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Quereinstieg ins Klassenzimmer
Die 16-seitige Pressemitteilung war nur ein Zeichen, dass es Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Donnerstag darum ging, ihre Einstellungspolitik zu Schuljahresbeginn genau darzulegen - und zu rechtfertigen. Am Montag hatte der »Tagesspiegel« gemeldet, dass die Hauptstadt mehr denn je Quereinsteiger eingestellt hatte. Scheeres bestätigte die Zahlen. So waren von den 2000 Neueinstellungen 41 Prozent Quereinsteiger, an Grundschulen sogar 53 Prozent. Insgesamt unterrichten damit sechs Prozent Quereinsteiger an Grundschulen. Scheeres argumentierte, dass diese Lehrer beruflich ebenso qualifiziert seien: »Quereinsteiger haben ein abgeschlossenes Studium und befinden sich in einer berufsbegleitenden Ausbildung. Sie legen eine Staatsprüfung ab und sind dann vollqualifizierte Lehrkräfte.« Viele hätten bereits ein anderes Hochschulstudium absolviert und seien als Vertretungslehrer angestellt gewesen. Auch in Zukunft werde sie »weiterhin mit Quereinsteigern arbeiten«. Zudem verwies sie auf den Lehrermangel in allen Bundesländern. »Die Konkurrenz zu anderen Ländern ist sehr hoch. Fast alle stellen mehr Lehrer ein, einige sogar mehrere Tausend. Nicht allen gelingt das: Einige haben über 2000 offene Stellen.« Damit bezog sie sich auf Zahlen des Bildungsministeriums Nordrhein-Westfalens. Dessen Sprecher Daniel Kölle bestätigte dem »nd«, dass das Land 2139 Stellen nicht besetzen konnte. Quereinsteiger werden nicht zuletzt deshalb gebraucht, weil mehr Schüler kommen: Im neuen Schuljahr lernen in Berlin 441 330 Schüler, das sind 6700 mehr als zuletzt. Die Zahl der Grundschüler ging hingegen um 46 auf 31 880 Schüler zurück. Abziehen muss man zudem noch die Erstklässler, die zurückgestellt werden - also trotz Schulpflicht in der Kita bleiben. Ihre Zahl wird erst Ende September bekannt gegeben. Die Zahl der Lehrer ist - abzüglich der Abgänge - um 538 gestiegen auf 33 383. Der Personalschlüssel von 13,2 Schülern auf einen Lehrer konnte damit erhalten werden. Zudem gibt es immer noch 1051 Willkommensklassen mit insgesamt 17 426 Schülern. 141 Willkommensklassen werden zum neuen Schuljahr aufgelöst. Allein 1200 Lehrer seien für diesen Bereich eingestellt worden. »Das haben wir sehr gut gestemmt«, so Scheeres. Auch diese Lehrer, die bisher kein Referendariat machen mussten, sollen ins Schulsystem übernommen werden. Bei 250 Lehrern ist das schon geschehen. »Die müssen dann natürlich in die berufliche Qualifikation gehen«, so Scheeres. Kritik kam von der Opposition. Paul Fresdorf, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, sagte, bei den Quereinsteigern »sollte eine längere Qualifizierungsphase vor dem ersten Unterricht liegen«. Zudem sei »die fehlerfreie Beherrschung der deutschen Sprache« ein Mindeststandard. Am Rande lieferten sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Bildungsverwaltung über öffentliche E-Mail-Verteiler Gefechte. Bereits zum zweiten Mal wird ein Konflikt so ausgetragen, im Juni ging es dabei um die Neuberechnung von Lehrerstunden pro Schüleranzahl statt wie bisher pro Klasseneinheit, was laut GEW die kleineren Klassen benachteiligt. Dieses Mal kritisierte die GEW, dass Scheeres die Quereinsteiger nicht erwähne - die Verwaltung konterte mit einer »Richtigstellung«, Scheeres habe dies ausführlich mündlich getan. Die GEW konnte das nicht wissen - in der Pressemitteilung kommen die »Quereinsteiger« nicht vor. Tom Erdmann, Vorsitzender der GEW Berlin, war nicht zur Pressekonferenz geladen, in den Jahren zuvor sei dies der Fall gewesen. Er sagte: »Das ist eine weitere Stufe, wie man die Eiszeit vertieft.« Die Gewerkschaft wirft der Bildungssenatorin zudem vor, die bessere Bezahlung der alt eingesessenen Grundschullehrkräfte zu »verschleppen«.
Ellen Wesemüller
Wenn am Montag die Schule beginnt, stehen so viele Quereinsteiger in den Klassen wie nie. Um 2000 freie Stellen zu besetzen, hat der Senat 41 Prozent Lehrer ohne entsprechendes Studium angestellt.
Bildung, GEW, Lehrer, Presse, Schule
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1062336.quereinstieg-ins-klassenzimmer.html
Von der Leyen plant Kampagne gegen Überlastung im Beruf
Saarbrücken (AFP/nd). Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) plant eine Kampagne gegen psychische Überlastung in der Arbeitswelt. »Wir wollen uns im nächsten Jahr mit den Tarifpartnern, Sozialversicherungsträgern sowie Länderexperten zusammensetzen, um wirksame Maßnahmen gegen psychische Überlastungen im Beruf zu entwickeln«, sagte von der Leyen der »Saarbrücker Zeitung«. Jeder Dritte, der heute vorzeitig in Ruhestand gehe, tue das, weil er den beruflichen Anforderungen psychisch nicht mehr gewachsen sei, sagte die Ministerin. Strengere Gesetze zum Arbeitsschutz soll es nach dem Willen von der Leyens aber nicht geben. Allerdings zeigten Studien, »dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen - meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit«, so die Ministerin.
Redaktion nd-aktuell.de
Arbeitsbedingungen, Berufskrankheiten, Ursula von der Leyen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/214219.von-der-leyen-plant-kampagne-gegen-ueberlastung-im-beruf.html
Längst nicht mehr wie Feuer und Wasser
Der Dammbruch fand in Rübeland im Harz statt, und zwar schon vor mehr als 20 Jahren. Im Gemeinderat der 1500 Einwohner zählenden Kommune, die für ihre Tropfsteinhöhlen bekannt ist, bildete sich nach der Wahl 1999 ein Bündnis, das bundesweit für Furore sorgte. Drei Mandatsträger der CDU und einer von der PDS schlossen sich in einer Fraktion zusammen. Die Einladung kam von den Konservativen, die ihren linken Mitstreiter persönlich schätzten - und dem SPD-Klüngel im Ort Paroli bieten wollten. Der Kooperation machte erst eine Gemeindereform 2004 ein Ende. Seither gab es immer wieder Kooperationen von CDU und PDS oder Linkspartei, zunächst in Kommunen. »Rübeland ist überall«, hieß es 2008 in der Wochenzeitung »Der Freitag«. Während Papiere der Bundes-CDU tönten, man lehne jedes Paktieren mit den »politischen Erben der totalitären SED« ab, wurden in Magdeburg und Chemnitz gemeinsam Beigeordnete gewählt, in Zwickau ein Bürgerbegehren angestoße... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Hendrik Lasch
Kooperationen von CDU und Linke sind in Städten und Gemeinden keine Seltenheit. Auch in Landtagen ist der Graben nicht unüberbrückbar.
Bildungspolitik, CDU, Die Linke, linke Parteien, Sachsen, Sachsen-Anhalt, SPD, Verschuldung
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1133820.laengst-nicht-mehr-wie-feuer-und-wasser.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Verbraucherschützer klagen vor dem Bundesgerichtshof
Wer seine Bankgeschäfte am Notebook oder übers Smartphone erledigt, spart sich den Weg in die Filiale. Bei einigen Instituten hat die Bequemlichkeit aber unter Umständen ihren Preis. Verbraucherschützer kritisieren die Extra-Gebühren. Zu Recht? Das klärt derzeit Bundesgerichtshof (BGH, Az. XI ZR 260/15) in Karlsruhe. Das Urteil soll Ende Juli verkündet werden. Worum geht es in dem gegenwärtigen Verfahren? Das Online-Banking ist auch für Betrüger verlockend. Damit Kriminelle nicht mit wenigen Klicks Konten leer räumen können, ist das Verfahren mit einer Sicherheitsabfrage geschützt. Wer eine Überweisung veranlassen oder ein Lastschriftmandat erteilen möchte, braucht zusätzlich zu seinen Zugangsdaten eine sogenannte Transaktionsnummer (TAN) - für jeden Auftrag eine neue Zahlenkombination. Wie funktioniert die Transaktionsnummer? Der Kunde tippt die TAN ein, um den Vorgang zu bestätigen. Früher verschickten die Banken diese Nummern auf Papierlisten mit der Post. Heute gibt es sicherere Verfahren. Unter Sparkassenkunden ist nach Auskunft des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) der TAN-Generator am weitesten verbreitet, ein kleines Gerät, das zusammen mit der Girokarte funktioniert. Smartphonenutzer können die Nummern auch über eine App empfangen. Diese Varianten sind - von den Anschaffungskosten für den Generator einmal abgesehen - gratis. Jeder dritte Online-Banking-Kunde der Sparkassen lässt sich seine TANs allerdings per SMS schicken. Und das kann Zusatzkosten verursachen. Wie sehen solche Kosten in der Praxis aus? In dem Karlsruher Verfahren hat der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) die Kreissparkasse Groß-Gerau verklagt. Dort kostete das »direktKonto«, das rein übers Internet läuft, zwei Euro im Monat. »Unabhängig vom Kontomodell« wurden je SMS-TAN zehn Cent fällig. Kein Einzelfall: Genaue Zahlen hat die Deutsche Kreditwirtschaft als Zusammenschluss der Bankenverbände zwar nicht. Aber nur ein Teil der Institute bietet das SMS-TAN-Verfahren kostenlos an, wie Sprecher Steffen Steudel schildert. »Manche Banken sagen, fünf SMS im Monat sind frei. Bei anderen fällt ab der ersten SMS ein Betrag an.« Warum stört das die Verbraucherschützer? Nach Auffassung des vzbv müssten die Kontoführungsgebühren sämtliche Kosten für die Sicherheitsabfrage gleich beinhalten. »Das Verschicken der TAN ist aus unserer Sicht keine Extra-Leistung, sondern ein notwendiger Vorgang beim Online-Banking«, sagt Bankenexperte Frank-Christian Pauli. Schließlich sei auch die Vorstellung absurd, dass ein Hotelgast ein Zimmer buche und für jedes Benutzen der Schlüsselkarte zusätzlich Gebühren bezahlen müsse, so Pauli. Er hofft, dass der Bundesgerichtshof solche Preismodelle der Banken nun grundsätzlich untersagt. Wie sind die Erfolgsaussichten? Das ist nach der ersten Verhandlung am 13. Juni 2017 völlig offen. Nach den Worten des Vorsitzenden BGH-Richters Hans-Ulrich Joeres hat der Senat bisher keine Tendenz und will die Sache jetzt erst beraten. Es kann also sogar noch passieren, dass die Klage an formalen Mängeln scheitert. Inklusive oder nicht - zahlt am Ende nicht sowieso alles der Kunde? Im Grunde ja. Aber die Verbraucherschützer beobachten mit Sorge, dass immer mehr Banken die Kosten rund ums Girokonto in einzelne Entgelte aufsplitten. »Das macht es immer schwieriger, die verschiedenen Angebote zu vergleichen«, kritisiert der Bankexperte Frank-Christian Pauli. Für mehr Transparenz sollen bald neue europäische Regeln sorgen. Vorgesehen ist, dass die Banken ihren Kunden einmal im Jahr eine Übersicht über die kassierten Entgelte zusammenstellen müssen. Im Internet soll es außerdem EU-weit Vergleichsportale geben. Noch fehlen dazu aber die letzten Abstimmungen. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die Transaktionsnummer - kurz TAN - sichert Bankgeschäfte im Internet gegen Kriminelle ab. Viele Kunden empfangen sie per SMS. Einige Banken lassen sich diesen Service extra bezahlen. Dürfen sie das?
Banken, Verbraucherschutz
Ratgeber
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1057761.verbraucherschuetzer-klagen-vor-dem-bundesgerichtshof.html
Markov verteidigt Immobilien-Deal
Potsdam (dpa). Brandenburgs Finanzminister Helmuth Markov (LINKE) hat den umstrittenen Verkauf von zwei Landesimmobilien verteidigt. Die vereinbarten Kaufpreise der Grundstücke in Potsdam seien durch Wertgutachten ermittelt worden, betonte er am Samstag in einer Mitteilung. Zudem sei eine Klausel zum Mehrerlös bei einem Weiterverkauf zu Gunsten des Landes vereinbart worden, sagte er. Eine Zeitung hatte am Samstag berichtet, die Grundstücke seien ohne Ausschreibung unter Wert verkauft worden. Die drei Oppositionsfraktionen von CDU, Bündnis 90/Grüne verlangten Aufklärung und für Montag eine Sondersitzung des Haushalts- und Finanzausschusses. Zuletzt war Minister Markov in die Kritik geraten, weil er das Parlament über eine Sperre von EU-Fördermitteln nicht informiert hatte. Ein Untersuchungsausschuss prüft seit vergangenem Novemb... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Zeitung: Grundstücke ohne Ausschreibung und unter Wert verkauft
Brandenburg, Helmuth Markov, Immobilie, LINKE
Hauptstadtregion
Brandenburg Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/191972.markov-verteidigt-immobilien-deal.html
Lieferdienste: Auf wackeligen Rädern
Aus dem Stadtbild sind sie kaum noch wegzudenken: Rider, die auf ihren Fahrrädern für Unternehmen wie Lieferando, Getir oder Flink Lebensmittel oder Essensbestellungen ausliefern. Die Unternehmen sind insbesondere während der Corona-Pandemie rasant gewachsen. Doch aufgrund hoher Zinssätze und sinkendem Konsum infolge der Inflation stehen viele von ihnen vor finanziellen Schwierigkeiten. Das geht aus einer aktuellen Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Dabei gilt das sogenannte Quick-Commerce, der digitale Markt für Lebensmittel- und Essenslieferungen, weiterhin als attraktiver Wachstumsmarkt. Die Unternehmen bieten an, dass Konsument*innen ihre Bestellungen bequem per App aufgeben können und diese dann direkt zu ihnen nach Hause geliefert bekommen. Dabei nutzen die Unternehmen im Gegensatz zu herkömmlichen Supermärkten viele kleine Lager, die sie an strategisch günstigen Standorten in Ballungsräumen anmieten. Auch darum ist die Angebotsauswahl bei den Anbietern vergleichsweise gering. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Die sogenannte letzte Meile in der Logistikkette, die den Weg vom Warenlager zu den Konsument*innen bezeichnet, ist oftmals arbeitsintensiv und von schlechten Arbeitsbedingungen geprägt. Rider sind zu allen Jahreszeiten auf Fahrrädern oder Motorrollern im gefährlichen Stadtverkehr unterwegs, um die Bestellungen pünktlich zu den Kund*innen zu bringen. Meist leiden die Beschäftigten dabei unter prekären Arbeitsbedingungen. Sie erhalten als Selbstständige in der Regel niedrige Löhne, wobei oft die Grenze zur Scheinselbstständigkeit überschritten wird, wie aus der IMU-Studie hervorgeht. Unternehmensseitig ist die Branche hoch umkämpft. Um sich Anteile am Markt zu sichern, tragen die Lieferdienste einen erbitterten Preiskampf aus, wodurch auch die Profitmargen gering ausfallen, wie aus der IMU-Studie hervorgeht. Dabei sei es schwer, einen genauen Einblick in die Daten zu bekommen, erklären die Forscher*innen. Denn viele der Unternehmen seien nicht börsennotiert und fallen daher auch nicht unter die dort geltenden Transparenzpflichten. Dennoch konnten sie für die Studie herausfinden, dass es bislang keinem Anbieter gelungen ist, mit dem operativen Geschäft Gewinne zu erwirtschaften. Die niedrigen Profitmargen sind indes in den Unternehmensstrategien einkalkuliert. Um sich den harten Preiskampf leisten zu können, nehmen die Lieferdienste zunächst Verluste in Kauf, die sie mittels enormer Kapitalvorschüsse auffangen. Das Ziel ist es, so die Konkurrenz mittelfristig aus dem Markt zu drängen und später die Preise wieder zu erhöhen. Eine Strategie, die etwa dem Logistikriesen Amazon dabei geholfen hat, sich erfolgreich zu etablieren und seine Marktmacht auszubauen. Doch aufgrund einer stärkeren Konsumzurückhaltung und steigenden Zinsen gelangt diese Unternehmensstrategie nun an ihre Grenzen. »Vor dem Hintergrund der hohen Inflation gehen wir davon aus, dass die Nachfrage seit der Corona-Pandemie gesunken ist«, erklärt Navid Armeli im Gespräch »nd«. Er ist Wirtschaftsreferent am IMU und hat an der Studie mitgearbeitet. »Zudem wirkt sich die Zins- und globale Wirtschaftslage negativ auf Wagniskapitalgeber und Investoren aus«, sagt Armeli. Dadurch werde es für die Unternehmen immer schwieriger, an neue Kredite zu gelangen, um die durch den Preiswettbewerb bedingten Verluste gegenzufinanzieren. Das läuft voraussichtlich auf Insolvenzen und Übernahmen in der Branche hinaus, erwarten die Forscher*innen des IMU in ihrer Studie. »Eine Konsolidierung des Marktes scheint unausweichlich«, heißt es dazu. Die sei sogar schon in vollem Gange: So wurde zuletzt der Lieferdienst Gorillas vom türkischen Wettbewerber Getir übernommen. Gleichzeitig baute das Handelsunternehmen Rewe seine Beteiligung an Flink aus. Der Markt werde sich zukünftig wohl auf ein bis zwei große Unternehmen und einige Nischenanbieter konzentrieren, prognostizieren die Ökonom*innen. Mit den bevorstehenden Übernahmen und Insolvenzen könnten auch Entlassungen einhergehen. Dennoch ist eine Bereinigungskrise für die Rider nicht per se eine schlechte Nachricht. Denn eine Kapitalkonzentration könnte dazu beitragen, die oftmals kleinteiligen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zusammenzufassen. Denn für gute Arbeitsbedingungen brauche es eine sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit und ertragsstarke Unternehmen, betonen die Wissenschaftler*innen in ihrer Studie.
Felix Sassmannshausen
Während der Pandemie erhielten Lieferdienste enormen Auftrieb. Doch der Markt ist bislang kaum profitabel. In der Branche kommt es nun voraussichtlich zu Insolvenzen und Übernahmen.
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Lieferando und Co.
2023-10-31T16:24:11+0100
2023-10-31T16:24:11+0100
2023-11-01T18:06:36+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177397.lieferando-und-co-lieferdienste-auf-wackeligen-raedern.html?sstr=flink
Pakistaner sehen USA als Bedrohung
Islamabad (dpa/ND). Washington wird damit in der nicht repräsentativen Befragung von 500 Pakistanern durch die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) gefährlicher wahrgenommen als die Wirtschaftskrise, der Terrorismus oder der Erzfeind Indien. Auf die Frage nach der größten Bedrohung für Pakistan nennen 38 Prozent die USA, gefolgt von der Wirtschaftskrise (31 Prozent) und von Terroristen (22 Prozent). Nur noch neun Prozent halten die benachbarte Atommacht Indien für die größte Gefahr. KAS-Landeschef Babak Khalatbari nannte die Ergebnisse »überraschend«. N... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die USA stellen inzwischen nach einer Umfrage für mehr als ein Drittel der Pakistaner die größte Bedrohung der südasiatischen Atommacht dar.
Pakistan, Terror, Umfrage, USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/199258.pakistaner-sehen-usa-als-bedrohung.html
Sechs Tage soziales Zentrum
Dortmund. Ihre Demonstration in der Dortmunder Innenstadt, diesmal ging es gegen ein schwul-lesbisches Straßenfest, war mal wieder an Blockaden gescheitert. Gut dokumentiert ist, dass der einschlägig bekannte Nazi Peter G. mit einer Pfefferspray-Flasche herumfuchtelte und Journalisten (»Ihr Juden«) damit bedrohte. Erneut ein frustrierender Protesttag für die geschrumpfte, aber noch immer brutale Nazi-Szene der braunen Hochburg Dortmund. Also ließen sich die rund 100 Nazis am vergangenen Samstag per U-Bahn und unter Polizeischutz weiter karren zu einer frisch von libertären Linken besetzten ehemaligen Kirche in der Enscheder Straße. Vor Ort wurden sowohl Staatsmacht als auch die Nazis mit Steinen beworfen – vom Dach der Ex-Kirche der Albertus-Magnus-Gemeinde aus. Gestern, sechs Tage danach, räumten hundert Polizisten das seit Jahren säkularisierte und leerstehende Gebäude. Alle 40 anwesenden Besetzer wurden erkennungsdienstlich behandelt, zwei von ihnen, nach anderen Quellen lediglich eine Person, festgenommen. Der Vorwurf: versuchte Tötungsdelikte. Offenbar war der Behörde in den letzten Tagen spontan aufgefallen, dass einige der Steine in gefährlicher Nähe zu Menschen aufschlugen. Deswegen auch der plötzliche Verdacht auf ein Tötungsdelikt. Zudem wurde die Kirche »als Tatort« beschlagnahmt. Nun steht sie versiegelt und teils zugemauert in ihrem Problemviertel. Knapp eine Woche nach einem versuchten Mord oder Totschlag kehrt die Polizei an den Tatort zurück und sucht Tatverdächtige? »Im Vorfeld wurden andere Ermittlungsmaßnahmen getroffen«, begründete Staatsanwalt Henner Kruse, Pressesprecher der Dortmunder Staatsanwaltschaft, gegenüber »nd« vage die zeitliche Distanz. Auf Nachfrage räumte Kruse ein, dass die Täter vermummt gewesen seien. Aber anhand der Körpergröße oder »mit Hilfe des sichergestellten Vermummungsmaterials« könnten sich Anhaltspunkte ergeben. »Alles weitere müssen die Vernehmungen und die bei der Durchsuchung gesicherten Spuren ergeben.« Alle etwaigen Spuren jedoch dürften längst zerstört sein, und zwar doppelt und dreifach: Hunderte Menschen gingen in der besetzten Kirche ein und aus. Vielen Dank für die Solidarität und allerbeste Grüße nach Bremen ans #Sielwallhaus! #squatdo #enscheder15 pic.twitter.com/E8UJmIkM5O Die Piraten-Landtagsabgeordnete Birgit Rydlewski kritisierte, dass sie daran gehindert worden sei, die Räumung zu beobachten. Vielmehr sei der Parlamentarierin ein Platzverweis erteilt worden. »Dies ist ein Tatort nach einem versuchten Tötungsdelikt«, begründete ein Polizei-Sprecher dieses Vorgehen. Rydlewski bloggte derweil, sie habe gehört, wie Polizisten gesagt hätten, »die Olle« komme »hier nicht rein«. Gewalttaten seien als Protestform absolut inakzeptabel, verlautbarte Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange am Freitag. Seine Beamten hätten am Samstag vor der Kirche alle Beteiligten geschützt. Also nicht nur die Nazis, sondern auch die Besetzer. Doch einzelne Gewalttäter würden das demokratische Engagement der Dortmunder gegen Rechtsextremismus behindern. Unter Generalverdacht stellen wollte er die Besetzer allerdings ausdrücklich nicht. Doch trotz des Mangels an Generalverdächten steht die Ex-Kirche jetzt wieder leer, in der ein politisches und kulturelles Zentrum namens »Avanti« entstehen sollte. Aus Sicht der Besetzer war genau das das Ziel, der Gewaltvorwurf gilt ihnen als bloßer Vorwand der Räumung. Noch in diesem Jahr soll der Gebäudekomplex abgerissen werden. Am Donnerstag hatten die Nun-nicht-mehr-Besetzer noch zu einem Tag der Offenen Tür geladen. Es gab Essen aus einer improvisierten »Volksküche«, entspannte elektronische Musik und preisgünstige Getränke in und um den Gebäudekomplex der einstigen Kirchengemeinde. Für die Kleinen wurde eine blau-rote Hüpfburg im ehemaligen Pfarrheim aufgeblasen. Ein Büchertisch lud derweil zu Spontankäufen. Die angebotene Literatur war meist anarchistisch. Das hatte sie mit den Plakaten an den Wänden gemein. Bei aller Freiheits-Prosa waren aber nicht nur rassistische und frauenfeindliche Sprüche, sondern auch jegliches Fotografieren untersagt. Übel stieß manchen ein Plakat auf, das »Freiheit für Thomas Meyer-Falk« forderte und den wegen Banküberfall mit Geiselnahme seit Langem in Haft sitzenden, vorgeblich linken Skinhead glorifizierte. Die Blockaden der Nazi-Demonstration vom vergangenen Samstag werden wohl weitere juristische Nachspiele haben. Laut Polizei erlitten 13 Beamte Verätzungen, als »Linksautonome« mit einer »gelben Flüssigkeit« um sich sprühten. Ferner seien Gegenstände auf Polizisten geworfen worden. Ermittelt wird gegen ein gutes Dutzend Blockierer, insbesondere wegen teils gefährlicher Körperverletzung. Das bunte Anti-Nazi-Bündnis »BlockaDO« zeigte sich entsetzt über die »Kriminalisierung« der Proteste. »Unsere Blockade ist friedlich und in Kooperation mit der Polizei abgelaufen«, betont BlockaDO-Sprecherin Iris Bernert-Leushacke. Weder mit den Nazis noch mit der Polizei habe es Auseinandersetzungen gegeben. Was den angeblichen Angriff mit einer ätzenden Flüssigkeit betrifft, gebe es weder Bildmaterial noch habe BlockaDO Augenzeugen ausfindig machen können. »Wir gehen derzeit davon aus, dass es sich um eine Behauptung der Polizei handelt, die keinen realen Hintergrund hat«, warf Bernert-Leushacke der Polizei ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit vor. Auch eine Aktuelle Stunde im nordrhein-westfälischen Landtag ergab vorgestern in Sachen »Chemikalien-Attacke« nichts Handfestes. Nun wartet man in der Landeshauptstadt Düsseldorf und in Dortmund auf einen Bericht des Innenministeriums.
Marcus Meier
Als Nazis vergangenen Samstag vor das frisch besetzte Zentrum zogen, flogen Steine. Fast eine Woche später rückte deshalb nun die Polizei an – und räumte gleich das besetzte Gebäude.
Besetzung, Dortmund, Kirche, Polizeieinsatz, Rechtsterrorismus, Sozialarbeit
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/944087.sechs-tage-soziales-zentrum.html
Flicks »Baby Barça« auf Rekordjagd
Statt Spektakel Arbeitssieg: Nach drei Kantersiegen von 7:0, 4:1 und 5:1 musste sich der FC Barcelona am Mittwochabend mit dem Minimalergebnis begnügen: 1:0 gegen den Tabellenvorletzten Getafe im ersten Spiel ohne den deutschen Nationaltorwart Marc-André ter Stegen, der sich am vergangenen Sonntag beim 5:1 in Villarreal einen Patellasehnenriss zugezogen hat. Er fällt für den Rest der Saison aus. Der Torwart reiht sich damit als Achter in die lange Verletztenliste bei Barcelona ein, darunter sieben Nationalspieler und der 17-jährige Newcomer Marc Bernal, der in den ersten drei Spielen wegen der Personalnot ins kalte Wasser geworfen wurde und sich bei einem Tackling in den Schlussminuten bei Rayo Vallecano einen Kreuzbandriss zuzog. Der immer engere Fußballkalender mit Spielen alle drei Tage bei immer höherer Spielintensität trägt höchstwahrscheinlich zur Häufung schwerer Verletzungen bei nachlassender Konzentration und körperlicher Frische bei. Spaniens Europameister Rodri brachte einen Streik als Notwehrmaßnahme ins Gespräch – kurz bevor er sich am Wochenende selbst am Kreuzband verletzte und nun gezwungenermaßen seine Auszeit bekommt. Deutsche Akzente gibt es in dieser Saison bei Barça mehr als gewohnt. Zum Mannschaftskapitän ter Stegen gesellt sich das Trainerteam um Hansi Flick. İlkay Gündoğan musste den Verein hingegen nach einem Jahr schon wieder verlassen, weil der klamme Verein Budget für das Gehalt des einzigen Stareinkaufs Dani Olmo von RB Leipzig freischaufeln musste, damit er vorläufig wenigstens bis Ende Dezember eine Spielberechtigung erhalten konnte. Olmo gehört nach einem starken Einstand mit drei Toren in drei Spielen ebenfalls zu den Verletzten, fällt allerdings nur vier bis fünf Wochen aus und nicht mindestens sieben Monate wie voraussichtlich ter Stegen. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Flick kommt in Katalonien gut an, sein empathischer Umgang mit den Spielern und sein Fördern der jungen Spieler aus Überzeugung, wenn auch wegen der Verletztenmisere notgedrungen, haben dem Bammentaler in den ersten Monaten viele Sympathiepunkte eingebracht. Was nicht zuletzt an den 21 Punkten liegt, die bei Barcelona nach sieben Ligaspielen zu Buche stehen. Sieben Ligasiege zum Saisonauftakt schafften in der Vereinsgeschichte nur Ernesto Valverde 2017/18 und Gerardo Martino 2013/14, der sogar acht Erfolge aneinanderreihte. So illustre Trainer wie Pep Guardiola, Luis Enrique oder einst Johan Cruyff, Luis César Menotti oder Udo Lattek können da nicht mithalten. Rekordhalter Martino stand allerdings am Saisonende titellos da und musste nach einem Jahr wieder gehen. Flick will sich daran sicher kein Beispiel nehmen. Den Startrekord mit einem Sieg am Samstag bei Osasuna einstellen und die Woche darauf in Alavés übertreffen, dürfte Flick sicher anstreben, denn nach der darauffolgenden Länderspielpause kommen Ende Oktober die großen Bewährungsproben für sein Team: Am 23. Oktober in der Champions League zu Hause gegen Bayern München, wobei nach der 1:2 Auftaktniederlage in Monaco gepunktet werden muss und drei Tage später auswärts beim Erzrivalen Real Madrid, das derzeit als Zweiter vier Punkte hinter Barcelona liegt. Zu Saisonanfang standen in Flicks Stammelf drei 17-Jährige. Neben dem jetzt verletzten Marc Bernal im defensiven Mittelfeld die schon vergangene Saison zu Stammspielern gereiften Pau Cubarsí als Innenverteidiger und der während der Europameisterschaft zum Weltstar ausgerufene Lamine Yamal, der die EM in Deutschland als 16-Jähriger begann und als 17-jähriger Europameister einen Tag nach seinem Geburtstag beendete. Am Mittwoch gegen Getafe waren Cubarsí und Yamal auf dem Platz, dazu der 20-jährige Marc Casadó, der 20-jährige Alejandro Balde sowie der 21-jährige Pablo Torre, der auf der Position des verletzten Olmo im zentralen Mittelfeld randurfte. Erneut mit einer guten Leistung, auch wenn er sich nicht wie gegen Villarreal mit Tor und Vorlage in die Statistiken einschreiben konnte. Das Tor des Tages nach 19 Minuten konnte sich der Veteran zu Gute schreiben lassen, der 36-jährige polnische Mittelstürmer Robert Lewandowski, der nach einer vom Torwart nach vorne abgewehrten Flanke des starken Rechtsverteidigers Jules Koundé richtig stand und sein bereits siebtes Saisontor erzielte. Es war der Höhepunkt in einem recht chancenarmen Spiel, in dem Lamine Yamal mit spektakulären Finten und Dribblings für Raunen auf den mit 44.407 gefüllten Rängen des Olympiastadions Lluís Companys sorgte. Die Rückkehr ins Camp Nou, das gerade milliardenschwer umgebaut wird, soll im Dezember stattfinden – Verzögerung nicht ausgeschlossen. In Gefahr kam der knappe 1:0 Sieg nur kurz vor Schluss, als der freistehende Borja Majoral eine Eingabe nicht richtig traf und neben das Tor von Iñaki Peña setzte, der ter Stegen vertrat und einen ruhigen Abend verlebte, gefeiert durch Sprechchöre wie auch ter Stegen selbst. Ob Iñaki Peña dauerhaft ter Stegens Stellvertreter bleibt, ist offen. Mit dem vertragslosen polnischen Ex-Nationaltorwart Wojciech Szczesny ist sich der Verein bereits für ein Engagement bis zum Saisonende einig. Für Iñaki Peña gehen die Bewährungsproben somit weiter. Und auch für Hansi Flick, dessen »Baby Barça« bisher mit von Gegenpressing geprägtem Tempofußball durch die spanische Liga rauscht und mit 23 Toren nach sieben Spielen einen beachtlichen Wert aufweist. Doch die großen Gegner kommen noch.
Martin Ling, Barcelona
Beim von einer Verletzungsmisere gebeutelten FC Barcelona setzt der deutsche Trainer Hansi Flick notgedrungen auf den Nachwuchs. Nach sieben Siegen zum Liga-Start fehlt noch einer zur Einstellung des Vereinsrekords.
Spanien
Sport
Sport FC Barcelona
2024-09-26T11:58:22+0200
2024-09-26T11:58:22+0200
2024-10-28T16:30:21+0100
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Eintausend Seiten Weltliteratur in zehn Minuten
Die gebundene Ausgabe von Leo Tolstois »Krieg und Frieden« umfasst stolze 1645 Seiten, »Moby Dick« von Herman Melville ist 918 Seiten dick und Uwe Tellkamps »Der Turm« bringt es auf 976 Seiten. »Schweere Koost«, würde Vitali Klitschko wohl sagen. Doch die schönste Erfindung seit es bewegte Bilder gibt - das Internet - macht es Menschen wie dem ukrainischen Boxer einfacher, sich die Werke anzueignen. Der Theaterregisseur und Dramaturg Michael Sommer erklärt in seinem Youtube-Kanal »Sommers Weltliteratur to go« (youtube.com/user/mwstubes) anhand von Playmobilfiguren den Inhalt von Klassikern wie Georg Büchners »Leonce und Lena« (Bild) in kurzweiligen, kaum zehn Minuten langen Filmchen. Sommer ist mit seinen Filmchen so erfolgreich, dass der Reclam-Verlag seit Kurzem mit ihm zusammenarbeitet. Für Kulturpessimisten muss das ein Gräuel sein. Doch Sommer rechtfertigt sich mit einem einleuchtenden Argument. Würden wir noch im 19. Jahrhundert leben, abgeschnitten von der Welt, hätten wir vielleicht noch die Zeit, einen 1000-Seiten-Roman zu lesen. Heute fehle uns jedoch diese Zeit. Zeit haben wir heute vielleicht nicht mehr, aber möglicherweise noch die Muse. Aber, sei’s drum. Im Grunde hat Michael Sommer recht. Im Zeitalter des Films und des Internet braucht man keine Bilder mehr, die beim Lesen im Kopf entstehen. Wie ein Pottwal aussieht, weiß heute jedes Kind, das einmal eine Natur-Doku auf N24 gesehen hat, da muss es sich nicht durch die seitenlangen, detaillierten Beschreibungen in »Moby Dick« quälen. Dafür generiert die Netzkultur ein ganz neues Genre der Literatur: das der Ultrakurzgeschichte. Ein mir gut bekannter junger Mann hat in der Grundschule in einer Hausaufgabe einen Klassiker der Weltliteratur einmal mit folgenden Sätzen zusammengefasst: »Zauberer geht aus dem Haus. Lehrling will zaubern. Geht schief.« Damit ist das Wesentliche gesagt. Wer Muße hat, kann ja den »Zauberlehrling« lesen. jam Screenshot: www.youtube.com/user/mwstubes
Redaktion nd-aktuell.de
»Krieg und Frieden« ist zu lang zum Lesen? "Moby Dick" zu anstrengend? Wer dennoch nicht auf Weltliteratur verzichten möchte hat jetzt die Gelegenheit dazu. Bei »Sommers Weltliteratur to go« wird mit Playmobil erzählt.
Literatur
Feuilleton
Kultur
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Das Bildungswesen ist eine Katastrophe
»Wir müssen uns natürlich vorbereiten, zum Beispiel auf eine Situation von Lehrermangel. Das, glaube ich, haben viele noch nicht vorhergesehen.« Das sagte Kanzler Olaf Scholz (SPD) kürzlich bei einem Bürgergespräch in seinem Bundestagswahlkreis in Potsdam. Norman Heise vom Berliner Landeselternausschuss muss das am Dienstag nur zitieren und hat einen großen Lacherfolg. Bei einem Termin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) weiß jeder, der am Tisch sitzt, dass ein dramatischer Lehrermangel nicht erst in Zukunft droht, sondern bereits Realität ist. Wer das nicht weiß, hat in den zurückliegenden Jahren keine Zeitung gelesen. Und die Frau von Olaf Scholz ist die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst (SPD). »Ich frage mich, worüber die am Abendbrottisch reden«, sagt Heise. Er erinnert an die berühmte »Ruck-Rede«, die Bundespräsident Roman Herzog 1997 hielt: Bildung müsse Priorität haben. Es gebe kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Daran hat sich Jahrzehnte später nichts geändert. Philipp Dehne erzählt: »Wenn ich mit Lehrern spreche, sagen die: ›Bildungskrise? Das ist eine Katastrophe!‹« Dehne hat früher selbst unterrichtet. Jetzt engagiert er sich im Bündnis »Schule muss anders«. 3000 junge Lehrer bräuchte die Hauptstadt heute Jahr für Jahr. Es kämen jedoch gerade einmal 1000 Absolventen von den Universitäten. An Bewerbern mangele es gar nicht mal. Knapp 3000 Bewerbungen für Lehramtsstudienplätze seien zuletzt von den Berliner Hochschulen abgelehnt worden, darunter 1400 für Sonderpädagogik, berichtet Dehne. Dabei würden Sonderpädagogen händeringend gesucht. »Das kann man niemandem erklären.« Bei den laufenden Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD über die Bildung des künftigen Berliner Senats trifft sich an diesem Mittwoch wieder die Dachgruppe, die den Ergebnissen aus den 13 Facharbeitsgruppen ihren Segen geben muss. Diesen Mittwoch geht es darum, für den Koalitionsvertrag die Passagen zur Bildungspolitik festzuklopfen. Aus diesem Anlass ist ab 13.30 Uhr vor dem Abgeordnetenhaus eine Mahnwache der Gewerkschaft und ihrer Verbündeten geplant. Durchgesickert ist bisher so gut wie nichts, sieht man einmal davon ab, dass sich die Bildungspolitiker von CDU und SPD prächtig miteinander verstanden haben sollen. Aber das ist keine Überraschung. Insgesamt sind die laufenden Koalitionsverhandlungen von einer für solche Treffen eher untypischen Harmonie gekennzeichnet. »Wir hören gar nichts und sind sehr gespannt, was rauskommt«, sagt die GEW-Landesvorsitzende Martina Regulin. Die Gewerkschaft lässt am Dienstag an ihrem Sitz in der Ahornstraße 5 schon einmal hören, was sie sich unbedingt wünschen würde. Sie hat dazu auch Vertreter von Bündnissen und Arbeitsgemeinschaften eingeladen, die ihrerseits sagen, woran das Berliner Bildungswesen krankt und wie es vielleicht kuriert werden könnte. Die Bildungsungerechtigkeit sei ein Armutszeugnis, findet GEW-Landeschefin Regulin. »Diese Krise betrifft alle Bereiche – von der Kita bis zur Hochschule.« Es brauche vor allem auch finanzielle Ressourcen. »Ja, das ist ein großes Paket. Aber es ist notwendig«, betont Regulin. »Wir erwarten konkrete, realistische und finanziell unterlegte Lösungen.« Die Universitäten könnten allerdings nicht mit zehn Millionen Euro und auch nicht mit 17 Millionen auf die Schnelle die ersehnten 3000 Lehrer jährlich produzieren, verrät Constanze Baum von der Landesvertretung Akademischer Mittelbau. Die Hörsäle seien im Moment überfüllt und vielleicht komme einmal jemand von der Universität vorbei, wenn die Lehrerstudenten ein Schulpraktikum absolvierten, aber nur vielleicht. Baum vergleicht das System mit einem Karussell, das defekt sei, für das es keine Ersatzteile gebe und das sich dennoch immer schneller drehen solle. Die Bildungsmisere habe auch die Hochschulen erreicht. Einigen Studenten fehlten eigentlich die Grundfertigkeiten, um an einer Hochschule zu bestehen. Baum weiß, wovon sie redet. Denn als Literaturwissenschaftlerin bildet sie an der Humboldt-Universität Pädagogen aus. »Wir haben Leute, die können Groß- und Kleinschreibung nicht, die wollen Deutschlehrer werden.« Die Probleme fangen bereits in den Kitas an. Die sollen frühkindliche Bildungsstätten sein. Das funktioniert aber nicht, wenn die Gruppen zu groß sind. Bei den ab drei Jahre alten Kita-Kindern sieht es gar nicht mal so übel aus. Auf 8,3 von ihnen kommt in Berlin statistisch eine Erzieherin. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt 7,5. Doch bei den unter Dreijährigen muss sich eine Erzieherin um 5,2 Kleinkinder kümmern. Drei Kinder sollten es laut Bertelsmann-Stiftung nur sein, erinnert am Dienstag Sonya Mayoufi vom Kita-Bündnis. Diesem Bündnis haben sich Eltern, Gewerkschafter und Wissenschaftler angeschlossen. Besonders die benachteiligten Kinder brauchen Mayoufi zufolge »mehr persönliche Zuwendung und Zeit«. Gemeint sind Kinder, die in sehr armen Familien leben oder in einem Elternhaus, in dem nicht Deutsch gesprochen wird. Dabei muss man noch froh sein, wenn solche Kinder überhaupt eine Kita besuchen und dort wenigstens ein bisschen gefördert werden. In den Schulhorten ein ähnliches Spiel: Wie Elvira Kriebel vom 2016 gegründeten Bündnis Ganztagsschulen sagt, sollte eine Horterzieherin für 15 Grundschüler da sein. Tatsächlich muss sie aber 22 Kinder beaufsichtigen. Wenn Kolleginnen erkranken, könnten es auch 40 Kinder sein. Auch in der Jugendhilfe sieht es schlimm aus. Eine Fachkraft sollte sich um maximal 28 Fälle gleichzeitig kümmern, andere Sozialarbeiter berichteten ihm aber, dass sie aktuell 70 Familien betreuten, sagt Kollege Fabian Schmidt von der Arbeitsgemeinschaft »Weiße Fahnen«, in der sich Sozialarbeiter zusammengeschlossen haben. Schmidt warnt: »Jegliche Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe kosten die Gesellschaft später doppelt und dreifach.« Da nun aber mehr Erzieher und Lehrer nicht von heute auf morgen zu beschaffen sind, hat Philipp Dehne von »Schule muss anders« eine Idee für eine pragmatische Übergangslösung. Er sagt: »Es kann nicht funktionieren, dass bei 93 Prozent Ausstattung der Schulen noch 100 Prozent der Stundentafel abgedeckt werden sollen.« Er ist überzeugt: »Das erzeugt nur Stress.« Der vermittelte Lehrstoff müsse doch aber bei den Schülern ankommen. Deswegen denkt Dehne: »Weniger ist mehr.«Seite 9
Andreas Fritsche
An diesem Mittwoch wollen sich CDU und SPD im Berliner Abgeordnetenhaus über die künftige Bildungspolitik einigen. Deutliche Verbesserungen sind dringend notwendig. Aber sie müssen auch finanziert werden.
Berlin, Bildungspolitik, Familienpolitik, Hochschulpolitik, Kindertagesstätte, SPD
Hauptstadtregion
Berlin Bildung
2023-03-28T18:12:20+0200
2023-03-28T18:12:20+0200
2023-03-28T18:13:35+0200
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Prügelchaos am Bau
Wer eine Reise tut, kann was erzählen. Wer ein Haus bauen will, offenbar auch. Besonders, wenn er sich mit anderen zusammentut und in die Finanzierung teilen will. Bei Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf. Erst recht, wenn die Teilhaber gar keine Freunde sind. Und es vielleicht auch nie werden. Lutz Hübner, Autor dezidiert heutiger Themen, hat darüber zusammen mit Sarah Nemitz ein Stück geschrieben, das nach der Uraufführung letztes Jahr in Bochum ans Renaissance-Theater übergesiedelt ist. »Richtfest« setzt dort ein, wo Hübners »Blütenträume«, auch sie 2010 hier aufgeführt, enden: Wollten die lebenslustigen Senioren damals in Kommune leben, möchte die Mannschaft von »Richtfest« diesen Traum jetzt wahr machen. Anfangs scheint er greifbar nah. Mit einem Video lässt Torsten Fischer, bereits Regisseur auch der »Blütenträume«, den Abend beginnen. Da sind alle in gehobener Stimmung, wie sie unter ihren Bauhelmen zur Entwurfsvo... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Volkmar Draeger
Im Renaissance-Theater wird das »Richtfest« zum Gerichtstag
Renaissancetheater, Theater
Hauptstadtregion
Brandenburg
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Eine Poliklinik für Veddel
Für Ibrahim war es die Rettung. Mit seinem schmerzenden Auge konnte er als Geflüchteter ohne Papiere unmöglich zu einem »normalen« Arzt in Hamburg gehen. Über Freunde hatte der 28-Jährige jedoch von der Poliklinik auf der Veddel gehört. Er fuhr hin und ihm konnte schnell geholfen werden. »Es war zum Glück nichts Schlimmes und ich brauchte nur eine Salbe«, erzählt der junge Mann, der vor acht Jahren aus Gambia nach Hamburg kam. Er gehört zu den rund zehn Prozent der Patienten, die in der Poliklinik behandelt werden, obwohl sie keine Papiere oder keine Krankenversicherung haben. Moment mal. Eine Poliklinik? Sind diese Ärztehäuser nicht mit dem Ende der DDR verschwunden? In der Tat überdauerte der Ansatz der Polikliniken die Wende nicht lange. Die dort flächendeckende ganzheitliche ambulante medizinische Betreuung unter einem Dach war wie viele andere Konzepte aus dem der Bundesrepublik beigetretenen Staat jahrzehntelang kaum irgendwo im Westen eine Überlegung wert. Einzelne niedergelassene und frei praktizierende Ärzt*innen prägen bis heute die medizinische Landschaft in Deutschland. Vom Hausarzt erhält man die Überweisung zur Fachärztin, ohne dass diese beiden sich groß miteinander austauschen. An diesen Zustand hat man sich über die Jahrzehnte gewöhnt. In jedem Fall ist wenig Zeit für die Patienten. »Wir wollten eine konkrete Alternative zu den derzeitigen ambulanten Versorgungsstrukturen entwickeln und gesellschaftliche Bedingungen von Gesundheit stärker in den Fokus rücken«, erzählt Anh-Thy Nguyen, eine der Mitbegründerinnen der Poliklinik. Auf der Veddel ist der reiche Hamburger Pfeffersack, sind die noblen Elbvororte und die glitzernden Fassaden der Hafencity gefühlte Lichtjahre entfernt. Zwischen Bahntrassen, Hafenbecken und der B75 breitet sich der traditionelle Arbeiterstadtteil rund um einen Fußballplatz aus. Obwohl man vom Hauptbahnhof nach nur drei Stationen und sieben Minuten Fahrt mit der S-Bahn da ist, landet man auf der Veddel in einem anderen Hamburg. Einem sichtbar ärmeren, raueren, aber auch bunteren Teil der Stadt. Deutsch wird hier auf den Straßen selten gesprochen. Wenn man sich mit den Betreibern der Poliklinik und den Patienten unterhält, wird schnell deutlich, dass der oft verwendete Begriff »sozialer Brennpunkt« trotzdem überhaupt nicht passt. »Wir sehen die Veddel nicht als Problemviertel. Viele Menschen fühlen sich hier abgehängt und wenig gesehen. Und das muss man ändern«, fordert Nguyen. Die 36-Jährige arbeitet im Bereich Konzeption und Organisation der Poliklinik mit. Die Gynäkologin ist so etwas wie eine Aktivistin der ersten Stunde. Bereits während des Studiums trieb sie der Gedanke um, wie eine solidarische Gesundheitsversorgung aussehen könnte. Auf einem Kongress des Medibüros Hamburg - ein Praxisangebot für Menschen ohne Papiere - entstand 2013 die erste Idee für das Stadtteilgesundheitszentrum. Eine Gruppe von Aktiven, die die Idee gemeinsam umsetzen wollten, reiste im Anschluss an den Kongress beinahe quer durch die Republik: vom ehemaligen »klassenlosen Krankenhaus« in Frankfurt am Main über die Gruppenpraxis am Hasenbergl in München bis hin zum Berliner Gesundheitszentrum Gropiusstadt besuchten die Initiatoren bestehende und ehemalige Projekte, die sich der herrschenden Marktlogik in der Medizin entziehen wollten. Der Plan, ein eigenes solidarisches Gesundheitszentrum zu gründen, nahm immer konkretere Formen an. Standorte wurden gesucht. Die Stadtteile Horn und Billstedt waren im Gespräch, es fanden sich aber keine passenden Räumlichkeiten. Den Initiator*innen war von Anfang an klar, dass die Poliklinik in einem Gebiet entstehen sollte, in dem viele arme Menschen und Migranten leben. »Es machte wenig Sinn, die Arztdichte im tendenziell wohlhabenden Eimsbüttel noch zu erhöhen und dort zu konkurrieren, während es auf der Veddel nur eine Hausärztin und keine Apotheke gab«, sagt Nguyen, die gerade ihre Facharztausbildung absolviert. Im Jahr 2017 war es dann so weit. Das Gesundheitszentrum bezog seinen ersten Standort im Zollhafen. Im ehemaligen Pferdestall der kasernierten Hamburger Ordnungspolizei entstanden die ersten Praxisräume. Ein Jahr darauf trat die einzige Hausärztin auf der Veddel an die Poliklinik heran. Altersbedingt wollte sie ihre Praxis aufgeben. Die Gründer*innen der Poliklinik überlegten nicht lange und übernahmen die Praxis kurzerhand. Jüngst kam dann noch ein dritter Standort hinzu, an dem die psychologische Beratung stattfindet und eine Hebamme Schwangere empfängt. Alle drei Standorte erreicht man durch einen kurzen Fußmarsch - die Veddel ist nicht groß. Mittlerweile arbeiten 25 Menschen unterschiedlichster Professionen in der Poliklinik: Ärzt*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, einer Soziologin und eine Hebamme. Und dann gibt es noch zwei »CHN«. Das Kürzel steht für »Community Health Nurse«. Hinter dem sperrigen englischen Begriff verbirgt sich nichts anderes als die Gemeindeschwester. Gab es die nicht auch schon mal irgendwo? Ja, auch in der DDR versorgten ausgebildete Pflegekräfte Patient*innen, indem sie sie auch zu Hause häufig aufsuchten, vor allem im ländlichen Raum, aber auch in städtischen Wohnbezirken. Sie waren Ansprechpartnerinnen für die kleinen und großen Belange. Sie bezogen die zuständigen Hausärzte meist nur bei schwereren Erkrankungen ein. Begleitet durch ein Forschungsprojekt der Hochschule für Angewandte Wissenschaften wird der Einsatz der CHN gerade evaluiert. Auf der Veddel sind diese jedoch keine ausgebildeten Pflegekräfte mehr, sondern studierte Pflegewissenschaftlerinnen. Für zwei Jahre sind die Stellen zunächst über das Projekt gesichert. Danach würden es die Initiatoren der Poliklinik begrüßen, wenn die Arbeit der CHN eine regelhafte Leistung für ein Stadtteilgesundheitszentrum wäre. Denn sie leisten einen Großteil der aufsuchenden Arbeit: Sie machen Hausbesuche, besprechen mit den Patient*innen ihre Sorgen und Nöte und stellen sicher, dass gesellschaftliche Faktoren von Krankheit nicht übersehen werden. Die Veddel hat nämlich bei allem Charme auch ein massives Problem mit marodem Wohnungsbestand. »Im zurückliegenden Jahr war ich stark damit beschäftigt, zusammen mit den Nachbarinnen das Schimmelproblem vieler Wohnungen anzugehen. Darüber hinaus konnten wir den Abriss eines Hauses verhindern, in dem viele Menschen zu günstigen Mieten wohnen können«, erzählt Tina Röthig, die für den Bereich Gemeinwesenarbeit im Projekt zuständig ist. Der Arbeit von Röthig merkt man deutlich den Ansatz des Stadtteilgesundheitszentrums an. Die Menschen, die hier arbeiten, glauben nicht, dass nur Mediziner*innen für die Gesundheitsversorgung der Bewohner zuständig sein sollten. Hier ist man der Meinung, dass auch das Konzept »Patienten helfen Patienten« von Bedeutung ist. An allen Ecken und Enden wird multiprofessionell gedacht und auf den regelmäßigen Plena kollektiv entschieden, wie sich das Projekt weiterentwickelt. Und wieder so ein Begriff, der wirkt, wie aus der Zeit gefallen: Kollektiv. Doch alle Beteiligten finden den Kollektivgedanken wichtig, finden ihn zeitgemäß und gar nicht verstaubt. Künftig ist auch geplant, dass es eine Angleichung bei den Löhnen geben soll, um die Hierarchien auch auf finanzieller Ebene flacher zu gestalten. »Es wird dann jedoch aller Voraussicht nach am schwierigsten, Ärzte zu gewinnen«, räumt Nguyen ein. Denn sie würden im Vergleich zu einer Tätigkeit in einem Krankenhaus oder einer Praxis auf den größten Anteil ihres Lohnes verzichten müssen. Doch noch ist dieser Gedanke Zukunftsmusik. Wirkt so viel politischer Anspruch nicht zu ambitioniert? Und ist die Poliklinik damit nicht so etwas wie ein Raumschiff, das auf der Veddel gelandet ist? Tatsächlich wohnt niemand aus dem Team der Poliklinik selbst hier. »Zu Beginn kamen wir schon von außen. Aber mittlerweile wachsen wir mehr und mehr in den Stadtteil hinein«, sagt Tina Röthig. Vertrauen ist entstanden - und es wird nicht mehr nur allein auf den Arzt gehört. Das Konzept, dass Patient*innen und Behandelnde auf Augenhöhe miteinander sprechen, kommt gut an. Zu explizit politischen Veranstaltungen kamen in den letzten Jahren hingegen nur wenige Anwohner*innen. Ganz anders als zu den Impfangeboten, die die Poliklinik auf die Beine gestellt hat. »Von Mai bis September haben wir im letzten Jahr in den Räumen der AWO ein Impfzentrum betrieben. Das ist jetzt in die Poliklinik umgezogen«, erzählt Tobias Filmar, der als Koordinator für multiprofessionelle Zusammenarbeit bei der Poliklinik arbeitet. Als Psychologe und ausgebildeter systemischer Berater bietet er auch Beratungen am Standort in der Veddeler Brückenstraße an. »Insgesamt arbeiten vier Psychologen und Sozialpädagogen bei uns, die alle als systemische Berater weitergebildet sind«, erklärt Filmar. Das Impfangebot wird nach wie vor gut angenommen. Den ganzen Mittwoch über stehen Menschen an, die auf ihre Erst-, Zweit- oder Boosterimpfung warten. So wie Melek. Die 37-Jährige wartet zusammen mit ihrer Tochter Sara in der Praxis am Zollhafen auf ihre Impfung. »Ich bekomme heute meine zweite Impfung, während meine Mutter geboostert wird«, erzählt die 16-jährige Sara. Die beiden sind begeistert, dass es die Poliklinik bei ihnen im Stadtteil gibt. Noch haben sie eine andere Hausärztin weiter weg, können sich aber perspektivisch einen Wechsel auf die Veddel vorstellen. Nina, die ihren wirklichen Namen nicht in der Zeitung sehen möchte, kommt ebenfalls zum Impfen vorbei. Sie ist während des Studiums auf die Veddel gezogen und danach als einige der wenigen geblieben. Zu Beginn fühlte sie sich beinahe als die »einzige Deutsche« im Stadtteil - mittlerweile lebt sie mittendrin und denkt schon längst nicht mehr in Kategorien wie »deutsch« und »nicht deutsch«. Dann schon eher »wir Veddeler« - ein Dorf mit seinen rund 4300 Einwohnern, die sich immer etwas allein am Rande und mitunter vergessen fühlen. Die AfD bekam hier trotzdem oder gerade deshalb bislang bei Wahlen immer weniger als fünf Prozent der Stimmen. Die Poliklinik ist nicht allein: Sie ist seit ihrer Gründung Teil des Poliklinik Syndikat. In Berlin, Leipzig, Köln und Dresden gibt es ähnliche Projekte, die sich darin zusammengeschlossen haben. Einige Projekte laufen bereits, andere sind noch im Planungsstatus. Allen gemeinsam ist neben einem schier unbändigen Idealismus die noch recht wackelige Finanzierung. Denn trotz aller Ansprüche sind auch die Polikliniken gezwungenermaßen Teil des durchökonomisierten Gesundheitssektors. »Wir bekommen im Augenblick neben den bei den Krankenkassen abgerechneten Leistungen Gelder aus Töpfen von Stiftungen und weiteren Drittmitteln«, erklärt Filmar. Da bleibt es nicht aus, dass sich alle Beteiligten auch ein Stück weit selbst ausbeuten. Denn die allermeisten, die in die Poliklinik kommen, sind Kassenpatiente*innen - neben den erwähnten rund zehn Prozent, die über gar keine Krankenversicherung verfügen. Wegen des deutschen Gesundheitssystems droht hier eine Schieflage, weil eben Privatpatient*innen fehlen, die zur »Querfinanzierung« von Praxen gebraucht werden. Die findet man auf der Veddel so gut wie gar nicht. So bleibt unterm Strich nur die Hoffnung, dass auch die Stadt Hamburg erkennt, welche Vorteile ein Gesundheitszentrum hat, in dem nicht nur durch die Medizinerbrille auf Krankheit und Gesundheit geschaut wird. Ein bisschen Bewegung ist schon erkennbar: Der rot-grüne Senat setzt eigentlich seit Jahren auf interdisziplinäre Gesundheitszentren für benachteiligte Stadtteile. Doch bislang ist keines dieser Zentren realisiert worden. Es finden sich einfach keine Haus- und Kinderärzt*innen, die in ein solches Projekt einsteigen möchten. Gegenwind bekommt der Senat auch von der Hamburger Kassenärztlichen Vereinigung. Deren Chef Walter Plassmann betonte bereits, die KV werde die Pläne des Senats nicht unterstützen. So bleibt die Poliklinik wohl vorerst allein auf weiter Flur.
Guido Sprügel
Die Gründer eines Hamburger Stadtteilgesundheitszentrums haben ein aus der DDR bekanntes Konzept wieder zum Leben erweckt. Sie stellen dort zusammen mit den Bewohnern eine solidarische Gesundheitsversorgung auf die Beine.
Gesundheitspolitik, Hamburg, Impfung, Medizin
Politik & Ökonomie
Politik Menschen ohne Papiere
2022-02-08T18:03:35+0100
2022-02-08T18:03:35+0100
2023-01-20T19:20:58+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161151.menschen-ohne-papiere-eine-poliklinik-fuer-veddel.html?sstr=Poliklinik
Altmaier lässt Gorleben-Erkundung stoppen
Wegen einer Klage von Anwohnern und Umweltgruppen sind die Erkundungsarbeiten in Gorleben seit rund drei Wochen unterbrochen. Am Freitag setzte die Bundesregierung die Untersuchung des Salzstockes auch offiziell aus. Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) verkündete einen Baustopp bis nach der Bundestagswahl 2013. Zugleich zeigte er sich zuversichtlich, dass Bund und Länder sich bald über das Endlagersuchgesetz einigen werden. Grüne und Atomkraftgegner begrüßten die Maßnahme, bezeichneten sie aber als nicht ausreichend. »Wenn diesem Schritt weitere folgen, hat der Neustart bei der Endlagersuche eine Chance, auf Akzeptanz zu stoßen«, sagte die atompolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Silvia Kotting-Uhl. Dass Altmaier die Erkundungsarbeiten nur bis nach der Wahl aussetzen wolle, sei »sehr befremdlich«, sagte der Fraktionschef der niedersächsischen Grünen, Stefan Wenzel, der Nachrichtenagentur dapd. Die brisante Frage der Endlagerung eigne sich nicht für Wahlkampfzwecke. Die Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg bezeichnete Altmaier als »initiativ- und ideenlos«. Er könnte das Gorleben-Projekt als Herr des Verfahrens ganz stoppen, um den Weg frei zu machen für eine Neubewertung der Risiken, die die Atommülllagerung berge, sagte BI-Sprecher Wolfgang Ehmke. Es sei nun Aufgabe von Zivilgesellschaft, Umweltverbänden und Anti-AKW-Initiativen, die überfällige Debatte zu starten. »Die Parteien sitzen das Thema von Wahl- zu Wahltermin konsensual aus; das zeigt, dass sie die falschen Akteure sind«, fügte Ehmke hinzu. Im November 2011 hatten sich Bund und Länder auf einen Neustart bei der Endlagersuche verständigt. Seitdem wird um die Details gerungen. Ein Streitpunkt ist, ob Gorleben Teil der Standortsuche bleiben soll. Atomkraftgegner verweisen auf geologische Mängel wie etwa das Vorkommen von Erdgas im Salzstock. Außerdem halten sie den Standort für »politisch verbrannt«. Intern hatten sich Altmaier, SPD-Chef Sigmar Gabriel und der Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Jürgen Trittin, aber darauf verständigt, dass Gorleben im Pool der zu prüfenden Standorte bleibt. Die Grünen votierten auf dem Parteitag dafür. Zuletzt hatte sich Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) gegen Gorleben ausgesprochen. Das Land sei für eine rückholbare Endlagerung, sagte er. Deswegen kämen Salzstöcke nicht mehr in Betracht. Gorleben wird seit 1979 auf seine Eignung als Atommülllager erkundet.
Reimar Paul
Die Bundesregierung hat ein Erkundungsmoratorium für den als Atommüllendlager geplanten Salzstock Gorleben beschlossen.
Atommüll, Endlager, Gorleben, Peter Altmaier
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/806059.altmaier-laesst-gorleben-erkundung-stoppen.html
Wikileaks-Informantin Chelsea Manning kommt frei
Washington. Die Wikileaks-Informantin Chelsea Manning wird nach Angaben ihres Rechtshilfeverbands American Civil Liberties Union (ACLU) am Mittwoch aus der Haft entlassen. Im Jahr 2013 war die 29-Jährige - damals noch unter dem Namen Bradley Manning - wegen der unauthorisierten Weitergabe von Hunderttausenden Geheimdokumenten an die Internetplattform Wikileaks zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der ehemalige Präsident Barack Obama reduzierte die Strafe – kurz bevor er aus dem Amt schied. Sie habe in Haft von Freiheit geträumt, sich jedoch »nicht erlaubt, sich diese Freiheit völlig vorzustellen«, erklärte die US-Amerikanerin einige Tage vor der Entlassung. Nun sehe sie »zum ersten Mal eine Zukunft für sich selber als Chelsea«. Manning hatte als IT-Spezialist der US-Armee 2010 Zugang zu geheimen und vertraulichen Daten über das Gefangenenlager Guantanamo und über die Angriffskriege in Afghanistan und Irak und mehr als 200.000 diplomatische Depeschen heruntergeladen. Es waren das größten Leak der US-Geschichte. Damit habe er eine öffentliche Diskussion anstoßen wollen, begründete Manning während des Verfahrens. Für besonderes Aufsehen sorgte ein Video von zwei US-Hubschrauberangriffen in Bagdad 2007, bei dem zwölf Zivilisten erschossen wurden, darunter zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters. Die Anklage beim Militärprozess betonte, bei der Weitergabe der Dokumente an Wikileaks habe Manning gewusst, »dass sie dort dem Feind zugänglich« sein würden. Manning verbüßte einen Großteil ihrer Haft im Militärgefängnis Fort Leavenworth in Kansas. Auf Empörung waren ihre Untersuchungshaftbedingungen gestoßen. Der Folterbeauftragte der UN, Juan Mendez, klassizierte diese 2012 als »grausam, inhuman und entwürdigend«. Während ihrer Haftzeit unternahm sie zwei Suizidversuche. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Sieben Jahre saß Chelsea Manning im Gefängnis; am Mittwoch wird die US-Amerikanerin entlassen. Das hat sich auch dem Ex-Präsidenten Obama zu verdanken. Denn eigentlich war sie zu 35 Jahren Haft veruteilt.
Geheimdienste, USA, Whistleblower
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1050901.wikileaks-informantin-chelsea-manning-kommt-frei.html
Alles für einen
Ohne zu spielen, bestimmt Nikola Karabatic die WM-Schlagzeilen. Er ist ein Phänomen im Handball. Beim Duell Frankreichs gegen Deutschland spielt aber auch die Vergangenheit eine große Rolle. Von Michael Wilkening Es ist immer wieder erstaunlich, wie Nikola Karabatic den Rest der Handballwelt zu überstrahlen vermag. Der 34-jährige Franzose ist der beste Spieler der Gegenwart - viele meinen gar der Geschichte. In jedem Fall ist er größer als die eigene Nationalmannschaft. Seit er angekündigt hat, vielleicht doch bei der Weltmeisterschaft in Deutschland und Dänemark mitmachen zu können, ist das Team des Topfavoriten auf die Goldmedaille in den Hintergrund gerückt (worden). Vor dem Duell der Deutschen gegen den Titelverteidiger an diesem Dienstagabend geht es (fast) nur noch darum, ob der dreimalige Welthandballer auch schon gegen den Gastgeber auf dem Feld stehen wird. Die Franzosen haben 2009, 2011, 2015 und 2017 die Weltmeisterschaft gewon... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Michael Wilkening
Frankreichs Handballer sind Favorit, die Aufmerksamkeit gilt bei der Weltmeisterschaft aber nur Nikola Karabatic
Frankreich, Handball
Sport
Sport
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1109920.alles-fuer-einen.html
Aufklärung vor Operation
In jeder größeren Stadt bieten Laserzentren heute eine Korrektur von Kurz- oder Weitsichtigkeit an. Auch Hornhautverkrümmungen lassen sich so beheben. Die Behandlung dauert weniger als eine halbe Stunde. Die meisten Patienten können noch am selben Tag wieder ohne Brille scharf sehen. Dennoch sei die Laserbehandlung kein Verfahren, dem man sich »eben mal schnell unterziehen könne«, sagt Professor Dr. med. Thomas Kohnen vor dem 10... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Seit mehr als 25 Jahren können Augenärzte Fehlsichtigkeiten mit einem Laser korrigieren. Trotz aller Erfahrung handelt es sich dabei um einen operativen Eingriff, der auch Risiken birgt. Patienten sollten sich deshalb in Zentren behandeln lassen, die eine geprüfte Qualität bei der Diagnostik und Behandlung nachweisen können.
Informationen, Operation
Gesund leben
https://www.nd-aktuell.de//artikel/207620.aufklaerung-vor-operation.html
Betrug am Bau
Es hätte ein wegweisendes Urteil werden können, doch die Richter vom Bundesarbeitsgericht wollten lieber keine ausgetretenen Pfade verlassen. Stattdessen urteilten sie am Mittwoch, dass zwei Arbeiter, die vor fünf Jahren auf der Baustelle der Mall of Berlin um ihren Lohn geprellt worden waren, diesen nicht vom Investor des riesigen Shoppingcenters in der Hauptstadt einfordern können. Verloren waren die vergangenen fünf Jahre aber nicht, in denen die Arbeiter - anfangs noch 30, dann sieben, zuletzt nur noch zwei - gemeinsam mit der Basisgewerkschaft FAU um ihren Lohn gekämpft hatten. Das stellte Tinet Ergazina klar, die den Fall der »Mall of Shame« seitens der FAU von Anfang an begleitet hatte. Der langanhaltende Protest habe andere von Lohnausbeutung Betroffene ermutigt, sich zu wehren. Dass Bauarbeiter nicht bezahlt werden, zu wenig Geld bekommen oder in illegalisierte Arbeitsverhältnisse gedrängt werden, ist ein gängiges Phänomen auf deutschen Baustellen. Oft trifft es Ausländer, die wegen mangelnder Sprach- und Rechtskenntnisse leichter auszubeuten sind. Ein kleiner Ausschnitt: 4047 Menschen wandten sich 2018 an die Beratungsstelle »Faire Mobilität« des DGB, die Arbeitnehmer aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten unterstützt. Nach der Transport- und Logistikbranche waren die meisten der Ratsuchenden (922) im Bausektor beschäftigt. Mit Abstand die größte Anzahl aller (3024) kam wegen ausbleibender oder zu geringer Löhne. Die neue EU-Arbeitsbehörde (ELA) ist am Mittwoch offiziell an den Start gegangen. Die ELA tritt als Vermittlerin bei Streitigkeiten zu Sozialabgaben oder der Entsendung von Arbeitnehmern in andere EU-Länder auf. Dafür hat sie ein Budget von jährlich rund 50 Millionen Euro und erhält 140 Mitarbeiter. Vorübergehender Sitz ist Brüssel, später zieht sie nach Bratislava (Slowakei) um. Der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC erklärte, bei der ELA bereits die Untersuchung von neun Fällen der Ausbeutung entsandter Arbeiter beantragt zu haben. In den meisten dieser Fälle geht es demnach um Arbeiter aus süd- und osteuropäischen Ländern, die von Zeitarbeits- und Briefkastenfirmen in anderen EU-Staaten nach Deutschland entsandt und nicht korrekt entlohnt worden waren. AFP/nd Die meisten Betroffenen wenden sich jedoch nicht an Beratungsstellen. Weil sie nicht wissen, dass diese existieren, nicht darauf vertrauen, tatsächlich Hilfe zu erhalten, oder weil sie längst zurück in ihr Heimatland gereist sind. Deshalb kann angenommen werden, dass Lohnbetrug noch weit häufiger vorkommt. Schließlich kommen pro Jahr rund 400 000 sogenannte entsandte Beschäftigte nach Deutschland, die bei Firmen im EU-Ausland angestellt sind. 200 000 von ihnen arbeiten auf dem Bau. Hinzu kommen etliche EU-Bürger, die direkt bei in Deutschland gemeldeten Firmen beschäftigt sind. Sie machen einen erheblichen Anteil der 890 000 Beschäftigten im sogenannten Bauhauptgewerbe aus, also jenen, die direkt auf der Baustelle zu tun haben. Es ist üblich und teils auch notwendig, auf großen Baustellen mit Subunternehmen zu arbeiten. Das war auch bei der Mall of Berlin der Fall. Die Gläubigerliste der Firma FCL, die Generalunternehmer der Mall of Berlin war, bevor sie kurz nach Fertigstellung Insolvenz anmeldete, gibt einen guten Überblick darüber, welche kleineren und größeren Firmen an einer Baustelle beteiligt sind: Gebäudereinigung, Security, Betonbohrungen, Brandschutzarbeiten, Entsorgung von Baustoffen, Hebetechnik, Garten- und Landschaftsbau und so weiter und so fort. Die Arbeiter der Mall of Berlin, die vor dem Bundesarbeitsgericht gegen die HGHI Leipziger Platz GmbH und Co. KG geklagt hatten, führten auf der Baustelle einfache Arbeiten aus: Sie schleppten Baumaterialien und räumten Schutt und Dreck weg. Doch Subunternehmerketten, bei denen jeder Nachunternehmer selbst einen weiteren Nachunternehmer beauftragt, machen es jedem einzelnen Unternehmen auch leichter, sich vor Verantwortung zu drücken. Der eine will gar nicht der Auftraggeber gewesen sein, der nächste meldet Insolvenz an, der dritte muss per Gesetz nicht haftbar gemacht werden. Und je mehr Firmen aus verschiedenen Ländern an einem Projekt beteiligt sind, desto mehr Möglichkeiten des Lohn- oder Steuerbetrugs tun sich auf. Eine Auswahl: Die wohl bekannteste Art des Sozialbetrugs ist die Scheinselbstständigkeit. Die rumänischen Bauarbeiter der Mall of Berlin sollten einen ordentlichen Arbeitsvertrag bekommen. Doch sie wurden jeden Tag auf »morgen« vertröstet. Parallel wurden sie aufgefordert, ein Gewerbe anzumelden - und als selbstständige Unternehmer auf der Baustelle zu arbeiten. Ein übliches Verfahren. In der Fleischindustrie ist die Beschäftigung von Arbeitern über Werkverträge üblich. Auch sie arbeiten damit praktisch selbstständig. Damit lassen sich Sozialabgaben umgehen. Ein Berater der »Fairen Mobilität« berichtet von einer Gruppe von Peruanern, die in ihrem Heimatland angeworben wurden, um auf einer deutschen Baustelle zu arbeiten. Sie erhielten einen polnischen Arbeitsvertrag und waren damit offiziell »entsandt«. Unternehmen zahlen dadurch lediglich den allgemeinen Mindestlohn, nicht aber den - höheren - Branchenmindestlohn. Noch dazu zahlen sie Sozialabgaben nicht in Deutschland, sondern in dem Land, in dem sie ihren Sitz haben. Dort sind sie meist geringer. Entsendungen sollen nur vorübergehend sein, in der Regel unter einem Jahr. Wenn sie länger dauern sollen, muss ein begründeter Antrag gestellt werden. Das soll verhindern, dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland arbeiten und wohnen, über eine Firma im Ausland angestellt werden, wodurch ihnen weniger Lohn zustünde. Doch häufig bekommen sie auf dem Papier eine neue Aufgabe zugeteilt, verrichten aber tatsächlich weiter die gleiche Arbeit. Der Branchenlohn der Bauwirtschaft sieht in Westdeutschland zwei verschiedene Mindestlöhne vor: einen für Facharbeiter (15,05 Euro) und einen für Bauhelfer (12,20 Euro). Um Lohn oder Sozialabgaben zu sparen, werden Facharbeiter auf dem Papier zu Bauhelfern gemacht. Die Differenz wird zum Teil bar ausgeglichen. Die Arbeiter der Mall of Berlin sind nicht die einzigen, die von ihren Arbeitgebern auf beengtem Raum - bis zu 16 Personen in drei Zimmern - untergebracht wurden. Die oft überteuerten Wohnkosten werden den Arbeitern vom Lohn abgezogen. Das gleiche gilt für Verpflegungskosten, obwohl selten tatsächlich Essen gestellt wird. Bauunternehmen können Mitglied im Zentralverband Deutsches Baugewerbe oder im Hauptverband der Deutschen Bauindustrie werden, müssen es aber nicht. Anhand von Daten der Berliner Soka Bau, der Sozialkasse der Bauwirtschaft, lässt sich aber deutlich erkennen, dass Betriebe mit Verbandszugehörigkeit in den meisten Fällen Sozialabgaben in voller Höhe zahlen - solche, die nicht verbandsgebunden sind, eher nicht. Schaut man sich dann noch Betriebe an, die die Soka Bau als »einwandfrei« einstuft (sogenannte Weißbuchbetriebe), erhärtet sich das Bild: In Nicht-Weißbuchbetrieben ohne Verbandszugehörigkeit sind etwa 40 Prozent der Arbeiter als Teilzeitkräfte gemeldet. In Weißbuchbetrieben sind es lediglich sechs Prozent. Aber sowohl die Soka als auch die Gewerkschaft IG BAU sind sich einig, dass in dieser Branche kaum jemand tatsächlich in Teilzeit arbeitet. »Im Grunde genommen«, sagt Antonius Allgaier von der IG BAU dem »nd«, »ist das ein deutlicher Hinweis auf massenhaften Betrug.« Ein Sprecher der Soka Bau wird konkreter: »Es liegt zumindest der Verdacht nahe, dass mit der Teilzeitmeldung Sozialkassenbeiträge hinterzogen werden sollen und die Unterschreitung von Mindestlöhnen und/oder Schwarzarbeit verschleiert wird.« Vor allem in der Fleischindustrie ist es üblich, den Lohn am 15. des Folgemonats auszuzahlen. Bis dahin ist ein Teil der Arbeiter bereits abgereist. Praktisch. Dass auf dem Bau getrickst wird, ist nichts Neues. Der Bundestag erließ 1996 erstmals das Arbeitnehmerentsendegesetz, um Beschäftigte aus dem Ausland besser zu schützen. Doch das Gesetz hat offensichtlich riesige Lücken. Während im Laufe der Zeit die ein oder andere gestopft wurde, hat die EU in diesem Jahr die Entsenderichtlinie reformiert. Diese soll gleichen Lohn für gleiche Arbeit in allen EU-Ländern garantieren. Die neue Richtlinie muss bis zum 30. Juli 2020 in nationale Gesetzgebung umgewandelt werden. Das Bundesarbeitsministerium hat dazu bereits Eckpunkte veröffentlicht und erarbeitet derzeit einen Gesetzentwurf. Der DGB hat seinerseits Forderungen aufgestellt, an welchen Stellen das Arbeitnehmerentsendegesetz nachgebessert werden müsste. Beschäftigte müssten sowohl mehr Rechte bekommen als auch bessere Werkzeuge, diese durchzusetzen. Beispielsweise müssten die durch die neue Richtlinie verbesserte Entlohnung sowie Unterkunfts-, Verpflegungs- und Reisekosten auch tatsächlich ausgezahlt werden. Geschieht das nicht, müssen alle Lohnbestandteile einklagbar sein. Das gilt auch für den Ausgleich von Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit. Zu diesem Zweck fordert der DGB außerdem ein wirksames Verbandsklagerecht. Wenn Firmen immer wieder mit kriminellem Handeln auffallen, müsse der DGB auch gerichtlich dagegen vorgehen können. Doch alle Regelungen nützen nichts, wenn Arbeitsorte nicht ausreichend kontrolliert werden. Der DGB fordert daher eine personelle Aufstockung der Abteilung »Finanzkontrolle Schwarzarbeit« des Zolls. Das ist im Eckpunktepapier des Bundesarbeitsministeriums auch vorgesehen. Die Skepsis bleibt, ob das ausreicht.
Johanna Treblin
Dass Bauarbeiter nicht bezahlt werden, zu wenig Geld bekommen oder in illegalisierte Arbeitsverhältnisse gedrängt werden, ist ein gängiges Phänomen auf deutschen Baustellen. Oft trifft es Ausländer, die wegen mangelnder Sprach- und Rechtskenntnisse leichter auszubeuten sind.
Berlin, DGB, Europäische Union, lohnpfuschambau, Prekäre Beschäftigung
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Prekäre Beschäftigung
2019-10-18T17:08:33+0200
2019-10-18T17:08:33+0200
2023-01-21T13:21:45+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1127386.betrug-am-bau.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Naturschutz verliert Bittstellerstatus
nd: Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) weilt derzeit in Nairobi, um aus dem UN-Umweltprogramm UNEP eine feste Institution mitzubegründen - die Umweltversammlung der Vereinten Nationen (UNEA). Was ist der Unterschied? Schwarze: »Programme« gibt es viele bei der UNO. Aber sie sind nichts Beständiges, sondern etwas zeitlich Befristetes. Nehmen wir UNISDR - die »Strategie der Vereinten Nationen zur Katastrophenreduzierung«. Im Jahr 2000 von den UN-Mitgliedsstaaten ins Leben gerufen, sollte diese Koordinierungsstelle Mechanismen zur internationalen Krisenvermeidung entwickeln. Angelegt war das Programm auf zehn Jahre - und musste dann von den Mitgliedsstaaten verlängert werden. Aber nicht alle Programme der UNO werden verlängert, manche werden auch eingestellt. Das UN-Umweltprogramm UNEP läuft zwar schon seit Ende 1972, muss aber regelmäßig verlängert werden. Bei den Mitgliedsstaaten der UNO muss jedes Mal Geld beantr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Mehr als 1200 Experten, darunter die Umweltminister der 194 UNO-Staaten, sind in dieser Woche zur ersten Sitzung der Umweltversammlung der Vereinten Nationen in Nairobi zusammengekommen. Reimund Schwarze, Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, verspricht sich von der neugegründeten Organisation eine Aufwertung von Umweltschutzbelangen. Mit dem Experten für internationale Umwelt- und Klimapolitik sprach Nick Reimer.
Energiewende, Fracking, Klimawandel, Umweltschäden, Umweltschutz, UNO
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/937286.naturschutz-verliert-bittstellerstatus.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Bibliotheksland DDR – Plakate von einst
Eine Schreibfeder mit einem grünen Zweig als Schaft – mit diesem Motiv warb das Plakat für Fachliteratur zu Garten und Landwirtschaft, die in den Leihbüchereien erhältlich war. 31 Bibliotheksplakate aus der DDR sind jetzt im Gerhart-Hauptmann-Museum in Erkner zu sehen. Es sind Stücke aus der Sammlung von Tobias Bank. Museumsleiter Stefan Rohlfs freut sich ganz besonders über diese Ausstellung, die am Samstag eröffnet wurde, hat sie doch »unmittelbar mit Literatur zu tun«. Er erinnert sich, als Kind mit der Schulklasse in die Bibliothek geführt worden zu sein und dort einen langen Vortrag gehört zu haben, wie man die ausgeliehenen Bücher pfleglich behandelt. »Es hat mir nicht geschadet«, schmunzelt er. »Ich bin in einem Literaturmuseum gelandet.« Die DDR habe sich »um die Verbreitung der Weltliteratur bemüht«, weiß Rohlfs. Nach der Wende wurden die Bibliotheken ausgekämmt. Die Werke von Thomas Mann oder Dostojewski finde man dort heute selten, dafür eher Ratgeberliteratur. Laut Historiker Gerd Dietrich wucherte die DDR im Wettstreit mit der wirtschaftlich übermächtigen Bundesrepublik mit dem Pfund Kultur. In der Anzahl nicht nur der Theater und Orchester, sondern auch der Bibliotheken pro Kopf sei die DDR Spitze gewesen, so der Professor. 32 000 Bibliotheken habe es 1984 gegeben, fast alle Städte und Gemeinden hatten wenigstens eine. Während im Westen nur 17 Prozent der Bevölkerung mehr als acht Bücher pro Jahr lasen, waren es im Osten 30 Prozent. Nicht von ungefähr sprach Schriftsteller Hermann Kant 1978 vom »Leserland DDR«, Staats- und Parteichef Erich Honecker 1981 vom »Leseland DDR«. Dennoch sei die Zahl der Entleihungen in den 1980er Jahren zurückgegangen, während sich die Bibliotheksbestände noch weiter erhöhten. Die Plakate bekannter Zeichner wie Manfred Bofinger animierten zum Lesen. Das zeigen in Erkner Motive wie »Kurt Tucholsky – Seine Werke in unserer Bibliothek« mit dem gezeichneten Konterfei des Autors oder »Urlaub, wie er im Buche steht« mit Vater, Mutter und Kind, die auf einer Wiese schmökern. »Diese Plakate sind zu schön, um nicht ausgestellt zu werden«, schwärmt Tobias Bank, der auch Medaillen, Plastetüten und andere Dinge aus DDR-Produktion sammelt und sie nicht nur für sich allein bewundern möchte. Seines Wissens nach hat es bis jetzt noch keine andere Ausstellung mit DDR-Bibliotheksplakaten gegeben. Ihm gefallen besonders die Motive zur Kinderliteratur. Einfallsreich ist aber auch eine Werbung für Bücher und Zeitschriften zur Landesverteidigung: Sie zeigt einen Fallschirmjäger, dem ein aufgeklapptes Buch als Fallschirm dient. Nicht so gehaltvoll wäre die Schau, betont Bank, wenn ihm nicht der auf Bibliotheksplakate spezialisierte Sammler Gerd Kreusel Exemplare abgegeben hätte, die dieser doppelt hatte. »Ausgeliehen, gelesen, erlebt. Bibliotheksplakate aus der DDR«, bis 30. November, Di. bis So.von 11 bis 17 Uhr, Gerhart-Hauptmann-Museum, Gerhart-Hauptmann-Straße 1-2 in Erkner, Eintritt frei
Andreas Fritsche
Es ist seines Wissens die erste Ausstellung von DDR-Bibliotheksplakaten überhaupt. Sammler Tobias Bank zeigt im Gerhart-Hauptmann-Museumn von Erkner 31 besonders schöne Exemplare.
Bibliothek, Brandenburg, DDR-Kunst, DDR-Literatur, Kultur, Plakate
Hauptstadtregion
Brandenburg Gerhart-Hauptmann-Museum in Erkner
2021-10-31T16:16:52+0100
2021-10-31T16:16:52+0100
2023-01-20T20:20:33+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158164.gerhart-hauptmann-museum-in-erkner-bibliotheksland-ddr-n-plakate-von-einst.html
Peru driftet in die Führungslosigkeit
Der Sonntagmorgen in Lima war nach einer schlaflosen Nacht für viele ein Morgen voller Schmerzen, Trauer und Wut. In der Nacht zuvor hatte die Polizei in der peruanischen Hauptstadt bei Protesten gegen Übergangspräsident Manuel Merino zwei Studenten getötet, mehr als 100 Demonstrant*innen verletzt. Am Sonntagmittag musste Merino dann nach nur fünf Tagen im Amt zurücktreten. Was bleibt, ist ein Schock über Polizeigewalt, wie ihn die Menschen in Lima seit zwei Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten. Am Samstag waren Peruaner*innen den sechsten Tag in Folge im ganzen Land auf der Straße, um gegen die Absetzung des bisherigen Präsidenten Martín Vizcarra und die Machtübernahme durch Merino zu protestieren. Mit Nationalflaggen, Schildern und Musik zogen Zehntausende Menschen durch Lima, Arequipa, Cuzco und andere Städte, um lauthals klarzumachen: Merino ist nicht unser Präsident. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Am Samstagabend eskalierte die Nationale Polizei Perus (PNP) die Lage: Polizist*innen mit Helmen und Körperschutz konzentrierten sich im politischen Zentrum Limas, sie sperrten Straßen mit Gittern und verbarrikadierten sich hinter Schilden, sogar die Straßenbeleuchtung auf der Plaza San Martín, dem Ort der Großkundgebung, wurde gelöscht. Videos zeigen, wie die PNP immer wieder Salven von Tränengaskartuschen und Gummischrot auf demonstrierende Menschen schießt, auf Sanitäter*innen, ältere Menschen, Eltern mit Kindern. Sogar von Helikoptern aus wurden Protestierende mit Tränengas beschossen. Bei diesen brutalen Attacken, die bis zum Morgengrauen andauerten, tötete die Polizei nach bisherigen Erkenntnissen die beiden Studenten Inti Soleto und Bryan Pintado, 24 Jahre und 22 Jahre alt. Bei der Obduktion von Bryan Pintado wurden nicht weniger als zehn Metallkugeln im Schädel, Gesicht, Hals, Arm und Oberkörper gefunden. Schuldige an dem Gewaltexzess in Uniform benannte die Nationale Koordination für Menschenrechte (CNDDHH), eine Organisation aus 82 Menschenrechtsorganisationen, noch in derselben Nacht: De-facto-Präsident Manuel Merino, der die gesamte Schreckensnacht unsichtbar und sprachlos blieb. Ministerpräsident Ántero Flores-Aráoz, ein Rechtsextremist, der 2009 als Verteidigungsminister verantwortlich für das Massaker in der Stadt Bagua mit 33 Toten war. Und das zuständige Kommando der Nationalen Polizei. Die Absetzung des vorherigen Präsidenten Martín Vizcarra wegen »dauerhafter moralischer Unfähigkeit« am Montag zuvor mit Stimmen von 105 der 130 Abgeordneten im Kongress hatte viele überrascht, denn ein erstes Amtsenthebungsverfahren im September war noch gescheitert. Vizcarra hatte im März 2018 das Amt von Pedro Pablo Kuczynski übernommen, als dieser wegen Korruptionsvorwürfen zurücktrat. Auch Vizcarra wird vorgeworfen, vor sechs Jahren Bestechungsgelder angenommen zu haben. Der Präsident ist bei den Peruaner*innen allerdings äußerst beliebt, und für den April sind in Peru sowieso Wahlen geplant, bei denen Vizcarra ohnehin nicht hätte antreten dürfen. Zudem wird die verfassungsrechtlich fragwürdige Begründung der »dauerhaften moralischen Unfähigkeit« derzeit vom Verfassungsgericht Perus geprüft. So nutzte eine Gruppe ultrareligiöser rechter Politiker die Gelegenheit zur Machtübernahme, um wirtschaftliche Interessen zu wahren, sich Immunität in Strafprozessen zu sichern und politischen Einfluss zu festigen - weshalb in Peru viele einen »parlamentarischen Staatsstreich« beklagen. Überrascht reagierten viele Hauptstadtbewohner auch auf die schonungslose Repression durch die Polizei, von Demonstrationen für die Rechte indigener Gemeinschaften und gegen die Umweltzerstörung durch Bergbauprojekte ist diese Vorgehensweise leider gut bekannt: 2009 wurden in Bagua im nördlichen Amazonas bei Protesten gegen ein Gesetzespaket, das die Rechte der indigenen Gemeinschaften verletzte und das Amazonasgebiet bedrohte, 33 Menschen getötet. Bei einem Streik 2015 gegen das Kupferbergwerk Las Bambas im Süden Perus starben vier Menschen. Am Sonntagabend kamen viele Menschen ins Zentrum Limas, um am Schauplatz der Kämpfe Blumen abzulegen und Kerzen anzuzünden für die Getöteten und für die Verletzten. Und um die Aufklärung der Gewalttaten zu fordern. Junge Demonstrant*innen betonten, dass sie sich einer abgehobenen, korrupten Politikerkaste widersetzen, die nur an eigene Vorteile denkt, statt sich um Wünsche jungen Peruaner*innen wie dem nach einer guten, bezahlbaren Bildung zu kümmern. Einen Namen gibt es schon für die jungen Aktivist*innen: »Generation Bicentenario«, Generation 200 Jahre, weil Peru im kommenden Jahr das 200. Jahr der Unabhängigkeit begeht. Und wenn es planmäßig läuft, finden dann im April die Präsidentschaftswahlen statt, mit der Weichen gestellt werden. Die Richtung ist nicht absehbar. Und fürs Erste sucht Peru nach einem Übergangspräsidenten: Die nächste Abstimmung in Lima über eine*n neue*n Präsident*in war am Montag um 18 Uhr MEZ - nach Redaktionsschluss - geplant.
Steffen Heinzelmann, Cochabamba
Der peruanische Übergangspräsident Manuel Merino ist nach tagelangen Protesten zurückgetreten. Die Wahl eines neuen Generalkomitees, das auch die Präsidentschaft übernähme, ist bisher an fehlenden Mehrheiten gescheitert.
Peru
Politik & Ökonomie
Politik Peru
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1144491.peru-driftet-in-die-fuehrungslosigkeit.html
Schule in Geflüchtetenunterkunft: Gegenteil von Integration
In der stetig wachsenden Massenunterkunft für Geflüchtete in Tegel wurde im Februar eine Schule eigens für die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen aus der Unterkunft eröffnet, die »Willkommensschule TXL«. Ihre Kapazität soll noch steigen, auch für die Tempelhofer-Feld-Unterkunft ist eine derartige Schule geplant. Laut Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) soll es sich um eine Übergangslösung handeln, jedoch könne sie keinen Endzeitpunkt für die Regelung nennen. Der Ausschluss geflüchteter Kinder aus dem Regelsystem wird von zentralen Geflüchtetenorganisationen kritisiert. Doch weil sie den Begriff »Lagerschule« nutzen, seien ihre Positionen laut Senat nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen worden – aufgrund »der deutschen Geschichte und ihrer besonderen Verantwortung für humanitäres Handeln«. Dies ergab die Antwort auf eine schriftliche Anfrage von Elif Eralp, migrationspolitische Sprecherin der Linken im Abgeordnetenhaus. Gemeint ist wohl die begriffliche Nähe zu Konzentrationslagern. Die Geflüchtetenbewegung nutzt seit Langem den Begriff »Lager« für Geflüchtetenunterkünfte; »Flüchtlingslager« bezeichnet als feststehender Begriff insbesondere große Camps des UN-Flüchtlingswerkes. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch hatte sich im Bildungsausschuss Mitte Februar noch damit geschmückt, die Flüchtlingsvertretungen in Berlin eingeladen und ihre Zustimmung für die separate Schule in der Geflüchtetenunterkunft bekommen zu haben. Mehrere Geflüchtetenorganisationen widersprachen anschließend: Sie hätten entweder gar nicht an Gesprächen mit der Senatsverwaltung teilgenommen oder dabei die »Lagerschule« abgelehnt. »Der Termin hatte informatorischen Charakter«, sagt Nicolay Büttner vom Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige Geflüchtete (BNS). Er habe zwar teilgenommen, der Schule in Tegel jedoch keineswegs zugestimmt. »Wir erwarten einen Plan, wie von Lagerbeschulung Abstand genommen werden kann«, so Büttner. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Laut Senatsverwaltung fehlen derzeit 27 000 Schulplätze in Berlin. Darunter leiden besonders geflüchtete Kinder. »Einen Schulplatz zu finden, ist für ein zugezogenes Kind aus Bayern kein Problem, schon aber für eines aus Syrien«, beklagt Sina Stach vom Flüchtlingsrat gegenüber »nd«. Es sei wichtig für deutsche und geflüchtete Kinder, sich an Orten wie der Schule zu begegnen. Auch ermögliche eine Schule außerhalb der nicht kindgerechten Geflüchtetenunterkünfte Abwechslung vom tristen Alltag, so die Sprecherin. »Wir sind immer offen für Gespräche«, sagt Stach. Die Einladung sei jedoch nicht an die offizielle Büroadresse gegangen und habe sie deshalb zu spät erreicht. Sie bezweifelt, dass es bei dem Gespräch tatsächlich um einen Austausch über die besten Lösungen für geflüchtete Kinder ging, »die Eröffnung der Lagerschule in Tegel stand zu dem Zeitpunkt längst fest«. Das Wort »Lagerschule« könne der Senat gerne ablehnen, so Stach, »aber geflüchtete Kinder zu isolieren und ihnen somit das Recht auf gleiche Teilhabe zu verwehren, sollte nicht beschönigt werden.« Man könne auch den Begriff »Segregationsschule« nutzen. Das Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf hat ebenfalls an dem Treffen teilgenommen. Sprecher Günther Schulze betrachtet den Austausch als wichtig, auch wenn es kein offizielles Gremium war und sehr unterschiedliche Organisationen teilnahmen. Die Lagerbeschulung dürfe dennoch nicht langfristig bleiben: »Das hat nichts mit Integration zu tun.« Man sehe auch bei den nur als Zwischenlösung gedachten Massenunterkünften, dass sie längst zur Regel geworden seien. Für den Sprecher liegt es nun an der Zivilgesellschaft, Druck aufzubauen: »Wo ist da die GEW? Wo sind die Elternvertreter? Wo die Landesschülersprecher?«
Moritz Lang
Geflüchtete Kinder werden in einer »Willkommensschule« in Tegel abseits des Regel­systems unterrichtet. Positionen, die die Segregation benennen, bleiben kategorisch unbeachtet.
Berlin, Bildungspolitik, Einwanderung, Integration
Hauptstadtregion
Berlin Ankunfszentrum Tegel
2024-04-09T16:51:02+0200
2024-04-09T16:51:02+0200
2024-04-09T19:17:00+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1181333.ankunfszentrum-tegel-schule-in-gefluechtetenunterkunft-gegenteil-von-integration.html
Michael Müller ist der AfD nicht neutral genug
Das Berliner Landesverfassungsgericht hat regen Zulauf am Mittwochmorgen. Vor dem Eingang stehen Studierende, Interessierte, aber auch Aktivist*innen mit Antifa-Aufnähern. Immerhin wird eine Klage der AfD gegen den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) verhandelt. Der Anlass? Als am 27. Mai vergangenen Jahres der Bundesvorstand der AfD mit einer Demonstration durch Mitte ziehen wollte, wurde ihr ein unversöhnlicher Empfang bereitet: Mehr als 25 000 Berliner*innen demonstrierten gegen den Aufmarsch mit verschiedensten Mitteln. »Es war ein wunderschöner Maitag«, erinnert sich Senatssprecherin Claudia Sünder, die auch verantwortlich für den Twitter-Account des Bürgermeisters ist. Sie und ihr Team twitterten über das Konto: »Zehntausende in Berlin heute auf der Straße, vor dem Brandenburger Tor und auf dem Wasser. Was für ein eindrucksvolles Signal für Demokratie und Freiheit, gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze.« Jeden Tag lesen rund 25.000 Menschen unsere Artikel im Internet, schon 2600 Digitalabonennt*innen und über 500 Online-Leser unterstützen uns regelmäßig finanziell. Das ist gut, aber da geht noch mehr! Damit wir weiterhin die Themen recherchieren können, die andere ignorieren und euch interessieren. Hier mitmachen! Die AfD findet, dass dieser Tweet nicht mit dem Neutralitätsgebot eines Amtsträgers vereinbar sei, und möchte das vom Verfassungsgericht bestätigt haben. »Im Grunde ist nicht mehr viel zu sagen«, so der Anwalt der Antragstellerin, Marc Vallendar, der selbst justizpolitischer Sprecher der Abgeordnetenhausfraktion ist. Durch den Tweet habe Müller Ressourcen des Senats benutzt, um in die parteipolitische Konkurrenz einzugreifen und die AfD zu diskreditieren. Er habe sich so einem »Bündnis gegen Rechts« angeschlossen, das der AfD »Rassismus und menschenfeindliche Hetze« vorwerfe. Das sei Verleumdung. Die Verteidigung des Senats sieht das nicht ein: »Wir haben ein Organstreitverfahren ohne Organstreit«, so Anwalt Christoph Möllers. Neutralität müsse gegenüber der parteipolitischen Konkurrenz gelten, aber nicht zu zivilgesellschaftlichem Engagement, welches in dem Tweet gelobt wurde. Zudem sei dieser keine Handlungsanweisung gewesen, sondern eine gerechtfertigte Wertung. Für Möllers ist etwas anderes an dieser Klage noch auffälliger: »Was legt das eigentlich nah?« Dass sich die AfD bei einem Tweet gegen Rassismus ohne direkten Bezug zu ihr angegriffen fühlt, spräche für sich. Das sehen die Verfassungsrichter*innen nicht ganz so. Für sie gibt es durchaus eine zeitliche Verbindung der Demonstration der AfD mit dem Tweet, welcher rund zwei Stunden nach deren Ende veröffentlicht wurde. Richter Jürgen Kipp betont die »äußerste Vorsicht«, die bei solch einer Äußerung beachtet werden müsse. Beiden Seiten ist klar, dass die Entscheidung des Gerichts wegweisend für die Zukunft sein könnte. Der Präzedenzfall, das sogenannte Wanka-Urteil des Bundesgerichtshofes, würde dadurch erweitert werden. Bisher hat die AfD damit nur erreicht, dass Amtsträger nicht zum expliziten Boykott der Partei aufrufen dürfen. Im Fall Müller liegt ein indirekterer Zusammenhang vor. Ob sich die bisherige Rechtsprechung nun ändern könnte, ist noch unklar. Das Urteil soll am 20. Februar fallen.
Philip Blees
Zehntausende demonstrierten im Mai 2018 gegen die AfD, der Regierende Bürgermeister lobte das. Vielleicht hätte er das nicht gedurft.
AfD, Berlin, SPD
Hauptstadtregion
Berlin Twitter
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1110116.twitter-michael-mueller-ist-der-afd-nicht-neutral-genug.html
Freiwillig im Drohnenfeuer
Es summt. Doch an diesem Abend in Tell Tamer sind es nicht die türkischen Drohnen, die das surrende Geräusch über der strategisch wichtigen Frontstadt in Rojava gewöhnlich erzeugen. In einem kleinen Studio hinter schwerer Metalltür liegt ein Mann mit nacktem Oberkörper auf einer Pritsche. Eine elektrische Nadel wandert über seinen Bauch. Das Studio liegt in einer Gasse der halb verlassenen Stadt. Sieben Wochen nach Beginn der türkischen Invasion sind die Straßen bis auf ein paar Militärcheckpoints leer. Ein Dutzend Ausländer sitzt auf dem Boden, Kanadier, Dänen, Briten, Spanier, Deutsche. Die meisten zwischen Mitte 20 und 40 Jahre alt. Scherze werden gemacht. Und doch liegt eine ernste Stimmung über den Menschen. Es sind linke Internationalisten, aus aller Welt gekommen, um Rojava zu verteidigen. Im Moment herrscht eine Verschnaufpause in Tell Tamer. Vor dem nächsten türkischen Großangriff wollen sich einige noch tätowieren lassen. Sammelpunkt in der Stadt ist das Krankenhaus. Früher oder später treffen hier alle aufeinander. Neben dem Eingang steht ein Eiscreme-Truck zur Aufbewahrung der Leichen. Unter den anwesenden Ausländern ist auch Jiyan aus Deutschland. Die 36-Jährige gibt derzeit Fortbildungen für Sanitäter. Die Feuerpause wird genutzt zum Reflektieren, zum Schließen von Wissenslücken, zur Weiterentwicklung. All das ist hier überlebenswichtig: Von Tell Tamer ist die Front etwa fünf Kilometer entfernt. In den umliegenden Dörfern wird sporadisch gekämpft. Jiyan lebt seit viereinhalb Jahren in Rojava, seit der türkischen Invasion hatte sie in den Städten Girê Spî und Ain Issa Verwundete versorgt. Die Internationalistin berichtet, wie sie und ihre Kollegen dabei auch selbst zum Angriffsziel wurden. »Die mit der Türkei verbündeten Dschihadisten begehen am Boden Kriegsverbrechen. Aber türkische Flugzeuge und Drohnen haben Ambulanzen von uns bombardiert.« Vor allem vor Drohnen müsse das medizinische Personal sich in Acht nehmen. »Du versteckst dich und bewegst dich nicht. Es ist gut, wenn du ein Buch dabeihast und lesen kannst«, erklärt sie. Das Wichtigste sei, ruhig zu bleiben. »Wenn deine Nerven mit dir durchgehen, entdecken sie dich. Dann bist du eine Gefahr für alle, dann kann es schnell zu einer Bombardierung kommen.« Jiyan, für die Fortbildung extra von einer anderen Frontstellung gekommen, spricht reflektiert, kennt den Preis ihrer Arbeit. »In Suluk ist medizinisches Personal in die Hände von Dschihadisten gefallen und wurde ermordet. Für uns war von vornherein klar, dass so etwas passieren kann«, sagt die Notfallmedizinerin. »Die Ursachen mögen unterschiedlich sein, aber das Endresultat ist, dass ich sterben kann.« Das sollte man vorher mit sich geklärt haben, sagt Jiyan. Die medizinische Arbeit sei zudem oft schwierig. »Du siehst krasse Verletzungsmuster, Menschen die du kennst, die dann in deinen Armen sterben, Zivilisten, Kinder. Das ist schon starker Tobak.« Und doch, so die Internationalistin, könne sie hier mit ihren Fähigkeiten etwas bewirken. Sie sei trotz allem froh, vor Ort zu sein. »In Rojava findet eine Revolution statt, es ist beeindruckend, was es hier an gesellschaftlicher Veränderung gibt.« Die Menschen, die von außerhalb kommen, sollten ihr Handeln jedoch genau reflektieren, wünscht sich Jiyan. Von einer distanzierten, bewertenden Rolle, dass man nur zum Helfen da sei, solle man sich lösen. Es gelte, den Konflikt als Teil eines globalen Kampfes zu begreifen, in dem man Verantwortung übernimmt. Anarchisten, Kommunisten und weitere Linke aus aller Welt versuchen dies. Deutschen Sicherheitsbehörden zufolge sind in den vergangenen Jahren bis zu 200 deutsche Staatsangehörige zur Unterstützung nach Rojava ausgereist. Medienschätzungen gehen weltweit von etwa 1000 Freiwilligen aus, darunter wohl auch einige »Abenteurer« und »Unpolitische«. Wie viele Freiwillige momentan in Rojava sind, lässt sich kaum beantworten, aber es dürften Dutzende sein. Nicht nur militärisch engagieren sich die Internationalisten; sie sind auch in zivilen Strukturen aktiv. Ausländer arbeiten als Mediziner beim Kurdischen Roten Halbmond, beteiligen sich in der Jugendarbeit und Frauenbewegung, machen Medienarbeit. Etwa im unabhängigen, aber der Selbstverwaltung nahestehenden »Rojava Information Center«. Einige pflanzen in der Ökologiekampagne »Make Rojava Green Again« Bäume. Vorbereitung erhalten Zivilisten in der »Internationalistischen Kommune« und Kämpfer in einer speziellen Akademie. Von Ausländern getragene Militärformationen sind die Einheiten »YPG International«, das »Internationalistische Freiheitsbataillon« sowie die Gruppe »Anarchistischer Kampf«. Kaum jemand tritt mit richtigem Namen und unverhülltem Gesicht in der Öffentlichkeit auf. Denn obwohl die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten in Deutschland und der EU nicht als terroristische Vereinigungen gelten, gehen Sicherheitsbehörden mit Passentzug, Ausreiseverbot, Hausdurchsuchungen oder Risiko-Einstufungen gegen manche Rückkehrer vor. Mindestens 22 Verfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland wurden bisher eingeleitet. In anderen EU-Ländern gibt es ähnliche Repressionsmaßnahmen bis hin zu Festnahmen. Abschrecken lässt sich davon hier kaum jemand. In Tell Tamer befindet sich an diesem Abend auch Felix Anton. Der 29-Jährige kommt aus Hamburg und hatte sich früher bei Blockupy und ver.di engagiert. Nun lebt er seit anderthalb Jahren in Rojava. Laut eigener Aussage ist der Internationalist in die Frontstadt gekommen, um sich an der zivilen Verteidigung zu beteiligen. Was bedeutet: Stellungen bauen, die Bevölkerung organisieren und auf die Kämpfe vorbereiten. Vor allem informiert Anton die Außenwelt, was hier passiert. Mit dem Smartphone gegen das Vergessen. Der Kampf um Rojava ist wenige Wochen nach Beginn der Invasion aus den meisten Medien und damit dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Über Twitter berichtet der Aktivist regelmäßig vom Alltag im Krieg, wird dafür auch von türkischen Nationalisten angefeindet. Während er über solche Kommentare lachen kann, ist die Gefahr durch die Invasion real. Anton weiß, dass die Dschihadisten ihre Gefangenen ermorden. »Oder ich werde in die Türkei verschleppt und muss dort jahrelang im Gefängnis sitzen.« Er sei jedoch aus Überzeugung an diesem Ort. Was hier aufgebaut wird, habe weit über Rojava hinaus Strahlkraft. In der Region um die Grenzstadt Dêrik hat Anton die Auswirkungen der türkischen Invasion miterlebt. »In einem Dorf wurden Granaten in Richtung Schule geschossen, in einem anderen brannte ein ziviles Wohnhaus aus.« Das alles erinnert den Internationalisten an die deutsche Geschichte. »Jetzt sind wir wieder in einer Phase, wo man sich Krieg, Faschismus und Imperialismus entgegenzustellen hat«, sagt Anton überzeugt. Von der Bundesregierung erwartet der Aktivist nicht viel. In Berlin wisse man genau, dass hier auch deutsche Waffen zum Einsatz kommen und Dschihadisten Kriegsverbrechen begehen. »Am Ende sind Deutschland die Islamisten aber lieber als ein sozialistisches Projekt.« Die Auswirkungen des internationalen Machtpokers in Nordsyrien sind so real wie brutal. Ein Name, der in Tell Tamer immer wieder geflüstert wird, lautet Serêkaniyê. Die nordsyrische Grenzstadt war einer von zwei Orten, die im Zentrum der türkischen Angriffe standen. Die Invasionsarmee hatte die Zufahrtsstraßen abgeschnitten, humanitären Konvois wurde der Zugang in die Stadt lange verwehrt. Die eingeschlossenen Verteidiger waren zahlenmäßig unterlegen und konnten doch die Einnahme elf Tage hinauszögern. Videos zeigen dramatische Momente, die sich vor allem im Krankenhaus abspielten. Kämpfer hatten sich hier vor den anrückenden Dschihadisten verschanzt. Überforderte Mediziner mit Kopflampen versuchten, Verwundete zu versorgen. Nach Angaben der oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben während der Belagerung 33 Zivilisten, dazu dürften zahlreiche Kämpfer kommen. Die Selbstverwaltung vermutet, dass die Türkei weißen Phosphor gegen die Bevölkerung eingesetzt hat, ein verbotener Kampfstoff, der zu schweren Verbrennungen führt. Am 20. Oktober durften rund 30 Verwundete evakuiert werden. Was kaum bekannt ist: Auch Dutzende Internationalisten beteiligten sich an der Verteidigung von Serêkaniyê. Auf linken Internetseiten kursiert der Brief einer anonymen Aktivistin, die nach eigener Aussage während der Auseinandersetzungen in der Stadt war. »Als der Krieg bei uns ankam, war es ein entfernter Krieg, mit vielen unberechenbaren Bombardierungen, die man erst im letzten Moment hören konnte«, schreibt sie. Als die Türkei die Straße abschnitt, sei es besonders schwer geworden. »Ein Freund starb, während er auf eine Behandlung warten musste.« Die Anarchisten Baran, 27, und Evîn, 33, beide aus »Europa«, berichten, wie sie als Sanitäter versuchten, die Stadt zu erreichen. Aufgrund von Luftangriffen mussten sie sich hinter Bäumen verstecken, sagt Baran. Während sie noch über das weitere Vorgehen diskutierten, sei eine andere Ambulanz auf der Straße herangefahren. Auch dieses Team habe das Fahrzeug verlassen und sich versteckt. Doch zu spät. »Die Drohne hatte sie geortet«, sagt Evîn. »Vier Personen wurden bei dem folgenden Angriff schwer verletzt und eine Krankenschwester getötet.« Sie seien nach Tell Tamer zurückgekehrt, in die nächstgelegene Stadt. »Es war ein kompletter Albtraum«, sagt Baran. Immer mehr Verwundete seien gebracht worden. Er sei am Boden zerstört gewesen, habe aber versucht zu helfen, so gut er konnte. »In diesen Momenten hat man keine Kapazitäten, das zu verarbeiten. Man speichert die Erfahrung auf für bessere Zeiten«, sagt er. Unter den Toten von Serêkaniyê war auch der deutsche Staatsbürger Konstantin G., Kampfname Andok Cotkar. Er soll bei einem türkischen Luftangriff ums Leben gekommen sein. Der norddeutsche Landwirt hatte sich 2016 als Freiwilliger den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG angeschlossen, Mutter und Vater gab er erst während der Reise Bescheid. Diese befürchten heute, dass sie ihren Sohn vielleicht niemals begraben können. Konstantin ist nach Anton L., gefallen 2016, der zweite deutsche Internationalist, der in Rojava nicht vom IS, sondern von türkischen Truppen getötet wurde. Vom NATO-Partner Deutschlands. Im Tattoo-Laden von Tell Tamer verstummt die elektrische Nadel. Die Gruppe zieht noch ins Krankenhaus für eine kleine Feier. Keiner schlägt dabei über die Stränge, 20 Uhr sind alle in ihrer Unterkunft. Drei Tage später flammen die Kämpfe in den Dörfern um Tell Tamer wieder auf. Rauch, entfernte Detonationen, der Krieg geht weiter. Das Summen der Drohnen ist wieder in der Luft.
Sebastian Bähr, Tell Tamer
In Deutschland wird er kaum noch wahrgenommen: der Krieg der Türkei im nordsyrischen Rojava. Doch er ist nicht zu Ende. Denn hartnäckig verteidigen Menschen noch immer ihr Selbstverwaltungsprojekt.
Islamismus, Kurden, Rojava, Syrien, Türkei
Politik & Ökonomie
Politik Rojava
2019-12-18T18:03:45+0100
2019-12-18T18:03:45+0100
2023-01-21T12:40:27+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1130348.rojava-freiwillig-im-drohnenfeuer.html
AOK sichert Ministerin Hilfe zu
Potsdam. Die Krankenkasse AOK hat die Regelung begrüßt, Gesundheit und Soziales und damit die Politikfelder Gesundheit und Pflege wieder unter einem Dach zu vereinen. Frank Michalak, Vorstandsvorsitzender der AOK Nordost, sicherte der neuen Sozialministerin Diana Golze (LINKE) am Mittwoch Unterstützung zu. Es »stehen wichtige Strukturentscheidungen in der Gesundheitspolitik auf der Agenda«, sagte Michalak. »Als größte regionale Krankenkasse« werde die AOK »diesen Prozess tatkräftig begleiten«. Dabei sprach sich Michalak für neue innovative Ansätze in der Gesundheitsversorgung der Brandenburger bei einer immer älter werdenden und gleichzeitig schrumpfenden Bevölkerung aus. Erklärtes Ziel des rot-roten Koalition sei der Fortbestand aller Krankenhausstandorte, erinnerte die AOK. Um auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung in der Fläche sicherstellen zu können, müssten bestehenden Strukturen weiterentwickelt und auch neue Wege gegangen werden - vor allem in der Vernetzung von ambulanter und stationärer Medizin. Insbesondere für den stationären Bereich müssten dafür ausreichend Investitionsmittel zur Verfügung gestellt werden. Die von der Regierung eingeplanten 400 Millionen Euro über fünf Jahre seien hierfür bei Weitem nicht ausreichend. Im Vergleich zu der durchschnittlichen Fördermittelsumme der vergangenen Jahre wären dies jährlich rund 20 Millionen Euro weniger, rechnete die Krankenkasse vor. »Die reine Erhaltung von allen Krankenhausstandorten verschärft zudem die bereits jetzt schon schwierige Situation der Krankenhäuser und ist ein Risiko für die Versorgungsqualität im Lande«, so Michalak. Das Land brauche außerdem eine langfristige bedarfsorientierte Krankenhausplanung, die an der Landesgrenze zu Berlin nicht Halt mache. Der bisherige Krankenhausplan blende dies aus. Zur Ärztevergütung merkte die AOK an, dass die märkischen Haus- und Landärzte mit ihrem Einkommen im bundesweiten Vergleich »einen Spitzenplatz belegen«. Daher gelte es, »gezielt Fachärzte mit extrem vielen Patienten und Hausärzte in unterversorgten Regionen speziell zu fördern«. Michalak lobte die Absicht von Rot-Rot, dass Modellprojekt Gemeindeschwester Agnes auf das gesamte Bundesland auszudehnen. nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die größte regionale Krankenkasse AOK begrüßt die wieder erfolgte Zusammenlegung der Bereiche Gesundheit und Soziales in einem Ressort.
Brandenburg, Deutschland, Gesundheitspolitik, Landesregierung
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/951401.aok-sichert-ministerin-hilfe-zu.html
May sucht ihr Heil in Brüssel
London. Nach dem gescheiterten Aufstand ihrer eigenen Fraktion in London setzt Premierministerin Theresa May nun auf die Hilfe der Europäer: Der EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel beschäftigt sich erneut mit den britischen Austrittsplänen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die übrigen Staats- und Regierungschefs wollen dazu beitragen, dass der fertige EU-Austrittsvertrag eine Mehrheit im britischen Parlament findet und eine chaotische Trennung Ende März vermieden wird. Wie dies ohne Nachverhandlungen geschehen soll, ist allerdings offen. May sagte, sie wolle nun »rechtliche und politische Rückversicherungen« hinsichtlich der Backstop genannten Garantie für eine offene Grenze zwischen Nordirland und Irland suchen. Die Regelung im Brexit-Vertrag ist bei britischen Abgeordneten heftig umstritten. Die EU signalisiert Entgegenkommen, allerdings in sehr engen Grenzen und ohne Vertragsänderung. Am Mittwochabend musste sich May einer Misstrauensabstimmung stellen. Die Chefin der Konservativen Partei erhielt die Stimmen von 200 der 317 konservativen Abgeordneten im Unterhaus. Sie kann damit als Parteichefin und Premierministerin weitermachen. Um May zu stürzen, hätten ihr mindestens 159 Parlamentarier aus der Tory-Fraktion das Misstrauen aussprechen müssen. Kurz vor der Abstimmung hatte sie als Zugeständnis an ihre parteiinternen Kritiker einen Rücktritt vor der regulär 2022 anstehenden Parlamentswahl angekündigt. Für May ist das dennoch kaum ein Grund zum Feiern. Sie muss weiterhin ihren Brexit-Deal durchs Parlament bringen und nun damit rechnen, dass 117 Abgeordnete ihrer eigenen Partei dabei nicht mitspielen werden. Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist das ein desaströses Ergebnis. Eine »erhebliche Zahl« an Abgeordneten habe gegen sie gestimmt, erklärte May am Abend vor dem Regierungssitz 10 Downing Street in London. »Ich habe mir angehört, was sie gesagt haben.« Hinter dem Misstrauensantrag gegen May standen vor allem Brexit-Hardliner in ihrer Fraktion um den erzkonservativen Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg. Das Ergebnis sei »schrecklich«, sagte er. »Sie muss dringend zur Queen gehen und zurücktreten.« Nicht nur in ihrer eigenen Partei brodelt es. Auch die nordirische DUP, auf die Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, und die Opposition kündigten Widerstand an. Labour-Chef Jeremy Corbyn setzt auf Neuwahlen. Großbritannien will Ende März aus der Staatengemeinschaft austreten. Hauptstreitpunkt im Vereinigten Königreich ist der von der EU verlangte Backstop. Brexit-Befürworter befürchten, dass die im Austrittsvertrag vorgesehene Regelung Großbritannien auf Dauer eng an die Europäische Union bindet. Sie wollen eine Befristung. Das hat die EU abgelehnt. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die britische Premierministerin hat den Aufstand in ihrer Fraktion überstanden. Nun sucht May ihr Heil in Brüssel. Doch beim letzten EU-Gipfel 2018 ist die verzwickte Lage in London längst nicht das einzige komplizierte Thema.
Brexit, EU, Großbritannien, Tories
Politik & Ökonomie
Politik Brexit und die EU
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1107939.brexit-und-die-eu-may-sucht-ihr-heil-in-bruessel.html
Mandat der Überforderung
In Mali wohnen knapp 18,5 Millionen Menschen. Neun von zehn folgen einer muslimischen Religion oder Weltanschauung. Nicht einmal jeder zweite Bürger kann lesen und schreiben. Je fünf Ärzte kümmern sich laut Statistik um 100 000 Einwohner, Malaria, Tuberkulose und Cholera gehören zum Alltag wie Raub und die Unterdrückung von Frauen. Während die durchschnittlich 56 Jahre alt werden, sterben Männer statistisch gerechnet bereits im Alter von etwas über 53 Jahren. Die Geburtenrate ist vergleichsweise hoch, das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt bei etwas über 15 Jahren. Malis wirtschaftliche Verhältnisse sind desolat, die politischen instabil. Seit 2012 in Mali ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist, kommt das Land nicht zur Ruhe. Kurzum: Dem einstigen Kolonialgebiet Frankreichs muss - wie vielen seiner Nachbarn in Afrika - dringend geholfen werden. Die deutsche Regierung hat im September 2017 Leitlinien für ihre Afrikapolitik verabschiedet. Titel: »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern«. Der Ansatz dazu sei ressortübergreifend, heißt es. Im aktuellen Antrag der Bundesregierung für eine Verlängerung der Militäreinsätze in dem westafrikanischen Land kann man lesen, dass die Stabilisierung Malis »ein Schwerpunkt des deutschen Engagements in der Sahel-Region und ein wichtiges Ziel der Afrikapolitik« sei, denn: »Die Fragilität der Sahel-Region hat Auswirkungen über Afrika hinaus. Schwache staatliche Strukturen eröffnen Rückzugsräume für Terrorismus, begünstigen organisierte Kriminalität und Schleuseraktivitäten.« Von ressortübergreifendem Ansatz ist nicht viel zu spüren. Seit 2013 sind Bundeswehrsoldaten in Mali stationiert. Im Rahmen einer Mission der Europäischen Union bilden sie in Mali Soldaten aus: Sie »sollen befähigt werden, die Souveränität, Sicherheit und Stabilität Malis eigenständig zu gewährleisten«, sagt das deutsche Verteidigungsministerium und hat schon seit einiger Zeit verfügt, dass auch Soldaten aus Nachbarstaaten, die wie Mali zur G5-Sahel gehören, gedrillt werden. Bis zu 1100 deutsche Soldaten sind Teil der von der UNO geführten MINUSMA-Operation. Bis zu 15 000 Soldaten und Polizisten aus mehr als 50 Nationen sind an ihr beteiligt. Nicht nur hinter vorgehaltener Hand sagen Fachleute, dass die UNO und zahlreiche Truppensteller heillos überfordert sind mit einer derartigen militärischen Operation. Aktiv kämpfen gegen islamistische Terroristen soll die Bundeswehr nicht - anders als beispielsweise die tausend Fremdenlegionäre, die Frankreich aus Sorge um sein Einflussgebiet und die Uranminen im Nachbarland Niger in einer eigenen Operation namens »Barkhane« einsetzt. Insgesamt ist die Mali-Mission die wohl tödlichste, auf die sich die Vereinten Nationen bislang eingelassen haben: Fast 200 Blauhelme wurden bereits getötet, doch Mali und die Nachbarstaaten sind trotz der Opfer und des enormen militärischen Aufwandes weder sicherer noch friedlicher geworden. Laut Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung des Militärmandats ist die Situation in Zentralmali »nach wie vor fragil«. Dort sei die Situation weiter geprägt »von der Ausweitung ethnischer und sozialer Konflikte, terroristischen Angriffen und organisierter Kriminalität«. Aus Zentralmali heraus versuchten Terrorgruppierungen, »ihren Einflussbereich weiter nach Süden auszudehnen«. Tatsache ist: Mittlerweile kontrollieren Terrororganisationen wie Al Qaida oder der in Syrien und Irak geschlagene »Islamische Staat« verbunden mit anderen Islamisten wieder weite Landstriche Malis. Vor allem im wüstenhaften Norden, dort wo die Masse der UN-Truppen stationiert ist, hat die Regierung kaum noch Einfluss. Jüngst besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals die deutschen Soldaten in ihrem Lager bei Gao. Sie lobte sie und bescheinigte den Uniformierten, dass ihre Mission »schwierig« und das Arbeitsumfeld »speziell« sei. Der Einsatz, so Merkel, fordere von den Soldaten erhebliches Anpassungsvermögen und erheblichen Anpassungswillen. Und ganz nebenbei von den Steuerbürgern für das kommende Jahr »einsatzbedingte Zusatzausgaben« allein für MINUSMA in Höhe von 313,9 Millionen Euro. Zum Vergleich: Seit 2013 wurden Mali über Vorhaben der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gerade einmal 446 Millionen Euro zugesagt. Was bedeutet »schwierig«? Was meint Merkel mit »speziell«? Wie in Afghanistan, dem zweiten großen Auslandseinsatz-Staat der Bundeswehr, bürdet man Soldaten Aufgaben auf, die sie nicht erfüllen können. Nicht im militärischen Sinn. Die Bundeswehrsoldaten erfüllen ihre Führungs-, Beratungs- und Aufklärungsmissionen ohne fachlichen Tadel. Der Einsatz von Drohnen funktioniert, der Lufttransport ist inzwischen stabil. Ob die »temporär bereitgestellte Luftbetankungsfähigkeit für französische Kräfte« klappen würde, wenn..., ist nicht ganz so gewiss. Mit der Unterzeichnung eines innerstaatlichen Friedensabkommens durch die Konfliktparteien im Juni 2015 war ein erster wichtiger Schritt zur Stabilisierung des Landes getan. MINUSMA soll Waffenruhevereinbarungen, vertrauensbildende Maßnahmen und einen politischen Dialog unterstützen. Wäre sie ehrlich, hätte Merkel den Soldaten gesagt: Die Politik überfordert euch und tut selber zu wenig, um in Mali eine Aussöhnung verschiedenster politischer Interessengruppen zu ermöglichen. Doch die Kanzlerin hat beim Umgehen von Tatsachen noch immer die Mehrheit des Parlaments hinter sich, das am Donnerstag einer Verlängerung der Mali-Mission sowie der weiteren Teilnahme an der Anti-Piraten-Operation »Atalanta« vor der Küste Somalias zugestimmt hat.
René Heilig
Der Bundestag hat am Donnerstag routiniert wie immer einer Verlängerung der Mali-Bundeswehreinsätze zugestimmt - und sich so abermals Sand in die Augen gestreut.
Angela Merkel, Bundeswehr, Friedensbewegung, Mali
Politik & Ökonomie
Politik Bundeswehr in Mali
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1118414.bundeswehr-in-mali-mandat-der-ueberforderung.html
War da was?
Allein der Name des Ortes ist Erklärung genug. Sobald er fällt, läuft im Kopf der Film. Wir kennen die Bilder. Wir kennen die Botschaft. Und deren Missbrauch. Wir haben den Auftritt eines grünen Außenministers vor Augen, als er 1999 Deutschland in einen Krieg zwang – den ersten seit 1945, jenem Jahr, in welchem Auschwitz befreit wurde. Mit der Lüge, es drohe ein »neues Auschwitz« auf dem Balkan, was verhindert werden müsse, rechtfertigte Joschka Fischer die Bombardierung serbischer Städte. Der Nato-Krieg mit deutscher Beteiligung war völkerrechtswidrig und gründete auf einem in mehrfacher Hinsicht unzulässigen Vergleich. Entweder weil jene, die ihn benutzten, die Historie des Lagers nicht kannten oder weil deren Zweck bekannt war und absichtsvoll verdrängt wurde. Andernfalls hätte man nämlich keine Analogie herstellen können. Vermutlich war es Unkenntnis. Denn es hat sich das Narrativ verfestigt, Auschwitz sei ausschließlich Ausdruck des Rassenwahns der Nazis und einzig zur Vernichtung der Juden errichtet worden. Dass es so nicht war, beweist die Berliner Historikerin Susanne Willems in ihrem Buch sehr überzeugend. Natürlich, in Auschwitz wurden Hunderttausende Juden ermordet, die von den Nazis aus ganz Europa zusammengetrieben worden waren. Wer das leugnet, gehört entweder in eine Anstalt oder vor Gericht. Aber der ursächliche Zweck – und das hatte bereits der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg explizit festgestellt – bestand darin, »dauernd etwa 200 000 Menschen gefangen zu halten, um diese durch in höchstem Maße entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten«. Auschwitz war ein strukturelles Element der deutschen Kriegswirtschaft. Die Arbeitssklaven, so sie denn »in einem Zustand völliger Erschöpfung« waren, wurden »als nutzlos umgebracht«. Und diese Sklaven wurden durch neue ersetzt, die ins Lager gebracht wurden. »Es war ein genau ausgearbeitetes System, ein schreckliches laufendes Band des Todes«, konstatierten die Richter in Nürnberg.  Auschwitz war für den deutschen Staat und deutsche Konzerne eine Goldmine. Susanne Willems belegt dies. Sie hat jahrelang die Entstehung des Lagers, seine Veränderung und schließlich den laufenden Betrieb erforscht. Zunächst war die ehemalige Kaserne als »Ort der Internierung, Folter und Vernichtung polnischer politischer Gefangener« geplant. Erst im Laufe der Zeit wurde Auschwitz »zu einem Ort der Versklavung und Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener, der Sinti und Roma und einer Million Juden«. Denn: »Die SS orientierte ihre Entscheidungen über die Funktion und den Ausbau dieses Lagers«, so Willems, »nicht nur an den eigenen politischen und ökonomischen Optionen, sondern auch an den Interessen ihrer mächtigen Partner: zuerst der I.G. Farbenindustrie, dann der Wehrmacht und schließlich des Rüstungsministeriums.« Willems dokumentiert mit wissenschaftlicher Akribie die Genesis des Lagers und berücksichtigt dabei auch die allerneuesten internationalen Forschungsergebnisse. Ihr Buch enthält somit den aktuell höchsten, empirisch gesicherten Kenntnisstand über das KZ Auschwitz. Dabei geht es nicht um die Korrektur von Zahlen (auch das war nötig), sondern um die Feststellungen zur Funktion des Lagers und die Intentionen seiner Betreiber. Und diese Interessen waren in erster Linie ökonomischer Natur. Ohne zynisch zu klingen, kann man sagen: In Auschwitz war der Kapitalismus in der Verwertung des Menschen am konsequentesten. Erst stahl er ihm die Arbeitskraft, dann raubte er ihm die Würde, am Ende das Leben. Seine geringe Habe wurde vollständig verwertet: Haare, Zähne, Knochen, die Schuhe, Kleidung, Brillen, Prothesen, Kämme und Koffer, Emaillebecher … Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Die Baracken in Birkenau, in denen dies alles gesammelt wurde, hießen zynisch »Kanada«. Birkenau war für die SS das schlesische »Klondike« – jene Region in Kanada, wo Ende des 19. Jahrhunderts Gold gefunden worden war, was die größte Schatzsucherwelle in der Geschichte Amerikas auslöste. Auschwitz war für den kapitalistischen deutschen Staat und für deutsche Konzerne so etwas wie eine Goldmine. Die Wissenschaftlerin Willems formuliert es sachlicher: »Die von der SS Hand in Hand mit Interessenten aus Staat und Wirtschaft betriebene Expansion des Lagers machte Auschwitz nach der Zahl der deportierten, ermordeten, gefangenen und abermals in andere KZ transferierten Menschen zum größten der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager.« Willems polemisiert nicht, sie baut auf die Wirkung der Fakten. Begriffe wie Faschismus, Kapitalismus und Holocaust oder Pejorative kommen bei ihr nicht vor, konsequent verzichtet sie auf die Verwendung von Vornamen bei allen Nazis, was für sie augenscheinlich die höchste Form der Verachtung darstellt. Vor allem jedoch setzt sie andere Akzente, wendet sich ab von der in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden moralisierenden, emotionalisierten Bewertung, die letztlich der Verschleierung der tatsächlichen Funktion dieses Lagers dient. Europas größter Konzern, das weltweit größte Chemieunternehmen – die I.G. Farbenindustrie AG –, hatte Ende 1939, nach der Okkupation Polens, das Areal eruiert und »expandierte planvoll in das oberschlesische Industrierevier«. Ab Mitte 1940 ebnete die I.G. Farben den Weg für den durch Kriegsaufträge gedeckten, aber von kriegsbedingten Reichszuschüssen unabhängigen Werksneubau in Auschwitz. Die Reichsregierung sorgte für die schnelle Amortisation jeder Investition, indem sie 1940 das Okkupationsgebiet für zunächst zehn Jahre zum Steuerparadies für deutsche Unternehmen erklärte. Die Zahl der täglich auf den Baustellen des Werkes geschundenen Sklavenarbeiter stieg von 150 im April 1941 auf fast 10 000 im Juli 1944. Alles belegt, alles dokumentiert. Alles wahr. Und die I.G. Farben war nur ein Unternehmen. Mit Rassenwahn und Antisemitismus hatte das wenig zu tun. »Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn«, zitierte dereinst Karl Marx einen britischen Gewerkschaftsfunktionär. »Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.« Der Galgen, an dem der Lagerkommandant Rudolf Höß gehenkt wurde, steht noch auf dem Lagergelände. Andere Nazi-Verbrecher endeten in Nürnberg ebenfalls am Strang. Das Verfahren gegen 23 leitende Angestellte der I.G. Farbenindustrie AG vor einem US-amerikanischen Militärgericht schloss mit 13 Haftstrafen und zehn Freisprüchen »aufgrund fehlender Beweise«. Am 31. Oktober 2012 wurde das Unternehmen im Handelsregister gelöscht. War da was? Susanne Willems: Auschwitz. Terror – Sklavenarbeit – Völkermord. Mit Fotos von Fritz und Frank Schumann. Edition Ost, 288 S., geb., 20 €.Die Berliner Historikerin stellt ihr Buch am 30. Januar, 15 Uhr in der Hellen Panke in Berlin vor (Kopenhagener Str. 9, Prenzlauer Berg). Das Foto auf dieser Seite wie auch die Aufnahmen aus der Gedenkstätte in Auschwitz auf den folgenden Seiten sind dem Buch entnommen und stammen vom dpa-Nachwuchs- und Deutschen Menschenrechts-Filmpreisträger Fritz Schumann, Jg. 1987.
Bettina Richter
In Auschwitz wurden Hunderttausende Juden ermordet, die von den Nazis aus ganz Europa zusammengetrieben worden waren. Eine Topografie macht das Grauen von damals deutlich. Und die Intention der Mörder.
Auschwitz, Berlin, Holocaust, Juden, Nationalsozialismus, Rechtsradikalismus, Sklaverei
Feuilleton
Kultur Topografie von Auschwitz
2025-01-24T18:59:21+0100
2025-01-24T18:59:21+0100
2025-01-26T11:26:42+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188523.topografie-von-auschwitz-war-da-was.html
Massen machen Berlusconi Druck
Rom (dpa/ND). Im Mittelpunkt stand Kritik an der Beschäftigungs- und Bildungspolitik. Die Organisatoren nannten keine Zahlen über die Beteiligung. Italienische Medien sprachen sogar von Hunderttausenden. Über 2000 Busse und 13 Sonderzüge brachten die Teilnehmer in die Hauptstadt. Die von der größten italienischen Gewerkschaft CGIL organisierten Proteste standen unter dem Motto: »Die Zukunft gehört den jungen Menschen und der Arbeit«. Die Gewerkschaft fordert von der Regierung unter anderem eine Senkung der Steuern auf Löhne und Gehälter sowie mehr soziale Gerechtigkeit. Seit Anfang November steht Susanna Camusso als erste Frau an der Spitze der knapp sechs Millionen Mitglieder zählenden CGIL. »Italien hat diese Politikerklasse nicht verdient«, sagte sie auf der zentralen Kundgebung vor der Lateranbasilika. Für den angeschlagenen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi kam die Demonstration reichlich ungelegen. Der Regierungschef, der seit dem Bruch mit seinem ehemaligen Bündnispartner Gianfranco Fini keine Mehrheit mehr im Parlament hat, muss sich am 14. Dezember einem Misstrauensvotum stellen. An der Demonstration nahmen auch zahlreiche Mitglieder der linken Opposition teil. Gemeinsam mit den Gewerkschaftern ging erneut auch der Hochschulsektor auf die Barrikaden. Studenten, Wissenschaftler und Lehrer aus ganz Italien protestierten gegen drastische Kürzungen im Bildungswesen und gegen die Hochschulreform.
Redaktion nd-aktuell.de
Mehrere zehntausend Menschen sind am Sonnabend in Rom gegen die Politik der italienischen Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi auf die Straße gegangen.
Italien, Silvio Berlusconi
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/185239.massen-machen-berlusconi-druck.html
Grottenschlechtes Urteil
Sie hatten sich vor einem Jahr gegen eine Auslieferung des Antifaschisten Gabriele M. nach Budapest ausgesprochen. Ihm sollte der Prozess wegen Angriffen auf vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten gemacht werden. Worauf basierte Ihre Entscheidung? Die Entscheidung basierte auf zwei Hauptgründen: Erstens sind wir Richter und Staatsanwälte nicht in einem goldenen Käfig oder einer Glaskugel gefangen – wir wissen, was in Europa vor sich geht. Es ist bekannt, dass die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn unter der Regierung Orbán leidet. Zweitens war die Schere zwischen den Vorwürfen gegen Gabriele M. und der angedrohten Strafe einfach viel zu groß. Die Vorwürfe, die auch andere Beschuldigte betreffen, stehen in keinem Verhältnis zu den angedrohten 24 Jahren Haft, die im Europäischen Haftbefehl genannt werden. Eine Platzwunde am Kopf, die in drei Tagen heilt, rechtfertigt keine derartige Strafe. Diese beiden Gründe – Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit Ungarns und das fehlende Verhältnis zwischen Tat und Strafe – waren ausschlaggebend. Im Fall der Ende Juni 2024 ausgelieferten Maja T. hat das Berliner Kammergericht erklärt, Garantien aus Ungarn erhalten zu haben, dass die Justiz und das Gefängniswesen im Land rechtsstaatlich einwandfrei arbeiten würden. Was ließ Sie daran zweifeln? Die Entscheidung des Berliner Kammergerichts halte ich für juristisch mangelhaft. Sie ist oberflächlich und unzureichend begründet. Es wurden bloße Behauptungen aufgestellt, die genauso gut widerlegt werden könnten. Es ist eine Frechheit, ein Urteil auf diese Weise zu fällen und damit über das Leben einer Person hinwegzugehen, so als habe man sich nur eines Problems entledigen wollen – womöglich unter politischem Druck. Das Urteil ist grottenschlecht. Dem italienischen Antifaschisten Gabriele M. und zahlreichen weiteren Antifaschist*innen werden Straftaten am »Tag der Ehre« im Februar 2023 in Budapest vorgeworfen. Mehrere Neonazis wurden im Umfeld des Aufmarsches von Gruppen Vermummter verprügelt und zum Teil verletzt. Der »Tag der Ehre« ist ein Neonazi-Event, das seit 1997 in Budapest immer um den 11. Februar herum stattfindet. Neonazis aus ganz Europa verklären damit einen Ausbruchsversuch von Wehrmacht- und SS-Soldaten sowie ungarischen Kollaborateuren am 11. Februar 1945 als Heldentat. In der Schlacht um Budapest zwischen Oktober 1944 und Februar 1945 war die Stadt von der Roten Armee umzingelt worden. Das alljährliche Gedenken daran gilt als wich­tige Vernetzungsplattform der internationalen Neonazi-Szene. Aber auch die ungarische Regierung nutzt diesen Tag für geschichtsrevisionistische Politik.Im Zuge der Ermittlungen im sogenannten Budapest-Komplex stellten die ungarischen Behörden 15 Europäische Haftbefehle aus. Zuletzt wurde Ende Juni 2024 die Antifaschist*in Maja T. aus Deutschland nach Ungarn ausgeliefert. Seit Mai sitzt zudem Hanna S. in Nürnberg in U-Haft. Eine Auslieferung ist dabei nicht zwingend: Unter Leitung des damaligen stellvertretenden Generalstaatsanwalts am Oberlandesgericht Mailand, Cuno Jakob Tarfusser, lehnte die Behörde die Auslieferung von Gabriele M. ab. Was genau finden Sie daran oberflächlich? Die Begründung ist oberflächlich und unfundiert. Es fehlt an einer soliden Argumentation. Das Urteil zeigt, dass die Rechte von Maja T. nicht ernst genommen wurden. Man ist rücksichtslos über sie hinweggegangen. Wie beurteilen Sie das Vorgehen deutscher Behörden bei der Überstellung an Ungarn? Es wirkt, als habe man Maja T.s Recht auf Widerspruch gegen die Auslieferung untergraben und stattdessen Fakten schaffen wollen. Das Vorgehen der Behörden ist gravierend. Es zeigt, dass im Wettlauf zwischen Recht und Staatsmacht die Staatsmacht gewonnen hat. Das Recht wurde in den Hintergrund gedrängt. Und ich denke, dass Recht und Gerechtigkeit einen höheren Stellenwert haben sollten als die Staatsgewalt. 15 Monate war die Italienerin Ilaria Salis in ungarischer Haft. Sie hatte über unhaltbare Zustände dort berichtet. Hatte dies Ihre Entscheidung beeinflusst, Gabriele M. nicht auszuliefern? Nein, diese Informationen lagen mir zum Zeitpunkt meiner Entscheidung noch nicht vor. Als ich meinen Antrag im Fall M. dem Oberlandesgericht Mailand vorgetragen habe, wusste ich nichts von Salis. Die Entscheidung war also vollkommen unabhängig von ihrer Geschichte. Kurz nachdem ich den Europäischen Haftbefehl gelesen hatte, hatte ich eine klare Meinung dazu: M. darf nicht an die ungarischen Behörden ausgeliefert werden. Die Haftbedingungen von Salis, Maja und so weiter kamen erst später ans Licht. Cuno Jakob Tarfusser war bis vor Kurzem stell­ver­tretender General­staats­anwalt am Ober­landes­gericht Mailand und Vize­präsident des Inter­natio­nalen Straf­gerichts­­hofs. Das Gespräch mit Tarfusser fand auf der Veranstaltung »Gestörtes Ver­trauen: Die Grenzen inner­europä­ischer Rechts­hilfe« am Donners­tag an der Juris­tischen Fakul­tät der Uni­versi­tät Hamburg statt. Was wussten Sie vorher über die Haftbedingungen in Ungarn? Eigentlich nichts Konkretes. Allerdings finde ich nicht, dass Haftbedingungen das zentrale Thema sind. Gefängnisse sind grundsätzlich Orte der Gewalt, unabhängig vom Land. Es gibt bessere und schlechtere Haftbedingungen, aber gute Gefängnisse habe ich noch nie gesehen. Wenn ein Staat andere Staaten aufgrund mangelnder Haftbedingungen kritisiert, muss er selbst bessere Standards bieten. In Ungarn ist es wie in Deutschland und Italien auch, es gibt sowohl bessere als auch schlechtere Haftanstalten, aber gute Gefängnisse gibt es einfach nicht und ich habe viele Gefängnisse gesehen. Wie bewerten Sie die Tatsache, dass Deutschland seine Staatsbürger an Ungarn ausliefert, obwohl Zweifel an der dortigen Rechtsstaatlichkeit bestehen? In einem idealen System des Europäischen Haftbefehls wäre das unproblematisch. Es wäre eine normale Praxis innerhalb eines gemeinsamen Rechtssystems. Allerdings funktioniert dieses System nur, wenn sich alle Beteiligten an die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit halten. Genau das bezweifle ich im Fall Ungarns.
Interview: Jan Theurich
Gabriele M. werden Straftaten am »Tag der Ehre« im Februar 2023 in Budapest vorgeworfen. Unter Leitung des damaligen stellvertretenden Generalstaatsanwalts von Mailand lehnte die Behörde die Auslieferung ab.
Kriminalität, Sigmar Gabriel, Ungarn
Politik & Ökonomie
Politik Antifaschismus
2025-01-10T16:28:21+0100
2025-01-10T16:28:21+0100
2025-01-10T17:37:54+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188143.antifaschismus-grottenschlechtes-urteil.html
Der Labormaus-Retter
Eines Abends gehe ich noch mal in mein Hongkonger Labor. Es raschelt in der Ecke. Ich schaue genauer hin: Meine chinesischen Labormäuse haben in ihrem Käfig ein Bild aufgehängt. Das Porträt eines unrasierten Mannes mit wuscheligem Haar und breitem Grinsen: Das ist doch Prof. Stefan Dübel, der kürzlich bei uns einen Vortrag gehalten hat! Treue Biolumne-Leser kennen ihn bereits. Er ist derzeit Leiter der Biotechnologie an der TU Braunschweig. Wieso diese Mäuse-Verehrung für Stefan – und nicht für mich?! Nun, die Forschungen von Dübel versprechen, unzähligen Labormäusen das Leben zu retten! Beim Besuch in Hongkong erzählte er mir: »Seit ich Student war, habe ich versucht, auf Tierversuche zu verzichten – aber in der biomedizinischen Forschung ist das nicht leicht. In einem Kurs während des Studiums zeigte man uns die Herstellung von Ascites. Da wurden den Mäusen Antikörper produzierende Hybridom-(=Krebs)-Zellen in die Bauchhöhle gespritzt, damals das Standardverfahren zur Produktion großer Mengen monoklonaler Antikörper. Die Mäuse entwickeln danach stark aufgeblähte Bäuche voller Tumormasse. Zum Glück ist das jetzt in den meisten Ländern verboten. Trotzdem impft man noch immer unzählige Mäuse, um später ihre Milz zu gewinnen – zur Herstellung monoklonaler Antikörper. Dabei ist das gar nicht nötig!« Bis zu 100 000 Tiere werden pro Jahr weltweit für die Erzeugung von Antikörpern geopfert. Das Antikörper-Phagen-Display, an dessen Entwicklung Dübel und sein Heidelberger Kollege Frank Breitling maßgeblichen Anteil hatten, kommt ohne Tiere aus. In einem kürzlichen Wettbewerb um die effektivste Herstellung von Forschungsantikörpern zeigte sich das deutlich: Von den fünf erfolgreichen Labors, die Antikörper gegen die 20 vorgegebenen Antigene erzeugen konnten, arbeiteten bereits vier mit Phagendisplay! Kurze Wiederholung: Erbsubstanz-Stücke für sehr viele unterschiedliche Antikörper werden in bakterienbefallende Viren (Phagen) gepackt. Die Phagen produzieren dann jeweils einen Antikörper auf ihrer Oberfläche, jeder bindet an ein anderes Eiweiß (Antigen). Man kann nun die Erbsubstanz für den »richtigen« Antikörper herausfischen, da er am Antigen hängenbleibt. Die gefundene Antikörper-Erbsubstanz schleust man in kultivierte Zellen ein. Diese produzieren die Antikörper in Riesenmengen ... ganz unblutig. Kein einziges Tier muss geopfert werden. Die meisten Kollegen verwendeten dieses Phagendisplay schon länger zur finanziell lukrativen Herstellung von therapeutischen menschlichen Antikörpern. Dübel startete bereits 2003 ein Projekt zur Herstellung von Forschungsantikörpern mit dieser Methode. Heute benutzen sogar die US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) das Verfahren für ihr Großprogramm zur Herstellung von Antikörpern für sämtliche 30 000 menschlichen Proteine. Bei der klassischen Methode würde dieses NIH-Projekt über 100 000 Mäuse das Leben kosten. Prof. Dübel verwies in seinem Vortrag in Hongkong auf einen weiteren Vorzug: »Die Technologie ist heute sogar schneller und preiswerter als die Maus-basierte Antikörperherstellung.« Zurück ins Labor! Bei den Mäusen knallen die Sektkorken mit dem typisch chinesischen Trinkspruch: »Prof. Dübel, er lebe 100 Jahre und mehr!« Doch das war wohl nur ein seltsamer Traum. Die Phagendisplay-Technik aber ist Realität ...
Reinhard Renneberg, Hongkong
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Kein Frieden ohne Gerechtigkeit
Nur der Hartnäckigkeit einer zunächst kleinen ehrenamtlichen Initiative von Freunden Oury Jallohs ist es zu verdanken, dass der Asylbewerber aus Sierra Leone heute nicht zu den zahlreichen vergessenen Opfern von Polizeigewalt gehört. Vor fast 15 Jahren, am 7. Januar 2005, verbrannte der 36-Jährige in einer Polizeizelle in Dessau (Sachsen-Anhalt). Nach langem vergeblichem Kampf um eine juristische Aufarbeitung des Falles hatte das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg vor einer Woche einen bereits im Januar eingereichten Antrag von Jallohs Bruder Saliou Diallo auf Erzwingung eines neuen Ermittlungs- und Klageverfahrens als unzulässig abgewiesen. Dabei hatte ein Gutachten von der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« engagierter Experten gezeigt, dass das Opfer vor seinem Tod misshandelt wurde und, als das Feuer in seiner Zelle ausbrach, bewusstlos gewesen sein muss, ja, möglicherweise bereits tot war. Am Montag kritisierten Vertreter der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh«, Saliou Diallo und einer internationalen unabhängigen Kommission, die den Fall untersucht, den OLG-Gerichtsbeschluss scharf. Nebenklageanwältin Gabriele Heinecke sagte im Gespräch mit »nd«, das OLG-Schreiben biete viele »Angriffspunkte«. Die darin enthaltenen Argumente seien »von A bis Z unzutreffend« und seit langem durch die Akten im Fall »widerlegt«. Lesen sie auch: Sachsen-Anhalts LINKE fordert neue Ermittlungen. Generalbundesanwalt soll Fall Oury Jalloh übernehmen Aus Mangel an Argumenten greife das OLG zudem auf Mutmaßungen zurück, unter anderem zu nirgends registrierten Asservaten wie der Möglichkeit der Existenz eines zweiten Feuerzeugs zurück. Ein solches, schreibt das Gericht, könnte Jalloh verwendet haben, um die feuerfeste Matratze, an die er, auf dem Rücken liegend, an Händen und Füßen gefesselt war, in Brand zu stecken. Schon das eine Feuerzeug, das der Justiz bislang als Indiz für die These vom Selbstmord dient, war unmittelbar nach dem Tod Jallohs nicht in der Zelle und tauchte erst später auf. Am Montag stellte Vanessa E. Thompson von der »Internationalen Unabhängigen Kommission zum Tod von Oury Jalloh« neue Erkenntnisse vor, die ein Team um den Radiologen Boris Bodelle von der Goethe-Universität Frankfurt am Main durch Auswertung der Bilddateien einer Computertomographie des Leichnams Jallohs gewonnen hat, die zweieinhalb Monate nach dessen Tod angefertigt worden war. Bodelles Gutachten war dem OLG kurz vor dessen Entscheidung vorgelegt worden. Das Naumburger Gericht erklärte dazu nun, es handle sich nicht um neue Beweise, da die Analyse auf der Basis vorliegender Daten erfolgt sei. Daher sei der Antrag unzulässig. Der Analyse von Professor Bodelle zufolge wies der Körper des Toten neben einem bereits bekannten Bruch des Nasenbeins weitere Verletzungen wie einen Bruch des vorderen Schädeldaches und eine gebrochene Rippe auf. All diese Frakturen, betonte Thompson, seien Jalloh zu Lebzeiten, höchstwahrscheinlich durch »äußere Gewalteinwirkung«, zugefügt worden, dies hätten Entzündungen des umliegenden Gewebes belegt. Eine Selbstverletzung oder ein Sturz sei unwahrscheinlich. Der Zeitpunkt der Entstehung der Frakturen sei »eindeutig eingrenzbar« auf wenige Stunden vor dem Tod Jallohs. Dies widerspreche der von der Justiz vertretenen These, sein Körper sei beim Transport post mortem »beschädigt« worden. Die Schwere der Verletzungen, so Thompson, spreche zudem dafür, dass Jalloh stark aus der Nase geblutet haben müsse, dass er also, in der Zelle auf dem Rücken liegend, auch an eingeatmetem Blut erstickt sein könnte. Sein Zustand hätte, so die Einschätzung der Kommission, eine sofortige medizinische Behandlung erfordert. Im Fall Jalloh war es vorm Landgericht Dessau-Roßlau und vorm Landgericht Magdeburg zu Prozessen gekommen. Im ersten waren im Dezember 2008 zwei Polizisten aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden, im zweiten war der Dienstgruppenleiter des Dessauer Reviers, Andreas S., zu einer Geldstrafe von 10 800 Euro wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung verurteilt worden. Das Gericht hatte es als erwiesen angesehen, dass er Alarmsignale aus der Zelle mehrfach ignoriert hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte zuletzt im Herbst 2017 erklärt, es lasse sich nicht belegen, dass Polizisten oder andere Personen Jalloh angezündet hätten. Dabei hatte der Dessauer Leitende Oberstaatsanwalt Folker Bittmann sich im April 2017 gegenüber dem Generalstaatsanwalt für neue Ermittlungen und die Einschaltung des Generalbundesanwalts ausgesprochen. Zuvor hatte er einen weiteren Brandversuch veranlasst. Die Fachleute, die ihn durchgeführt hatten, waren ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass Jalloh vor Ausbruch des Feuers bewusstlos gewesen sein und Brandbeschleuniger eingesetzt worden sein muss. Bittmann formulierte damals einen konkreten Mordverdacht gegen zwei Polizisten. Ein Motiv könne unter anderem die Vertuschung einer vorhergehenden Straftat, also schwerer Misshandlung des Asylbewerbers, gewesen sein. Die Generalbundesanwaltschaft lehnte die Übernahme weiterer Ermittlungen jedoch ab, und die Generalstaatsanwaltschaft entzog Bittmann das Verfahren im Juni 2017. Im Herbst desselben Jahres beschloss die Behörde die endgültige Einstellung der Ermittlungen. Im Naumburger OLG-Beschluss heißt es am Ende, Rassismus von verdächtigten Beamten stelle kein wahrscheinliches Tatmotiv dar. Diese Einschätzung, so Anwältin Heinecke, sei Jahre nach der Selbstenttarnung des rechtsterroristischen NSU ein Zeichen für Realitätsverweigerung: »Wer zu einer solchen Einschätzung kommt, lebt offenbar auf einem anderen Stern.« Heinecke hält es angesichts der Widersprüche in der OLG-Entscheidung für nötig, aber für äußerst schwierig, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde dagegen einzulegen. Dafür hätten die Anwältinnen der Nebenklage lediglich einen Monat Zeit, zugleich seien die formalen Anforderungen an eine Verfassungsbeschwerde sehr hoch. Gefordert sei eigentlich die Staatsanwaltschaft. Die aber habe über die Jahre meist eher gegen die Nebenklage gearbeitet, statt zur Aufklärung des Falles beizutragen. Unterdessen diskutierten am Wochenende in Berlin Vertreter von Initiativen gegen rassistische Polizeigewalt aus ganz Europa Strategien, um Aufklärung durchzusetzen. Angehörige von Opfern aus Großbritannien, Frankreich und Österreich schilderten am Montag ihre Erfahrungen mit der Polizei. Sie wollen sich stärker vernetzen, um unabhängige Untersuchungen von Todesfällen finanzieren zu können. Denn, so Fahima Laidoudi aus Frankreich: »Dem Staat können wir nicht vertrauen.« Laidoudi und andere Angehörige von Menschen, die durch Polizeischüsse oder unter ungeklärten Umständen im Gewahrsam starben, wiesen darauf hin, dass der Umgang staatlicher Stellen überall ähnlich sei. Marcia Rigg vom britischen »Friends and Families Fund« und Schwester eines 2008 auf einer Polizeistation in Brixton Verstorbenen, wies darauf hin, dass es bei 1700 Fällen von tödlicher Polizeigewalt in Großbritannien bislang in keinem einzigen zu einer Verurteilung gekommen sei. Aufklärung sei aber unabdingbar, betonte ein Gewerkschafter aus Italien, denn: »Ohne Gerechtigkeit werden die Familien der Opfer nie Frieden finden.«
Jana Frielinghaus
Nebenklageanwältin Gabriele Heinecke weist auf Widersprüche im jüngsten Gerichtsbeschluss zum Fall des in einer Polizeizelle verbrannten Flüchtlings hin. Experten beklagen Versäumnisse der Justiz.
Flüchtlinge, Oury Jalloh, Polizei, Polizeigewalt, Rassismus
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Wer bin ich?!
Herr Žižek, muss Wolfgang Fritz Haug sein »Historisch-Kritisches Wörterbuch« noch einmal aufmachen, um ihren philosophischen Leitbegriff der Disparitäten aufzunehmen? Ich kenne Wolfgang Fritz Haug. Sein »Historisch-Kritisches Wörterbuch« ist ein großes, ehrgeiziges Projekt. Aber ich würde ihn nicht nötigen wollen, mir einen Eintrag zu gewähren. Länger als eine akademische Vorlesung dauerte das Interview, das Slavoj Žižek der Zeitung »neues deutschland« gewährte. Der 1949 im jugoslawischen Ljubljana geborene Philosoph stellte auf der Leipziger Literaturmesse sein neues Buch »Disparitäten« (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 504 S., geb., 44 €) vor. Mit dem Slowenen, der in London und Ljubljana Philosophie lehrt und Mitglied der Bewegung Demokratie in Europa 2025 (DiEM25) ist, sprach Karlen Vesper. Von Ungleichheit spricht schon Hegel im Vorwort seiner »Phänomenologie des Geistes« - dreimal. Ich nutze den Begriff, um die Inkongruenz unserer Wirklichkeit zu beleuchten, gleichzeitige Ungleichheiten. Disparität zielt auf ein Ganzes, dessen Glieder nicht zusammenpassen, ein künstlich Zusammengesetztes, dessen organische Einheit zerstört ist. Es gibt kein gesellschaftliche »Wir«, wie in Sonntagsreden von Politikern oft zu hören ist und von Populisten vorgegaukelt wird. Wir leben in einer total verrückten Situation. Einerseits ist klar, dass der Kapitalismus an seine Grenzen gestoßen ist, das gestehen sogar die Bosse der großen Kooperationen wie Facebook und Apple, Mark Zuckerberg und Bill Gates. Selbst Francis Fukuyama, der 1992 das »Ende der Geschichte« verkündete, ist kein Fukuyamist mehr. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, kann nicht überleben. Auf der anderen Seite müssen wir registrieren, dass die Linke keine Alternative anzubieten hat. Haben Sie eine anzubieten? Nein. Es ist aber unsere Aufgabe, Aufgabe der Marxisten, eine Alternative zu entwickeln. Wir müssen unsere Arbeit besser machen als alle Gates und Zuckerbergs dieser Welt. Nur so hat der Kommunismus eine Chance. Sie glauben noch an den Kommunismus. Sie sind überzeugt, dass er machbar ist? Ja, absolut. Nicht Sozialismus, sondern Kommunismus. Das sozialdemokratische Projekt ist gescheitert. Die ganze politische Szenerie wechselt. Wir haben nicht mehr einerseits die moderate Linke und andererseits die moderate Rechte. Wir haben ein neoliberales Zentrum, das prokapitalistisch ist, und um das Populismen kreisen. Der Populismus übernimmt stets dort das Feld, wo die wahre Linke fehlt, versagt, gescheitert ist. Das zeigt sich sehr deutlich in der Stimmungsmache gegen Immigranten. Oder in Trumps Politik. Er praktiziert einen »Sozialismus« für die Reichen. Und doch glauben viele einfache US-Amerikaner, dieser Präsident würde endlich mal etwas für sie tun. Das ist die Paradoxie der Gegenwart. Der rechte Populismus, ebenso in Deutschland, Frankreich und anderswo, gebärdet sich als Vorkämpfer für soziale Wohlfahrt, was früher das Privileg der Linken war. Man muss nach dem fundamentalen Unterschied fragen. Martin Schulz mag eine sympathische Person sein, aber das ist nicht genug. Und mit welch hehren Ansprüchen ist SYRIZA in Griechenland angetreten? Heute ist sie Vertreterin der Austeritätspolitik, weil das Establishment ihr gnädig erlaubte, in Regierungsmacht zu bleiben. Der Sozialismus ist für Sie perdu? Er vermag ebenso wenig wie der Kapitalismus die großen Probleme der Zeit, die ökonomischen, ökologischen, intellektuellen, zu bewältigen. Zum Beispiel das derzeitige Topthema: Die Immigranten werden als ein kommunales oder regionales Problem betrachtet, statt den globalen Ursachen auf den Grund zu gehen. Was geschieht warum in Jemen, in Syrien und anderswo? Anstatt diese Probleme zu diskutieren und zu lösen, wird ein künstlicher Konflikt konstruiert: »Die Migranten stehlen uns die Arbeitsplätze, bedrohen unsere Existenz.« Die Medien kolportieren diesen Quatsch auch noch. Das ist stupid und gefährlich. Die Herrschenden, die an der globalen Misere schuld sind, gebärden sich dann auch noch als Streiter gegen Rassismus und Unmenschlichkeit. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, heißt es bei Marx. Jene Menschen, die den Rechtspopulisten hinterherrennen, knabbern mehrheitlich nicht am Existenzminimum. Woher kommt dieses falsche Bewusstsein? Wenn man Marx genau liest, und das sollte man, stößt man auf den Begriff des falschen Bewusstsein als Teil der ökonomischen Basis. Marx nutzt den Begriff als eine herrschaftskritische Kategorie. Aus dem Klassencharakter der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt sich, dass die Gedanken jener Klasse, die Eigentümer der Produktionsmittel ist, auch die herrschenden Gedanken sind. Manche Vertreter der Frankfurter Schule haben nur zwei, drei Kapitel von Marxens erstem Band des »Kapitals« gelesen, nicht die Bände 2 und 3, die extrem wichtig sind zum Verständnis der aktuellen Krisen. Man hört oft, wir würden in einem postideologisches Zeitalter leben? Das ist Quatsch. Ideologie ist Teil unseres gesellschaftlichen Seins. Die Deutschen haben damit aber offenbar ein besonderes Problem. Ich bemühe hier gern einen derben Vergleich: Im Gegensatz zu den französischen und amerikanischen Toiletten, wo die Scheiße sofort im Loch verschwindet, wird sie in deutschen Kloschüsseln aufgefangen. Die Deutschen können sich von ihrer Scheiße nicht so leicht trennen. Man konnte das auch sehr gut nach der Wende in der DDR studieren - das heißt: wie Ideologie funktioniert. Die Ostdeutschen übernahmen ohne große Diskussionen das westdeutsche Modell. Es gab einige Utopisten, die meinten, dass der Zerfall der DDR die Chance für einen neuen Sozialismus biete. Sie waren weniger ideologisch als jene, die apologetisch das westliche System priesen und kritiklos annahmen. Die Utopier sahen klar, der Kapitalismus bringt neue Probleme, ist nicht die finale Lösung. In Zeiten des sogenannten Endes der Ideologien präsentiert sich Ideologie gern als Anti-Ideologie: Wir akzeptieren nur Fakten, kümmern uns nicht um Ideen. Aber wie man Fakten oder angebliche Fakten serviert und akzeptiert, ist Ideologie. Die Herrschenden brauchen die progressiven Kräfte nicht direkt zu unterdrücken. Einfacher ist es, Hoffnung zu töten. Die herrschende Ideologie konfirmiert, adaptiert Ideen. Es wird nicht plump behauptet, der Kapitalismus sei das beste System. Nein, man räumt ein, dass er Shit ist. Aber man suggeriert: Es gibt keine Alternative, jede Alternative wäre schlimmer, bringt Gulag und so weiter. Man lässt keine Perspektive denken. Und da müssen wir ansetzen. Zurück zur Kritik der politischen Ökonomie. Der Kapitalismus hat eine 500-jährige Geschichte hinter sich, der »reale« Sozialismus existierte nicht einmal ein Jahrhundert. So ist es. Uns Marxisten mangelt es noch an einer exakten Analyse, warum der Sozialismus unterging. Ich habe gute Freunde, die in der DDR Wunderkinder der Computerisierung waren, Programme entwickelten. Sie erläuterten mir die Tragödie der DDR. Ulbricht war eigentlich begeistert, besessen … ... von der Kybernetik, für die sich nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Arbeiter, LPG-Bauer, Kindergärtnerinnen interessieren sollten und die auch im FDJ- und Parteilehrjahr Pflichtlektüre war. Es funktionierte nicht. Kybernetik war ein neues Produktionsmittel und die gesellschaftlichen Verhältnisse waren nicht fähig, es zu adaptieren. Auch die marxistischen Erklärungsdissidenten - »Bla, bla, bla ...« - hatten zur neuen Stufe der Produktionsverhältnisse nichts zu sagen. Die Digitalisierung von Sozialismus und Kommunismus konnten sie nicht denken. Sie denken gern an die DDR zurück? Ich bin kein DDR-Nostalgiker. Aber ja, ich mag beispielsweise den Film »Die Legende von Paul und Paula«. Während er in einer Versammlung sitzt, sinniert sie in einer Cafeteria: »Fuck, wer ist dieser Mann, den ich gern bumsen möchte?« Sie ist überhaupt nicht puritanisch, entspricht ganz und gar nicht dem Frauenbild, das man heute wieder propagiert. In »Paul und Paula« begehren sich Mann und Frau. Wunderbar. Die DDR war nicht prüde, bigott. Der Umgang mit Homosexualität war liberal. Johannes R. Becher war gay. Hätte man Homosexualität verfolgt, wären viele talentierte Menschen nicht in führenden Positionen gewesen. Die Homosexuellen in der DDR waren deshalb keine Dissidenten. Auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich bestreite vehement, dass das Leben in der DDR grau und düster war. Es gab ein wahres, authentische Leben. Konrad Wolf hat in »Solo Sunny« ein exzellentes Porträt des Alltags in der DDR geschaffen. Der Film war nicht antikommunistisch, aber extrem kritisch. Ebenso die Literatur. Ich werde Sie jetzt gewiss schocken, weil Sie das von mir vielleicht nicht erwarten: Für mich ist nicht so sehr Christa Wolf die herausragende Literatin der DDR, obwohl ich große Sympathien für sie hege. Es war unfair, wie man sie als Kollaborateurin denunzierte, weil sie als junge Frau einige Monate für die Stasi berichtete. Was sie berichtete, war für den Geheimdienst total nutzlos, Man ließ sie gehen. Ihre Karriere war aber ruiniert. Sie erhielt nicht den Literaturnobelpreis, der ihr zugestanden hätte. Dennoch ist für mich Heiner Müller wesentlich spannender. Und Brigitte Reimann - oh mein Gott, oh mein Gott, was für eine großartige Frau!!! Ich las ihre Tagebücher, die ehrlichste Nahaufnahme der DDR-Wirklichkeit. Und »Franziska Linkerhand« ist das größte unvollendete dramatische Werk, das ich kenne. Die Schriftsteller der DDR wollten nicht umstürzlerisch wirken, sondern etwas zum Positiven wenden. Ihnen war es nicht erlaubt, gesellschaftliche Probleme direkt anzusprechen. Sie umgingen das Verbot, indem sie - und auch das mag ich an der DDR - antike Texte wiederbelebten, um ihre eigene gesellschaftliche Realität zu reflektieren. Beispielsweise Christa Wolf mit »Kassandra« und »Medeas Stimmen«. In der Maskierung wurde die Gegenwart demaskiert. Und nebenbei erfuhr die antike Literatur eine Renaissance. Interessant ist für mich auch, was in der DDR von den Werken der Weltliteratur erlaubt war und was nicht. Unglücklicherweise war Franz Kafka verboten, den Bert Brecht als einzigen marxistischen Romancier adelte. Was die Klassik betrifft, befremdete mich, dass Heinrich von Kleist erlaubt war, an dessen Arminius- und Germania-Huldigung nationalistische und chauvinistische Kreise in Deutschland anknüpften. Schiller wurde gehuldigt, ungeachtet dessen, dass sein »Lied von der Glocke« faschistoid ist. Besungen wird die patriarchalische Familie mit dem arbeitsamen Mann und der züchtigen, braven, treuen und umsichtigen Gattin, Hausfrau und Mutter. Die Französische Revolution von 1789 erscheint als eine Horror verbreitende Frau, eine hysterische Hyäne. Tatsächlich haben die Frauen der Französischen Revolution wie Olympe de Gouges auch für sich Rechte eingefordert - und wurden guillotiniert. Von den Revolutionären. Weil sie sich in »Männerangelegenheiten« einmischten. Revolutionäre können auch borniert sein. Übrigens, die kluge deutsche Jakobinerin Caroline von Schlegel teilte ihrer Tochter 1799 in einem Brief mit: »Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.« Die Feminisierung revolutionären Furors kann man auch bei der Oktoberrevolution beobachten. In Memoiren weißgardistischer Offiziere stößt man immer wieder auf das Bild einer grausam-wütenden Rotgardistin oder Polit-Kommissarin. Das waren emanzipierte Frauen. Die brauchten keine MeToo-Debatte. Was haben Sie gegen MeToo? Das Problem von MeToo ist, dass diese Bewegung legalistisch und scheinheilig ist. Die MeToo-Debatte tangiert nur Movie-Stars. Und Porno-Stars. Donald Trump hat ein neues Problem. Er hat viele Probleme. Vor allem dass er sein eigener Witz ist, den Karikaturisten und Komiker nicht toppen können. Zu MeToo: Nicht beachtet werden die Hunderttausenden einfachen Frauen, die täglich terrorisiert werden von ihren Ehemännern, Vätern, Brüdern. Die Debatte, so befürchte ich, schränkt sexuelle Freiheit ein. Jede Frau, jeder Mann, der für einen One-Night-Stand eine Bar aufsucht, macht sich verdächtig. Frauen können nicht mehr enthusiastisch sagen: »Ich will jetzt Sex haben.« Das ist doch verrückt. Kein Mann traut sich mehr, eine Frau, die er begehrt, anzusprechen. Er muss brav warten, bis diese ihn selbst auffordert. Das geschieht in der Regel nicht. Wir brauchen keine neuen Gesetze, sondern eine neue Ethik, oder wie Hegel es nannte: Sitten. Wir fanden in der DDR die Praxisphilosophie sehr spannend, deren »Akropolis« die kroatische Insel Korčula war. Ist sie mit den damaligen Protagonisten gestorben? Sie hatte auch keine richtige Alternative anzubieten. Ihr »humaner Sozialismus« oder »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« war zu wenig. Sie gibt es nicht mehr. Sie war außerdem, wie ich es nenne, eine offizielle Opposition, wurde von Staat und Partei toleriert, da sie nicht gefährlich war, für den ideologischen Apparat sogar nützlich. In den sozialistischen Staaten war es Privatsache, was man glaubte. Als entscheidend wurde angesehen, was man in der sozialen Praxis tat und sagte. In Jugoslawien war es im letzten Jahrzehnt vor dem Fall des Eisernen Vorhangs sogar eine Bedingung, die offizielle Ideologie nicht ganz ernst zu nehmen, vielmehr eine gewisse Distanz zu zeigen, um in die Nomenklatura aufgenommen zu werden. Welch wunderbare Ironie. Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, man sollte Heidegger nicht kriminalisieren. War nicht seine Antrittsrede als Rektor der Freiburger Universität vor 80 Jahren, im April 1933, seine Anbiederung an die Nazis kriminell? Nicht kriminalisieren heißt nicht, dass man nicht kritisieren darf. Martin Heidegger ist zweifellos eine sehr umstrittene, diskussionswürdige Person. Als 2014 die ersten Bände seiner »Schwarzen Hefte« erschienen, flammte die Debatte um ihn neu auf. Sein Antisemitismus wurde bestätigt. Ganz schlimm: 1942 bezeichnet er die Auslöschung der europäischen Juden als Akt jüdischer Selbstvernichtung, die Juden selbst seien die treibende Kraft zu ihrer Eliminierung. Zugleich konnte man den »Schwarzen Heften« entnehmen, dass er zunehmend Zweifel in Bezug auf Hitler und das NS-Regime hegte, aber nicht wegen deren Tun, deren Verbrechen, sondern ihres Nihilismus gleich dem in der westlichen Welt. Heideggers Gedankengebäude ist unentscheidbar, lässt unterschiedliche politische Lesarten zu. Ich bin aber dagegen, ihn aus dem akademischen Kanon zu verbannen. Man sollte stattdessen fragen, wie es dazu kam, dass ein klassischer Philosoph sich für die Nazis engagieren konnte. Da sind Sie auch überkreuz mit Jürgen Habermas. Ja. Die »Dialektik der Aufklärung«, für die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer stehen, geht davon aus, dass es sich beim faschistischen Terror, beim Holocaust nicht um Relikte einer barbarischen Vergangenheit handelte, sondern um Phänomene eines dem Projekt Aufklärung immanenten Antagonismus. Das leugnen die Habermasianer; für sie ist das Projekt Aufklärung lediglich noch nicht vollendet. Sie erkennen nicht, dass auch die Aufklärung ein zerstörerisches Potenzial in sich birgt. Sie akzeptieren nicht die Spannungen in der Moderne. Ich habe aber noch ein anderes Problem mit der Frankfurter Schule. Sie haben viele Probleme mit dieser »Schule«. Nein, Adorno schätze ich sehr. Und Herbert Marcuse nicht? Auch, aber er wusste nicht so recht, wie mit dem Stalinismus umzugehen ist. Wir Marxisten - und das ist für Ihre Leser wichtig - müssen uns mit dem Stalinismus ernsthaft beschäftigen, dürfen das Thema nicht den anderen überlassen, den Liberalen und den Antikommunisten. Aber zurück zu Habermas. Wenn Sie alle seine Werke lesen, Sie würden nicht auf die Idee kommen, dass es einmal zwei Deutschlands gegeben hat. Er erwähnt die deutsche Zweistaatlichkeit überhaupt nicht. Er drückt sich vor einer Diskussion, die heute mit der Revitalisierung der Totalitarismustheorie wieder ganz wichtig ist. Was war der Faschismus? Was der Stalinismus? Was bedeutet Kommunismus? Ein Zeichen für den ideologischen Rückwärtstrend ist, dass man von Extremismen spricht, rechter wie linker - das sei einerlei. Faschismus und Kommunismus das Gleiche. Der Kommunismus erschien vor dem Faschismus, habe diesen animiert. Mussolini war Sozialist, Hitler Nationalsozialist. Und eigentlich habe der Faschismus nur ein größeres Übel, den Kommunismus, zu verhindern versucht. Was für krude, abstruse Gedanken! Linke haben sich schon auf vielfältigste Weise mit dem Stalinismus befasst. Nicht genug. Unzureichend. Die Linken sind der herrschenden Ideologie noch nicht gewappnet. »Das Leben der Anderen« haben Millionen gesehen, er bekam einen Oscar. Der Film gilt als antikommunistisch, ist aber nur naiv. Ein Stasi-Minister ordnet die Observation eines Schriftstellers an, dessen Frau er bumsen möchte. Was für eine einfältige Sicht. Ein Übel muss eine unanständige Ursache im privaten Bereich haben, und das ist immer Sex oder Geldgier. Das war aber nicht das Problem der DDR. Im Gegenteil, jeder konnte, wann auch immer, Sex haben. Die Frauen wählten sich ihre Partner selbstbestimmt. Dieser Film ist nicht ernst zu nehmen. Anders verhält es sich mit »Good Bye, Lenin!«, zugegeben, auch naiv, aber wahrhaftiger. Die These dieses Films ist nämlich: Die einzige Möglichkeit, ein ehrlicher Kommunist zu bleiben, ist es, verrückt zu werden. (lacht) Kennen Sie den Film »Der Zug«? Nein, habe ich nicht gesehen. Ein Koproduktion aus dem Jahr 1988. Ben Kingsley, der schon den Gandhi mimte, spielt Lenin, Leslie Caron dessen Frau Nadeschda Krupskaja und Dominique Sander die Geliebte, die Französin Inès Armand. Es geht um die Rückkehr aus dem Schweizer Exil nach Russland 1917. Ein überraschend pro-leninistischer, exzellenter Film. Aber ich habe noch nicht »Der junge Marx« gesehen? Ist er gut? Ja, fantastisch. Wir haben ihn in unserem »nd«-Shop vorrätig, ich kann Ihnen eine DVD schicken. Danke, sehr nett. Ich muss ihn nur downloaden. Was halblegal ist. Ich bin vor allem auf die kluge, streitlustige Mary Burns neugierig, die Geliebte von Friedrich Engels. Sie kritteln auch ein wenig wider Antonio Negri und Michael Hardt, deren »Multitude«, Vision einer Demokratisierung der Weltgemeinschaft von unten, mir sympathisch erscheint. Ich stimme zu, sie ist sympathisch. Aber ich glaube nicht, dass basisdemokratische Selbstorganisation, lokale Initiativen und Bewegungen, die heutigen immensen globalen Probleme lösen können, wie Biogenetik, Roboterisierung und so weiter. Brauchen wir eine neue Kommunistische Internationale? Absolut. Nichts kann mehr im heroischen Alleingang geschafft werden, es muss europaweit, weltweit angegangen werden. Oder es passiert nichts. Würden Sie eine solche neue Internationale gründen, den Gründungskongress vielleicht in Ljubljana einberufen? Wer bin ich?! Nein, ich fürchte, es würde kaum jemand kommen. In Slowenien sollen die antikommunistischen Bürgerwehren, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten, die Partisanen bekämpften, rehabilitiert werden. Ljubljana wäre somit als Gründungsort ausgeschlossen. Auch in Großbritannien und in den USA bin ich praktisch verboten, von den Rechten und einem Teil der Neuen Linken. Einzig in Deutschland habe ich einen guten Stand. Werden heute lebende Generationen den Kommunismus noch erleben? Es ist einfach, ein Optimist zu sein. Anfang 1917 hielt Lenin in der Schweiz vor Genossen eine Rede, in welcher er ihnen versicherte, in der glücklichen Lage zu sein, einen sozialistischen Staat noch zu erleben. Das war einige Monate vor der Oktoberrevolution. Er ahnte selbst nicht, dass es so schnell gehen würde. Ich bin da eher ein Hegelianer. Hegel war undogmatisch und vorsichtig genug, nicht irgendwelche Aussagen über die nahe Zukunft zu treffen. Er hatte Angst, von Nachgeborenen auf einen historischen Irrtum festgenagelt zu werden? Er war vorsichtig und zugleich risikobereit. Jacques Lacan sprach von einem bestimmten Punkt, an dem jeder eine Entscheidung treffen muss. Diese birgt ein Risiko. Das trifft auch auf die Oktoberrevolution zu. Lenin war sich bewusst, dass in Russland die objektiven Bedingungen noch nicht reif für die Revolution waren. Aber wenn man immer auf den richtigen, auf den perfekten Moment wartet, geschieht nichts. In Ihrem neuen Buch beschäftigen Sie sich wieder viel mit Hegel. Bekanntlich hat diesen bereits Marx vom Kopf auf die Füße gestellt. Was ist Ihre Intention? Ihn Purzelbäume schlagen zu lassen? Ich will ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es mag verrückt klingen, aber in gewisser Weise war Hegel materialistischer als Marx. Hegel sprach von einem Weltgeist, als dessen Inkarnation »zu Pferde« er dann Napoleon sah? Er betrachtete alles retroaktiv, machte keine Spekulationen über Künftiges. Wir können nur erkennen, was war. Hegel hätte für sich nie - wie die stalinistische Einheitspartei - das Monopol der Wahrheit in Anspruch genommen und sich nicht als Sieger der Geschichte gefühlt. Die Eule der Minerva erscheint erst am Abend. In seiner »Rechtsphilosophie« notiert er, wir können begrifflich eine soziale Ordnung erst beschreiben, wenn deren Zeit vorbei ist. Was geschehen wird, ist offen. In der Berliner Humboldt-Universität kann man den berühmten Spruch von Karl Marx lesen … »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Die 11. Feuerbachthese. Richtig. Wir wollten die Welt verändern. Jetzt kommt es erst einmal darauf an, die Welt neu zu interpretieren. Wir brauchen einen kognitiven Routenplaner. Was bedeutet die Digitalisierung? Was die Biogenetik? Wie verändert all das die Gesellschaft? Was geschieht, wenn unser Hirn computergesteuert wird? Der jüngst verstorbene Stephen Hawking konnte dank Computertechnik arbeiten, seine Gedanken artikulieren. Aber was rausgeht, kann ebenso hineinfließen. Werden Computer demnächst unsere Gedanken kontrollieren und manipulieren? Ich habe an einer Konferenz in China teilgenommen. Ein Neurologe von der Akademie der Wissenschaften berichtete mir von einer Vision, die mich erschreckte. Ziel der Biogenetik in China sei es, das psychische Wohlbefinden der Menschen zu steigern. Ähnliche Forschungen gibt es natürlich auch in den USA und gewiss auch in Russland. Die Gefahr heute sind weniger die chemischen und nuklearen Waffen als die reale Möglichkeit der Manipulation von Hirnen. Daran sind Staaten ebenso wie private Unternehmen interessiert. Das ist horrifying und stellt alle Hollywood-Blockbusters mit ihren Dystopien in den Schatten. Wir treten in eine neue Klassengesellschaft ein, die schlimmer ist als die alte. Tut mir leid, aber ich muss mich jetzt - ein schreckliches deutsches Wort - »einsatzbereit« machen. Ich muss zum Blauen Sofa, zum ZDF in der Messehalle. Ich muss dort den Blauen Obelisken geben. (lacht)
Karlen Vesper
Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte, sagt Slavoj Žižek. Während er das sozialdemokratische Projekt für gescheitert erklärt, sieht der Philosoph Marxisten in der Pflicht, dem Kommunismus zum Durchbruch zu verhelfen.
DDR, Faschismus, Film, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Karl Marx, Kommunismus, Literatur, Marxismus, Nationalsozialismus, Sozialismus
Feuilleton
Kultur Slavoj Žižek
2018-03-30T13:31:30+0200
2018-03-30T13:31:30+0200
2023-01-21T22:26:22+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083954.slavoj-žižek-wer-bin-ich.html
Schmetterlinge mit Fahrradantrieb
»Die Kraft der Schmetterlinge« ist eine bebilderte Rundreise, eröffnet den Zugang zu einer Vielzahl von Lösungen und Alternativen jenseits der Konkurrenz, der marktgläubigen Gewinnorientierung. Die aus Rostock kommende Autorin des Filmes, Heike Engel alias Momo, spricht selbst nicht davon, Regisseurin zu sein - vielmehr sei sie für »Idee, Kamera und Schnitt« der Dokumentation verantwortlich. Sie ist mit ihrer Kamera durch Mittelamerika gereist, von Panama bis Guatemala und Mexiko, hat Basisinitiativen gesucht - und viel Spannendes gefunden. Dabei ist sie auf Ideen gestoßen, die auch für die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus hier im Norden hilfreich sein können. Viele Interviews hat die Filmmacherin geführt. Sie fragt nicht ab, sondern lässt ihren Gesprächspartnern Raum. Alle, die in der »Kraft der Schmetterlinge« vor der Kamera agieren, haben eines gemeinsam: Sie sind nicht bereit, sich mit dem Elend abzufinden. D... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Gaston Kirsche
Die Filmemacherin Heike Engel reiste mehrere Monate lang durch Mittelamerika, um alternative, an Selbstbestimmung orientierte Lebensentwürfe aufzuzeichnen.
Lateinamerika, Ökologie, Vermarktung, Wirtschaftskrieg
Politik & Ökonomie
Politik
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Zweifel an Preisexplosion
Berlin (Agenturen/ND). In der Debatte über Atomausstieg und Energiewende sind Zweifel an dramatischen Kostenprognosen laut geworden. Es gebe »einen Überbietungswettbewerb, was Angaben zu den Kosten angeht«, kritisierte der Präsident des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Gerd Billen, am Montag. Billen verlangte, die Strompreise bezahlbar zu halten, wertete aber moderate Preiserhöhungen als akzeptabel. Die Verbraucher seien zum Beispiel zugunsten eines schnellen Atomausstiegs »bereit, etwas mehr für Strom zu zahlen«. Auch der Vorsitzende des Sachverständigenrats der Bundesregierung für Umweltfragen, Martin Faulstich, wandte sich gegen übertriebene Kostenprognosen. Er schätzte vorübergehende Mehrkosten beim Strom für einen Vier-Personen-Haushalt durch Atomausstieg und Energiewende auf zehn bis 20 Euro im Monat. »Ich glaube, das ist zu verkraften, zumal es ja auch beim Energiesparen noch etliche ungenutzte Potenziale gibt«, sag... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die Mehrheit der Bürger will schnell raus aus der Atomkraft – doch noch rätselt Deutschland, wie teuer die neue, grüne Stromwelt wird. Die Energieagentur Dena rechnet mit drastischen höheren Strompreisen. Die Grünen sagen, Schwarz-Gelb arbeite mit »Horrorzahlen«.
Atomkraft, Energiepolitik, erneuerbare Energie, Preisentwicklung, Strompreise
Politik & Ökonomie
Politik
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Fachgeschäft für Demokratie
Vor der Schloßstraße 20 in Rheinsberg (Ostprignitz-Ruppin) ist eine Ampelanlage mit einer langen Rotphase installiert. Dort stand der Stadtverordnete Freke Over (Linke) mit seinem Auto und wartete auf Grün. Dabei fiel sein Blick in das Schaufenster. Dort hing ein Zettel. Der Laden, in dem sich eine Fahrschule befand, werde frei und sei zu vermieten. »Da begann es in mir zu arbeiten«, erzählt der Kommunalpolitiker. Doch es dauerte noch einige Wochen, bis er die zündende Idee hatte. Am 14. März eröffnete Over in der Schloßstraße sein Fachgeschäft für Demokratie. »Ich wollte nicht bei Facebook auf den dort verbreiteten Hass reagieren. Dafür war mir meine Lebenszeit zu schade«, sagt er. Wegen der Corona-Maßnahmen kann das Geschäft jedoch bisher nur eingeschränkt genutzt werden. Künftig gibt es hier zum Preis ab drei Euro die Demokratie zu kaufen: in Form von Dosen in verschiedenen Formen, Farben und Größen. Sie enthalten im Prinzip nichts als Luft. Für die Inhalte muss der Kunde eigenverantwortlich sorgen. Auf die Deckel ist das Wort »Demokratie« geklebt. Öffnet man die Dose, finden sich innen Hinweise wie »alles andere ist Quark«, »tut gut« und »macht schöner«. In einer Variante ergibt sich in Kombination mit der Aufschrift auf dem Deckel auch die berühmte Formel von SPD-Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992): »Demokratie wagen!« 60 Dosen mit insgesamt 25 Sprüchen haben Freke Over und seine Mitstreiter für das Fachgeschäft gebastelt. Einmal steht statt »Demokratie« auch »Demokratin« auf dem Deckel. Das griechische Wort Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Doch in ihren Ursprüngen in Athen und bis ins 20. Jahrhundert hinein blieben Frauen ausgeschlossen. Heute sollen alle gleichberechtigt mitbestimmen dürfen. In den ersten zwei Wochen sei die Demokratie ein Ladenhüter gewesen, muss Freke Over einräumen. Noch keine einzige Dose konnte verkauft werden. »Aber weil wir wegen Corona geschlossen haben«, betont Over. Er hofft, dass die Infektionszahlen im Sommer sinken und sein Geschäft dann rechtzeitig vor der Bundestagswahl im September noch brummt. Gesprächsrunden und Filmabende werden dann auf dem Programm stehen. Die Technik für die Filmvorführungen steht schon bereit. Die kleine Leihbibliothek füllt sich. Freke Over und sein Stadtfraktionskollege Paul Kurzke räumen schrittweise die gespendeten Bücher ein. Es handelt sich um politische Literatur. Das Regal hat Kurzke aus dem alten Atomkraftwerk Rheinsberg organisiert. Dort stand es im Verwaltungsgebäude und sollte entsorgt werden. Kurzke ist Bauingenieur und bei der langwierigen Demontage des bereits 1990 stillgelegten Kraftwerks beschäftigt. »Mindestens bis 2040 werden wir dort noch zu tun haben«, sagt der 30-Jährige. Das Fachgeschäft ist nur 45 Quadratmeter groß, die Miniküche und die Toilette schon eingerechnet. Over und Kurzke renovierten die Räume mit Freunden. 1500 Euro hat das Material dafür gekostet. Es ist hübsch gemütlich geworden. Vor allem die Holzbalken, die vorher unter Tapete versteckt waren, kommen jetzt schön zur Geltung. Aus Getränkekisten und einer Holzplatte entstand eine kleine Bar. Dort stehen Apfelsaft, Mineralwasser, Bier und Sekt bereit. Doch »Trinken mit Linken« ist im Moment aus Infektionsschutzgründen nicht möglich, ebenso wie »Schöner Tanzen ohne Nazis«. Aber das und noch viel mehr soll zukünftig stattfinden. Einstweilen kann die aus Freke Over und Paul Kurzke bestehende Linksfraktion hier nur ihre Sprechstunde abhalten, immer dienstags von 17.30 bis 18.30 Uhr. Die beiden Kommunalpolitiker nennen es ihren Demokratie-Notdienst. Auf den zweiten Blick sieht das Fachgeschäft dann doch wie ein klassisches Parteibüro aus, das sich lediglich pfiffiger präsentiert. Seit 1990, als die SED Geschichte war, hatten die Sozialisten kein Büro mehr in Rheinsberg, erzählt Over. Auch die anderen Parteien sind hier nicht vertreten. Nur Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) verfügt über eine kleine Anlaufstelle. Ihr offizielles Wahlkreisbüro hat sie dagegen in Neuruppin eingerichtet. Zwar liegen Postkarten von Bundestagskandidatin Anja Mayer (Linke) auf dem Tisch der Schloßstraße 20. Sie soll aber nicht bloß ein Quartier der Linken sein, sondern ein Treffpunkt für alle Demokraten. Bürgerinitiativen und alle demokratischen Parteien sind willkommen. 285 Euro Kaltmiete im Monat kosten die Räume, inklusive der Betriebskosten sind es rund 350 Euro. Die Summe wird nicht etwa vom Kreisverband der Linken bezahlt. Der hätte gar nicht die Mittel dazu. Finanziert wird alles durch Spenden. Es ist schon genug Geld für die ersten anderthalb Jahre beisammen, freut sich Over. Der 53-Jährige saß bis 2006 im Berliner Abgeordnetenhaus. Dann zog er raus aufs Land nach Rheinsberg, wo er das Ferienland Luhme bereibt. Bei der Kommunalwahl 2019 ist die AfD in Rheinsberg nicht mit einer eigenen Liste für die Stadtverordnetenversammlung angetreten. Sie holte hier aber bei der Wahl des Kreistags 22 Prozent der Stimmen. Das liegt in etwa im brandenburgischen Durchschnitt. Insofern ist der Bedarf für ein Fachgeschäft für Demokratie hier nicht höher als anderswo. Oder anders formuliert: Fachgeschäfte für Demokratie müssten überall eröffnet werden. Freke Over würde sich sehr freuen, wenn er Nachahmer findet. Es wäre nicht das erste Mal, dass der 53-Jährige eine Entwicklung anstößt. 1995 war der damals noch junge Mann aus der Hausbesetzerszene für die PDS ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. Unter den Mitgliedern dieses Teilzeitparlaments war es seinerzeit nicht üblich, ein Wahlkreisbüro zu unterhalten. 1996 machte Over mit seinem Wahlkreisbüro am Boxhagener Platz den Anfang. Sein damaliger Fraktionskollege Bernd Holtfreter habe es ihm ein Jahr später nachgemacht, erinnert Over. »Mittlerweile haben alle Berliner Abgeordneten ein Wahlkreisbüro. Inzwischen gibt es ja auch extra Geld dafür.«
Andreas Fritsche, Rheinsberg
Die in einer Rheinsberger Facebook-Gruppe verbreitete Hetze gab Linksfraktionschef Freke Over zu denken. Er wollte nicht direkt darauf reagieren, aber doch etwas unternehmen. Jetzt gibt es in der Stadt sein Fachgeschäft für Demokratie.
Brandenburg, Demokratie, Facebook, LINKE
Hauptstadtregion
Brandenburg Freke Over
2021-03-28T15:09:04+0200
2021-03-28T15:09:04+0200
2023-01-20T23:19:56+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1150128.freke-over-fachgeschaeft-fuer-demokratie.html?
ÖPP auf der Autobahn
Planung, Bau und Erhalt von Autobahnen in Deutschland lagen lange in den Händen der Länder. Das war schon in den Anfängen so geplant. Im Jahr 1926 begeisterten sich »weitschauende Männer« (so später der erste bundesdeutsche Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm, CDU) in den Ländern, Kommunalverwaltungen und der Wirtschaft für den Gedanken einer Autobahn, die die Hansestädte im Norden mit Frankfurt am Main und Basel im Süden verbinden sollte. Ein Frankfurter Oberbaurat sowie ein Banker trieben das Projekt »HaFraBa« jahrelang voran. Die Finanzierung des ersten Teilstückes hätten die Länder Baden und Hessen übernommen. Bis dahin gab es keine überregionalen, kreuzungsfreien Straßen, und Autos teilten sich die Fahrbahnen mit Pferdefuhrwerken. Kritiker zweifelten an der Auslastung einer reinen Autostraße, das Reichsfinanzministerium scheute die Kosten. Letztlich bremsten Weltwirtschaftskrise und die Auflösung des Reichstages 1930 die Autob... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Hermannus Pfeiffer
Wie in Italien wird in Deutschland um die Zukunft der Autobahnen gestritten. Gerade werden Betrieb und Planung neu strukturiert. Kritiker befürchten mehr ÖPP-Projekte.
Hessen, Italien, Maut, Verkehrspolitik
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Privatisierung und LKW-Maut
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1098967.oepp-auf-der-autobahn.html
Hat sich das BSW verzockt?
Spätestens seit ihrem Austritt aus der Linken fordert Sahra Wagenknecht mit Vehemenz eine rigide Asylpolitik nach dänischem Vorbild. Insbesondere die Streichung von Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber, die nach ihrer Lesart eben unberechtigt in Deutschland leben, ist ihr wichtig. Dafür und für konsequentere Abschiebungen plädierte sie bereits im Herbst 2023 in der ZDF-Sendung Markus Lanz. Und immer wieder erklärte die BSW-Chefin und -Gründerin die drastischen Verschärfungen des Asylrechts durch die Ampel-Koalition für völlig unzureichend. Demgegenüber verschlossen viele Ex-Linke die Augen, die dem BSW bei den Landtagswahlen im vergangenen Herbst ihre Stimme gaben. Oder sie votierten trotzdem für die Partei wegen deren konsequenter Haltung in der Friedensfrage. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Doch spätestens das Abstimmungsverhalten der BSW-Fraktion im Bundestag in der vergangenen Woche scheint für viele, die der Partei bislang mit Wohlwollen begegneten, eine Art Weckruf gewesen zu sein. Manchem wurde bewusst, dass das BSW für eine faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl votierte, weil es die Forderung der CDU unterstützte, alle an deutschen Grenzen ohne gültige Einreisedokumente Aufgegriffenen zurückzuweisen, auch, wenn sie um Asyl ersuchen. Gedeckt ist dieses Vorgehen zwar nicht vom EU-Recht, aber vom Grundgesetz, das der Bundestag 1993 dahingehend änderte, dass nur noch ein Recht auf Asyl hat, wer nicht über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Deshalb erhalten heute lediglich ein bis zwei Prozent aller Antragsteller Asyl nach Artikel 16 des Grundgesetzes. Das BSW enthielt sich vergangene Woche beim »Fünf-Punkte-Plan« der Unionsfraktion für »sofortige, umfassende Maßnahmen zur Beendigung der illegalen Migration«, aber nicht, weil man diese für rechtswidrig und falsch hält, sondern weil man etwa die von CDU und CSU verlangten dauerhaften und umfassenden Grenzkontrollen nicht für umsetzbar hält. Am Freitag stimmte das BSW dann mit der AfD für einen Gesetzentwurf der Union, das »Zustrombegrenzungsgesetz«. Darin sind unter anderem die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte und Vollmachten der Bundespolizei für Haftbefehle gegen Geflüchtete festgeschrieben. Beides wird von Fachleuten als verfassungswidrig eingestuft. Dass sich das BSW mit seiner rechten Positionierung in der Asylpolitik verzockt haben könnte, zeigen seine aktuellen Umfragewerte, die zuletzt mehrfach unter die Fünf-Prozent-Hürde rutschten. Am Montagabend startete Wagenknecht gleichwohl auf dem Münchner Marienplatz unter dem Jubel von 2000 Besuchern in die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs und wetterte in gewohnter Manier gegen die »alten Parteien« und ihre gescheiterte Wirtschafts- und Asylpolitik. Wer dagegen die anderen Parteien wähle, der wolle, dass die AfD 2029 das Kanzleramt übernehme, mahnte die Politikerin. Für ein wenig Nervosität im BSW angesichts der Umfragewerte sprechen vermeherte Attacken gegen Linke-Politiker in den letzten Tagen. So arbeiteten sich Wagenknecht, die Ko-Vorsitzende Amira Mohamed Ali und der Europaabgeordnete Fabio De Masi an einer »Bild«-Schlagzeile ab, der zufolge Linke-Ko-Chef Jan van Aken »eine Million Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen« will. Dabei hatte er diese Zahl, gefragt nach einer möglichen Obergrenze, genannt und nicht dafür plädiert, jährlich so viele Menschen ins Land zu holen. De Masi betonte am Dienstag zugleich die konsequente Haltung des BSW für Frieden und Diplomatie im Ukraine-Konflikt. Und glaubt, genau deshalb gebe es derzeit »Störmanöver und Kampagnen« gegen die Partei. Wagenknecht sieht sich derweil nicht veranlasst, in der Asyl- und Migrationsdebatte moderatere Töne anzuschlagen. Am Wochenende forderte sie eine Volksabstimmung über den künftigen Kurs in der Asyl- und Migrationspolitik. So solle »über die Frage entschieden werden, ob die Zuzugszahlen deutlich abgesenkt werden sollen oder nicht«. Als »Zielmarke« kann sie sich ein Kontingent von maximal »50 000 Zuwanderern pro Jahr« vorstellen, sagte sie der Nachrichtenagentur AFP. Eine Volksabstimmung könne auch der AfD den Wind aus den Segeln nehmen und »der Polarisierung in der Gesellschaft entgegenwirken«, meinte die BSW-Chefin. Im vergangenen Jahr hatten knapp 230 000 Menschen in Deutschland einen Erstantrag auf Asyl gestellt, 30 Prozent weniger als 2023. Wagenknecht wetterte einmal mehr darüber, dass seit zehn Jahren »ein Kontrollverlust bei der Migration« zugelassen worden sei. Für einen Volksentscheid oder ein Volksbegehren auf Bundesebene fehlt in Deutschland indes eine rechtliche Grundlage.
Jana Frielinghaus
Sahra Wagenknecht fordert seit Langem eine harte Asylpolitik, was viele Linke, die sich ihrer Partei zuwandten, gern übersahen. Doch die jüngsten Abstimmungen des BSW im Bundestag scheinen für viele ein Weckruf zu sein.
Asylpolitik, Basisdemokratie, Einwanderung, Flüchtlinge
Politik & Ökonomie
Politik Wagenknechts Asylpolitik
2025-02-04T17:22:54+0100
2025-02-04T17:22:54+0100
2025-02-23T14:06:58+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188793.wagenknechts-asylpolitik-hat-sich-das-bsw-verzockt.html?
Leere Leinwände in den Kinos
Wenn am Donnerstag zur Berlinale in der Hauptstadt der rote Teppich ausgerollt wird, legen Angestellte von zwei der größten Kinokonzerne in Deutschland bei einem Warnstreik die Arbeit nieder: Verdi will für die insgesamt rund 3000 Beschäftigten der Unternehmen Cinemaxx und Cinestar eine deutliche Lohnerhöhung durchsetzen. Die Gewerkschaft fordert ein Mindesteinstiegsgehalt von 14 Euro und damit ein Plus von annähernd 1,60 Euro pro Stunde. Das wären knapp 13 Prozent mehr als bisher: Die aktuellen Einstiegslöhne für die Beschäftigten liegen beim gesetzlichen Mindestlohn von 12,41 Euro. Viel zu wenig, findet Verdi-Verhandlungsführerin Martha Richards: »Das Kinovergnügen für Gäste ist hinter den Kulissen ein stressiger Job. Wir fordern darum ein angemessenes Einstiegsgehalt.« Der Streik findet nach zwei erfolglosen Verhandlungsrunden statt. Cinestar hatte zuletzt zwar Verbesserungen angeboten, diese reichen Verdi aber nicht aus. »Das aktuelle Angebot sieht für die Einarbeitungsphase gerade einmal 5 Cent mehr als der gesetzliche Mindestlohn vor. Damit ignoriert Cinestar die Lebensrealität der Kolleginnen und Kollegen«, kritisiert Richards. Auf nd-Anfrage teilte der Geschäftsführer Oliver Fock dagegen mit: »Wir führen konstruktive Verhandlungen.« Der nächste Termin sei für den 20. Februar angesetzt. Die Gespräche mit Cinemaxx wurden laut Verdi dagegen abgebrochen, da sie »enttäuschend und unbefriedigend« verlaufen seien, sagt Richards im Gespräch mit »nd«. Auf Anfrage erklärte der Konzern, sich zu den Verhandlungen nicht weiter äußern zu wollen. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Die nun angekündigte Arbeitsniederlegung findet von Donnerstag bis Sonntag statt. Allerdings werden nicht alle der bundesweit rund 75 Kinos bestreikt, die von den beiden Unternehmen betrieben werden. »Es wird mindestens ein Kino in jedem Bundesland betroffen sein«, erzählt Richards. Verdi will mit den Streiks am Berlinale-Wochenende den Druck auf die Verhandlungen erhöhen. Die Filmfestspiele selbst sollen von den Arbeitsniederlegungen nicht getroffen werden. »Es ist eher Zufall, dass wir für dieses Wochenende aufrufen«, sagt Richards. Aber es sei eine gute Gelegenheit, um auf die Arbeitsbedingungen für das Servicepersonal aufmerksam zu machen, betont sie. »Ganz Deutschland schaut an diesem Wochenende auf die Filmbranche.« Die Kinos stehen seit Jahren wegen der Streaming-Dienste unter Druck, insbesondere seit der Coronakrise. Zwar hat sich die Branche laut aktuellen Zahlen der Filmförderungsanstalt erholt. So habe sie im Jahr 2023 über 200 Millionen Euro mehr Umsatz als im Vorjahr verbuchen können. Doch liegt der mit 929 Millionen Euro knapp neun Prozent unter dem von 2019.
Felix Sassmannshausen
Die Gewerkschaft Verdi ruft Beschäftigte der Kinokonzerne Cinemaxx und Cinestar am Wochenende bundesweit zu Arbeitsniederlegungen auf. Es geht um knapp 13 Prozent mehr Lohn.
Berlinale, Film
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Arbeitskämpfe
2024-02-14T16:47:32+0100
2024-02-14T16:47:32+0100
2024-02-16T13:38:18+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180017.leere-leinwaende-in-den-kinos.html
Armenien, China, Neuseeland
Mit einer weltweiten Lesung wollen Künstler aus aller Welt den deutschen Dichter Heinrich von Kleist zu seinem 200. Todestag ehren. Die ungewöhnliche Aktion wird von der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Literaturfestival Berlin über das Internet organisiert. Bis zum Dienstag hatten sich rund 130 Kultureinrichtungen aus Ländern von Armenien bis China, von Brasilien bis Neuseeland in die elektronische Liste eingetragen. Kleists Todestag jährt sich am kommenden Montag zum 200. Mal. Am 21. November 1811 hatte der Dichter gemeinsam mit einer krebskranken Freundin am Berliner Wannsee den Freitod gesucht. In Berlin wird es am Montag zunächst an seinem neu renovierten Grab eine interne Lesung geben. Um 17 Uhr trägt Schauspieler Leo Solter in der Nicolaikirche Texte von Kleist vor. Weitere Lesungen gibt es etwa in Karlsruhe, Rostock und Leipzig. dpa
Redaktion nd-aktuell.de
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