz Trumps Versprechen, den Krieg in der Ukraine nach seinem Amtsantritt zügig zu beenden, stehen in Deutschland also weiter alle Zeichen auf Krieg. Die einfach mal so von Olaf Scholz im Frühjahr 2022 deklarierte „Zeitenwende“ scheint damit tatsächlich Realität zu werden. Aber es herrscht dabei eine interessante Schizophrenie: Einerseits wird vor der Gefahr, die von Russland und einer Ausweitung des Krieges ausgeht, immer und immer wieder gewarnt, um Waffenlieferungen und Aufrüstung zu rechtfertigen. Die Gefahr wird also von Seiten unserer Regierung und Medien durchaus sehr ernst genommen. Gleichzeitig werden aber jeder Versuch einer Entschärfung der Situation, jede ernsthafte diplomatische Initiative, jeder Ruf nach einem Verständnis für die Kriegsursachen mit einer Verve niederkartäscht, die mich an die Szenen aus dem dänischen Film „Das Fest“ von Thomas Vinterberg aus den 90er-Jahren, erinnert, in dem der erwachsene Sohn auf einem Familienfest immer wieder versucht, über den sexuellen Missbrauch durch seinen Vater zu sprechen, und die Familie ihn mit wachsender Wut und Gewalt davon abhalten und zum Schweigen bringen will. Jetzt ist es ein natürlicher und verständlicher Impuls von uns übrig gebliebenen Friedensaktivisten, den Großteil dieser Aktivitäten und Meldungen, die unser Land mal wieder so richtig „kriegstüchtig“ machen sollen, als Propaganda abzutun, die dazu dienen soll, die Auftragsbücher der Mitglieder des militärisch-Industriellen-Komplexes zu füllen und Zustimmung für NATO-Mitgliedschaft und -Erweiterung zu schaffen (Stichwort „Manufacturing Consent“, s. Noam Chomsky). Aber das heißt nicht, die Augen davor zu verschließen, was für ein gefährliches Spiel mit dem Feuer die aktuelle deutsche und europäische Außenpolitik darstellt. Das neue Buch von Jonas Tögel „Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren“ schließt jetzt eine publizistische Lücke. Der Autor klärt kenntnisreich über Kriegs- und Militärplanungen in Europa auf, appelliert aber gleichzeitig mit großer Überzeugung für den Frieden. Jonas Tögel ist Amerikanist und Propagandaforscher, der zum Thema Soft Power und Motivation promoviert hat und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Regensburg arbeitet. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem der Einsatz von Soft-Power-Techniken, Nudging und Propaganda. Er ist zudem Autor des Bestsellers „Kognitive Kriegsführung“ (2023). Auch mit diesem Buch hatte Tögel sich bereits auf ein Feld begeben (man möchte fast sagen „gewagt“), das bei allem Überangebot an Untersuchungen, Studien und Artikeln zum Thema „Propaganda“ und „Desinformation“ erstaunlich dünn bestückt ist mit Untersuchungen über die Propaganda-Aktivitäten durch die Regierungen und Geheimdienste unseres eigenen Landes und des restlichen sogenannten „Wertewestens“. Gespannt hatte ich daher sein neues Werk erwartet. Zunächst war ich etwas überrascht, dass Tögel sich in diesem Buch nicht schwerpunktmäßig der NATO-Propaganda widmet, sondern es mit einem Überblick über die Planungen militärischer Übungen und Kriegsszenarien zu einem Konflikt des Westens mit Russland beginnt. Wie relevant ist es, in die Militärgeschichte zurückzugehen, teilweise bis ins 19. Jahrhundert? Die Welt bewegt sich so schnell, auch die Situation in der Ukraine und Europa ist im ständigen Flux, und vielleicht ist die Kriegsgefahr ja im nächsten Monat schon längst wieder gebannt, weil Trump auf weißem Ross Ende Januar schon einen Friedensvertrag herbeizaubern wird. Aber schon nach einigen Seiten hatte Tögel mich überzeugt. Er fängt an mit der „Herzlandtheorie“ des Geografen Halford John Mackinder aus dem Jahr 1904. Diese Theorie – sicher vielen Lesern hier bekannt – besagt, dass die riesige und an Rohstoffen ungeheuer reiche Landmasse Eurasiens die Drehpunktregion (im englischen Original „Pivot Area“) oder auch das „Herzland“ (im englischen Original „heartland“) der Weltpolitik ist, was bedeuten soll: Wer dieses Gebiet beherrscht, kann die Welt beherrschen. Oder auch: Das britische Imperium (und später dann das US-amerikanische Imperium) können nur von diesem Gebiet wirklich bedroht werden. Drei weitere interessante Aspekte werden schon bei Mackinder erwähnt, und da zeigt sich dann die erstaunliche Aktualität dieser über 100 Jahre alten Theorie: Einerseits spricht er davon, dass diese Region für die Weltpolitik eine so zentrale strategische Position besitzt wie Deutschland für Europa. Zweitens warnt er vor einer möglichen chinesischen Kontrolle über dieses Herzland und formuliert, dass sich das dadurch entstehende „Imperium zu einer gelben Gefahr für die Freiheit der ganzen Welt“ entwickeln würde. Hier lenkt Tögel zu Recht unsere Aufmerksamkeit auf zwei Erzählungen, die die westliche Kommunikation über Geopolitik bis zum heutigen Tag prägen: einmal die xenophobische der „gelben Gefahr“ (heute nicht mehr so genannt, aber es schwingt bei einem Großteil der westlichen Berichterstattung mit) bzw. die Angst des Westens (in diesem Fall Großbritanniens, später der USA) vor dem geopolitischen Rivalen China; und dann die Erzählung, dass das Aufkommen nichtwestlicher Machtblöcke nicht etwa die Hegemonie Großbritanniens (damals) oder aktuell der USA bedrohen, sondern gleich „die Freiheit“ per se. Das haben wir doch in letzter Zeit auch öfter wieder gehört. Drittens warnt Mackinder schon damals vor einem möglichen Bündnis zwischen Russland und Deutschland und erklärt das dadurch entstehende mögliche Weltimperium zu einer der gefährlichsten Bedrohungen. Wie sehr diese Sichtweise und Einschätzung bis heute aktuell ist, zeigt sich darin, dass zum Beispiel über 100 Jahre später – nämlich im Jahr 2015 – George Friedman, der Gründer der Denkfabrik Stratfor, Folgendes erklärte: Man sieht also, dass das, was Jonas Tögel hier ausgräbt, ein sehr interessantes Licht auf die aktuellen Geschehnisse wirft. Gern wird in diesem Zusammenhang der Vorwurf erhoben, es handele sich hier bei um (wahlweise) rechtsradikale oder russische Narrative (die USA wollen das Zusammengehen von Russland und Deutschland verhindern). Korrekterweise müsste man aber von angloamerikanischen Erzählungen sprechen, wie Tögel belegt. Nun gab es in den letzten Jahren einige Bücher über Geopolitik, die sich mit dem Thema der „Herzland“-Theorie beschäftigen, aber das war ja auch erst der Einstieg in das Buch. Weiter geht es mit einer Übersicht und Analyse der militärischen Planspiele des Westens und der NATO im Kalten Krieg. Jetzt würde man denken, das wäre hauptsächlich für Militärhistoriker interessant, aber auch hier lauern sehr viele spannende Informationen und Aspekte, die zumindest mir noch nicht bekannt waren und die sehr erhellende Schlaglichter auf die aktuelle Situation in Bezug auf Geopolitik und militärische Strategie in Europa und natürlich auch bei uns in Deutschland werfen. Ich hatte zum Beispiel noch nie davon gehört, dass es einen Plan der Briten vom 22. Mai 1945 (!) gab, einen massiven Überraschungsangriff gegen Russland zu starten und diesen mit deutschen Soldaten zu führen, die aus den Kriegsgefangenenlagern, in die sie die Alliierten gesteckt hatten, geholt werden und erneut zum Kämpfen gezwungen werden sollten. Weiter geht es mit einem Plan der US-Amerikaner, ebenfalls von 1945, der beinhaltete, Atombomben auf 20 russische Städte zu werfen. Der nächste Plan von 1949 erhöhte dies hier noch auf Atombomben auf 200 Ziele in Russland, und 1957 waren schon Atombomben auf 3.261 Ziele geplant. Auch die Gründung der NATO und die Rolle Deutschlands darin zeichnet Tögel nach, und auch hier erfährt man Erschreckendes und so nicht oft Gehörtes. Zum Beispiel, dass in einem der ersten Planspiele der NATO (Operation „Carte Blanche“, 1955) mit dem neuen Mitglied BRD, welches sich durch den Beitritt Sicherheit und Schutz durch den transatlantischen großen Bruder erhoffte, ein Szenario entworfen wurde, in dem auf deutschem Gebiet als Kampfplatz zwischen der Sowjetunion und der NATO 168 Atombomben fallen sollten und (niedrig geschätzt) 1,7 Millionen getötete und 3,5 Millionen verletzte Deutsche einkalkuliert wurden. So viel zum Schutz. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn man erfährt, mit welch einer Kaltschnäuzigkeit hier der transatlantische Partner die fast vollkommene Zerstörung Deutschlands und das grausame Sterben von Millionen von Deutschen einkalkulierte. Es wird in diesen Passagen – und denen über die entsprechenden Planspiele und Übungen in späteren Jahren sowie die politischen Debatten darüber – auch deutlich, wie sehr die USA Europa als ein Schlachtfeld für ihre Auseinandersetzung mit Russland (bzw. damals der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt) sehen. Ebenso wie heute in der Ukraine sollen andere für sie leiden und für die geopolitischen Machtkämpfe des Weltreiches sterben. Spannend sind bei der Schilderung dieser Ereignisse und Planspiele durch Tögel besonders die Haltung der damaligen Politiker und auch die Berichterstattung und Kommentierung der Medien (wie dem SPIEGEL), die damals noch deutlich kritischer gegenüber der US-amerikanischen Strategie und ihren Entscheidungen waren und wesentlich offener diskutierten, was für negative Folgen diese für Deutschland haben würden. Im Kontrast wird einem wieder einmal deutlich, wie einheitlich die Berichterstattung und die Haltung der meisten politischen Parteien in Fragen der Unterordnung der deutschen militärischen und geopolitischen Interessen unter die der USA und der US-amerikanisch geführten NATO geworden sind und dass kritische Stimmen hierzu nur noch von den angeblich „extremen“ Rändern des Diskurses kommen. Tögel schildert ebenfalls entsprechende Pläne der Sowjetunion und des Warschauer Paktes wie zum Beispiel das Planspiel „Sieben Tage bis zum Rhein“ aus dem Jahr 1964, das 2005 von der polnischen Regierung an die Öffentlichkeit gebracht wurde. In diesem Planspiel verteidigt sich der Warschauer Pakt gegen einen Überraschungsangriff der NATO auf Osteuropa mit dem flächendeckenden Einsatz von Atomwaffen gegen Ziele in Westeuropa, gefolgt von einer groß angelegten Bodenoffensive. Die Schilderung der Militärübungen endet mit der letzten, im Jahr 2024 stattgefunden NATO-Übung „Steadfast Defender“ („Standhafter Verteidiger“), über die Tögel leider nicht mehr so viele detaillierte Informationen liefern kann, da diese der Geheimhaltung unterliegen. Im letzten Teil des Buches fasst Tögel dann die aktuelle Debatte rund um Krieg und Frieden in Deutschland zusammen und gibt wichtige Hinweise in Bezug auf die Rahmenerzählungen und Kommunikationsstrategien, die hier eine Rolle spielen. Er zeigt auch auf, wie erstaunlich wenig sichtbar und wirkmächtig die Menschen in Deutschland, die sich für Frieden und Diplomatie aussprechen, aktuell sind und versucht, Erklärungen dafür zu finden. Das Buch endet mit einem fundierten und sicher tief empfundenen Aufruf zu einem Bewusstseinswandel und einem Aktiv-Werden für eine friedliche Lösung im „Herzland“. Trotz der detailreichen Darstellung und der sorgfältigen Recherche und auch trotz des sehr bedrückenden Themas liest sich das Buch erstaunlich flüssig und unterhaltsam, was dem klaren Stil und der sauberen Gedankenführung Tögels zu verdanken ist. Insgesamt ist er sichtlich um eine ausgewogene und sachliche Wiedergabe der verschiedenen Sichtweisen bemüht und macht sich durchaus nicht eine „russische“ Sichtweise zu eigen – auch wenn das sicher niemanden davon abhalten wird, ihm das vorzuwerfen, da wir nun einmal in einer neuen McCarthy-Ära leben. Insgesamt ist das kurze Buch (96 Seiten) eine interessante und wertvolle Zusammenstellung historischer Informationen sowie aktueller Analysen, die vieles ins öffentliche Bewusstsein rücken, was unsere Sicht auf die verantwortungslose und fehlgeleitete Eskalation unserer Zeit noch einmal schärfen kann und hoffentlich zu einer Erstarkung der Friedensbewegung in Deutschland führen wird. Jonas Tögel: „Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren“. Neu-Isenburg, Westend Verlag 2025, Taschenbuch kartoniert, 96 Seiten, ISBN 978-3864894886, 15 Euro. | Maike Gosch | Das neueste Buch des Propaganda-Forschers Jonas Tögel „Kriegsspiele – Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren“ gibt einen erhellenden Einblick in die Militärplanung und -strategien zu einem möglichen Krieg zwischen Russland und dem westlichen Bündnis und ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den Frieden. Eine Rezension von Maike Gosch.
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Arbeitslosenzahl im April 2013 wieder gesunken – Arbeitslosenzahl sinkt im Mai 2013 weiter | Natürlich sind wir keine Propheten und haben auch keine Vorabergebnisse aus Nürnberg. Trotzdem sind wir uns sicher. Und genauso sicher sind wir uns auch, dass eine ganze Reihe von Medien in diesem Stil titeln wird.
Woher die Sicherheit der Vorhersage?
Der Grund ist einfach: Die Arbeitslosenzahlen sind seit der Wiedervereinigung in jedem April im Vergleich zum März des gleichen Jahres gesunken. Das Gleiche gilt für den Mai im Verhältnis zum April (siehe Tableau [PDF – 55.8 KB]). Man weiß eben, dass das der übliche Frühjahrsaufschwung ist. Von Gerd Bosbach.
Die Meldung „Arbeitslosenzahl im April wieder gesunken“ besagt also gar nichts über die längerfristige Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Der schnelle Konsument kann aber genau das aus der Überschrift vermuten, von einem Aufschwung träumen und das der Wirtschaftspolitik der Regierung positiv zuschreiben. Vor allem, wenn dieses Absinken in den Monaten März, April, Mai und aller Voraussicht nach für den Juni verkündet wird.
Will man als Redakteur oder Fachmann nicht den jährlichen Frühjahrsaufschwung beschreiben, sondern die längerfristige Wirtschaftsentwicklung, bietet die Statistik zwei aussagekräftige Indikatoren: Der Vergleich mit dem Vorjahresmonat und die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit. Und obwohl beide Größen im März dieses Jahres gestiegen sind (+70.000 zu März 2012 (Vorjahresmonat); +13.000 saisonbereinigt zu Februar 2013 (Vormonat)) überwogen Ende März Überschriften der Art: Natürlich haben die meisten Medien im Text erwähnt, dass das Sinken saisonüblich ist; viele haben auch zumindest eine der beiden aussagekräftigen Vergleichsgrößen gebracht. Aber da hat die Überschriftenzeile schon längst ihre Wirkung entfaltet. Und wer liest zu diesem monatlich wiederkehrenden Thema schon das Kleingedruckte? Dummheit oder Bosheit? Wegen der Kürze der Zeit zwischen Bekanntgabe der Zahlen und der Weitergabe durch Ihre Medien wird fast zwangsläufig auf das gesprochene Wort des Präsidenten der BA, die kurze Pressemitteilung oder sogar die Vorabmeldung zurückgegriffen. Ein Blick auf die seriöseste dieser drei Meldungen, die offizielle schriftliche Pressemitteilung, spricht Bände (Pressemitteilung 17 vom 28.3.2013): (Wenn Sie mehr zu diesem Thema erfahren wollen, dann können Sie das im Buch „Lügen mit Zahlen“ im Kapitel 5 „Die große Freiheit der Prozentisten“ nachlesen. Tiefergehende Informationen über die drei genannten Indikatoren oder die Veränderungen der Zähl- und Darstellungsweisen von Arbeitslosenzahlen finden Sie auch auf S. 165 bis 167 des Buches.) | Gerd Bosbach | Natürlich sind wir keine Propheten und haben auch keine Vorabergebnisse aus Nürnberg. Trotzdem sind wir uns sicher. Und genauso sicher sind wir uns auch, dass eine ganze Reihe von Medien in diesem Stil titeln wird.
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] | 29. April 2013 12:09 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=17067&share=email |
„Wie ein 51. Bundesstaat“ | Der Ex-Bundeswehrgeneral Erich Vad sieht Deutschland in Gefahr – während die USA außer Reichweite bleiben. Gerade noch rechtzeitig kommt Vads Buch „Ernstfall für Deutschland“, um vor dem Wahljahr 2025 vor Augen zu führen, welche Entwicklungen dem Land drohen. Von Irmtraud Gutschke. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Nachdem „Noch“-US-Präsident Joe Biden der Ukraine den Einsatz von US-Waffen mit großer Reichweite auf russischem Territorium erlaubte, verstärkt sich der Druck auf die deutsche Regierung, was Lieferung und Einsatz weitreichender „Taurus“-Marschflugkörper betrifft. „Ernstfall für Deutschland. Ein Handbuch gegen den Krieg“: Erich Vad, Brigadegeneral a.D. der Bundeswehr und von 2006 bis 2013 Sekretär des Bundessicherheitsrats und militärpolitischer Berater von Angela Merkel, stellt zu Beginn ein Horrorszenario vor uns hin: Im August 2025 ist der „Worst Case“ eingetreten. Die Bundesregierung hatte dem Druck von „etlichen Medien und dem massiven Drängen von NATO-Bündnispartnern, insbesondere Großbritannien und den USA“, nachgegeben und doch das Taurus-Waffensystem an die Ukraine geliefert. Es wurde eingesetzt, um die Kertsch-Brücke zu zerstören, welche die Krim mit dem russischen Festland verbunden hatte. Taurus-Marschflugkörper zerlegten das russische Verteidigungsministerium in Moskau und zerstörten den Kreml. „Der Vergeltungsschlag kam schnell, wirkte von langer Hand vorbereitet und richtete sich unmittelbar gegen Deutschland“, schließlich war Taurus ja von Deutschland geliefert worden. „Also ließ Putin zunächst die ähnlich symbolträchtige Fehmarnsundbrücke per Raketenbeschuss zertrümmern. Dann machte er die Produktionsstätte von Taurus im bayerischen Schrobenhausen dem Erdboden gleich. Zu guter Letzt zerstörte er das Bundeskanzleramt in Berlin – alles an einem Wochenende … Die Bundesregierung bat die NATO, den Bündnisfall auszurufen, und verlegte ihren Sitz zunächst in eine Kaserne außerhalb Berlins, kurz darauf an die Ostküste der USA. „Der Aufmarsch der NATO-Truppen führte quer durch Deutschland … Russland begann, die Bewegungsachsen der NATO durch Deutschland mit Raketen, vornehmlich aus Kaliningrad, zu beschießen“ und drohte, das gesamte deutsche Autobahnnetz zu zerstören. „Die Amerikaner schossen mit ihren in Deutschland stationierten Marschflugkörpern, Raketen und Überschallwaffen zurück. Woraufhin Russland die mehr als vierzig amerikanischen Militäreinrichtungen in Deutschland unmittelbar unter Feuer nahm.“ [1] Und die Zivilbevölkerung? Was tun die Leute, wenn dringend benötigte Güter knapp werden, wenn es kaum Schutzräume gegen die Angriffe gibt, wenn Strom, Heizung und Wasserversorgung zusammenbrechen? Fliehen! Aber wie und wohin? Schreckliche Bilder bringt Erich Vad uns vor Augen, weil er uns die Augen öffnen will. „Denn im Krieg ist nur eines verlässlich: Es wird schlimmer kommen, als wir es uns ausmalen können.“ Er beschwört seinen Eid als Soldat, „tapfer zu sein und für mein Land einzutreten“. Dieser Eid „verpflichtet mich, kritisch und laut zu sein, wenn ich unser Land in Gefahr sehe“. [2] Wortmächtig und präzise: Denn dadurch würde Russland die Kontrolle über die Krim und den freien Zugang zur Schwarzmeerregion mit ihren einzigen eisfreien Häfen auf der Krim verlieren. Truppen und Raketen der NATO könnten in unmittelbarer Nachbarschaft stationiert werden. Als Militär ist der Autor Realist und kein Wertefanatiker wie jene, die sich in Moralpredigten gefallen. Sicherheitsinteressen Russlands seien doch ebenso ernst zu nehmen wie die der Ukraine. Unumgänglich sei es in der Geopolitik, die Perspektive eines anderen einzunehmen, um dessen Handlungen und Beweggründe zu verstehen. Russland zu besiegen, sei unwahrscheinlich, „so lange die NATO nicht als Kriegspartei einsteigt, was unbedingt vermieden werden muss. Immerhin verfügt Russland über das größte Atomwaffenarsenal der Welt. Zum anderen: Wer sollte als Siegermacht ein zerschlagenes Russland managen?“ Der Krieg steckt in einer Sackgasse – „vorausgesetzt, wir streben keinen Dritten Weltkrieg an“.[4] Strategie für Deutschland, die den eigenen Interessen entspricht Dass der Schlüssel für die Beendigung dieses Krieges in Washington und Moskau liegt – Erich Vad ist nicht der Erste, der dies sagt und in diesem Zusammenhang deutsche Interessen beschwört. Da erinnere ich an das Buch „Nationale Interessen“, in dem Klaus von Dohnanyi schon im November 2021 anmahnte, was heute umso dringlicher geworden ist. [5]„Warum stehen Deutschland und die Europäische Union in Washington nicht schon längst vor der Tür, um auf eine politische Lösung für die Ukraine zu pochen?“, so Erich Vad. Und weiter: Die Bevölkerung wird auf Solidarität mit der Ukraine eingeschworen. Erich Vad aber lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Stellvertreterkrieg handelt, in dem die USA Russland ein für alle Mal in die Schranken weisen wollen. Schon im jetzt wiedererschienenen Buch „Die einzige Weltmacht“ von Zbigniew Brzeziński lässt sich nachlesen, wie früh schon die Ukraine von den USA diesbezüglich munitioniert wurde. Und ebenso, was man jenseits des Atlantiks von uns Deutschen, den ewigen „Musterknaben“ im „europäischen Brückenkopf“ der US-Amerikaner hält. [7] Wie ein 51. US-Bundesstaat, so Erich Vad, verhalten wir uns. „Rationalität, Pragmatismus und ja, auch Egoismus“ seien gefragt in Verantwortung für rund 85 Millionen Menschen, „um endlich der Gewichtung und Rolle Deutschlands in Europa gerecht zu werden“ [8]. Friedrich Merz und das Friedensgebot des Grundgesetzes Am 6. November wurde Donald Trump als Sieger der US-Wahl verkündet. Am gleichen Tag zerbrach die Ampel-Koalition. Fernsehbilder zeigten einen triumphierenden Friedrich Merz, der nun auf schnelle Neuwahlen drängt. Die hofft er zu gewinnen – endlich, schon lange hatte er diesen Wunsch. Für mich wäre es kein guter Gedanke, dass er sich erfüllt. Abgesehen davon, dass er keine Regierungserfahrung hat und einen konfrontativen Politikstil fährt, er ist – so klar muss man das ausdrücken – eine Gefahr für Deutschland. Im Buch kommt sein Name erst auf Seite 58 vor: „Ein einfaches Bekenntnis zu den USA – wie es Kanzlerkandidat Friedrich Merz jüngst noch als oberstes Ziel deutscher Außenpolitik formulierte – reicht so nicht mehr aus.“ Auf Merz’ Versprechen, der Ukraine reichweitenstarke „Taurus“-Marschflugkörper zu liefern, geht Erich Vad nicht ein. Warum? Weil dessen Erfüllung von den USA abhängt? Weil er davon Abstand nehmen könnte, wenn das für seinen Wahlkampf günstig wäre? Weil das ohnehin andere entscheiden? Als Kanzler Scholz am 15. November mit Putin telefonierte, konnte er sich auf Medienschelte verlassen. Er tat es dennoch. Allzulange haben die Leitmedien ihn vor sich hergetrieben und madig gemacht, aber bei der ihm abgeforderten Lieferung reichweitenstarker Taurus ist er standhaft geblieben. Was in diesem Gespräch verhandelt wurde, wir wissen es nicht. Der Putin von heute ist nicht mehr der von 2001, der mit einer Rede im Bundestag die Hand zu uns ausstreckte und immer wieder von Beifall unterbrochen wurde. Vertrauen ist zerbrochen auf beiden Seiten. Ein Kanzler Merz wird Vertrauen nicht herstellen können und wollen. So wie leider die Mehrheit bundesdeutscher Entscheidungsträger im Grundsätzlichen antirussisch tickt, was unter anderem wohl ihrer Sozialisation zu Zeiten des Kalten Krieges geschuldet ist. Insofern bin ich Erich Vad für seine klaren Worte dankbar: „Es braucht politisches Handeln und Verhandeln, Verständigung und Interessenausgleich.“ Was übrigens auch dem Friedensgebot des deutschen Grundgesetzes entspräche. Russlands Interessen „werden nicht einfach dadurch verschwinden, dass man sie ignoriert“. Im indopazifischen Konflikt sei das ähnlich. „Nur weil die Amerikaner dort starke Interessen haben, werden sich die chinesischen Interessen nicht in Luft auflösen.“ [9] Und „beim Spagat zwischen den Amerikanern und den Chinesen (von den Russen derzeit ganz zu schweigen) brechen wir uns die Beine“. [10] Die NATO ist längst kein Verteidigungsbündnis mehr Denkweisen aus Zeiten des Kalten Krieges haben durch den russische Einmarsch in die Ukraine neue Nahrung erhalten. Doch während wir wie gebannt in die Ukraine schauen, verändert sich das Weltgefüge. Dass die Amerikaner ihre Vormachtstellung nicht ewig werden halten können, die Spatzen pfeifen es von den Dächern. „Dieses politische Kunststück zu bewerkstelligen – also den Abstieg der USA zu begleiten – wird schwierig … Und auch ganz pragmatisch gesehen, kann Deutschland als Welthandelsmacht eine Aufteilung der Welt in Gut und Böse nicht gebrauchen.“ [11] Es würde jedenfalls nicht in unserem Interesse sein, wenn wir uns zum Bollwerk gegen Russland und China machen ließen. Interessenausgleich und stabile politische Beziehungen wären auch zu unsrem Nutzen. Da stimme ich Erich Vad vollen Herzens zu. Was mir aber schwer einsichtig wird, ist die von ihm geforderte weitere Aufrüstung der Bundeswehr, „die jederzeit zur Verteidigung Deutschlands und des NATO-Bündnisses bereit“ sein müsse. Auch das unbeliebte Thema der Wehrpflicht müsse wieder auf den Tisch. [12] Donald Trump tönt doch schon die ganze Zeit, dass Europa mehr für seine Sicherheit zahlen müsse. Für die Stärkung der NATO, die schon längst kein Verteidigungsbündnis mehr ist? „Die weltweiten Militäreinsätze und militärischen Engagements der NATO … haben wenig mit der Bündnisverteidigung zu tun und mehr noch mit den Interessen der USA, etwa in Serbien (1999), Afghanistan (2001), im Irak (2003), in Syrien und Libyen (beide ab 2011) und jetzt im Ukraine-Krieg.“ Dabei haben die Kriege, „die die Amerikaner geführt haben, … die USA zur Nummer Eins in der Welt gemacht und sie haben dabei relativ wenig gekostet“ [13]. Und auch der Ukraine-Krieg, um den geostrategischen Rivalen Russland in die Schranken zu weisen, spielt sich weit weg von den US-amerikanischen Grenzen ab. Ein „Haselstrauch“ zur Warnung Schon in seinem vorigen Buch „Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit“ hatte Erich Vad ja auf mehr militärische Absicherung gedrängt. [14] Dass die Bundeswehr nicht vorbereitet wäre auf einen modernen Krieg? Diesbezüglich verfügt er über detaillierteres Wissen als ich. Wie gesagt lässt er keinen Zweifel, dass eine Konfrontation unbedingt zu verhindern wäre. Aber zwischen den Zeilen lauert eben doch die angebliche Gefahr aus dem Osten. Da widerspreche ich, zumal ich aus dem Osten stamme und die deutsche Bedrohungslüge schon mal für einen Angriffskrieg Verwendung fand. Einsichtig wird mir bestenfalls, dass die Weltordnung, wie sie nun mal ist, zumindest symbolisch mit militärischer Stärke zusammenhängt. Durch ein Drohpotenzial kann sich ein Staat Achtung erwerben. Was wäre das arme Nordkorea ohne seine Atomwaffen? Wenn sich Deutschland, wenn sich Europa von den USA lösen wollten – wäre dafür eine europäische Armee der beste Weg? Aber dafür ist Europa momentan ohnehin zu uneinig. Mit der NATO-Osterweiterung haben die USA da vorgebaut. Die Stärkung der Bundeswehr würde momentan nur die NATO stärken, die ja eben nicht europäisch-eigenständig ist. Und wie teuer wäre das bezahlt! Militärausgaben erhöhen: Rüstungskonzerne wird das freuen. Wir Steuerzahler werden dafür zur Kasse gebeten. Und der jetzt schon offensichtliche soziale Abwärtstrend in Deutschland wird verstärkt. Als hätte es für US-amerikanische Rücksichtslosigkeit in europäischen Belangen eines Beweises bedurft, erlaubte US-Präsident Biden am Ende seiner Amtszeit den Beschuss russischer Ziele durch weitreichende US-Waffen. Aus seiner Sicht war es ohne Risiko. Auf den Einsatz von ATACMS-Raketen im Gebiet Kursk reagierte Russland mit einer neuartigen ballistischen Rakete, die mit Überschallgeschwindigkeit fliegen kann, von gängigen Abwehrsystemen also nicht erreicht wird. Sie traf die ukrainische Stadt Dnipro, wo der Raketenbau- und Rüstungskonzern Juschmasch seinen Standort hat. Die kinetische Energie hat dafür genügt. „Oreschnik“ – Haselstrauch – kann mit Sprengstoff und auch nuklear bestückt werden. Russland würde die Länder, aus denen die Waffen stammen, als Kriegspartei betrachten und sie auf ihrem Gebiet angreifen, verlautbarte Putin erneut. Das würde auch die Taurus-Raketen betreffen. Postwendend forderte Kiew neue Raketen. Und „Oreschnik“ spielte auch eine wichtige Rolle beim Treffen von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius mit seinen Amtskollegen aus Frankreich, Großbritannien, Italien und Polen am 25. November in Berlin. Die „Freiheit aller Europäer“ hänge „davon ab, wie wir in der Lage und willens sind, sie zu verteidigen“. [15] Ja, sinnvoll wäre tatsächlich eine europäische Armee, die sich von den USA emanzipiert. Am 19. November hat Russland seine Nukleardoktrin aktualisiert. Am 25. November soll der Flughafen Kursk-Wostotschny von mindestens zwei amerikanischen Raketen getroffen worden sein. Woraufhin Russland mit angeblich 188 Kampfdrohnen den bisher größten Luftangriff auf die Ukraine seit Kriegsbeginn gestartet habe. [16] Von Tag zu Tag scheint sich die Situation zuzuspitzen. Was kann ein Buch wie das von Erich Vad da noch ausrichten? Zumindest Wähler erreichen. Von einem katastrophalen Risiko spricht er zudem, wenn es 2026 wirklich zur Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland käme, wie es Kanzler Scholz am Randes des NATO-Gipfels in Washington vereinbart hat. Ohne NATO-Konsens und hinter dem Rücken des Bundestages – wohl nie werden wir erfahren, was ihn dazu brachte. Wieder geht es um Abschreckungsfähigkeit gegenüber Russland, als ob von dort ein Angriff zu erwarten wäre. Umgekehrt: Gerade durch die Stationierung dieser Waffen macht sich Deutschland zum Ziel. „Aus russischer Sicht verschaffen sich die USA eine Option, von Europa aus mit konventionellen Waffen Ziele in Russland zu treffen, die von hoher Relevanz für dessen nukleare Abschreckung sind“, stellte der Friedensforscher Hans-Georg Ehrhart jüngst im Freitag fest. Das würde den Zwang für Moskau erhöhen, in einer sich zuspitzenden Krise die gegnerischen Potenziale frühzeitig zu zerstören. [17] Zumindest eine Gegenstationierung nuklearfähiger Raketen wäre vorauszusehen. Russland, auf die eigene Sicherheit bedacht, reagiert „spiegelbildlich“. Das müssten Militärstrategen inzwischen gelernt haben. Die Deutschen würden die Kastanien aus dem Feuer holen, und die USA wären wie immer weit weg. „Das Risiko, dass er zu einem großen europäischen Krieg, gar zu einem Nuklearkrieg auf europäischen Boden eskaliert, gefährdet die USA nicht unmittelbar.“ [18] Erich Vad: Ernstfall für Deutschland. Ein Handbuch gegen den Krieg. Westend Verlag, 80 S., geb., 15 €. Titelbild: esfera / Shutterstock | Irmtraud Gutschke | Der Ex-Bundeswehrgeneral Erich Vad sieht Deutschland in Gefahr - während die USA außer Reichweite bleiben. Gerade noch rechtzeitig kommt Vads Buch „Ernstfall für Deutschland“, um vor dem Wahljahr 2025 vor Augen zu führen, welche Entwicklungen dem Land drohen. Von Irmtraud Gutschke.
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Tarifbindung nimmt weiter ab | Wir geben ihr mit eine auch für unsere Leser interessante Presseinformation des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom 14.6.2007 einfach weiter. Die Daten betreffen eine für Arbeitnehmer und Gewerkschaften kritische Entwicklung. Albrecht Müller. | Albrecht Müller | Wir geben ihr mit eine auch für unsere Leser interessante Presseinformation des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom 14.6.2007 einfach weiter. Die Daten betreffen eine für Arbeitnehmer und Gewerkschaften kritische Entwicklung. Albrecht Müller.
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] | 14. Juni 2007 13:39 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=2411&share=email |
Kaum Inhalte, dafür aber reichlich Posten – Herzlichen Glückwunsch, liebe SPD-Spitze! | „Um Posten und Personalien wird erst ganz zum Schluss gesprochen, jetzt geht es um die Inhalte“ – es gibt wohl wirklich niemanden, der diesen Spruch noch glaubt. Uns liegen zwar noch keine verlässlichen Informationen zu den Inhalten vor, bei denen der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD von den Sondierungsergebnissen abweichen sollte; dafür melden die Agenturen jedoch übereinstimmend, dass die SPD sich gleich sechs Ressorts sichern konnte – darunter die Schlüsselressorts Außen, Finanzen und Arbeit und Soziales. Wer sich bislang noch gefragt hat, warum die SPD bei den Sondierungen so wenig Inhalte durchgedrückt hat, findet die Lösung wohl in den heutigen Meldungen. Inhalte und Posten hat man offenbar nicht bekommen; also hat man sich für die Posten entschieden. Damit schaufelt die SPD-Spitze der einst so stolzen Partei ihr eigenes Grab. Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Der Preis, den die SPD für die Koalitionspartnerschaft verlangen wollte, sollte hoch sein. So wurde beispielsweise die Einführung einer Bürgerversicherung noch im Vorfeld der Sondierungsgespräche als „rote Linie“ genannt. Wenn die aktuellen dpa-Meldungen stimmen, dann ist aus dieser „roten Linie“ ein „schwarzer Klecks“ geworden. Man wolle eine externe Kommission einsetzen, die die Zusammenlegung von privater und gesetzlicher Krankenkasse überprüft. Das ist weniger als nichts. Die angeblich großen Erfolge bei der Rente? Eine Nebelkerze, wie Reiner Heyse es auf den NachDenkSeiten überzeugend darlegte. Es war schon sehr erstaunlich, wie wenig die SPD-Führung bei den Sondierungsgesprächen mit der Union erreichen konnte. Albrecht Müller stellte bereits fest: „Die SPD-Spitze hat miserabel verhandelt“ und begründete dies auf den NachDenkSeiten auch ausführlich. Welchen Preis hatte diese schlechte Verhandlungsperformance? Hier kann man natürlich nur spekulieren. Aber alleine der Umstand, dass die maßgeblichen SPD-Verhandler nun mit hohen Posten überschüttet werden, hat ein klares G´schmäckle. Martin Schulz, der vor wenigen Wochen klipp und klar erklärte, für eine Große Koalition nicht zur Verfügung zu stehen, will jetzt Außenminister werden. Schön für ihn. Olaf Scholz, der unbedingt die SPD als Oppositionsführerin sehen wollte, ist nun als Finanzminister im Gespräch. Da müssen sich die Beamten im Ministerium wenigstens nicht umstellen; in den entscheidenden Punkten stimmen der Seeheimer Scholz und sein Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble ohnehin überein. Und die lautstarke Arbeitsministerin Andrea Nahles wird offenbar für ihren kämpferischen Einsatz für die GroKo mit einem verlängerten Engagement in ihrem Amt belohnt. Ganz ehrlich: Glaubt da irgendwer, dass es der SPD-Spitze um die Partei oder gar den Wählerwillen geht? Gerade in der prekären Situation, in der die SPD sich – zu Recht – befindet, wäre es doch eigentlich angebracht, die Partei durch eine überzeugende inhaltliche Positionierung wieder auf Kurs zu bringen und dabei das Postengeschacher hintanzustellen. Offenbar sieht die SPD-Spitze dies diametral anders und demonstriert dabei eine Instinktlosigkeit, die selbst in der Politik ihresgleichen sucht. Anstatt die Partei neu aufzustellen, versorgt man sich gegenseitig mit lukrativen Posten. Nach uns die Sintflut. Die SPD ist auf dem besten Weg in die Bedeutungslosigkeit. Als letztes Hindernis steht nun noch die Notbremse der Basis im Weg. Die SPD-Spitze will schließlich noch ihre Mitglieder befragen und nur ein klares „Nein!“ wird der Partei überhaupt noch die Möglichkeit geben, sich vielleicht doch noch vor dem drohenden Untergang zu retten. Dass das miserable Sondierungsergebnis nun auch noch durch ein unverschämtes Postengeschacher getoppt wurde, dürfte die Stimmung an der Basis nicht eben verbessern. Wir wissen, dass sich diese Einschätzungen bislang vor allem auf Agenturmeldungen stützen. Die NachDenkSeiten werden sich bemühen, den Koalitionsvertrag genau unter die Lupe zu nehmen, sobald er in einer finalen Version vorliegt. Wenn Ihnen interessante Details im Vertrag auffallen, schicken Sie uns doch bitte ihre Informationen an leserbriefe(at)nachdenkseiten.de. | Jens Berger |
„Um Posten und Personalien wird erst ganz zum Schluss gesprochen, jetzt geht es um die Inhalte“ – es gibt wohl wirklich niemanden, der diesen Spruch noch glaubt. Uns liegen zwar noch keine verlässlichen Informationen zu den Inhalten vor, bei denen der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD von den Sondierungsergebnissen abweichen sollte; dafür melden die Agenturen jedoch übereinstimmend, d ... | [
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] | 07. Februar 2018 12:18 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=42300 |
Die Probleme und Fehler der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung | Katalonien durchlebt die schwerste soziale, politische und demnächst wirtschaftliche Krise, die es je in den aktuellen demokratischen Zeiten gegeben hat. In einem vorherigen Artikel habe ich die Dimensionen der sozialen Krise in Katalonien, der schwersten in diesem Jahrhundert und dem Ende des vorherigen, ausführlich geschildert (“El mayor problema que tiene hoy Catalunya del cual no se habla: la crisis social” Público, 30 de Junio 2017). Zu dieser Krise kommt die enorme politische Krise hinzu, indem in die Institutionen der Generalitat [der Begriff Generalitat bezeichnet die Gesamtheit der Institutionen katalanischer Selbstverwaltung – EDE] durch den Zentralstaat eingegriffen wird, mit der Möglichkeit und der Gefahr (zudem mit erhöhter Wahrscheinlichkeit), dass die Entscheidungs- und Verwaltungskompetenzen für die katalanische Regierung im Rahmen der katalanischen Institutionen noch weiter beschnitten werden. Auf der anderen Seite hat die Furcht davor, dass die großen politischen Spannungen in Katalonien die großen Firmen und Konzerne mit Sitz in Katalonien negativ beeinträchtigen, zu einer massiven Flucht vieler Firmen in andere Teile Spaniens geführt – wodurch eine wirtschaftliche Krise produziert wird. Von Vicenç Navarro, aus dem Spanischen von Em D. Ell.
Es muss nicht betont werden, dass die maßgebliche Verantwortung für das Geschehen in Katalonien in der Politik der spanischen Zentralregierung, geführt vom Partido Popular und ihrem Präsidenten Mariano Rajoy, liegt. Allerdings, und fern jeglicher Behauptung einer gleichen Verteilung der Verantwortungen und einer neutralen Position einer gerechten Mitte zwischen den jeweiligen Positionen und Gründen, ist das katalanische Regierungsbündnis unter dem Namen Junts Pel Sí [‘Gemeinsam für das Ja’] ebenfalls für jede einzelne dieser Krisen verantwortlich. Auch wenn diese Tatsache in den Medien in Madrid unterstrichen (und auch übertrieben) wird, so wird sie in einem Großteil der Medien in Barcelona ignoriert, sowohl in den von der katalanischen Regierung der Sezessionisten kontrollierten öffentlichen Medien als auch in den von ihr über großzügige öffentliche Subventionen hochgradig beeinflussten privaten Medien. Angesichts meiner kritischen Analysen des spanischen Zentralstaats und der spanischen Regierung in vorherigen Artikeln (vgl. “La necesaria movilización de las fuerzas democráticas frente a los herederos del franquismo” Público, 28 de Septiembre 2017), versuche ich mich hier auf das Auftreten der Regierung von Junts Pel Sí zu konzentrieren und ihren Teil der Verantwortung an den eingangs erwähnten schweren Krisen aufzuzeigen. Auf die soziale Krise werde ich dabei nicht weiter eingehen, d.h. auf die bereits beschriebene maßgebliche Verantwortung an den Einbußen der Lebensqualität und der sozialen Absicherung der breiten Bevölkerung in Katalonien seitens der Regierungen der Convergència (im Bündnis mit Unió Democrática bis 2015 und mit ERC danach), durch ihre klar neoliberale Politik (wie etwa in der Arbeitsrechtsreform, mit der Folge des Anstiegs von Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen sowie dem Sinken der Löhne und des sozialen Schutzes) und die enormen Kürzungen der Sozialausgaben sowie die Privatisierungen öffentlicher Leistungen des Sozialstaates. Diese neoliberale Politik wurde im spanischen Parlament beschlossen (zusammen mit der ebenfalls neoliberalen PP), durch die Partei Convergència (jetzt unter dem Namen PDeCAT, die in Katalonien die meiste Zeit in der Demokratie ab 1978 regiert hat). Die politische Krise: Eine Folge des sogenannten ‘Procés’ Hinsichtlich der politischen Krise liegt ein maßgeblicher Grund in der entworfenen Strategie, eine Unabhängigkeit ‘express’ zu erreichen. Diese Strategie hat Convergència umgesetzt, in einer Koalition zusammen mit der Partei ERC, unter dem Namen Junts Pel Sí, und mit Hilfe und Tolerierung seitens der sehr kleinen, doch durch die knappen Mehrheitsverhältnisse im katalanischen Parlament einflussreichen CUP, ohne die es keine Regierungsmehrheit gibt. Entscheidend ist hierbei, dass sich diese parlamentarische Mehrheit einem Wahlgesetz verdankt, dessen Entwurf (mit dem Ziel der Begrenzung des Einflusses der Arbeiterklasse) noch aus der vordemokratischen Zeit stammt. Die Regierung von Pujol hätte es ändern können, doch sie rührte es nicht an, und bevorzugte weiterhin die ländlichen Gegenden und Kleinstädte auf Kosten der Großstädte, in denen die Mehrheit der Arbeiterklasse lebte. Daraus folgt, dass eine Mehrheit im Parlament nicht einer Mehrheit der Stimmen entspricht. Die Stimmen der Parteien für die Unabhängigkeit haben nie eine Mehrheit der Wählerschaft in Katalonien erreicht. Die als sogenannter ‘Procés’ bekannte Strategie besteht aus mehreren Komponenten. Eine dieser Komponenten ist die zeitliche Abfolge des Vorgehens zur Erreichung der Unabhängigkeit als unmittelbares und immer vorrangiges Ziel gewesen, das vor alle anderen gestellt wurde (tatsächlich ist die eigentliche gesetzgeberische Aktivität dieser parlamentarischen Mehrheit sehr gering gewesen). Präsident Puigdemont versicherte, 45 Gesetze in den 18 Monaten seiner Regierung zu verabschieden. Doch in Wirklichkeit sind es bisher nur 23 gewesen (18 in diesem und 5 im vergangenen Jahr). (Die geringe Aktivität ergibt sich aus dem Schwerpunkt, der auf agitatorische statt auf legislative Funktionen gelegt wurde.) Die katalanische Regierung wollte sich auf das Erreichen der Unabhängigkeit ‚express‘ konzentrieren. Als Teil dieses beschleunigten Prozesses hatte man das Niveau des Vorgehens gesteigert bzw. eskaliert. Sei es durch die politischen Reden und Botschaften, sei es durch die Argumente zur Begründung des Vorgehens, sei es in Aktionen seitens der katalanischen Regierung, die die Spannung gegenüber dem Zentralstaat erhöhten, mit der Absicht die Unterstützung der öffentlichen Meinung für die katalanische Regierung zu mobilisieren. Tatsächlich haben genau dies einige Verantwortliche von Junts Pel Sí mehrmals zu verstehen gegeben. Ihr Ziel war es, den Diskurs zu radikalisieren, um eine gesteigerte Mobilisierung zu erreichen. Die Monopolisierung des Strebens nach Souveränität durch das Streben nach Unabhängigkeit Ein weiteres Charakteristikum dieses Prozesses ist die Monopolisierung der Bedeutung von Souveränität (dem Recht auf Entscheidung) durch die von Unabhängigkeit (die Trennung Kataloniens vom Rest Spaniens), und das Vermischen beider Konzepte und Begriffe bis hin zu ihrer Vertauschbarkeit und Gleichsetzung. Der mittels dieser Strategie erzeugte Gegensatz bestand darin, mögliche Alternativen zur ‘Unabhängigkeit’ bzw. das, was die Sezessionisten ‘Unionismus’ nennen, zu begrenzen, indem man als solche alle anderen Optionen jenseits des eigenen Sezessionismus definierte. Diese Strategie hatte die Alternativen enorm begrenzt und nur auf zwei mögliche reduziert. Eine war, die Unabhängigkeit zu erreichen, und die andere, in dem gegebenen Status Quo fortzufahren. Ein Gegensatz, der die erste Option begünstigte, in dem Maße, in dem das repressive und unsensible Vorgehen gegenüber dem katalanischen Identitätsbewusstsein und das Nichtanerkennen einer katalanischen Nation seitens der Zentralregierung Rajoys die Attraktivität der zweiten Option immer mehr verringerte. In dieser Strategie des Sezessionismus war es entscheidend, ganz Spanien als unveränderbar und Katalonien gegenüber feindlich zu präsentieren. Und tatsächlich waren in den Augen dieser Unabhängigkeitsstrategie die politischen und sozialen Bewegungen in Katalonien, bekannt als En Comú Podem, angeführt von der Bürgermeisterin Barcelonas, Ada Colau, sowie die politischen und sozialen Bewegungen in Spanien, Unidos Podemos, Hindernisse für das Erreichen ihres Ziels, denn diese präsentierten ein freundliches und attraktives Bild von Spanien. Das Ergebnis von En Comú in den letzten Wahlen in Katalonien löste große Beunruhigung innerhalb der konservativen und liberalen Strömungen von Junts Pel Sí aus. So stimmte etwa Convergència (PDeCAT) gegen das konstruktive Misstrauensvotum, das Podemos gegen die Regierung Rajoys einbrachte. Beide politischen Formationen, En Comú Podem und Unidos Podemos, unterstützten das Recht auf Entscheidung der katalanischen Bevölkerung, das Recht, zwischen mehreren Alternativen zu wählen, von denen eine die Sezession wäre, auch wenn keine der beiden Formationen diese Alternative bevorzugte. Die Mehrheit der katalanischen Bevölkerung ist für die Souveränität (d.h., sie unterstützt das Recht auf Entscheidung), doch nicht für die Unabhängigkeit. Alle Anhänger der Unabhängigkeit sind für die Souveränität, doch nicht alle Anhänger der Souveränität sind für die Unabhängigkeit. Diese Klarstellung kam nie von den Sezessionisten. Womit sie die Unwahrheit behaupten, wenn sie sagen, dass ‘die katalanische Bevölkerung die Unabhängigkeit wünscht’, es sei denn, man begrenzt die Bedeutung des Wortes ‘katalanisch’, denn die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Wählerschaft nicht sezessionistisch ist. Das sogenannte Referendum als Instrument der Mobilisierung Eine weitere Eigenschaft des ‘Prozés’, verbunden mit der vorgenannten (die Identifizierung des Referendums mit dem Streben nach Unabhängigkeit), war der Ausschluss von Organisationen, die nicht sezessionistisch waren, an der Vorbereitung der Kampagne zum Referendum. Tatsächlich marginalisierten sie die Organisation des Pacto Nacional, die neben den Parteien für die Souveränität (Sezessionisten und Nicht-Sezessionisten) die größten Organisationen der Zivilgesellschaft umfasste, wie etwa Gewerkschaften, Nachbarschaftsvereine, Vereinigungen der Freiberufler, der Landarbeiter, der Kleinbetriebe und etliche mehr. Den sichtbarsten Ausdruck fand diese Monopolisierung in der Organisation der Diada in diesem Jahr (wenn die Bevölkerung auf der Straße das kollektive Gedenken an Diejenigen begeht, die 1714 zur Verteidigung der Rechte Kataloniens gegen den König der Bourbonen, Felipe V., kämpften), die ein lautes Fordern der Unabhängigkeit war, in dem gegen die in Spanien fehlende Freiheit protestiert wurde, doch zugleich die fehlende Freiheit und Pluralität im Vorgehen der Regierung von Junts Pel Sí und in ihren missbräuchlicherweise instrumentalisierten Medien (TV3 und Catalunya Ràdio) ignoriert wurde. Die Diada, der Nationalfeiertag Kataloniens, war eine Demonstration für das JA in einer Wahlkampagne, die sich fälschlicherweise als Referendum ausgab. Dies erklärt, weshalb viele, wie auch ich, die sonst jedes Jahr an den zahlreichen Feierlichkeiten des katalanischen Nationalfeiertags teilnahmen, dieses Mal nicht dabei waren, abgestoßen und beleidigt durch einen derartig einseitigen und sektiererischen Charakter der Veranstaltung. Als Folge dessen lag die Anzahl der Teilnehmer in diesem Jahr niedriger als in den Jahren zuvor. Der Mobilisierungsgrund: Von der Unabhängigkeit zur Demokratie Die Polizeigewalt am 1. Oktober veränderte die Art und das Ziel der Mobilisierung. Die Polizeigewalt erklärt, weshalb viele der Leute, die vorher nicht am Referendum teilnehmen wollten, nun auf die Straße gingen, um zu wählen, als Zeichen ihrer Ablehnung gegenüber diesem Vorgehen und gegenüber der klar repressiven und antidemokratischen Haltung des Zentralstaates. Besonders bedeutsam ist dabei, dass die Zunahme der Beteiligung in den Arbeitervierteln des ‘roten Gürtels’ Barcelonas höher ausfiel als in anderen Gegenden Barcelonas und Kataloniens. Die Demonstration verlagerte sich von einer für die Unabhängigkeit zu einer für die Demokratie. Ein Schritt, der durch die Geschehnisse des 3. Oktober bestätigt wurde, als Katalonien (und speziell Barcelona) stillstand. Dieser Generalstreik wurde organisiert von der Taula Demòcrata [Der Demokratische Tisch], der sich aus den großen Organisationen der Zivilgesellschaft zusammensetzt, von den Gewerkschaften, über die Nachbarschaftsvereine, die Vereinigungen der Freiberufler, der Landarbeiter, der Kleinbetriebe und etliche mehr. Es war ein Generalstreik in ganz Katalonien. Und es war ein Wechsel in der Ausrichtung der Mobilisierung. Entgegen den Versuchen der Regierung von Junts Pel Sí, und ihrer Werkzeuge wie die Organisationen Omnium und ANC, übernahm Der Demokratische Tisch eine Rolle und Führung, die die Unabhängigkeitsparteien störte, nahmen sie doch einen solchen Wechsel als Aufweichung ihres Anliegens war. Die katalanische Arbeiterklasse ist nicht sezessionistisch Ein weiterer Fehler der Unabhängigkeitsbewegung war die mangelnde Attraktivität der Unabhängigkeit in der Arbeiterklasse Kataloniens. Auch wenn es die Unabhängigkeitsparteien ignorieren, so sind die Anzeichen dafür bekannt. Die Arbeiterklasse Kataloniens ist nicht sezessionistisch, aus mehreren Gründen. Einer ist, dass die Unabhängigkeitsbewegung von einer Koalition unter Leitung der Partei von Artur Mas [dem vorherigen Präsidenten der Generalität] angeführt wird, d.h. von der katalanischen Rechten, deren neoliberale Politik von der Arbeiterklasse zurecht als schädlich für ihre Interessen wahrgenommen wird. Die Nähe von Präsident Puigdemont zu Mas ist bekannt, und Mas war nie populär in der katalanischen Arbeiterklasse. Ein weiterer Grund für die fehlende Unterstützung der Unabhängigkeit durch die Arbeiterklasse ist, dass sie mehrheitlich aus anderen Gegenden Spaniens stammt und sich emotional als spanisch empfindet und gegen die Sezession ist. Die Mehrheit der Arbeiterklasse in Katalonien spricht Spanisch (Castellano). Die Anzeichen dafür sind eindeutig, wie sich etwa in den Daten der Umfrage vom Juni 2017 durch das CEO [katalanisches Sozialforschungsinstitut] zeigt, aus denen sich ergibt, dass mit steigendem Haushaltseinkommen die Unterstützung der Unabhängigkeit steigt und umgekehrt mit sinkendem Haushaltseinkommen die Unterstützung der Unabhängigkeit sinkt. Darüber hinaus sind in Katalonien diejenigen, die sich selbst als einfaches Volk bezeichnen (Klassen der unteren mittleren und der unteren Einkommen), klarerweise keine Sezessionisten: 56,15% dieser Volksklassen sind gegen die Unabhängigkeit, gegenüber nur 33% dafür. Dies erklärt, weshalb die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien nie eine Mehrheitsbewegung war und weiterhin nicht sein wird, denn die Unabhängigkeit allein als solche ist kein ausreichendes Motiv für die Mehrheit der Bevölkerung. Nur wenn das Projekt Unabhängigkeit eine klare und starke soziale Komponente hätte, gäbe es dafür eine Möglichkeit. Doch ein solch soziales Thema fehlt in der Unabhängigkeitsbewegung. Lediglich unbestimmte Generalisierungen, mit zweifelhafter Glaubwürdigkeit, fanden sich im sozialen Diskurs der Sezessionisten mit einigermaßen übertriebenen und unglaubwürdigen Versprechungen. Ein klarer Fall dessen war die Behauptung führender Stimmen von Junts Pel Sí und nahestehender Ökonomen, inklusive des ‘Wirtschaftsweisen’ von TV3 (dem öffentlichen TV-Kanal der Generalitat Kataloniens), Xala i Marti, dass die Renten vom Übergang in die Unabhängigkeit nicht negativ beeinflusst würden. Eine offensichtliche Falschaussage, da eine Zusammenarbeit und Koordination mit dem Zentralstaat, und seiner Sozialversicherung, während der Phase des Übergangs unverzichtbar ist, und im gegenteiligen Fall ein enormes Problem für die katalanischen Rentner bestünde. Im August 2017 gab es in Katalonien 1.704.692 Rentner mit einer durchschnittlichen Rente in Höhe von 957 €, finanziert zu einem Teil von 3.294.418 Beitragszahlern. Doch diese Beiträge sind nicht ausreichend, so dass ein Defizit von 4.700 Millionen Euros besteht (eine höhere Zahl als die von den Sezessionisten genannte). Dieses Geld müsste von der Generalitat kommen, Jahr für Jahr, womit ein formidabler Schuldenberg anwüchse, denn der spanische Staat könnte die Zahlungen der katalanischen Pensionen womöglich verweigern. Die Probleme des Überganges für diese Pensionäre wären enorm und bestünden über Jahre (und nicht lediglich für 6 Monate, wie einige Sprecher der Sezessionisten prophezeit haben). In dieser Hinsicht handeln diese Parteien an der Grenze der Unverantwortlichkeit, indem sie klarerweise unhaltbare Versprechungen machen, etwa, dass es keine Lasten und Opfer während eines Überganges gäbe, sondern die Beibehaltung der Renten und anderer Transferleistungen und öffentlicher Dienste. Doch die größte Übertreibung aller Übertreibungen war die Behauptung, die Unabhängigkeit in sechs Monaten zu erreichen. Es ist schwer vorstellbar, dass diejenigen, die solches behaupteten, tatsächlich glaubten, was sie sagten. In Wirklichkeit hatte Junts Pel Sí in seiner Kampagne für die Unabhängigkeit die Kosten einer solchen Express-Unabhängigkeit kleingerechnet, in einer derart übertriebenen und unglaubwürdigen Weise, die dennoch als Wahrheit in einer unkritischen Medienlandschaft durchging. Beständig unterstrichen sie, dass alles, vom Renten- bis zum Gesundheitswesen, in einem unabhängigen Katalonien sehr viel besser wäre, und all dies entgegen den Anzeichen für eine lange Phase der Entbehrungen, auf die man die Bevölkerung nicht hinwies (und von der die Firmenflucht einen ersten Vorgeschmack auf die bevorstehende ökonomische Krise gibt). Die Anzeichen solcher Falschaussagen sind überwältigend. Wohin führt uns die aktuelle Situation? Es ist unmöglich, dass die Führer der Unabhängigkeitsbewegung unter Leitung der katalanischen Regierung nicht sahen, dass dieser Prozess zur aktuellen Situation führen musste, die enorme Frustration und Schmerzen auslöst. Es gab etliche Gründe, dass diese Strategie nicht funktionieren konnte. Einer war der spanische Staat, Erbe einer Diktatur und eines spanischen Nationalismus, der sich (als Folge von 40 Jahren einer Diktatur und 40 Jahren einer überwachten und unvollständigen Demokratie) in großen Teilen der spanischen Gesellschaft festgesetzt hat. Die Machtverhältnisse in Spanien sind für die Kräfte der Unabhängigkeit sehr ungünstig gewesen. Und zu diesem enormen Ungleichgewicht der Kräfte in Spanien kommt noch die fehlende Unterstützung seitens der Europäischen Union. Doch nicht nur das, denn durch die Auffassung und Darstellung Spaniens als unveränderbar hatte es die Unabhängigkeitsbewegung versäumt, die Transformation in Katalonien an die bestehende Transformation in Spanien anzuknüpfen. Tatsächlich hatte ihre Kampagne eines Anti-Spanien verhindert, dass große Teile der Gesellschaft Spaniens sich den Kampf für ein neues Katalonien zu eigen machen konnten. Das Ergebnis von all dem ist, dass ihre Strategie Katalonien in eine Situation führt, in der wir den totalen Verlust der Autonomie und den Verlust von Rechten erleben werden. Tatsächlich hat der spanische Staat die Ungeschicktheit der Sezessionisten seinerseits geschickt genutzt, um bereits erlangte Rechte Kataloniens zu beschneiden, und damit gleichzeitig einen enormen Rückschritt in ganz Spanien zu ermöglichen, in dem Maße, in dem radikale Kräfte aus der Vergangenheit wiedererweckt und wiedererstarkt werden. Es ist besonders frustrierend, wie leicht es vorherzusagen war, dass genau das geschehen würde. Der einzige Grund, der entgegen dieser Offensichtlichkeiten des drohenden Geschehens, das Vorgehen der Sezessionisten erklären könnte, wäre, dass dahinter in Wirklichkeit das Vorhaben steckt, aus der aktuell enormen Mobilisierung in den bald bevorstehenden Wahlen in Katalonien Kapital zu schlagen. Eine andere Alternative wäre möglich gewesen Eine andere Alternative wäre gewesen, weniger die Unabhängigkeit zu betonen, sondern stattdessen die Bildung eines neuen Kataloniens im Zusammenwirken mit den linken Kräften Spaniens, die bereits versuchen, Spanien zu verändern. Die Bildung eines neuen Kataloniens wäre ein Ausgangspunkt für einen Wechsel in Spanien gewesen, in dem Maße, in dem es der spanischen Bevölkerung geholfen hätte, im Kampf um das Recht auf Entscheidung in Katalonien auch einen Kampf für die Transformation Spaniens erkennen zu können. Die zu verfolgende Strategie wäre die der Demokratisierung Kataloniens und Spaniens gewesen, in einem Projekt profunder demokratischer Transformation, in dem die Lösung der großen sozialen Krise im Zentrum der Kämpfe für die Vielfalt der Nationen Spaniens stünde. Der Generalstreik des 3. Oktober, geführt von Kräften mit dem Ziel einer Demokratisierung, war ein Anzeichen für die Möglichkeit einer solchen Strategie. Dass man eine solche nicht verfolgt hatte, hinterlässt einen irreparablen Schaden in Katalonien und Spanien. Dass man derart das Thema Nationalismus betont hat, mit einer Polarisierung der Gesellschaft zwischen Sezessionisten und Verteidigern der ‘Nationalen Einheit’, schwächt die progressiven und demokratischen Kräfte, insbesondere die der Linken, womit wiederum die Reproduktion neoliberalen Gedankenguts erleichtert wird, das auf beiden Seiten dieser Polarisierung federführend wirkt. | Jens Berger | Katalonien durchlebt die schwerste soziale, politische und demnächst wirtschaftliche Krise, die es je in den aktuellen demokratischen Zeiten gegeben hat. In einem vorherigen Artikel habe ich die Dimensionen der sozialen Krise in Katalonien, der schwersten in diesem Jahrhundert und dem Ende des vorherigen, ausführlich geschildert (“El mayor problema que tiene hoy Catalunya del cual no se habla: ... | [
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] | 15. Oktober 2017 11:00 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=40589 |
Wir bitten um Ihre Jahresspende und gehen verantwortungsvoll damit um | Jedes Jahr, meist schon im November, bitten wir unsere Leserinnen und Leser um ihre besondere finanzielle Unterstützung für die Arbeit der NachDenkSeiten-Redaktion. In diesem Jahr sind wir etwas später dran. Das hat auch damit zu tun, dass wir schon im Artikel über „20 Jahre NachDenkSeiten“ auf die Notwendigkeit Ihrer finanziellen Unterstützung hingewiesen haben. Das war dort ein bisschen versteckt. Deshalb kommen wir darauf zurück. Hier finden Sie die notwendigen Informationen zum Verfahren.
Sie können davon ausgehen, dass wir mit den gespendeten Mitteln sorgfältig umgehen. Damit werden die Gehälter der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Honorare der Gast-Autoren bezahlt. Es werden damit die technischen Kosten bezahlt – und auch ein bisschen Werbung für das Projekt gemacht. Leider hat das zuständige Finanzamt in Landau – auf höhere Weisung – im vergangenen Jahr die Abzugsfähigkeit von Spenden für die NachDenkSeiten gestrichen. Das ist ein undemokratischer Vorgang, weil die NachDenkSeiten nun wirklich einen gemeinnützigen Beitrag zur demokratischen Debatte leisten. Die Aberkennung ist auch deshalb unverständlich, weil viele Unternehmensstiftungen wie zum Beispiel die Bertelsmann Stiftung und die Mercator Stiftung nach wie vor als gemeinnützig anerkannt sind. Unsere Leserinnen und Leser haben auf die Entscheidung der Finanzbehörden bisher richtig reagiert: Sie unterstützen das Projekt NachDenkSeiten auch ohne Abzugsfähigkeit Ihres Beitrages. Großen Dank für diese besondere Solidarität. | Redaktion | Jedes Jahr, meist schon im November, bitten wir unsere Leserinnen und Leser um ihre besondere finanzielle Unterstützung für die Arbeit der NachDenkSeiten-Redaktion. In diesem Jahr sind wir etwas später dran. Das hat auch damit zu tun, dass wir schon im Artikel über „20 Jahre NachDenkSeiten“ auf die Notwendigkeit Ihrer finanziellen Unterstützung hingewiesen haben. Das war dort ein bisschen vers ... | [
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] | 08. Dezember 2023 12:36 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=107924&share=email |
Von verlorenen Werten | Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die Familie von Giovanni Lo Porto, eines italienischen NGO-Mitarbeiters, der im Jahr 2015 durch einen US-amerikanischen Drohnen-Angriff in Waziristan getötet wurde, von der US-Regierung eine Entschädigungssumme von 1,3 Millionen Dollar erhält. Sowohl Lo Porto als auch Warren Weinstein, ein weiterer Zivilist, der damals den Tod fand, wurden von Al-Qaida-nahen Kämpfern als Geiseln festgehalten. Doch während nun die Familie eines Drohnen-Opfers – und in diesem Fall auch eines weißen Europäers – erstmals finanziell entschädigt wird, warten andere Menschen vergeblich darauf. Von Emran Feroz
Als Mohammad Azam an jenem Tag im Mai seine Schicht begann, war es anfangs lediglich ein weiterer sonniger Morgen in Taftan, einer Stadt in der pakistanischen Provinz Belutschistan. Wie jeder andere Taxifahrer auf dieser Welt hatte sich Azam vorgenommen, seinen Tag damit zu verbringen, einige Fahrgäste von A nach B zu fahren. Azam hatte keine Ahnung, dass dies sein letzter Arbeitstag sein würde. Am späten Nachmittag des 21. Mai wurde sein verbrannter Körper – kaum identifizierbar – aufgefunden. Zu seinem Unwissen war sein letzter Fahrgast Ziel eines US-amerikanischen Drohnen-Angriffs: Mullah Akhtar Mohammad Mansour, der damalige Führer der afghanischen Taliban. Azam wurde dasselbe Schicksal zuteil wie zahlreichen anderen Menschen, die tagtäglich unter Drohnen leben – und zum Teil deshalb den Tod finden. Doch im Gegensatz zu Mansour fand Azams Name in der internationelen Berichterstattung kaum Erwähnung. Anfangs war nicht einmal klar, ob Mansour getötet wurde. Während sowohl Washington als auch die afghanische Regierung in Kabul seinen Tod verkündeten, forderten andere Beobachter einen endgültigen Beweis für den Tod des Taliban-Führers. “Fehler” passierten in der Vergangenheit nämlich allzu oft. Immer wieder hieß es seitens Medien und Regierungsoffiziellen, dass dieser oder jener Extremistenführer durch einen präzise erscheinenden Drohnen-Angriff getötet wurde – bevor er wieder lebendig in Erscheinung trat. Wer stattdessen getroffen wurde, blieb in nahezu allen Fällen im Dunkeln. Im Falle Mansours wurde seine Identität erst bestätigt, nachdem die pakistanische Regierung seine DNA mit der eines Familienmitglieds vergleichen ließ. Der Fall war damit abgeschlossen. Ein paar Tage später wurde lediglich bekannt, dass ein rücksichtsloserer und radikalerer Mann in Mansours Fußstapfen getreten ist. Das andere Opfer, der bescheidene Taxifahrer Mohammad Azam, war so gut wie keine einzige Zeile wert. Mohammad Qasim, der Bruder Azams, ist empört darüber. “Mein Bruder war unschuldig”, wiederholte er mir gegenüber mehrmals. “Wir – seine Familie – sind uns sicher, dass er nichts über die Identität seines letzten Fahrgastes wusste. Wie viele andere Drohnen-Opfer hatte Azam keinerlei Verbindungen zu militanten Gruppierungen”, so Qasim. Laut Qasim wurde Azam am Tag seines Todes darüber informiert, dass ein lokaler Geschäftsmann auf ein Taxi warte. Von Anfang an gab es mehrere Gründe, warum Mullah Mansours Identität problematisch erschien. Als reisender Geschäftsmann benutzte der Taliban-Führer gefälschte Dokumente und wies sich demnach mit einem anderen Namen aus. Dadurch konnte Mansour in mehrere Staaten problemlos ein- und ausreisen. Nach dem Drohnen-Angriff wurde etwa deutlich, dass er mehrere arabische Staaten in den letzten Jahren bereist hatte. Mehreren Berichten zufolge fand Mansours letzter Trip in den Iran statt. Von iranischen Behörden wird dies jedoch weiterhin geleugnet. Wie dem auch sei: In Anbetracht der Art und Weise, wie Mansour seine Identität verschleierte, ist es schwer vorstellbar, dass ein einfacher Taxifahrer ihn kurz vor seinem Tod entlarvt hat. Laut Mohammad Qasim war sein Bruder der Haupternährer seiner ganzen Familie. Azam hinterlässt eine Frau und vier Kinder. In jenem Monat, in dem Azam getötet wurde, beantragte Qasim einen sogenannten First Investigation Report (FIR) in einer Polizeistation in Belutschistan. In dem Dokument fordert Qasim die Untersuchung der Todesumstände seines Bruders und fordert Gerechtigkeit. Außerdem macht er in dem handgeschriebenen Papier die USA für den Tod Azams verantwortlich. Nun, Monate nach Azams Tod, steht die Familie weiterhin allein und machtlos dar. “Niemand interessiert sich für den Tod meines Bruder. Kein einziger Politiker hat sein Beileid ausgedrückt. Obendrein sind wir zu arm. Wir können uns keinen Anwalt leisten, der uns und unser Anliegen repräsentiert”, sagt Qasim. Die Mehrheit der Familienangehörigen von Drohnen-Opfern ist schlichtweg zu arm, um politischen Druck auszuüben. Doch nur durch solch eine Art von Druck ist es möglich, internationale Aufmerksamkeit auf derartige Ungerechtigkeiten zu ziehen. Egal, ob in Pakistan, im Jemen, in Afghanistan oder in Somalia – die Drohnenmord-Kampagne der Obama-Administration hat mittlerweile Tausende von Leben gekostet. Familien wie jene Azams gibt es zahlreich. Sie leben in abgelegenen Regionen, deren Namen den Menschen im Westen meist total unbekannt sind und sind einem Krieg ausgesetzt, den sie nie begonnen haben. Die Opfer, die diese Menschen tagtäglich aufbringen, werden kaum wahrgenommen. Sie sind unsichtbar. Laut dem Bureau of Investigative Journalism, einer in London ansässigen Organisation, die sich unter anderem auf den Drohnen-Krieg der Vereinigten Staaten fokussiert, sind mehr als achtzig Prozent der identifizierten Drohnen-Opfer in Pakistan Zivilisten. Im Jemen wurden im Jahr 2015 mehr Zivilisten Opfer von US-Drohnen als von Al-Qaida-Angriffen. In westlichen Medien finden derartige Fakten kaum Erwähnung. Eines sollte deshalb klar sein: Während wir uns niemals absolut sicher sein können, ob Mohammad Azam sich über die Identität seines letzten Fahrgastes bewusst gewesen ist oder nicht, liegt es dennoch sehr nahe, dass er lediglich ein einfacher Taxifahrer gewesen ist, der tagtäglich aufs Neue versucht hat, seine Familie zu ernähren. An jenem schicksalhaften Tag befand sich er sich wohl lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Doch selbst wenn Azam Mullah Mansour gekannt hätte, müssen wir uns fragen, ob es legitim gewesen ist, ihn zu töten. Drohnen-Angriffe, vor allem jene in Gebieten wie Pakistan, Jemen oder Somalia, in denen offiziell kein Krieg herrscht (“non-combat zones”), stellen eine sehr klare, eindeutige Verletzung des internationalen Rechtes sowie etablierter Menschenrechtsstandards dar. Allem Anschein nach werden all diese Errungenschaften der letzten Jahrzehnte einfach über Bord geworfen, um ein paar bewaffnete Männer aus dem Weg zu räumen. Tatsächlich gibt es viele Werte und Errungenschaften, auf die der Westen stolz sein kann. Eine davon ist die Unschuldsvermutung, die zu den rechtlichen Grundsteinen demokratischer Gesellschaften und Staaten gehört. Doch Mohammad Azam und zahlreichen anderen Menschen, die weiterhin namenlos und unsichtbar bleiben werden, wurde dieses Recht auf grausame Art und Weise verwehrt. | Emran Feroz | Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die Familie von Giovanni Lo Porto, eines italienischen NGO-Mitarbeiters, der im Jahr 2015 durch einen US-amerikanischen Drohnen-Angriff in Waziristan getötet wurde, von der US-Regierung eine Entschädigungssumme von 1,3 Millionen Dollar erhält. Sowohl Lo Porto als auch Warren Weinstein, ein weiterer Zivilist, der damals den Tod fand, wurden von Al-Qaida-nah ... | [
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] | 28. September 2016 11:50 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=35205 |
Der Spiegel vermarktet die Bertelsmann Stiftung – „Deutscher Lernatlas“ stellt den Zusammenhang von Bildung und Wohlstand auf den Kopf | „Wo die klugen Deutschen leben“, das ist die Titelgeschichte des aktuellen Spiegels. Und diese Geschichte beherrschte gestern die Schlagzeilen. Den ganzen Tag über konnte man in den Nachrichtensendungen und Nachrichtenagenturen vernehmen: „Deutliches Bildungsgefälle in Deutschland“ oder „Deutliches Süd-Nord-Gefälle“.
So entstehen Schlagzeilen: Der Spiegel – nach wie vor eine der maßgeblichen medialen Entscheidungsinstanzen dafür, welche Nachrichten in anderen Medien verbreitet werden – bekommt „exklusiv“ ein paar Tage vor Veröffentlichung durch die Bertelsmann Stiftung selbst deren neueste „Studie“ [PDF – 10 MB] vorab zugeschanzt und macht mit einer reißerischen Schlagzeile auf – und nahezu alle anderen Medien schreiben ab und übernehmen die Botschaft blind. Von Wolfgang Lieb
Hätte die Bertelsmann Stiftung ihren „Deutschen Lernatlas“ ohne diesen Marketing-Coup auf ihrer Website veröffentlicht, hätten vielleicht einige Fachzeitschriften oder wenige Interessierte darauf reagiert, aber es hätte sicher nicht zu einer Hauptnachricht gereicht. Die Vorabmeldung im Spiegel verhilft Bertelsmann in die Tagesschau. Nun könnte man ja sagen, Bertelsmann versteht eben etwas von der Vermarktung seiner Produkte, wichtig ist doch nur, dass das Thema Bildung eine breite Öffentlichkeit erreicht. Doch an dieser Stelle sei die Frage erlaubt, was hat Eigenvermarktung mit Journalismus zu tun hat? Für diese Vermischung von PR und Journalismus, liegt der Grund ziemlich nahe: die Bertelsmann AG hat 74,9 Prozent der Anteile am größten europäischen Magazinhaus Gruner + Jahr und G+J hat wiederum eine Sperrminorität von 25,25 Prozent beim Spiegel-Verlag. So wäscht eben eine Hand die andere, der Spiegel erhält eine reißerische und auflagensteigernde Exklusiv-Meldung und die Bertelsmann Stiftung kann ihr Image als Bildungsförderer aufpolieren. Dass diese „Bildungs-Studie“ steuerbegünstigt aus den Gewinnen des Bertelsmann Konzerns finanziert wurde, ist dem Spiegel natürlich nicht einmal einen Nebensatz wert. Selbstverständlich gibt es auch keinen Hinweis darauf, dass die Bertelsmann-TV-Tochter, RTL, mit rund 300 Millionen Euro drei Viertel zu den Mehreinnahmen und damit den Löwenanteil zum Gewinn des Mutter-Konzerns von 665 Millionen Euro beitrug. Doch gerade dieser Hintergrund hätte für ein kritisches Nachrichtenmagazin die eigentliche Story sein müssen. Der Spiegel hätte den Zynismus, der hinter der Studie versteckt ist, für jedermann offenkundig machen müssen. Stattdessen vermarktet er noch das Doppelspiel von Bertelsmann-Konzern und Bertelsmann Stiftung. Da plädiert die Stiftung für „soziales und persönliches Lernen“ und ihr Finanzier, der Konzern, verdient dreistellige Millionenbeträge an einem Schmuddel-Sender. Dessen Erfolgsrezept besteht nun wirklich nicht in der Förderung von „sozialem und persönlichem Lernen“. Im Gegenteil, die Einschaltquoten speisen sich überwiegend aus Gewalt darstellenden oder aus halbseidenen Filmen, vor allem aber aus täglichen sog. Doku-Soaps in denen Kindern und Jugendlichen asoziales Verhalten geradezu gelehrt wird. Durch verdummenden Fernsehkonsum der RTL-Programme werden junge Menschen vom „persönlichen und sozialen Lernen“ gezielt abgehalten. Man kann es deshalb nur scheinheilig nennen, wenn der „Architekt der Bildungsvolkszählung“ (wie der Schulspiegel lobt), nämlich Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger Schulkinder und Jugendliche auffordert, sich zu engagieren, ins Museum zu gehen oder Fortbildungsangebote zu nutzen. Hätte diese Aufforderung Erfolg, was wäre dann mit den Einschaltquoten bei den RTL-TV-Programmen? Was wäre dann mit den hohen Werbeinnahmen? Was wäre die Bertelsmann Stiftung ohne diese Werbegewinne? Die Forderung nach „sozialem Lernen“ und das Programmangebot von RTL stehen in einem haarsträubenden Widerspruch zueinander. Man muss es so deutlich sagen: Wie die Mafia-Bosse eine Scheinfirma betreiben, um ihre dunklen Geschäfte zu tarnen, so hält sich der Bertelsmann-Konzern seine Bertelsmann Stiftung: mit dem angeblichen Einsatz der Stiftung für bessere Bildung soll über die systematische Verblödung der Bevölkerung durch Konzern-Gewinnbringer RTL hinweg getäuscht werden. In seinem Beitrag geht der Spiegel mit keinem Wort auf diesen Zusammenhang zwischen der Bertelsmann-„Studie“ und dem Bertelsmann-Konzern ein. Noch schlimmer: Es wird nicht einmal die geringste journalistische Distanz zu dieser „Studie“ gewahrt. Eine Auseinandersetzung mit der Erhebungsmethode erspart sich der Spiegel von vorneherein: „Wer das wichtigste Resultat verstehen will, muss sich nicht lange mit Rechenwegen beschäftigen. Ein Blick auf die Grafik reicht“ – jedenfalls für den Spiegel. Die Bertelsmann Studie stellt nicht nur auf die Pisa-Ergebnisse und ähnliche Schulleistungsvergleiche ab (die ja nur landesbezogen ausgewiesen werden), sondern auf „soziales“ und „persönliches Lernen“ vor Ort. Sie beansprucht, die „regionalen Lernbedingungen“ in 412 Kreisen und kreisfreien Städten zu vergleichen. In Abwandlung des klassischen Spruches: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ verkündet Bertelsmann die umgekehrte Botschaft: „Nicht in der Schule lernen wir, sondern im Leben“. Lernen könne man nämlich fast überall, etwa bei der Freiwilligen Feuerwehr oder beim Deutschen Roten Kreuz („Soziales Lernen“). Und wichtig sei, „was jeder Einzelne für sich selbst tut“ („Persönliches Lernen“). Viel wichtiger als Klassengrößen, Schulform, Schulstruktur, gemeinsames oder getrenntes Lernen ist – nach der Meinung von Bertelsmann – für das Lernen demnach wie viele Menschen und wie oft sie ins Museum oder ins Theater oder in einen Sportverein oder in den Kirchenchor gehen. „Aus einem Fundus von über 300 potentiellen Lern- und Bildungskennzahlen“ hätte man ausgewählt, zitiert der Spiegel den Projektleiter Ulrich Schoof. Warum nur 38 Kriterien übrig blieben und vor allem welche, danach fragt der Spiegel natürlich nicht. Der Spiegel begnügt sich vielmehr Bertelsmann aus der Hand zu fressen: „Zusammenfassend lässt sich die Indexberechnung beschreiben als statistisch-basierte Auswahl an relevanten (was ist relvant? (WL)) und nicht-redundanten Kennzahlen, die gewichtet um ihren Einfluss auf den Human-und Sozialkapitalfaktor in einem Index subsumiert sind“. („Zentrales Kriterium bei diesem Gewichtungsverfahren ist also der statistische Zusammenhang der jeweiligen Kennzahl mit einem eigens errechneten sogenannten „Human- und Sozialkapitalfaktor“, der aus verschiedenen sozioökonomischen Kennzahlen (wie etwa Leskompetenz, Grad der Bildungsabschlüsse, Dauer der Arbeitslosigkeit vor einer beruflichen Weiterbildung etc. Abbildung 12, Seite 16 (WL)) ermittelt wurde“, heißt es in der Studie.) Bei diesem „Humankapital“-Ansatz für Lernen und Bildung handelt es sich – ganz typisch für Bertelsmann – um ein wirtschaftswissenschaftliches Konzept, in dem das Bildungsniveau auf das künftig mögliche Erwerbseinkommen bezogen wird. Es geht also um den Ertrag, den private und/oder öffentliche „Investitionen“ in Bildung oder Lernen für den einzelnen oder für die Gesellschaft erbringen. Bildungsstand und Wohlstand korrelieren also miteinander. Bertelsmann und dem Spiegel gelingt es den Zusammenhang von Bildung und Wohlstand von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Nicht der Wohlstand ist eine gute Voraussetzung für Bildung, sondern umgekehrt: Es wird Lernen „als Mittel zum Zweck“ betrachtet, als die Möglichkeit, „das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen“ einer Region zu steigern. Motto: Ihr Schülerinnen und Schüler im Ruhrgebiet lernt und bildet euch besser, geht in die Bergmannskapellen und in die Freiwillige Feuerwehr oder wenigstens in den Kirchenchor, dann könnt ihr Eure Region wieder vorwärts bringen und „glücklich und reich“ werden. Wie im amerikanischen Mythos der Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann, so steigt in der Bertelsmannschen Ideologie der einzelne Mensch, ja eine ganze Region durch besseres Lernen zu Reichtum auf. Es ist das alte Bertelsmannsche Lied, das da gesungen wird: Man wirft sich in die Pose des Bildungsförderers und verschafft sich damit Sympathie (denn wer wäre nicht für mehr und bessere Bildung) und blockiert alles, was sich im Bildungssystem ändern müsste, damit möglichst viele besser lernen können. Der Spiegel und die Stiftung tun so, als würde die Ungleichheit der Lernerfolge bis ins letzte Dorf gemessen. Aber über das zentrale Thema, nämlich der sozial ungleichen Verteilung der Bildungschancen wird kein Wort verloren. Gerade die Spitzenreiter im Bertelsmann-Ranking, nämlich Bayern und Baden-Württemberg haben ein hochgradig sozial selektives Bildungssystem [PDF – 45.8 KB]. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind aus einem Akademikerhaushalt ein Gymnasium zu besuchen im Vergleich zu einem Arbeiterkind ist in Bayern zehn Mal so hoch – höher als in kaum einem anderen Bundesland. Selbst die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. tadelt Bayerns unterdurchschnittliche Absolventenquote. Und sogar die UNO bescheinigt, den Spitzenreitern im Bertelsmannschen „Lernatlas“, also z.B. Hessen und dem Saarland beim „Recht auf Bildung“ besonderen Nachholbedarf. Auch dass Bayern mit die niedrigste Abiturientenquote hat, all solche Kriterien spielen offenbar im Bertelsmann-Ranking kaum eine Rolle. Da wird vielmehr als Erklärung für den konstatierten Lernerfolg des Spitzenreiters, dem Main-Spessart-Kreis, gemutmaßt, dass es im gesamten Landkreis eben nur zwei Kinos gebe, dafür aber 119 Freiwillige Feuerwehren und rund 1.400 Vereine. Vielleicht liegt es aber weniger an der Feuerwehr oder an der Zahl der Museumsbesuche, sondern einfach daran, dass die Eltern in den Spitzenländern mehr Geld für Nachhilfeunterricht ausgeben (können). So liegen etwa bei den Ausgaben für private Nachhilfe gleichfalls Baden-Württemberg, Sachsen, Hessen, Schleswig-Holstein das Saarland, und Bayern bei den Flächenländern an der Spitze. Es scheint für die Ersteller der Studie keinen Unterschied für die Lernmotivation auszumachen, dass der Landkreis Main-Spessart eine Arbeitslosenquote von 2,1 Prozent hat, während beim Schlusslicht Mecklenburg-Vorpommern diese Quote bei über 14 Prozent liegt. Ob man – wie in Bayern – eine Jugendarbeitslosenquote von knapp 4 Prozent oder – wie in Mecklenburg-Vorpommern – von weit über 11 Prozent hat, bleibt außer Betracht. Wenn die Ruhrgebietsstädte Nordrhein-Westfalen zum „Mecklenburg-Vorpommern des Westens“ erklärt werden, so kann man mit den Händen greifen, dass die wirtschaftliche und soziale Situation einer Region, z.B. ihr Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund etc. für die Bertelsmann Stiftung allenfalls insoweit relevante „Lern- und Bildungskennzahlen“ darstellen, dass das ökonomische Umfeld, für das die lernenden Schüler am wenigsten können, sie zu Bildungsversagern stigmatisiert. | Wolfgang Lieb | „Wo die klugen Deutschen leben“, das ist die Titelgeschichte des aktuellen Spiegels. Und diese Geschichte beherrschte gestern die Schlagzeilen. Den ganzen Tag über konnte man in den Nachrichtensendungen und Nachrichtenagenturen vernehmen: „Deutliches Bildungsgefälle in Deutschland“ oder „Deutliches Süd-Nord-Gefälle“.
So entstehen Schlagzeilen: Der Spiegel – nach wie vor eine der maßgeblichen ... | [
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] | 22. November 2011 9:01 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=11374 |
Schwerter zu Pflugscharen. Gedenken an Friedrich Schorlemmer | Friedrich Schorlemmer ist tot. Seine Mahnung „Schwerter zu Pflugscharen“ von 1983 ist leider heute noch genauso aktuell. Noch aktueller. Denn selten in der jüngeren Geschichte ist so freimütig für mehr Waffen, für Kriegstüchtigkeit und damit auch für Krieg geworben worden wie heute. Am Ende dieses Beitrags finden Sie einen Artikel des ND zum Tod von Friedrich Schorlemmer. Er war übrigens auch Träger des Martini-Preises. Das war eine Art Vorläufer der NachDenkSeiten. Albrecht Müller.
Der Martini-Preis wurde von der südpfälzischen SPD für besondere Verdienste um Aufklärung vergeben. Friedrich Schorlemmer erhielt ihn 1990 zusammen mit Ulrike Poppe und Barbara Thalheim. Ich war damals Vorsitzender der SPD Südpfalz und habe die Würdigung der genannten drei Personen aus der DDR vorgeschlagen. Daraus wurde für längere Zeit eine enge Verbindung zwischen Wittenberg und Landau/Südpfalz. Aus dem südpfälzischen Freundeskreis von Friedrich Schorlemmer werde ich auf eine seiner treffenden, schönen Äußerungen aufmerksam gemacht: „Worte öffnen Fäuste“. Es folgt ein guter Beitrag des Neuen Deutschland: Friedrich Schorlemmer: Zorn und Zuwendung
Zum Tod des Pfarrers, Bürgerrechtlers und Publizisten Friedrich Schorlemmer
Hans-Dieter Schütt In jedem wirklichen Gespräch entdecken Beteiligte ein wahrhaft schönes Erlebnis. Nämlich: navigationsfähig zu sein in Problemräumen. Wann immer man Friedrich Schorlemmer begegnete, erlebte man Energie. Fühlte im Austausch, wie erhebend Überforderung sein kann. So viel Deutungsrausch bei diesem Pfarrer und Prediger und Bürgerrechtler und Lebenserzähler. Schorlemmer war Methodiker; er wusste in seiner theologischen Arbeit um die ordnende Kraft der Systematik, aber das Erbauliche an Gesprächen mit ihm war das Wandern durch Labyrinthe, und an keinem Abzweig obsiegte die Angst vor Ermüdung. Gott, Jesus, Glaube, Poesie, Musik, Politik, Glück, Zweifel, Natur, Ewigkeit, Vergänglichkeit – Vergänglichkeit, Ewigkeit, Natur, Zweifel, Glück, Politik, Musik, Poesie, Glaube, Jesus, Gott. Hin und zurück, zurück und seitwärts, jedes Einwärts ein Grundwärts. Heiter aufwärts ins Bodenlose. … Den gesamten Beitrag finden Sie auf nd-aktuell.de. | Albrecht Müller | Friedrich Schorlemmer ist tot. Seine Mahnung „Schwerter zu Pflugscharen“ von 1983 ist leider heute noch genauso aktuell. Noch aktueller. Denn selten in der jüngeren Geschichte ist so freimütig für mehr Waffen, für Kriegstüchtigkeit und damit auch für Krieg geworben worden wie heute. Am Ende dieses Beitrags finden Sie einen Artikel des ND zum Tod von Friedrich Schorlemmer. Er war übrigens auch ... | [
"Nachruf"
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"einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte"
] | 11. September 2024 15:26 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=121140&share=email&nb=1 |
Die strategische Bedeutung des Bedauerns von Anne Will für den Einfluss der Rechtskonservativen auf die Medien | Dass Anne Will am Sonntag Abend bedauerte, die Verschuldung Berlins in der Sendung vom 1. Juni fehlerhaft dargestellt zu haben, wäre nicht der Erwähnung wert, wenn hierin nicht die nahezu totale Herrschaft der Union und der Oberschicht über die Medien sichtbar geworden wäre. Der Schachzug des CDU-Manns Friedbert Pflüger, diese Korrektur zu fordern und durchzusetzen, hat auch strategische Bedeutung. Die Union hat den Medienschaffenden klargemacht, dass sie auch bei kleinsten Verstößen sofort mit dem großen Schlag rechnen müssen. Übrigens auch dann, wenn die Aussage der Redaktion tendenziell sogar stimmt: Rot-rot hat über die Schulden bei Regierungsübernahme hinaus noch Lasten aus der von der Union verursachten Berliner Bankenkrise geerbt. Albrecht Müller.
Ich habe die Sendung vom 1. Juni gesehen. Die Passage über die Verschuldung der Stadt Berlin war die einzige Unfreundlichkeit von Seiten Anne Wills und der Redaktion gegenüber der Union. Ansonsten war die Sendung geprägt von Freundlichkeiten gegenüber der Union und wie üblich Unfreundlichkeiten gegenüber der Linken: In den meisten anderen Talkshows und dem Gros der Sendungen insgesamt geben die konservativen Kreise einschließlich der Union und der Arbeitgeber den Ton an. Ich erinnere nur an Plasberg und seine vorletzte Sendung zum ähnlichen Thema, dem angeblichen Linksruck in der SPD, und an die neueste Sendung von Maybritt Illner. Dass die Union, im konkreten Fall der Berliner Fraktionsvorsitzende der Union Pflüger, sofort interveniert, verfolgt zumindest zwei Ziele: Erstens soll in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt werden, als gäbe es eine linke Schlagseite in den öffentlich-rechtlichen Medien. Das ist die alte Strategie der Union. Sie nannte früher die öffentlich-rechtlichen Sender pauschal und den WDR im besonderen „Rotfunk“. Jetzt versucht sie schon beim kleinsten Anlass einen ähnlichen Eindruck zu vermitteln. Das hat zur Folge, dass auch kleinste Kritik an der Union als einseitig und unberechtigt erscheint, jedenfalls eine Erklärung findet. Das dient auch der Immunisierung der Unionsanhänger gegen kritische Anmerkungen zur Union. Zweitens führt die Verdächtigung der Medienschaffenden als einseitig dazu, dass diese im vorauseilenden oder nachfolgenden Gehorsam Korrekturen zu Gunsten der Konservativen machen. Die wenigen Redaktionen beziehungsweise Redakteure und freischaffenden Journalisten, die noch gegen den Strich bürsten, machen immer wieder ähnliche Erfahrungen. Wenn etwas der Union und wenn etwas der Arbeitgeberseite und der Wirtschaft nicht passt, wird sofort interveniert – jedenfalls beim kleinsten Ansatzpunkt, bei kleinsten Fehlern und Unstimmigkeiten. Damit sind die wenigen verbliebenen progressiven Journalisten ständigem Druck ausgesetzt. Anhang:
„Anne will hat sich noch immer nicht entschuldigt“ | Albrecht Müller | Dass Anne Will am Sonntag Abend bedauerte, die Verschuldung Berlins in der Sendung vom 1. Juni fehlerhaft dargestellt zu haben, wäre nicht der Erwähnung wert, wenn hierin nicht die nahezu totale Herrschaft der Union und der Oberschicht über die Medien sichtbar geworden wäre. Der Schachzug des CDU-Manns Friedbert Pflüger, diese Korrektur zu fordern und durchzusetzen, hat auch strategische Bedeu ... | [
"Beckstein, Günther",
"Berlin",
"Lafontaine, Oskar",
"Linksrutsch",
"Will, Anne",
"Wowereit, Klaus"
] | [
"Finanzpolitik",
"Medien und Medienanalyse",
"Strategien der Meinungsmache"
] | 09. Juni 2008 15:02 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=3269 |
Glückliche Menschen wählen nicht die AfD | 2014 zog die AfD im Osten Deutschlands in die ersten Landtage ein und die Aufregung des politisch-medialen Komplexes war groß. Heute – fünf Jahre später – feiern die Volksparteien der alten Bundesrepublik es schon als großartigen Erfolg, ihre Rolle als stärkste Kraft auf Landesebene mit hauchdünner Mehrheit gegen die AfD verteidigt zu haben. Der oft emotional und chronisch inhaltsleer geführte “Kampf gegen Rechts” sollte spätestens jetzt als gescheitert gelten. Das ist kein großes Wunder, inszeniert die AfD sich doch sehr erfolgreich als “Anti-Establishment-Partei” und da passen die vorhersehbaren Reflexe des Establishments natürlich hervorragend ins Drehbuch. Wenn die anderen Parteien die Wähler und ihre Sorgen und Nöte nicht bald ernst nehmen und ihre Politik entsprechend ändern, wird der Siegeszug der AfD sich weiter fortsetzen. Wenn der Kampf gegen Rechts gewonnen werden soll, muss er auf politischer und nicht auf kommunikativer Ebene geführt werden. Nur wer die Unzufriedenheit beseitigt, beseitigt auch die AfD. Von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download Die Zeiten, in denen die Parteien der politischen Linken die Stimmen des kleinen Mannes waren, sind endgültig vorbei. Laut infratest dimap war die AfD bei den gestrigen Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen bei den Arbeitern mit 44% und 41% mit großem Abstand die stärkste Partei. Die Linke kam bei dieser Gruppe nur noch auf 8% (Brandenburg) und 10% (Sachsen). In Sachsen holte die AfD bei den Arbeitern sogar mehr als doppelt so viele Stimmen wie das sogenannte linke Lager (SPD, Grüne und Linke) zusammen! Eine zweite alte politische Weisheit, die seit gestern endgültig auf dem Friedhof der hohlen politischen Phrasen beerdigt werden muss, ist der Spruch “Wer nicht wählt, wählt rechts”. Sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen hat die AfD von allen Parteien mit großem Abstand am meisten von der steigenden Wahlbeteiligung profitiert, während die Linke von den im Bundestag vertretenen Parteien hier die geringsten Zuwächse vermelden konnte. Offenbar neigen die Unzufriedenen, die sich zeitweise nicht zur Wahl einer Partei durchringen konnten und können, tendenziell eher zur AfD. Die Mobilisierung der Nichtwähler ist in einer solchen Situation ein zweischneidiges Schwert. Alte Regeln gelten heute nicht mehr. Überraschend sind diese Zahlen keinesfalls. Dass fast jeder zweite Wähler, der sich selbst der Arbeiterschaft zurechnet, ausgerechnet der AfD seine Stimme gegeben hat, ist jedoch zugegebenermaßen skurril, vertritt die AfD doch lupenrein marktliberale Positionen, die sich ganz explizit gegen die Interessen der meisten ihrer Wähler richten. Lesen Sie dazu auch: Tobias Riegel – Vor den Landtagswahlen: Das Kaninchen und die Schlange. Eine Partei, deren Vorsitzender die gesetzliche Rente de facto abschaffen will und deren Fraktionsvorsitzende Mitglied der ultra-wirtschaftsliberalen Hayek-Gesellschaft ist, taugt schwerlich als Stimme des kleinen Mannes. „Erstaunlicherweise“ konzentriert sich der politisch-mediale Komplex jedoch ausschließlich auf die völkischen und nationalistischen Strömungen innerhalb der Partei und verliert kein Wort über deren markt- und wirtschaftsliberalen Standpunkte. Die AfD ist eine zutiefst elitäre Partei, die es dank dieses Medienversagens wundersamerweise geschafft hat, sich als anti-elitäre Partei darzustellen. Und solange die Medien ihr eigenes marktliberales Mantra nicht hintanstellen und auf diese Diskrepanz hinweisen, wird auch die Fokussierung in Dauerschleife auf den völkischen Charakter der AfD folgenlos verhallen. Wer heute immer noch nicht mitbekommen hat, dass die AfD im Kern völkisch und nationalistisch ist, muss die letzten fünf Jahre wohl im Koma gelegen haben. Dass die AfD zusätzlich auch auf FDP-Niveau markt- und wirtschaftsliberal daherkommt, dürfte indes nur wenigen Wählern dieser Partei bekannt sein. Um Inhalte geht es bei der AfD jedoch offenbar nur am Rande. Das anti-elitäre Gehabe und die Positionierung als Gegner des Establishments ist das eigentliche Erfolgsrezept dieser Partei. Die Menschen wählen die AfD ja nicht, weil sie deren Programm so toll finden und auch die Spitzenkandidaten begeistern ja eher durch ihre piefige Mittelmäßigkeit. Nein, die AfD wird gewählt, weil dies der größtmögliche Protest ist, den der Bürger dem politischen und medialen Establishment entgegenschleudern kann. Die AfD ist der Schraubenschlüssel, den man ins Getriebe des Systems wirft – nicht, um es nach seinen Vorstellungen zu reparieren, sondern um es zu beschädigen, ja vielleicht sogar zu zerstören. Es geht hier um keine konstruktive politische Teilhabe, sondern um die destruktive Ablehnung eines Systems, das auf politischer Ebene die Interessen einer kleinen ökonomisch überprivilegierten Minderheit gegen die ökonomisch unterprivilegierte Mehrheit vertritt, dies auf medialer Ebene zu verschleiern versucht und dann „Demokratie“ nennt und sich dafür in selbstgerechten Sonntagsreden beweihräuchert. Wer die AfD nun innerhalb dieses Mechanismus kritisiert, schwächt sie nicht, sondern stärkt sie letzten Endes nur. Wenn beispielsweise die kommissarische SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig fünf Jahre nach dem Einzug der AfD in die ostdeutschen Landtage immer noch in aufgesetzter Empörung gerade so tut, als wüsste der arme Wähler nicht, dass die AfD eine rechte – in Teilen gar rechtsextreme Partei – ist, verkauft sie die Menschen doch letztlich nur für dumm. Die merken das und ihre Ablehnung für das Establishment wächst mit jeder inhaltsleeren Sonntagsrede von Tag zu Tag. Geradezu töricht ist sogar, die Grenzen zwischen AfD und dem Rest der politischen Klasse durch eine Zäsur festmachen zu wollen, die dann auch noch nach hinten losgehen muss. Manuela Schwesig teilt beispielsweise die Menschen in “diejenigen, die auf eine solide und gute Regierung setzen” und “die AfD, der es gelungen [sei], Protest zu schüren und den bei sich einzusammeln”. Solche Sätze sind in Brandenburg, wo die Mehrheit der Wähler eben nicht Schwesigs Meinung teilt, dass die Regierung “solide und gut” gearbeitet habe, eigentlich beste Wahlwerbung für die AfD, die so auch noch von außen das Prädikat des Interessenvertreters der Unzufriedenen verliehen bekommt. Besser könnte es nicht laufen. Wer die AfD wählt, zeigt dem Establishment an der Wahlurne den virtuellen Stinkefinger. Und wenn das Establishment sich darüber echauffiert, ist dies natürlich um so schöner. Wer die Sonntagsreden der mehr und mehr abgehobenen “Berliner Blase” des politisch-medialen Komplexes nicht mehr hören kann, der wird durch deren schrille Warnungen vor der “bösen AfD” im Zweifel eher zum Kreuz bei der AfD hingezogen. Aber auch das ist keine neue Erkenntnis. Wie kontraproduktiv die Selbstgerechtigkeit des politisch-medialen Komplexes bei seinem aufgesetzten Kampf gegen einen “Populisten” sein kann, durften wir schon bei der Wahl Donald Trumps beobachten. Es wäre ohnehin falsch, nun nur darüber nachzudenken, wie man die AfD kommunikativ stellt und wie ein Wahlkampf aussehen könnte, bei dem man der AfD Stimmen abnimmt. Denn wenn man Politik nur auf kommunikativer Ebene und als Kampf um die Stimmen denkt, wird man auch weiterhin am Phänomen AfD verzweifeln. Wer die AfD wirkungsvoll bekämpfen will, muss dies nicht nur auf kommunikativer, sondern vor allem auf politischer Ebene angehen. Gute Politik ist die beste Impfung gegen Erfolge der AfD. Und hier kommen wir zum eigentlichen Kern: Die Erfolge der AfD sind eine direkte Folge der schlechten Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Nun ist der Geist aber aus der Flasche und Sonntagsreden sowie wenig überzeugende Eigen-PR werden ihn auch nicht wieder in die Flasche befördern. Wenn man sieht, dass jeder dritte ostdeutsche Arbeitnehmer dem Niedriglohnsektor angehört, und registriert, dass 78% aller sächsischen AfD-Wähler die Aussage “Ostdeutsche sind Bürger zweiter Klasse” unterschreiben, ist es doch eigentlich gar nicht schwer, den ersten Hebel für eine wirksame Politik gegen rechts zu finden. Wer die AfD wirkungsvoll bekämpfen will, muss eigentlich nur die Gründe für die Unzufriedenheit der Menschen ernsthaft angehen. Diese Gründe sind natürlich vor allem sozioökonomischer Natur. Ordentliche Renten und gute Löhne sind der beste Kampf gegen die AfD, den man sich nur vorstellen kann. Aber auch Infrastruktur und Raumordnungspolitik spielen hier eine Rolle. Wenn die AfD vor allem in ländlichen Wahlkreisen triumphiert, die besonders von Abwanderung betroffen sind, sollte man sich doch vielleicht zunächst erst einmal fragen, warum die Menschen abwandern und wie man diesen Trend durch eine intelligente Politik umkehren könnte. Glückliche Menschen wählen nicht die AfD. Wer die AfD nachhaltig bekämpfen will, muss daher die Interessen der Menschen ernst nehmen und eine Politik umsetzen, die den Menschen ihre Nöte, Sorgen und Ängste nimmt, ihnen ihr Selbstbewusstsein zurückgibt und sie positiv in Richtung Zukunft denken lässt. Nur durch eine solche Politik wird man den blau-braunen Geist wieder in die Flasche zurückbekommen. Ansonsten werden wir in spätestens fünf Jahren die ersten Koalitionen zwischen der Union und der AfD sehen. Titelbild: hanohiki/shutterstock.com | Jens Berger | 2014 zog die AfD im Osten Deutschlands in die ersten Landtage ein und die Aufregung des politisch-medialen Komplexes war groß. Heute - fünf Jahre später - feiern die Volksparteien der alten Bundesrepublik es schon als großartigen Erfolg, ihre Rolle als stärkste Kraft auf Landesebene mit hauchdünner Mehrheit gegen die AfD verteidigt zu haben. Der oft emotional und chronisch inhaltsleer geführte ... | [
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] | 02. September 2019 13:33 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=54522&share=email |
„Merkel erkaufte Gipfel-Erfolg | Viel gelobter EU-Finanzkompromiss kommt Deutsche teuer zu stehen Nettobeitrag steigt um zwei Milliarden im Jahr“
So titelt die Berliner Zeitung. Lohnt sich, zu lesen.
Dieser Vorgang interessiert uns, weil an ihm sichtbar wird, in welch weitem Maße unsere Medien steuerbar sind. Die Medien vom 18. und 19. Dezember waren voll von Lobeshymnen auf Angela Merkel. Es gab sich überschlagende Lobhudeleien. Manche Zeitgenossen haben daraufhin vermutlich schon begonnen, ihr Urteil über Angela Merkel zu revidieren.
Wie kommt eine solche Täuschung zu Stande? Zunächst hat Angela Merkel offenbar getrickst, indem sie das erreichte Ergebnis mit einem früheren Etatentwurf und nicht mit der früheren tatsächlichen Zahlung verglich und den Eindruck erweckte, Deutschland spare mit diesem Kompromiss. Entscheidend für das so einhellig lobende Echo dürften aber die Stichwortgeber gewesen sein. Von Regierungsseite, von Merkels Spindoctors und ihr ergebenen Medien wurden die Parolen über den großen Erfolg gestreut. Da fällt es Journalisten offenbar schwer, aus der Reihe zu tanzen. Man kann das in gewisser Weise verstehen. Aber verzeihlich ist es nicht. Offenbar mangelt es an der Bereitschaft, kritisch zu hinterfragen, zu zweifeln. Erfahrene Journalisten müssten aber wissen, dass bei einem solchen Vorgang Parolen auch jenseits der Realität verbreitet werden. Dass sie darauf herein fallen, ist schon erstaunlich. Es müsste in den Redaktionen – in Brüssel, in den Heimatredaktionen oder in Berlin – Fachleute oder Kontakt zu Fachleuten geben, die es möglich machen, einen solchen Gipfelkompromiss schnell zu prüfen und zu durchschauen. Dass des das nicht gibt, dass wir Tage warten müssen, bis die kritischen Stimmen sich zu Wort melden, ist nicht zu glauben und auch nicht akzeptabel. | Albrecht Müller | Viel gelobter EU-Finanzkompromiss kommt Deutsche teuer zu stehen Nettobeitrag steigt um zwei Milliarden im Jahr“
So titelt die Berliner Zeitung. Lohnt sich, zu lesen.
Dieser Vorgang interessiert uns, weil an ihm sichtbar wird, in welch weitem Maße unsere Medien steuerbar sind. Die Medien vom 18. und 19. Dezember waren voll von Lobeshymnen auf Angela Merkel. Es gab sich überschlagende Lobhude ... | [
"Merkel, Angela",
"Vierte Gewalt"
] | [
"Europäische Union",
"Finanzpolitik",
"Strategien der Meinungsmache"
] | 23. Dezember 2005 15:56 | https://www.nachdenkseiten.de/?p=998 |
Subsets and Splits
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