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Quereinstieg ins Klassenzimmer
Die 16-seitige Pressemitteilung war nur ein Zeichen, dass es Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Donnerstag darum ging, ihre Einstellungspolitik zu Schuljahresbeginn genau darzulegen - und zu rechtfertigen. Am Montag hatte der »Tagesspiegel« gemeldet, dass die Hauptstadt mehr denn je Quereinsteiger eingestellt hatte. Scheeres bestätigte die Zahlen. So waren von den 2000 Neueinstellungen 41 Prozent Quereinsteiger, an Grundschulen sogar 53 Prozent. Insgesamt unterrichten damit sechs Prozent Quereinsteiger an Grundschulen. Scheeres argumentierte, dass diese Lehrer beruflich ebenso qualifiziert seien: »Quereinsteiger haben ein abgeschlossenes Studium und befinden sich in einer berufsbegleitenden Ausbildung. Sie legen eine Staatsprüfung ab und sind dann vollqualifizierte Lehrkräfte.« Viele hätten bereits ein anderes Hochschulstudium absolviert und seien als Vertretungslehrer angestellt gewesen. Auch in Zukunft werde sie »weiterhin mit Quereinsteigern arbeiten«. Zudem verwies sie auf den Lehrermangel in allen Bundesländern. »Die Konkurrenz zu anderen Ländern ist sehr hoch. Fast alle stellen mehr Lehrer ein, einige sogar mehrere Tausend. Nicht allen gelingt das: Einige haben über 2000 offene Stellen.« Damit bezog sie sich auf Zahlen des Bildungsministeriums Nordrhein-Westfalens. Dessen Sprecher Daniel Kölle bestätigte dem »nd«, dass das Land 2139 Stellen nicht besetzen konnte. Quereinsteiger werden nicht zuletzt deshalb gebraucht, weil mehr Schüler kommen: Im neuen Schuljahr lernen in Berlin 441 330 Schüler, das sind 6700 mehr als zuletzt. Die Zahl der Grundschüler ging hingegen um 46 auf 31 880 Schüler zurück. Abziehen muss man zudem noch die Erstklässler, die zurückgestellt werden - also trotz Schulpflicht in der Kita bleiben. Ihre Zahl wird erst Ende September bekannt gegeben. Die Zahl der Lehrer ist - abzüglich der Abgänge - um 538 gestiegen auf 33 383. Der Personalschlüssel von 13,2 Schülern auf einen Lehrer konnte damit erhalten werden. Zudem gibt es immer noch 1051 Willkommensklassen mit insgesamt 17 426 Schülern. 141 Willkommensklassen werden zum neuen Schuljahr aufgelöst. Allein 1200 Lehrer seien für diesen Bereich eingestellt worden. »Das haben wir sehr gut gestemmt«, so Scheeres. Auch diese Lehrer, die bisher kein Referendariat machen mussten, sollen ins Schulsystem übernommen werden. Bei 250 Lehrern ist das schon geschehen. »Die müssen dann natürlich in die berufliche Qualifikation gehen«, so Scheeres. Kritik kam von der Opposition. Paul Fresdorf, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, sagte, bei den Quereinsteigern »sollte eine längere Qualifizierungsphase vor dem ersten Unterricht liegen«. Zudem sei »die fehlerfreie Beherrschung der deutschen Sprache« ein Mindeststandard. Am Rande lieferten sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Bildungsverwaltung über öffentliche E-Mail-Verteiler Gefechte. Bereits zum zweiten Mal wird ein Konflikt so ausgetragen, im Juni ging es dabei um die Neuberechnung von Lehrerstunden pro Schüleranzahl statt wie bisher pro Klasseneinheit, was laut GEW die kleineren Klassen benachteiligt. Dieses Mal kritisierte die GEW, dass Scheeres die Quereinsteiger nicht erwähne - die Verwaltung konterte mit einer »Richtigstellung«, Scheeres habe dies ausführlich mündlich getan. Die GEW konnte das nicht wissen - in der Pressemitteilung kommen die »Quereinsteiger« nicht vor. Tom Erdmann, Vorsitzender der GEW Berlin, war nicht zur Pressekonferenz geladen, in den Jahren zuvor sei dies der Fall gewesen. Er sagte: »Das ist eine weitere Stufe, wie man die Eiszeit vertieft.« Die Gewerkschaft wirft der Bildungssenatorin zudem vor, die bessere Bezahlung der alt eingesessenen Grundschullehrkräfte zu »verschleppen«.
Ellen Wesemüller
Wenn am Montag die Schule beginnt, stehen so viele Quereinsteiger in den Klassen wie nie. Um 2000 freie Stellen zu besetzen, hat der Senat 41 Prozent Lehrer ohne entsprechendes Studium angestellt.
Bildung, GEW, Lehrer, Presse, Schule
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1062336.quereinstieg-ins-klassenzimmer.html
Von der Leyen plant Kampagne gegen Überlastung im Beruf
Saarbrücken (AFP/nd). Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) plant eine Kampagne gegen psychische Überlastung in der Arbeitswelt. »Wir wollen uns im nächsten Jahr mit den Tarifpartnern, Sozialversicherungsträgern sowie Länderexperten zusammensetzen, um wirksame Maßnahmen gegen psychische Überlastungen im Beruf zu entwickeln«, sagte von der Leyen der »Saarbrücker Zeitung«. Jeder Dritte, der heute vorzeitig in Ruhestand gehe, tue das, weil er den beruflichen Anforderungen psychisch nicht mehr gewachsen sei, sagte die Ministerin. Strengere Gesetze zum Arbeitsschutz soll es nach dem Willen von der Leyens aber nicht geben. Allerdings zeigten Studien, »dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen - meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit«, so die Ministerin.
Redaktion nd-aktuell.de
Arbeitsbedingungen, Berufskrankheiten, Ursula von der Leyen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/214219.von-der-leyen-plant-kampagne-gegen-ueberlastung-im-beruf.html
Längst nicht mehr wie Feuer und Wasser
Der Dammbruch fand in Rübeland im Harz statt, und zwar schon vor mehr als 20 Jahren. Im Gemeinderat der 1500 Einwohner zählenden Kommune, die für ihre Tropfsteinhöhlen bekannt ist, bildete sich nach der Wahl 1999 ein Bündnis, das bundesweit für Furore sorgte. Drei Mandatsträger der CDU und einer von der PDS schlossen sich in einer Fraktion zusammen. Die Einladung kam von den Konservativen, die ihren linken Mitstreiter persönlich schätzten - und dem SPD-Klüngel im Ort Paroli bieten wollten. Der Kooperation machte erst eine Gemeindereform 2004 ein Ende. Seither gab es immer wieder Kooperationen von CDU und PDS oder Linkspartei, zunächst in Kommunen. »Rübeland ist überall«, hieß es 2008 in der Wochenzeitung »Der Freitag«. Während Papiere der Bundes-CDU tönten, man lehne jedes Paktieren mit den »politischen Erben der totalitären SED« ab, wurden in Magdeburg und Chemnitz gemeinsam Beigeordnete gewählt, in Zwickau ein Bürgerbegehren angestoße... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Hendrik Lasch
Kooperationen von CDU und Linke sind in Städten und Gemeinden keine Seltenheit. Auch in Landtagen ist der Graben nicht unüberbrückbar.
Bildungspolitik, CDU, Die Linke, linke Parteien, Sachsen, Sachsen-Anhalt, SPD, Verschuldung
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1133820.laengst-nicht-mehr-wie-feuer-und-wasser.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Verbraucherschützer klagen vor dem Bundesgerichtshof
Wer seine Bankgeschäfte am Notebook oder übers Smartphone erledigt, spart sich den Weg in die Filiale. Bei einigen Instituten hat die Bequemlichkeit aber unter Umständen ihren Preis. Verbraucherschützer kritisieren die Extra-Gebühren. Zu Recht? Das klärt derzeit Bundesgerichtshof (BGH, Az. XI ZR 260/15) in Karlsruhe. Das Urteil soll Ende Juli verkündet werden. Worum geht es in dem gegenwärtigen Verfahren? Das Online-Banking ist auch für Betrüger verlockend. Damit Kriminelle nicht mit wenigen Klicks Konten leer räumen können, ist das Verfahren mit einer Sicherheitsabfrage geschützt. Wer eine Überweisung veranlassen oder ein Lastschriftmandat erteilen möchte, braucht zusätzlich zu seinen Zugangsdaten eine sogenannte Transaktionsnummer (TAN) - für jeden Auftrag eine neue Zahlenkombination. Wie funktioniert die Transaktionsnummer? Der Kunde tippt die TAN ein, um den Vorgang zu bestätigen. Früher verschickten die Banken diese Nummern auf Papierlisten mit der Post. Heute gibt es sicherere Verfahren. Unter Sparkassenkunden ist nach Auskunft des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) der TAN-Generator am weitesten verbreitet, ein kleines Gerät, das zusammen mit der Girokarte funktioniert. Smartphonenutzer können die Nummern auch über eine App empfangen. Diese Varianten sind - von den Anschaffungskosten für den Generator einmal abgesehen - gratis. Jeder dritte Online-Banking-Kunde der Sparkassen lässt sich seine TANs allerdings per SMS schicken. Und das kann Zusatzkosten verursachen. Wie sehen solche Kosten in der Praxis aus? In dem Karlsruher Verfahren hat der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) die Kreissparkasse Groß-Gerau verklagt. Dort kostete das »direktKonto«, das rein übers Internet läuft, zwei Euro im Monat. »Unabhängig vom Kontomodell« wurden je SMS-TAN zehn Cent fällig. Kein Einzelfall: Genaue Zahlen hat die Deutsche Kreditwirtschaft als Zusammenschluss der Bankenverbände zwar nicht. Aber nur ein Teil der Institute bietet das SMS-TAN-Verfahren kostenlos an, wie Sprecher Steffen Steudel schildert. »Manche Banken sagen, fünf SMS im Monat sind frei. Bei anderen fällt ab der ersten SMS ein Betrag an.« Warum stört das die Verbraucherschützer? Nach Auffassung des vzbv müssten die Kontoführungsgebühren sämtliche Kosten für die Sicherheitsabfrage gleich beinhalten. »Das Verschicken der TAN ist aus unserer Sicht keine Extra-Leistung, sondern ein notwendiger Vorgang beim Online-Banking«, sagt Bankenexperte Frank-Christian Pauli. Schließlich sei auch die Vorstellung absurd, dass ein Hotelgast ein Zimmer buche und für jedes Benutzen der Schlüsselkarte zusätzlich Gebühren bezahlen müsse, so Pauli. Er hofft, dass der Bundesgerichtshof solche Preismodelle der Banken nun grundsätzlich untersagt. Wie sind die Erfolgsaussichten? Das ist nach der ersten Verhandlung am 13. Juni 2017 völlig offen. Nach den Worten des Vorsitzenden BGH-Richters Hans-Ulrich Joeres hat der Senat bisher keine Tendenz und will die Sache jetzt erst beraten. Es kann also sogar noch passieren, dass die Klage an formalen Mängeln scheitert. Inklusive oder nicht - zahlt am Ende nicht sowieso alles der Kunde? Im Grunde ja. Aber die Verbraucherschützer beobachten mit Sorge, dass immer mehr Banken die Kosten rund ums Girokonto in einzelne Entgelte aufsplitten. »Das macht es immer schwieriger, die verschiedenen Angebote zu vergleichen«, kritisiert der Bankexperte Frank-Christian Pauli. Für mehr Transparenz sollen bald neue europäische Regeln sorgen. Vorgesehen ist, dass die Banken ihren Kunden einmal im Jahr eine Übersicht über die kassierten Entgelte zusammenstellen müssen. Im Internet soll es außerdem EU-weit Vergleichsportale geben. Noch fehlen dazu aber die letzten Abstimmungen. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die Transaktionsnummer - kurz TAN - sichert Bankgeschäfte im Internet gegen Kriminelle ab. Viele Kunden empfangen sie per SMS. Einige Banken lassen sich diesen Service extra bezahlen. Dürfen sie das?
Banken, Verbraucherschutz
Ratgeber
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Markov verteidigt Immobilien-Deal
Potsdam (dpa). Brandenburgs Finanzminister Helmuth Markov (LINKE) hat den umstrittenen Verkauf von zwei Landesimmobilien verteidigt. Die vereinbarten Kaufpreise der Grundstücke in Potsdam seien durch Wertgutachten ermittelt worden, betonte er am Samstag in einer Mitteilung. Zudem sei eine Klausel zum Mehrerlös bei einem Weiterverkauf zu Gunsten des Landes vereinbart worden, sagte er. Eine Zeitung hatte am Samstag berichtet, die Grundstücke seien ohne Ausschreibung unter Wert verkauft worden. Die drei Oppositionsfraktionen von CDU, Bündnis 90/Grüne verlangten Aufklärung und für Montag eine Sondersitzung des Haushalts- und Finanzausschusses. Zuletzt war Minister Markov in die Kritik geraten, weil er das Parlament über eine Sperre von EU-Fördermitteln nicht informiert hatte. Ein Untersuchungsausschuss prüft seit vergangenem Novemb... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Zeitung: Grundstücke ohne Ausschreibung und unter Wert verkauft
Brandenburg, Helmuth Markov, Immobilie, LINKE
Hauptstadtregion
Brandenburg Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/191972.markov-verteidigt-immobilien-deal.html
Lieferdienste: Auf wackeligen Rädern
Aus dem Stadtbild sind sie kaum noch wegzudenken: Rider, die auf ihren Fahrrädern für Unternehmen wie Lieferando, Getir oder Flink Lebensmittel oder Essensbestellungen ausliefern. Die Unternehmen sind insbesondere während der Corona-Pandemie rasant gewachsen. Doch aufgrund hoher Zinssätze und sinkendem Konsum infolge der Inflation stehen viele von ihnen vor finanziellen Schwierigkeiten. Das geht aus einer aktuellen Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Dabei gilt das sogenannte Quick-Commerce, der digitale Markt für Lebensmittel- und Essenslieferungen, weiterhin als attraktiver Wachstumsmarkt. Die Unternehmen bieten an, dass Konsument*innen ihre Bestellungen bequem per App aufgeben können und diese dann direkt zu ihnen nach Hause geliefert bekommen. Dabei nutzen die Unternehmen im Gegensatz zu herkömmlichen Supermärkten viele kleine Lager, die sie an strategisch günstigen Standorten in Ballungsräumen anmieten. Auch darum ist die Angebotsauswahl bei den Anbietern vergleichsweise gering. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Die sogenannte letzte Meile in der Logistikkette, die den Weg vom Warenlager zu den Konsument*innen bezeichnet, ist oftmals arbeitsintensiv und von schlechten Arbeitsbedingungen geprägt. Rider sind zu allen Jahreszeiten auf Fahrrädern oder Motorrollern im gefährlichen Stadtverkehr unterwegs, um die Bestellungen pünktlich zu den Kund*innen zu bringen. Meist leiden die Beschäftigten dabei unter prekären Arbeitsbedingungen. Sie erhalten als Selbstständige in der Regel niedrige Löhne, wobei oft die Grenze zur Scheinselbstständigkeit überschritten wird, wie aus der IMU-Studie hervorgeht. Unternehmensseitig ist die Branche hoch umkämpft. Um sich Anteile am Markt zu sichern, tragen die Lieferdienste einen erbitterten Preiskampf aus, wodurch auch die Profitmargen gering ausfallen, wie aus der IMU-Studie hervorgeht. Dabei sei es schwer, einen genauen Einblick in die Daten zu bekommen, erklären die Forscher*innen. Denn viele der Unternehmen seien nicht börsennotiert und fallen daher auch nicht unter die dort geltenden Transparenzpflichten. Dennoch konnten sie für die Studie herausfinden, dass es bislang keinem Anbieter gelungen ist, mit dem operativen Geschäft Gewinne zu erwirtschaften. Die niedrigen Profitmargen sind indes in den Unternehmensstrategien einkalkuliert. Um sich den harten Preiskampf leisten zu können, nehmen die Lieferdienste zunächst Verluste in Kauf, die sie mittels enormer Kapitalvorschüsse auffangen. Das Ziel ist es, so die Konkurrenz mittelfristig aus dem Markt zu drängen und später die Preise wieder zu erhöhen. Eine Strategie, die etwa dem Logistikriesen Amazon dabei geholfen hat, sich erfolgreich zu etablieren und seine Marktmacht auszubauen. Doch aufgrund einer stärkeren Konsumzurückhaltung und steigenden Zinsen gelangt diese Unternehmensstrategie nun an ihre Grenzen. »Vor dem Hintergrund der hohen Inflation gehen wir davon aus, dass die Nachfrage seit der Corona-Pandemie gesunken ist«, erklärt Navid Armeli im Gespräch »nd«. Er ist Wirtschaftsreferent am IMU und hat an der Studie mitgearbeitet. »Zudem wirkt sich die Zins- und globale Wirtschaftslage negativ auf Wagniskapitalgeber und Investoren aus«, sagt Armeli. Dadurch werde es für die Unternehmen immer schwieriger, an neue Kredite zu gelangen, um die durch den Preiswettbewerb bedingten Verluste gegenzufinanzieren. Das läuft voraussichtlich auf Insolvenzen und Übernahmen in der Branche hinaus, erwarten die Forscher*innen des IMU in ihrer Studie. »Eine Konsolidierung des Marktes scheint unausweichlich«, heißt es dazu. Die sei sogar schon in vollem Gange: So wurde zuletzt der Lieferdienst Gorillas vom türkischen Wettbewerber Getir übernommen. Gleichzeitig baute das Handelsunternehmen Rewe seine Beteiligung an Flink aus. Der Markt werde sich zukünftig wohl auf ein bis zwei große Unternehmen und einige Nischenanbieter konzentrieren, prognostizieren die Ökonom*innen. Mit den bevorstehenden Übernahmen und Insolvenzen könnten auch Entlassungen einhergehen. Dennoch ist eine Bereinigungskrise für die Rider nicht per se eine schlechte Nachricht. Denn eine Kapitalkonzentration könnte dazu beitragen, die oftmals kleinteiligen gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zusammenzufassen. Denn für gute Arbeitsbedingungen brauche es eine sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit und ertragsstarke Unternehmen, betonen die Wissenschaftler*innen in ihrer Studie.
Felix Sassmannshausen
Während der Pandemie erhielten Lieferdienste enormen Auftrieb. Doch der Markt ist bislang kaum profitabel. In der Branche kommt es nun voraussichtlich zu Insolvenzen und Übernahmen.
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Lieferando und Co.
2023-10-31T16:24:11+0100
2023-10-31T16:24:11+0100
2023-11-01T18:06:36+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177397.lieferando-und-co-lieferdienste-auf-wackeligen-raedern.html?sstr=flink
Pakistaner sehen USA als Bedrohung
Islamabad (dpa/ND). Washington wird damit in der nicht repräsentativen Befragung von 500 Pakistanern durch die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) gefährlicher wahrgenommen als die Wirtschaftskrise, der Terrorismus oder der Erzfeind Indien. Auf die Frage nach der größten Bedrohung für Pakistan nennen 38 Prozent die USA, gefolgt von der Wirtschaftskrise (31 Prozent) und von Terroristen (22 Prozent). Nur noch neun Prozent halten die benachbarte Atommacht Indien für die größte Gefahr. KAS-Landeschef Babak Khalatbari nannte die Ergebnisse »überraschend«. N... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die USA stellen inzwischen nach einer Umfrage für mehr als ein Drittel der Pakistaner die größte Bedrohung der südasiatischen Atommacht dar.
Pakistan, Terror, Umfrage, USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/199258.pakistaner-sehen-usa-als-bedrohung.html
Sechs Tage soziales Zentrum
Dortmund. Ihre Demonstration in der Dortmunder Innenstadt, diesmal ging es gegen ein schwul-lesbisches Straßenfest, war mal wieder an Blockaden gescheitert. Gut dokumentiert ist, dass der einschlägig bekannte Nazi Peter G. mit einer Pfefferspray-Flasche herumfuchtelte und Journalisten (»Ihr Juden«) damit bedrohte. Erneut ein frustrierender Protesttag für die geschrumpfte, aber noch immer brutale Nazi-Szene der braunen Hochburg Dortmund. Also ließen sich die rund 100 Nazis am vergangenen Samstag per U-Bahn und unter Polizeischutz weiter karren zu einer frisch von libertären Linken besetzten ehemaligen Kirche in der Enscheder Straße. Vor Ort wurden sowohl Staatsmacht als auch die Nazis mit Steinen beworfen – vom Dach der Ex-Kirche der Albertus-Magnus-Gemeinde aus. Gestern, sechs Tage danach, räumten hundert Polizisten das seit Jahren säkularisierte und leerstehende Gebäude. Alle 40 anwesenden Besetzer wurden erkennungsdienstlich behandelt, zwei von ihnen, nach anderen Quellen lediglich eine Person, festgenommen. Der Vorwurf: versuchte Tötungsdelikte. Offenbar war der Behörde in den letzten Tagen spontan aufgefallen, dass einige der Steine in gefährlicher Nähe zu Menschen aufschlugen. Deswegen auch der plötzliche Verdacht auf ein Tötungsdelikt. Zudem wurde die Kirche »als Tatort« beschlagnahmt. Nun steht sie versiegelt und teils zugemauert in ihrem Problemviertel. Knapp eine Woche nach einem versuchten Mord oder Totschlag kehrt die Polizei an den Tatort zurück und sucht Tatverdächtige? »Im Vorfeld wurden andere Ermittlungsmaßnahmen getroffen«, begründete Staatsanwalt Henner Kruse, Pressesprecher der Dortmunder Staatsanwaltschaft, gegenüber »nd« vage die zeitliche Distanz. Auf Nachfrage räumte Kruse ein, dass die Täter vermummt gewesen seien. Aber anhand der Körpergröße oder »mit Hilfe des sichergestellten Vermummungsmaterials« könnten sich Anhaltspunkte ergeben. »Alles weitere müssen die Vernehmungen und die bei der Durchsuchung gesicherten Spuren ergeben.« Alle etwaigen Spuren jedoch dürften längst zerstört sein, und zwar doppelt und dreifach: Hunderte Menschen gingen in der besetzten Kirche ein und aus. Vielen Dank für die Solidarität und allerbeste Grüße nach Bremen ans #Sielwallhaus! #squatdo #enscheder15 pic.twitter.com/E8UJmIkM5O Die Piraten-Landtagsabgeordnete Birgit Rydlewski kritisierte, dass sie daran gehindert worden sei, die Räumung zu beobachten. Vielmehr sei der Parlamentarierin ein Platzverweis erteilt worden. »Dies ist ein Tatort nach einem versuchten Tötungsdelikt«, begründete ein Polizei-Sprecher dieses Vorgehen. Rydlewski bloggte derweil, sie habe gehört, wie Polizisten gesagt hätten, »die Olle« komme »hier nicht rein«. Gewalttaten seien als Protestform absolut inakzeptabel, verlautbarte Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange am Freitag. Seine Beamten hätten am Samstag vor der Kirche alle Beteiligten geschützt. Also nicht nur die Nazis, sondern auch die Besetzer. Doch einzelne Gewalttäter würden das demokratische Engagement der Dortmunder gegen Rechtsextremismus behindern. Unter Generalverdacht stellen wollte er die Besetzer allerdings ausdrücklich nicht. Doch trotz des Mangels an Generalverdächten steht die Ex-Kirche jetzt wieder leer, in der ein politisches und kulturelles Zentrum namens »Avanti« entstehen sollte. Aus Sicht der Besetzer war genau das das Ziel, der Gewaltvorwurf gilt ihnen als bloßer Vorwand der Räumung. Noch in diesem Jahr soll der Gebäudekomplex abgerissen werden. Am Donnerstag hatten die Nun-nicht-mehr-Besetzer noch zu einem Tag der Offenen Tür geladen. Es gab Essen aus einer improvisierten »Volksküche«, entspannte elektronische Musik und preisgünstige Getränke in und um den Gebäudekomplex der einstigen Kirchengemeinde. Für die Kleinen wurde eine blau-rote Hüpfburg im ehemaligen Pfarrheim aufgeblasen. Ein Büchertisch lud derweil zu Spontankäufen. Die angebotene Literatur war meist anarchistisch. Das hatte sie mit den Plakaten an den Wänden gemein. Bei aller Freiheits-Prosa waren aber nicht nur rassistische und frauenfeindliche Sprüche, sondern auch jegliches Fotografieren untersagt. Übel stieß manchen ein Plakat auf, das »Freiheit für Thomas Meyer-Falk« forderte und den wegen Banküberfall mit Geiselnahme seit Langem in Haft sitzenden, vorgeblich linken Skinhead glorifizierte. Die Blockaden der Nazi-Demonstration vom vergangenen Samstag werden wohl weitere juristische Nachspiele haben. Laut Polizei erlitten 13 Beamte Verätzungen, als »Linksautonome« mit einer »gelben Flüssigkeit« um sich sprühten. Ferner seien Gegenstände auf Polizisten geworfen worden. Ermittelt wird gegen ein gutes Dutzend Blockierer, insbesondere wegen teils gefährlicher Körperverletzung. Das bunte Anti-Nazi-Bündnis »BlockaDO« zeigte sich entsetzt über die »Kriminalisierung« der Proteste. »Unsere Blockade ist friedlich und in Kooperation mit der Polizei abgelaufen«, betont BlockaDO-Sprecherin Iris Bernert-Leushacke. Weder mit den Nazis noch mit der Polizei habe es Auseinandersetzungen gegeben. Was den angeblichen Angriff mit einer ätzenden Flüssigkeit betrifft, gebe es weder Bildmaterial noch habe BlockaDO Augenzeugen ausfindig machen können. »Wir gehen derzeit davon aus, dass es sich um eine Behauptung der Polizei handelt, die keinen realen Hintergrund hat«, warf Bernert-Leushacke der Polizei ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit vor. Auch eine Aktuelle Stunde im nordrhein-westfälischen Landtag ergab vorgestern in Sachen »Chemikalien-Attacke« nichts Handfestes. Nun wartet man in der Landeshauptstadt Düsseldorf und in Dortmund auf einen Bericht des Innenministeriums.
Marcus Meier
Als Nazis vergangenen Samstag vor das frisch besetzte Zentrum zogen, flogen Steine. Fast eine Woche später rückte deshalb nun die Polizei an – und räumte gleich das besetzte Gebäude.
Besetzung, Dortmund, Kirche, Polizeieinsatz, Rechtsterrorismus, Sozialarbeit
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/944087.sechs-tage-soziales-zentrum.html
Flicks »Baby Barça« auf Rekordjagd
Statt Spektakel Arbeitssieg: Nach drei Kantersiegen von 7:0, 4:1 und 5:1 musste sich der FC Barcelona am Mittwochabend mit dem Minimalergebnis begnügen: 1:0 gegen den Tabellenvorletzten Getafe im ersten Spiel ohne den deutschen Nationaltorwart Marc-André ter Stegen, der sich am vergangenen Sonntag beim 5:1 in Villarreal einen Patellasehnenriss zugezogen hat. Er fällt für den Rest der Saison aus. Der Torwart reiht sich damit als Achter in die lange Verletztenliste bei Barcelona ein, darunter sieben Nationalspieler und der 17-jährige Newcomer Marc Bernal, der in den ersten drei Spielen wegen der Personalnot ins kalte Wasser geworfen wurde und sich bei einem Tackling in den Schlussminuten bei Rayo Vallecano einen Kreuzbandriss zuzog. Der immer engere Fußballkalender mit Spielen alle drei Tage bei immer höherer Spielintensität trägt höchstwahrscheinlich zur Häufung schwerer Verletzungen bei nachlassender Konzentration und körperlicher Frische bei. Spaniens Europameister Rodri brachte einen Streik als Notwehrmaßnahme ins Gespräch – kurz bevor er sich am Wochenende selbst am Kreuzband verletzte und nun gezwungenermaßen seine Auszeit bekommt. Deutsche Akzente gibt es in dieser Saison bei Barça mehr als gewohnt. Zum Mannschaftskapitän ter Stegen gesellt sich das Trainerteam um Hansi Flick. İlkay Gündoğan musste den Verein hingegen nach einem Jahr schon wieder verlassen, weil der klamme Verein Budget für das Gehalt des einzigen Stareinkaufs Dani Olmo von RB Leipzig freischaufeln musste, damit er vorläufig wenigstens bis Ende Dezember eine Spielberechtigung erhalten konnte. Olmo gehört nach einem starken Einstand mit drei Toren in drei Spielen ebenfalls zu den Verletzten, fällt allerdings nur vier bis fünf Wochen aus und nicht mindestens sieben Monate wie voraussichtlich ter Stegen. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Flick kommt in Katalonien gut an, sein empathischer Umgang mit den Spielern und sein Fördern der jungen Spieler aus Überzeugung, wenn auch wegen der Verletztenmisere notgedrungen, haben dem Bammentaler in den ersten Monaten viele Sympathiepunkte eingebracht. Was nicht zuletzt an den 21 Punkten liegt, die bei Barcelona nach sieben Ligaspielen zu Buche stehen. Sieben Ligasiege zum Saisonauftakt schafften in der Vereinsgeschichte nur Ernesto Valverde 2017/18 und Gerardo Martino 2013/14, der sogar acht Erfolge aneinanderreihte. So illustre Trainer wie Pep Guardiola, Luis Enrique oder einst Johan Cruyff, Luis César Menotti oder Udo Lattek können da nicht mithalten. Rekordhalter Martino stand allerdings am Saisonende titellos da und musste nach einem Jahr wieder gehen. Flick will sich daran sicher kein Beispiel nehmen. Den Startrekord mit einem Sieg am Samstag bei Osasuna einstellen und die Woche darauf in Alavés übertreffen, dürfte Flick sicher anstreben, denn nach der darauffolgenden Länderspielpause kommen Ende Oktober die großen Bewährungsproben für sein Team: Am 23. Oktober in der Champions League zu Hause gegen Bayern München, wobei nach der 1:2 Auftaktniederlage in Monaco gepunktet werden muss und drei Tage später auswärts beim Erzrivalen Real Madrid, das derzeit als Zweiter vier Punkte hinter Barcelona liegt. Zu Saisonanfang standen in Flicks Stammelf drei 17-Jährige. Neben dem jetzt verletzten Marc Bernal im defensiven Mittelfeld die schon vergangene Saison zu Stammspielern gereiften Pau Cubarsí als Innenverteidiger und der während der Europameisterschaft zum Weltstar ausgerufene Lamine Yamal, der die EM in Deutschland als 16-Jähriger begann und als 17-jähriger Europameister einen Tag nach seinem Geburtstag beendete. Am Mittwoch gegen Getafe waren Cubarsí und Yamal auf dem Platz, dazu der 20-jährige Marc Casadó, der 20-jährige Alejandro Balde sowie der 21-jährige Pablo Torre, der auf der Position des verletzten Olmo im zentralen Mittelfeld randurfte. Erneut mit einer guten Leistung, auch wenn er sich nicht wie gegen Villarreal mit Tor und Vorlage in die Statistiken einschreiben konnte. Das Tor des Tages nach 19 Minuten konnte sich der Veteran zu Gute schreiben lassen, der 36-jährige polnische Mittelstürmer Robert Lewandowski, der nach einer vom Torwart nach vorne abgewehrten Flanke des starken Rechtsverteidigers Jules Koundé richtig stand und sein bereits siebtes Saisontor erzielte. Es war der Höhepunkt in einem recht chancenarmen Spiel, in dem Lamine Yamal mit spektakulären Finten und Dribblings für Raunen auf den mit 44.407 gefüllten Rängen des Olympiastadions Lluís Companys sorgte. Die Rückkehr ins Camp Nou, das gerade milliardenschwer umgebaut wird, soll im Dezember stattfinden – Verzögerung nicht ausgeschlossen. In Gefahr kam der knappe 1:0 Sieg nur kurz vor Schluss, als der freistehende Borja Majoral eine Eingabe nicht richtig traf und neben das Tor von Iñaki Peña setzte, der ter Stegen vertrat und einen ruhigen Abend verlebte, gefeiert durch Sprechchöre wie auch ter Stegen selbst. Ob Iñaki Peña dauerhaft ter Stegens Stellvertreter bleibt, ist offen. Mit dem vertragslosen polnischen Ex-Nationaltorwart Wojciech Szczesny ist sich der Verein bereits für ein Engagement bis zum Saisonende einig. Für Iñaki Peña gehen die Bewährungsproben somit weiter. Und auch für Hansi Flick, dessen »Baby Barça« bisher mit von Gegenpressing geprägtem Tempofußball durch die spanische Liga rauscht und mit 23 Toren nach sieben Spielen einen beachtlichen Wert aufweist. Doch die großen Gegner kommen noch.
Martin Ling, Barcelona
Beim von einer Verletzungsmisere gebeutelten FC Barcelona setzt der deutsche Trainer Hansi Flick notgedrungen auf den Nachwuchs. Nach sieben Siegen zum Liga-Start fehlt noch einer zur Einstellung des Vereinsrekords.
Spanien
Sport
Sport FC Barcelona
2024-09-26T11:58:22+0200
2024-09-26T11:58:22+0200
2024-10-28T16:30:21+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185553.fc-barcelona-flicks-baby-barca-auf-rekordjagd.html?sstr=bayern|münchen
Eintausend Seiten Weltliteratur in zehn Minuten
Die gebundene Ausgabe von Leo Tolstois »Krieg und Frieden« umfasst stolze 1645 Seiten, »Moby Dick« von Herman Melville ist 918 Seiten dick und Uwe Tellkamps »Der Turm« bringt es auf 976 Seiten. »Schweere Koost«, würde Vitali Klitschko wohl sagen. Doch die schönste Erfindung seit es bewegte Bilder gibt - das Internet - macht es Menschen wie dem ukrainischen Boxer einfacher, sich die Werke anzueignen. Der Theaterregisseur und Dramaturg Michael Sommer erklärt in seinem Youtube-Kanal »Sommers Weltliteratur to go« (youtube.com/user/mwstubes) anhand von Playmobilfiguren den Inhalt von Klassikern wie Georg Büchners »Leonce und Lena« (Bild) in kurzweiligen, kaum zehn Minuten langen Filmchen. Sommer ist mit seinen Filmchen so erfolgreich, dass der Reclam-Verlag seit Kurzem mit ihm zusammenarbeitet. Für Kulturpessimisten muss das ein Gräuel sein. Doch Sommer rechtfertigt sich mit einem einleuchtenden Argument. Würden wir noch im 19. Jahrhundert leben, abgeschnitten von der Welt, hätten wir vielleicht noch die Zeit, einen 1000-Seiten-Roman zu lesen. Heute fehle uns jedoch diese Zeit. Zeit haben wir heute vielleicht nicht mehr, aber möglicherweise noch die Muse. Aber, sei’s drum. Im Grunde hat Michael Sommer recht. Im Zeitalter des Films und des Internet braucht man keine Bilder mehr, die beim Lesen im Kopf entstehen. Wie ein Pottwal aussieht, weiß heute jedes Kind, das einmal eine Natur-Doku auf N24 gesehen hat, da muss es sich nicht durch die seitenlangen, detaillierten Beschreibungen in »Moby Dick« quälen. Dafür generiert die Netzkultur ein ganz neues Genre der Literatur: das der Ultrakurzgeschichte. Ein mir gut bekannter junger Mann hat in der Grundschule in einer Hausaufgabe einen Klassiker der Weltliteratur einmal mit folgenden Sätzen zusammengefasst: »Zauberer geht aus dem Haus. Lehrling will zaubern. Geht schief.« Damit ist das Wesentliche gesagt. Wer Muße hat, kann ja den »Zauberlehrling« lesen. jam Screenshot: www.youtube.com/user/mwstubes
Redaktion nd-aktuell.de
»Krieg und Frieden« ist zu lang zum Lesen? "Moby Dick" zu anstrengend? Wer dennoch nicht auf Weltliteratur verzichten möchte hat jetzt die Gelegenheit dazu. Bei »Sommers Weltliteratur to go« wird mit Playmobil erzählt.
Literatur
Feuilleton
Kultur
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Das Bildungswesen ist eine Katastrophe
»Wir müssen uns natürlich vorbereiten, zum Beispiel auf eine Situation von Lehrermangel. Das, glaube ich, haben viele noch nicht vorhergesehen.« Das sagte Kanzler Olaf Scholz (SPD) kürzlich bei einem Bürgergespräch in seinem Bundestagswahlkreis in Potsdam. Norman Heise vom Berliner Landeselternausschuss muss das am Dienstag nur zitieren und hat einen großen Lacherfolg. Bei einem Termin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) weiß jeder, der am Tisch sitzt, dass ein dramatischer Lehrermangel nicht erst in Zukunft droht, sondern bereits Realität ist. Wer das nicht weiß, hat in den zurückliegenden Jahren keine Zeitung gelesen. Und die Frau von Olaf Scholz ist die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst (SPD). »Ich frage mich, worüber die am Abendbrottisch reden«, sagt Heise. Er erinnert an die berühmte »Ruck-Rede«, die Bundespräsident Roman Herzog 1997 hielt: Bildung müsse Priorität haben. Es gebe kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Daran hat sich Jahrzehnte später nichts geändert. Philipp Dehne erzählt: »Wenn ich mit Lehrern spreche, sagen die: ›Bildungskrise? Das ist eine Katastrophe!‹« Dehne hat früher selbst unterrichtet. Jetzt engagiert er sich im Bündnis »Schule muss anders«. 3000 junge Lehrer bräuchte die Hauptstadt heute Jahr für Jahr. Es kämen jedoch gerade einmal 1000 Absolventen von den Universitäten. An Bewerbern mangele es gar nicht mal. Knapp 3000 Bewerbungen für Lehramtsstudienplätze seien zuletzt von den Berliner Hochschulen abgelehnt worden, darunter 1400 für Sonderpädagogik, berichtet Dehne. Dabei würden Sonderpädagogen händeringend gesucht. »Das kann man niemandem erklären.« Bei den laufenden Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD über die Bildung des künftigen Berliner Senats trifft sich an diesem Mittwoch wieder die Dachgruppe, die den Ergebnissen aus den 13 Facharbeitsgruppen ihren Segen geben muss. Diesen Mittwoch geht es darum, für den Koalitionsvertrag die Passagen zur Bildungspolitik festzuklopfen. Aus diesem Anlass ist ab 13.30 Uhr vor dem Abgeordnetenhaus eine Mahnwache der Gewerkschaft und ihrer Verbündeten geplant. Durchgesickert ist bisher so gut wie nichts, sieht man einmal davon ab, dass sich die Bildungspolitiker von CDU und SPD prächtig miteinander verstanden haben sollen. Aber das ist keine Überraschung. Insgesamt sind die laufenden Koalitionsverhandlungen von einer für solche Treffen eher untypischen Harmonie gekennzeichnet. »Wir hören gar nichts und sind sehr gespannt, was rauskommt«, sagt die GEW-Landesvorsitzende Martina Regulin. Die Gewerkschaft lässt am Dienstag an ihrem Sitz in der Ahornstraße 5 schon einmal hören, was sie sich unbedingt wünschen würde. Sie hat dazu auch Vertreter von Bündnissen und Arbeitsgemeinschaften eingeladen, die ihrerseits sagen, woran das Berliner Bildungswesen krankt und wie es vielleicht kuriert werden könnte. Die Bildungsungerechtigkeit sei ein Armutszeugnis, findet GEW-Landeschefin Regulin. »Diese Krise betrifft alle Bereiche – von der Kita bis zur Hochschule.« Es brauche vor allem auch finanzielle Ressourcen. »Ja, das ist ein großes Paket. Aber es ist notwendig«, betont Regulin. »Wir erwarten konkrete, realistische und finanziell unterlegte Lösungen.« Die Universitäten könnten allerdings nicht mit zehn Millionen Euro und auch nicht mit 17 Millionen auf die Schnelle die ersehnten 3000 Lehrer jährlich produzieren, verrät Constanze Baum von der Landesvertretung Akademischer Mittelbau. Die Hörsäle seien im Moment überfüllt und vielleicht komme einmal jemand von der Universität vorbei, wenn die Lehrerstudenten ein Schulpraktikum absolvierten, aber nur vielleicht. Baum vergleicht das System mit einem Karussell, das defekt sei, für das es keine Ersatzteile gebe und das sich dennoch immer schneller drehen solle. Die Bildungsmisere habe auch die Hochschulen erreicht. Einigen Studenten fehlten eigentlich die Grundfertigkeiten, um an einer Hochschule zu bestehen. Baum weiß, wovon sie redet. Denn als Literaturwissenschaftlerin bildet sie an der Humboldt-Universität Pädagogen aus. »Wir haben Leute, die können Groß- und Kleinschreibung nicht, die wollen Deutschlehrer werden.« Die Probleme fangen bereits in den Kitas an. Die sollen frühkindliche Bildungsstätten sein. Das funktioniert aber nicht, wenn die Gruppen zu groß sind. Bei den ab drei Jahre alten Kita-Kindern sieht es gar nicht mal so übel aus. Auf 8,3 von ihnen kommt in Berlin statistisch eine Erzieherin. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt 7,5. Doch bei den unter Dreijährigen muss sich eine Erzieherin um 5,2 Kleinkinder kümmern. Drei Kinder sollten es laut Bertelsmann-Stiftung nur sein, erinnert am Dienstag Sonya Mayoufi vom Kita-Bündnis. Diesem Bündnis haben sich Eltern, Gewerkschafter und Wissenschaftler angeschlossen. Besonders die benachteiligten Kinder brauchen Mayoufi zufolge »mehr persönliche Zuwendung und Zeit«. Gemeint sind Kinder, die in sehr armen Familien leben oder in einem Elternhaus, in dem nicht Deutsch gesprochen wird. Dabei muss man noch froh sein, wenn solche Kinder überhaupt eine Kita besuchen und dort wenigstens ein bisschen gefördert werden. In den Schulhorten ein ähnliches Spiel: Wie Elvira Kriebel vom 2016 gegründeten Bündnis Ganztagsschulen sagt, sollte eine Horterzieherin für 15 Grundschüler da sein. Tatsächlich muss sie aber 22 Kinder beaufsichtigen. Wenn Kolleginnen erkranken, könnten es auch 40 Kinder sein. Auch in der Jugendhilfe sieht es schlimm aus. Eine Fachkraft sollte sich um maximal 28 Fälle gleichzeitig kümmern, andere Sozialarbeiter berichteten ihm aber, dass sie aktuell 70 Familien betreuten, sagt Kollege Fabian Schmidt von der Arbeitsgemeinschaft »Weiße Fahnen«, in der sich Sozialarbeiter zusammengeschlossen haben. Schmidt warnt: »Jegliche Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe kosten die Gesellschaft später doppelt und dreifach.« Da nun aber mehr Erzieher und Lehrer nicht von heute auf morgen zu beschaffen sind, hat Philipp Dehne von »Schule muss anders« eine Idee für eine pragmatische Übergangslösung. Er sagt: »Es kann nicht funktionieren, dass bei 93 Prozent Ausstattung der Schulen noch 100 Prozent der Stundentafel abgedeckt werden sollen.« Er ist überzeugt: »Das erzeugt nur Stress.« Der vermittelte Lehrstoff müsse doch aber bei den Schülern ankommen. Deswegen denkt Dehne: »Weniger ist mehr.«Seite 9
Andreas Fritsche
An diesem Mittwoch wollen sich CDU und SPD im Berliner Abgeordnetenhaus über die künftige Bildungspolitik einigen. Deutliche Verbesserungen sind dringend notwendig. Aber sie müssen auch finanziert werden.
Berlin, Bildungspolitik, Familienpolitik, Hochschulpolitik, Kindertagesstätte, SPD
Hauptstadtregion
Berlin Bildung
2023-03-28T18:12:20+0200
2023-03-28T18:12:20+0200
2023-03-28T18:13:35+0200
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Prügelchaos am Bau
Wer eine Reise tut, kann was erzählen. Wer ein Haus bauen will, offenbar auch. Besonders, wenn er sich mit anderen zusammentut und in die Finanzierung teilen will. Bei Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf. Erst recht, wenn die Teilhaber gar keine Freunde sind. Und es vielleicht auch nie werden. Lutz Hübner, Autor dezidiert heutiger Themen, hat darüber zusammen mit Sarah Nemitz ein Stück geschrieben, das nach der Uraufführung letztes Jahr in Bochum ans Renaissance-Theater übergesiedelt ist. »Richtfest« setzt dort ein, wo Hübners »Blütenträume«, auch sie 2010 hier aufgeführt, enden: Wollten die lebenslustigen Senioren damals in Kommune leben, möchte die Mannschaft von »Richtfest« diesen Traum jetzt wahr machen. Anfangs scheint er greifbar nah. Mit einem Video lässt Torsten Fischer, bereits Regisseur auch der »Blütenträume«, den Abend beginnen. Da sind alle in gehobener Stimmung, wie sie unter ihren Bauhelmen zur Entwurfsvo... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Volkmar Draeger
Im Renaissance-Theater wird das »Richtfest« zum Gerichtstag
Renaissancetheater, Theater
Hauptstadtregion
Brandenburg
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Eine Poliklinik für Veddel
Für Ibrahim war es die Rettung. Mit seinem schmerzenden Auge konnte er als Geflüchteter ohne Papiere unmöglich zu einem »normalen« Arzt in Hamburg gehen. Über Freunde hatte der 28-Jährige jedoch von der Poliklinik auf der Veddel gehört. Er fuhr hin und ihm konnte schnell geholfen werden. »Es war zum Glück nichts Schlimmes und ich brauchte nur eine Salbe«, erzählt der junge Mann, der vor acht Jahren aus Gambia nach Hamburg kam. Er gehört zu den rund zehn Prozent der Patienten, die in der Poliklinik behandelt werden, obwohl sie keine Papiere oder keine Krankenversicherung haben. Moment mal. Eine Poliklinik? Sind diese Ärztehäuser nicht mit dem Ende der DDR verschwunden? In der Tat überdauerte der Ansatz der Polikliniken die Wende nicht lange. Die dort flächendeckende ganzheitliche ambulante medizinische Betreuung unter einem Dach war wie viele andere Konzepte aus dem der Bundesrepublik beigetretenen Staat jahrzehntelang kaum irgendwo im Westen eine Überlegung wert. Einzelne niedergelassene und frei praktizierende Ärzt*innen prägen bis heute die medizinische Landschaft in Deutschland. Vom Hausarzt erhält man die Überweisung zur Fachärztin, ohne dass diese beiden sich groß miteinander austauschen. An diesen Zustand hat man sich über die Jahrzehnte gewöhnt. In jedem Fall ist wenig Zeit für die Patienten. »Wir wollten eine konkrete Alternative zu den derzeitigen ambulanten Versorgungsstrukturen entwickeln und gesellschaftliche Bedingungen von Gesundheit stärker in den Fokus rücken«, erzählt Anh-Thy Nguyen, eine der Mitbegründerinnen der Poliklinik. Auf der Veddel ist der reiche Hamburger Pfeffersack, sind die noblen Elbvororte und die glitzernden Fassaden der Hafencity gefühlte Lichtjahre entfernt. Zwischen Bahntrassen, Hafenbecken und der B75 breitet sich der traditionelle Arbeiterstadtteil rund um einen Fußballplatz aus. Obwohl man vom Hauptbahnhof nach nur drei Stationen und sieben Minuten Fahrt mit der S-Bahn da ist, landet man auf der Veddel in einem anderen Hamburg. Einem sichtbar ärmeren, raueren, aber auch bunteren Teil der Stadt. Deutsch wird hier auf den Straßen selten gesprochen. Wenn man sich mit den Betreibern der Poliklinik und den Patienten unterhält, wird schnell deutlich, dass der oft verwendete Begriff »sozialer Brennpunkt« trotzdem überhaupt nicht passt. »Wir sehen die Veddel nicht als Problemviertel. Viele Menschen fühlen sich hier abgehängt und wenig gesehen. Und das muss man ändern«, fordert Nguyen. Die 36-Jährige arbeitet im Bereich Konzeption und Organisation der Poliklinik mit. Die Gynäkologin ist so etwas wie eine Aktivistin der ersten Stunde. Bereits während des Studiums trieb sie der Gedanke um, wie eine solidarische Gesundheitsversorgung aussehen könnte. Auf einem Kongress des Medibüros Hamburg - ein Praxisangebot für Menschen ohne Papiere - entstand 2013 die erste Idee für das Stadtteilgesundheitszentrum. Eine Gruppe von Aktiven, die die Idee gemeinsam umsetzen wollten, reiste im Anschluss an den Kongress beinahe quer durch die Republik: vom ehemaligen »klassenlosen Krankenhaus« in Frankfurt am Main über die Gruppenpraxis am Hasenbergl in München bis hin zum Berliner Gesundheitszentrum Gropiusstadt besuchten die Initiatoren bestehende und ehemalige Projekte, die sich der herrschenden Marktlogik in der Medizin entziehen wollten. Der Plan, ein eigenes solidarisches Gesundheitszentrum zu gründen, nahm immer konkretere Formen an. Standorte wurden gesucht. Die Stadtteile Horn und Billstedt waren im Gespräch, es fanden sich aber keine passenden Räumlichkeiten. Den Initiator*innen war von Anfang an klar, dass die Poliklinik in einem Gebiet entstehen sollte, in dem viele arme Menschen und Migranten leben. »Es machte wenig Sinn, die Arztdichte im tendenziell wohlhabenden Eimsbüttel noch zu erhöhen und dort zu konkurrieren, während es auf der Veddel nur eine Hausärztin und keine Apotheke gab«, sagt Nguyen, die gerade ihre Facharztausbildung absolviert. Im Jahr 2017 war es dann so weit. Das Gesundheitszentrum bezog seinen ersten Standort im Zollhafen. Im ehemaligen Pferdestall der kasernierten Hamburger Ordnungspolizei entstanden die ersten Praxisräume. Ein Jahr darauf trat die einzige Hausärztin auf der Veddel an die Poliklinik heran. Altersbedingt wollte sie ihre Praxis aufgeben. Die Gründer*innen der Poliklinik überlegten nicht lange und übernahmen die Praxis kurzerhand. Jüngst kam dann noch ein dritter Standort hinzu, an dem die psychologische Beratung stattfindet und eine Hebamme Schwangere empfängt. Alle drei Standorte erreicht man durch einen kurzen Fußmarsch - die Veddel ist nicht groß. Mittlerweile arbeiten 25 Menschen unterschiedlichster Professionen in der Poliklinik: Ärzt*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, einer Soziologin und eine Hebamme. Und dann gibt es noch zwei »CHN«. Das Kürzel steht für »Community Health Nurse«. Hinter dem sperrigen englischen Begriff verbirgt sich nichts anderes als die Gemeindeschwester. Gab es die nicht auch schon mal irgendwo? Ja, auch in der DDR versorgten ausgebildete Pflegekräfte Patient*innen, indem sie sie auch zu Hause häufig aufsuchten, vor allem im ländlichen Raum, aber auch in städtischen Wohnbezirken. Sie waren Ansprechpartnerinnen für die kleinen und großen Belange. Sie bezogen die zuständigen Hausärzte meist nur bei schwereren Erkrankungen ein. Begleitet durch ein Forschungsprojekt der Hochschule für Angewandte Wissenschaften wird der Einsatz der CHN gerade evaluiert. Auf der Veddel sind diese jedoch keine ausgebildeten Pflegekräfte mehr, sondern studierte Pflegewissenschaftlerinnen. Für zwei Jahre sind die Stellen zunächst über das Projekt gesichert. Danach würden es die Initiatoren der Poliklinik begrüßen, wenn die Arbeit der CHN eine regelhafte Leistung für ein Stadtteilgesundheitszentrum wäre. Denn sie leisten einen Großteil der aufsuchenden Arbeit: Sie machen Hausbesuche, besprechen mit den Patient*innen ihre Sorgen und Nöte und stellen sicher, dass gesellschaftliche Faktoren von Krankheit nicht übersehen werden. Die Veddel hat nämlich bei allem Charme auch ein massives Problem mit marodem Wohnungsbestand. »Im zurückliegenden Jahr war ich stark damit beschäftigt, zusammen mit den Nachbarinnen das Schimmelproblem vieler Wohnungen anzugehen. Darüber hinaus konnten wir den Abriss eines Hauses verhindern, in dem viele Menschen zu günstigen Mieten wohnen können«, erzählt Tina Röthig, die für den Bereich Gemeinwesenarbeit im Projekt zuständig ist. Der Arbeit von Röthig merkt man deutlich den Ansatz des Stadtteilgesundheitszentrums an. Die Menschen, die hier arbeiten, glauben nicht, dass nur Mediziner*innen für die Gesundheitsversorgung der Bewohner zuständig sein sollten. Hier ist man der Meinung, dass auch das Konzept »Patienten helfen Patienten« von Bedeutung ist. An allen Ecken und Enden wird multiprofessionell gedacht und auf den regelmäßigen Plena kollektiv entschieden, wie sich das Projekt weiterentwickelt. Und wieder so ein Begriff, der wirkt, wie aus der Zeit gefallen: Kollektiv. Doch alle Beteiligten finden den Kollektivgedanken wichtig, finden ihn zeitgemäß und gar nicht verstaubt. Künftig ist auch geplant, dass es eine Angleichung bei den Löhnen geben soll, um die Hierarchien auch auf finanzieller Ebene flacher zu gestalten. »Es wird dann jedoch aller Voraussicht nach am schwierigsten, Ärzte zu gewinnen«, räumt Nguyen ein. Denn sie würden im Vergleich zu einer Tätigkeit in einem Krankenhaus oder einer Praxis auf den größten Anteil ihres Lohnes verzichten müssen. Doch noch ist dieser Gedanke Zukunftsmusik. Wirkt so viel politischer Anspruch nicht zu ambitioniert? Und ist die Poliklinik damit nicht so etwas wie ein Raumschiff, das auf der Veddel gelandet ist? Tatsächlich wohnt niemand aus dem Team der Poliklinik selbst hier. »Zu Beginn kamen wir schon von außen. Aber mittlerweile wachsen wir mehr und mehr in den Stadtteil hinein«, sagt Tina Röthig. Vertrauen ist entstanden - und es wird nicht mehr nur allein auf den Arzt gehört. Das Konzept, dass Patient*innen und Behandelnde auf Augenhöhe miteinander sprechen, kommt gut an. Zu explizit politischen Veranstaltungen kamen in den letzten Jahren hingegen nur wenige Anwohner*innen. Ganz anders als zu den Impfangeboten, die die Poliklinik auf die Beine gestellt hat. »Von Mai bis September haben wir im letzten Jahr in den Räumen der AWO ein Impfzentrum betrieben. Das ist jetzt in die Poliklinik umgezogen«, erzählt Tobias Filmar, der als Koordinator für multiprofessionelle Zusammenarbeit bei der Poliklinik arbeitet. Als Psychologe und ausgebildeter systemischer Berater bietet er auch Beratungen am Standort in der Veddeler Brückenstraße an. »Insgesamt arbeiten vier Psychologen und Sozialpädagogen bei uns, die alle als systemische Berater weitergebildet sind«, erklärt Filmar. Das Impfangebot wird nach wie vor gut angenommen. Den ganzen Mittwoch über stehen Menschen an, die auf ihre Erst-, Zweit- oder Boosterimpfung warten. So wie Melek. Die 37-Jährige wartet zusammen mit ihrer Tochter Sara in der Praxis am Zollhafen auf ihre Impfung. »Ich bekomme heute meine zweite Impfung, während meine Mutter geboostert wird«, erzählt die 16-jährige Sara. Die beiden sind begeistert, dass es die Poliklinik bei ihnen im Stadtteil gibt. Noch haben sie eine andere Hausärztin weiter weg, können sich aber perspektivisch einen Wechsel auf die Veddel vorstellen. Nina, die ihren wirklichen Namen nicht in der Zeitung sehen möchte, kommt ebenfalls zum Impfen vorbei. Sie ist während des Studiums auf die Veddel gezogen und danach als einige der wenigen geblieben. Zu Beginn fühlte sie sich beinahe als die »einzige Deutsche« im Stadtteil - mittlerweile lebt sie mittendrin und denkt schon längst nicht mehr in Kategorien wie »deutsch« und »nicht deutsch«. Dann schon eher »wir Veddeler« - ein Dorf mit seinen rund 4300 Einwohnern, die sich immer etwas allein am Rande und mitunter vergessen fühlen. Die AfD bekam hier trotzdem oder gerade deshalb bislang bei Wahlen immer weniger als fünf Prozent der Stimmen. Die Poliklinik ist nicht allein: Sie ist seit ihrer Gründung Teil des Poliklinik Syndikat. In Berlin, Leipzig, Köln und Dresden gibt es ähnliche Projekte, die sich darin zusammengeschlossen haben. Einige Projekte laufen bereits, andere sind noch im Planungsstatus. Allen gemeinsam ist neben einem schier unbändigen Idealismus die noch recht wackelige Finanzierung. Denn trotz aller Ansprüche sind auch die Polikliniken gezwungenermaßen Teil des durchökonomisierten Gesundheitssektors. »Wir bekommen im Augenblick neben den bei den Krankenkassen abgerechneten Leistungen Gelder aus Töpfen von Stiftungen und weiteren Drittmitteln«, erklärt Filmar. Da bleibt es nicht aus, dass sich alle Beteiligten auch ein Stück weit selbst ausbeuten. Denn die allermeisten, die in die Poliklinik kommen, sind Kassenpatiente*innen - neben den erwähnten rund zehn Prozent, die über gar keine Krankenversicherung verfügen. Wegen des deutschen Gesundheitssystems droht hier eine Schieflage, weil eben Privatpatient*innen fehlen, die zur »Querfinanzierung« von Praxen gebraucht werden. Die findet man auf der Veddel so gut wie gar nicht. So bleibt unterm Strich nur die Hoffnung, dass auch die Stadt Hamburg erkennt, welche Vorteile ein Gesundheitszentrum hat, in dem nicht nur durch die Medizinerbrille auf Krankheit und Gesundheit geschaut wird. Ein bisschen Bewegung ist schon erkennbar: Der rot-grüne Senat setzt eigentlich seit Jahren auf interdisziplinäre Gesundheitszentren für benachteiligte Stadtteile. Doch bislang ist keines dieser Zentren realisiert worden. Es finden sich einfach keine Haus- und Kinderärzt*innen, die in ein solches Projekt einsteigen möchten. Gegenwind bekommt der Senat auch von der Hamburger Kassenärztlichen Vereinigung. Deren Chef Walter Plassmann betonte bereits, die KV werde die Pläne des Senats nicht unterstützen. So bleibt die Poliklinik wohl vorerst allein auf weiter Flur.
Guido Sprügel
Die Gründer eines Hamburger Stadtteilgesundheitszentrums haben ein aus der DDR bekanntes Konzept wieder zum Leben erweckt. Sie stellen dort zusammen mit den Bewohnern eine solidarische Gesundheitsversorgung auf die Beine.
Gesundheitspolitik, Hamburg, Impfung, Medizin
Politik & Ökonomie
Politik Menschen ohne Papiere
2022-02-08T18:03:35+0100
2022-02-08T18:03:35+0100
2023-01-20T19:20:58+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161151.menschen-ohne-papiere-eine-poliklinik-fuer-veddel.html?sstr=Poliklinik
Altmaier lässt Gorleben-Erkundung stoppen
Wegen einer Klage von Anwohnern und Umweltgruppen sind die Erkundungsarbeiten in Gorleben seit rund drei Wochen unterbrochen. Am Freitag setzte die Bundesregierung die Untersuchung des Salzstockes auch offiziell aus. Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) verkündete einen Baustopp bis nach der Bundestagswahl 2013. Zugleich zeigte er sich zuversichtlich, dass Bund und Länder sich bald über das Endlagersuchgesetz einigen werden. Grüne und Atomkraftgegner begrüßten die Maßnahme, bezeichneten sie aber als nicht ausreichend. »Wenn diesem Schritt weitere folgen, hat der Neustart bei der Endlagersuche eine Chance, auf Akzeptanz zu stoßen«, sagte die atompolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Silvia Kotting-Uhl. Dass Altmaier die Erkundungsarbeiten nur bis nach der Wahl aussetzen wolle, sei »sehr befremdlich«, sagte der Fraktionschef der niedersächsischen Grünen, Stefan Wenzel, der Nachrichtenagentur dapd. Die brisante Frage der Endlagerung eigne sich nicht für Wahlkampfzwecke. Die Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg bezeichnete Altmaier als »initiativ- und ideenlos«. Er könnte das Gorleben-Projekt als Herr des Verfahrens ganz stoppen, um den Weg frei zu machen für eine Neubewertung der Risiken, die die Atommülllagerung berge, sagte BI-Sprecher Wolfgang Ehmke. Es sei nun Aufgabe von Zivilgesellschaft, Umweltverbänden und Anti-AKW-Initiativen, die überfällige Debatte zu starten. »Die Parteien sitzen das Thema von Wahl- zu Wahltermin konsensual aus; das zeigt, dass sie die falschen Akteure sind«, fügte Ehmke hinzu. Im November 2011 hatten sich Bund und Länder auf einen Neustart bei der Endlagersuche verständigt. Seitdem wird um die Details gerungen. Ein Streitpunkt ist, ob Gorleben Teil der Standortsuche bleiben soll. Atomkraftgegner verweisen auf geologische Mängel wie etwa das Vorkommen von Erdgas im Salzstock. Außerdem halten sie den Standort für »politisch verbrannt«. Intern hatten sich Altmaier, SPD-Chef Sigmar Gabriel und der Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Jürgen Trittin, aber darauf verständigt, dass Gorleben im Pool der zu prüfenden Standorte bleibt. Die Grünen votierten auf dem Parteitag dafür. Zuletzt hatte sich Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) gegen Gorleben ausgesprochen. Das Land sei für eine rückholbare Endlagerung, sagte er. Deswegen kämen Salzstöcke nicht mehr in Betracht. Gorleben wird seit 1979 auf seine Eignung als Atommülllager erkundet.
Reimar Paul
Die Bundesregierung hat ein Erkundungsmoratorium für den als Atommüllendlager geplanten Salzstock Gorleben beschlossen.
Atommüll, Endlager, Gorleben, Peter Altmaier
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/806059.altmaier-laesst-gorleben-erkundung-stoppen.html
Wikileaks-Informantin Chelsea Manning kommt frei
Washington. Die Wikileaks-Informantin Chelsea Manning wird nach Angaben ihres Rechtshilfeverbands American Civil Liberties Union (ACLU) am Mittwoch aus der Haft entlassen. Im Jahr 2013 war die 29-Jährige - damals noch unter dem Namen Bradley Manning - wegen der unauthorisierten Weitergabe von Hunderttausenden Geheimdokumenten an die Internetplattform Wikileaks zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der ehemalige Präsident Barack Obama reduzierte die Strafe – kurz bevor er aus dem Amt schied. Sie habe in Haft von Freiheit geträumt, sich jedoch »nicht erlaubt, sich diese Freiheit völlig vorzustellen«, erklärte die US-Amerikanerin einige Tage vor der Entlassung. Nun sehe sie »zum ersten Mal eine Zukunft für sich selber als Chelsea«. Manning hatte als IT-Spezialist der US-Armee 2010 Zugang zu geheimen und vertraulichen Daten über das Gefangenenlager Guantanamo und über die Angriffskriege in Afghanistan und Irak und mehr als 200.000 diplomatische Depeschen heruntergeladen. Es waren das größten Leak der US-Geschichte. Damit habe er eine öffentliche Diskussion anstoßen wollen, begründete Manning während des Verfahrens. Für besonderes Aufsehen sorgte ein Video von zwei US-Hubschrauberangriffen in Bagdad 2007, bei dem zwölf Zivilisten erschossen wurden, darunter zwei Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters. Die Anklage beim Militärprozess betonte, bei der Weitergabe der Dokumente an Wikileaks habe Manning gewusst, »dass sie dort dem Feind zugänglich« sein würden. Manning verbüßte einen Großteil ihrer Haft im Militärgefängnis Fort Leavenworth in Kansas. Auf Empörung waren ihre Untersuchungshaftbedingungen gestoßen. Der Folterbeauftragte der UN, Juan Mendez, klassizierte diese 2012 als »grausam, inhuman und entwürdigend«. Während ihrer Haftzeit unternahm sie zwei Suizidversuche. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Sieben Jahre saß Chelsea Manning im Gefängnis; am Mittwoch wird die US-Amerikanerin entlassen. Das hat sich auch dem Ex-Präsidenten Obama zu verdanken. Denn eigentlich war sie zu 35 Jahren Haft veruteilt.
Geheimdienste, USA, Whistleblower
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1050901.wikileaks-informantin-chelsea-manning-kommt-frei.html
Alles für einen
Ohne zu spielen, bestimmt Nikola Karabatic die WM-Schlagzeilen. Er ist ein Phänomen im Handball. Beim Duell Frankreichs gegen Deutschland spielt aber auch die Vergangenheit eine große Rolle. Von Michael Wilkening Es ist immer wieder erstaunlich, wie Nikola Karabatic den Rest der Handballwelt zu überstrahlen vermag. Der 34-jährige Franzose ist der beste Spieler der Gegenwart - viele meinen gar der Geschichte. In jedem Fall ist er größer als die eigene Nationalmannschaft. Seit er angekündigt hat, vielleicht doch bei der Weltmeisterschaft in Deutschland und Dänemark mitmachen zu können, ist das Team des Topfavoriten auf die Goldmedaille in den Hintergrund gerückt (worden). Vor dem Duell der Deutschen gegen den Titelverteidiger an diesem Dienstagabend geht es (fast) nur noch darum, ob der dreimalige Welthandballer auch schon gegen den Gastgeber auf dem Feld stehen wird. Die Franzosen haben 2009, 2011, 2015 und 2017 die Weltmeisterschaft gewon... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Michael Wilkening
Frankreichs Handballer sind Favorit, die Aufmerksamkeit gilt bei der Weltmeisterschaft aber nur Nikola Karabatic
Frankreich, Handball
Sport
Sport
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1109920.alles-fuer-einen.html
Aufklärung vor Operation
In jeder größeren Stadt bieten Laserzentren heute eine Korrektur von Kurz- oder Weitsichtigkeit an. Auch Hornhautverkrümmungen lassen sich so beheben. Die Behandlung dauert weniger als eine halbe Stunde. Die meisten Patienten können noch am selben Tag wieder ohne Brille scharf sehen. Dennoch sei die Laserbehandlung kein Verfahren, dem man sich »eben mal schnell unterziehen könne«, sagt Professor Dr. med. Thomas Kohnen vor dem 10... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Seit mehr als 25 Jahren können Augenärzte Fehlsichtigkeiten mit einem Laser korrigieren. Trotz aller Erfahrung handelt es sich dabei um einen operativen Eingriff, der auch Risiken birgt. Patienten sollten sich deshalb in Zentren behandeln lassen, die eine geprüfte Qualität bei der Diagnostik und Behandlung nachweisen können.
Informationen, Operation
Gesund leben
https://www.nd-aktuell.de//artikel/207620.aufklaerung-vor-operation.html
Betrug am Bau
Es hätte ein wegweisendes Urteil werden können, doch die Richter vom Bundesarbeitsgericht wollten lieber keine ausgetretenen Pfade verlassen. Stattdessen urteilten sie am Mittwoch, dass zwei Arbeiter, die vor fünf Jahren auf der Baustelle der Mall of Berlin um ihren Lohn geprellt worden waren, diesen nicht vom Investor des riesigen Shoppingcenters in der Hauptstadt einfordern können. Verloren waren die vergangenen fünf Jahre aber nicht, in denen die Arbeiter - anfangs noch 30, dann sieben, zuletzt nur noch zwei - gemeinsam mit der Basisgewerkschaft FAU um ihren Lohn gekämpft hatten. Das stellte Tinet Ergazina klar, die den Fall der »Mall of Shame« seitens der FAU von Anfang an begleitet hatte. Der langanhaltende Protest habe andere von Lohnausbeutung Betroffene ermutigt, sich zu wehren. Dass Bauarbeiter nicht bezahlt werden, zu wenig Geld bekommen oder in illegalisierte Arbeitsverhältnisse gedrängt werden, ist ein gängiges Phänomen auf deutschen Baustellen. Oft trifft es Ausländer, die wegen mangelnder Sprach- und Rechtskenntnisse leichter auszubeuten sind. Ein kleiner Ausschnitt: 4047 Menschen wandten sich 2018 an die Beratungsstelle »Faire Mobilität« des DGB, die Arbeitnehmer aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten unterstützt. Nach der Transport- und Logistikbranche waren die meisten der Ratsuchenden (922) im Bausektor beschäftigt. Mit Abstand die größte Anzahl aller (3024) kam wegen ausbleibender oder zu geringer Löhne. Die neue EU-Arbeitsbehörde (ELA) ist am Mittwoch offiziell an den Start gegangen. Die ELA tritt als Vermittlerin bei Streitigkeiten zu Sozialabgaben oder der Entsendung von Arbeitnehmern in andere EU-Länder auf. Dafür hat sie ein Budget von jährlich rund 50 Millionen Euro und erhält 140 Mitarbeiter. Vorübergehender Sitz ist Brüssel, später zieht sie nach Bratislava (Slowakei) um. Der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC erklärte, bei der ELA bereits die Untersuchung von neun Fällen der Ausbeutung entsandter Arbeiter beantragt zu haben. In den meisten dieser Fälle geht es demnach um Arbeiter aus süd- und osteuropäischen Ländern, die von Zeitarbeits- und Briefkastenfirmen in anderen EU-Staaten nach Deutschland entsandt und nicht korrekt entlohnt worden waren. AFP/nd Die meisten Betroffenen wenden sich jedoch nicht an Beratungsstellen. Weil sie nicht wissen, dass diese existieren, nicht darauf vertrauen, tatsächlich Hilfe zu erhalten, oder weil sie längst zurück in ihr Heimatland gereist sind. Deshalb kann angenommen werden, dass Lohnbetrug noch weit häufiger vorkommt. Schließlich kommen pro Jahr rund 400 000 sogenannte entsandte Beschäftigte nach Deutschland, die bei Firmen im EU-Ausland angestellt sind. 200 000 von ihnen arbeiten auf dem Bau. Hinzu kommen etliche EU-Bürger, die direkt bei in Deutschland gemeldeten Firmen beschäftigt sind. Sie machen einen erheblichen Anteil der 890 000 Beschäftigten im sogenannten Bauhauptgewerbe aus, also jenen, die direkt auf der Baustelle zu tun haben. Es ist üblich und teils auch notwendig, auf großen Baustellen mit Subunternehmen zu arbeiten. Das war auch bei der Mall of Berlin der Fall. Die Gläubigerliste der Firma FCL, die Generalunternehmer der Mall of Berlin war, bevor sie kurz nach Fertigstellung Insolvenz anmeldete, gibt einen guten Überblick darüber, welche kleineren und größeren Firmen an einer Baustelle beteiligt sind: Gebäudereinigung, Security, Betonbohrungen, Brandschutzarbeiten, Entsorgung von Baustoffen, Hebetechnik, Garten- und Landschaftsbau und so weiter und so fort. Die Arbeiter der Mall of Berlin, die vor dem Bundesarbeitsgericht gegen die HGHI Leipziger Platz GmbH und Co. KG geklagt hatten, führten auf der Baustelle einfache Arbeiten aus: Sie schleppten Baumaterialien und räumten Schutt und Dreck weg. Doch Subunternehmerketten, bei denen jeder Nachunternehmer selbst einen weiteren Nachunternehmer beauftragt, machen es jedem einzelnen Unternehmen auch leichter, sich vor Verantwortung zu drücken. Der eine will gar nicht der Auftraggeber gewesen sein, der nächste meldet Insolvenz an, der dritte muss per Gesetz nicht haftbar gemacht werden. Und je mehr Firmen aus verschiedenen Ländern an einem Projekt beteiligt sind, desto mehr Möglichkeiten des Lohn- oder Steuerbetrugs tun sich auf. Eine Auswahl: Die wohl bekannteste Art des Sozialbetrugs ist die Scheinselbstständigkeit. Die rumänischen Bauarbeiter der Mall of Berlin sollten einen ordentlichen Arbeitsvertrag bekommen. Doch sie wurden jeden Tag auf »morgen« vertröstet. Parallel wurden sie aufgefordert, ein Gewerbe anzumelden - und als selbstständige Unternehmer auf der Baustelle zu arbeiten. Ein übliches Verfahren. In der Fleischindustrie ist die Beschäftigung von Arbeitern über Werkverträge üblich. Auch sie arbeiten damit praktisch selbstständig. Damit lassen sich Sozialabgaben umgehen. Ein Berater der »Fairen Mobilität« berichtet von einer Gruppe von Peruanern, die in ihrem Heimatland angeworben wurden, um auf einer deutschen Baustelle zu arbeiten. Sie erhielten einen polnischen Arbeitsvertrag und waren damit offiziell »entsandt«. Unternehmen zahlen dadurch lediglich den allgemeinen Mindestlohn, nicht aber den - höheren - Branchenmindestlohn. Noch dazu zahlen sie Sozialabgaben nicht in Deutschland, sondern in dem Land, in dem sie ihren Sitz haben. Dort sind sie meist geringer. Entsendungen sollen nur vorübergehend sein, in der Regel unter einem Jahr. Wenn sie länger dauern sollen, muss ein begründeter Antrag gestellt werden. Das soll verhindern, dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland arbeiten und wohnen, über eine Firma im Ausland angestellt werden, wodurch ihnen weniger Lohn zustünde. Doch häufig bekommen sie auf dem Papier eine neue Aufgabe zugeteilt, verrichten aber tatsächlich weiter die gleiche Arbeit. Der Branchenlohn der Bauwirtschaft sieht in Westdeutschland zwei verschiedene Mindestlöhne vor: einen für Facharbeiter (15,05 Euro) und einen für Bauhelfer (12,20 Euro). Um Lohn oder Sozialabgaben zu sparen, werden Facharbeiter auf dem Papier zu Bauhelfern gemacht. Die Differenz wird zum Teil bar ausgeglichen. Die Arbeiter der Mall of Berlin sind nicht die einzigen, die von ihren Arbeitgebern auf beengtem Raum - bis zu 16 Personen in drei Zimmern - untergebracht wurden. Die oft überteuerten Wohnkosten werden den Arbeitern vom Lohn abgezogen. Das gleiche gilt für Verpflegungskosten, obwohl selten tatsächlich Essen gestellt wird. Bauunternehmen können Mitglied im Zentralverband Deutsches Baugewerbe oder im Hauptverband der Deutschen Bauindustrie werden, müssen es aber nicht. Anhand von Daten der Berliner Soka Bau, der Sozialkasse der Bauwirtschaft, lässt sich aber deutlich erkennen, dass Betriebe mit Verbandszugehörigkeit in den meisten Fällen Sozialabgaben in voller Höhe zahlen - solche, die nicht verbandsgebunden sind, eher nicht. Schaut man sich dann noch Betriebe an, die die Soka Bau als »einwandfrei« einstuft (sogenannte Weißbuchbetriebe), erhärtet sich das Bild: In Nicht-Weißbuchbetrieben ohne Verbandszugehörigkeit sind etwa 40 Prozent der Arbeiter als Teilzeitkräfte gemeldet. In Weißbuchbetrieben sind es lediglich sechs Prozent. Aber sowohl die Soka als auch die Gewerkschaft IG BAU sind sich einig, dass in dieser Branche kaum jemand tatsächlich in Teilzeit arbeitet. »Im Grunde genommen«, sagt Antonius Allgaier von der IG BAU dem »nd«, »ist das ein deutlicher Hinweis auf massenhaften Betrug.« Ein Sprecher der Soka Bau wird konkreter: »Es liegt zumindest der Verdacht nahe, dass mit der Teilzeitmeldung Sozialkassenbeiträge hinterzogen werden sollen und die Unterschreitung von Mindestlöhnen und/oder Schwarzarbeit verschleiert wird.« Vor allem in der Fleischindustrie ist es üblich, den Lohn am 15. des Folgemonats auszuzahlen. Bis dahin ist ein Teil der Arbeiter bereits abgereist. Praktisch. Dass auf dem Bau getrickst wird, ist nichts Neues. Der Bundestag erließ 1996 erstmals das Arbeitnehmerentsendegesetz, um Beschäftigte aus dem Ausland besser zu schützen. Doch das Gesetz hat offensichtlich riesige Lücken. Während im Laufe der Zeit die ein oder andere gestopft wurde, hat die EU in diesem Jahr die Entsenderichtlinie reformiert. Diese soll gleichen Lohn für gleiche Arbeit in allen EU-Ländern garantieren. Die neue Richtlinie muss bis zum 30. Juli 2020 in nationale Gesetzgebung umgewandelt werden. Das Bundesarbeitsministerium hat dazu bereits Eckpunkte veröffentlicht und erarbeitet derzeit einen Gesetzentwurf. Der DGB hat seinerseits Forderungen aufgestellt, an welchen Stellen das Arbeitnehmerentsendegesetz nachgebessert werden müsste. Beschäftigte müssten sowohl mehr Rechte bekommen als auch bessere Werkzeuge, diese durchzusetzen. Beispielsweise müssten die durch die neue Richtlinie verbesserte Entlohnung sowie Unterkunfts-, Verpflegungs- und Reisekosten auch tatsächlich ausgezahlt werden. Geschieht das nicht, müssen alle Lohnbestandteile einklagbar sein. Das gilt auch für den Ausgleich von Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit. Zu diesem Zweck fordert der DGB außerdem ein wirksames Verbandsklagerecht. Wenn Firmen immer wieder mit kriminellem Handeln auffallen, müsse der DGB auch gerichtlich dagegen vorgehen können. Doch alle Regelungen nützen nichts, wenn Arbeitsorte nicht ausreichend kontrolliert werden. Der DGB fordert daher eine personelle Aufstockung der Abteilung »Finanzkontrolle Schwarzarbeit« des Zolls. Das ist im Eckpunktepapier des Bundesarbeitsministeriums auch vorgesehen. Die Skepsis bleibt, ob das ausreicht.
Johanna Treblin
Dass Bauarbeiter nicht bezahlt werden, zu wenig Geld bekommen oder in illegalisierte Arbeitsverhältnisse gedrängt werden, ist ein gängiges Phänomen auf deutschen Baustellen. Oft trifft es Ausländer, die wegen mangelnder Sprach- und Rechtskenntnisse leichter auszubeuten sind.
Berlin, DGB, Europäische Union, lohnpfuschambau, Prekäre Beschäftigung
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Prekäre Beschäftigung
2019-10-18T17:08:33+0200
2019-10-18T17:08:33+0200
2023-01-21T13:21:45+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1127386.betrug-am-bau.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Naturschutz verliert Bittstellerstatus
nd: Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) weilt derzeit in Nairobi, um aus dem UN-Umweltprogramm UNEP eine feste Institution mitzubegründen - die Umweltversammlung der Vereinten Nationen (UNEA). Was ist der Unterschied? Schwarze: »Programme« gibt es viele bei der UNO. Aber sie sind nichts Beständiges, sondern etwas zeitlich Befristetes. Nehmen wir UNISDR - die »Strategie der Vereinten Nationen zur Katastrophenreduzierung«. Im Jahr 2000 von den UN-Mitgliedsstaaten ins Leben gerufen, sollte diese Koordinierungsstelle Mechanismen zur internationalen Krisenvermeidung entwickeln. Angelegt war das Programm auf zehn Jahre - und musste dann von den Mitgliedsstaaten verlängert werden. Aber nicht alle Programme der UNO werden verlängert, manche werden auch eingestellt. Das UN-Umweltprogramm UNEP läuft zwar schon seit Ende 1972, muss aber regelmäßig verlängert werden. Bei den Mitgliedsstaaten der UNO muss jedes Mal Geld beantr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Mehr als 1200 Experten, darunter die Umweltminister der 194 UNO-Staaten, sind in dieser Woche zur ersten Sitzung der Umweltversammlung der Vereinten Nationen in Nairobi zusammengekommen. Reimund Schwarze, Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, verspricht sich von der neugegründeten Organisation eine Aufwertung von Umweltschutzbelangen. Mit dem Experten für internationale Umwelt- und Klimapolitik sprach Nick Reimer.
Energiewende, Fracking, Klimawandel, Umweltschäden, Umweltschutz, UNO
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/937286.naturschutz-verliert-bittstellerstatus.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Bibliotheksland DDR – Plakate von einst
Eine Schreibfeder mit einem grünen Zweig als Schaft – mit diesem Motiv warb das Plakat für Fachliteratur zu Garten und Landwirtschaft, die in den Leihbüchereien erhältlich war. 31 Bibliotheksplakate aus der DDR sind jetzt im Gerhart-Hauptmann-Museum in Erkner zu sehen. Es sind Stücke aus der Sammlung von Tobias Bank. Museumsleiter Stefan Rohlfs freut sich ganz besonders über diese Ausstellung, die am Samstag eröffnet wurde, hat sie doch »unmittelbar mit Literatur zu tun«. Er erinnert sich, als Kind mit der Schulklasse in die Bibliothek geführt worden zu sein und dort einen langen Vortrag gehört zu haben, wie man die ausgeliehenen Bücher pfleglich behandelt. »Es hat mir nicht geschadet«, schmunzelt er. »Ich bin in einem Literaturmuseum gelandet.« Die DDR habe sich »um die Verbreitung der Weltliteratur bemüht«, weiß Rohlfs. Nach der Wende wurden die Bibliotheken ausgekämmt. Die Werke von Thomas Mann oder Dostojewski finde man dort heute selten, dafür eher Ratgeberliteratur. Laut Historiker Gerd Dietrich wucherte die DDR im Wettstreit mit der wirtschaftlich übermächtigen Bundesrepublik mit dem Pfund Kultur. In der Anzahl nicht nur der Theater und Orchester, sondern auch der Bibliotheken pro Kopf sei die DDR Spitze gewesen, so der Professor. 32 000 Bibliotheken habe es 1984 gegeben, fast alle Städte und Gemeinden hatten wenigstens eine. Während im Westen nur 17 Prozent der Bevölkerung mehr als acht Bücher pro Jahr lasen, waren es im Osten 30 Prozent. Nicht von ungefähr sprach Schriftsteller Hermann Kant 1978 vom »Leserland DDR«, Staats- und Parteichef Erich Honecker 1981 vom »Leseland DDR«. Dennoch sei die Zahl der Entleihungen in den 1980er Jahren zurückgegangen, während sich die Bibliotheksbestände noch weiter erhöhten. Die Plakate bekannter Zeichner wie Manfred Bofinger animierten zum Lesen. Das zeigen in Erkner Motive wie »Kurt Tucholsky – Seine Werke in unserer Bibliothek« mit dem gezeichneten Konterfei des Autors oder »Urlaub, wie er im Buche steht« mit Vater, Mutter und Kind, die auf einer Wiese schmökern. »Diese Plakate sind zu schön, um nicht ausgestellt zu werden«, schwärmt Tobias Bank, der auch Medaillen, Plastetüten und andere Dinge aus DDR-Produktion sammelt und sie nicht nur für sich allein bewundern möchte. Seines Wissens nach hat es bis jetzt noch keine andere Ausstellung mit DDR-Bibliotheksplakaten gegeben. Ihm gefallen besonders die Motive zur Kinderliteratur. Einfallsreich ist aber auch eine Werbung für Bücher und Zeitschriften zur Landesverteidigung: Sie zeigt einen Fallschirmjäger, dem ein aufgeklapptes Buch als Fallschirm dient. Nicht so gehaltvoll wäre die Schau, betont Bank, wenn ihm nicht der auf Bibliotheksplakate spezialisierte Sammler Gerd Kreusel Exemplare abgegeben hätte, die dieser doppelt hatte. »Ausgeliehen, gelesen, erlebt. Bibliotheksplakate aus der DDR«, bis 30. November, Di. bis So.von 11 bis 17 Uhr, Gerhart-Hauptmann-Museum, Gerhart-Hauptmann-Straße 1-2 in Erkner, Eintritt frei
Andreas Fritsche
Es ist seines Wissens die erste Ausstellung von DDR-Bibliotheksplakaten überhaupt. Sammler Tobias Bank zeigt im Gerhart-Hauptmann-Museumn von Erkner 31 besonders schöne Exemplare.
Bibliothek, Brandenburg, DDR-Kunst, DDR-Literatur, Kultur, Plakate
Hauptstadtregion
Brandenburg Gerhart-Hauptmann-Museum in Erkner
2021-10-31T16:16:52+0100
2021-10-31T16:16:52+0100
2023-01-20T20:20:33+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158164.gerhart-hauptmann-museum-in-erkner-bibliotheksland-ddr-n-plakate-von-einst.html
Peru driftet in die Führungslosigkeit
Der Sonntagmorgen in Lima war nach einer schlaflosen Nacht für viele ein Morgen voller Schmerzen, Trauer und Wut. In der Nacht zuvor hatte die Polizei in der peruanischen Hauptstadt bei Protesten gegen Übergangspräsident Manuel Merino zwei Studenten getötet, mehr als 100 Demonstrant*innen verletzt. Am Sonntagmittag musste Merino dann nach nur fünf Tagen im Amt zurücktreten. Was bleibt, ist ein Schock über Polizeigewalt, wie ihn die Menschen in Lima seit zwei Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten. Am Samstag waren Peruaner*innen den sechsten Tag in Folge im ganzen Land auf der Straße, um gegen die Absetzung des bisherigen Präsidenten Martín Vizcarra und die Machtübernahme durch Merino zu protestieren. Mit Nationalflaggen, Schildern und Musik zogen Zehntausende Menschen durch Lima, Arequipa, Cuzco und andere Städte, um lauthals klarzumachen: Merino ist nicht unser Präsident. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Am Samstagabend eskalierte die Nationale Polizei Perus (PNP) die Lage: Polizist*innen mit Helmen und Körperschutz konzentrierten sich im politischen Zentrum Limas, sie sperrten Straßen mit Gittern und verbarrikadierten sich hinter Schilden, sogar die Straßenbeleuchtung auf der Plaza San Martín, dem Ort der Großkundgebung, wurde gelöscht. Videos zeigen, wie die PNP immer wieder Salven von Tränengaskartuschen und Gummischrot auf demonstrierende Menschen schießt, auf Sanitäter*innen, ältere Menschen, Eltern mit Kindern. Sogar von Helikoptern aus wurden Protestierende mit Tränengas beschossen. Bei diesen brutalen Attacken, die bis zum Morgengrauen andauerten, tötete die Polizei nach bisherigen Erkenntnissen die beiden Studenten Inti Soleto und Bryan Pintado, 24 Jahre und 22 Jahre alt. Bei der Obduktion von Bryan Pintado wurden nicht weniger als zehn Metallkugeln im Schädel, Gesicht, Hals, Arm und Oberkörper gefunden. Schuldige an dem Gewaltexzess in Uniform benannte die Nationale Koordination für Menschenrechte (CNDDHH), eine Organisation aus 82 Menschenrechtsorganisationen, noch in derselben Nacht: De-facto-Präsident Manuel Merino, der die gesamte Schreckensnacht unsichtbar und sprachlos blieb. Ministerpräsident Ántero Flores-Aráoz, ein Rechtsextremist, der 2009 als Verteidigungsminister verantwortlich für das Massaker in der Stadt Bagua mit 33 Toten war. Und das zuständige Kommando der Nationalen Polizei. Die Absetzung des vorherigen Präsidenten Martín Vizcarra wegen »dauerhafter moralischer Unfähigkeit« am Montag zuvor mit Stimmen von 105 der 130 Abgeordneten im Kongress hatte viele überrascht, denn ein erstes Amtsenthebungsverfahren im September war noch gescheitert. Vizcarra hatte im März 2018 das Amt von Pedro Pablo Kuczynski übernommen, als dieser wegen Korruptionsvorwürfen zurücktrat. Auch Vizcarra wird vorgeworfen, vor sechs Jahren Bestechungsgelder angenommen zu haben. Der Präsident ist bei den Peruaner*innen allerdings äußerst beliebt, und für den April sind in Peru sowieso Wahlen geplant, bei denen Vizcarra ohnehin nicht hätte antreten dürfen. Zudem wird die verfassungsrechtlich fragwürdige Begründung der »dauerhaften moralischen Unfähigkeit« derzeit vom Verfassungsgericht Perus geprüft. So nutzte eine Gruppe ultrareligiöser rechter Politiker die Gelegenheit zur Machtübernahme, um wirtschaftliche Interessen zu wahren, sich Immunität in Strafprozessen zu sichern und politischen Einfluss zu festigen - weshalb in Peru viele einen »parlamentarischen Staatsstreich« beklagen. Überrascht reagierten viele Hauptstadtbewohner auch auf die schonungslose Repression durch die Polizei, von Demonstrationen für die Rechte indigener Gemeinschaften und gegen die Umweltzerstörung durch Bergbauprojekte ist diese Vorgehensweise leider gut bekannt: 2009 wurden in Bagua im nördlichen Amazonas bei Protesten gegen ein Gesetzespaket, das die Rechte der indigenen Gemeinschaften verletzte und das Amazonasgebiet bedrohte, 33 Menschen getötet. Bei einem Streik 2015 gegen das Kupferbergwerk Las Bambas im Süden Perus starben vier Menschen. Am Sonntagabend kamen viele Menschen ins Zentrum Limas, um am Schauplatz der Kämpfe Blumen abzulegen und Kerzen anzuzünden für die Getöteten und für die Verletzten. Und um die Aufklärung der Gewalttaten zu fordern. Junge Demonstrant*innen betonten, dass sie sich einer abgehobenen, korrupten Politikerkaste widersetzen, die nur an eigene Vorteile denkt, statt sich um Wünsche jungen Peruaner*innen wie dem nach einer guten, bezahlbaren Bildung zu kümmern. Einen Namen gibt es schon für die jungen Aktivist*innen: »Generation Bicentenario«, Generation 200 Jahre, weil Peru im kommenden Jahr das 200. Jahr der Unabhängigkeit begeht. Und wenn es planmäßig läuft, finden dann im April die Präsidentschaftswahlen statt, mit der Weichen gestellt werden. Die Richtung ist nicht absehbar. Und fürs Erste sucht Peru nach einem Übergangspräsidenten: Die nächste Abstimmung in Lima über eine*n neue*n Präsident*in war am Montag um 18 Uhr MEZ - nach Redaktionsschluss - geplant.
Steffen Heinzelmann, Cochabamba
Der peruanische Übergangspräsident Manuel Merino ist nach tagelangen Protesten zurückgetreten. Die Wahl eines neuen Generalkomitees, das auch die Präsidentschaft übernähme, ist bisher an fehlenden Mehrheiten gescheitert.
Peru
Politik & Ökonomie
Politik Peru
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1144491.peru-driftet-in-die-fuehrungslosigkeit.html
Schule in Geflüchtetenunterkunft: Gegenteil von Integration
In der stetig wachsenden Massenunterkunft für Geflüchtete in Tegel wurde im Februar eine Schule eigens für die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen aus der Unterkunft eröffnet, die »Willkommensschule TXL«. Ihre Kapazität soll noch steigen, auch für die Tempelhofer-Feld-Unterkunft ist eine derartige Schule geplant. Laut Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) soll es sich um eine Übergangslösung handeln, jedoch könne sie keinen Endzeitpunkt für die Regelung nennen. Der Ausschluss geflüchteter Kinder aus dem Regelsystem wird von zentralen Geflüchtetenorganisationen kritisiert. Doch weil sie den Begriff »Lagerschule« nutzen, seien ihre Positionen laut Senat nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen worden – aufgrund »der deutschen Geschichte und ihrer besonderen Verantwortung für humanitäres Handeln«. Dies ergab die Antwort auf eine schriftliche Anfrage von Elif Eralp, migrationspolitische Sprecherin der Linken im Abgeordnetenhaus. Gemeint ist wohl die begriffliche Nähe zu Konzentrationslagern. Die Geflüchtetenbewegung nutzt seit Langem den Begriff »Lager« für Geflüchtetenunterkünfte; »Flüchtlingslager« bezeichnet als feststehender Begriff insbesondere große Camps des UN-Flüchtlingswerkes. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch hatte sich im Bildungsausschuss Mitte Februar noch damit geschmückt, die Flüchtlingsvertretungen in Berlin eingeladen und ihre Zustimmung für die separate Schule in der Geflüchtetenunterkunft bekommen zu haben. Mehrere Geflüchtetenorganisationen widersprachen anschließend: Sie hätten entweder gar nicht an Gesprächen mit der Senatsverwaltung teilgenommen oder dabei die »Lagerschule« abgelehnt. »Der Termin hatte informatorischen Charakter«, sagt Nicolay Büttner vom Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige Geflüchtete (BNS). Er habe zwar teilgenommen, der Schule in Tegel jedoch keineswegs zugestimmt. »Wir erwarten einen Plan, wie von Lagerbeschulung Abstand genommen werden kann«, so Büttner. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Laut Senatsverwaltung fehlen derzeit 27 000 Schulplätze in Berlin. Darunter leiden besonders geflüchtete Kinder. »Einen Schulplatz zu finden, ist für ein zugezogenes Kind aus Bayern kein Problem, schon aber für eines aus Syrien«, beklagt Sina Stach vom Flüchtlingsrat gegenüber »nd«. Es sei wichtig für deutsche und geflüchtete Kinder, sich an Orten wie der Schule zu begegnen. Auch ermögliche eine Schule außerhalb der nicht kindgerechten Geflüchtetenunterkünfte Abwechslung vom tristen Alltag, so die Sprecherin. »Wir sind immer offen für Gespräche«, sagt Stach. Die Einladung sei jedoch nicht an die offizielle Büroadresse gegangen und habe sie deshalb zu spät erreicht. Sie bezweifelt, dass es bei dem Gespräch tatsächlich um einen Austausch über die besten Lösungen für geflüchtete Kinder ging, »die Eröffnung der Lagerschule in Tegel stand zu dem Zeitpunkt längst fest«. Das Wort »Lagerschule« könne der Senat gerne ablehnen, so Stach, »aber geflüchtete Kinder zu isolieren und ihnen somit das Recht auf gleiche Teilhabe zu verwehren, sollte nicht beschönigt werden.« Man könne auch den Begriff »Segregationsschule« nutzen. Das Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf hat ebenfalls an dem Treffen teilgenommen. Sprecher Günther Schulze betrachtet den Austausch als wichtig, auch wenn es kein offizielles Gremium war und sehr unterschiedliche Organisationen teilnahmen. Die Lagerbeschulung dürfe dennoch nicht langfristig bleiben: »Das hat nichts mit Integration zu tun.« Man sehe auch bei den nur als Zwischenlösung gedachten Massenunterkünften, dass sie längst zur Regel geworden seien. Für den Sprecher liegt es nun an der Zivilgesellschaft, Druck aufzubauen: »Wo ist da die GEW? Wo sind die Elternvertreter? Wo die Landesschülersprecher?«
Moritz Lang
Geflüchtete Kinder werden in einer »Willkommensschule« in Tegel abseits des Regel­systems unterrichtet. Positionen, die die Segregation benennen, bleiben kategorisch unbeachtet.
Berlin, Bildungspolitik, Einwanderung, Integration
Hauptstadtregion
Berlin Ankunfszentrum Tegel
2024-04-09T16:51:02+0200
2024-04-09T16:51:02+0200
2024-04-09T19:17:00+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1181333.ankunfszentrum-tegel-schule-in-gefluechtetenunterkunft-gegenteil-von-integration.html
Michael Müller ist der AfD nicht neutral genug
Das Berliner Landesverfassungsgericht hat regen Zulauf am Mittwochmorgen. Vor dem Eingang stehen Studierende, Interessierte, aber auch Aktivist*innen mit Antifa-Aufnähern. Immerhin wird eine Klage der AfD gegen den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) verhandelt. Der Anlass? Als am 27. Mai vergangenen Jahres der Bundesvorstand der AfD mit einer Demonstration durch Mitte ziehen wollte, wurde ihr ein unversöhnlicher Empfang bereitet: Mehr als 25 000 Berliner*innen demonstrierten gegen den Aufmarsch mit verschiedensten Mitteln. »Es war ein wunderschöner Maitag«, erinnert sich Senatssprecherin Claudia Sünder, die auch verantwortlich für den Twitter-Account des Bürgermeisters ist. Sie und ihr Team twitterten über das Konto: »Zehntausende in Berlin heute auf der Straße, vor dem Brandenburger Tor und auf dem Wasser. Was für ein eindrucksvolles Signal für Demokratie und Freiheit, gegen Rassismus und menschenfeindliche Hetze.« Jeden Tag lesen rund 25.000 Menschen unsere Artikel im Internet, schon 2600 Digitalabonennt*innen und über 500 Online-Leser unterstützen uns regelmäßig finanziell. Das ist gut, aber da geht noch mehr! Damit wir weiterhin die Themen recherchieren können, die andere ignorieren und euch interessieren. Hier mitmachen! Die AfD findet, dass dieser Tweet nicht mit dem Neutralitätsgebot eines Amtsträgers vereinbar sei, und möchte das vom Verfassungsgericht bestätigt haben. »Im Grunde ist nicht mehr viel zu sagen«, so der Anwalt der Antragstellerin, Marc Vallendar, der selbst justizpolitischer Sprecher der Abgeordnetenhausfraktion ist. Durch den Tweet habe Müller Ressourcen des Senats benutzt, um in die parteipolitische Konkurrenz einzugreifen und die AfD zu diskreditieren. Er habe sich so einem »Bündnis gegen Rechts« angeschlossen, das der AfD »Rassismus und menschenfeindliche Hetze« vorwerfe. Das sei Verleumdung. Die Verteidigung des Senats sieht das nicht ein: »Wir haben ein Organstreitverfahren ohne Organstreit«, so Anwalt Christoph Möllers. Neutralität müsse gegenüber der parteipolitischen Konkurrenz gelten, aber nicht zu zivilgesellschaftlichem Engagement, welches in dem Tweet gelobt wurde. Zudem sei dieser keine Handlungsanweisung gewesen, sondern eine gerechtfertigte Wertung. Für Möllers ist etwas anderes an dieser Klage noch auffälliger: »Was legt das eigentlich nah?« Dass sich die AfD bei einem Tweet gegen Rassismus ohne direkten Bezug zu ihr angegriffen fühlt, spräche für sich. Das sehen die Verfassungsrichter*innen nicht ganz so. Für sie gibt es durchaus eine zeitliche Verbindung der Demonstration der AfD mit dem Tweet, welcher rund zwei Stunden nach deren Ende veröffentlicht wurde. Richter Jürgen Kipp betont die »äußerste Vorsicht«, die bei solch einer Äußerung beachtet werden müsse. Beiden Seiten ist klar, dass die Entscheidung des Gerichts wegweisend für die Zukunft sein könnte. Der Präzedenzfall, das sogenannte Wanka-Urteil des Bundesgerichtshofes, würde dadurch erweitert werden. Bisher hat die AfD damit nur erreicht, dass Amtsträger nicht zum expliziten Boykott der Partei aufrufen dürfen. Im Fall Müller liegt ein indirekterer Zusammenhang vor. Ob sich die bisherige Rechtsprechung nun ändern könnte, ist noch unklar. Das Urteil soll am 20. Februar fallen.
Philip Blees
Zehntausende demonstrierten im Mai 2018 gegen die AfD, der Regierende Bürgermeister lobte das. Vielleicht hätte er das nicht gedurft.
AfD, Berlin, SPD
Hauptstadtregion
Berlin Twitter
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1110116.twitter-michael-mueller-ist-der-afd-nicht-neutral-genug.html
Freiwillig im Drohnenfeuer
Es summt. Doch an diesem Abend in Tell Tamer sind es nicht die türkischen Drohnen, die das surrende Geräusch über der strategisch wichtigen Frontstadt in Rojava gewöhnlich erzeugen. In einem kleinen Studio hinter schwerer Metalltür liegt ein Mann mit nacktem Oberkörper auf einer Pritsche. Eine elektrische Nadel wandert über seinen Bauch. Das Studio liegt in einer Gasse der halb verlassenen Stadt. Sieben Wochen nach Beginn der türkischen Invasion sind die Straßen bis auf ein paar Militärcheckpoints leer. Ein Dutzend Ausländer sitzt auf dem Boden, Kanadier, Dänen, Briten, Spanier, Deutsche. Die meisten zwischen Mitte 20 und 40 Jahre alt. Scherze werden gemacht. Und doch liegt eine ernste Stimmung über den Menschen. Es sind linke Internationalisten, aus aller Welt gekommen, um Rojava zu verteidigen. Im Moment herrscht eine Verschnaufpause in Tell Tamer. Vor dem nächsten türkischen Großangriff wollen sich einige noch tätowieren lassen. Sammelpunkt in der Stadt ist das Krankenhaus. Früher oder später treffen hier alle aufeinander. Neben dem Eingang steht ein Eiscreme-Truck zur Aufbewahrung der Leichen. Unter den anwesenden Ausländern ist auch Jiyan aus Deutschland. Die 36-Jährige gibt derzeit Fortbildungen für Sanitäter. Die Feuerpause wird genutzt zum Reflektieren, zum Schließen von Wissenslücken, zur Weiterentwicklung. All das ist hier überlebenswichtig: Von Tell Tamer ist die Front etwa fünf Kilometer entfernt. In den umliegenden Dörfern wird sporadisch gekämpft. Jiyan lebt seit viereinhalb Jahren in Rojava, seit der türkischen Invasion hatte sie in den Städten Girê Spî und Ain Issa Verwundete versorgt. Die Internationalistin berichtet, wie sie und ihre Kollegen dabei auch selbst zum Angriffsziel wurden. »Die mit der Türkei verbündeten Dschihadisten begehen am Boden Kriegsverbrechen. Aber türkische Flugzeuge und Drohnen haben Ambulanzen von uns bombardiert.« Vor allem vor Drohnen müsse das medizinische Personal sich in Acht nehmen. »Du versteckst dich und bewegst dich nicht. Es ist gut, wenn du ein Buch dabeihast und lesen kannst«, erklärt sie. Das Wichtigste sei, ruhig zu bleiben. »Wenn deine Nerven mit dir durchgehen, entdecken sie dich. Dann bist du eine Gefahr für alle, dann kann es schnell zu einer Bombardierung kommen.« Jiyan, für die Fortbildung extra von einer anderen Frontstellung gekommen, spricht reflektiert, kennt den Preis ihrer Arbeit. »In Suluk ist medizinisches Personal in die Hände von Dschihadisten gefallen und wurde ermordet. Für uns war von vornherein klar, dass so etwas passieren kann«, sagt die Notfallmedizinerin. »Die Ursachen mögen unterschiedlich sein, aber das Endresultat ist, dass ich sterben kann.« Das sollte man vorher mit sich geklärt haben, sagt Jiyan. Die medizinische Arbeit sei zudem oft schwierig. »Du siehst krasse Verletzungsmuster, Menschen die du kennst, die dann in deinen Armen sterben, Zivilisten, Kinder. Das ist schon starker Tobak.« Und doch, so die Internationalistin, könne sie hier mit ihren Fähigkeiten etwas bewirken. Sie sei trotz allem froh, vor Ort zu sein. »In Rojava findet eine Revolution statt, es ist beeindruckend, was es hier an gesellschaftlicher Veränderung gibt.« Die Menschen, die von außerhalb kommen, sollten ihr Handeln jedoch genau reflektieren, wünscht sich Jiyan. Von einer distanzierten, bewertenden Rolle, dass man nur zum Helfen da sei, solle man sich lösen. Es gelte, den Konflikt als Teil eines globalen Kampfes zu begreifen, in dem man Verantwortung übernimmt. Anarchisten, Kommunisten und weitere Linke aus aller Welt versuchen dies. Deutschen Sicherheitsbehörden zufolge sind in den vergangenen Jahren bis zu 200 deutsche Staatsangehörige zur Unterstützung nach Rojava ausgereist. Medienschätzungen gehen weltweit von etwa 1000 Freiwilligen aus, darunter wohl auch einige »Abenteurer« und »Unpolitische«. Wie viele Freiwillige momentan in Rojava sind, lässt sich kaum beantworten, aber es dürften Dutzende sein. Nicht nur militärisch engagieren sich die Internationalisten; sie sind auch in zivilen Strukturen aktiv. Ausländer arbeiten als Mediziner beim Kurdischen Roten Halbmond, beteiligen sich in der Jugendarbeit und Frauenbewegung, machen Medienarbeit. Etwa im unabhängigen, aber der Selbstverwaltung nahestehenden »Rojava Information Center«. Einige pflanzen in der Ökologiekampagne »Make Rojava Green Again« Bäume. Vorbereitung erhalten Zivilisten in der »Internationalistischen Kommune« und Kämpfer in einer speziellen Akademie. Von Ausländern getragene Militärformationen sind die Einheiten »YPG International«, das »Internationalistische Freiheitsbataillon« sowie die Gruppe »Anarchistischer Kampf«. Kaum jemand tritt mit richtigem Namen und unverhülltem Gesicht in der Öffentlichkeit auf. Denn obwohl die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten in Deutschland und der EU nicht als terroristische Vereinigungen gelten, gehen Sicherheitsbehörden mit Passentzug, Ausreiseverbot, Hausdurchsuchungen oder Risiko-Einstufungen gegen manche Rückkehrer vor. Mindestens 22 Verfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland wurden bisher eingeleitet. In anderen EU-Ländern gibt es ähnliche Repressionsmaßnahmen bis hin zu Festnahmen. Abschrecken lässt sich davon hier kaum jemand. In Tell Tamer befindet sich an diesem Abend auch Felix Anton. Der 29-Jährige kommt aus Hamburg und hatte sich früher bei Blockupy und ver.di engagiert. Nun lebt er seit anderthalb Jahren in Rojava. Laut eigener Aussage ist der Internationalist in die Frontstadt gekommen, um sich an der zivilen Verteidigung zu beteiligen. Was bedeutet: Stellungen bauen, die Bevölkerung organisieren und auf die Kämpfe vorbereiten. Vor allem informiert Anton die Außenwelt, was hier passiert. Mit dem Smartphone gegen das Vergessen. Der Kampf um Rojava ist wenige Wochen nach Beginn der Invasion aus den meisten Medien und damit dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Über Twitter berichtet der Aktivist regelmäßig vom Alltag im Krieg, wird dafür auch von türkischen Nationalisten angefeindet. Während er über solche Kommentare lachen kann, ist die Gefahr durch die Invasion real. Anton weiß, dass die Dschihadisten ihre Gefangenen ermorden. »Oder ich werde in die Türkei verschleppt und muss dort jahrelang im Gefängnis sitzen.« Er sei jedoch aus Überzeugung an diesem Ort. Was hier aufgebaut wird, habe weit über Rojava hinaus Strahlkraft. In der Region um die Grenzstadt Dêrik hat Anton die Auswirkungen der türkischen Invasion miterlebt. »In einem Dorf wurden Granaten in Richtung Schule geschossen, in einem anderen brannte ein ziviles Wohnhaus aus.« Das alles erinnert den Internationalisten an die deutsche Geschichte. »Jetzt sind wir wieder in einer Phase, wo man sich Krieg, Faschismus und Imperialismus entgegenzustellen hat«, sagt Anton überzeugt. Von der Bundesregierung erwartet der Aktivist nicht viel. In Berlin wisse man genau, dass hier auch deutsche Waffen zum Einsatz kommen und Dschihadisten Kriegsverbrechen begehen. »Am Ende sind Deutschland die Islamisten aber lieber als ein sozialistisches Projekt.« Die Auswirkungen des internationalen Machtpokers in Nordsyrien sind so real wie brutal. Ein Name, der in Tell Tamer immer wieder geflüstert wird, lautet Serêkaniyê. Die nordsyrische Grenzstadt war einer von zwei Orten, die im Zentrum der türkischen Angriffe standen. Die Invasionsarmee hatte die Zufahrtsstraßen abgeschnitten, humanitären Konvois wurde der Zugang in die Stadt lange verwehrt. Die eingeschlossenen Verteidiger waren zahlenmäßig unterlegen und konnten doch die Einnahme elf Tage hinauszögern. Videos zeigen dramatische Momente, die sich vor allem im Krankenhaus abspielten. Kämpfer hatten sich hier vor den anrückenden Dschihadisten verschanzt. Überforderte Mediziner mit Kopflampen versuchten, Verwundete zu versorgen. Nach Angaben der oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben während der Belagerung 33 Zivilisten, dazu dürften zahlreiche Kämpfer kommen. Die Selbstverwaltung vermutet, dass die Türkei weißen Phosphor gegen die Bevölkerung eingesetzt hat, ein verbotener Kampfstoff, der zu schweren Verbrennungen führt. Am 20. Oktober durften rund 30 Verwundete evakuiert werden. Was kaum bekannt ist: Auch Dutzende Internationalisten beteiligten sich an der Verteidigung von Serêkaniyê. Auf linken Internetseiten kursiert der Brief einer anonymen Aktivistin, die nach eigener Aussage während der Auseinandersetzungen in der Stadt war. »Als der Krieg bei uns ankam, war es ein entfernter Krieg, mit vielen unberechenbaren Bombardierungen, die man erst im letzten Moment hören konnte«, schreibt sie. Als die Türkei die Straße abschnitt, sei es besonders schwer geworden. »Ein Freund starb, während er auf eine Behandlung warten musste.« Die Anarchisten Baran, 27, und Evîn, 33, beide aus »Europa«, berichten, wie sie als Sanitäter versuchten, die Stadt zu erreichen. Aufgrund von Luftangriffen mussten sie sich hinter Bäumen verstecken, sagt Baran. Während sie noch über das weitere Vorgehen diskutierten, sei eine andere Ambulanz auf der Straße herangefahren. Auch dieses Team habe das Fahrzeug verlassen und sich versteckt. Doch zu spät. »Die Drohne hatte sie geortet«, sagt Evîn. »Vier Personen wurden bei dem folgenden Angriff schwer verletzt und eine Krankenschwester getötet.« Sie seien nach Tell Tamer zurückgekehrt, in die nächstgelegene Stadt. »Es war ein kompletter Albtraum«, sagt Baran. Immer mehr Verwundete seien gebracht worden. Er sei am Boden zerstört gewesen, habe aber versucht zu helfen, so gut er konnte. »In diesen Momenten hat man keine Kapazitäten, das zu verarbeiten. Man speichert die Erfahrung auf für bessere Zeiten«, sagt er. Unter den Toten von Serêkaniyê war auch der deutsche Staatsbürger Konstantin G., Kampfname Andok Cotkar. Er soll bei einem türkischen Luftangriff ums Leben gekommen sein. Der norddeutsche Landwirt hatte sich 2016 als Freiwilliger den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG angeschlossen, Mutter und Vater gab er erst während der Reise Bescheid. Diese befürchten heute, dass sie ihren Sohn vielleicht niemals begraben können. Konstantin ist nach Anton L., gefallen 2016, der zweite deutsche Internationalist, der in Rojava nicht vom IS, sondern von türkischen Truppen getötet wurde. Vom NATO-Partner Deutschlands. Im Tattoo-Laden von Tell Tamer verstummt die elektrische Nadel. Die Gruppe zieht noch ins Krankenhaus für eine kleine Feier. Keiner schlägt dabei über die Stränge, 20 Uhr sind alle in ihrer Unterkunft. Drei Tage später flammen die Kämpfe in den Dörfern um Tell Tamer wieder auf. Rauch, entfernte Detonationen, der Krieg geht weiter. Das Summen der Drohnen ist wieder in der Luft.
Sebastian Bähr, Tell Tamer
In Deutschland wird er kaum noch wahrgenommen: der Krieg der Türkei im nordsyrischen Rojava. Doch er ist nicht zu Ende. Denn hartnäckig verteidigen Menschen noch immer ihr Selbstverwaltungsprojekt.
Islamismus, Kurden, Rojava, Syrien, Türkei
Politik & Ökonomie
Politik Rojava
2019-12-18T18:03:45+0100
2019-12-18T18:03:45+0100
2023-01-21T12:40:27+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1130348.rojava-freiwillig-im-drohnenfeuer.html
AOK sichert Ministerin Hilfe zu
Potsdam. Die Krankenkasse AOK hat die Regelung begrüßt, Gesundheit und Soziales und damit die Politikfelder Gesundheit und Pflege wieder unter einem Dach zu vereinen. Frank Michalak, Vorstandsvorsitzender der AOK Nordost, sicherte der neuen Sozialministerin Diana Golze (LINKE) am Mittwoch Unterstützung zu. Es »stehen wichtige Strukturentscheidungen in der Gesundheitspolitik auf der Agenda«, sagte Michalak. »Als größte regionale Krankenkasse« werde die AOK »diesen Prozess tatkräftig begleiten«. Dabei sprach sich Michalak für neue innovative Ansätze in der Gesundheitsversorgung der Brandenburger bei einer immer älter werdenden und gleichzeitig schrumpfenden Bevölkerung aus. Erklärtes Ziel des rot-roten Koalition sei der Fortbestand aller Krankenhausstandorte, erinnerte die AOK. Um auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung in der Fläche sicherstellen zu können, müssten bestehenden Strukturen weiterentwickelt und auch neue Wege gegangen werden - vor allem in der Vernetzung von ambulanter und stationärer Medizin. Insbesondere für den stationären Bereich müssten dafür ausreichend Investitionsmittel zur Verfügung gestellt werden. Die von der Regierung eingeplanten 400 Millionen Euro über fünf Jahre seien hierfür bei Weitem nicht ausreichend. Im Vergleich zu der durchschnittlichen Fördermittelsumme der vergangenen Jahre wären dies jährlich rund 20 Millionen Euro weniger, rechnete die Krankenkasse vor. »Die reine Erhaltung von allen Krankenhausstandorten verschärft zudem die bereits jetzt schon schwierige Situation der Krankenhäuser und ist ein Risiko für die Versorgungsqualität im Lande«, so Michalak. Das Land brauche außerdem eine langfristige bedarfsorientierte Krankenhausplanung, die an der Landesgrenze zu Berlin nicht Halt mache. Der bisherige Krankenhausplan blende dies aus. Zur Ärztevergütung merkte die AOK an, dass die märkischen Haus- und Landärzte mit ihrem Einkommen im bundesweiten Vergleich »einen Spitzenplatz belegen«. Daher gelte es, »gezielt Fachärzte mit extrem vielen Patienten und Hausärzte in unterversorgten Regionen speziell zu fördern«. Michalak lobte die Absicht von Rot-Rot, dass Modellprojekt Gemeindeschwester Agnes auf das gesamte Bundesland auszudehnen. nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die größte regionale Krankenkasse AOK begrüßt die wieder erfolgte Zusammenlegung der Bereiche Gesundheit und Soziales in einem Ressort.
Brandenburg, Deutschland, Gesundheitspolitik, Landesregierung
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/951401.aok-sichert-ministerin-hilfe-zu.html
May sucht ihr Heil in Brüssel
London. Nach dem gescheiterten Aufstand ihrer eigenen Fraktion in London setzt Premierministerin Theresa May nun auf die Hilfe der Europäer: Der EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel beschäftigt sich erneut mit den britischen Austrittsplänen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die übrigen Staats- und Regierungschefs wollen dazu beitragen, dass der fertige EU-Austrittsvertrag eine Mehrheit im britischen Parlament findet und eine chaotische Trennung Ende März vermieden wird. Wie dies ohne Nachverhandlungen geschehen soll, ist allerdings offen. May sagte, sie wolle nun »rechtliche und politische Rückversicherungen« hinsichtlich der Backstop genannten Garantie für eine offene Grenze zwischen Nordirland und Irland suchen. Die Regelung im Brexit-Vertrag ist bei britischen Abgeordneten heftig umstritten. Die EU signalisiert Entgegenkommen, allerdings in sehr engen Grenzen und ohne Vertragsänderung. Am Mittwochabend musste sich May einer Misstrauensabstimmung stellen. Die Chefin der Konservativen Partei erhielt die Stimmen von 200 der 317 konservativen Abgeordneten im Unterhaus. Sie kann damit als Parteichefin und Premierministerin weitermachen. Um May zu stürzen, hätten ihr mindestens 159 Parlamentarier aus der Tory-Fraktion das Misstrauen aussprechen müssen. Kurz vor der Abstimmung hatte sie als Zugeständnis an ihre parteiinternen Kritiker einen Rücktritt vor der regulär 2022 anstehenden Parlamentswahl angekündigt. Für May ist das dennoch kaum ein Grund zum Feiern. Sie muss weiterhin ihren Brexit-Deal durchs Parlament bringen und nun damit rechnen, dass 117 Abgeordnete ihrer eigenen Partei dabei nicht mitspielen werden. Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist das ein desaströses Ergebnis. Eine »erhebliche Zahl« an Abgeordneten habe gegen sie gestimmt, erklärte May am Abend vor dem Regierungssitz 10 Downing Street in London. »Ich habe mir angehört, was sie gesagt haben.« Hinter dem Misstrauensantrag gegen May standen vor allem Brexit-Hardliner in ihrer Fraktion um den erzkonservativen Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg. Das Ergebnis sei »schrecklich«, sagte er. »Sie muss dringend zur Queen gehen und zurücktreten.« Nicht nur in ihrer eigenen Partei brodelt es. Auch die nordirische DUP, auf die Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, und die Opposition kündigten Widerstand an. Labour-Chef Jeremy Corbyn setzt auf Neuwahlen. Großbritannien will Ende März aus der Staatengemeinschaft austreten. Hauptstreitpunkt im Vereinigten Königreich ist der von der EU verlangte Backstop. Brexit-Befürworter befürchten, dass die im Austrittsvertrag vorgesehene Regelung Großbritannien auf Dauer eng an die Europäische Union bindet. Sie wollen eine Befristung. Das hat die EU abgelehnt. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die britische Premierministerin hat den Aufstand in ihrer Fraktion überstanden. Nun sucht May ihr Heil in Brüssel. Doch beim letzten EU-Gipfel 2018 ist die verzwickte Lage in London längst nicht das einzige komplizierte Thema.
Brexit, EU, Großbritannien, Tories
Politik & Ökonomie
Politik Brexit und die EU
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1107939.brexit-und-die-eu-may-sucht-ihr-heil-in-bruessel.html
Mandat der Überforderung
In Mali wohnen knapp 18,5 Millionen Menschen. Neun von zehn folgen einer muslimischen Religion oder Weltanschauung. Nicht einmal jeder zweite Bürger kann lesen und schreiben. Je fünf Ärzte kümmern sich laut Statistik um 100 000 Einwohner, Malaria, Tuberkulose und Cholera gehören zum Alltag wie Raub und die Unterdrückung von Frauen. Während die durchschnittlich 56 Jahre alt werden, sterben Männer statistisch gerechnet bereits im Alter von etwas über 53 Jahren. Die Geburtenrate ist vergleichsweise hoch, das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt bei etwas über 15 Jahren. Malis wirtschaftliche Verhältnisse sind desolat, die politischen instabil. Seit 2012 in Mali ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist, kommt das Land nicht zur Ruhe. Kurzum: Dem einstigen Kolonialgebiet Frankreichs muss - wie vielen seiner Nachbarn in Afrika - dringend geholfen werden. Die deutsche Regierung hat im September 2017 Leitlinien für ihre Afrikapolitik verabschiedet. Titel: »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern«. Der Ansatz dazu sei ressortübergreifend, heißt es. Im aktuellen Antrag der Bundesregierung für eine Verlängerung der Militäreinsätze in dem westafrikanischen Land kann man lesen, dass die Stabilisierung Malis »ein Schwerpunkt des deutschen Engagements in der Sahel-Region und ein wichtiges Ziel der Afrikapolitik« sei, denn: »Die Fragilität der Sahel-Region hat Auswirkungen über Afrika hinaus. Schwache staatliche Strukturen eröffnen Rückzugsräume für Terrorismus, begünstigen organisierte Kriminalität und Schleuseraktivitäten.« Von ressortübergreifendem Ansatz ist nicht viel zu spüren. Seit 2013 sind Bundeswehrsoldaten in Mali stationiert. Im Rahmen einer Mission der Europäischen Union bilden sie in Mali Soldaten aus: Sie »sollen befähigt werden, die Souveränität, Sicherheit und Stabilität Malis eigenständig zu gewährleisten«, sagt das deutsche Verteidigungsministerium und hat schon seit einiger Zeit verfügt, dass auch Soldaten aus Nachbarstaaten, die wie Mali zur G5-Sahel gehören, gedrillt werden. Bis zu 1100 deutsche Soldaten sind Teil der von der UNO geführten MINUSMA-Operation. Bis zu 15 000 Soldaten und Polizisten aus mehr als 50 Nationen sind an ihr beteiligt. Nicht nur hinter vorgehaltener Hand sagen Fachleute, dass die UNO und zahlreiche Truppensteller heillos überfordert sind mit einer derartigen militärischen Operation. Aktiv kämpfen gegen islamistische Terroristen soll die Bundeswehr nicht - anders als beispielsweise die tausend Fremdenlegionäre, die Frankreich aus Sorge um sein Einflussgebiet und die Uranminen im Nachbarland Niger in einer eigenen Operation namens »Barkhane« einsetzt. Insgesamt ist die Mali-Mission die wohl tödlichste, auf die sich die Vereinten Nationen bislang eingelassen haben: Fast 200 Blauhelme wurden bereits getötet, doch Mali und die Nachbarstaaten sind trotz der Opfer und des enormen militärischen Aufwandes weder sicherer noch friedlicher geworden. Laut Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung des Militärmandats ist die Situation in Zentralmali »nach wie vor fragil«. Dort sei die Situation weiter geprägt »von der Ausweitung ethnischer und sozialer Konflikte, terroristischen Angriffen und organisierter Kriminalität«. Aus Zentralmali heraus versuchten Terrorgruppierungen, »ihren Einflussbereich weiter nach Süden auszudehnen«. Tatsache ist: Mittlerweile kontrollieren Terrororganisationen wie Al Qaida oder der in Syrien und Irak geschlagene »Islamische Staat« verbunden mit anderen Islamisten wieder weite Landstriche Malis. Vor allem im wüstenhaften Norden, dort wo die Masse der UN-Truppen stationiert ist, hat die Regierung kaum noch Einfluss. Jüngst besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals die deutschen Soldaten in ihrem Lager bei Gao. Sie lobte sie und bescheinigte den Uniformierten, dass ihre Mission »schwierig« und das Arbeitsumfeld »speziell« sei. Der Einsatz, so Merkel, fordere von den Soldaten erhebliches Anpassungsvermögen und erheblichen Anpassungswillen. Und ganz nebenbei von den Steuerbürgern für das kommende Jahr »einsatzbedingte Zusatzausgaben« allein für MINUSMA in Höhe von 313,9 Millionen Euro. Zum Vergleich: Seit 2013 wurden Mali über Vorhaben der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gerade einmal 446 Millionen Euro zugesagt. Was bedeutet »schwierig«? Was meint Merkel mit »speziell«? Wie in Afghanistan, dem zweiten großen Auslandseinsatz-Staat der Bundeswehr, bürdet man Soldaten Aufgaben auf, die sie nicht erfüllen können. Nicht im militärischen Sinn. Die Bundeswehrsoldaten erfüllen ihre Führungs-, Beratungs- und Aufklärungsmissionen ohne fachlichen Tadel. Der Einsatz von Drohnen funktioniert, der Lufttransport ist inzwischen stabil. Ob die »temporär bereitgestellte Luftbetankungsfähigkeit für französische Kräfte« klappen würde, wenn..., ist nicht ganz so gewiss. Mit der Unterzeichnung eines innerstaatlichen Friedensabkommens durch die Konfliktparteien im Juni 2015 war ein erster wichtiger Schritt zur Stabilisierung des Landes getan. MINUSMA soll Waffenruhevereinbarungen, vertrauensbildende Maßnahmen und einen politischen Dialog unterstützen. Wäre sie ehrlich, hätte Merkel den Soldaten gesagt: Die Politik überfordert euch und tut selber zu wenig, um in Mali eine Aussöhnung verschiedenster politischer Interessengruppen zu ermöglichen. Doch die Kanzlerin hat beim Umgehen von Tatsachen noch immer die Mehrheit des Parlaments hinter sich, das am Donnerstag einer Verlängerung der Mali-Mission sowie der weiteren Teilnahme an der Anti-Piraten-Operation »Atalanta« vor der Küste Somalias zugestimmt hat.
René Heilig
Der Bundestag hat am Donnerstag routiniert wie immer einer Verlängerung der Mali-Bundeswehreinsätze zugestimmt - und sich so abermals Sand in die Augen gestreut.
Angela Merkel, Bundeswehr, Friedensbewegung, Mali
Politik & Ökonomie
Politik Bundeswehr in Mali
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1118414.bundeswehr-in-mali-mandat-der-ueberforderung.html
War da was?
Allein der Name des Ortes ist Erklärung genug. Sobald er fällt, läuft im Kopf der Film. Wir kennen die Bilder. Wir kennen die Botschaft. Und deren Missbrauch. Wir haben den Auftritt eines grünen Außenministers vor Augen, als er 1999 Deutschland in einen Krieg zwang – den ersten seit 1945, jenem Jahr, in welchem Auschwitz befreit wurde. Mit der Lüge, es drohe ein »neues Auschwitz« auf dem Balkan, was verhindert werden müsse, rechtfertigte Joschka Fischer die Bombardierung serbischer Städte. Der Nato-Krieg mit deutscher Beteiligung war völkerrechtswidrig und gründete auf einem in mehrfacher Hinsicht unzulässigen Vergleich. Entweder weil jene, die ihn benutzten, die Historie des Lagers nicht kannten oder weil deren Zweck bekannt war und absichtsvoll verdrängt wurde. Andernfalls hätte man nämlich keine Analogie herstellen können. Vermutlich war es Unkenntnis. Denn es hat sich das Narrativ verfestigt, Auschwitz sei ausschließlich Ausdruck des Rassenwahns der Nazis und einzig zur Vernichtung der Juden errichtet worden. Dass es so nicht war, beweist die Berliner Historikerin Susanne Willems in ihrem Buch sehr überzeugend. Natürlich, in Auschwitz wurden Hunderttausende Juden ermordet, die von den Nazis aus ganz Europa zusammengetrieben worden waren. Wer das leugnet, gehört entweder in eine Anstalt oder vor Gericht. Aber der ursächliche Zweck – und das hatte bereits der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg explizit festgestellt – bestand darin, »dauernd etwa 200 000 Menschen gefangen zu halten, um diese durch in höchstem Maße entkräftende Zwangsarbeit auszubeuten«. Auschwitz war ein strukturelles Element der deutschen Kriegswirtschaft. Die Arbeitssklaven, so sie denn »in einem Zustand völliger Erschöpfung« waren, wurden »als nutzlos umgebracht«. Und diese Sklaven wurden durch neue ersetzt, die ins Lager gebracht wurden. »Es war ein genau ausgearbeitetes System, ein schreckliches laufendes Band des Todes«, konstatierten die Richter in Nürnberg.  Auschwitz war für den deutschen Staat und deutsche Konzerne eine Goldmine. Susanne Willems belegt dies. Sie hat jahrelang die Entstehung des Lagers, seine Veränderung und schließlich den laufenden Betrieb erforscht. Zunächst war die ehemalige Kaserne als »Ort der Internierung, Folter und Vernichtung polnischer politischer Gefangener« geplant. Erst im Laufe der Zeit wurde Auschwitz »zu einem Ort der Versklavung und Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener, der Sinti und Roma und einer Million Juden«. Denn: »Die SS orientierte ihre Entscheidungen über die Funktion und den Ausbau dieses Lagers«, so Willems, »nicht nur an den eigenen politischen und ökonomischen Optionen, sondern auch an den Interessen ihrer mächtigen Partner: zuerst der I.G. Farbenindustrie, dann der Wehrmacht und schließlich des Rüstungsministeriums.« Willems dokumentiert mit wissenschaftlicher Akribie die Genesis des Lagers und berücksichtigt dabei auch die allerneuesten internationalen Forschungsergebnisse. Ihr Buch enthält somit den aktuell höchsten, empirisch gesicherten Kenntnisstand über das KZ Auschwitz. Dabei geht es nicht um die Korrektur von Zahlen (auch das war nötig), sondern um die Feststellungen zur Funktion des Lagers und die Intentionen seiner Betreiber. Und diese Interessen waren in erster Linie ökonomischer Natur. Ohne zynisch zu klingen, kann man sagen: In Auschwitz war der Kapitalismus in der Verwertung des Menschen am konsequentesten. Erst stahl er ihm die Arbeitskraft, dann raubte er ihm die Würde, am Ende das Leben. Seine geringe Habe wurde vollständig verwertet: Haare, Zähne, Knochen, die Schuhe, Kleidung, Brillen, Prothesen, Kämme und Koffer, Emaillebecher … Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Die Baracken in Birkenau, in denen dies alles gesammelt wurde, hießen zynisch »Kanada«. Birkenau war für die SS das schlesische »Klondike« – jene Region in Kanada, wo Ende des 19. Jahrhunderts Gold gefunden worden war, was die größte Schatzsucherwelle in der Geschichte Amerikas auslöste. Auschwitz war für den kapitalistischen deutschen Staat und für deutsche Konzerne so etwas wie eine Goldmine. Die Wissenschaftlerin Willems formuliert es sachlicher: »Die von der SS Hand in Hand mit Interessenten aus Staat und Wirtschaft betriebene Expansion des Lagers machte Auschwitz nach der Zahl der deportierten, ermordeten, gefangenen und abermals in andere KZ transferierten Menschen zum größten der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager.« Willems polemisiert nicht, sie baut auf die Wirkung der Fakten. Begriffe wie Faschismus, Kapitalismus und Holocaust oder Pejorative kommen bei ihr nicht vor, konsequent verzichtet sie auf die Verwendung von Vornamen bei allen Nazis, was für sie augenscheinlich die höchste Form der Verachtung darstellt. Vor allem jedoch setzt sie andere Akzente, wendet sich ab von der in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschenden moralisierenden, emotionalisierten Bewertung, die letztlich der Verschleierung der tatsächlichen Funktion dieses Lagers dient. Europas größter Konzern, das weltweit größte Chemieunternehmen – die I.G. Farbenindustrie AG –, hatte Ende 1939, nach der Okkupation Polens, das Areal eruiert und »expandierte planvoll in das oberschlesische Industrierevier«. Ab Mitte 1940 ebnete die I.G. Farben den Weg für den durch Kriegsaufträge gedeckten, aber von kriegsbedingten Reichszuschüssen unabhängigen Werksneubau in Auschwitz. Die Reichsregierung sorgte für die schnelle Amortisation jeder Investition, indem sie 1940 das Okkupationsgebiet für zunächst zehn Jahre zum Steuerparadies für deutsche Unternehmen erklärte. Die Zahl der täglich auf den Baustellen des Werkes geschundenen Sklavenarbeiter stieg von 150 im April 1941 auf fast 10 000 im Juli 1944. Alles belegt, alles dokumentiert. Alles wahr. Und die I.G. Farben war nur ein Unternehmen. Mit Rassenwahn und Antisemitismus hatte das wenig zu tun. »Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn«, zitierte dereinst Karl Marx einen britischen Gewerkschaftsfunktionär. »Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.« Der Galgen, an dem der Lagerkommandant Rudolf Höß gehenkt wurde, steht noch auf dem Lagergelände. Andere Nazi-Verbrecher endeten in Nürnberg ebenfalls am Strang. Das Verfahren gegen 23 leitende Angestellte der I.G. Farbenindustrie AG vor einem US-amerikanischen Militärgericht schloss mit 13 Haftstrafen und zehn Freisprüchen »aufgrund fehlender Beweise«. Am 31. Oktober 2012 wurde das Unternehmen im Handelsregister gelöscht. War da was? Susanne Willems: Auschwitz. Terror – Sklavenarbeit – Völkermord. Mit Fotos von Fritz und Frank Schumann. Edition Ost, 288 S., geb., 20 €.Die Berliner Historikerin stellt ihr Buch am 30. Januar, 15 Uhr in der Hellen Panke in Berlin vor (Kopenhagener Str. 9, Prenzlauer Berg). Das Foto auf dieser Seite wie auch die Aufnahmen aus der Gedenkstätte in Auschwitz auf den folgenden Seiten sind dem Buch entnommen und stammen vom dpa-Nachwuchs- und Deutschen Menschenrechts-Filmpreisträger Fritz Schumann, Jg. 1987.
Bettina Richter
In Auschwitz wurden Hunderttausende Juden ermordet, die von den Nazis aus ganz Europa zusammengetrieben worden waren. Eine Topografie macht das Grauen von damals deutlich. Und die Intention der Mörder.
Auschwitz, Berlin, Holocaust, Juden, Nationalsozialismus, Rechtsradikalismus, Sklaverei
Feuilleton
Kultur Topografie von Auschwitz
2025-01-24T18:59:21+0100
2025-01-24T18:59:21+0100
2025-01-26T11:26:42+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188523.topografie-von-auschwitz-war-da-was.html
Massen machen Berlusconi Druck
Rom (dpa/ND). Im Mittelpunkt stand Kritik an der Beschäftigungs- und Bildungspolitik. Die Organisatoren nannten keine Zahlen über die Beteiligung. Italienische Medien sprachen sogar von Hunderttausenden. Über 2000 Busse und 13 Sonderzüge brachten die Teilnehmer in die Hauptstadt. Die von der größten italienischen Gewerkschaft CGIL organisierten Proteste standen unter dem Motto: »Die Zukunft gehört den jungen Menschen und der Arbeit«. Die Gewerkschaft fordert von der Regierung unter anderem eine Senkung der Steuern auf Löhne und Gehälter sowie mehr soziale Gerechtigkeit. Seit Anfang November steht Susanna Camusso als erste Frau an der Spitze der knapp sechs Millionen Mitglieder zählenden CGIL. »Italien hat diese Politikerklasse nicht verdient«, sagte sie auf der zentralen Kundgebung vor der Lateranbasilika. Für den angeschlagenen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi kam die Demonstration reichlich ungelegen. Der Regierungschef, der seit dem Bruch mit seinem ehemaligen Bündnispartner Gianfranco Fini keine Mehrheit mehr im Parlament hat, muss sich am 14. Dezember einem Misstrauensvotum stellen. An der Demonstration nahmen auch zahlreiche Mitglieder der linken Opposition teil. Gemeinsam mit den Gewerkschaftern ging erneut auch der Hochschulsektor auf die Barrikaden. Studenten, Wissenschaftler und Lehrer aus ganz Italien protestierten gegen drastische Kürzungen im Bildungswesen und gegen die Hochschulreform.
Redaktion nd-aktuell.de
Mehrere zehntausend Menschen sind am Sonnabend in Rom gegen die Politik der italienischen Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi auf die Straße gegangen.
Italien, Silvio Berlusconi
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/185239.massen-machen-berlusconi-druck.html
Grottenschlechtes Urteil
Sie hatten sich vor einem Jahr gegen eine Auslieferung des Antifaschisten Gabriele M. nach Budapest ausgesprochen. Ihm sollte der Prozess wegen Angriffen auf vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten gemacht werden. Worauf basierte Ihre Entscheidung? Die Entscheidung basierte auf zwei Hauptgründen: Erstens sind wir Richter und Staatsanwälte nicht in einem goldenen Käfig oder einer Glaskugel gefangen – wir wissen, was in Europa vor sich geht. Es ist bekannt, dass die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn unter der Regierung Orbán leidet. Zweitens war die Schere zwischen den Vorwürfen gegen Gabriele M. und der angedrohten Strafe einfach viel zu groß. Die Vorwürfe, die auch andere Beschuldigte betreffen, stehen in keinem Verhältnis zu den angedrohten 24 Jahren Haft, die im Europäischen Haftbefehl genannt werden. Eine Platzwunde am Kopf, die in drei Tagen heilt, rechtfertigt keine derartige Strafe. Diese beiden Gründe – Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit Ungarns und das fehlende Verhältnis zwischen Tat und Strafe – waren ausschlaggebend. Im Fall der Ende Juni 2024 ausgelieferten Maja T. hat das Berliner Kammergericht erklärt, Garantien aus Ungarn erhalten zu haben, dass die Justiz und das Gefängniswesen im Land rechtsstaatlich einwandfrei arbeiten würden. Was ließ Sie daran zweifeln? Die Entscheidung des Berliner Kammergerichts halte ich für juristisch mangelhaft. Sie ist oberflächlich und unzureichend begründet. Es wurden bloße Behauptungen aufgestellt, die genauso gut widerlegt werden könnten. Es ist eine Frechheit, ein Urteil auf diese Weise zu fällen und damit über das Leben einer Person hinwegzugehen, so als habe man sich nur eines Problems entledigen wollen – womöglich unter politischem Druck. Das Urteil ist grottenschlecht. Dem italienischen Antifaschisten Gabriele M. und zahlreichen weiteren Antifaschist*innen werden Straftaten am »Tag der Ehre« im Februar 2023 in Budapest vorgeworfen. Mehrere Neonazis wurden im Umfeld des Aufmarsches von Gruppen Vermummter verprügelt und zum Teil verletzt. Der »Tag der Ehre« ist ein Neonazi-Event, das seit 1997 in Budapest immer um den 11. Februar herum stattfindet. Neonazis aus ganz Europa verklären damit einen Ausbruchsversuch von Wehrmacht- und SS-Soldaten sowie ungarischen Kollaborateuren am 11. Februar 1945 als Heldentat. In der Schlacht um Budapest zwischen Oktober 1944 und Februar 1945 war die Stadt von der Roten Armee umzingelt worden. Das alljährliche Gedenken daran gilt als wich­tige Vernetzungsplattform der internationalen Neonazi-Szene. Aber auch die ungarische Regierung nutzt diesen Tag für geschichtsrevisionistische Politik.Im Zuge der Ermittlungen im sogenannten Budapest-Komplex stellten die ungarischen Behörden 15 Europäische Haftbefehle aus. Zuletzt wurde Ende Juni 2024 die Antifaschist*in Maja T. aus Deutschland nach Ungarn ausgeliefert. Seit Mai sitzt zudem Hanna S. in Nürnberg in U-Haft. Eine Auslieferung ist dabei nicht zwingend: Unter Leitung des damaligen stellvertretenden Generalstaatsanwalts am Oberlandesgericht Mailand, Cuno Jakob Tarfusser, lehnte die Behörde die Auslieferung von Gabriele M. ab. Was genau finden Sie daran oberflächlich? Die Begründung ist oberflächlich und unfundiert. Es fehlt an einer soliden Argumentation. Das Urteil zeigt, dass die Rechte von Maja T. nicht ernst genommen wurden. Man ist rücksichtslos über sie hinweggegangen. Wie beurteilen Sie das Vorgehen deutscher Behörden bei der Überstellung an Ungarn? Es wirkt, als habe man Maja T.s Recht auf Widerspruch gegen die Auslieferung untergraben und stattdessen Fakten schaffen wollen. Das Vorgehen der Behörden ist gravierend. Es zeigt, dass im Wettlauf zwischen Recht und Staatsmacht die Staatsmacht gewonnen hat. Das Recht wurde in den Hintergrund gedrängt. Und ich denke, dass Recht und Gerechtigkeit einen höheren Stellenwert haben sollten als die Staatsgewalt. 15 Monate war die Italienerin Ilaria Salis in ungarischer Haft. Sie hatte über unhaltbare Zustände dort berichtet. Hatte dies Ihre Entscheidung beeinflusst, Gabriele M. nicht auszuliefern? Nein, diese Informationen lagen mir zum Zeitpunkt meiner Entscheidung noch nicht vor. Als ich meinen Antrag im Fall M. dem Oberlandesgericht Mailand vorgetragen habe, wusste ich nichts von Salis. Die Entscheidung war also vollkommen unabhängig von ihrer Geschichte. Kurz nachdem ich den Europäischen Haftbefehl gelesen hatte, hatte ich eine klare Meinung dazu: M. darf nicht an die ungarischen Behörden ausgeliefert werden. Die Haftbedingungen von Salis, Maja und so weiter kamen erst später ans Licht. Cuno Jakob Tarfusser war bis vor Kurzem stell­ver­tretender General­staats­anwalt am Ober­landes­gericht Mailand und Vize­präsident des Inter­natio­nalen Straf­gerichts­­hofs. Das Gespräch mit Tarfusser fand auf der Veranstaltung »Gestörtes Ver­trauen: Die Grenzen inner­europä­ischer Rechts­hilfe« am Donners­tag an der Juris­tischen Fakul­tät der Uni­versi­tät Hamburg statt. Was wussten Sie vorher über die Haftbedingungen in Ungarn? Eigentlich nichts Konkretes. Allerdings finde ich nicht, dass Haftbedingungen das zentrale Thema sind. Gefängnisse sind grundsätzlich Orte der Gewalt, unabhängig vom Land. Es gibt bessere und schlechtere Haftbedingungen, aber gute Gefängnisse habe ich noch nie gesehen. Wenn ein Staat andere Staaten aufgrund mangelnder Haftbedingungen kritisiert, muss er selbst bessere Standards bieten. In Ungarn ist es wie in Deutschland und Italien auch, es gibt sowohl bessere als auch schlechtere Haftanstalten, aber gute Gefängnisse gibt es einfach nicht und ich habe viele Gefängnisse gesehen. Wie bewerten Sie die Tatsache, dass Deutschland seine Staatsbürger an Ungarn ausliefert, obwohl Zweifel an der dortigen Rechtsstaatlichkeit bestehen? In einem idealen System des Europäischen Haftbefehls wäre das unproblematisch. Es wäre eine normale Praxis innerhalb eines gemeinsamen Rechtssystems. Allerdings funktioniert dieses System nur, wenn sich alle Beteiligten an die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit halten. Genau das bezweifle ich im Fall Ungarns.
Interview: Jan Theurich
Gabriele M. werden Straftaten am »Tag der Ehre« im Februar 2023 in Budapest vorgeworfen. Unter Leitung des damaligen stellvertretenden Generalstaatsanwalts von Mailand lehnte die Behörde die Auslieferung ab.
Kriminalität, Sigmar Gabriel, Ungarn
Politik & Ökonomie
Politik Antifaschismus
2025-01-10T16:28:21+0100
2025-01-10T16:28:21+0100
2025-01-10T17:37:54+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188143.antifaschismus-grottenschlechtes-urteil.html
Der Labormaus-Retter
Eines Abends gehe ich noch mal in mein Hongkonger Labor. Es raschelt in der Ecke. Ich schaue genauer hin: Meine chinesischen Labormäuse haben in ihrem Käfig ein Bild aufgehängt. Das Porträt eines unrasierten Mannes mit wuscheligem Haar und breitem Grinsen: Das ist doch Prof. Stefan Dübel, der kürzlich bei uns einen Vortrag gehalten hat! Treue Biolumne-Leser kennen ihn bereits. Er ist derzeit Leiter der Biotechnologie an der TU Braunschweig. Wieso diese Mäuse-Verehrung für Stefan – und nicht für mich?! Nun, die Forschungen von Dübel versprechen, unzähligen Labormäusen das Leben zu retten! Beim Besuch in Hongkong erzählte er mir: »Seit ich Student war, habe ich versucht, auf Tierversuche zu verzichten – aber in der biomedizinischen Forschung ist das nicht leicht. In einem Kurs während des Studiums zeigte man uns die Herstellung von Ascites. Da wurden den Mäusen Antikörper produzierende Hybridom-(=Krebs)-Zellen in die Bauchhöhle gespritzt, damals das Standardverfahren zur Produktion großer Mengen monoklonaler Antikörper. Die Mäuse entwickeln danach stark aufgeblähte Bäuche voller Tumormasse. Zum Glück ist das jetzt in den meisten Ländern verboten. Trotzdem impft man noch immer unzählige Mäuse, um später ihre Milz zu gewinnen – zur Herstellung monoklonaler Antikörper. Dabei ist das gar nicht nötig!« Bis zu 100 000 Tiere werden pro Jahr weltweit für die Erzeugung von Antikörpern geopfert. Das Antikörper-Phagen-Display, an dessen Entwicklung Dübel und sein Heidelberger Kollege Frank Breitling maßgeblichen Anteil hatten, kommt ohne Tiere aus. In einem kürzlichen Wettbewerb um die effektivste Herstellung von Forschungsantikörpern zeigte sich das deutlich: Von den fünf erfolgreichen Labors, die Antikörper gegen die 20 vorgegebenen Antigene erzeugen konnten, arbeiteten bereits vier mit Phagendisplay! Kurze Wiederholung: Erbsubstanz-Stücke für sehr viele unterschiedliche Antikörper werden in bakterienbefallende Viren (Phagen) gepackt. Die Phagen produzieren dann jeweils einen Antikörper auf ihrer Oberfläche, jeder bindet an ein anderes Eiweiß (Antigen). Man kann nun die Erbsubstanz für den »richtigen« Antikörper herausfischen, da er am Antigen hängenbleibt. Die gefundene Antikörper-Erbsubstanz schleust man in kultivierte Zellen ein. Diese produzieren die Antikörper in Riesenmengen ... ganz unblutig. Kein einziges Tier muss geopfert werden. Die meisten Kollegen verwendeten dieses Phagendisplay schon länger zur finanziell lukrativen Herstellung von therapeutischen menschlichen Antikörpern. Dübel startete bereits 2003 ein Projekt zur Herstellung von Forschungsantikörpern mit dieser Methode. Heute benutzen sogar die US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) das Verfahren für ihr Großprogramm zur Herstellung von Antikörpern für sämtliche 30 000 menschlichen Proteine. Bei der klassischen Methode würde dieses NIH-Projekt über 100 000 Mäuse das Leben kosten. Prof. Dübel verwies in seinem Vortrag in Hongkong auf einen weiteren Vorzug: »Die Technologie ist heute sogar schneller und preiswerter als die Maus-basierte Antikörperherstellung.« Zurück ins Labor! Bei den Mäusen knallen die Sektkorken mit dem typisch chinesischen Trinkspruch: »Prof. Dübel, er lebe 100 Jahre und mehr!« Doch das war wohl nur ein seltsamer Traum. Die Phagendisplay-Technik aber ist Realität ...
Reinhard Renneberg, Hongkong
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Kein Frieden ohne Gerechtigkeit
Nur der Hartnäckigkeit einer zunächst kleinen ehrenamtlichen Initiative von Freunden Oury Jallohs ist es zu verdanken, dass der Asylbewerber aus Sierra Leone heute nicht zu den zahlreichen vergessenen Opfern von Polizeigewalt gehört. Vor fast 15 Jahren, am 7. Januar 2005, verbrannte der 36-Jährige in einer Polizeizelle in Dessau (Sachsen-Anhalt). Nach langem vergeblichem Kampf um eine juristische Aufarbeitung des Falles hatte das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg vor einer Woche einen bereits im Januar eingereichten Antrag von Jallohs Bruder Saliou Diallo auf Erzwingung eines neuen Ermittlungs- und Klageverfahrens als unzulässig abgewiesen. Dabei hatte ein Gutachten von der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« engagierter Experten gezeigt, dass das Opfer vor seinem Tod misshandelt wurde und, als das Feuer in seiner Zelle ausbrach, bewusstlos gewesen sein muss, ja, möglicherweise bereits tot war. Am Montag kritisierten Vertreter der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh«, Saliou Diallo und einer internationalen unabhängigen Kommission, die den Fall untersucht, den OLG-Gerichtsbeschluss scharf. Nebenklageanwältin Gabriele Heinecke sagte im Gespräch mit »nd«, das OLG-Schreiben biete viele »Angriffspunkte«. Die darin enthaltenen Argumente seien »von A bis Z unzutreffend« und seit langem durch die Akten im Fall »widerlegt«. Lesen sie auch: Sachsen-Anhalts LINKE fordert neue Ermittlungen. Generalbundesanwalt soll Fall Oury Jalloh übernehmen Aus Mangel an Argumenten greife das OLG zudem auf Mutmaßungen zurück, unter anderem zu nirgends registrierten Asservaten wie der Möglichkeit der Existenz eines zweiten Feuerzeugs zurück. Ein solches, schreibt das Gericht, könnte Jalloh verwendet haben, um die feuerfeste Matratze, an die er, auf dem Rücken liegend, an Händen und Füßen gefesselt war, in Brand zu stecken. Schon das eine Feuerzeug, das der Justiz bislang als Indiz für die These vom Selbstmord dient, war unmittelbar nach dem Tod Jallohs nicht in der Zelle und tauchte erst später auf. Am Montag stellte Vanessa E. Thompson von der »Internationalen Unabhängigen Kommission zum Tod von Oury Jalloh« neue Erkenntnisse vor, die ein Team um den Radiologen Boris Bodelle von der Goethe-Universität Frankfurt am Main durch Auswertung der Bilddateien einer Computertomographie des Leichnams Jallohs gewonnen hat, die zweieinhalb Monate nach dessen Tod angefertigt worden war. Bodelles Gutachten war dem OLG kurz vor dessen Entscheidung vorgelegt worden. Das Naumburger Gericht erklärte dazu nun, es handle sich nicht um neue Beweise, da die Analyse auf der Basis vorliegender Daten erfolgt sei. Daher sei der Antrag unzulässig. Der Analyse von Professor Bodelle zufolge wies der Körper des Toten neben einem bereits bekannten Bruch des Nasenbeins weitere Verletzungen wie einen Bruch des vorderen Schädeldaches und eine gebrochene Rippe auf. All diese Frakturen, betonte Thompson, seien Jalloh zu Lebzeiten, höchstwahrscheinlich durch »äußere Gewalteinwirkung«, zugefügt worden, dies hätten Entzündungen des umliegenden Gewebes belegt. Eine Selbstverletzung oder ein Sturz sei unwahrscheinlich. Der Zeitpunkt der Entstehung der Frakturen sei »eindeutig eingrenzbar« auf wenige Stunden vor dem Tod Jallohs. Dies widerspreche der von der Justiz vertretenen These, sein Körper sei beim Transport post mortem »beschädigt« worden. Die Schwere der Verletzungen, so Thompson, spreche zudem dafür, dass Jalloh stark aus der Nase geblutet haben müsse, dass er also, in der Zelle auf dem Rücken liegend, auch an eingeatmetem Blut erstickt sein könnte. Sein Zustand hätte, so die Einschätzung der Kommission, eine sofortige medizinische Behandlung erfordert. Im Fall Jalloh war es vorm Landgericht Dessau-Roßlau und vorm Landgericht Magdeburg zu Prozessen gekommen. Im ersten waren im Dezember 2008 zwei Polizisten aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden, im zweiten war der Dienstgruppenleiter des Dessauer Reviers, Andreas S., zu einer Geldstrafe von 10 800 Euro wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung verurteilt worden. Das Gericht hatte es als erwiesen angesehen, dass er Alarmsignale aus der Zelle mehrfach ignoriert hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte zuletzt im Herbst 2017 erklärt, es lasse sich nicht belegen, dass Polizisten oder andere Personen Jalloh angezündet hätten. Dabei hatte der Dessauer Leitende Oberstaatsanwalt Folker Bittmann sich im April 2017 gegenüber dem Generalstaatsanwalt für neue Ermittlungen und die Einschaltung des Generalbundesanwalts ausgesprochen. Zuvor hatte er einen weiteren Brandversuch veranlasst. Die Fachleute, die ihn durchgeführt hatten, waren ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass Jalloh vor Ausbruch des Feuers bewusstlos gewesen sein und Brandbeschleuniger eingesetzt worden sein muss. Bittmann formulierte damals einen konkreten Mordverdacht gegen zwei Polizisten. Ein Motiv könne unter anderem die Vertuschung einer vorhergehenden Straftat, also schwerer Misshandlung des Asylbewerbers, gewesen sein. Die Generalbundesanwaltschaft lehnte die Übernahme weiterer Ermittlungen jedoch ab, und die Generalstaatsanwaltschaft entzog Bittmann das Verfahren im Juni 2017. Im Herbst desselben Jahres beschloss die Behörde die endgültige Einstellung der Ermittlungen. Im Naumburger OLG-Beschluss heißt es am Ende, Rassismus von verdächtigten Beamten stelle kein wahrscheinliches Tatmotiv dar. Diese Einschätzung, so Anwältin Heinecke, sei Jahre nach der Selbstenttarnung des rechtsterroristischen NSU ein Zeichen für Realitätsverweigerung: »Wer zu einer solchen Einschätzung kommt, lebt offenbar auf einem anderen Stern.« Heinecke hält es angesichts der Widersprüche in der OLG-Entscheidung für nötig, aber für äußerst schwierig, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde dagegen einzulegen. Dafür hätten die Anwältinnen der Nebenklage lediglich einen Monat Zeit, zugleich seien die formalen Anforderungen an eine Verfassungsbeschwerde sehr hoch. Gefordert sei eigentlich die Staatsanwaltschaft. Die aber habe über die Jahre meist eher gegen die Nebenklage gearbeitet, statt zur Aufklärung des Falles beizutragen. Unterdessen diskutierten am Wochenende in Berlin Vertreter von Initiativen gegen rassistische Polizeigewalt aus ganz Europa Strategien, um Aufklärung durchzusetzen. Angehörige von Opfern aus Großbritannien, Frankreich und Österreich schilderten am Montag ihre Erfahrungen mit der Polizei. Sie wollen sich stärker vernetzen, um unabhängige Untersuchungen von Todesfällen finanzieren zu können. Denn, so Fahima Laidoudi aus Frankreich: »Dem Staat können wir nicht vertrauen.« Laidoudi und andere Angehörige von Menschen, die durch Polizeischüsse oder unter ungeklärten Umständen im Gewahrsam starben, wiesen darauf hin, dass der Umgang staatlicher Stellen überall ähnlich sei. Marcia Rigg vom britischen »Friends and Families Fund« und Schwester eines 2008 auf einer Polizeistation in Brixton Verstorbenen, wies darauf hin, dass es bei 1700 Fällen von tödlicher Polizeigewalt in Großbritannien bislang in keinem einzigen zu einer Verurteilung gekommen sei. Aufklärung sei aber unabdingbar, betonte ein Gewerkschafter aus Italien, denn: »Ohne Gerechtigkeit werden die Familien der Opfer nie Frieden finden.«
Jana Frielinghaus
Nebenklageanwältin Gabriele Heinecke weist auf Widersprüche im jüngsten Gerichtsbeschluss zum Fall des in einer Polizeizelle verbrannten Flüchtlings hin. Experten beklagen Versäumnisse der Justiz.
Flüchtlinge, Oury Jalloh, Polizei, Polizeigewalt, Rassismus
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Wer bin ich?!
Herr Žižek, muss Wolfgang Fritz Haug sein »Historisch-Kritisches Wörterbuch« noch einmal aufmachen, um ihren philosophischen Leitbegriff der Disparitäten aufzunehmen? Ich kenne Wolfgang Fritz Haug. Sein »Historisch-Kritisches Wörterbuch« ist ein großes, ehrgeiziges Projekt. Aber ich würde ihn nicht nötigen wollen, mir einen Eintrag zu gewähren. Länger als eine akademische Vorlesung dauerte das Interview, das Slavoj Žižek der Zeitung »neues deutschland« gewährte. Der 1949 im jugoslawischen Ljubljana geborene Philosoph stellte auf der Leipziger Literaturmesse sein neues Buch »Disparitäten« (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 504 S., geb., 44 €) vor. Mit dem Slowenen, der in London und Ljubljana Philosophie lehrt und Mitglied der Bewegung Demokratie in Europa 2025 (DiEM25) ist, sprach Karlen Vesper. Von Ungleichheit spricht schon Hegel im Vorwort seiner »Phänomenologie des Geistes« - dreimal. Ich nutze den Begriff, um die Inkongruenz unserer Wirklichkeit zu beleuchten, gleichzeitige Ungleichheiten. Disparität zielt auf ein Ganzes, dessen Glieder nicht zusammenpassen, ein künstlich Zusammengesetztes, dessen organische Einheit zerstört ist. Es gibt kein gesellschaftliche »Wir«, wie in Sonntagsreden von Politikern oft zu hören ist und von Populisten vorgegaukelt wird. Wir leben in einer total verrückten Situation. Einerseits ist klar, dass der Kapitalismus an seine Grenzen gestoßen ist, das gestehen sogar die Bosse der großen Kooperationen wie Facebook und Apple, Mark Zuckerberg und Bill Gates. Selbst Francis Fukuyama, der 1992 das »Ende der Geschichte« verkündete, ist kein Fukuyamist mehr. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, kann nicht überleben. Auf der anderen Seite müssen wir registrieren, dass die Linke keine Alternative anzubieten hat. Haben Sie eine anzubieten? Nein. Es ist aber unsere Aufgabe, Aufgabe der Marxisten, eine Alternative zu entwickeln. Wir müssen unsere Arbeit besser machen als alle Gates und Zuckerbergs dieser Welt. Nur so hat der Kommunismus eine Chance. Sie glauben noch an den Kommunismus. Sie sind überzeugt, dass er machbar ist? Ja, absolut. Nicht Sozialismus, sondern Kommunismus. Das sozialdemokratische Projekt ist gescheitert. Die ganze politische Szenerie wechselt. Wir haben nicht mehr einerseits die moderate Linke und andererseits die moderate Rechte. Wir haben ein neoliberales Zentrum, das prokapitalistisch ist, und um das Populismen kreisen. Der Populismus übernimmt stets dort das Feld, wo die wahre Linke fehlt, versagt, gescheitert ist. Das zeigt sich sehr deutlich in der Stimmungsmache gegen Immigranten. Oder in Trumps Politik. Er praktiziert einen »Sozialismus« für die Reichen. Und doch glauben viele einfache US-Amerikaner, dieser Präsident würde endlich mal etwas für sie tun. Das ist die Paradoxie der Gegenwart. Der rechte Populismus, ebenso in Deutschland, Frankreich und anderswo, gebärdet sich als Vorkämpfer für soziale Wohlfahrt, was früher das Privileg der Linken war. Man muss nach dem fundamentalen Unterschied fragen. Martin Schulz mag eine sympathische Person sein, aber das ist nicht genug. Und mit welch hehren Ansprüchen ist SYRIZA in Griechenland angetreten? Heute ist sie Vertreterin der Austeritätspolitik, weil das Establishment ihr gnädig erlaubte, in Regierungsmacht zu bleiben. Der Sozialismus ist für Sie perdu? Er vermag ebenso wenig wie der Kapitalismus die großen Probleme der Zeit, die ökonomischen, ökologischen, intellektuellen, zu bewältigen. Zum Beispiel das derzeitige Topthema: Die Immigranten werden als ein kommunales oder regionales Problem betrachtet, statt den globalen Ursachen auf den Grund zu gehen. Was geschieht warum in Jemen, in Syrien und anderswo? Anstatt diese Probleme zu diskutieren und zu lösen, wird ein künstlicher Konflikt konstruiert: »Die Migranten stehlen uns die Arbeitsplätze, bedrohen unsere Existenz.« Die Medien kolportieren diesen Quatsch auch noch. Das ist stupid und gefährlich. Die Herrschenden, die an der globalen Misere schuld sind, gebärden sich dann auch noch als Streiter gegen Rassismus und Unmenschlichkeit. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, heißt es bei Marx. Jene Menschen, die den Rechtspopulisten hinterherrennen, knabbern mehrheitlich nicht am Existenzminimum. Woher kommt dieses falsche Bewusstsein? Wenn man Marx genau liest, und das sollte man, stößt man auf den Begriff des falschen Bewusstsein als Teil der ökonomischen Basis. Marx nutzt den Begriff als eine herrschaftskritische Kategorie. Aus dem Klassencharakter der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt sich, dass die Gedanken jener Klasse, die Eigentümer der Produktionsmittel ist, auch die herrschenden Gedanken sind. Manche Vertreter der Frankfurter Schule haben nur zwei, drei Kapitel von Marxens erstem Band des »Kapitals« gelesen, nicht die Bände 2 und 3, die extrem wichtig sind zum Verständnis der aktuellen Krisen. Man hört oft, wir würden in einem postideologisches Zeitalter leben? Das ist Quatsch. Ideologie ist Teil unseres gesellschaftlichen Seins. Die Deutschen haben damit aber offenbar ein besonderes Problem. Ich bemühe hier gern einen derben Vergleich: Im Gegensatz zu den französischen und amerikanischen Toiletten, wo die Scheiße sofort im Loch verschwindet, wird sie in deutschen Kloschüsseln aufgefangen. Die Deutschen können sich von ihrer Scheiße nicht so leicht trennen. Man konnte das auch sehr gut nach der Wende in der DDR studieren - das heißt: wie Ideologie funktioniert. Die Ostdeutschen übernahmen ohne große Diskussionen das westdeutsche Modell. Es gab einige Utopisten, die meinten, dass der Zerfall der DDR die Chance für einen neuen Sozialismus biete. Sie waren weniger ideologisch als jene, die apologetisch das westliche System priesen und kritiklos annahmen. Die Utopier sahen klar, der Kapitalismus bringt neue Probleme, ist nicht die finale Lösung. In Zeiten des sogenannten Endes der Ideologien präsentiert sich Ideologie gern als Anti-Ideologie: Wir akzeptieren nur Fakten, kümmern uns nicht um Ideen. Aber wie man Fakten oder angebliche Fakten serviert und akzeptiert, ist Ideologie. Die Herrschenden brauchen die progressiven Kräfte nicht direkt zu unterdrücken. Einfacher ist es, Hoffnung zu töten. Die herrschende Ideologie konfirmiert, adaptiert Ideen. Es wird nicht plump behauptet, der Kapitalismus sei das beste System. Nein, man räumt ein, dass er Shit ist. Aber man suggeriert: Es gibt keine Alternative, jede Alternative wäre schlimmer, bringt Gulag und so weiter. Man lässt keine Perspektive denken. Und da müssen wir ansetzen. Zurück zur Kritik der politischen Ökonomie. Der Kapitalismus hat eine 500-jährige Geschichte hinter sich, der »reale« Sozialismus existierte nicht einmal ein Jahrhundert. So ist es. Uns Marxisten mangelt es noch an einer exakten Analyse, warum der Sozialismus unterging. Ich habe gute Freunde, die in der DDR Wunderkinder der Computerisierung waren, Programme entwickelten. Sie erläuterten mir die Tragödie der DDR. Ulbricht war eigentlich begeistert, besessen … ... von der Kybernetik, für die sich nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Arbeiter, LPG-Bauer, Kindergärtnerinnen interessieren sollten und die auch im FDJ- und Parteilehrjahr Pflichtlektüre war. Es funktionierte nicht. Kybernetik war ein neues Produktionsmittel und die gesellschaftlichen Verhältnisse waren nicht fähig, es zu adaptieren. Auch die marxistischen Erklärungsdissidenten - »Bla, bla, bla ...« - hatten zur neuen Stufe der Produktionsverhältnisse nichts zu sagen. Die Digitalisierung von Sozialismus und Kommunismus konnten sie nicht denken. Sie denken gern an die DDR zurück? Ich bin kein DDR-Nostalgiker. Aber ja, ich mag beispielsweise den Film »Die Legende von Paul und Paula«. Während er in einer Versammlung sitzt, sinniert sie in einer Cafeteria: »Fuck, wer ist dieser Mann, den ich gern bumsen möchte?« Sie ist überhaupt nicht puritanisch, entspricht ganz und gar nicht dem Frauenbild, das man heute wieder propagiert. In »Paul und Paula« begehren sich Mann und Frau. Wunderbar. Die DDR war nicht prüde, bigott. Der Umgang mit Homosexualität war liberal. Johannes R. Becher war gay. Hätte man Homosexualität verfolgt, wären viele talentierte Menschen nicht in führenden Positionen gewesen. Die Homosexuellen in der DDR waren deshalb keine Dissidenten. Auch hier gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich bestreite vehement, dass das Leben in der DDR grau und düster war. Es gab ein wahres, authentische Leben. Konrad Wolf hat in »Solo Sunny« ein exzellentes Porträt des Alltags in der DDR geschaffen. Der Film war nicht antikommunistisch, aber extrem kritisch. Ebenso die Literatur. Ich werde Sie jetzt gewiss schocken, weil Sie das von mir vielleicht nicht erwarten: Für mich ist nicht so sehr Christa Wolf die herausragende Literatin der DDR, obwohl ich große Sympathien für sie hege. Es war unfair, wie man sie als Kollaborateurin denunzierte, weil sie als junge Frau einige Monate für die Stasi berichtete. Was sie berichtete, war für den Geheimdienst total nutzlos, Man ließ sie gehen. Ihre Karriere war aber ruiniert. Sie erhielt nicht den Literaturnobelpreis, der ihr zugestanden hätte. Dennoch ist für mich Heiner Müller wesentlich spannender. Und Brigitte Reimann - oh mein Gott, oh mein Gott, was für eine großartige Frau!!! Ich las ihre Tagebücher, die ehrlichste Nahaufnahme der DDR-Wirklichkeit. Und »Franziska Linkerhand« ist das größte unvollendete dramatische Werk, das ich kenne. Die Schriftsteller der DDR wollten nicht umstürzlerisch wirken, sondern etwas zum Positiven wenden. Ihnen war es nicht erlaubt, gesellschaftliche Probleme direkt anzusprechen. Sie umgingen das Verbot, indem sie - und auch das mag ich an der DDR - antike Texte wiederbelebten, um ihre eigene gesellschaftliche Realität zu reflektieren. Beispielsweise Christa Wolf mit »Kassandra« und »Medeas Stimmen«. In der Maskierung wurde die Gegenwart demaskiert. Und nebenbei erfuhr die antike Literatur eine Renaissance. Interessant ist für mich auch, was in der DDR von den Werken der Weltliteratur erlaubt war und was nicht. Unglücklicherweise war Franz Kafka verboten, den Bert Brecht als einzigen marxistischen Romancier adelte. Was die Klassik betrifft, befremdete mich, dass Heinrich von Kleist erlaubt war, an dessen Arminius- und Germania-Huldigung nationalistische und chauvinistische Kreise in Deutschland anknüpften. Schiller wurde gehuldigt, ungeachtet dessen, dass sein »Lied von der Glocke« faschistoid ist. Besungen wird die patriarchalische Familie mit dem arbeitsamen Mann und der züchtigen, braven, treuen und umsichtigen Gattin, Hausfrau und Mutter. Die Französische Revolution von 1789 erscheint als eine Horror verbreitende Frau, eine hysterische Hyäne. Tatsächlich haben die Frauen der Französischen Revolution wie Olympe de Gouges auch für sich Rechte eingefordert - und wurden guillotiniert. Von den Revolutionären. Weil sie sich in »Männerangelegenheiten« einmischten. Revolutionäre können auch borniert sein. Übrigens, die kluge deutsche Jakobinerin Caroline von Schlegel teilte ihrer Tochter 1799 in einem Brief mit: »Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.« Die Feminisierung revolutionären Furors kann man auch bei der Oktoberrevolution beobachten. In Memoiren weißgardistischer Offiziere stößt man immer wieder auf das Bild einer grausam-wütenden Rotgardistin oder Polit-Kommissarin. Das waren emanzipierte Frauen. Die brauchten keine MeToo-Debatte. Was haben Sie gegen MeToo? Das Problem von MeToo ist, dass diese Bewegung legalistisch und scheinheilig ist. Die MeToo-Debatte tangiert nur Movie-Stars. Und Porno-Stars. Donald Trump hat ein neues Problem. Er hat viele Probleme. Vor allem dass er sein eigener Witz ist, den Karikaturisten und Komiker nicht toppen können. Zu MeToo: Nicht beachtet werden die Hunderttausenden einfachen Frauen, die täglich terrorisiert werden von ihren Ehemännern, Vätern, Brüdern. Die Debatte, so befürchte ich, schränkt sexuelle Freiheit ein. Jede Frau, jeder Mann, der für einen One-Night-Stand eine Bar aufsucht, macht sich verdächtig. Frauen können nicht mehr enthusiastisch sagen: »Ich will jetzt Sex haben.« Das ist doch verrückt. Kein Mann traut sich mehr, eine Frau, die er begehrt, anzusprechen. Er muss brav warten, bis diese ihn selbst auffordert. Das geschieht in der Regel nicht. Wir brauchen keine neuen Gesetze, sondern eine neue Ethik, oder wie Hegel es nannte: Sitten. Wir fanden in der DDR die Praxisphilosophie sehr spannend, deren »Akropolis« die kroatische Insel Korčula war. Ist sie mit den damaligen Protagonisten gestorben? Sie hatte auch keine richtige Alternative anzubieten. Ihr »humaner Sozialismus« oder »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« war zu wenig. Sie gibt es nicht mehr. Sie war außerdem, wie ich es nenne, eine offizielle Opposition, wurde von Staat und Partei toleriert, da sie nicht gefährlich war, für den ideologischen Apparat sogar nützlich. In den sozialistischen Staaten war es Privatsache, was man glaubte. Als entscheidend wurde angesehen, was man in der sozialen Praxis tat und sagte. In Jugoslawien war es im letzten Jahrzehnt vor dem Fall des Eisernen Vorhangs sogar eine Bedingung, die offizielle Ideologie nicht ganz ernst zu nehmen, vielmehr eine gewisse Distanz zu zeigen, um in die Nomenklatura aufgenommen zu werden. Welch wunderbare Ironie. Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, man sollte Heidegger nicht kriminalisieren. War nicht seine Antrittsrede als Rektor der Freiburger Universität vor 80 Jahren, im April 1933, seine Anbiederung an die Nazis kriminell? Nicht kriminalisieren heißt nicht, dass man nicht kritisieren darf. Martin Heidegger ist zweifellos eine sehr umstrittene, diskussionswürdige Person. Als 2014 die ersten Bände seiner »Schwarzen Hefte« erschienen, flammte die Debatte um ihn neu auf. Sein Antisemitismus wurde bestätigt. Ganz schlimm: 1942 bezeichnet er die Auslöschung der europäischen Juden als Akt jüdischer Selbstvernichtung, die Juden selbst seien die treibende Kraft zu ihrer Eliminierung. Zugleich konnte man den »Schwarzen Heften« entnehmen, dass er zunehmend Zweifel in Bezug auf Hitler und das NS-Regime hegte, aber nicht wegen deren Tun, deren Verbrechen, sondern ihres Nihilismus gleich dem in der westlichen Welt. Heideggers Gedankengebäude ist unentscheidbar, lässt unterschiedliche politische Lesarten zu. Ich bin aber dagegen, ihn aus dem akademischen Kanon zu verbannen. Man sollte stattdessen fragen, wie es dazu kam, dass ein klassischer Philosoph sich für die Nazis engagieren konnte. Da sind Sie auch überkreuz mit Jürgen Habermas. Ja. Die »Dialektik der Aufklärung«, für die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer stehen, geht davon aus, dass es sich beim faschistischen Terror, beim Holocaust nicht um Relikte einer barbarischen Vergangenheit handelte, sondern um Phänomene eines dem Projekt Aufklärung immanenten Antagonismus. Das leugnen die Habermasianer; für sie ist das Projekt Aufklärung lediglich noch nicht vollendet. Sie erkennen nicht, dass auch die Aufklärung ein zerstörerisches Potenzial in sich birgt. Sie akzeptieren nicht die Spannungen in der Moderne. Ich habe aber noch ein anderes Problem mit der Frankfurter Schule. Sie haben viele Probleme mit dieser »Schule«. Nein, Adorno schätze ich sehr. Und Herbert Marcuse nicht? Auch, aber er wusste nicht so recht, wie mit dem Stalinismus umzugehen ist. Wir Marxisten - und das ist für Ihre Leser wichtig - müssen uns mit dem Stalinismus ernsthaft beschäftigen, dürfen das Thema nicht den anderen überlassen, den Liberalen und den Antikommunisten. Aber zurück zu Habermas. Wenn Sie alle seine Werke lesen, Sie würden nicht auf die Idee kommen, dass es einmal zwei Deutschlands gegeben hat. Er erwähnt die deutsche Zweistaatlichkeit überhaupt nicht. Er drückt sich vor einer Diskussion, die heute mit der Revitalisierung der Totalitarismustheorie wieder ganz wichtig ist. Was war der Faschismus? Was der Stalinismus? Was bedeutet Kommunismus? Ein Zeichen für den ideologischen Rückwärtstrend ist, dass man von Extremismen spricht, rechter wie linker - das sei einerlei. Faschismus und Kommunismus das Gleiche. Der Kommunismus erschien vor dem Faschismus, habe diesen animiert. Mussolini war Sozialist, Hitler Nationalsozialist. Und eigentlich habe der Faschismus nur ein größeres Übel, den Kommunismus, zu verhindern versucht. Was für krude, abstruse Gedanken! Linke haben sich schon auf vielfältigste Weise mit dem Stalinismus befasst. Nicht genug. Unzureichend. Die Linken sind der herrschenden Ideologie noch nicht gewappnet. »Das Leben der Anderen« haben Millionen gesehen, er bekam einen Oscar. Der Film gilt als antikommunistisch, ist aber nur naiv. Ein Stasi-Minister ordnet die Observation eines Schriftstellers an, dessen Frau er bumsen möchte. Was für eine einfältige Sicht. Ein Übel muss eine unanständige Ursache im privaten Bereich haben, und das ist immer Sex oder Geldgier. Das war aber nicht das Problem der DDR. Im Gegenteil, jeder konnte, wann auch immer, Sex haben. Die Frauen wählten sich ihre Partner selbstbestimmt. Dieser Film ist nicht ernst zu nehmen. Anders verhält es sich mit »Good Bye, Lenin!«, zugegeben, auch naiv, aber wahrhaftiger. Die These dieses Films ist nämlich: Die einzige Möglichkeit, ein ehrlicher Kommunist zu bleiben, ist es, verrückt zu werden. (lacht) Kennen Sie den Film »Der Zug«? Nein, habe ich nicht gesehen. Ein Koproduktion aus dem Jahr 1988. Ben Kingsley, der schon den Gandhi mimte, spielt Lenin, Leslie Caron dessen Frau Nadeschda Krupskaja und Dominique Sander die Geliebte, die Französin Inès Armand. Es geht um die Rückkehr aus dem Schweizer Exil nach Russland 1917. Ein überraschend pro-leninistischer, exzellenter Film. Aber ich habe noch nicht »Der junge Marx« gesehen? Ist er gut? Ja, fantastisch. Wir haben ihn in unserem »nd«-Shop vorrätig, ich kann Ihnen eine DVD schicken. Danke, sehr nett. Ich muss ihn nur downloaden. Was halblegal ist. Ich bin vor allem auf die kluge, streitlustige Mary Burns neugierig, die Geliebte von Friedrich Engels. Sie kritteln auch ein wenig wider Antonio Negri und Michael Hardt, deren »Multitude«, Vision einer Demokratisierung der Weltgemeinschaft von unten, mir sympathisch erscheint. Ich stimme zu, sie ist sympathisch. Aber ich glaube nicht, dass basisdemokratische Selbstorganisation, lokale Initiativen und Bewegungen, die heutigen immensen globalen Probleme lösen können, wie Biogenetik, Roboterisierung und so weiter. Brauchen wir eine neue Kommunistische Internationale? Absolut. Nichts kann mehr im heroischen Alleingang geschafft werden, es muss europaweit, weltweit angegangen werden. Oder es passiert nichts. Würden Sie eine solche neue Internationale gründen, den Gründungskongress vielleicht in Ljubljana einberufen? Wer bin ich?! Nein, ich fürchte, es würde kaum jemand kommen. In Slowenien sollen die antikommunistischen Bürgerwehren, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten, die Partisanen bekämpften, rehabilitiert werden. Ljubljana wäre somit als Gründungsort ausgeschlossen. Auch in Großbritannien und in den USA bin ich praktisch verboten, von den Rechten und einem Teil der Neuen Linken. Einzig in Deutschland habe ich einen guten Stand. Werden heute lebende Generationen den Kommunismus noch erleben? Es ist einfach, ein Optimist zu sein. Anfang 1917 hielt Lenin in der Schweiz vor Genossen eine Rede, in welcher er ihnen versicherte, in der glücklichen Lage zu sein, einen sozialistischen Staat noch zu erleben. Das war einige Monate vor der Oktoberrevolution. Er ahnte selbst nicht, dass es so schnell gehen würde. Ich bin da eher ein Hegelianer. Hegel war undogmatisch und vorsichtig genug, nicht irgendwelche Aussagen über die nahe Zukunft zu treffen. Er hatte Angst, von Nachgeborenen auf einen historischen Irrtum festgenagelt zu werden? Er war vorsichtig und zugleich risikobereit. Jacques Lacan sprach von einem bestimmten Punkt, an dem jeder eine Entscheidung treffen muss. Diese birgt ein Risiko. Das trifft auch auf die Oktoberrevolution zu. Lenin war sich bewusst, dass in Russland die objektiven Bedingungen noch nicht reif für die Revolution waren. Aber wenn man immer auf den richtigen, auf den perfekten Moment wartet, geschieht nichts. In Ihrem neuen Buch beschäftigen Sie sich wieder viel mit Hegel. Bekanntlich hat diesen bereits Marx vom Kopf auf die Füße gestellt. Was ist Ihre Intention? Ihn Purzelbäume schlagen zu lassen? Ich will ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es mag verrückt klingen, aber in gewisser Weise war Hegel materialistischer als Marx. Hegel sprach von einem Weltgeist, als dessen Inkarnation »zu Pferde« er dann Napoleon sah? Er betrachtete alles retroaktiv, machte keine Spekulationen über Künftiges. Wir können nur erkennen, was war. Hegel hätte für sich nie - wie die stalinistische Einheitspartei - das Monopol der Wahrheit in Anspruch genommen und sich nicht als Sieger der Geschichte gefühlt. Die Eule der Minerva erscheint erst am Abend. In seiner »Rechtsphilosophie« notiert er, wir können begrifflich eine soziale Ordnung erst beschreiben, wenn deren Zeit vorbei ist. Was geschehen wird, ist offen. In der Berliner Humboldt-Universität kann man den berühmten Spruch von Karl Marx lesen … »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Die 11. Feuerbachthese. Richtig. Wir wollten die Welt verändern. Jetzt kommt es erst einmal darauf an, die Welt neu zu interpretieren. Wir brauchen einen kognitiven Routenplaner. Was bedeutet die Digitalisierung? Was die Biogenetik? Wie verändert all das die Gesellschaft? Was geschieht, wenn unser Hirn computergesteuert wird? Der jüngst verstorbene Stephen Hawking konnte dank Computertechnik arbeiten, seine Gedanken artikulieren. Aber was rausgeht, kann ebenso hineinfließen. Werden Computer demnächst unsere Gedanken kontrollieren und manipulieren? Ich habe an einer Konferenz in China teilgenommen. Ein Neurologe von der Akademie der Wissenschaften berichtete mir von einer Vision, die mich erschreckte. Ziel der Biogenetik in China sei es, das psychische Wohlbefinden der Menschen zu steigern. Ähnliche Forschungen gibt es natürlich auch in den USA und gewiss auch in Russland. Die Gefahr heute sind weniger die chemischen und nuklearen Waffen als die reale Möglichkeit der Manipulation von Hirnen. Daran sind Staaten ebenso wie private Unternehmen interessiert. Das ist horrifying und stellt alle Hollywood-Blockbusters mit ihren Dystopien in den Schatten. Wir treten in eine neue Klassengesellschaft ein, die schlimmer ist als die alte. Tut mir leid, aber ich muss mich jetzt - ein schreckliches deutsches Wort - »einsatzbereit« machen. Ich muss zum Blauen Sofa, zum ZDF in der Messehalle. Ich muss dort den Blauen Obelisken geben. (lacht)
Karlen Vesper
Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte, sagt Slavoj Žižek. Während er das sozialdemokratische Projekt für gescheitert erklärt, sieht der Philosoph Marxisten in der Pflicht, dem Kommunismus zum Durchbruch zu verhelfen.
DDR, Faschismus, Film, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Karl Marx, Kommunismus, Literatur, Marxismus, Nationalsozialismus, Sozialismus
Feuilleton
Kultur Slavoj Žižek
2018-03-30T13:31:30+0200
2018-03-30T13:31:30+0200
2023-01-21T22:26:22+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083954.slavoj-žižek-wer-bin-ich.html
Schmetterlinge mit Fahrradantrieb
»Die Kraft der Schmetterlinge« ist eine bebilderte Rundreise, eröffnet den Zugang zu einer Vielzahl von Lösungen und Alternativen jenseits der Konkurrenz, der marktgläubigen Gewinnorientierung. Die aus Rostock kommende Autorin des Filmes, Heike Engel alias Momo, spricht selbst nicht davon, Regisseurin zu sein - vielmehr sei sie für »Idee, Kamera und Schnitt« der Dokumentation verantwortlich. Sie ist mit ihrer Kamera durch Mittelamerika gereist, von Panama bis Guatemala und Mexiko, hat Basisinitiativen gesucht - und viel Spannendes gefunden. Dabei ist sie auf Ideen gestoßen, die auch für die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus hier im Norden hilfreich sein können. Viele Interviews hat die Filmmacherin geführt. Sie fragt nicht ab, sondern lässt ihren Gesprächspartnern Raum. Alle, die in der »Kraft der Schmetterlinge« vor der Kamera agieren, haben eines gemeinsam: Sie sind nicht bereit, sich mit dem Elend abzufinden. D... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Gaston Kirsche
Die Filmemacherin Heike Engel reiste mehrere Monate lang durch Mittelamerika, um alternative, an Selbstbestimmung orientierte Lebensentwürfe aufzuzeichnen.
Lateinamerika, Ökologie, Vermarktung, Wirtschaftskrieg
Politik & Ökonomie
Politik
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Zweifel an Preisexplosion
Berlin (Agenturen/ND). In der Debatte über Atomausstieg und Energiewende sind Zweifel an dramatischen Kostenprognosen laut geworden. Es gebe »einen Überbietungswettbewerb, was Angaben zu den Kosten angeht«, kritisierte der Präsident des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Gerd Billen, am Montag. Billen verlangte, die Strompreise bezahlbar zu halten, wertete aber moderate Preiserhöhungen als akzeptabel. Die Verbraucher seien zum Beispiel zugunsten eines schnellen Atomausstiegs »bereit, etwas mehr für Strom zu zahlen«. Auch der Vorsitzende des Sachverständigenrats der Bundesregierung für Umweltfragen, Martin Faulstich, wandte sich gegen übertriebene Kostenprognosen. Er schätzte vorübergehende Mehrkosten beim Strom für einen Vier-Personen-Haushalt durch Atomausstieg und Energiewende auf zehn bis 20 Euro im Monat. »Ich glaube, das ist zu verkraften, zumal es ja auch beim Energiesparen noch etliche ungenutzte Potenziale gibt«, sag... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Die Mehrheit der Bürger will schnell raus aus der Atomkraft – doch noch rätselt Deutschland, wie teuer die neue, grüne Stromwelt wird. Die Energieagentur Dena rechnet mit drastischen höheren Strompreisen. Die Grünen sagen, Schwarz-Gelb arbeite mit »Horrorzahlen«.
Atomkraft, Energiepolitik, erneuerbare Energie, Preisentwicklung, Strompreise
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/195838.zweifel-an-preisexplosion.html
Fachgeschäft für Demokratie
Vor der Schloßstraße 20 in Rheinsberg (Ostprignitz-Ruppin) ist eine Ampelanlage mit einer langen Rotphase installiert. Dort stand der Stadtverordnete Freke Over (Linke) mit seinem Auto und wartete auf Grün. Dabei fiel sein Blick in das Schaufenster. Dort hing ein Zettel. Der Laden, in dem sich eine Fahrschule befand, werde frei und sei zu vermieten. »Da begann es in mir zu arbeiten«, erzählt der Kommunalpolitiker. Doch es dauerte noch einige Wochen, bis er die zündende Idee hatte. Am 14. März eröffnete Over in der Schloßstraße sein Fachgeschäft für Demokratie. »Ich wollte nicht bei Facebook auf den dort verbreiteten Hass reagieren. Dafür war mir meine Lebenszeit zu schade«, sagt er. Wegen der Corona-Maßnahmen kann das Geschäft jedoch bisher nur eingeschränkt genutzt werden. Künftig gibt es hier zum Preis ab drei Euro die Demokratie zu kaufen: in Form von Dosen in verschiedenen Formen, Farben und Größen. Sie enthalten im Prinzip nichts als Luft. Für die Inhalte muss der Kunde eigenverantwortlich sorgen. Auf die Deckel ist das Wort »Demokratie« geklebt. Öffnet man die Dose, finden sich innen Hinweise wie »alles andere ist Quark«, »tut gut« und »macht schöner«. In einer Variante ergibt sich in Kombination mit der Aufschrift auf dem Deckel auch die berühmte Formel von SPD-Bundeskanzler Willy Brandt (1913-1992): »Demokratie wagen!« 60 Dosen mit insgesamt 25 Sprüchen haben Freke Over und seine Mitstreiter für das Fachgeschäft gebastelt. Einmal steht statt »Demokratie« auch »Demokratin« auf dem Deckel. Das griechische Wort Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Doch in ihren Ursprüngen in Athen und bis ins 20. Jahrhundert hinein blieben Frauen ausgeschlossen. Heute sollen alle gleichberechtigt mitbestimmen dürfen. In den ersten zwei Wochen sei die Demokratie ein Ladenhüter gewesen, muss Freke Over einräumen. Noch keine einzige Dose konnte verkauft werden. »Aber weil wir wegen Corona geschlossen haben«, betont Over. Er hofft, dass die Infektionszahlen im Sommer sinken und sein Geschäft dann rechtzeitig vor der Bundestagswahl im September noch brummt. Gesprächsrunden und Filmabende werden dann auf dem Programm stehen. Die Technik für die Filmvorführungen steht schon bereit. Die kleine Leihbibliothek füllt sich. Freke Over und sein Stadtfraktionskollege Paul Kurzke räumen schrittweise die gespendeten Bücher ein. Es handelt sich um politische Literatur. Das Regal hat Kurzke aus dem alten Atomkraftwerk Rheinsberg organisiert. Dort stand es im Verwaltungsgebäude und sollte entsorgt werden. Kurzke ist Bauingenieur und bei der langwierigen Demontage des bereits 1990 stillgelegten Kraftwerks beschäftigt. »Mindestens bis 2040 werden wir dort noch zu tun haben«, sagt der 30-Jährige. Das Fachgeschäft ist nur 45 Quadratmeter groß, die Miniküche und die Toilette schon eingerechnet. Over und Kurzke renovierten die Räume mit Freunden. 1500 Euro hat das Material dafür gekostet. Es ist hübsch gemütlich geworden. Vor allem die Holzbalken, die vorher unter Tapete versteckt waren, kommen jetzt schön zur Geltung. Aus Getränkekisten und einer Holzplatte entstand eine kleine Bar. Dort stehen Apfelsaft, Mineralwasser, Bier und Sekt bereit. Doch »Trinken mit Linken« ist im Moment aus Infektionsschutzgründen nicht möglich, ebenso wie »Schöner Tanzen ohne Nazis«. Aber das und noch viel mehr soll zukünftig stattfinden. Einstweilen kann die aus Freke Over und Paul Kurzke bestehende Linksfraktion hier nur ihre Sprechstunde abhalten, immer dienstags von 17.30 bis 18.30 Uhr. Die beiden Kommunalpolitiker nennen es ihren Demokratie-Notdienst. Auf den zweiten Blick sieht das Fachgeschäft dann doch wie ein klassisches Parteibüro aus, das sich lediglich pfiffiger präsentiert. Seit 1990, als die SED Geschichte war, hatten die Sozialisten kein Büro mehr in Rheinsberg, erzählt Over. Auch die anderen Parteien sind hier nicht vertreten. Nur Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) verfügt über eine kleine Anlaufstelle. Ihr offizielles Wahlkreisbüro hat sie dagegen in Neuruppin eingerichtet. Zwar liegen Postkarten von Bundestagskandidatin Anja Mayer (Linke) auf dem Tisch der Schloßstraße 20. Sie soll aber nicht bloß ein Quartier der Linken sein, sondern ein Treffpunkt für alle Demokraten. Bürgerinitiativen und alle demokratischen Parteien sind willkommen. 285 Euro Kaltmiete im Monat kosten die Räume, inklusive der Betriebskosten sind es rund 350 Euro. Die Summe wird nicht etwa vom Kreisverband der Linken bezahlt. Der hätte gar nicht die Mittel dazu. Finanziert wird alles durch Spenden. Es ist schon genug Geld für die ersten anderthalb Jahre beisammen, freut sich Over. Der 53-Jährige saß bis 2006 im Berliner Abgeordnetenhaus. Dann zog er raus aufs Land nach Rheinsberg, wo er das Ferienland Luhme bereibt. Bei der Kommunalwahl 2019 ist die AfD in Rheinsberg nicht mit einer eigenen Liste für die Stadtverordnetenversammlung angetreten. Sie holte hier aber bei der Wahl des Kreistags 22 Prozent der Stimmen. Das liegt in etwa im brandenburgischen Durchschnitt. Insofern ist der Bedarf für ein Fachgeschäft für Demokratie hier nicht höher als anderswo. Oder anders formuliert: Fachgeschäfte für Demokratie müssten überall eröffnet werden. Freke Over würde sich sehr freuen, wenn er Nachahmer findet. Es wäre nicht das erste Mal, dass der 53-Jährige eine Entwicklung anstößt. 1995 war der damals noch junge Mann aus der Hausbesetzerszene für die PDS ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen. Unter den Mitgliedern dieses Teilzeitparlaments war es seinerzeit nicht üblich, ein Wahlkreisbüro zu unterhalten. 1996 machte Over mit seinem Wahlkreisbüro am Boxhagener Platz den Anfang. Sein damaliger Fraktionskollege Bernd Holtfreter habe es ihm ein Jahr später nachgemacht, erinnert Over. »Mittlerweile haben alle Berliner Abgeordneten ein Wahlkreisbüro. Inzwischen gibt es ja auch extra Geld dafür.«
Andreas Fritsche, Rheinsberg
Die in einer Rheinsberger Facebook-Gruppe verbreitete Hetze gab Linksfraktionschef Freke Over zu denken. Er wollte nicht direkt darauf reagieren, aber doch etwas unternehmen. Jetzt gibt es in der Stadt sein Fachgeschäft für Demokratie.
Brandenburg, Demokratie, Facebook, LINKE
Hauptstadtregion
Brandenburg Freke Over
2021-03-28T15:09:04+0200
2021-03-28T15:09:04+0200
2023-01-20T23:19:56+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1150128.freke-over-fachgeschaeft-fuer-demokratie.html?
ÖPP auf der Autobahn
Planung, Bau und Erhalt von Autobahnen in Deutschland lagen lange in den Händen der Länder. Das war schon in den Anfängen so geplant. Im Jahr 1926 begeisterten sich »weitschauende Männer« (so später der erste bundesdeutsche Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm, CDU) in den Ländern, Kommunalverwaltungen und der Wirtschaft für den Gedanken einer Autobahn, die die Hansestädte im Norden mit Frankfurt am Main und Basel im Süden verbinden sollte. Ein Frankfurter Oberbaurat sowie ein Banker trieben das Projekt »HaFraBa« jahrelang voran. Die Finanzierung des ersten Teilstückes hätten die Länder Baden und Hessen übernommen. Bis dahin gab es keine überregionalen, kreuzungsfreien Straßen, und Autos teilten sich die Fahrbahnen mit Pferdefuhrwerken. Kritiker zweifelten an der Auslastung einer reinen Autostraße, das Reichsfinanzministerium scheute die Kosten. Letztlich bremsten Weltwirtschaftskrise und die Auflösung des Reichstages 1930 die Autob... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Hermannus Pfeiffer
Wie in Italien wird in Deutschland um die Zukunft der Autobahnen gestritten. Gerade werden Betrieb und Planung neu strukturiert. Kritiker befürchten mehr ÖPP-Projekte.
Hessen, Italien, Maut, Verkehrspolitik
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Privatisierung und LKW-Maut
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1098967.oepp-auf-der-autobahn.html
Hat sich das BSW verzockt?
Spätestens seit ihrem Austritt aus der Linken fordert Sahra Wagenknecht mit Vehemenz eine rigide Asylpolitik nach dänischem Vorbild. Insbesondere die Streichung von Sozialleistungen für abgelehnte Asylbewerber, die nach ihrer Lesart eben unberechtigt in Deutschland leben, ist ihr wichtig. Dafür und für konsequentere Abschiebungen plädierte sie bereits im Herbst 2023 in der ZDF-Sendung Markus Lanz. Und immer wieder erklärte die BSW-Chefin und -Gründerin die drastischen Verschärfungen des Asylrechts durch die Ampel-Koalition für völlig unzureichend. Demgegenüber verschlossen viele Ex-Linke die Augen, die dem BSW bei den Landtagswahlen im vergangenen Herbst ihre Stimme gaben. Oder sie votierten trotzdem für die Partei wegen deren konsequenter Haltung in der Friedensfrage. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Doch spätestens das Abstimmungsverhalten der BSW-Fraktion im Bundestag in der vergangenen Woche scheint für viele, die der Partei bislang mit Wohlwollen begegneten, eine Art Weckruf gewesen zu sein. Manchem wurde bewusst, dass das BSW für eine faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl votierte, weil es die Forderung der CDU unterstützte, alle an deutschen Grenzen ohne gültige Einreisedokumente Aufgegriffenen zurückzuweisen, auch, wenn sie um Asyl ersuchen. Gedeckt ist dieses Vorgehen zwar nicht vom EU-Recht, aber vom Grundgesetz, das der Bundestag 1993 dahingehend änderte, dass nur noch ein Recht auf Asyl hat, wer nicht über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Deshalb erhalten heute lediglich ein bis zwei Prozent aller Antragsteller Asyl nach Artikel 16 des Grundgesetzes. Das BSW enthielt sich vergangene Woche beim »Fünf-Punkte-Plan« der Unionsfraktion für »sofortige, umfassende Maßnahmen zur Beendigung der illegalen Migration«, aber nicht, weil man diese für rechtswidrig und falsch hält, sondern weil man etwa die von CDU und CSU verlangten dauerhaften und umfassenden Grenzkontrollen nicht für umsetzbar hält. Am Freitag stimmte das BSW dann mit der AfD für einen Gesetzentwurf der Union, das »Zustrombegrenzungsgesetz«. Darin sind unter anderem die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte und Vollmachten der Bundespolizei für Haftbefehle gegen Geflüchtete festgeschrieben. Beides wird von Fachleuten als verfassungswidrig eingestuft. Dass sich das BSW mit seiner rechten Positionierung in der Asylpolitik verzockt haben könnte, zeigen seine aktuellen Umfragewerte, die zuletzt mehrfach unter die Fünf-Prozent-Hürde rutschten. Am Montagabend startete Wagenknecht gleichwohl auf dem Münchner Marienplatz unter dem Jubel von 2000 Besuchern in die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs und wetterte in gewohnter Manier gegen die »alten Parteien« und ihre gescheiterte Wirtschafts- und Asylpolitik. Wer dagegen die anderen Parteien wähle, der wolle, dass die AfD 2029 das Kanzleramt übernehme, mahnte die Politikerin. Für ein wenig Nervosität im BSW angesichts der Umfragewerte sprechen vermeherte Attacken gegen Linke-Politiker in den letzten Tagen. So arbeiteten sich Wagenknecht, die Ko-Vorsitzende Amira Mohamed Ali und der Europaabgeordnete Fabio De Masi an einer »Bild«-Schlagzeile ab, der zufolge Linke-Ko-Chef Jan van Aken »eine Million Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen« will. Dabei hatte er diese Zahl, gefragt nach einer möglichen Obergrenze, genannt und nicht dafür plädiert, jährlich so viele Menschen ins Land zu holen. De Masi betonte am Dienstag zugleich die konsequente Haltung des BSW für Frieden und Diplomatie im Ukraine-Konflikt. Und glaubt, genau deshalb gebe es derzeit »Störmanöver und Kampagnen« gegen die Partei. Wagenknecht sieht sich derweil nicht veranlasst, in der Asyl- und Migrationsdebatte moderatere Töne anzuschlagen. Am Wochenende forderte sie eine Volksabstimmung über den künftigen Kurs in der Asyl- und Migrationspolitik. So solle »über die Frage entschieden werden, ob die Zuzugszahlen deutlich abgesenkt werden sollen oder nicht«. Als »Zielmarke« kann sie sich ein Kontingent von maximal »50 000 Zuwanderern pro Jahr« vorstellen, sagte sie der Nachrichtenagentur AFP. Eine Volksabstimmung könne auch der AfD den Wind aus den Segeln nehmen und »der Polarisierung in der Gesellschaft entgegenwirken«, meinte die BSW-Chefin. Im vergangenen Jahr hatten knapp 230 000 Menschen in Deutschland einen Erstantrag auf Asyl gestellt, 30 Prozent weniger als 2023. Wagenknecht wetterte einmal mehr darüber, dass seit zehn Jahren »ein Kontrollverlust bei der Migration« zugelassen worden sei. Für einen Volksentscheid oder ein Volksbegehren auf Bundesebene fehlt in Deutschland indes eine rechtliche Grundlage.
Jana Frielinghaus
Sahra Wagenknecht fordert seit Langem eine harte Asylpolitik, was viele Linke, die sich ihrer Partei zuwandten, gern übersahen. Doch die jüngsten Abstimmungen des BSW im Bundestag scheinen für viele ein Weckruf zu sein.
Asylpolitik, Basisdemokratie, Einwanderung, Flüchtlinge
Politik & Ökonomie
Politik Wagenknechts Asylpolitik
2025-02-04T17:22:54+0100
2025-02-04T17:22:54+0100
2025-02-23T14:06:58+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188793.wagenknechts-asylpolitik-hat-sich-das-bsw-verzockt.html?
Leere Leinwände in den Kinos
Wenn am Donnerstag zur Berlinale in der Hauptstadt der rote Teppich ausgerollt wird, legen Angestellte von zwei der größten Kinokonzerne in Deutschland bei einem Warnstreik die Arbeit nieder: Verdi will für die insgesamt rund 3000 Beschäftigten der Unternehmen Cinemaxx und Cinestar eine deutliche Lohnerhöhung durchsetzen. Die Gewerkschaft fordert ein Mindesteinstiegsgehalt von 14 Euro und damit ein Plus von annähernd 1,60 Euro pro Stunde. Das wären knapp 13 Prozent mehr als bisher: Die aktuellen Einstiegslöhne für die Beschäftigten liegen beim gesetzlichen Mindestlohn von 12,41 Euro. Viel zu wenig, findet Verdi-Verhandlungsführerin Martha Richards: »Das Kinovergnügen für Gäste ist hinter den Kulissen ein stressiger Job. Wir fordern darum ein angemessenes Einstiegsgehalt.« Der Streik findet nach zwei erfolglosen Verhandlungsrunden statt. Cinestar hatte zuletzt zwar Verbesserungen angeboten, diese reichen Verdi aber nicht aus. »Das aktuelle Angebot sieht für die Einarbeitungsphase gerade einmal 5 Cent mehr als der gesetzliche Mindestlohn vor. Damit ignoriert Cinestar die Lebensrealität der Kolleginnen und Kollegen«, kritisiert Richards. Auf nd-Anfrage teilte der Geschäftsführer Oliver Fock dagegen mit: »Wir führen konstruktive Verhandlungen.« Der nächste Termin sei für den 20. Februar angesetzt. Die Gespräche mit Cinemaxx wurden laut Verdi dagegen abgebrochen, da sie »enttäuschend und unbefriedigend« verlaufen seien, sagt Richards im Gespräch mit »nd«. Auf Anfrage erklärte der Konzern, sich zu den Verhandlungen nicht weiter äußern zu wollen. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Die nun angekündigte Arbeitsniederlegung findet von Donnerstag bis Sonntag statt. Allerdings werden nicht alle der bundesweit rund 75 Kinos bestreikt, die von den beiden Unternehmen betrieben werden. »Es wird mindestens ein Kino in jedem Bundesland betroffen sein«, erzählt Richards. Verdi will mit den Streiks am Berlinale-Wochenende den Druck auf die Verhandlungen erhöhen. Die Filmfestspiele selbst sollen von den Arbeitsniederlegungen nicht getroffen werden. »Es ist eher Zufall, dass wir für dieses Wochenende aufrufen«, sagt Richards. Aber es sei eine gute Gelegenheit, um auf die Arbeitsbedingungen für das Servicepersonal aufmerksam zu machen, betont sie. »Ganz Deutschland schaut an diesem Wochenende auf die Filmbranche.« Die Kinos stehen seit Jahren wegen der Streaming-Dienste unter Druck, insbesondere seit der Coronakrise. Zwar hat sich die Branche laut aktuellen Zahlen der Filmförderungsanstalt erholt. So habe sie im Jahr 2023 über 200 Millionen Euro mehr Umsatz als im Vorjahr verbuchen können. Doch liegt der mit 929 Millionen Euro knapp neun Prozent unter dem von 2019.
Felix Sassmannshausen
Die Gewerkschaft Verdi ruft Beschäftigte der Kinokonzerne Cinemaxx und Cinestar am Wochenende bundesweit zu Arbeitsniederlegungen auf. Es geht um knapp 13 Prozent mehr Lohn.
Berlinale, Film
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Arbeitskämpfe
2024-02-14T16:47:32+0100
2024-02-14T16:47:32+0100
2024-02-16T13:38:18+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180017.leere-leinwaende-in-den-kinos.html
Armenien, China, Neuseeland
Mit einer weltweiten Lesung wollen Künstler aus aller Welt den deutschen Dichter Heinrich von Kleist zu seinem 200. Todestag ehren. Die ungewöhnliche Aktion wird von der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Literaturfestival Berlin über das Internet organisiert. Bis zum Dienstag hatten sich rund 130 Kultureinrichtungen aus Ländern von Armenien bis China, von Brasilien bis Neuseeland in die elektronische Liste eingetragen. Kleists Todestag jährt sich am kommenden Montag zum 200. Mal. Am 21. November 1811 hatte der Dichter gemeinsam mit einer krebskranken Freundin am Berliner Wannsee den Freitod gesucht. In Berlin wird es am Montag zunächst an seinem neu renovierten Grab eine interne Lesung geben. Um 17 Uhr trägt Schauspieler Leo Solter in der Nicolaikirche Texte von Kleist vor. Weitere Lesungen gibt es etwa in Karlsruhe, Rostock und Leipzig. dpa
Redaktion nd-aktuell.de
Kleist weltweit
Heinrich von Kleist
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Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/211165.armenien-china-neuseeland.html
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung kritisiert deutsche Rüstungsexporte nach Ägypten
Berlin. Die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte, Bärbel Kofler (SPD), kritisiert die deutschen Rüstungsexporte nach Ägypten. »Da dort massiv gegen Menschenrechte verstoßen wird, müssen wir eine deutliche Sprache sprechen«, sagte Kofler im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). »Und die wird erst dann verstanden, wenn Rüstungslieferungen nicht weiter bewilligt werden.« Ägypten gehört zu den Hauptempfängern von Rüstungslieferungen aus Deutschland. Dabei hat das Land im Jemen-Krieg, der zu der größten humanitären Katastrophe weitweit geführt hat, die Seeblockade mit durchgesetzt. Außerdem ist Ägypten Konfliktpartei in Libyen sowie am Streit um Gasfelder im Mittelmeer beteiligt. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Kofler beobachtet die Menschenrechtslage in Ägypten intensiv. Sie hat über das Bundestagsprogramm »Parlamentarier schützen Parlamentarier« eine Patenschaft übernommen: Sie unterstützt eine der Leiterinnen des Nadeem-Zentrums, das gefolterte Menschen behandelte und 2017 von den Behörden geschlossen wurde. »Begründet wurde das mit einem angeblichen Verwaltungsfehler, der seit vier Jahren nicht zu beheben sein soll«, kritisierte Kofler. »Dieses Vorgehen hat Methode.« Wer Kritik am Staat übe, werde verfolgt und eingeschüchtert. Das betreffe selbst Anwältinnen und Anwälte, Ärzte, Kunstschaffende und Wissenschaftler. Der jüngste gravierende Fall sei die Verhaftung der Mitarbeiter der Ägyptischen Initiative für persönliche Rechte (EIPR) gewesen, nachdem sie sich mit westlichen Diplomaten getroffen hatten - unter anderem mit dem deutschen Botschafter. »Sie sind zum Glück wieder frei, auch wenn die Verfahren noch andauern - aber viele andere bleiben sehr lange in Untersuchungshaft, ohne Chance auf ein faires Verfahren.« Häufig würden nach einer Untersuchungshaft einige Anklagepunkte wieder für einen neuen Fall verwendet - und die Haft beginne dadurch von vorne. »Hier spricht man von Recycling«, sagte Kofler, »ein schrecklicher Begriff in dem Zusammenhang.« epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Ägypten gehört zu den Hauptempfängern von Rüstungslieferungen aus Deutschland. Dabei hat das Land im Jemen-Krieg, der zu der größten humanitären Katastrophe weitweit geführt hat, die Seeblockade mit durchgesetzt.
Ägypten, Bundesregierung, Menschenrechte, Waffenexporte
Politik & Ökonomie
Politik Deutsche Waffenexporte
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Jelinek zum Aufstieg der Rechten: Ich höre ein Ungeheuer atmen
Bei der letzten Demo gegen Rechtsextremismus und Faschismus habe ich es schon gesagt, ich fühle mich seltsam, wie ein Bauchredner — das sage ich jetzt —, der seine eigene Stimme wie eine fremde sprechen läßt, die aber immer schon gesprochen hat. Ich habe es gesagt, ich sage es jetzt, wie oft werde ich es noch sagen müssen? Dürfen? Walter Benjamin spricht in »Über den Begriff der Geschichte« von dem seinerzeit berühmten Schachautomaten, der jede Partie gewonnen hat, doch gespielt hat ein andrer, sozusagen ein getarnter Automat, ein kleiner Mann, ein buckliger Zwerg, der ein Meisterspieler war und die Puppe, die angeblich spielte und jede Partie gewann, in Wirklichkeit gelenkt hat. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. So komme ich mir vor. Ich sitze seit so vielen Jahren unter dem Tisch, spiele aber immer dieselbe Partie, weil ich sie spielen muß, ich spiele sozusagen unter der Drohung, daß etwas Entsetzliches passieren könnte, wenn ich aufhöre. Damit überschätze ich mich natürlich total. Aber jetzt tritt diese Puppe aus dem Dunkel einer Tischdecke hervor und spricht als sie selbst. Als ich. Ja, Sprechpuppe, das werden sie abfällig sagen. Besteht da, wie Benjamin sagt, eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem? Hat diese Verabredung nicht unverrückbar erklärt, daß die Vergangenheit nie wieder passieren dürfe, nie wieder, auch anders nicht und nicht ähnlich. Dieses Nie Wieder haben wir oft gehört, in Lippenbekenntnissen, in Gesprächen, in Vorträgen, bei Feiern, ja, die Lippen haben sich eifrig bewegt, das konnte man sehen. Das dürfe nie mehr geschehen, das sei eine zivilisatorische Konstante für uns. Nichts, was sich jemals ereignet hat, sei für die Geschichte verlorengegeben, sagt Benjamin, und ich füge hinzu: nichts, aus dem wir etwas lernen wollen. Darin werden wir seit Jahrzehnten schon unterrichtet. Von diesem Treffen sollte niemand erfahren, von diesem Treffen im Hotel, wo die schweren Helden auftreten, und das sind nicht die sogenannten kleinen Leute, die sich von der Politik eine Verbesserung ihrer Lage versprechen, wenn sie nur die lästigen Asylanten, Flüchtlinge, also diejenigen, die ihnen die Butter vom Brot nehmen wollen, endlich loswürden. Doch von denen ist keiner da, der dicke Spenden im Kuvert abgeben könnte, wer ist hier? Es sind finanzkräftige Unternehmer, rechte Akademiker ohne ihre Verbände, die brauchen sie auch nicht mehr selbst, bluten wollen sie andre lassen, da sind Mitglieder der rechtsextremen AfD, führende Köpfe dabei, die dauernd, gierig nach vergangener Größe, zurückblicken, um noch weiter vorwärts zu kommen, um sich für Künftiges zu positionieren. Es war offenbar so schön unter den Nazis, die sie nicht mehr gekannt haben, von denen sie aber eine unverrückbare Vorstellung haben. Sie wollen diese Gesellschaft umbauen, verspricht der begabte Rechtsradikale aus einer rechten NGO, wie Herbert Kickl, Parteiobmann der FPÖ, sie nennt, in seinem Haß auf NGOs, die sich die Verbesserung von Lebensumständen auf die Fahne geheftet haben, nein, das ist eine ganz neue NGO, die nur die eigene Lage verbessern und sich zum Herrn machen möchte, alle andren sind ihr egal, die müssen wahrscheinlich sowieso alle weg. Sie wollen sich also zum Herrn über uns machen. Der allgemein beliebte Verfassungsstemmbogen wird immer weiter ausgestemmt, da sitzen Männer und Frauen mit Meißeln und Hämmern und arbeiten daran, daß immer mehr hineingehen in diesen Bogen, und die alten und die neuen Nazis sind wieder salonfähig. Der Rest kann gehen oder wird weggeschafft. Die Ausländer sollen raus – eine jahrzehntealte Parole – und die Inländer sollen kuschen, als wären sie auch schon gar nicht mehr da. Die Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern, die ihre Geschichtslektion gelernt haben, aber jetzt langsam aussterben, und unserem verliert langsam, aber sicher ihre Gültigkeit. Es muß endlich was weitergehen in die richtige rechte Richtung. Sie haben Unterstützer mit Geld, und sie sammeln noch mehr, wie man im Brandenburger Landhotel am See sehen konnte, doch ihre Stimmen holen sie sich von denen, die sie entrechten und verarmen lassen wollen. Ein ideologisches Schlachtfeld, von dem die Gefallenen schnell entfernt werden, damit neue fallen können. Wofür sie Platz brauchen. Ausländer raus, die wollen ja gar nicht so leben wie wir, also geben wir ihnen auch nicht die Möglichkeit dazu. Dann kommen sie nicht in Versuchung, uns zu verdrängen, ja, die Grenzen dicht, die Reihen fest geschlossen, Sozialbetrug dann unmöglich, denn es wird nichts Soziales mehr geben. Dafür wird es Säuberungen geben müssen, und wer könnte was dagegen haben, sauber zu werden? Abräumen und Aufräumen wird die Devise sein, es wird mit Menschen aufgeräumt werden von aufgeräumten schweren Helden, die Kuverts überreichen im Brandenburger Landhotel. Und ein Österreicher immer dabei – mindestens einer! –, wir sind ja immer dabei, wenn was zu exportieren ist, was die Deutschen noch nicht haben. Eine illiberale Demokratie, die Ungarn haben sie schon, wir können sie auch bald exportieren, wir haben genug davon, eine genügt für uns. Doch wir haben noch nicht genug davon. Orbán hat sich schon von der Demokratie verabschiedet, so leichtherzig, daß sie es dort kaum merken, sonst wären sie alle täglich gegen ihn auf der Straße. Und auch bei uns wird es so, beinahe unversehens, passieren, die Gesellschaft wird umgewandelt werden und auch noch glauben, daß sie sich selbst gewandelt hat, damit die Leute es besser haben, natürlich unter ihnen, das wird ja immer versprochen. Ich höre ein Ungeheuer atmen, ich höre, wie der Atem der Demokratie schwächer wird. Ich bin froh, daß Sie alle hier sind und ihr neues Leben einblasen wollen. Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Rede der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek auf der Demonstration gegen Rechtsextremismus in Wien am 26. Januar 2024, an der rund 35 000 Menschen teilnahmen. Die Rede wurde von der Schauspielerin Mavie Hörbiger vorgetragen.
Elfriede Jelinek
Auch in Österreich gibt es machtvolle Demonstrationen gegen Rechts. »nd.Der Tag« dokumentiert den Aufruf der Schriftstellerin Elfriede Jelinek am 26. Januar zur Verteidigung der Demokratie.
Antifaschismus, Österreich, Rechtsradikalismus
Feuilleton
Kultur Rechtsextremismus
2024-01-29T15:48:10+0100
2024-01-29T15:48:10+0100
2024-07-31T10:13:55+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179587.jelinek-zum-aufstieg-der-rechten-ich-hoere-ein-ungeheuer-atmen.html
Messerattacke auf zwei Jugendliche in Kreuzberg
Zwei Jugendliche sind bei einer Messerattacke in Kreuzberg verletzt worden. Ein 18-Jähriger, der am frühen Donnerstagmorgen in der Großbeerenstraße zusammengebrochen war, wurde nach Angaben der Polizei zur stationären Behandlung ins Krankenhaus gebracht. Ein 17-Jähriger wurde mit leichten Stichverletzungen in der nahe gelegenen Katzbachstraße entdeckt. Ein vorbeifahrender Autofahrer hatte zwei Männer als mutmaßliche Täter bemerkt, die dann aber geflüchtet waren. Ob sie für beide Fälle verantwortlich sind und worum es bei der Auseinandersetzung gegangen ist, wird noch untersucht. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
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Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1013987.messerattacke-auf-zwei-jugendliche-in-kreuzberg.html
Von Skanderbeg zum Vatikan: Der Giro d’Italia 2025 startet
Keine Grand Tour ohne Neuerungen. Der 108. Giro d’Italia startet an diesem Freitag zum ersten Mal in Albanien. Das ist nicht unbedingt ein Radsportland. Albanien hat überhaupt nur eine Handvoll aktive Radsportler, die in dieser Saison auf Club-Niveau, also der vierten Kategorie, Rennen austrugen. Bekanntester Fahrer ist der elffache Landesmeister Ylber Sefa, der bei einem zweitklassigen belgischen Team aktiv ist, das in diesem Jahr keine Chance auf eine Giro-Teilnahme hatte. Im Startland wird auch ganz offen kommuniziert, dass die Grande Partenza vor allem ein Werbeevent für die Reisebranche ist. »Das ist eine hervorragende Gelegenheit, unser schönes Land 800 Millionen Zuschauern bei 200 Fernsehsendern, die vom Giro berichten, zu zeigen«, sagte etwa Premierminister Edi Rama bei der Präsentation der Rundfahrt. Er hob Tiranas Flughafen als den »am schnellsten wachsenden in Europa« hervor, der mittlerweile auch das frühere Drehkreuz Belgrad in den Schatten stelle. Für Großfestivitäten ist auch das einstige Aufmarschgelände des Skanderbegplatzes mitten in Tirana geeignet. Dort fand am Mittwoch auch die Teampräsentation statt. Sieben Millionen Euro lässt Albanien sich die dreitägige Giro-Stippvisite kosten. Cristiano Ronaldo als Werbeträger wäre teurer, scherzte Premier Rama in Anspielung auf das Engagement des Portugiesen in Saudi-Arabien. Ein wenig hakte es trotzdem bei der Organisation vor dem Start. Die Präsentation der Giro-Strecke wurde wegen »organisatorischer Probleme« immer wieder verschoben. Auch ein Plan B mit dem Auftakt in Süditalien kursierte. Doch am Ende konnten die 23 Rennställe ihre Fahrer und Betreuerstäbe wie geplant ins einst maoistisch abgeschottete Land bringen. Beste Aussichten, das rosa Trikot auch beim Abschluss in Rom zu tragen, haben der vormalige Sieger Primož Roglič und der Spanier Juan Ayuso. Beide eint die Nähe zum Vorjahressieger Tadej Pogačar. Roglič ist Landsmann des Slowenen, war zu Beginn von dessen Karriere so etwas wie der ältere Bruder, steht aber mittlerweile im Schatten des stets lächelnden Superstars. Ayuso hingegen fährt in Pogačars Rennstall UAE Emirates. Er soll die Siegestrophäe nach Pogačars Sieg in der vergangenen Saison im Haus halten. Der junge Spanier und der slowenische Routinier lieferten sich bereits im Frühjahr bei der Katalonien-Rundfahrt ein packendes Duell. Zunächst kämpften sie um jede einzelne Bonussekunde, bevor dann Roglič auf der Schlussetappe im Pogačar-Stil mit einem 20 Kilometer langen Solo die Gesamtwertung klarmachte. »Die junge Generation zwingt uns ältere zur Umstellung. Früher hieß es bei Grand Tours immer nur: ›Kräfte sparen, Kräfte sparen, Kräfte sparen.‹ Jetzt geht es aber schon am ersten Tag und 100 Kilometer vor dem Ziel zur Sache«, beschrieb der 35-jährige Slowene die Entwicklung in seinem Sport. Er klang dabei sogar vergnügt. Umstellungen ist der frühere Skispringer ja gewohnt. Und Roglič scheint sogar neue Motivation daraus zu schöpfen. Für Ayuso hingegen stellt die Italien-Rundfahrt die erste große Gelegenheit dar, aus dem Schatten seines Teamkapitäns zu treten. »Jeder von uns muss die wenigen Chancen nutzen, die es gibt, wenn Tadej nicht bei einer Grand Tour startet«, sagte der Spanier im Winter zu »nd«. Und er kündigte vollmundig an, der beste Radsportler der Welt werden zu wollen, besser also auch als Pogačar. Das ist tapfer gebrüllt. Jetzt beim Giro muss er liefern. Unterstützt wird er vom erfahrenen Briten Adam Yates und dem mexikanischen Toptalent Isaac del Toro. Beide könnten auch als Ersatzkapitäne infrage kommen, falls Ayuso seiner Favoritenrolle nicht gerecht wird. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Beim Team Red Bull-Bora-hansgrohe sieht es ähnlich aus. Für Plan B und C im Falle eines Rückschlags bei Roglič stehen der frühere Giro-Sieger Jai Hindley und der letztjährige Zweite Dani Martinez bereit. Den Kampf um den dritten Podestplatz dürften der Brite Simon Yates, der Spanier Mikel Landa und der Kanadier Derek Gee austragen. Schwer einzuschätzen ist die Verfassung der früheren kolumbianischen Giro-Sieger Egan Bernal und Nairo Quintana. Erste Aufschlüsse dürfte der bergige Auftakt in Albanien bringen. Eine größere Herausforderung stellt auch die 9. Etappe in der Toskana mit Schotterabschnitten dar. Topfavorit Roglič darf sich über einen Ausflug in die slowenische Heimat freuen (14. Etappe). Entscheidend für die Gesamtwertung wird dann aber die dritte Woche, unter anderem mit der Kraxelei über den Mortirolo (17. Etappe) und den Colle delle Finestre (20. Etappe). Gleich zwei Zeitfahren spielen dem früheren Olympiasieger Roglič ins Blatt. Die insgesamt 51 000 Höhenmeter sehen den Kletterer Ayuso im Vorteil. Alles ist angerichtet für eine schöne Rundfahrt. »Die Strecke stellt die Leinwand dar, auf der die Künstler mit dem Rad ihre Akzente setzen«, sagte mit feinem Hang zu schönen Bildern Renndirektor Mauro Vegni. Zehn deutsche Fahrer sind ebenfalls mit Farbtuben ausgestattet. Sie dürften aber bestenfalls für die Hintergrundmalerei zuständig sein. Nico Denz etwa soll Roglič helfen. Die kletterstarken Georg Steinhauser und Marco Brenner dürfen auf Ausreißercoups setzen, während die endschnellen Max Kanter und Niklas Märkl auf möglichst viele Sprintentscheidungen hoffen.
Tom Mustroph
Der Giro d’Italia wartet 2025 mit einem Start in Albanien, Schotterpisten in der Toskana und einem finalen Ritt durch den Vatikan auf. Ein slowenischer Routinier und ein junger Spanier gelten als Favoriten.
Albanien, Slowenien, Spanien
Sport
Sport Radsport
2025-05-09T11:52:53+0200
2025-05-09T11:52:53+0200
2025-05-09T11:53:53+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191097.radsport-von-skanderbeg-zum-vatikan-der-giro-dritalia-startet.html?sstr=giro
Wie grün ist Europas neuer Milliardenfonds?
Seit Beginn der Coronakrise haben die EU-Länder bereits sehr viel Geld mobilisiert, um ihre Volkswirtschaften zu stützen, die Hälfte davon allein entfällt auf Deutschland. Dabei ging es um Soforthilfe, nicht um Klimaschutz. Doch wenn Europa in 30 Jahren klimaneutral sein soll, braucht es auch grüne Investitionen im großen Stil, um den geplanten nachhaltigen Umbau zu beschleunigen. Derzeit liegt der CO2-Ausstoß der EU noch bei gut vier Milliarden Tonnen jährlich. Der Wiederaufbauplan, den die EU-Kommission am Mittwoch vorgestellt hat, soll nun genau dies leisten: den Übergang zur Klimaneutralität unterstützen. 750 Milliarden Euro ist das Paket schwer und soll Wirtschaft und Klima gleichermaßen helfen. Der Plan zielt vor allem auf vier Bereiche, bei denen dringender Handlungsbedarf besteht. Erstens: Im Bereich Gebäude will die EU-Kommission eine »massive Renovierungswelle« in Gang setzen. Mindestens doppelt so viele Gebäude wie derzeit sollen energetisch saniert werden. Ein geleakter Entwurf aus der vergangenen Woche, der detailliertere Vorschläge enthält, nannte als Ziel allerdings noch eine Verdreifachung. Vorgesehen sind demnach 91 Milliarden Euro im Jahr für die Förderung von Solardächern, Wärmedämmung und erneuerbaren Heizungssystemen. Auch eine Stärkung der Kreislaufwirtschaft ist vorgesehen. Zweitens: Im Bereich Erneuerbare Energien will die EU in den nächsten zwei Jahren 25 Gigawatt Wind- und Solarenergie ausschreiben. Die Europäische Investitionsbank soll weitere Projekte mit zehn Milliarden Euro fördern. Ein Schwerpunkt soll die »Ankurbelung einer sauberen Wasserstoffwirtschaft« sein. Drittens: Im Bereich Verkehr sollen eine Millionen Ladestationen für Elektrofahrzeuge installiert werden. In dem geleakten Entwurf war noch von zwei Millionen die Rede. Auch 40 bis 60 Milliarden Euro für Null-Emissions-Züge sowie 20 Milliarden für eine Art Kaufprämie für »saubere« Fahrzeuge werden darin genannt. Viertens: Deutlich aufgestockt wird der Fonds für einen gerechten Übergang, der besonders betroffenen Regionen beim Übergang helfen soll. Das Volumen des »Just Transition Fund« steigt von 7,5 Milliarden Euro auf 40 Milliarden Euro. Aufgestockt werden sollen auch die Mittel für den Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (um 15 Milliarden), für die Gemeinsame Agrarpolitik (um vier Milliarden) sowie für den Meeres- und Fischereifonds (500 Millionen). Fachleute sehen in dem Vorschlag der EU-Kommission einen guten ersten Schritt in die richtige Richtung. Allerdings gibt es viele Fragezeichen. Der Plan braucht die Zustimmung der EU-Länder und des Europaparlaments und könnte dabei einiges an Federn lassen. Das am Mittwoch vorgelegte Papier enthält jedenfalls schon Abschwächungen gegenüber dem zuvor geleakten Entwurf und bahnt mit betont allgemeinen Formulierungen bereits Kompromisse an. Entscheidend wird sein, in welche Projekte genau die Fördermittel fließen. Wird das Geld tatsächlich dem Klima nützen? Um dies sicherzustellen, will die EU die sogenannte Taxonomie anwenden. Damit werden Kriterien für nachhaltige Investitionen festgelegt. Doch auch hier gibt es ein Aber. Die Taxonomie ist zwar bereits beschlossen, jedoch noch nicht implementiert. Genauso im Schwebezustand befindet sich nach wie vor der Green Deal, der durch das neue Paket »verstärkt« werden soll. Er ist bislang nur ein Vorschlag der Kommission und braucht ebenfalls noch das Okay der EU-Länder. Und: Auch mit dem neuen Wiederaufbauplan wird die EU unterm Strich nicht mehr Geld für Klimaschutz ausgeben als zuvor geplant. Es bleibt bei den bisherigen 25 Prozent des Gesamtbudgets. Ob dies ausreicht, um den »kühnen Schritt nach vorn« zu schaffen, von dem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch sagte, steht dahin. Ökologisch sinnvoll wären indes die neuen Einnahmequellen der EU-Kommission, die von der Leyen vorgeschlagen hat, um das Paket zu finanzieren. Die Ausweitung des Emissionshandel aus den See- und Luftverkehr könnte jährlich zehn Milliarden Euro bringen, eine Grenzsteuer auf CO2-intensive Importwaren fünf bis 14 Milliarden und eine Digitalsteuer bis zu 1,3 Milliarden.
Verena Kern
Der neue Wiederaufbaufonds der EU-Kommission soll nicht nur die Wirtschaft stützen, sondern auch das Klima schützen. Wird er dieses Versprechen einlösen?
Europäische Union, Ursula von der Leyen
Politik & Ökonomie
Politik
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Neutral war gestern
Schaut man sich die Hurra-Meldungen aus NATO-Hauptquartieren an, könnte man meinen, in Europa wächst zusammen, was zusammengehört. Jedenfalls im Westen. Und dahinter beginnt ohnehin Russland, also Feindgebiet. Ost-West-Konfrontation nannte man das im letzten Kalten Krieg. Doch damals gab es noch ein paar Staaten, die versuchten, der Zwangsrekrutierung durch Blockfreiheit zu entfliehe... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
René Heilig
René Heilig erinnert sich respektvoll an die Bewegung Blockfreier Staaten
EU, Europa, G7, Gipfel, NATO, Russland
Meinung
Kommentare
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Bundesregierung will Glyphosat erlauben
München. Im Streit um die Zukunft des Pflanzenschutzmittels Glyphosat in Europa gibt die Bundesregierung laut Bericht der »Süddeutschen Zeitung« grünes Licht für eine Neuzulassung. Die Zeitung zitierte am Dienstag aus einem Schreiben des Landwirtschaftsministeriums an die EU-Kommission von Ende März: »Mit seiner Zustimmung möchte Deutschland dazu beitragen, das Verfahren zur Wiedergenehmigung des Wirkstoffs Glyphosat (...) erfolgreich abzuschließen.« Das Papier sieht laut Bericht aber auf Druck des Umweltministeriums Einschränkungen vor. Deutschland sei »sehr offen« für das Anliegen einiger Mitgliedstaaten, Glyphosat zur »Steuerung des Erntetermins« auszuschließen, zitierte die Zeitung. Zudem wolle die Bundesregierung versuchen, eine Textpassage zum Schutz der biologischen Vielfalt in der Genehmigungsverordnung zu verankern. Die Zulassung des Pestizids läuft in der EU im Juni aus. Kritiker wollen Glyphosat verbieten, weil es ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Lange war gestritten worden, nun ist eine Entscheidung gefallen: Die Bundesregierung spricht sich für eine Neuzulassung des Pflanzengiftes Glyphosat aus. Doch zwischen den Ministerien gibt es Streit.
Agrarindustrie, Landwirtschaft, Pestizide, Umweltschutz
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1008272.bundesregierung-will-glyphosat-erlauben.html
Gepflegter Optimismus
Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist nach seinen umstrittenen Hartz-IV-Äußerungen nun bemüht, als Fachpolitiker Schlagzeilen zu machen. Ein erstes Ausrufezeichen setzte er am Donnerstag, als er überraschend verkündete, den langjährigen Präsidenten des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, als neuen Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung vorzuschlagen. Eine Entscheidung, die auch die Mitarbeiter seines Ministeriums überraschte. Zumindest wusste dort am Freitag auf nd-Nachfrage niemand, ob Westerfellhaus zukünftig auch Patientenbeauftragter sein soll. Bislang war es üblich, dass der Patientenbeauftragte praktisch nebenher auch für die Pflege zuständig ist. Sollte Spahn hier tatsächlich eine Trennung vornehmen, wäre dies ein Zeichen. Mehr aber auch nicht. Denn der Koalitionsvertrag, der ja als Basis für das Regierungshandeln dient, enthält außer ein paar unverbindlichen Formulierungen und Placebos keine Hinweise darauf, wie die Große Koalition den Pflegenotstand entschärfen will. Der designierte Pflegebevollmächtigte Andreas Westerfellhaus selbst gilt als gute Wahl. Der 61-Jährige ist ausgebildeter Krankenpfleger, der sich im Laufe seines Berufslebens weiter qualifizierte, später Pädagogik für Gesundheitsberufe studierte und schließlich als Lehrer in der Krankenpflegeausbildung tätig war. Im Jahre 2001 wurde der in Nordrhein-Westfalen geborene Westerfellhaus Vize-Präsident des Pflegerats, 2009 dann dessen Präsident. Diesen Posten hatte er zwei Legislaturperioden inne und sparte dabei nie mit Kritik an der Bundesregierung. Immer wieder beklagte er die hohe Arbeitsbelastung, den Personalmangel und die schlechte Bezahlung in der Pflege. Das neue Amt könnte seinen kritischen Worten zukünftig noch mehr Gewicht verleihen. Sich selbst bezeichnet er als Optimisten. Angesichts der eklatanten Missstände in der Pflege wird er diesen Optimismus auch brauchen.
Fabian Lambeck
Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gab als erstes Ausrufezeichen bekannt, Andreas Westerfellhaus, als neuen Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung vorzuschlagen.
Bundesregierung, Gesundheitspolitik, Jens Spahn, Pflege
Meinung
Kommentare Andreas Westerfellhaus
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Superreiche werden reicher
Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und Microsoft-Gründer Bill Gates treffen auf Präsidententochter Ivanka Trump, Sängerin Rihanna und Bollywood-Filmstars. So passiert kürzlich in Indien. Dort feierte der reichste Mann Asiens, Mukesh Ambani, die bevorstehende Hochzeit seines jüngsten Sohnes mit einer pompösen Party. Diese soll umgerechnet etwa 150 Millionen Euro gekostet haben, schätzt der Schweizer Fernsehsender SRF. Geladen waren über tausend Gäste, darunter viele mit Rang und Namen. »Über Tage gab es kaum ein anderes Thema in Indien als dieses Mega-Ereignis«, erklärte eine SRF-Korrespondentin. Wer ist eingeladen? Was werden die Superreichen tragen? Was essen? Wo wohnen? Das habe zwar viele Leute fasziniert, einige aber auch verärgert, so die Korrespondentin weiter. In den sozialen Medien sei die Frage aufgekommen, ob Indien mit seinen vielen Armen denn wirklich keine anderen Probleme habe als diese riesengroß zelebrierte Vorhochzeit. Vergangene Woche ließ die Familie Ambani den Popstar Justin Bieber als Überraschungsgast einfliegen. Dieses Wochenende soll nun die Hochzeit des Sohnes im familieneigenen Kongressgebäude in Mumbai gefeiert werden – es wird eine pompöse Vermählung werden. Das Vermögen des Patriarchen der Ambani-Familie wird auf mehr als 120 Milliarden Euro geschätzt. Die Prunksucht der Ambanis sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch wenige der global reichsten Menschen aus Indien stammen. Dessen aufstrebender, konsumfreudiger Mittelstand ist zwar auch für amerikanische Milliardäre wie Zuckerberg und Gates interessant. Doch lediglich ein Prozent der weltweiten Dollar-Millionäre sind indische Staatsbürger. Vier Prozent aller Millionäre besitzen dagegen eine deutsche Staatsbürgerschaft. Vier Prozent aller Millionäre besitzen eine deutsche Staatsbürgerschaft. Wie ungleich das weltweite Vermögen verteilt ist, darüber gibt der 15. »Global Wealth Report«, also Weltreichtumsbericht, Auskunft. Bislang gab ihn die Bank Credit Suisse heraus. Nach deren Zusammenbruch hat UBS im Juni 2023 die schweizerische Großbank übernommen. Die systemrelevante UBS-Bankengruppe mit Sitz in Zürich und Basel zählt zu den weltweit größten Vermögensverwaltern und gibt den Weltreichtumsbericht heraus. »Er setzt unser Ziel fort, die umfassendsten Informationen über das Vermögen der privaten Haushalte weltweit zu liefern«, berichtete Chefökonom Paul Donovan am Mittwoch. Die Weltwirtschaft befinde sich in einer Phase tiefgreifenden strukturellen Wandels. »Solche Episoden führen oft zu erheblichen Veränderungen in den Vermögensstrukturen«, sagte Donovan. Gleichzeitig seien Investitionen in Technologie und Menschen jedoch von großen Vermögen abhängig. »Damit wir und unser Planet sich weiter in der schönen neuen Welt entfalten können.« Zu wissen, wo und wie Vermögen vorhanden ist, sei entscheidend, um es wirksam zu mobilisieren, rechtfertigte der Chefökonom en passant den Beitrag seines Arbeitgebers bei der Verwaltung riesiger Vermögen. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Die globale Vermögensentwicklung erwies sich während der Corona-Pandemie als widerstandsfähig und wuchs 2021 im Rekordtempo. Doch Inflation, steigende Zinsen und Währungsabwertungen führten zu einer Umkehr. In US-Dollars gemessen sank das globale Vermögen der Reichen im Jahr 2022 um drei Prozent. Der Einbruch war allerdings größtenteils auf Währungseffekte zurückzuführen, nämlich auf einen starken Dollar. Im Jahr 2023 hat sich das Vermögenswachstum weltweit deutlich von seinem vorjährigen Rückgang erholt. Das Vermögen an Geld, Aktien und Immobilien nahm um 4,2 Prozent auf umgerechnet rund 480 Billionen Euro zu. Was gut dem Fünffachen der Wirtschaftsleistung der Welt in einem Jahr entspricht. Da sich außerdem die Inflation verlangsamte, übertraf das reale Wachstum das nominale Wachstum, was zu einem inflationsbereinigten Anstieg des globalen Vermögens im Jahr 2023 um fast 8,4 Prozent führte. Seit der Finanzkrise im Jahr 2008 befindet sich das globale Vermögen wieder auf einem Aufwärtspfad. Gegenwärtig weisen die Vereinigten Staaten, gefolgt von Festlandchina und dem Vereinigten Königreich, die höchste Anzahl von Dollar-Millionären auf, wobei die USA 38 Prozent der weltweiten Millionäre stellen. Der Prognose des Berichts zufolge wird die Zahl der Menschen mit einem Vermögen von über einer Million Dollar in den kommenden Jahren in 52 der 56 untersuchten Länder ansteigen. Im Länderranking verteidigte die Schweiz ihren Spitzenrang. Das durchschnittliche Vermögen eines jeden Eidgenossen, abzüglich Schulden, betrug 708 000 Euro. Die beiden weiteren Spitzenplätze blieben in den Händen von Luxemburg mit 560 000 Euro und Hongkong 537 000. Weit abgeschlagen landen die Deutschen: Jeder Erwachsene verfügt durchschnittlich über 265 000 Euro. Das Schlusswort gehört bei der Vorstellung des Weltreichtumsberichts dem Ko-Präsidenten des UBS Global Wealth Management, Robert Karofsky. »Vermögen muss sorgfältig verwaltet werden, und die richtige Verwaltung erfordert Zeit, Hingabe und Leidenschaft«, resümiert er. Das sollte möglich sein, wenn man wie dieser Unternehmenszweig damit allein 2023 fast 3,6 Milliarden US-Dollar erzielt hat.
Hermannus Pfeiffer
Der Weltreichtumsbericht liefert erfreuliche Ergebnisse für die Reichsten unter uns. Die durchschnittlich wohlhabendsten Menschen der Welt leben in der Schweiz, Deutschland ist unter den Top 20.
Indien, Kapital und Arbeit, Reichtum, USA
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Reichtum
2024-07-10T17:05:01+0200
2024-07-10T17:05:01+0200
2024-07-22T14:09:23+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1183624.reichtum-superreiche-werden-reicher.html
Schmerzhafter Aderlass bei den Kommunisten
Zu den aus der FKP Ausgetretenen gehören die Abgeordneten Patrick Braouezec, François Asensi und Jacqueline Fraysse, der ehemalige Abgeordnete und Bürgermeister von Montluçon, Pierre Goldberg, der Bürgermeister der Pariser Vorstadt Nanterre, Patrick Jarry, sowie Intellektuelle wie der Historiker Roger Martelli, der ehemalige Humanité-Direktor Pierre Zarka und der Philosoph Lucien Sève. Fast alle gehörten der Strömung der »Erneuerer« an, die sich ab 1989 in der FKP als Reaktion auf das Scheitern des »real existierenden Sozialismus« gebildet hatte und die für eine innerparteiliche Demokratisierung und eine breite Öffnung der Partei für andere linke Kräfte eintrat. Diese Bestrebungen wurden seinerzeit durch die ehemaligen kommunistischen Minister Charles Fiterman, Anicet Le Pors und Jack Ralite angeführt, die dann aber bald der Partei enttäuscht den Rücken kehrten. Die 200, die diesen Schritt jetzt gegangen sind, wollten immer noch an die Möglichkeit glauben, die Partei von innen zu erneuern. »Man kündigte uns seit Jahren Veränderungen an, die dann aber doch nicht kamen«, erklärt Martelli. Auf ihre Angebote und Vorschläge sei die Parteiführung nicht eingegangen. »Jetzt vergießt man dort Krokodilstränen über unseren Austritt, aber letztlich denken die sich doch: ›Bloß gut, dass wir diese Störenfriede endlich los sind.‹ Wir haben uns über die Jahre immer mehr erschöpft mit unseren Versuchen, in der Partei etwas zu bewegen, und der Erfolg war mehr als bescheiden. Doch letztlich verlassen wir mit der FKP nur einen in sich verschlossenen Apparat.« Braouezec wollte eigentlich schon gehen, als 2007 keine gemeinsame Kandidatur aller links der Sozialisten stehenden Kräfte zustande kam und die KP-Kandidatin Marie-George Buffet mit 1,93 Prozent das historisch schlechtestes Ergebnis für die FKP erzielte. »Es ist nicht gelungen, eine politische Organisation neuen, horizontalen Typs zu schaffen, die sich sowohl auf die eigenen Mitglieder als auch auf andere soziale Kräfte, Vereinigungen und Gewerkschaften stützt«, sagt er. »Auch jetzt die Front der Linken ist nur wieder eine Sammlung um zwei Parteien, die FKP und die Partei der Linken. Das ist ein Krieg der persönlichen Ambitionen, der Apparate. Das interessiert die Menschen nicht. Die Parteien sind ein Hindernis bei der Sammlung der Kräfte, denn sie wollen diese vor allem für ihre eigenen Zwecke nutzen.« Alle, die jetzt aus der FKP ausgetreten sind, betonen, dass sie sich weiterhin als Kommunisten fühlen. Die meisten wollen künftig in der »Föderation für eine soziale und ökologische Alternative« (Fase – Fédération pour une alternative sociale et écologique) mitarbeiten. Pierre Laurent, der bisherige »Koordinator« der FKP, der auf dem Parteitag die Nachfolge von Marie-George Buffet als Nationalsekretär übernehmen soll, bedauert den Austritt der 200 und bezeichnet ihn als »entgegengesetzt zur gegenwärtigen Entwicklung, der Sammlung immer breiterer Kräfte«. Der 35. Parteitag werde die Veränderung der FKP weiter vorantreiben und der Front der Linken neuen Auftrieb geben. Sie soll eine breite »Front der fortschrittlichen Kräfte und Bürger« sein, die sich um die FKP und die Partei der Linken sammelt. Diese Kräfte gelte es für den Kampf gegen die unheilvolle Wirtschafts- und Sozialpolitik der Rechtsregierung und vor allem die geplante Rentenreform zu mobilisieren. Das werde im Mittelpunkt der Diskussionen des Parteitags stehen. Zu den Thesen des Parteitags gehört aber auch die Frage: »Wie kann man unter den heutigen Bedingungen der Idee des Kommunismus neuen Sinn und unserer Partei eine neue Rolle geben?« Breiten Raum dürfte auf dem Kongress auch die Frage einnehmen, ob die FKP mit einem eigenen Kandidaten in die Präsidentschaftswahl 2012 geht. Der Vorsitzende der Partei der Linken, Jean-Luc Mélenchon, drängt seit Monaten, die Front der Linken solle ihn schon jetzt als ihren gemeinsamen Kandidaten nominieren. Er könne mehr als zehn Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen, ist er überzeugt, nachdem die zusammen angetretene Linksfront bei den Regionalwahlen schon sechs Prozent der Stimmen bekam. In der FKP ist man zunehmend verärgert darüber, dass Mélenchon offenbar die Linksfront für seine persönlichen Ambitionen zu instrumentalisieren versucht. Doch man setzt auf die zahlenmäßige und organisatorische Überlegenheit der Kommunisten. Mélenchons Partei der Linken hat nur etwa 6000 Mitglieder, während die FKP – trotz zahlreicher Austritte und nur weniger Neuaufnahmen – heute offiziell noch rund 100 000 Mitglieder zählt.
Ralf Klingsieck, Paris
Nur wenige Tage vor dem kurzfristig einberufenen 35. Parteitag der FKP, der von Freitag bis Sonntag in Paris stattfindet, sind rund 200 prominente Kommunisten demonstrativ aus der Partei ausgetreten.
FKP, Frankreich, Jean-Luc Mélenchon, Kommunisten
Politik & Ökonomie
Politik
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Mehr Angriffe auf Moscheen
Für die Besucher der Al-Rahman-Moschee bot das neue Jahr keinen Grund zum Feiern. Unbekannte hatten in der Silvesternacht Scheiben der Moschee im nordrhein-westfälischen Wesel eingeschlagen. Im Hof fand die Polizei später neben Gasflaschen Utensilien zum Bau eines Brandsatzes. Das islamische Kulturzentrum war offenbar nur knapp einem Anschlag entgangen. Angriffe wie dieser waren auch 2019 Alltag in Deutschland. 110 solcher Vorfälle hat die Initiative »Brandeilig« für das vergangene Jahr dokumentiert. Durchschnittlich zweimal pro Woche wurden muslimische Einrichtungen zum Ziel. Das war mehr als in jedem anderen Jahr seit Beginn der Erfassung 2014. Die Übergriffe, die das Projekt des Kölner Antidiskriminierungsverbands FAIR auflistet, reichen von verbalen Einschüchterungen und schriftlichen Morddrohungen über rassistische Graffiti und abgetrennte Schweineköpfe bis hin zu Brandanschlägen. Dabei stützt sich die Initiative nicht nur auf Behördenangaben und Presseberichte, sondern erhält ihre Informationen auch von betroffenen Moscheevereinen. Wer sich durch die Auflistung auf der Website brandeilig.org klickt, bekommt einen Eindruck davon, welchen Bedrohungen muslimisches Gemeindeleben in Deutschland ausgesetzt ist: 9. Januar: Angriff auf eine Moschee in Coesfeld. 10. Januar: Angriff auf eine Moschee in Baden-Baden. 13. Januar: Volksverhetzung gegen Moscheevertreter in Bergkamen und Kamp-Lintfort. 26. Januar: eingeschlagene Scheiben in Menden. 27. Januar: Bombendrohung gegen eine Moschee in Mülheim. So geht es das ganze Jahr. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die islamfeindliche Gewalt im Juni vergangenen Jahres. In diesem Monat gab es mit 24 Vorfällen fast einen täglich. Innerhalb weniger Tage gingen Bombendrohungen an Moscheen in Köln, Iserlohn, München, Duisburg, Villingen-Schwenningen, Mainz und Mannheim. In Bad Homburg, Minden und Köln wurden die Räume islamischer Einrichtungen verwüstet. In den Moscheen von Münster und Schleswig zerrissen Unbekannte Korane. Die Macher von brandeilig.org gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher sein dürfte. Doch in der offiziellen Statistik taucht nicht einmal die Hälfte der dokumentieren Fälle auf: Für das Jahr 2018 etwa zählt brandeilig.org 99 Angriffe auf Moscheen, während das Bundesinnenministerium in seiner Zählung nur auf 48 kommt. Ein Grund für die niedrige Zahl ist, dass Betroffene häufig davon absehen, Strafanzeige zu erstatten. Daneben machen Vertreter islamischer Organisationen für die niedrige Zahl auch ein allgemeines politisches Desinteresse an islamfeindlichen Straftaten verantwortlich. Jahrelang hatte sich die Bundesregierung geweigert, islamfeindliche Straftaten in der polizeilichen Kriminalstatistik überhaupt gesondert zu erfassen, wie es etwa bei antisemitisch motivierten Taten schon lange der Fall ist. Erst nach Jahren der Kritik von Opferschutzorganisationen und islamischen Verbänden wurde im Jahr 2017 der Kategorie »politisch motivierte Kriminalität« die Unterkategorie »islamfeindlich« hinzugefügt. Als Anfang des Jahres nach dem Anschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime, Aiman Mazyek, Polizeischutz für deutsche Moscheen forderte, wiegelte Horst Seehofer (CSU) ab. »Auch religiöse Einrichtungen können Ziele von Terroristen sein. Wenn es Anhaltspunkte für Gefahren gibt, wird der Schutz verstärkt«, lautete damals die Antwort des Heimatministers. Getan hat sich seitdem nichts. Auch als sich Anfang Dezember die Innenminister der Länder trafen, um Maßnahmen zum Wohle der inneren Sicherheit in Deutschland zu beschließen, waren islamfeindliche Straftaten kein Thema. Maßnahmen zum Schutz muslimischen Gemeindelebens fanden sich auf der 49 Seiten langen Beschlussliste der Innenministerkonferenz keine.
Fabian Goldmann
Bombendrohungen, Schweineköpfe, Anschläge: Angriffe auf Moscheen gehörten im vergangenen Jahr zum Alltag in Deutschland. Trotz zunehmender Bedrohung bleibt die Politik tatenlos.
Islam, Islamfeindlichkeit, Köln, Kriminalität, Nordrhein-Westfalen
Politik & Ökonomie
Politik Muslime
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1131093.muslime-mehr-angriffe-auf-moscheen.html
Einsatz für Menschenrechte »selten so gefährlich« wie heute
Berlin. Wer sich weltweit für Menschenrechte einsetzt, wird nach Angaben von Amnesty International zunehmend bedroht. Der Einsatz für die Menschenrechte sei selten gefährlicher gewesen, heißt es in einem in Berlin veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation. Im vergangenen Jahr sind demnach weltweit mindestens 281 Menschenrechtsverteidiger getötet worden. Aktivisten in insgesamt 94 Staaten seien bedroht oder angegriffen worden, hieß es. In rund 70 Staaten seien Menschenrechtler wegen ihrer friedlichen Arbeit festgenommen worden. In Ländern wie Ägypten, China, Russland oder Indien gingen Regierungen gegen die Zivilgesellschaft vor, als sei der Einsatz für die Menschenrechte ein Verbrechen, erklärte Andrea Berg, die Leiterin des Bereichs Politik bei Amnesty Deutschland. Sie forderte die Bundesregierung auf, sich mehr für den Schutz von Menschenrechtlern einzusetzen. Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger müssten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Landesgrenzen verhindert werden, heißt es in dem weltweit veröffentlichten Appell. Zudem müsse bedrohten Aktivisten geholfen werden. Menschenrechtsverteidiger erfüllten eine entscheidende Kontrollfunktion in allen Gesellschaften, unterstrich Berg. Zu den Einschränkungen, die Menschenrechtsaktivisten zu erleiden haben, gehörten illegale Überwachungen, die Beschneidung von Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie staatliche Hetzkampagnen, fuhr Berg fort. »Das systematische Vorgehen von immer mehr Regierungen weltweit raubt Menschenrechtsaktivisten die Luft zum Atmen, es erstickt die Idee einer freien, gerechten und von Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung geprägten Gemeinschaft.« Menschenrechtsverteidiger sind laut Amnesty Menschen, die sich alleine oder gemeinsam mit anderen gewaltfrei für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen. Dabei handelt es sich um Journalisten, Anwälte, Lehrer, Gewerkschafter oder Ärzte, aber auch um die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen, die sich für ihre Rechte und die anderer einsetzen. epd/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Immer mehr Staaten gehen gegen Menschenrechtsaktivisten vor - als seien sie Verbrecher. So ersticken sie die Idee von »freien und von Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung geprägten Gesellschaften«.
Amnesty International, Menschenrechte
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1051160.einsatz-fuer-menschenrechte-selten-so-gefaehrlich-wie-heute.html
Zum Geburtstag ein Ministeramt
Staubtrockener Marmorkuchen mit ein paar lommeligen Kerzen? Weit gefehlt. Christine Lambrecht bekommt zu ihrem 54. Geburtstag nicht weniger als das Amt der Justizministerin. Wie die SPD am Mittwoch mitteilte, soll die am 19. Juni 1965 geborene Rechtsanwältin, Mutter und SPD-Frau das Amt von Kollegin Katarina Barley übernehmen, die kürzlich ins EU-Parlament eingezogen ist. Das Gute an Lambrecht ist: Sie kommt aus Mannheim. In der tollen Stadt, die viele zu Unrecht als hässlichen ICE-Umstieg abtun, war die Arbeiterbewegung historisch stark. Auch Lambrecht wird zum linken Flügel der SPD gezählt. Schon mit 17 wurd... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Lotte Laloire
Personalie: Christine Lambrecht, eine linke SPDlerin aus Mannheim, wird neue Justizministerin.
SPD
Politik & Ökonomie
Politik Christine Lambrecht
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1121294.zum-geburtstag-ein-ministeramt.html
Kein Opfer, weil nicht angefeindet
Hermann Lüdeking kann sich noch gut erinnern, wie ein deutsches Ehepaar 1942 in die »Lebensborn«-Einrichtung in Sachsen kam und ihn zur Adoption aussuchte. Sechs Jahre alt war er, man hatte ihn aus Polen verschleppt. In den amtlichen Urkunden der »geraubten Kinder« wurden in der Regel Geburtsort und teilweise auch -datum gefälscht. Die »Zwangsarisierung« von Kindern ist ein weitgehend unbekanntes Kapitel der Nazidiktatur. Lüdeking, inzwischen 83 Jahre alt, hofft bis heute vergeblich auf eine wenigstens symbolische Entschädigung. Seine Klage vor dem Kölner Verwaltungsgericht wurde im vergangenen Monat abgelehnt. Es bestehe kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch. Lüdeking wollte damit eine ablehnende Entscheidung der Generalzolldirektion in Köln als zuständige Abteilung des Bundesfinanzministeriums aufheben. Hier hatte er eine einmalige Beihilfe nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von NS-Unr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Jürgen Schön
Tausende Kinder wurden von den Nazis bis 1945 nach Deutschland verschleppt. Diese Opfer hat die Bundesrepublik bei ihren Regeln zur Entschädigung vergessen. Sie warten vergeblich auf Anerkennung.
Köln, Nationalsozialismus, Nordrhein-Westfalen, Polen
Politik & Ökonomie
Politik Entschädigung für NS-Opfer
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1098551.kein-opfer-weil-nicht-angefeindet.html
»Wir haben versagt«
Die vorgezogenen Regionalwahlen in Madrid wurden wie spanische Parlamentswahlen geführt, da sie große landesweite Bedeutung hatten. Die Ergebnisse in der Hauptstadtregion werfen nun lange Schatten auf das ganze Land. Das Scheitern der Linkspartei Unidas Podemos (UP) hat mit dem Podemos-Gründer und UP-Chef Pablo Iglesias ein erstes prominentes Opfer mit nationaler Bedeutung gefunden. Er legt nach der Wahlschlappe alle Ämter nieder und zieht sich aus der Politik zurück. Iglesias hatte seinen Posten als Vize-Ministerpräsident und Sozialminister in der spanischen Regierung geräumt, um in der Hauptstadtregion der »Gefahr für die Demokratie durch eine neue Rechte à la Trump« zu begegnen. Er hat es geschafft, UP über die Hürde von fünf Prozent zu bringen, was in Prognosen vor seiner Kandidatur unsicher war. Aber UP blieb mit gut sieben Prozent weit hinter den Erwartungen zurück, wurde nur fünftstärkste Kraft. »Wir haben versagt«, gestand Iglesias in der Wahlnacht seinen geschockten Anhängern ein. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Man sei »weit davon entfernt« geblieben, eine Alternative zur rechten Isabel Díaz Ayuso und der ultrakonservativen Volkspartei (PP) zu schaffen. Die hat die Wahlen klar mit 45 Prozent und 65 Sitzen gewonnen. Es sei offensichtlich, dass er »nichts dazu beitrage«, die Menschen auch in Zukunft zu vereinen, erklärte Iglesias. Einer Erneuerung wolle er nicht im Wege stehen. »Ich bin nicht die Person, die dazu beitragen kann, dass sich diese politische Kraft konsolidiert.« Man habe ihn zum »Sündenbock« gemacht, »der das Schlimmste bei denen mobilisiert, die die Demokratie hassen«, sagte er mit Blick auf Morddrohungen gegen ihn und seine Familie. Als Nachfolgerin brachte er die Arbeitsministerin Yolanda Díaz ins Gespräch. Iglesias gestand ein, dass seine Kandidatur vor allem Ayuso genutzt hat, die mit Blick auf die Geschichte von Iglesias vor dem »Kommunismus« warnte und dagegen die »Freiheit« beschworen hatte. Erhofft hatte er sich eine starke Mobilisierung. Die gab es mit einer Rekordbeteiligung von 76 Prozent auch, 12 Punkte mehr als 2019, obwohl Ayuso seit mehr als 30 Jahren wieder an einem Wochentag wählen ließ. Es ist ihr aber gelungen, ihre Wähler zu mobilisieren. Ayuso hat viele Ziele erreicht, auch wenn sie das große Ziel einer absoluten Mehrheit von 69 Sitzen verfehlte. Ihr ist jedoch die feindliche Übernahme des bisherigen Koalitionspartners Ciudadanos (Cs) gelungen. Die nationalliberale Partei stürzte von 19,5 auf 3,5 Prozent ab und kommt nicht erneut ins Parlament. Mit der Annäherung im Diskurs an die ultrarechte Vox-Partei hat Ayuso für die CDU-Schwesterpartei auch verhindert, dass die PP-Abspaltung in Madrid weiter wachsen konnte. Ayuso präsentiert sich, ähnlich wie Marine Le Pen in Frankreich, als modernes junges Gesicht am rechten Rand. Sie stellt sich, wie Le Pen, anders als die im Nationalkatholizismus der Franco-Diktatur verankerte Vox, deshalb auch nicht frontal gegen Abtreibungen, was Vox für viele Frauen unwählbar macht. Vox konnte nur leicht zulegen und kam auf gut neun Prozent und hat nun mit 13 einen Sitz mehr. Ayuso ist weiter auf Vox-Unterstützung angewiesen, allerdings verzichten die Ultras darauf, in die Regierung aufgenommen zu werden. Diesen Tabubruch hatte Ayuso der Partei schon vor den Wahlen angeboten. Als Einbruch der Linken werden die Wahlen auch deshalb wahrgenommen, da die Sozialdemokraten (PSOE) von Ministerpräsident Pedro Sánchez massiv für ihre Politik auf Landesebene abgestraft wurden, die viele einfache Menschen in der Krise im Regen stehen lässt. Ángel Gabilondo erreichte das historisch schlechteste Ergebnis. Der Wahlsieger von 2019 mit 27 Prozent stürzte auf knapp 17 ab, weshalb auch die spanische Minderheitsregierung aus PSOE und UP angezählt ist, die die Zentralregierung stellt. Freiheit und Faschismus. Martin Ling über den Wahlsieg der Rechten in Madrid Neben Ayuso gibt es mit der Ärztin Mónica García eine weitere Gewinnerin. Sie war seit zwei Jahren angesichts des Abtauchens von Gabilondo die alleinige Oppositionsstimme. Sie trat für Más Madrid (Mehr Madrid) an. Der einstige Podemos-Partner, kam auf 17 Prozent und ist nun zweitstärkste Kraft vor der PSOE. Ein deutlich besseres Ergebnis hat Iglesias mit seiner Konkurrenzkandidatur verhindert. Sie lag richtig, als sie den Vereinnahmungsversuch von Iglesias für eine gemeinsame Kandidatur ablehnte: »Wir Frauen haben es satt, die Schmutzarbeit zu machen und dann den Männern in wichtigen Momenten den Vortritt zu lassen«, sagte sie. »Wir haben alles getan, was möglich war«, erklärte sie zu den schlechten Ergebnissen der Linken. Sie will jetzt eine »grüne und feministische« Alternative zu Ayuso anführen, um in zwei Jahren das Blatt wieder zu wenden.
Ralf Streck, San Sebastián
Die Rechte-Ultrarechte aus PP und Vox gewinnt die Regionalwahlen in Madrid bei einer Rekordbeteiligung klar. Damit ist die Zentralregierung aus Sozialdemokraten und Linkspartei Unidas Podemos schwer angeschlagen.
linke Parteien, Madrid, Sozialdemokraten, Spanien
Politik & Ökonomie
Politik Spanische Linkspartei
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1151646.wir-haben-versagt.html
Apfelpampe in Kräuterquark
Wer hat noch nicht? Zwei Kinder melden sich. Jetzt dürfen also auch noch Lenny und Arne die Apfelstückchen zerstampfen. Janine hält ihnen solange die Schüssel. Anschließend verrühren die Kleinen die Apfelpampe in der Küche mit Kräuterquark. Die Äpfel haben sie draußen im Garten der Potsdamer Kita Regenbogenland frisch gepflückt. Die zubereiteten Speisen werden dann auf der Terrasse gegessen. In 203 Städten und Gemeinden Brandenburgs versuchen insgesamt mehr als 1400 speziell geschulte Pädagogen, Kinder in Kitas, Grundschulen und Horten für das Kochen mit gesunden Zutaten zu begeistern. Seit 2015 gibt es die Initiative »Ich kann kochen!«, bei der die Krankenkasse Barmer und die Stiftung der Fernsehköchin Sarah Wiener Hand in Hand arbeiten. Bundesweit machen 6800 Kitas, 2400 Grundschulen und 900 Horte mit, in Brandenburg sind es insgesamt 537 Einrichtungen, die mindestens einen sogenannten Genussbotschafter haben, der mit den Kindern so kocht, wie sich das Ernährungswissenschaftler wünschen würden. Nicht alle frühkindlichen Bildungsstätten haben dafür so ideale Voraussetzungen wie die Kita Regenbogenland der evangelischen Hoffbauer gGmbH. Denn hier steht eine geeignete Küche mit Backofen und allem Drum und Dran zur Verfügung. Doch für andere Situationen stellt die Sarah-Wiener-Stiftung auch Rezepte zur Verfügung, für die keine Küche erforderlich ist. »Ein Hoch auf alle, die kochen können«, sagt Wiener am Freitag. Sie ist persönlich in die Kita am Hubertusdamm 50 gekommen und rühmt, »Ich kann kochen!« sei die größte deutsche Ernährungsinitiative. »Ein Hoch auf alle Pädagogen, die Kindern Kochen beibringen«, ruft die 60-Jährige. »Je älter ich werde, umso mehr merke ich, wie sinnvoll das ist.« Leider werde in den Familien immer weniger gekocht. Das betreffe insbesondere Kinder aus armen Haushalten. Diese Schere gehe immer weiter auseinander. »Da gibt es eine gesellschaftliche Aufgabe, diese Schere zu schließen.« Die »Genussbotschafter« werden mit einem zwei Mal 90 Minuten langen Online-Kurs geschult. Zusätzlich gibt es eine fünfstündige Selbstlernphase. Auf eine solche Ausbildung wurde bei Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) großzügig verzichtet. Wiener und Barmer-Landesgeschäftsführerin Gabriela Leyh ernennen die Politikerin am Freitag in der Kita Regenbogenland auch so zur »Genussbotschafterin«, indem sie ihr eine Kochschürze mit dem Logo ihrer Initiative überstreifen. Nonnemacher sei nicht nur Mutter, nicht nur Ministerin, sondern »Ärztin, die wisse, wie wichtig gesunde Ernährung ist«, würdigt Wiener. »Ich weiß genau, wie wichtig gesundes Aufwachsen ist, wie wichtig gesunde Ernährung ist von Anfang an«, bestätigt die Ministerin. »Hier wird gewuselt, geschnibbelt. Die Kinder, die teilnehmen, werden gesundes Kochen später zu schätzen wissen«, schwärmt Nonnemacher. 15 Prozent der Heranwachsenden in Brandenburg seien übergewichtig. In armen Haushalten sei dies stärker verbreitet. Darum sei es so bedeutsam, gesundes Verhalten in der Kita einzuüben und den Kleinen zu zeigen, wie viel Freude es mache, an einem schön gedeckten Tisch zu sitzen und gemeinsam zu genießen. Bei der Initiative wird auch die Kostenfrage berücksichtigt. Gesundes Essen muss nicht immer teuer sein. Der Verzicht auf zu viel Fleisch spart Geld. Lösen kann die Ernährungsfrage die sozialen Probleme allerdings nicht, sondern nur abmildern. Umsonst gibt es Lebensmittel nicht, aktuell kosten sie im Laden so viel wie lange nicht mehr. Nicht von ungefähr gehört zur Initiative »Ich kann kochen!« auch eine Anschubfinanzierung von 500 Euro für die Kitas und Grundschulen, die in das Programm neu einsteigen. Als Ministerin Nonnemacher am Freitag zum nächsten Termin muss, setzen sich die vier bis sechs Jahre alten Kitakinder gerade zum Essen an den Tisch.
Andreas Fritsche, Potsdam
In den Familien wird immer seltener gekocht. Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) setzt sich deshalb dafür ein, den Kindern gesunde Ernährung von klein auf nahezubringen.
Brandenburg, Familienpolitik, Kindertagesstätte, Österreich
Hauptstadtregion
Berlin Gesunde Ernährung
2022-09-09T17:09:38+0200
2022-09-09T17:09:38+0200
2023-01-20T17:31:16+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1166815.gesunde-ernaehrung-apfelpampe-in-kraeuterquark.html
Woidke optimistisch vor Kohle-Treffen bei Merkel
Potsdam. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) geht am Donnerstag zuversichtlich in das Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Beratung über den Strukturwandel der Kohleländer. »Wenn die Vorschläge jetzt umgesetzt werden, kann der Kohleausstieg fair gelingen«, sagte er am Dienstag dem »Tagesspiegel«. Geplant sind Maßnahmen wie der Ausbau von Bahnstrecken, Investitionen in Forschung und Wissenschaft etwa zur Speichertechnologie sowie gute Förderkonditionen für die Neuansiedlung von Unternehmen. Den Empfehlungen der Kommission zufolge soll bundesweit das letzte Kohlekraftwerk 2038 vom Netz gehen. Länder, Industrie und Kohlekumpel bekommen Milliardenhilfen - davon die Lausitz 18 Milliarden Euro. Im Lausitzer Revier arbeiten 8000 Beschäftigte in den Braunkohlekraftwerken und Tagebauen. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Angela Merkel, fossile Energie
Hauptstadtregion
Brandenburg
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Athen spart - auch für deutsche Panzer
Schmiergeldaffären im Zusammenhang mit Rüstungslieferungen sind eher die Regel als die Ausnahme, auch in Griechenland. Ein Mann aus dem griechischen Verteidigungsministerium hat in den vergangenen Jahren wohl mehr als nur eine Hand aufgehalten. Dem Staatsanwalt gestand Antonis Kantas jetzt, von 1997 bis 2002 als stellvertretender Generaldirektor für Rüstungsbeschaffungen Bestechungs-gelder von ungefähr acht Millionen Euro erhalten zu haben. Davon seien laut der Athener Zeitung »To Vima«, die eine Kopie der Aussage ins Internet stellte, rund 3,2 Millionen Euro aus deutschen Unternehmen gekommen - vor allem offenbar für nützliche Dienste beim Kauf von 170 Leopard-2-Panzern in der Rüstungsschmiede Krauss-Maffei Wegmann (KMW). Die gibt sich erwartungsgemäß empört und weiß von nichts. Die Angelegenheit zeigt allenfalls die Spitze des stählernern Eisbergs. Das Dementi? Pflichtübung. Die eigentliche politische Dimension des Skandals ist denn auch nicht der Augiasstall namens griechisches Verteidigungsministerium, sondern die Tatsache, dass Athen überhaupt Waffensysteme in Milliardendimensionen gekauft hat und auch weiter kauft. Zur »Verteidigung« gegen wen? Albanien? Die Perser? Troja? Über die Haushaltslage des griechischen Staates muss man niemanden aufklären, vielleicht aber über die Tatsache, dass es in der NATO nur zwei Mitgliedstaaten gibt, die mehr als zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben; das sind die USA und tatsächlich Griechenland. Dort sind es dieses Jahr 3,1 Prozent. Im ablaufenden Jahr hat man zwar leicht gekürzt - die Sozialetats wurden auf Druck der Troika prozentual aber erheblich stärker zur Ader gelassen. Noch immer werden etwa zehn Milliarden Euro für Panzer, U-Boote und Ähnliches verschleudert; zur Freu- de auch von deutschen Rüstungs- firmen wie HDW/Ferrostaal, Atlas Elektronik und nicht zuletzt KMW. Es ist nicht bekannt, dass die deutsche Kanzlerin, die ansonsten recht rege die griechische Staatsmisere beklagt, dies in irgendeiner Weise anstößig und also kritikwürdig befindet. Auch könnte ja der Bundessicherheitsrat, der hierzulande über Rüstungsexporte befindet, sich dazu einlassen und so vielleicht sogar mal positiv ins Gerede kommen. Aber so wie es aussieht, müssen sich KMW und Co. diesbezüglich keine Sorge machen. Dagegen hat sich Bundesbank-Präsident Jens Weidmann kurz vor der Jahreswende zur griechischen Krise vernehmen lassen. Ihn treibt offenbar die Sorge um, die Europäische Union und deren Zentralbank könnten versucht sein, das Joch, unter dem 90 Prozent der griechischen Bevölkerung ächzen, etwas zu erleichtern. Davor warnt er entschieden. Keine Wohltaten! Das Land müsse erst »produktiver werden und den Staatshaushalt weiter konsolidieren«. Auf die Idee zu sagen, wozu es dafür Edelschrott aus deutschen Rüstungsschmieden braucht, kam er nicht.
Roland Etzel
Ein Beamter des griechischen Verteidigungsministeriums hat eingeräumt, Schmiergelder bei Rüstungslieferungen entgegengenommen zu haben, auch von deutschen Waffenschmieden.
Griechenland, Korruption, Rüstung, Sparmaßnahmen
Politik & Ökonomie
Politik
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Kunst
Herr Bauer, Sie sind Professor für Sozialpädagogik, Friedensaktivist und Künstler, zuletzt erschienen von Ihnen die »Flugschriftgedichte«. Was bedeutet Kunst für Sie? Kunst ist eine Lebensäußerung – egal, ob Malen, Schreiben, Singen, Komponieren, Tanzen: eine Lebensäußerung, die sich bestimmter Fähigkeiten einerseits und Stilmittel andererseits bedient. Das künstlerisch Vitale setzt somit ein gewisses Können und Lernen voraus. Um kunstvoll zu singen, braucht man eine gute Stimme und ein gutes Gehör, und man sollte in der Lage sein, Noten zu lesen, vom Blatt zu singen, zu improvisieren, sich auf einem Instrument zu begleiten usw. Das ist aber nicht alles: Kunst hat auch eine mentale und eine psychische Komponente. Mit Hilfe der Kunst bewältigen wir Konflikte und Widersprüche, indem wir uns dazu bzw. dagegen positionieren. Aber auch Leiden und Freuden, Glück und Verzweiflung können künstlerisch verarbeitet bzw. herausgehoben w... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Was ist eigentlich Kunst? Und ist sie politisch? Gibt es Kunst, die einfach „nur" abbildet und beschreibt? Oder ist jede beschreibende Abbildung bereits eine politische Tat? Ein Gespräch mit dem Künstler Rudolph Bauer.
Kunst, Politiker, Schriftsteller
Meinung
Kommentare
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Berliner S-Bahn: Privat vor Katastrophe
Berlin (nd-Kröger). Der rot-schwarze Senat in Berlin hat kurz vor der Sommerpause die Weichen für die Zukunft der S-Bahn gestellt. Ab dem 15. Dezember 2017 soll demnach das Gesamtnetz der Berliner S-Bahn zur Vergabe in drei Teilnetze »Nord-Süd«, »Stadtbahn« sowie »Ring« aufgeteilt werden. Dies erklärte gestern Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) auf einer Pressekonferenz. Die sogenannten Teillose sollen dann ausgeschrieben werden. »Der Senat hat sich entschieden, die sogenannte Teilausschreibung der S-Bahn vorzunehmen«, sagte Wowereit. Zu dieser Entscheidung gebe es »keine Alternative«. Zuvor hatte Rot-Schwarz auch eine Gesamtausschreibung des Berliner S-Bahn-Netzes geprüft. Wer letztlich den Zuschlag für die Teilnetze bekommen werde, lässt sich jedoch erst am Ende des Ausschreibungsprozesses beurteilen, so Wowereit. Denkbar seien auch ein Weiterbetrieb durch die Deutsche Bahn (DB) oder die Direktvergabe an ein kommunales Unternehmen wie die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Für die »Ringbahn« einschließlich der Zulaufstrecken wird das Vergabeverfahren bereits in den kommenden Wochen eingeleitet. Die Strecke soll ab Ende 2017, wenn der Verkehrsvertrag mit der Deutschen Bahn ausläuft, vom Gewinner der Ausschreibung betrieben werden. Der Senat beeilt sich nach eigenem Bekunden nun auch deshalb mit dem Vorhaben, weil zum Betrieb der »Ringbahn« ein neuer Fuhrpark notwendig ist. Insgesamt seien 390 Waggons im Wert von 600 Millionen Euro für den Betrieb nötig. Bei der Berliner S-Bahn war es in den vergangenen Jahren immer wieder zu massiven Problemen bekommen. In ersten Reaktionen äußerten sich die Berliner Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und Vertreter eines Volksbegehrens zur S-Bahn ablehnend. Auch in der SPD selbst gibt es große Vorbehalte gegen die Teilprivatisierung.
Redaktion nd-aktuell.de
Senat will Streckennetz ab 2017 schrittweise neu vergeben
Berlin, Privatisierung, S-Bahn
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/230285.berliner-s-bahn-privat-vor-katastrophe.html
Wenn Micky und Minnie Maus obdachlos sind
Eigentlich gelten die Disneylands als Sehnsuchtsorte. »Wo Träume wahr werden«, warben sie in den USA lange Jahre für sich selbst. Doch die Arbeiter*innen in den profitablen Vergnügungsparks werden teilweise so schlecht bezahlt, dass sie obdachlos sind. Seit einige Monaten demonstrieren die Beschäftigten nun für bessere Löhne. Teilweise sogar noch in ihren Darstellerkostümen, verkleidet als Micky oder Minnie Maus, ziehen sie durch die Straßen. »Was ist mit unseren Träumen?«, fragen sie auf Schildern. 2016 hatte der Fall einer im Auto lebenden Disneyland-Mitarbeiterin für Schlagzeilen gesorgt. Die 61-Jährige hatte sieben Jahre lang in ihrem Honda gelebt, weil sie sich von dem kargen Gehalt keine Wohnung leisten konnte. Derzeit liegen die Löhne vieler einfacher Mitarbeiter*innen der Vergnügungsparks in Kalifornien und Florida bei etwas mehr als zehn Dollar Stundenlohn. Die Gegenden, in denen die Parks liegen, gelten als teuerste Wohngegenden der Regionen. Mittlerweile haben sich Gewerkschaft und Unternehmen auf leichte Lohnerhöhungen geeinigt. Am Wochenende stimmten Arbeiter*innen der Parks in Kalifornien einem Vorschlag auf bessere Bezahlung für die Beschäftigten der Hotels zu. Statt wie bislang rund zehn Dollar Einstiegsgehalt zu erhalten, hat die Gewerkschaft »Unite Here Local 11« eine Lohnsteigerung um 40 Prozent für die Hotelangestellten erstritten. Ab 2019 sollen die Löhne auf mindestens 15 Dollar Einstiegsgehalt steigen, die anderen erhalten teilweise noch etwas mehr. Das Ganze gilt für rund 2 700 Angestellte. Schon im Juli gab es eine erste Einigung mit drei anderen Gewerkschaften. Für fast 10 000 Angestellte in Kalifornien und Florida, darunter die Kostümdarsteller und Eingangskontrolleure wurde eine Erhöhung auf mindestens 15 Dollar beschlossen. Sowohl Disney als auch die Gewerkschaften feiern das als große Einigung. Doch es gibt gleich mehrere Wermutstropfen. Denn die nun erkämpfte Lohnerhöhungen gelten nur für die Gewerkschaftsmitglieder. Insgesamt hat Disney alleine am Standort Anaheim mehr als 20 000 Angestellte und ist der größte Arbeitgeber im Bezirk Orange County. Ähnliche Bedeutung haben die Themenparks auch in Florida. Fraglich ist auch, inwieweit die zwar erst einmal ordentlich klingende Gehaltserhöhungen helfen, Obdachlosigkeit und Armut bei den Beschäftigten effektiv zu verhindern. Berechnungen eines von der Gewerkschaft beauftragten Thinktanks ergaben, dass 23 Dollar Stundenlohn nötig wären, um Miete, Rechnungen und Essen stabil zahlen zu können. Dazu kommt: Das Einlenken des Disney-Konzerns bei der Gehaltsfrage hat ein offensichtliches Geschmäckle. Kalifornien plant derzeit ein Gesetz, das den Mindestlohn für Unternehmen deutlich anheben würde, die vom Land Subventionen erhalten haben. Da auch Disney Subventionen erhalten hat, wären auch die Disney-Themenparks verpflichtet, 18 Dollar Mindestlohn zu zahlen. Lieber zahle es die Subventionen zurück, als bessere Löhne, kündigte das Unternehmen bereits an. Leisten könnte sich Disney eine satte Gehaltserhöhung. Gerade die Parks gelten als sehr rentabel. Laut Informationen des Wirtschaftsnachrichtenportals Bloomberg stieg der Gewinn im letzten Quartal 2017 um 21 Prozent auf 1,34 Milliarden Dollar. Damit sind die Parks zum profitabelsten Teil des Unternehmens aufgestiegen - und erzielen sogar mehr Gewinn als die TV-Sparte.
Alina Leimbach
Steik im Paradies. Nachdem Beschäftigte der Disney-Themenparks in den USA auf die Straße gegangen sind, lenkte der Konzern nun teilweise ein. Doch zum Leben reicht der Lohn weiterhin kaum.
Arbeitskampf, Comic, Gewerkschaft, Obdachlosigkeit, Streik, USA
Politik & Ökonomie
Politik Arbeitskampf
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1101441.arbeitskampf-wenn-micky-und-minnie-maus-obdachlos-sind.html
Höwedes patzt Schalke zum Verlierer
Wortlos stapfte Benedikt Höwedes von dannen, den Doppelfehler des Weltmeisters durften seine Teamkollegen von Schalke 04 erklären. »Da war ein bisschen Pech dabei«, sagte Torhüter Ralf Fährmann nach den spielentscheidenden Patzern seines Kapitäns beim überraschenden 1:2 (0:0)-Rückschlag gegen den 1. FC Köln: »Wenn du als Verteidiger einen Fehler machst, wird's sofort gefährlich.« Drei Tage nach dem umjubelten Achtelfinaleinzug in der Champions League hatte Höwedes mit zwei Aussetzern maßgeblichen Anteil an der ersten Bundesliga-Heimpleite der Königsblauen seit siebeneinhalb Monaten: Erst legte der 26-Jährige bei einem missglückten Abwehrversuch dem Kölner Yannick Gerhardt den Ball vor, der den Torschützen Anthony Ujah freispielte (47.). Dann verursachte er mit einem Trikotzupfer gegen Pawel Olkowski den Elfmeter, den Matthias Lehmann zur Entscheidung nutzte (67.). Der Kapitän, der sonst immer Rede und Antwort steht, schwieg diesmal. Drei andere Spieler waren von den Schalkern ausgewählt worden, sich nach dem Ausrutscher im Rennen um die erneute Qualifikation für die Königsklasse zu äußern. Seit dem 0:5-Debakel gegen den FC Chelsea und dem lauten Presse-Echo gibt es nur noch ausgesuchte Gesprächspartner für die Journalisten. Fährmann nahm Höwedes in Schutz. »Niemand macht ihm einen Vorwurf«, sagte der Keeper. Und auch Sportvorstand Horst Heldt schloss sich an: »Er hat nach dem Chelsea-Spiel mit guten Leistungen wesentlich dazu beigetragen, dass wir uns stabilisiert haben. So ein Tag kommt vor.« Es lag nicht an den Fehlern des Weltmeisters allein, dass die Schalker erstmals seit dem 27. April (0:1 gegen Borussia Mönchengladbach) in der heimischen Arena wieder als Verlierer eines Bundesligaspiels vom Platz gingen. Die erste Heimniederlage in der Liga unter Trainer Roberto Di Matteo, zugleich die erste Pleite mit dessen neuem 3-5-2-System, war auch kollektiven Ermüdungserscheinungen geschuldet. Beim dritten Spiel in acht Tagen mit dem immergleichen Personal, weil weiterhin fast eine komplette Mannschaft verletzt ausfällt, fehlten zunächst trotz deutlicher Überlegenheit die letzte Präzision und Konzentration. Als Köln mit dem ersten Schuss in Führung gegangen war, wurden die Beine schwer. Der Anschlusstreffer des eingewechselten Leroy Sané (85.) kam zu spät. Selbst die Kölner wunderten sich ein bisschen, wie sie zu ihrem ersten Sieg auf Schalke seit 21 Jahren gekommen waren. »Wir haben lange die Null gehalten und dann die wenigen Chancen eiskalt genutzt«, fasste Lehmann treffend zusammen. Mit dem unerwarteten Dreier nach drei Niederlagen in Folge setzte sich der Aufsteiger wieder von den Abstiegsplätzen ab. Die Schalker ärgerten sich nicht nur über drei verlorene Punkte, sondern auch über einen besonders schmerzhaften Treffer: Ein Zuschauer warf Co-Trainer Sven Hübscher in der Nachspielzeit ein Feuerzeug an den Kopf. »Er hat eine Riesen-Platzwunde und musste genäht werden«, berichtete Heldt: »Ein Unding.« Mithilfe von Videoaufnahmen und Hinweisen anderer Zuschauer soll der Täter ermittelt werden. SID
Thomas Lipinski, Gelsenkirchen
Drei Tage nach dem Achtelfinaleinzug in der Champions League ist Schalke 04 in der Bundesliga böse ausgerutscht. Beim 1:2 gegen den 1. FC Köln patzte ausgerechnet Weltmeister Benedikt Höwedes.
1. Fußballbundesliga, FC Schalke 04
Sport
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System Change Camp: »Wir wollen Kämpfe verbinden«
Das jährlich stattfindende System Change Camp, auf Deutsch: Systemwandel-Camp, kommt eigentlich aus der Klimabewegung. Was macht das diesjährige Camp in Erfurt so besonders? Lui: Dieses Jahr haben wir uns nicht nur auf den Systemwandel konzentriert, sondern vor allem auf Antifaschismus. Im Vorfeld der Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen haben wir den Ort Erfurt bewusst gewählt und einen klaren Fokus auf Veranstaltungen gelegt, die sich speziell mit der Arbeit gegen rechts in Thüringen beschäftigen und die Überschneidungen zwischen Klima und Antifaschismus aufzeigen. Wie hängen Klimaaktivismus und Antifaschismus zusammen? Noa: Antifaschismus wird in der Klimabewegung immer wichtiger. Ein Erstarken der Rechten macht vernünftige Klimapolitik unmöglich, da rechte Politiker oft den Klimawandel leugnen und auf Abschottung setzen. Klimagerechtigkeit muss aber global gedacht werden, denn die Klimakatastrophe verschärft die Krisen in vielen Regionen der Welt. Das führt dazu, dass Menschen sich vermehrt auf die Flucht begeben – und wie darauf reagiert wird, das sehen wir jetzt schon länger. Frida (links) ist Teil des Dolmetsch­kollektivs und des Offenen Antifaschis­ti­schen Treffens Erfurt. Noa (Mitte) und Lui (rechts) gehören zum Presseteam des System Change Camps. Droht aber nicht die Gefahr, dass die Klimabewegung ihren Fokus verliert, wenn sie sich jetzt auch noch mit dem Rechtsruck beschäftigt? Noa: Es ist gut, dass hier auf dem Camp viele Organisationen mit unterschiedlichen Zielen vertreten sind. Klimagerechtigkeit und Antifaschismus haben ja auch viel gemeinsam: beide beschäftigen sich mit sozialer Ungerechtigkeit und dem Thema Bewegungsfreiheit. Wir versuchen, die Kämpfe zu verknüpfen und Ressourcen zu bündeln – trotzdem kann jede Gruppe in ihrem Bereich weiter arbeiten und ihren »Markenkern« behalten. Was geschieht denn konkret auf dem Camp gegen den Rechtsruck in Thüringen und Ostdeutschland? Lui: Es geht alleine schon darum zu zeigen, dass es hier stabile Organisationen gibt, die zu linken Themen arbeiten – und zwar sehr zahlreich. Das Programm zeigt, dass es nicht einfach darum ging, von außen nach Erfurt zu kommen und etwas anzubieten, sondern dass von Anfang an die Menschen vor Ort mit ihren lokalen Initiativen eingebunden wurden. Deswegen liefern auch viele Gruppen aus Erfurt und Thüringen Beiträge. Hast du ein Beispiel? Lui: Eine Frage, die hier diskutiert wird, ist wie man Strukturen auf dem Land und in der Stadt miteinander verbinden kann. Es gibt aber auch viel Kulturprogramm und Workshops, die an den Grundlagen ansetzen und auch für Personen ohne Vorwissen geeignet sind. Denn wir wollten auch Menschen, die bisher noch nicht organisiert sind, Möglichkeiten aufzeigen, wie sie sich einbringen können. Das ist ein wesentlicher Schwerpunkt des Camps. Wie viele Teilnehmende gibt es und welche Organisationen aus Thüringen sind beteiligt? Lui: Gestern hat die Küche 1400 Essen ausgegeben, und wir rechnen am Wochenende mit 2000 bis 2500 Menschen. Frida: Es sind total viele Menschen aus Thüringen hier. Und ich kann jetzt unmöglich alle Gruppen aufzählen, aber das offene antifaschistische Treffen (OAT) Erfurt und Eisenbach macht mit, genau wie die Gruppe Rechtsruck stoppen aus Jena. Die Seebrücke-Ortsgruppen aus Jena und Erfurt bieten total viel Programm an. Sie beziehen gerade auch Geflüchtete mit ein, die noch nicht lange in Thüringen leben und viel von ihren Erfahrungen berichten können. Wie geht ihr mit Sprachbarrieren um? Frida: Ein Thüringer Kollektiv organisiert die Dolmetschung. Ich helfe bei der Koordination und merke dabei, wie bereichernd es ist, wenn Menschen in Workshops in ihrer Sprache sprechen und verstanden werden können. Gestern hatten wir eine Veranstaltung auf Dari-Persisch und Deutsch, und das Publikum konnte der Veranstaltung auf Deutsch, Dari, Englisch und Arabisch folgen. Das ist ein wichtiger Schritt, um Menschen einzubeziehen und mit ihnen zu reden, statt über sie. Es finden auch Aktionen außerhalb des Camps statt. Was könnt ihr darüber berichten? Lui: Gestern gab es eine Aktionsrallye, bei der rechte Sticker und Graffiti entfernt und Botschaften für Klimaschutz und gegen rechts hinterlassen wurden. Die Aktionen machten uns in Erfurt sichtbar und setzten ein Zeichen. Wenn man durch die Stadt läuft, fallen einem vielleicht ein paar Sachen auf, die jetzt anders aussehen. Wir haben aber mit dem Nordpark auch einen Ort gewählt, der sehr sichtbar ist. Das Camp befindet sich mitten in der Stadt an einem viel befahrenen Radweg und nebenan ist ein Freibad. Denn wir wollen auch ansprechbar sein. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Wie waren bisher die Reaktionen auf das Camp? Lui: Schon während der Vorbereitung haben Menschen vor Ort mit den Anwohnenden gesprochen, sie waren in Schulen und im Freibad und haben sich erkundigt, was die Menschen vor Ort brauchen, damit sie sich wohlfühlen. Bisher waren die Reaktionen durchweg positiv. Es ist schön zu merken, dass Leute, die nicht aus der Bewegung stammen, aufs Camp kommen und an den Workshops teilnehmen. Damit können wir hoffentlich auch Vorurteile gegenüber »linken Chaostruppen« abbauen. Was bedeuten Camps wie dieses in Zeiten, in denen die Klimabewegung und andere linke Bewegungen in einer tiefen Krise stecken? Lui: Camps sind Orte, an denen man zusammenkommt, sich vernetzt und austauscht. Sie helfen, das Gefühl der Vereinzelung zu überwinden und gemeinsam an größeren Plänen zu arbeiten. Wir lernen hier alle voneinander und zeigen gleichzeitig, dass andere Formen des Zusammenlebens möglich sind. Hier ist ja ganz viel selbst organisiert und basiert auf Solidarität: Wir kümmern uns um unseren eigenen Strom, sorgen für Essen und Menschen, übernehmen Schichten, um das Camp am Laufen zu halten. Noa: Man darf aber auch die Außenwirkung nicht unterschätzen. Der Kontakt mit Menschen, die einfach vorbeikommen und die mediale Aufmerksamkeit: Das sind wichtige Effekte neben dem, was es für die Bewegung nach innen bedeutet. Das Camp läuft noch bis Sonntag. Was ist am Wochenende geplant? Frida: Unter anderem gibt es am Samstag eine antirassistische Demo. Sie wird seit Monaten von Menschen aus Thüringen organisiert. Ziel ist, die Perspektiven von migrantisierten Menschen und BIPoC (Abkürzung für Schwarze Menschen, Indigene Menschen und Menschen of Colour, Anm. d. Red.) stärker einzubringen. Denn sie sind am stärksten von rechter Politik betroffen und ihre Stimme fehlte häufig bei den großen Protesten gegen rechts im Frühjahr. Die Demo am Samstag wird hingegen komplett von ihnen getragen, und es werden ausschließlich migrantisierte Personen Redebeiträge halten, die zum Teil schon seit Jahren in Thüringen leben und immer wieder rassistische Kommentare oder Angriffe erleben.
Interview: Anton Benz
Traditionell ist das System Change Camp Teil der Klimabewegung. Doch in Zeiten des Rechtsrucks gehen Klimaaktivismus und Antifaschismus Hand in Hand. Ein Gespräch über Gemeinsamkeiten und Kraftbündelung.
Antifa, Erfurt, linke Bewegung, Thüringen
Politik & Ökonomie
Politik Erfurt
2024-08-08T18:01:05+0200
2024-08-08T18:01:05+0200
2024-08-11T12:29:01+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184373.erfurt-system-change-camp-wir-wollen-kaempfe-verbinden.html
Überschüsse fließen zum Teil in Tilgung
Die gute Konjunktur und die stabile Arbeitsmarktlage machen es möglich. »In den kommenden Jahren kann Berlin mit stabilen und moderat steigenden Einnahmen rechnen«, hatte Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) bereits nach der letzten Steuerschätzung Mitte November angekündigt. Nach dieser kann Berlin allein in diesem Jahr mit mehr als 826 Millionen Euro Mehreinnahmen rechnen. Auch für die beiden kommenden Jahre werden Mehreinnahmen prognostiziert. Wie die dpa jetzt aus Regierungskreisen erfuhr, heißt das, dass Berlin in diesem Jahr deutlich mehr Schulden tilgen will als bislang geplant. Der Schuldenberg soll um 500 Millionen Euro abgetragen werden. Bisher waren dafür 80 Millionen Euro im Haushalt eingeplant. Insgesamt hat Berlin noch rund 59 Milliarden Euro Verbindlichkeiten. Der rot-rot-grüne Senat hatte zuletzt einen Schwerpunkt auf Investitionen etwa zur Sanierung maroder Schulen und dem Wohnungsbau gelegt und daher nur geringere Summen zur Schuldentilgung eingeplant. »Wir haben die Verabredung über die Mindesttilgung und wir haben die Verabredung, dass wir das zulässige strukturelle Defizit nicht reißen wollen«, sagt der Finanzexperte der Linksfraktion, Steffen Zillich, dem »nd«. Man bleibe dabei, dass das Geld jenseits dieser Verabredung ins SIWANA fließen soll. Also in das Sondervermögen »Infrastruktur der wachsenden Stadt und Nachhaltigkeitsfonds«. Aus dem Sondervermögen werden Investitionen in die Infrastruktur finanziert. Der Fonds dient zudem als Puffer, um auch in konjunkturell schlechten Zeiten investieren und gleichzeitig die ab 2020 geltende Schuldenbremse einhalten zu können. Mit dpa Kommentar Seite 4
Martin Kröger
Wegen der guten Einnahmesituation verzeichnet Berlin wohl erneut hohe Überschüsse. Mit dem Geld wird das Sondervermögen für Investitionen und die Schuldentilgung aufgestockt.
Berlin, Bildungspolitik, Verschuldung
Hauptstadtregion
Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1071082.ueberschuesse-fliessen-zum-teil-in-tilgung.html
Mehr Macht für Radprofis
Aus Fehlern lernt man, sogar im von Traditionen geprägten und zuweilen arg rückwärtsgewandten Radsport. Das Beispiel einer ziemlich steilen Lernkurve bot dieser Tage der Giro d’Italia. Als Wetterunbilden drohten, die 16. Etappe zu einer Rutschpartie auf Rädern zu machen, nahm RCS, der Organisator der Italien-Rundfahrt, kurzfristig zwei von drei Dolomitengipfeln aus dem Programm. »Wir wollten nicht wieder die gleiche schlechte Figur abgeben wie im vergangenen Jahr«, begründete Giro-Chef Mauro Vegni im italienischen Fernsehen die Entscheidung. Während des Giros im Jahr 2020 waren die Fahrer am Morgen einer 250 Kilometer langen Flachetappe in den Streik getreten - und hatten eine Verkürzung durchgesetzt. Grund waren damals heftige Regenfälle. Vegni war zornig, drohte den Profis gar Vergeltungsmaßnahmen an. Für Unmut bei den Organisatoren und beim Fernsehen hatte auch gesorgt, dass die Fahrer erst kurz vor dem Start mit ihren Protesten begannen und somit einen neuen Plan erschwerten. In diesem Jahr waren alle ein wenig schlauer. »Die CPA-Gruppe unter den Fahrern begann schon am Freitag zu diskutieren«, berichtete Felix Großschartner, Österreicher in Diensten des deutschen Teams Bora-hansgrohe, dem »nd«. Die CPA ist die offizielle, und in der Vergangenheit oft wegen Untätigkeit kritisierte Fahrergewerkschaft. »Ich habe denen gesagt, wartet doch erst mal ab, wie das Wetter wird«, blickte der Österreicher zurück. Die Voraussagen blieben allerdings durchgehend schlecht. Kälte und Regen waren für die Dolomitenpässe am Montag angesagt. »Angesichts dieser Bedingungen war die Sicherheit der Rennfahrer gefährdet. Vor allem das Risiko in den Abfahrten war zu groß«, sagte Vegni. Dass nur zwei der drei Pässe gestrichen wurden, erklärte er so: »Am Passo Giau sind die Straßen in der Abfahrt breiter als bei den anderen beiden Pässen. Das kann man verantworten.« Alles gut also? Weit gefehlt! Im italienischen Fernsehen wurde Vegni wegen der Verkürzung scharf angegangen. Die RAI blendete Bilder ein, auf denen es auf den Pässen gerade nicht regnete. Vegni musste sich in der Fernsehshow »Processo alla Tappa« tatsächlich wie ein Angeklagter in einem Prozess vorgekommen sein. Die Moderatorin schaltete verschiedene sportliche Leiter zu: Matteo Tosatto von Ineos Grenadiers zum Beispiel, aber auch BikeExchange-Manager Brent Copeland, die alle versicherten, dass sie gern die Etappe in der ursprünglichen Form gefahren wären. Dabei waren die Straßen auch auf den Fernsehbildern der RAI noch nass. Und die Vorhersagen prognostizierten weitere Niederschläge. Es blieb also ein Restrisiko, dass weder Vegni noch die Fahrer eingehen wollten. »Ihr dürft nicht immer nur mit denen sprechen, die im Begleitauto sitzen, sondern auch mit den Fahrern«, entgegnete der Giro-Chef trocken und verwies auf die Gespräche, die mit dem CPA-Delegierten Cristiano Salvato längst gelaufen waren. In der TV-Schlacht nach dem Rennen offenbarten sich ganz deutlich die wichtigsten Konfliktlinien im Radsport. Das Fernsehen hatte weniger Übertragungszeit, weil die Etappe später begann und Egan Bernal eine Stunde vor der geplanten Ankunftszeit schon ins Ziel stürmte. Vermutlich ist das der Grund für den Druck auf Vegni. Paradox war zudem, dass sich die Favoriten im Kampf um die Gesamtführung bei den noch immer schlechten Bedingungen einen tollen sportlichen Schlagabtausch lieferten, die RAI aber nicht in der Lage war, die entsprechenden Bilder dazu zu liefern. Ihre Hubschrauber durften nicht in die Luft, und die erdgebundenen Relaisstationen für die Signalübermittlung waren zu schwach. So kam es immer wieder zu Bildausfällen. Auch zwischen den Teams (als den Arbeitgebern) und den Fahrern (als den eigentlich Werktätigen) offenbarten sich Differenzen. Die meisten sportlichen Leiter befürworteten ein Rennen auf dem ursprünglichen Parcours. Und selbst wenn einige Fahrer später auch auf die Linie ihrer Chefs umschwenkten, soll die Abstimmung unter den Profis über einen Messengerdienst eine Mehrheit für die Verkürzung ergeben haben. Auch die Auskunft von Sieger Egan Bernal, er persönlich wäre gern die lange Etappe gefahren, hätte sich aber nicht gegen die Kollegen stellen wollen, deutete eine Mehrheit im Fahrerlager für die Streichung der Pässe an. Der Herausforderer - Nach vielen Jahren Dürre gibt es wieder eine russische Radsporthoffnung: Alexander Wlassow ist der zweitstärkste Mann beim Giro d’Italia Giro-Chef Vegni, oft als knallharter Traditionalist geschmäht, zeigte sich in dieser Situation erfreulich offen, konstruktiv und kompromissbereit. Er sprach auch ein Grundproblem des Straßenradsports an: »Wir müssen darüber nachdenken, wie wir angesichts der Klimaveränderungen den Radsport in Zukunft gestalten.« Kälteeinbrüche und Stürme im Frühjahr und Herbst dürften sich tatsächlich häufen. Doch wie reagiert man darauf? »Ich hätte auch mal gern einen Giro im Juli«, präsentierte er einen Vorschlag - jedoch sicher halb im Scherz, denn Vegni weiß: Der Monat ist im Rennkalender fest für die Tour de France geblockt. Der Giro zeigt: In die Sicherheitsdebatte ist bei einigen Beteiligten neue Kompromissbereitschaft gekommen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Interessenskonflikte gibt es weiter. Das ist nicht das Problem. Die unterschiedlichen Interessenlagen müssen nur artikuliert und dann moderiert werden. Die Debatte, wie dieser Sport in der Klimakrise noch planbar bleibt, muss sogar sehr dringend geführt werden.
Tom Mustroph, Sega di Ala
Wer hat das Sagen im Profisport: Athleten oder Fernsehen? Zumindest im Radsport konnten sich in der Sicherheitsdebatte nach Jahren nun erstmals die Sportler durchsetzen. Der Giro d’Italia änderte für sie wetterbedingt seine Strecke.
Fernsehen, Giro d'Italia, Italien, Radsport
Sport
Sport Giro d’Italia
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1152483.mehr-macht-fuer-radprofis.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Nur geimpft oder genesen ins Gasthaus
Ab diesen Montag gelten in Brandenburg neue Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie. So besteht nun auch in den Grundschulen wieder Maskenpflicht. Zuvor hatten nur die Schüler ab der 7. Klasse im Unterricht Masken tragen müssen. Kernstück der neuen Corona-Verordnung, die vorerst bis zum 5. Dezember gilt, ist eine erhebliche Ausweitung der sogenannten 2G-Regel. Gaststätten, Theater, Kinos, Spielbanken, Freizeitbäder, Saunas, Diskotheken, Clubs und Festivals dürfen jetzt grundsätzlich nur noch von geimpften oder genesenen Personen aufgesucht werden und - soweit der Jugendschutz das erlaubt - von Kindern unter zwölf Jahren. Nicht mehr hinein dürfen ungeimpfte, negativ auf das Coronavirus getestete Menschen, wie es bei der 3G-Regel der Fall war. Ausnahmen gibt es für Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können. Diese müssen das mit einem Attest belegen und dürfen mit einem negativen Testnachweis auch dorthin, wo eigentlich 2G gilt. Allerdings müssen sie eine FFP2-Maske tragen. Die Mensa an der Hochschule ist ebenso wie die Betriebskantine von 2G ausgenommen. Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss getestet sein, wenn er zum Friseur oder zur Kosmetikerin will. Die Eindämmungsmaßnahmen seien »zwingend erforderlich«, bedauerte Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), als sein Kabinett die neue Verordnung am vergangenen Donnerstag beschlossen hatte. »Die Infektionszahlen haben sich in Brandenburg in den letzten acht Tagen verdoppelt. Geplante Operationen müssen bereits vielerorts wieder verschoben werden. Wir müssen handeln«, so Woidke. Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) ergänzte: »Angesichts der explodierenden Infektionszahlen und der schnell steigenden Covid-19-Fälle, die in Krankenhäusern behandelt werden müssen, sind schärfere Maßnahmen jetzt dringend notwendig. Anders können wir die rasante Verbreitung der infektiöseren Delta-Variante und damit eine drohende Überlastung unseres Gesundheitssystems nicht verhindern.« 7,9 Prozent der verfügbaren Intensivbetten im Bundesland sind mit Corona-Patienten belegt. 67 infizierte Menschen liegen auf Intensivstationen, 60 von ihnen müssen beatmet werden. Darüber hinaus werden in den Krankenhäusern noch 241 weitere Corona-Patienten behandelt. Am Wochenende stieg die Zahl der Todesfälle um neun auf 3977. Gerechnet auf je 100 000 Einwohner haben sich in den vergangenen sieben Tage 359,3 Brandenburger mit dem Coronavirus infiziert. Mit Abstand am höchsten ist dieser Wert mit 869,6 im Landkreis Elbe-Elster. Zugleich weist Brandenburg eine der niedrigsten Impfquoten deutschlandweit auf. Nur 61,1 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft. Mit 57,4 Prozent liegt die Impfquote nur in Sachsen noch niedriger. Die höchste Quote hat mit 79,1 Prozent Bremen.
Andreas Fritsche
Als Reaktion auf steigende Coronazahlen hat Brandenburg eine neue Verordnung zur Eindämmung der Pandemie beschlossen. Am 15. November tritt sie in Kraft und gilt zunächst bis zum 5. Dezember.
2G-Regel, Brandenburg, Corona, Corona-Pandemie, Landesregierung
Hauptstadtregion
Brandenburg Corona-Verordnung
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158602.corona-verordnung-nur-geimpft-oder-genesen-ins-gasthaus.html
Proteste gegen deutschen Kranz bei griechischem SS-Gedenken
Athen. Bei einer Gedenkzeremonie für Opfer eines NS-Massakers an griechischen Zivilisten in Distomo ist der deutsche Botschafter Peter Schoof in eine hitzige Auseinandersetzung über Verbrechen Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg verwickelt worden. Die Linkspolitikerin Zoe Konstantopoulou versuchte bei der Veranstaltung am Samstag den deutschen Diplomaten daran zu hindern, einen Kranz für die NS-Opfer von Distomo niederzulegen, wie ein am Sonntag in griechischen Medien und auf Facebook veröffentlichtes Video zeigt. Konstantopoulou ist dabei keine Unbekannte. Die frühere SYRIZA-Politikerin und Parlamentspräsidentin rief unter anderem: »Sie müssen den Opfern Reparationen zahlen!« und »Sie haben nicht das Recht!«. Aus der Menge der Anwesenden waren »Bravo«- und »Schande«-Rufe zu hören. Dann stellte sich der 94-jährige Widerstandskämpfer und ehemalige SYRIZA-Europaabgeordnete Manolis Glezos dem Botschafter zur Seite: Er erhob sich von seinem Platz in der ersten Reihe und führte Schoof an der Hand nach vorne, damit er den Kranz ablegen konnte. Die Geste wurde aus dem Publikum mit »Bravo«-Rufen quittiert. »Das Kind eines Verbrechers, was auch immer die Verbrechen seines Vaters oder seiner Mutter seien, ist dafür nicht verantwortlich«, sagte der in Griechenland weithin bekannte Held des Widerstands gegen die Nazi-Besatzung. Zum Volkshelden wurde Glezos in Griechenland mit 18 Jahren durch eine tollkühne Aktion: Gemeinsam mit einem Freund kletterte er in der Nacht zum 31. Mai 1941 im besetzten Athen auf die Akropolis und entfernte dort die Hakenkreuzfahne. Von den deutschen Besatzern wurde er drei Mal festgenommen und wiederholt gefoltert. Durch die Besatzung Nazis-Deutschlands von April 1941 bis September 1944 verloren rund 300.000 griechische Staatsangehörige ihr Leben. Die Nazis verübten zahlreiche Massaker. In Distomo ermordete eine Division der Waffen-SS am 10. Juni 1944 insgesamt 218 Menschen, darunter rund 50 Kinder. Andere Massaker wurden in Kommeno, Lyngiades, Kalavryta, Kandanos oder Viannos verübt. Außerdem nahm die Besatzungsmacht 1942 bei der griechischen Zentralbank einen Zwangskredit auf, der damals auf knapp 500 Millionen Reichsmark beziffert wurde. Die Frage von Entschädigungszahlungen belastet die deutsch-griechischen Beziehungen. Athen bezifferte die Forderungen zuletzt auf 269,5 Milliarden Euro. Deutschland hat die griechischen Forderungen stets abgewiesen. Zur Begründung hieß es unter anderem, der Zwangskredit falle unter das Londoner Schuldenabkommen von 1953, das Deutschland von allen Reparationen und Kompensationen freispricht. Dagegen verweist Athen darauf, dass der Besatzungskredit und die Forderung nach Reparationen zu trennen seien. 2003 wies der Bundesgerichtshof entsprechende Reparationsforderungen ab, 2006 bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Der deutsche Botschafter wollte bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der NS-Massaker in Griechenland einen Kranz niederlegen. Doch eine linke Politikerin versuchte, dies zu verhindern.
Griechenland, Nazis, Reparationen, SYRIZA, Zweiter Weltkrieg
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1053762.proteste-gegen-deutschen-kranz-bei-griechischem-ss-gedenken.html
Immer diese Ossis
So kann man es auch machen: Statt auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Repräsentanz der Bewohner einer Region in Verwaltung und politischer Vertretung zu schauen, analysiert man die Stimmung der Menschen dort. Und die ist schlecht, nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen sind »mit der Demokratie zufrieden«, heißt es im Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung. Man könnte auch sagen: Sie sind mit dem Handeln der Regierung(en) und der Parlamente unzufrieden. Aber nein, es soll gleich »die Demokratie« an sich sein. Unterschwellig wird damit wieder einmal suggeriert, dass der Ostdeutsche halt von Hause aus ein Problem mit demokratischen Gepflogenheiten hat. Dabei gibt es Gründe zur Unzufriedenheit angesichts der Politik von Bund und Ländern, die einen großen Anteil daran hat, dass die multiplen aktuellen Krisen Hunderttausende in existenzielle Not stürzen. Und das nicht nur im Osten, wie der Bericht zeigt. Dass die Unzufriedenheit mit progressiven, gar antikapitalistischen Bewegungen einhergeht, ist indes leider weder in Ostdeutschland noch in Westdeutschland zu erwarten.
Jana Frielinghaus
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung stellte seinen Jahresbericht vor. Dabei handelt es sich eigentlich um einen Report zur Stimmung im gesamten Land. Er zeigt: Es gärt nicht nur östlich der Elbe.
Ostdeutschland
Meinung
Kommentare Bericht des Ostbeauftragten
2022-09-28T18:07:32+0200
2022-09-28T18:07:32+0200
2022-09-28T18:31:09+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1167298.bericht-des-ostbeauftragten-immer-diese-ossis.html
Militär aus Frankreich im Mali-Einsatz
Bamako/Berlin (Agenturen/nd). Im westafrikanischen Mali rücken die Islamisten nach Süden vor. Nach der Eroberung der Stadt Konna durch Rebellen wurde am Freitag auch der baldige Fall des 70 Kilometer entfernten Sévaré befürchtet. Die Stadt gilt als letzte Bastion auf dem Weg nach Süden. Frankreich sagte Malis Übergangsregierung Hilfe zu. Nach Angaben von Präsident Francois Hollande sind seit Freitag französische Soldaten an den Kämpfen in Mali beteiligt. Paris rief seine Staatsbürger zum Verlassen des Krisenstaates auf. Bundesaußenminister Guido Westerwelle forderte, die Aufstellung einer afrikanischen Eingreiftruppe zu beschleunigen. Die geplante Truppe der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft mit 3300 Soldaten wird indes wohl erst im September bereitstehen. Soldaten aus Nigeria und Senegal trafen am Freitag in Mali ein. Deutschland schließt laut Regierungsangaben einen Bundeswehreinsatz in Mali derzeit aus. Die EU will rascher als bisher geplant rund 200 Militärausbilder nach Mali schicken. Bislang war geplant, die Ausbilder innerhalb der ersten drei Monate des Jahres nach Mali zu schicken. Derweil dringt der UNO-Sicherheitsrat auf die schnelle Entsendung einer internationalen Truppe. Das Gremium forderte die UN-Mitgliedsstaaten auf, »den malischen Sicherheitskräften zu helfen, die von den terroristischen Organisationen ausgehende Bedrohung zu reduzieren«.
Redaktion nd-aktuell.de
Islamistische Rebellen auf dem Vormarsch
Frankreich, Mali, Militär
Politik & Ökonomie
Politik Bamako/Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/809739.militaer-aus-frankreich-im-mali-einsatz.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Doch keine neue »Krankheit X« in Zentralafrika
Über Wochen gab eine mysteriöse Krankheit in Zentralafrika Gesundheitsexperten Rätsel auf. Nun aber gibt es Hinweise darauf, dass es sich um Malaria handeln könnte. In zehn von zwölf medizinischen Proben von Patienten sei der Erreger nachgewiesen worden, teilte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese Woche in Genf mit. Die Zahl der Infektionen sei nach ersten Erkenntnissen anders als häufig bei neuen Krankheiten nicht in kurzer Zeit exponentiell gestiegen und liege im Bereich der Erwartungen für die Jahreszeit, sagte WHO-Spezialist Abdi Rahman Mahamad. In der Region Panzi, einer ländlichen Gegend im Südwesten der Demokratischen Republik Kongo, wurde erstmals Ende Oktober von Patienten berichtet, die über Fieber, Schnupfen, Kopf- und Gliederschmerzen, Atembeschwerden sowie vereinzelt über Blutarmut klagten. Erst einen Monat später, nachdem Helfer zuvor unzugängliche Dörfer erreicht hatten, gab das Gesundheitsministerium eine Warnung angesichts einer erhöhten Anzahl von Todesfällen heraus und sprach von einer nicht diagnostizierten »Krankheit X«. Die WHO bezifferte die Zahl der nachweislich Infizierten zuletzt auf mindestens 406, von denen 31 gestorben waren. Betroffen seien vor allem Kinder unter fünf Jahren. Malaria wird durch Mücken übertragen. Hauptsymptome sind Fieber, Schüttelfrost, Kopf- und Muskelschmerzen sowie Übelkeit und Erbrechen. Erst in dieser Woche vermeldete die WHO eine deutliche Zunahme der Fälle dieser Tropenkrankheit. Laut dem Welt-Malaria-Bericht wurden 2023 insgesamt 263 Millionen Krankheitsfälle gemeldet – eine Zunahme um etwa elf Millionen gegenüber dem Jahr davor. 597 000 Todesopfer waren zu beklagen, 95 Prozent von ihnen in Afrika, wo laut WHO »viele gefährdete Menschen immer noch keinen Zugang zu den Diensten haben, die sie zur Prävention, Erkennung und Behandlung der Krankheit benötigen«. Besonders betroffen seien kleine Kinder und schwangere Frauen. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Die WHO verweist indes auch auf Erfolge hin: So seien mittlerweile 44 Länder und ein Territorium als malariafrei zertifiziert. 25 der 83 endemischen Länder meldeten weniger als zehn Fälle im ganzen Jahr. »Ein erweitertes Paket lebensrettender Mittel bietet jetzt einen besseren Schutz vor der Krankheit, aber es sind verstärkte Investitionen und Maßnahmen in den afrikanischen Ländern mit hoher Krankheitslast erforderlich, um die Bedrohung einzudämmen«, so WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus bei der Vorstellung des Berichts. Bisher haben 17 Länder Malaria-Impfstoffe im Rahmen von Routineimpfungen bei Kindern eingeführt. Allerdings sind die bislang zwei von der WHO zugelassenen Vakzine nicht besonders wirksam. Ferner sollen Moskitonetze der neuen Generation einen besseren Schutz bieten als die bisher verfügbaren. Anfang des Jahres verpflichteten sich die Gesundheitsminister von elf afrikanischen Ländern, auf die zwei Drittel der weltweiten Malariabelastung entfallen – darunter die DR Kongo –, in einer gemeinsamen Erklärung, die Krankheitslast nachhaltig und gerecht zu senken sowie die Ursachen besser zu bekämpfen. Das Problem ist, dass es in abgelegenen Regionen wie Panzi »für die Bevölkerung kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung gibt«, sagt der Düsseldorfer Tropenmediziner und Infektiologe Torsten Feldt. Hinzu komme die chronische Unterernährung. Gerade Kinder unter fünf Jahren hätten dann ohne adäquate Behandlung »ein sehr hohes Risiko«, an Erkrankungen wie der Malaria zu versterben. Feldt warnt mit Blick auf die »Krankheit X« vor vorschnellen Zuschreibungen, da einige der beschriebenen Symptome nicht typisch für Malaria seien. Es könnte sich daher zum Teil auch um andere Infektionserkrankungen wie Masern, Influenza, Lungenentzündungen, vielleicht auch Covid-19 oder Dengue handeln. Die Vermutung eines gehäuften Auftretens verschiedener Infektionskrankheiten hält der Mediziner für plausibel, gerade zu Beginn der aktuellen Regenzeit. Auch wenn es sich um alte Bekannte handelt, warnt Feldt: »Dieser mutmaßliche Ausbruch hat noch einmal klargemacht, wie wichtig funktionierende Gesundheitssysteme nicht nur für die Bevölkerung sind, sondern auch für die effektive Erkennung und Eindämmung von Ausbrüchen. Wir können froh sein, dass es sich nicht um einen Ausbruch mit einem neuen hochpathogenen und hochansteckenden Erreger handelt.«
Kurt Stenger
Mit Blick auf den Ausbruch einer »Krankheit X« im Kongo gibt es jetzt erst mal Entwarnung. Der Umgang mit potenziellen neuen Pathogenen lässt dennoch weiter zu wünschen übrig.
Epidemie, WHO
Gesund leben Weltgesundheitsorganisation
2024-12-12T14:16:24+0100
2024-12-12T14:16:24+0100
2024-12-12T17:53:28+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1187489.doch-keine-neue-krankheit-x-in-zentralafrika.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Gerät Fukushima in Vergessenheit?
Es ist nicht lange her, da schien die Atomkraft in Japan nur noch ein Auslaufmodell zu sein. Als zu gefährlich galt sie und daher auch als politisch zu riskant. Nicht einmal die im Land gut vernetzte Atomlobby vermochte es in den vergangenen Jahren, Regierungsvertretern ein Werben für die Kernenergie zu entlocken. Auch wenn zuletzt schon wieder zehn der insgesamt 54 Reaktoren ans Netz genommen wurden, blieb ein Thema ein rotes Tuch: der Bau neuer Atomkraftwerke. Doch diese Zeiten sind nun vorbei. Vor wenigen Tagen erklärten Offizielle aus dem Wirtschaftsministerium, die Regierung sehe angesichts gestiegener Energiepreise und aus Furcht vor einem Winter mit Energieengpässen keinen anderen Ausweg mehr. Neben einer Laufzeitverlängerung für bereits bestehende Reaktoren von bisher bis zu 40 auf künftig 60 Jahre sollen auch ganz neue – angeblich effizientere sowie sicherere – AKWs gebaut werden. So wolle man für geringere Importabhängigkeit und Umweltbelastung sorgen. Nirgends dürfte ein solches Vorhaben kontroverser sein als in Japan. Am 11. März 2011 war das ostasiatische Land von der schwersten Katastrophe seiner jüngeren Geschichte erschüttert worden, als nach einem schweren Erdbeben und Tsunami das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi an der Nordostküste havarierte. In drei der sechs Reaktoren kam es zu Kernschmelzen. Nach dem Super-GAU wurde die Bevölkerung in einem Umkreis von bis zu 60 Kilometern evakuiert. Die darauffolgenden Monate waren von politischem Chaos geprägt. Für das Land untypisch große Demonstrationen gaben in Tokio den Takt vor. Der linksliberale Premierminister Naoto Kan kündigte den Ausstieg aus der Atomkraft an, was in der Regierung zu Unstimmigkeiten führte. Als Kan zurückgetreten war, warb zwar auch dessen Nachfolger Yoshihiko Noda mit einem Ausstieg. Doch Ende 2012 wurde die Demokratische Partei abgewählt – zugunsten der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP), die zuvor immer auf eine Zukunft mit Atomkraft gesetzt hatte. Gewählt wurde sie aber für das Versprechen ihres Spitzenkandidaten Shinzo Abe, mit einer aggressiven Ausgaben-, lockeren Geld- und Strukturpolitik für eine neue Wachstumsära zu sorgen. Über die Pläne zur Atomkraft sah das Wahlvolk weitgehend hinweg. Nach der Katastrophe von Fukushima waren alle 54 Reaktoren vom Netz genommen worden. Früher hatte Japan rund 30 Prozent seines Energiebedarfs mit Atomkraft gedeckt, dann setzte man verstärkt auf teure Importe fossiler Brennstoffe aus dem Mittleren Osten. Während weiterhin Zehntausende aus der Katastrophengegend evakuiert blieben, vollzog die LDP schon ab 2014 einen zaghaften Wiedereinstieg, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung dagegen war. Und als um 2020 die Industriestaaten sich das Ziel setzten, bis 2050 klimaneutrale Volkswirtschaften werden zu wollen, spielte im Falle Japans auch die Atomkraft eine zentrale Rolle. Das Festhalten an der Kernenergie war bei der Bevölkerung stets unbeliebt. Auch die Beteuerungen der Regierung, strengere Sicherheitsstandards für die Reaktoren und eine strukturelle Neuorganisation der Aufsichtsbehörden zu gewährleisten, konnten daran wenig ändern. Erst als in diesem Frühjahr inmitten der Invasion der russischen Regierung in die Ukraine die Energiepreise empfindlich zu steigen begannen, kippte die Stimmung. Im April ergab eine Umfrage der Wirtschaftstageszeitung »Nikkei« erstmals seit 2011, dass eine Mehrheit für die Nutzung der Atomkraft war. Seither haben sich die Energiepreise kaum beruhigt. Die japanische Regierung allerdings hat weitere Schritte unternommen, um einen Wiedereinstieg in die Atomkraft zu beschleunigen. Während sich derzeit nur rund fünf Prozent des Energiemixes aus den AKWs speist, soll dieser Anteil bis 2030 wieder auf 22 Prozent steigen. Dabei besteht die Gefahr, dass das zuletzt gestiegene öffentliche Vertrauen in die Kernenergie bald wieder sinkt. Einerseits ist da die Frage der Unfallgefahr, die durch den Bau neuer Reaktoren und die Aufwertung älterer Kraftwerksgenerationen zwar reduziert werden soll. Aber in den Augen von Kritikern läuft schon die aktuelle Eile bei der Wiederinbetriebnahme stillstehender Reaktoren dem Versprechen erhöhter Sicherheitsbestimmungen zuwider. Andererseits hat man auch in Japan bis heute keine Antwort auf die Frage gefunden, wie mit den täglich zunehmenden Mengen von hochradioaktivem Atommüll umgegangen werden soll.
Felix Lill, Tokio
Angesichts steigender Energiepreise will Japans Regierung künftig wieder verstärkt auf die Atomkraft setzen. Neben längeren Laufzeiten sind nun auch wieder Neubauten von AKWs im Gespräch.
Atomkraft, Fukushima, Japan
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Atomkraft in Japan
2022-08-29T16:13:00+0200
2022-08-29T16:13:00+0200
2023-01-20T17:37:33+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1166478.atomkraft-in-japan-geraet-fukushima-in-vergessenheit.html
Der schmale Grat
Deine Augen haben keine Falten, doch dein Blick ist älter geworden», so Hildegard Knef über Romy Schneider. In dem Maße, wie diese in Frankreich zur bedeutenden Schauspielerin wurde, nahmen es ihr die Nachkriegsdeutschen übel, dass sie ihnen die Heile-Welt-Sissi-Illusion genommen hatte. Aus der keuschen Sissi war Romy, die «Franzosenhure», geworden. Das war ihr ziemlich egal, aber andere Dinge nicht. Vor allem, dass Alain Delon sie verlassen hatte, ohne den der Aufbruch zum neuen Ich nicht denkbar gewesen wäre. Das verwand sie nicht. Überhaupt, ihr Selbstbewusstsein war schwächer, als man angesichts der Rollen, die sie nun spielte, glauben will. Wie offen und ungeschützt Romy Schneider über sich vor der Kamera sprechen konnte, das erstaunte bereits in Hans-Jürgen Syberbergs Filmporträt von Anfang der 60er Jahre. Immer hat man den Eindruck, die Rollen saugen ihre Lebenskraft aus. Sie hilft mit viel Wein und Tabletten nach, der Alltag beginnt ihr endgültig zu entgleiten. Hier setzt der Film «3 Tage in Quiberon» ein. Sie versucht zu gesunden, ohne Alkohol und Tabletten zu leben. Vier Tage hat sie schon geschafft. Da meldet sich der «Stern»-Reporter Michael Jürgs zum Interview an, nicht nur damals ein unsympathisch-eitler Vertreter seiner Zunft, der diejenigen, über die er schreibt, gern als Material zur Selbstinszenierung benutzt. Sie hätte gewarnt sein können, aber sie wollte sich nicht abpanzern, warum auch, was hatte sie vor diesem Menschen denn zu verbergen? Und so beginnt im April 1981 ein mehrtägiges Zusammensein, ein Sich-belauern, ein Sich-gehen-lassen, zwischendurch Höhenflug und Absturz. Letztendlich ein Duell, das mit einer - vorläufigen - Absolution endet, die man sich gegenseitig erteilt. Sie können eben nichts dafür, dass sie so sind, wie sie sind - sie wissen, was sie tun, aber das bewahrt sie vor nichts. Und so entsteht ein wichtiges Dokument nicht nur über, sondern auch von Romy Schneider, ein souveränes Bekenntnis der eigenen Schwäche. Im Vorhinein durfte man skeptisch sein, ob aus dem Nachstellen einer zweifelhaften Interviewsituation von vor fast vierzig Jahren etwas zu entstehen vermag, das selbst eine eigene künstlerische Autonomie erlangt. Und siehe, es ist ein phänomenales Kammerspiel in Schwarz-Weiß geworden. Eine Schauspielerin, die eben immer auch ein Mensch aus Fleisch, Blut und Nerven ist, zeigt etwas, dessen Existenz Zyniker gern bezweifeln: Seele. In der Regie von Emily Atef ersteht eine wunderbar-unmittelbare, aber niemals aufdringliche Lesart Romy Schneiders. Die schmerzhafte Zerrissenheit zwischen Mensch und Filmikone wird fühlbar. Doch es ist ja nicht so, dass das, was hier erzählt wird, als Fakt mit Neuheit überraschen könnte. Was überrascht, ist die schauspielerische Wucht aller Beteiligten, die nichts von bloßem Nachspielen hat. Marie Bäumer offenbart eine unheimlich anmutende Fähigkeit, sich in Romy Schneider hineinzuversetzen, sie vermeidet alles, was mit Klischee zu tun hat - und kommt ihr so gefährlich nah. Wie nah genau, das muss ihr Geheimnis bleiben. Was sie spielt, das ist ebenso schlicht wie wahr, so vernünftig wie wahnsinnig. Man gerät zuschauend hinein in einen schicksalhaft rasenden Strudel. Leicht reden hat, wer hier einen Ausweg verspricht. Beeindruckend, preiswürdig! Aber damit das Kammerspiel funktioniert, gehören noch drei weitere Schauspieler dazu: Birgit Minichmayr, wunderbar reserviert als Hilde, die ewige Freundin, das lästig-hilfreiche Anhängsel, das sich keine Illusionen darüber macht, wessen Seelenlage hier permanent verhandelt wird (niemals ihre). Robert Gwisdek ist darin, wie differenziert er den schnöseligen «Stern»-Reporter spielt (auch ein Schnösel ist ein Mensch, jedenfalls manchmal), eine Entdeckung. Und man kann Jürgs noch so wenig mögen, er stellt die richtigen Fragen - und die richtigen Fragen sind hier brutal klingende Fragen. Romy Schneider versinkt nicht in diesem bodenlos-aggressiven Interview, weil sie sich nicht versteckt. Das gibt ihren schonungslosen, an Selbstentblößung grenzenden Bekenntnissen eine unverwechselbare Würde. Der mit Romy Schneider lange schon verbundene Fotograf Robert Lebeck macht an diesen Tagen berühmt gewordene Fotos von ihr: Beide lieben sich in all jener intensiven Flüchtigkeit, zu der wohl nur verlorene Seelen fähig sind. Ohne Charly Hübner als hin- und hergerissenem Fotograf würde die Szenerie nicht funktionieren. Nicht nur Romy Schneider, so wissen wir am Ende, sie alle hier balancieren auf dem schmalen Grat zwischen Treue und Verrat, Berufung und Job, Hoffnung und Verzweiflung. Ein Jahr nach diesem Interview versagt Romy Schneiders Herz, mit 43 Jahren.
Gunnar Decker
«3 Tage in Quiberon» ist ein wunderbares Kammerspiel in Schwarz-Weiß, das eine Interviewsituation von vor 40 Jahren nachinszeniert: Die Schauspielerin Romy Schneider begegnet dem «Stern»-Reporter Michael Jürgs.
Berlinale, Film, Theater
Feuilleton
Kultur Berlinale
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Auf Kohle gebaut
Schon vor der feierlichen Eröffnung der Klimakonferenz in Katowice am Sonntagabend war das Gastgeberland Polen bei vielen Klimaschützern in Ungnade gefallen. Es wurde nämlich bekannt, wer die Großveranstaltung sponsert: die polnischen Kohlekonzerne PGE, Tauron, JSW und der Gaskonzern PGNiG. »Das wirft die Frage auf, welchen Zugang und Einfluss die Sponsoren sich erkaufen«, schimpfte Sriram Madhusoodanan von der konzernkritischen Organisation Corporate Accountability. »Es könnte die Legitimität der Verhandlungen in Frage stellen.« Noch immer ist die Kritik auf der bis Freitag kommender Woche gehenden Konferenz nicht verstummt: »Es ist lächerlich, dass die Regierung die Unterstützung der Kohlekonzerne akzeptiert«, sagt Anna Ogniewska von Greenpeace Polen. »Aus unserer Sicht ist das ein Kohle-Gipfel.« Das polnische Umweltministerium sieht das ganz anders: »Alle diese Unternehmen betonen, dass sie seit Jahren umweltfreundliche Veränderungen eingeführt haben«, schreibt das Ministerium auf nd-Anfrage. Auch gebe es zahlreiche Sponsoren, die keine Kohlekonzerne seien, wie T-Mobile Polska oder Ikea. In einer halbseitigen Auflistung zählt das Ministerium die ökologischen Errungenschaften der Sponsoren auf: Zum Beispiel habe Tauron, zweitgrößter Energiekonzern im Land, 23 Carsharing-Stationen und 20 Elektroautos in Katowice zur Verfügung gestellt. Dass die Regierung sich so für die Unternehmen einsetzt, überrascht kaum, denn Tauron wie die anderen Energiekonzerne gehören teilweise dem Staat. Polen ist noch immer stark von der Kohle abhängig - derzeit kommen 78 Prozent des Stroms aus dieser Quelle. Auf die Frage, ob die Kohlekonzerne durch ihre Sponsorenrolle die Verhandlungen beeinflussen, reagiert das Umweltministerium etwas verschnupft: »Die Auswahl der Partner beeinträchtigt den Erfolg des Klimagipfels nicht.« Polen habe in den vergangenen 30 Jahren seine Emissionen reduzieren können, obwohl die Wirtschaft gewachsen sei. Das Land sei ein vertrauenswürdiger Gastgeber. Die gleiche Argumentation verwendete auch Präsident Andrzej Duda am Montag bei der offiziellen Eröffnung des Gipfels. Für ihn ist die Verwendung der »heimischen Ressourcen«, also der Kohle, auch kein Widerspruch zum Klimaschutz. Wesentlich deutlicher wurde Duda am Dienstag bei einem Treffen mit Kumpeln im südpolnischen Brzeszcze, wo er laut Medienberichten sagte: »Solange ich Polens Präsident bin, werde ich es nicht zulassen, dass der polnische Bergbau ermordet wird.« Anna Ogniewska ist aber auch entsetzt über die Aussagen vor den UN-Klimadiplomaten: »Es war schockierend zu hören, dass er an diesem Ort diese Rede gehalten hat.« Die Umweltschützerin weist auf den »riesigen« Unterschied zur Rede von UN-Generalsekretär António Guterres hin, der darauf pochte, dass die Staaten ihre Anstrengungen für den Klimaschutz enorm verstärken. Der kurz vor der Konferenz veröffentlichte Entwurf für eine neue polnische Energiestrategie ist etwas ehrgeiziger als frühere Pläne der Regierung. So soll der Kohleanteil an der Stromproduktion einschließlich Kraft-Wärme-Kopplung bis zum Jahr 2030 auf etwa 60 Prozent und bis 2040 auf 30 Prozent gesenkt werden. Vorher war von 50 Prozent Kohle noch im Jahr 2050 die Rede gewesen. Allerdings: Die Kohle soll ab 2030 vor allem durch Atomenergie ersetzt werden - eine Strategie, an der Beobachter indes zweifeln, denn neue Atomkraftwerke sind heute meist unrentabel. Aber auch ohne diese Unsicherheit reichen Ogniewska die Reduktionsziele bei Weitem nicht. »Laut dem 1,5-Grad-Bericht des Weltklimarats müssen alle OECD-Länder - und damit auch Polen - bis 2030 aus der Kohle aussteigen«, sagt die Greenpeace-Expertin. Gleichzeitig macht es die nationalkonservative Regierung Kritikern ihrer Klimapolitik schwer zu protestieren. So wurden lange im Vorfeld des Gipfels spontane Demonstrationen während der Dauer der Veranstaltung gesetzlich verboten. Außerdem hat die Regierung die Terror-Alarmstufe für die Region Schlesien verkündet. Angemeldete Demonstrationen sind aber möglich. Am Samstag wollen Klimaaktivisten dann auch im Katowicer Zentrum ihren Protest lautstark kundtun.
Friederike Meier, Katowice
Polen steht in der Kritik, weil es Kohlekonzerne als Sponsoren für die Klimakonferenz in Katowice akzeptiert. Die polnische Regierung hält sich hingegen für einen vertrauenswürdigen Gastgeber.
fossile Energie, Klimaschutz, Polen, Umweltschutz, UNO, Weltklimagipfel
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Newsblog: +++ »Wir enteignen euch alle« +++
Update 21:26 Uhr: Kühnert will BMW kollektivieren An dieser Stelle beenden wir unseren Newsblog rund um die Ereignisse am 1. Mai, wollen euch aber eine letzte, interessante Meldung nicht vorenthalten: Juso-Chef Kevin Kühnert möchte große Firmen eigenen Worten zufolge kollektivieren. In einem »Zeit«-Interview sagte er, er wolle eine Kollektivierung von Unternehmen wie BMW »auf demokratischem Wege« erreichen. Ohne Kollektivierung sei »eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar«. Am Beispiel des Autobauers führte er weiter aus: »Mir ist weniger wichtig, ob am Ende auf dem Klingelschild von BMW «staatlicher Automobilbetrieb» steht oder «genossenschaftlicher Automobilbetrieb» oder ob das Kollektiv entscheidet, dass es BMW in dieser Form nicht mehr braucht.« Entscheidend sei, dass die Verteilung der Profite demokratisch kontrolliert werde. »Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebes gibt.« Außerdem will Kühnert den Besitz von Immobilien in Deutschland beschränken. »Ich finde nicht, dass es ein legitimes Geschäftsmodell ist, mit dem Wohnraum anderer Menschen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten«, sagte er. »Konsequent zu Ende gedacht, sollte jeder maximal den Wohnraum besitzen, in dem er selbst wohnt.« Wahrhaft revolutionäre Worte eines SPD-Mitgliedes am Tag der Arbeit. rdm Update 21:13 Uhr: Demo beendet Die letzten Minuten hätten nicht sein müssen, insgesamt verlief diese »Revolutionäre 1.-Mai-Demo« - wie auch schon in den Vorjahren - sehr friedlich. Mittlerweile ist die Demonstration auch schon beendet, die Teilnehmer*innen strömen auseinander. Allerdings geht die Polizei weiterhin immer wieder in die Menge und greift sich einzelne Personen heraus. rdm Update 20:57 Uhr: 6000 auf der R1MB Bekanntlich liegt das »nd« am Berliner Ostbahnhof in Friedrichshain. Die »Revolutionäre 1.-Mai-Demo« befindet sich seit wenigen Minuten an ihren Ziel, der Warschauer Straße/Ecke Revaler Straße und ist damit nur wenige hundert Meter Luftlinie von uns entfernt. Inzwischen ist der Protest auf bis zu 6000 Menschen angewachsen. Faktisch am Ziel angekommen, gibt es nun aber doch noch ein paar altbekannte, unschöne Szenen. Die Polizei geht laut unseres »nd«-Kollegen Moritz Wichmann in den Frontblock der Demo rein und nimmt mehrere Personen in Gewahrsam. Vereinzelt fliegen Steine und Flaschen in Richtung der Beamten. Laut Beobachtung unseres Kollegens war aber zuvor außer »etwas/vereinzelter Vermummung« eigentlich nichts passiert, was das Vorgehen rechtfertigen würde. rdm Update 20:43 Uhr: Plauen im grünen Naziqualm Die Kleinstpartei »Der Dritte Weg« marschierte mit 550 Teilnehmern am 1. Mai martialisch durch Plauen. Die Kleinstadt ist eine Hochburg der Neonazis. Dass die extremen Rechten ausgerechnet am Tag der Arbeit aufliefen, ist kein Zufall. Die »nd«-Kollegen Fabian Hillebrand und Sebastian Bähr waren vor Ort unterwegs. Update 20:10 Uhr: Tausende Linksradikale auch in Hamburg Wir hätten euch fast ein paar Zahlen zur »Revolutionären 1.Mai-Demo« in Hamburg unterschlagen. Großes Sorry dafür!!! Auch in der Hansestadt beteiligen sich mehrere tausend Menschen, schätzungsweise dürften es 3000 bis 4000 sein. Ein Großteil der Teilnehmer*innen hatte sich zuvor bereits an einer anderen Veranstaltung beteiligt. Unter dem Slogan »Rotes Altona – Auf zu neuen Kämpfen« hatte die Antifa Altona Ost zum Protestmarsch mobilisiert. Die Geschichte der Gruppe ist spannend, schaffte sie es doch zuletzt im Zusammenhang mit der Ida-Ehre-Schule in Hamburg bundesweit in die Schlagzeilen. »nd«-Kollege Niklas Franzen hat die wirklich lesenswerte Geschichte dazu erst vor ein paar Tagen aufgeschrieben. rdm Update 19:45 Uhr: »Wir enteignen euch alle« Bisher verläuft die »Revolutionäre 1.Mai-Demo« störungsfrei durch Friedrichshain und bewegt sich auch auf ihrer vorher bekanntgegeben Route. Die Stimmung ist super, die Demonstrierenen skandieren Klassiker wie »Nationalismus raus aus den Köpfen«, aber stellen auch Bezüge zur aktuellen Mietenwahnsinn-Bewegung her. Dazu heißt es aus der Menge: »Wir enteignen euch alle« oder »Macht die Spekulanten platt, unsere Kieze, unsere Stadt«. rdm Update 19:37 Uhr: Lauter Protest gegen AfD-Fest in Pankow »Ob Ost, ob West, nieder mit der Nazipest«, hallte es durch die beschaulichen Straßen des Berliner Ortsteils Blankenburg. Rund 500 Demonstrant*innen hatten sich dort am Mittwoch versammelt, um gegen ein sogenanntes Bürgerfest der AfD zu protestieren. »nd«-Kollegin Marie Frank war dabei. Update 19:19 Uhr: Berliner R1MB läuft los Vor wenigen Minuten ist die »Revolutionäre 1.Mai-Demo« gestartet. Schätzungsweise sind es inzwischen etwa 4000 bis 5000 Teilnehmer*innen. Alles entspannt bisher. Die Polizei hält sich zurück. Am Rand der Demos werden einige Pyros gezündet. rdm Update 18:53 Uhr: Revolutionäre 1-Mai-Demo Nach der Demo ist bekanntlich vor der Demo. Der Abend steht in Berlin traditionell im Zeichen der »Revolutionären 1.Mai-Demo«. Dieses Jahr treffen sich die linksradikalen Gruppen das erste Mal in Friedricshain, konkret am am Wismarplatz. Schätzungsweise mehr als 3000 Menschen haben sich eingefunden. Und fast ebenso eine Tradition ist der Umstand, dass die Demo nicht püntklich starten kann. Zwar wurden bereits die ersten Reden gehalten, doch die Polizei besteht darauf, dass sich doch bitte eine Versammlungsleiter einfinden möge. Aber wäre das eigentlich noch revolutionär? rdm Update 18:25 Uhr: Fazit aus Plauen Unsere beiden »nd«-Kollegen Fabian Hillebrand und Sebastian Bähr waren heute den ganzen Tag über im sächischen Plauen unterwegs. Ihr erstes Fazit zum Neonazi-Aufmarsch, den Gegenprotesten und zum Verhalten der Polizei: In Plauen ist es mittlerweile ruhig geworden. Die angereisten Antifaschisten sitzen wieder in den Zügen, die Neonazis vom »Dritten Weg« sind in ihren Zelten am Wartburgplatz oder befinden sich ebenfalls auf der Rückreise. An diesem 1. Mai waren ungefähr 500 bis 600 Neonazis nach Plauen gekommen und damit rund 300 weniger als bei der letzten größeren Dritten-Weg-Demonstration in der Stadt vor drei Jahren. Offenbar waren weniger extreme Rechte aus dem Ausland gekommen, als man erwartet hatte. Die Neonazis konnten dennoch ihre Strecke bis zum Schluss laufen, auch wenn es stellenweise lautstarken Protest sowie kleinere Blockaden gab. Verschiedener Politiker kritisierten die Polizei für ein zu laxes Vorgehen gegen die Rechten. »Es ist unverständlich, dass Pyrotechnik und uniformes Auftreten bei den Nazis zugelassen wurde«, erklärte der sächsische Grünen-Politiker Jürgen Kasek. Janina Pfau, LINKEN-Landtagsabgeordnete aus dem Vogtland, nahm auch die Landesregierung und Verwaltungsbehörden in die Verantwortung. »Der Dritte Weg hat hier ein großes Mobilisierungspotenzial«, so die Politikerin. »In Sachsen muss endlich etwas getan werden, damit sich die Nazis hier nicht festsetzen.« Dass der Dritte Weg wieder durch Plauen laufen konnte, sei »sehr traurig«. Die sächsische LINKEN-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel sah in den antifaschistischen Gegenprotesten derweil ein »gutes, kraftvolles Zeichen«. Sie sei »stolz« auf Sitzblockadeversuche gewesen. »Ich fand es krass, dass die Polizei die als gewaltbereit bekannte Nazipartei an dieser Sitzblockade vorbeigeleitet hatte«, fügte Nagel hinzu. Sie wünsche nun den Plauenern, dass sie die den Dritten Weg auch im Alltag zurückdrängen werden. Bis zum frühen Abend wurden nach Angaben des Aktionsticker 1. Mai Plauen alle Gegendemonstranten aus dem Polizeigewahrsam entlassen. fhi/seb Update 18:15 Uhr: Ein bunter Strauß Demonstrationen Bewegt und mit Konfetti, mietenpolitisch oder satirisch: Trotz all ihrer Verschiedenheiten, auf den unterschiedlichen Veranstaltungen am 1. Mai hatten die Menschen in Berlin oft ähnliche Forderungen. Vanessa Fischer und Claudia Krieg haben sich umgesehen. Update 18.00 Uhr: Paris in Rot, Gelb und Schwarz Auch in anderen europäischen Ländern gab es am 1. Mai Proteste: In Frankreich beteiligten sich landesweit über 150.000 Menschen an Kundgebungen. Gewerkschafter und linke Politiker riefen die Gelben Westen zur Zusammenarbeit auf. Ralf Klingsieck war in Paris dabei, wo sich allein 40.000 Demonstrierende versammelten. Update 17.40 Uhr: Trommeln für »Europa« Bei der zentralen Maikundgebung des DGB in Leipzig warb dessen Bundeschef Reiner Hoffmann für Europa und forderte die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Hendrik Lasch hat sich die Rede vor Ort angehört. Update 15:47 Uhr: Wuppertaler Autonomen-Demo Seit 33 Jahren läuft die »Autonome 1. Mai Demo« mehr oder weniger ungestört durch Wuppertal. Viele Jahre beschränkte sich die Polizei darauf, die Elberfelder Innenstadt abzusperren und die Autonomen nicht hinein zu lassen. Das ist seit dem letzten Jahr anders. 2018 wurde die Demo nach wenigen Metern gestoppt, Demonstranten wurden mit Knüppeln und Pfefferspray angegangen. Auch in diesem Jahr setzt die Wuppertaler Polizei ihre repressive Linie fort. Mehrere Hundertschaften kesselten die knapp 100 Menschen, die sich vor dem Autonomen Zentrum versammelten und verlangten eine Anmeldung der Demonstration. Die Wuppertaler Autonomen sehen die unangenemeldete Demo allerdings als Errungenschaft an und weigern sich, einen Verantwortlichen für die Demonstration zu benennen. Zeitgleich zum Kessel zogen andernorts über 100 Menschen unangemeldet durch die Stadt zum Straßenfest auf dem Schusterplatz. swe Update 14:50 Uhr: 300 Nazis in Wismar, 1000 Gegendemonstranten Der 1. Mai ist leider zunehmend auch ein Aufmarschtag für Neonazis und andere extrem rechte Gruppierungen. Da fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Was wir bisher noch nicht aufgegriffen haben: Neben Dresden protestiert die NPD heute auch in Wismar. Nach Angaben der Inititaive »Endstation Rechts« sind dem Aufruf etwa 300 Neonazis gefolgt. Als Redner trat unter anderem der frühere Landtagsabgeordnete Udo Pastörs auf. Mehr als tausend Menschen folgten dem Aufruf zu antifaschistischen Gegenprotesten. In Sicht- und Hörweite der Neonazis ging allerdings nichts, weil die Polizei die Aufmarschroute weiträumig abriegelte. rdm Update 14:25 Uhr: Live-Musik im Villenviertel Mit Live-Musik hat im Berliner Villenviertel Grunewald eine 1. Mai-Veranstaltung linker Gruppen begonnen. Mehr als 2000 Menschen nehmen laut unserer nd-Kollegin Vanessa Fischer an dem Protest teil, der im Vorfeld als satirische Aktion bezeichnet wurde. Bands spielten auf mehreren mobilen Bühnen, auch Familien mit Kindern waren bei frühlingshaftem Wetter auf der Straße. Im Laufe des Nachmittags war auch ein Umzug mit Wagen geplant. Auf einem der Lkws war zu lesen: »Kapitalisten enteignen«. Auf einem anderen stand: »Streiken, besetzen, enteignen. Kapitalismus überwinden«. Ein Teilnehmer der Aktion sagt: »Die gehen uns auf den Keks, jetzt gehen wir denen auf den Keks.« Die Stimmung war laut Polizei durchweg friedlich und ausgelassen. »Alles sehr entspannt«, sagte ein Sprecher auf Nachfrage. Im vergangenen Jahr waren am 1. Mai noch rund 3000 Demonstranten durch Grunewald gelaufen. Die Polizei gab später an, es habe 82 Fälle von Sachbeschädigungen gegeben. dpa/nd 14:03 Uhr Update Plauen: Blockade errichtet, Nazis werden umgeleitet Aus Sicht der antifaschistischen Proteste ging im sächischen Plauen bisher nicht viel. Vor wenigen Minuten gelang es einer Gruppe von etwa 50 Menschen, die Aufmarschroute der Neonazis zu blockieren, ohne von der Polizei gleich abgeräumt zu werden. Und wie reagieren die Beamten? Leiten den rechten Aufzug einfach drumherum. Aus Dresden gibt es dagegen deutlich erfreulicherweise Nachrichten: Seit inzwischen mehr als einer Stunde wird die Marschroute der NPD blockiert, die Neonazis können deshalb nicht marschieren. rdm Update 13:55 Uhr: Altes Familienbild in digitalen Farben Es dominiert die Erzählung von der Digitalisierung als Bedrohung von Millionen von Arbeitsplätzen in der verarbeitenden Industrie. Tatsächlich werden jedoch die meisten Jobverluste durch Digitalisierung in den Bereichen Büro- und Sekretariatskräfte, im Verkauf und in der Gastronomie erwartetet. Wie es der Zufall will, arbeiten in diesen Bereichen mehrheitlich Frauen.Es hilft daher, die aktuellen Prozesse in der Arbeitswelt durch die feministische Brille zu beobachten, sagen Alex Wischnewski und Kerstin Wolter. Update 13:45 Uhr: »Türsteher« für die AfD Die AfD mobilisierte nicht nur in Erfurt zum 1. Mai, auch in Essen kamen einige wenige Kader der Rechtsaußenpartei zusammen. Unter ihnen war der ehemalige Sozialdemokrat Guido Reil. Auf der DGB-Demonstration ließ der sich aber nicht blicken. Kollege Sebastian Weiermann hat sich das angeschaut. Update 13:30 Uhr: Chemnitz, Dresden, Duisburg An dieser Stelle ein kurzer Blick zu den anderen Nazi- und AfD-Aufmärschen und antifaschistischen Gegenprotesten rund um den 1. Mai: In Chemnitz hatte AfD eine Versammlung mit etwa 500 Teilnehmern angemeldet, es kamen jedoch deutlich weniger. Als Rednerin bei der Veranstaltung auf dem Markt trat unter anderen die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch auf. In Dresden wollte die NPD zusammen mit ihrer Jugendorganisation 300 bis 400 Menschen auf die Straße bringen. Es kamen jedoch deutlich weniger. Die Teilnehmer kamen lediglich etwa 100 Meter weit - dann stießen sie zum ersten Mal auf eine Blockade von Gegendemonstranten. Zu dem Protest hatten unter anderen die Bündnisse »Leipzig nimmt Platz« sowie »Dresden Nazifrei« aufgerufen. Auch in Duisburg demonstrieren zur Stunde über Tausend Menschen gegen einen Aufmarsch der extrem rechten Kleinstpartei »Die Rechte«. rdm 13:15 Uhr Update Plauen: Neonazis können ungehindert marschieren In Plauen sind die Kräfteverhältnisse leider anders als in Erfurt: Hier marschiert die Neonazipartei »Der Dritte Weg« mit etwa 500 Anhängern durch die sächsische Kleinstadt. Unser »nd«-Kollege Fabian Hillebrand bezeichnet den Aufzug als »martialisch«. Für Irritationen sorgt, dass die Neonazis Pyrotechnik abbrennen dürfen. Die Polizei Sachsen erklärte daraufhin via Twitter: »Wir haben Rücksprache mit der Versammlungsbehörde in Plauen gehalten. Es gibt tatsächlich einen Auflagenbescheid, welcher das Abbrennen von Signalfackeln am Anfang und Ende der Versammlung erlaubt.« Nur zur Erinnerung: 2016 zogen die Anhänger der Partei marodierend durch Plauen und attackierten dabei Antifaschist*innen und Journalist*innen. Die Polizei musste daraufhin mit Wasserwerfern anrücken. rdm 12:40 Uhr Update Erfurt: Polizei löst Blockaden auf und kesselt Inzwischen ist der AfD-Aufmarsch am Ziel seiner Abschlusskundgebung an der Erfurter Thüringenhalle eingetroffen. Gleich soll neben AfD-Chef Alexander Gauland auch Björn Höcke sprechen. Großes Publikum haben sie dabei allerdings nicht. Nur etwa 300 Menschen sind dem Aufruf der Rechtsaußenpartei gefolgt, wie unser Kollege Niklas Franzen aus Erfurt berichtet. Unter den Teilnehmern seien allerdings zahlreiche einschlägige Neonazis und auch Anhänger der völkischen Identitären. So viel zur Beteuerung der AfD, sich von Neonazigruppen abgrenzen zu wollen. Etwa drei Dutzend Menschen war es zuvor gelungen, die AfD-Demoroute kurzzeitig zu blockieren. Die Polizei löste die Blockade allerdings auf. Wie die LINKEN-Politikerin Katharina König-Preuss berichtet, beteiligten sich auch ihre Parteikolleg*innen Susanne Hennig-Wellsow (Landesvorsitzende Thüringen), der Europa-Spitzenkandidat Martin Schirdewan sowie der Landtagsabgeordnete Christian Schaft am Blockadeversuch, seien aber ebenfalls von der Polizei abgeführt worden. Zuvor waren Polizisten bereits am Gera-Flutgraben eingeschritten, als mehrere Gegendemonstranten versuchten, in Richtung der AfD-Strecke zu laufen. Dabei setzten die Beamten Reizgas ein. Kritik äußerte König-Preuß auch am Vorgehen der Beamten gegen den Protest des antifaschistischen Bündnisses »Alles muss man selber machen«. Etwa 1000 Teilnehmer*innen wurden mehr als eine Stunde von der Polizei gekesselt und am Weitermarsch gehindert. Offenbar war von den Einsatzkräften befürchtet, dass es aus der Demo heraus zu weiteren Blockadeversuchen hätte kommen könnten. Vor wenigen Minuten durfte der Protest allerdings weiterziehen, nun auch mit Unterstützung des zweiten Demonstrationsbündnisses »Zusammenstehen«. Gemeinsam sind sie nun mehrere tausend Menschen. rdm Update 12:07 Uhr: DGB-Chef Hoffmann mahnt gleichwertige Lebensverhältnisse an Bei der zentralen 1.-Mai-Kundgebung des DGB in Leipzig hat DGB-Chef Reiner Hoffmann gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West angemahnt. Viele Menschen hätten den Eindruck, »die deutsche Einheit ist auch dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution noch nicht vollendet«, sagte Hoffman. Wirtschaft und Politik hätten es bislang nicht geschafft, gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen Ost und West herzustellen. Hoffmann kritisierte, dass ostdeutsche Arbeitnehmer bei gleicher Leistung »immer noch länger schuften müssen«. Zudem seien nur 44 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland nach Tariflöhnen beschäftigt. Aber auch in den alten Bundesländern seien es mit 57 Prozent der Beschäftigten, die in Unternehmen mit Tarifverträgen arbeiten, zu wenige. Der DGB-Chef forderte, öffentliche Fördergelder und Investitionshilfen nur noch an Firmen zu vergeben, die Tariflöhne zahlen. Auch bei einer Angleichung der Ost-Renten an das Niveau der West-Renten forderte Hoffmann mehr Anstrengungen. Zugleich rief Hoffmann bei der zentralen Mai-Kundgebung zur Teilnahme an der Europawahl am 26. Mai auf. Nötig sei ein »starkes, solidarisches Europa«. Er verwies darauf, dass kein EU-Land in der Lage sei, große Umbrüche und Herausforderungen wie Globalisierung, Migration, Flucht, Digitalisierung und Klimawandel alleine zu bewältigen. dpa 11:45 Uhr Update Plauen: Nazis lassen sich nicht wegschweigen Die sächsische Grünen-Vorsitzende Christin Melcher erklärt noch einmal, warum es wichtig ist, in Plauen zu protestieren: »Es ist wichtig, Gesicht zu zeigen, weil man Neonazis nicht einfach wegschweigen kann.« Warum das ganz besonders in der sächsischen Kleinstadt ein Problem ist, hat der Kollege Fabian Hillebrand aufgeschrieben. 11.20 Uhr: Historiker für Abschaffung des Mai-Feiertages Der Leipziger Historiker Dirk van Laak hat sich dafür ausgesprochen, den Tag der Arbeit als Feiertag abzuschaffen. Der Universitätsprofessor sagte am Mittwoch auf MDR Aktuell, er halte den 1. Mai ebenso wie Begriffe wie Arbeiterklasse nicht mehr für zeitgemäß. Viele Menschen wollten sich politisch nur noch in der Mitte verorten. Nur die wenigsten hätten noch Lust, auf die Straße zu gehen, sagte der Geschichtsprofessor. Zudem habe der 1. Mai seinen Ursprungswert längst verloren. Widerspruch kam von Gewerkschaften: Der 1. Mai sei ein wichtiger Tag, um Arbeits- und Lebensbedingungen von arbeitenden Menschen in die Öffentlichkeit zu bringen, sagte Markus Schlimbach, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Sachsen, dem Sender. epd/nd Auch unsere Kolleg*innen haben sich mit dem Sinn und Zweck des 1. Mai beschäftigt. Auf den sogenannten Kampftag der Arbeiterbewegung kann vollständig verzichtet werden, findet Thomas Blum. Kollegin Marie Fran widerspricht: Der 1. Mai muss wieder als Kampftag der Arbeiter*innenbewegung politisiert werden. 11.00 Uhr Update Erfurt: AfD-Protest lockt kaum Menschen an Von einer Massenkundgebung kann zur Stunde in Erfurt bei der AfD nicht die Rede sei. Nur einige hundert Menschen sind bisher dem Aufruf der Rechtsaußenpartei gefolgt. Nur zur Erinnerung: Einst angedacht war die Veranstaltung mit 10.000 Teilnehmern, vor wenigen Wochen korrgierte der Thüringer Landesverband diese Zahl bereits auf 2000 Menschen. Ganz anders sieht es dagegen bei den Gegenprotesten aus. Hier beteiligen sich aktuell bereits mehrere tausend Menschen. Ein breites Bündnis hatte dazu aufgerufen. rdm 10.48 Uhr Update Chemnitz: Hunderte demonstrieren gegen Rassismus Hunderte Menschen haben am 1. Mai in Chemnitz gegen Rassismus demonstriert. Sie folgten damit einem Aufruf des parteiübergreifenden Bündnisses »Aufstehen gegen Rassismus«. Vom Karl-Marx-Kopf aus zogen die Teilnehmer am Mittwochvormittag durch die Innenstadt. Parallel startete die Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Tag der Arbeit. Die AfD hatte eine Demonstration mit 500 bis 1000 Teilnehmern angemeldet. Als Rednerin wurde unter anderen die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch erwartet. dpa Berlin. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat für Mittwoch zu den traditionellen Kundgebungen zum »Tag der Arbeit« aufgerufen. Knapp vier Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament wollen die Gewerkschaften unter dem Motto »Europa. Jetzt aber richtig!« unter anderem für Mindestlöhne in ganz Europa werben. Die zentrale Kundgebung ist in Leipzig mit DGB-Chef Reiner Hoffmann geplant. Dieser hatte zuvor in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur die Bürger aufgerufen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Zugleich warf er den Parteien Mutlosigkeit im Europawahlkampf vor. Der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, wird in Hamburg sprechen, IG-Metall-Chef Jörg Hofmann in Bremen. Traditionell mobilisiert die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Der »Tag der Arbeit« wird seit fast 130 Jahren begangen. In Deutschland gab es am 1. Mai 1890 erstmals Massendemonstrationen. Linksradikale Gruppen haben in Berlin und Hamburg zu »Revolutionären 1. Mai-Demos« aufgerufen. Die Veranstaltung in der Hansestadt steht unter dem Motto »Gemeinsam gegen Ausbeutung in die revolutionäre Offensive«. Angemeldet sind 1000 Teilnehmer. In Berlin sind am Mai-Feiertag mehrere Demonstrationen und das große Straßenfest »Myfest« im Ortsteil Kreuzberg geplant. Für den Abend haben Linksautonome die sogenannte Revolutionäre 1. Mai-Demonstration angekündigt. Nach der abendlichen Demonstration mit teilweise mehr als 10.000 Teilnehmern hatte es früher regelmäßig Zusammenstöße zwischen Linksautonomen und der Polizei gegeben. In den vergangenen Jahren war es dagegen deutlich ruhiger geworden. Am Mai-Feiertag werden in der Hauptstadt knapp 5500 Polizisten im Einsatz sein, darunter auch Beamte aus anderen Bundesländern. Mit einem massiven Sicherheitsaufgebot rüstet sich die französische Hauptstadt Paris gegen befürchtete Ausschreitungen am Tag der Arbeit. Im Netz kursierten für den 1. Mai Aufrufe zur Gewalt. Ähnlich wie bei den »Gelbwesten«-Protesten in den vergangenen Wochen sind Demonstrationen an bestimmten Orten der Hauptstadt untersagt - dazu zählen die Prachtmeile Champs-Élysées, der Präsidentenpalast und die Gegend rund um die bei einem Brand schwer beschädigte Kathedrale Notre-Dame. Die SPD warb derweil in ihrem Aufruf zum 1. Mai für »ein Europa der guten Arbeit und sozialen Sicherheit«. Gerechte Löhne und gute Arbeitsbedingungen müssten überall in Europa verwirklicht werden. Dazu gehörten Mindestlöhne, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, mehr Rechte für europäische Betriebsräte und ein Sofortprogramm, das jeder und jedem unter 25 Jahren einen Ausbildungsplatz garantiere. Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles wollte am Nachmittag an einer Kundgebung in Recklinghausen teilnehmen. In Chemnitz wollte Bundestagsfraktionschef Alexander Gauland an der zentralen 1. Mai-Kundgebung der AfD teilnehmen. In Erfurt wollte er bei einer Kundgebung mit Thüringens AfD-Chef Björn Höcke zugegen sein. Vor allem in Südostdeutschland sind auch Kundgebungen mehrerer rechter Parteien sowie Gegenproteste geplant. In Plauen ist eine Kundgebung der rechtsextremen Partei »Der Dritte Weg« geplant, in Dresden eine Veranstaltung der NPD. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Tag der Arbeit: Nach der Demo ist bekanntlich vor der Demo. Während der Protest in Berlin-Grunewald inzwischen vorbei ist, gehört der Abend traditionell der »Revolutionären 1. Mai Demonstration«. Die aktuellen Entwicklungen im Newsblog.
1. Mai, AfD, Antifa, DGB, Gewerkschaft, LINKE, linke Bewegung, Nazis
Politik & Ökonomie
Politik 1. Mai
2019-05-01T10:26:55+0200
2019-05-01T10:26:55+0200
2023-01-21T15:23:37+0100
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Langsam ins Wasser
Mia springt schon mal los. Das Kindergartenkind muss an diesem Montagmorgen im Stadtbad Märkisches Viertel nicht schwimmen lernen. Aber sie kann, wenn sie möchte. »Wir wollen, dass die Kinder ihre Angst vor dem Wasser verlieren. Manche waren vorher noch nie in einem Schwimmbad oder See.« Daniela von Hoerschelhausen, Schwimmtrainerin bei der Schwimm-Gemeinschaft (SG) Neukölln, beobachtet vom Beckenrand aus die drei Jugendtrainer*innen, die sich um die »Wassergewöhnung« der zehn kleinen Besucher*innen aus einer Reinickendorfer Kita kümmern. Diese nehmen seit Januar 2019 an einem kostenlosen Programm der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport teil, dem »Schwimmbärchen«. Sechsmal können insgesamt 565 Kinder aus 44 Berliner Kitas in der Pilotphase des Projekts noch bis Ende April im Neuköllner Kombibad und im Stadtbad im Märkischen Zentrum planschen, springen, tauchen oder auch schwimmen lernen. Das »Schwimmbärche... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Claudia Krieg
Die Nichtschwimmer-Quoten bei Berliner Schulkindern sind hoch. Programme zur Wassergewöhnung helfen bei Angstabbau und hohen Kosten. Das »Schwimmbärchen« erreicht bereits Kitakinder.
Berlin, Bildungspolitik, Familienpolitik, Kindertagesstätte, Neukölln
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Berlin Schwimmunterrricht
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Linkspartei hat in Hochburgen Phantomschmerzen
Der Wahlkampf läuft. Offiziell geht das Buhlen um Wählerstimmen auf der Straße zwar erst sechs Wochen vor dem Wahltermin am 18. September los. Doch in den Kiezen hat das Werben für die Parteien längst begonnen - so auch in Marzahn-Hellersdorf. Kaum sind die Rollläden an der Bezirksgeschäftsstelle der LINKEN in der Henry-Porten-Straße in der »Hellen Mitte« hochgezogen, kommen die ersten Verteiler zur Abholung der Bezirkszeitung und der »Linksfraktion Aktuell« vorbei. Die Blätter werden anschließend in den Siedlungen ausgeteilt. Ob dabei auch das Thema Alternative für Deutschland (AfD) eine Rolle spielt, kann eine ältere Dame nicht bestätigen. »Ich teile nur bei Sympathisanten aus, da merkt man das nicht«, sagt sie. Seit Wochen schreiben einige Medien die AfD als Gefahr für die LINKE im Ostteil der Stadt hoch. Wie real die Bedrohung ist, lässt sich schwer sagen. In den Umfragen schwanken die Rechtspopulisten stadtweit zwischen sieben und... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Martin Kröger
Ist die Alternative für Deutschland (AfD) für die LINKE eine Gefahr oder werden die Rechtspopulisten nur von den Medien aufgebauscht? Das »nd« begab sich auf Spurensuche nach Marzahn-Hellersdorf.
AfD, Berlin, LINKE
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Wenn Deutsche dirigieren
Wenn 20 Jugendliche längere Zeit ohne strenge Aufsicht in einer abgeschiedenen Unterkunft in den Bergen zusammenleben, sollte es an sich niemanden überraschen, dass zwei von ihnen im Bett landen. Selbst wenn diese Jugendlichen sich für klassische Musik begeistern, also wohl als etwas nerdig gelten können. Die Liebschaft zwischen der Israelin Shira (Eyan Pinkovich) und dem Palästinenser Omar (Mehdi Meskar) findet allerdings ein unschönes Ende, da Shiras Familie sie nicht gutheißt und ihr Onkel anreist, um sie diesem »Sodom und Gomorrha«, wie er es ausdrückt, zu entreißen. Die beiden versuchen zu fliehen, Omar stirbt bei einem Autounfall. Die Möglichkeit sexueller Beziehungen hätte seitens der Organisatoren wohl von vornherein etwas größere Beachtung erfahren, wenn im wirklichen Leben jemand ein israelisch-palästinensisches Jugendorchester zusammenstellen und zusammen unterbringen würde, das die Begleitmusik zu Friedensverhandlungen in Südtirol spielen soll. Es ist legitim, so etwas aus dramaturgischen Gründen zu ignorieren. Schwerer jedoch wiegt in einem Film, der darstellen soll, wie die »Kraft der Musik« die verhärteten Fronten im israelisch-palästinensischen Konflikt überwinden kann, und der für keine Seite Partei ergreifen will, dass man zwar etwas über Omars, nicht aber über Shiras familiären Hintergrund erfährt. Missbilligen ihre Eltern den Sex an sich oder den Sex mit einem Palästinenser? Dies gilt auch für die anderen beiden Jugendlichen, die eine Schlüsselrolle in dem Film »Crescendo« spielen. Laylas (Sabrina Amali) zäher Kampf um die Teilnahme an diesem Projekt gegen den Widerstand vor allem der Mutter, die jede Annäherung an Israelis ablehnt, aber auch gegen bürokratische Schikanen am israelischen Checkpoint wird geschildert; Ron (Daniel Donskoy) ist einfach nur da. Der Spielfilm »Crescendo« stellt seine Friedensbotschaft so sehr in den Mittelpunkt, dass er seine Darsteller zu Stichwortgebern degradiert und seine dramaturgischen Möglichkeiten verspielt. Insbesondere bei Layla und Ron ist das bedauerlich, denn Amali und Donskoy hätten mit ihrem schauspielerischen Potenzial aus dem Konkurrenzkampf darum, wer im Orchester die erste Geige spielt, weit mehr machen können, wenn das Drehbuch es gestattet hätte. Stattdessen rückt der deutsche Dirigent Eduard Sporck (Peter Simonischek), Sohn von NS-Verbrechern, allzu sehr als weiser Übervater und Friedensstifter in den Vordergrund. Es ist eine weit verbreitete, aber fragwürdige Ansicht, dass die Deutschen aufgrund ihrer NS-Vergangenheit zum Friedenstiften im Allgemeinen und zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Besonderen berufen seien. Sie geht fast immer einher mit dem Irrglauben, die gewaltsame Austragung von Konflikten sei darauf zurückzuführen, dass die Kontrahenten nur zu bockig sind und zu wenig miteinander reden - was sich mit ein wenig Coaching unter deutschem Vorsitz gewiss beheben ließe. In diese Rolle schlüpft Storck. Die »Kraft der Musik«, das bemerkt er schnell, genügt nicht. Also versucht er es mit gutem Zureden, Pädagogik und gruppendynamischen Spielen. Dramaturgisch funktioniert das nur in wenigen Szenen, etwa, wenn er Ron und Layla auffordert, mit- und nicht gegeneinander Geige zu spielen. Meist aber driftet der Film ins Klischeehafte ab. Als Ron vor der Abreise nach Südtirol Laylas Leitungsrolle in Frage stellt, gruppieren sich die Jugendlichen nicht nur entsprechend der israelisch-palästinensischen Konfliktlinie, sondern rufen auch gleich Parolen. Streit zwischen palästinensischen und israelischen Jugendlichen gäbe es in so einer Situation zweifellos, doch dürfte man ihnen etwas mehr Originalität und Individualität schon zutrauen; etwa einer Israelin Widerspruch gegen Rons Macho-Gehabe und Star-Allüren. Jenseits der Liebschaft von Shira und Omar darf hier niemand aus der Rolle fallen oder eine Initiative ergreifen, damit das Coaching des deutschen Dirigenten umso strahlender hervortritt. Da ist man geneigt, Ron recht zu geben, der sich in einem »Umerziehungslager« wähnt, und würde Storck gerne einmal »OK Boomer« zurufen. »Crescendo«, Deutschland 2019. Regie: Dror Zahavi; Darsteller: Peter Simonischek, Sabrina Amali, Daniel Donskoy, Mehdi Meskar, Eyan Pinkovich. 102 Min.
Jörn Schulz
Der deutsche Spielfilm »Crescendo«, der von einem israelisch-palästinensischen Jugendorchester erzählt, stellt seine Friedensbotschaft so sehr in den Mittelpunkt, dass er seine Darsteller zu bloßen Stichwortgebern degradiert.
Film, Friedensbewegung, Israel, Musik, Nahost, Palästina
Feuilleton
Kultur Kino
2020-01-20T17:04:15+0100
2020-01-20T17:04:15+0100
2023-01-21T12:22:56+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1131690.wenn-deutsche-dirigieren.html
Auf in den Sommer
Lockerungen! Es darf wieder verreist werden - einfach um des Reisens willen. Und nachdem die Leute sich wochenlang brav an Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln gehalten haben, lechzen sie anscheinend danach, zum Zwecke der Erholung die Heimat zu verlassen. Bei vielen herrscht eine gewisse Unruhe, wohin die Reise im Sommer denn nun gehen soll. Der 15. Juni ist das magische Datum, an dem das Auswärtige Amt seine allgemeine Covid-19-Reisewarnung aufheben und Reisen in 31 Länder erlauben will. Mindestens bis dahin wird nur in Deutschland verreist. Laut Umfragen der Marktforschungsinstitute glauben mehr als zwei Drittel der Deutschen, dass 2020 ein Urlaub hierzulande die sicherste Wahl ist. Urlaub im eigenen Lande - zumindest gelernte DDR-Bürger wissen, dass die eingeschränkte Auswahl an Reisezielen manchmal auch ein Segen ist: Es ist leichter, sich zu entscheiden. Im Inland ist das Verreisen in den vergangenen zwei Wochen peu à peu möglich geworden - besonders im Blick liegt dabei die Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns. Das Bundesland, das während der Corona-Restriktionen mit den strikten Einreiseverboten für Staunen und Empörung sorgte, ist anscheinend noch begehrenswerter geworden. Seit Montag, dem Tag, seit dem Touristen aus anderen Bundesländern wieder Einlass gewährt wird, strömen die Gäste in Massen an die Strände von Darß, Rügen oder Usedom. Am Dienstag brachte die erste Fähre wieder Gäste aus Berlin, Sachsen und Co. auf die Insel Hiddensee. Sommer 2020, es wird! Bereits am Pfingstwochenende werden 90 Prozent der Tourismusbetriebe die Tore aufgesperrt haben, schätzt der Tourismusverband MV: »Sie werden gut belegt sein«, so Verbandsgeschäftsführer Tobias Woitendorf. Allerdings gilt die Regel, dass Gäste aus Corona-Krisengebieten (mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen) nicht einreisen dürfen. Ein Bußgeld von 500 Euro droht. Für Tagestouristen bleiben die Landesgrenzen dicht. Jeder Anreisende sollte die Buchung einer Übernachtung in einem Hotel, einer Pension oder auf einem Campingplatz vorweisen können. Spätestens seit Bodo Ramelows Vorstoß hat Thüringen eine Vorreiterrolle in Sachen Corona-Lockerungen inne. Doch schon bevor der Linke-Ministerpräsident mit seinen Ideen von Schulöffnungen und lokalen Zuständigkeiten vorpreschte, hatte der Freistaat vor zwei Wochen den Weg Richtung Thüringer Wald, Hainich oder Werratal, nach Erfurt, Eisenach oder Weimar freigemacht. »Wir verzeichnen einen Run auf unsere Campingplätze«, sagt Mandy Neumann, Sprecherin der Thüringer Tourismus GmbH. »Bei den Hotels sind die Buchungen bisher moderat angestiegen und noch unter dem für diese Jahreszeit üblichen Durchschnitt.« Museen und Kultureinrichtungen seien vielerorts schon wieder geöffnet, auch Stadtführungen möglich. »Pfingsten wird sicherlich ein Gradmesser, wie reisewillig die Deutschen schon wieder sind«, sagt Mandy Neumann. Auch in Sachsen darf bereits seit dem 15. Mai wieder Urlaub gemacht werden, Restaurants und Bars sind geöffnet, wenngleich vielerorts ein Leitspruch aus Vorwendezeiten gilt: »Sie werden platziert!« Angesichts der Platz- und Abstandsregeln sind Reservierungen bei Restaurants angesagt. In Sachsen sind auch viele Sehenswürdigkeiten bereits wieder geöffnet, so zum Beispiel die Gemäldegalerie im Dresdner Zwinger. In Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin ist die Unterbringung von Gästen in Ferienwohnungen, Hotels und auf Campingplätzen ebenfalls wieder gestattet, allerorts gelten weiterhin bestimmte Hygiene- und Abstandsregeln. In Brandenburg sind alle Geschäfte, Tierparks, Wildgehege, Zoologische und Botanische Gärten, Galerien, Museen und Ausstellungshallen geöffnet. Was die Reiselust zusätzlich beflügeln könnte: Die Bahn bietet seit Freitag viele Verbindungen zu touristischen Zielen wieder an - an die Nord- und Ostseeküste (Sylt oder Rügen) sowie die Mecklenburgische Seenplatte, in den Thüringer Wald, den Spreewald oder den Harz. In der Bahn-App kann der Auslastungsstatus aller Züge gecheckt werden, bei Spar- und Superspartickets entfällt die Zugbindung. Es gilt Maskenpflicht.
Jirka Grahl
Laut Umfragen glauben mehr als zwei Drittel der Deutschen, dass 2020 ein Urlaub hierzulande die sicherste Wahl ist. Der Run auf Ostsee, Mecklenburger Seenplatte und Thüringer Wald hat begonnen - manchen erinnert es an DDR-Zeiten.
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sommer, Thüringen, Urlaub
Reise Urlaub in Deutschland
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1137267.urlaub-in-deutschland-auf-in-den-sommer.html?sstr=Tourismus|Corona
Einen Traum verwirklicht
Attila ist Poet, Proletarier, Journalist, Fußballfan, Kommunist, Liedermacher und vieles mehr. Seit etwa 1980 verbindet Attila, der aus Südengland stammt und den Namenszusatz „The Stockbroker“ nach einem Zwischenspiel als Dolmetscher an der Londoner Börse erhielt, seine politische Poesie mit Punk-beeinflußtem Folk. In Großbritannien tourte er mit so verschiedenen Acts wie Billy Bragg, The Jam, Angelic Upstarts, Linton Kwesi Johnson, Sinead O'Conhor oder Gary Glitter. Doch stand er immer nur als Gast auf der Bühne. Jetzt hat er sich, wie er selbst sagt, „einen Traum verwirklicht“ und spielt mit eigener Band, Die erbrechenden Rotkehlchen. Dabei steht ihm sogar der Ex-Damned Captain Sensible am Bass zur Seite. In Deutschland kann der Polit-Folk-Poet Attila auf eine relativ große Fan-Gemeinde zählen. Schließlich redet und singt er teilweise auch auf Deutsch. Seine Texte beschäftigen sich mit der neuen Weltordnung, Krieg, Kapitalismus, Mackertum usw. Immer wieder stellte er sich auch selbst an die Seite der Kämpfenden und Unterdrückten: in der BRD etwa bei Soli-Konzerten für die Hamburger Hafenstraße. Als die Welt noch in Blöcke aufgeteilt war, zeigte sich Attila regelmäßig auch im Osten. Legal und mit großem Erfolg, wo man ihn ließ, wie etwa auf dem Liedersommer in Berlin 1987 oder auf dem Festival des politischen Liedes 1988 und 1990 oder aber illegal wie etwa in Albanien, wo er heimliche Konzerte gab. Attila war auch persönlich zur Stelle als es um die Schließung von DT64 ging und besucht regelmäßig Spiele des 1. FC St.Pauli. Doch seine Popularität reicht auch bis Kanada und Neuseeland. Mit seiner Band, die übrigens zum größten Teil aus Musikern der Fish Brothers besteht, vermischt Attlila seinen Hang zum Punk mit englischen Folk-Elementen. Heraus kommt eine Mischung die irgendwo zwischen den Blaggers, Clash und ITA liegt. Also am Freitag ab nach Schöneberg ins KOB. Am Sonnabend kann die Party lauter, schneller und schweißtreibender im, Kreuzberger SO 36 beim zweiten Hardcore Blow Out weitergehen. Auf der Bühne stehen die Rykers, Prophecy Of Rage, die besonders empfehlenswerten 3rd. Statement, Punishable Act und Murdered Art. DARIO AZZELLINI
Redaktion nd-aktuell.de
Feuilleton
Kultur Attila the Stockbroker am Freitag um 22.00 im Schöneberger KOB
https://www.nd-aktuell.de//artikel/522759.einen-traum-verwirklicht.html
Mindestens 25 Tote in Afghanistan
Kabul. Beim Absturz eines Hubschraubers mit mehreren Politikern an Bord sind in Afghanistan mindestens 18 Menschen umgekommen. Bei dem Unglück in der Westprovinz Fara seien auch der Chef des Provinzrats von Fara und mehrere seiner Mitarbeiter ums Leben gekommen, teilten die Behörden mit. Derweil sind bei einem Selbstmordanschlag in der Hauptstadt Kabul am Mittwoch mindestens sieben Menschen getötet worden. Die Explosion habe sich am Eingang eines Gefängnisses im östlichen Stadtteil Pul-e Charkhi ereignet, so ein Sprecher des Innenministeriums. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Afghanistan
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Politik
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»Es braucht echte Mitbestimmung bei der Beschäftigungssicherung«
Bevor Sie in die Politik gingen und für die Linke in den Bundestag gewählt wurden, waren Sie Betriebsrätin bei Nestlé. Was hat Sie da am meisten genervt? Als Betriebsrätin kam ich immer wieder an den Punkt, dass ich Plänen der Arbeitgeber ohnmächtig gegenüberstand und keine rechtlichen Handlungsmöglichkeiten hatte. Ein Beispiel: Wir haben uns als Betriebsrat damals viel Mühe gegeben, Stellenabbau zu verhindern, und haben auch Vorschläge zur Beschäftigungssicherung gemacht. Doch den Arbeitgeber hat das alles nicht interessiert. Deswegen fordern wir in unserem Konzept zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes auch eine echte Mitbestimmung bei Fragen der Beschäftigungssicherung. Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann Wie soll dieses Mehr an Mitbestimmung aussehen? Wir möchten zum Beispiel, dass das Prinzip der zwingenden Mitbestimmung den Betriebsräten nicht nur bei sozialen Fragen relativ weitreichende Rechte gibt, sondern auch auf wirtschaftliche und personelle Angelegenheiten ausgeweitet wird. Denn Betriebsräte brauchen auch ein echtes Mitbestimmungsrecht bei so wichtigen Fragen wie Umwelt-, Klimaschutz und dem digitalen Wandel. Dafür ist auch wichtig, dass sie ein Initiativrecht bekommen. SPD, Grüne und FDP haben im Koalitionsvertrag Maßnahmen zur Stärkung der Betriebsräte vereinbart. Reichen die nicht aus? Leider nicht. Einige Vorschläge gehen sogar in die falsche Richtung. So ist geplant, dass Betriebsratswahlen künftig auch online stattfinden können. Das wäre aber ein Fehler, weil sie dadurch fälschungsanfälliger werden. Auch dass Betriebsratssitzungen künftig ausschließlich online stattfinden könnten, ist problematisch. Warum? Das birgt die Gefahr, dass die Arbeitgeber Druck auf die Betriebsräte ausüben, sich nur noch digital zu treffen. Bei Gesamtbetriebsratstreffen von Unternehmen, wo die Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Teilen des Landes anreisen müssen, ist das nämlich für den Arbeitgeber billiger, weil er die damit verbundenen Fahrt- und Unterkunftskosten nicht tragen muss. Doch bei solchen Videokonferenzen gehen viele wichtige persönliche Gespräche verloren. Deswegen fordern wir, dass virtuelle Treffen nur eine Option für die Betriebsräte sein dürfen, für die hohe Hürden geschaffen werden müssen. Aber nicht alles ist schlecht, oder? Dass die Behinderung von Betriebsratsarbeit künftig ein Offizialdelikt sein soll, wird von Experten als ein großer Schritt angesehen. Es ist in der Tat ein großer Schritt in die richtige Richtung, dass Staatsanwaltschaften künftig von sich aus ermitteln müssen, wenn Arbeitgeber die Gründung und Arbeit von Betriebsräten behindern. Ich befürchte aber, dass es zu einem zahnlosen Papiertiger wird, wenn die Bundesländer nicht auch die dafür notwendigen Schwerpunktstaatsanwaltschaften schaffen. Das drängendste Problem wird von der Ampel-Koalition nicht angegangen: Es gibt viel zu wenige Betriebsräte, nur noch in neun Prozent aller Betriebe. Deswegen muss die Gründung neuer Betriebsräte unbedingt erleichtert werden. Wie kann das erreicht werden? Welche Maßnahmen schlagen Sie in Ihrem Konzept dafür vor? Als erstes braucht es einen wirklichen Kündigungsschutz für Initiatoren von Betriebsratswahlen. Die Reformen im Rahmen des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes von Schwarz-Rot reichen da bei weitem nicht aus. Denn die Initiatoren müssen dafür eine öffentlich beglaubigte Erklärung vor einem Notar abgeben, dass sie einen Betriebsrat gründen wollen. Das ist eine zu hohe Hürde, weil dies auch mit Kosten für die Beschäftigten verbunden ist. Zudem fordern wir, dass der Arbeitgeber verpflichtet wird, im Betrieb einmal im Jahr Informationsveranstaltungen zu organisieren. Was für einen Zweck sollen diese Veranstaltungen haben? Sie sollten möglichst von einer Gewerkschaft geleitet werden. Auf diesen Veranstaltungen sollten die Beschäftigten auch die Möglichkeit haben, direkt einen Wahlvorstand zur Gründung eines Betriebsrats zu wählen. Sollte dies nicht zustande kommen, sollte eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft oder drei Arbeitnehmer das Recht bekommen, vom Arbeitsgericht einen kommissarischen Betriebsrat einsetzen zu lassen. Denn die sensibelste Phase für Betriebsräte sind meist ihre ersten Wahlen. Dort versuchen Arbeitgeber - häufig auch mit illegalen Methoden - am meisten zu stören. Sie wollen mit Ihren Reformvorschlägen nicht nur Betriebsräten mehr Rechte geben, sondern den Beschäftigten auch mehr Rechte gegenüber den Betriebs-räten ... Das ist ganz wichtig, um die Demokratie im Betrieb und den Austausch zwischen Belegschaft und Betriebsrat zu stärken. So sollen künftig Betriebsversammlungen einberufen werden, wenn es 15 Prozent der Belegschaft fordern. Derzeit sind dafür noch 25 Prozent notwendig. Denn die besten Rechte nützen einem Betriebsrat nichts, wenn er keinen Rückhalt in der Belegschaft hat. Und dafür braucht es einen Austausch, der gefördert werden muss.
Simon Poelchau
Die Vereinbarungen der Ampel-Koalition zur Stärkung der Betriebsräte reichen laut Susanne Ferschl nicht aus. Einige Vorschläge gehen laut der Linke-Politikerin sogar in die falsche Richtung.
Betriebsrat, Linksfraktion, Mitbestimmung
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Reform der Mitbestimmung
2022-04-06T16:39:54+0200
2022-04-06T16:39:54+0200
2023-01-20T18:48:10+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1161499.die-rueckkehr-der-anwesenheitspflicht.html
Marine Le Pen hat sich verrechnet
Wenn Marine Le Pen gehofft hatte, die Regionalwahl würde zur Generalprobe für ihren Sturm aufs Elysée bei der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr werden, dann hat sie sich gründlich verrechnet. Statt in sechs Regionen wie 2015 landete der rechtsextreme Rassemblement National dieses Mal im ersten Wahlgang nur in einer Region auf dem ersten Platz. Nur in acht von 13 Regionen brachten es die Nationalisten auf die mindestens zehn Prozent der Stimmen, die nötig sind, um auch im zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag antreten zu dürfen. Von der Eroberung einer Region ist Le Pens Partei weit entfernt. In Frankreich funktioniert - noch - die »republikanische Front« der demokratischen Parteien gegen die rechtsextreme Gefahr. Bedenklicher steht es um Grundlagen der Demokratie, wie sie das Wahlrecht darstellt. Erschreckend ist, dass am Sonntag nur jeder dritte Wahlberechtigte abgestimmt hat. Die Stimmenthaltung war mit 66,1 Prozent die höchste von allen Wahlen im Nachkriegsfrankreich. Bei den 18- bis 35-Jährigen blieben sogar 82 Prozent der Wahlurne fern. »Eine Demokratie ohne Wähler«, warnt Jean-Luc Mélenchon, der Gründer der linken Bewegung La France insoumise, »ist keine Demokratie.«
Ralf Klingsieck
Ralf Klingsieck über die erste Runde der Regionalwahlen in Frankreich
Frankreich, Front National, Rechtsradikalismus
Meinung
Kommentare Regionalwahlen in Frankreich
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153544.regionalwahlen-in-frankreich-marine-le-pen-hat-sich-verrechnet.html
Das gibt neuen Streit, garantiert!
Lärm macht krank, wenn er zur Dauerbelastung wird. Die Anwohner des Hauptstadtflughafens, dessen Inbetriebnahme ihre Lebens- und Wohnqualität stark beeinträchtigen wird, müssen sich aber nicht krank machen lassen. Völlig zu Recht haben sie daher den Verantwortlichen gegen deren Widerstand aufwändige Schutzmaßnahmen für ihre Wohnungen abgetrotzt. Dass die Kosten für dieses Schallsc... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Tomas Morgenstern
Lärm macht krank. Dass die Kosten für das Schallschutzprogramm am BER auf 730 Millionen Euro und damit auf das Fünffache angewachsen sind, hätte die Flughafengesellschaft (FBB) vermeiden können.
BER, Flughafen, Fluglärm
Meinung
Kommentare
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Gummistiefel-Politik in Österreich
Angeblich macht er Pause, der Wahlkampf in Österreich – so zumindest tönte es aus diversen Lagern. Dabei hatten alle Parteien gerade für besagtes Wochenende Veranstaltungen geplant, bei denen das Wahlkampffinale eingeläutet werden sollte. Sie alle wurden wegen der Katastrophenlage in Ost-Österreich abgesagt. Ebenso alle geplanten TV-Debatten. Nachgeholt wurde all das am Mittwoch im Nationalrat: Da wurde der letzte reguläre Sitzungstag vor der Wahl zu einem Feuerwerk an Milliarden-Beschlüssen: Der Katastrophenfonds wurde auf eine Milliarde Euro aufgestockt; der Wohnschirm, über den Wohnkostenzuschüsse zur Prävention von Zwangsräumungen abgewickelt werden, um 40 Millionen Euro erhöht. Zudem soll eine Milliarde in den Hochwasserschutz investiert werden. Nach dem Regen regnet es also Geld. Vor allem aber hat der Wahlkampf nach Migration und Besteuerungsfragen ein neues Thema: den Klimawandel, seine Auswirkungen und der Umgang damit. Man könnte meinen, dass das den Grünen zugutekommt, bietet die aktuelle Lage doch Gelegenheit, in einem Wahlkampf voller frontaler und unterschwelliger Angriffe ihre Kernkompetenz auszuspielen. Es ist ganz sicher auch kein Zufall, dass die Grünen Infrastrukturministerin Gewessler gerade jetzt aufs Podest heben. Sie ist die Ministerin, auf deren Konto sehr viel von dem geht, was die Grünen nach fünf Jahren in einer äußerst komplizierten Koalition mit der ÖVP realpolitisch auf der Haben-Seite verbuchen können: zum Beispiel das EU-Renaturierungs-Abkommen gegen den Widerstand des Koalitionspartners oder auch das Klimaticket, ein österreichweites Ticket für alle öffentlichen Verkehrsmittel. Nur ist keineswegs sicher, dass die Grünen davon auch tatsächlich profitieren werden. Fluten können Wahlen entscheiden. Das hat sich auch in der österreichischen Geschichte gezeigt: Das Hochwasser 2002 und die Auswirkungen auf die Steuerpolitik hatten damals erst zur Selbstzerfleischung der FPÖ und in Folge zum Zerfall der ÖVP-FPÖ-Koalition geführt. Die FPÖ verlor bei den darauffolgenden Wahlen fast 17 Prozent – die ÖVP gewann 15 Prozent. Die Grünen gewannen 2 Prozent. Auch die am 29. September bevorstehende Wahl ist wieder vor allem ein Rennen im rechten Lager – zwischen FPÖ und ÖVP. So gut wie alle Umfragen sagen eine markante Verschiebung nach rechts voraus. Die rechtsradikale FPÖ könnte mit 27 Prozent stärkste Kraft werden, weit vor ÖVP (24 Prozent), SPÖ (20 Prozent), NEOS (9 Prozent) und Grünen (8 Prozent). Die KPÖ liegt, gleichauf mit der »Bierpartei«, bei 3 bis 4 Prozent – wobei mindestens 4 Prozent für den Einzug in den Nationalrat benötigt werden. Die Wahl am 29. September ist wieder ein Rennen im rechten Lager – zwischen FPÖ und ÖVP Das jedoch war der politische Pegelstand, bevor sich Politiker aller Parteien ins Krisen-Outfit geworfen haben: Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) trat zuletzt in Hemd und Pullover in einem Krisenkoordinationszentrum in Tulln bei Wien auf; FPÖ-Chef Kickl in grüner Jägerkluft im Wald; Andreas Babler (SPÖ) in Feuerwehr-Kleidung und der Rolle des Bürgermeisters und Krisenmanagers in Traiskirchen südlich von Wien; Infrastrukturministerin Leonore Gewessler (Grüne) in urbanem Schlechtwetter-Outfit am Wienfluss in Wien. Inhaltlich gab es bei all dem tatsächlich wenig Wahlkämpferisches: Danksagungen an die freiwilligen Helfer, Solidaritätsbekundungen, Bekenntnisse, bei der Beseitigung der Schäden zu helfen und nur seitens der Grünen auch einen Hinweis auf den Klimawandel. Aber vorrangig ging es einmal darum, den Krisenmanager zu geben. Gummistiefel-Politik also. Die Klimadebatte verläuft in Österreich allerdings in besonders seltsamen Bahnen. Dass die »Letzte Generation« zuletzt ganz offiziell aufgegeben hat, kann durchaus als symptomatisch verstanden werden. Klimaprotestierenden wurde mit dem Strafrecht gedroht. Im EU-Wahlkampf hatte die FPÖ gegen den »Öko-Kommunismus« plakatiert. Parteichef Herbert Kickl postete auch schon mal über den »sogenannten Klimawandel«. Seitens der ÖVP wurden »Haftstrafen« gegen Klimaaktivisten gefordert, weil diese »Sabotage« betreiben würden. Pikantes Detail am Rande: In Niederösterreich, dem jetzt am schwersten von der Flut getroffenen Bundesland, regiert die ÖVP in einer Koalition mit der FPÖ. Das dortige Regierungsprogramm ist ein Sammelsurium aus Klimawandel- und Corona-Leugnertum, »Autofahrerschutz« und Deutschgebot auf dem Schulhof. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Auf Bundesebene hält Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) währenddessen weiterhin Plädoyers für Verbrennermotoren, bezeichnet Österreich als Autoland und setzt gegen fast einhelligen Expertenrat auf Alternativ-Treibstoffe anstatt auf E-Mobilität. Die Linie der Konservativen: »Technologieoffenheit«, wie sie es nennen, möglichst wenig Regulierung der Wirtschaft, vor allem nicht vonseiten der EU. Als Infrastrukturministerin Leonore Gewessler (Grüne) gegen ÖVP-Weisung für das EU-Renaturierungsgesetz stimmte, hätte das fast zum Ende der Koalition geführt. Die ÖVP zeigte Gewessler wegen angeblichem Verfassungsbruch an. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Für die FPÖ wiederum birgt die jetzige Flut inhaltlich durchaus Probleme. Unter Kickl hat die Partei einen offen wissenschaftsfeindlichen Kurs eingeschlagen. Die Klimakrise wird ebenso geleugnet wie Corona oder die Wirkung von Impfungen. So trat der Leiter der FPÖ-Delegation im EU-Parlament, Harald Vilimsky, just am Wochenende der Flut bei einem Benefiz-Dinner des rechten Thinktanks Heartland Institute in Chicago auf. Die Kooperation zwischen Vilimsky und dem Institut wird derart beschrieben: Man kooperiere, »speziell, wenn es darum geht, dem Klima-Alarmismus und sinnloser, ›grüner‹ Energiepolitik in Europa zu kontern«. Zugutekommt der FPÖ jedoch, dass ihre Meinungsblase sich bereits mehrfach als undurchdringbar erwiesen hat. Fakten dringen bei ihrer Anhängerschaft kaum mehr durch. Auch die zahlreichen Skandale haben der Partei wenig zugesetzt. Allerdings: Dieser Wählerkreis ist letztlich begrenzt. Und Umfragen nach dem Hochwasser deuten darauf hin, dass bisher Unentschlossene nun eher zur ÖVP tendieren. Denn: Da ist der Kanzler- und Krisenmanagerbonus – auch wenn Umweltpolitik für Nehammer bisher immer eher den Stellenwert von lästigem Beiwerk hatte.
Stefan Schocher
Am 29. September wird in Österreich gewählt. Vermutlich wird das Rennen zwischen rechtsextremer FPÖ und rechter ÖVP entschieden.
Die Grünen, Europäische Union, Klimawandel, Österreich
Politik & Ökonomie
Politik FPÖ und ÖVP
2024-09-20T15:01:35+0200
2024-09-20T15:01:35+0200
2024-09-23T12:16:42+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1185421.fpoe-und-oevp-gummistiefel-politik-in-oesterreich.html
Auch das noch: Die gesuchte Seite ist nicht (mehr?) vorhanden.
Redaktion nd-aktuell.de
Proteste in den USAPolitikDaniel Loick
https://www.nd-aktuell.de/shop/article/9783894386825
Uni-Besetzung beendet, Forderungen bleiben
Die Besetzer des Instituts für Sozialwissenschaften (ISW) der Humboldt-Universität (HU) räumen nach vier Wochen das Feld. »Klar ist: Die Form des Protests muss nun anders werden«, sagt Kristin bei der Donnerstagfrüh in den Institutsräumen einberufenen Pressekonferenz. Die Studentin will, wie die anderen Aktivisten, ihren Nachnamen nicht nennen. Mitstudent Felix zieht eine positive Bilanz: »Wir haben in der Zeit das verwirklicht, was wir unter kritischer Lehre verstehen.« Seit dem ersten Tag der Besetzung habe es ein inhaltliches Programm gegeben – insgesamt 200 Veranstaltungen mit 4000 Besuchern zählten die Aktivisten. Damit seien die universitären »Mauern der Exklusivität eingerissen« worden. Auch die Rücknahme der angekündigten Entlassung Andrej Holms durch die HU sehen die Besetzer »ganz klar« als ihren Erfolg. Universitätspräsidentin Sabine Kunst hatte diese im Januar wegen falscher Angaben Holms zu seiner nach fünf Monaten abgebrochenen Stasi-Ausbildung in einem Personalfragebogen ausgesprochen und am 9. Februar nach einer Entschuldigung Holms wieder zurückgenommen. Auch Aktivisten der Stadtgesellschaft bilanzieren positiv. »Wir haben gezeigt, welche Kraft aus politischer Solidarität erwachsen kann«, sagt Armin von »Stadt von unten«. Er betont, dass Druck von unten als Basis die kritische Stadtforschung und Lehre brauche. Magnus Hengge von »Bizim Kiez« findet es »großartig, wie die Studenten in diesem Raum nicht nur die eigenen Probleme aufgegriffen haben, sondern in die Stadt hineingegangen sind«. Auch zu einer besseren Vernetzung der verschiedenen Initiativen habe die Besetzung beigetragen. Die Forderungen der Besetzer gehen aber deutlich über die inzwischen erfolgte Rücknahme der Kündigung Holms hinaus. »Die Uni-Präsidentin Sabine Kunst muss sich beim Senat für eine Ausfinanzierung der HU einsetzen«, sagt Studentin Sanna. Auch soll es an der Hochschule keine prekäre Beschäftigung mehr geben, Studierenden mehr Einfluss bei der Mitbestimmung bekommen. »Wohnungsleerstand endlich enteignen und den sozialen Wohnungsbau rekommunalisieren«, lautet eine der stadtpolitischen Forderungen. Letztlich ist die Besetzung immer noch nicht ganz vorbei. Die Studierenden werden einen Erdgeschossraum des ISW nicht räumen. Er soll weiterhin für die »Uni von unten«genutzt werden. »Wir wollen weiterkämpfen, nicht nur heute und morgen, sondern auch in zehn Jahren«, sagt Sanna. »Es war höchste Zeit, dass die Besetzung beendet wurde«, sagt HU-Sprecher Hans-Christoph Keller auf nd-Anfrage. Die dauerhafte Nutzung eines Raums werden Universitäts-, Fakultäts- und Institutsleitung »nicht dulden«, da der Raum damit nicht dem Institut zur Verfügung stehe. »Die Studierenden wurden aufgefordert, den Raum heute freizugeben«, so Keller.
Nicolas Šustr
Nach vier Wochen Besetzung räumen die Studenten das sozialwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität. Sie wollen mit anderen Mitteln weiter kämpfen. Dafür haben die Studierenden schon konkrete Pläne.
Andrej Holm, Besetzung, Humboldt-Universität
Hauptstadtregion
Berlin
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Cottbus soll bunt bleiben
Cottbus. Der Zusammenschluss wichtiger Institutionen in Cottbus für eine weltoffene Stadt soll dauerhaft bestehen. Unter dem Motto »Cottbus ist bunt« soll es in den nächsten Monaten weitere Aktionen und Begegnungen geben, kündigte der Präsident der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, Jörg Steinbach, an. Hintergrund des Bündnisses sind die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen im Januar, die bundesweit für Schlagzeilen sorgten. Ziel ist es, ein anderes Gesicht von Cottbus zu zeigen. Am Dienstag hatte es ein erstes Fußball-Freundschaftsspiel mit Studenten und dem Nachwuchs des Regionalligisten FC Energie Cottbus gegeben. Rund 300 Zuschauer und Fans seien dazugekommen, heißt es. An dem Bündnis sind unter anderen das Staatstheater, das Carl-Thiem-Klinikum, die Lausitzer Energie AG und das Stadtmarketing beteiligt. Am Donnerstagabend sollte es einen Sternmarsch unter dem Motto »Cottbus bekennt Farbe« geben. Anlass dafür war der Jahrestag der Bombardierung der Stadt im Februar 1945. Früher war die NPD zu diesem Datum regelmäßig aufmarschiert. Der Sternmarsch vom Donnerstagabend ist aus den Gegendemonstrationen hervorgegangen. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
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Brandenburg
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Sieben Linke machen’s mit Kubicki
Nach der Orientierungsdebatte über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Coronavirus trudeln nun die einzelnen Anträge ein. Darunter auch einer, den insgesamt sieben Abgeordnete der Linksfraktion unterzeichnet haben: Gemeinsam mit dem FDP-Politiker Wolfgang Kubicki sprechen sich Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht, Sevim Dağdelen, Matthias W. Birkwald, Andrej Hunko, Żaklin Nastić und Alexander Ulrich gegen die Impfpflicht aus. In dem Antrag, der »nd.Der Tag« vorliegt, heißt es: »Selbst eine nicht auf Ausrottung, sondern auf dauerhafte und nachhaltige Entlastung des Gesundheitssystems abzielende allgemeine Impfpflicht hängt an noch nicht abschließend geklärten Fragen der Schutzdauer und des Schutzumfangs einer Impfung in den jeweiligen Altersgruppen.« Nach Ansicht der Antragssteller*innen bestünden entscheidende Unterschiede zu den Impfungen etwa gegen Masern, die eine Wirksamkeit von 98 bis 99 Prozent garantieren. In der Tat liegt dieser Wert bei den Impfstoffen gegen Corona, vor allem gegen die derzeitige Omikron-Variante, deutlich darunter. »In Anbetracht der Schwere des mit einer allgemeinen Impfpflicht verbundenen Grundrechtseingriffs fallen diese Unwägbarkeiten besonders in Gewicht«, heißt es in dem Papier, das – wie alle weiteren Anträge für oder gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht – in der ersten Sitzungswoche im März (14.-18.3.) dem Plenum vorgestellt werden soll. Die insgesamt 50 Unterzeichner*innen, die vor allem aus den Reihen der FDP kommen, konkludieren: »Der Bundestag kann eine allgemeine Impfpflicht nicht beschließen, solange er nicht einmal die Häufigkeit der mit der Pflicht verbundenen Schutzimpfungen kennt.« Es ist eine ungewöhnliche Konstellation, die sich der von Bundeskanzler Olaf Scholz gewollten, aber innerhalb der Ampel-Koalition wegen der FDP nicht durchsetzbaren Impfpflicht entgegenstellt: Neben den 40 Liberalen und den sieben Linken gehören auch die Grünen-Abgeordnete Tabea Rößner sowie Jana Schimke und Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion zur Kubicki-Gruppe. Insbesondere die Linke-Zugpferde Wagenknecht und Gysi hatten sich zuletzt wiederholt gegen die Impfpflicht ausgesprochen – doch geschlossen steht die Linksfraktion in dieser Frage nicht. Der Parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte etwa bezeichnete die Impfpflicht in einem Positionspapier zur Corona-Pandemie als »letztes Mittel«, die Gesundheitspolitikerin Kathrin Vogler in der Orientierungsdebatte im Bundestag vor drei Wochen als »letzte Möglichkeit, wenn anders der Schutz der Gesundheit und die Wiedererlangung der Freiheiten nicht erreicht werden können«. Dann, so Vogler, könne eine Impfpflicht »nicht nur verfassungsgemäß, sondern dringend geboten sein«. Die Linke-Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow hat sich am Mittwoch tendenziell für die allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. »Im Moment« würde sie für den Antrag der Gruppe um den SPD-Politiker Dirk Wiese und den Grünen-Gesundheitsexperten Janosch Dahmen stimmen, der eine Impfpflicht ab 18 Jahren vorsieht, sagte sie im Gespräch mit »nd.Der Tag«. »Ausreichende Impfungen sind kein Wundermittel – aber nach Ansicht der allermeisten Expertinnen und Experten immer noch wesentliche Voraussetzung dafür, um erstens das Leben von Gefährdeten und das Gesundheitssystem zu schützen, und zweitens endlich aus dem Kreislauf von Lockerungen und Verschärfungen herauszukommen«, so Hennig-Wellsow. Da eine entsprechende Impfquote bisher »trotz aller Appelle« nicht erreicht worden sei, bleibe deshalb »eine allgemeine Impfpflicht ab 18, der ein verpflichtendes Beratungsgespräch vorgeschaltet ist«, eine »politische Option als Ultima Ratio«. In einer Sache sind sich Hennig-Wellsow und Gysi aber einig: Die Impfquote müsse erhöht werden. In ihrem Antrag fordert die Kubicki-Gruppe, »die Anstrengungen unterhalb des Grundrechtseingriffs einer Impfpflicht oder sogenannter 2G-Maßnahmen zu intensivieren«, etwa durch mehrsprachige Aufklärungs- und Werbespots sowie eine breite, von relevanten gesellschaftlichen Akteuren wie Kirchen und Sportvereinen mit getragene Impfkampagne. Des Weiteren solle die Bundesregierung niedrigschwellige Impfangebote beispielsweise bei Großveranstaltungen intensivieren sowie die Möglichkeit persönlicher Anschreiben mit dem Angebot eines Impftermins für alle Bürger*innen prüfen. Neben der Wiese- und der Kubicki-Gruppe gibt es noch den FDP-Gesundheitsexperten Andrew Ullmann, der mit anderen Liberalen und Grünen einen Mittelweg befürwortet. In ihrem am Mittwoch vorgestellten Gesetzentwurf plädiert die Ullmann-Gruppe für eine Impfpflicht ab 50, allerdings erst nach Überwindung hoher Hürden. Zunächst solle es eine Beratungspflicht für alle Bürger*innen ab 18 geben, die Impfpflicht solle dann erst in einem zweiten Schritt durch einen gesonderten Beschluss des Bundestags zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt werden können – und zwar auf Grundlage einer Stellungnahme der Bundesregierung »jederzeit nach dem 15. September 2022«. Bereits am vergangenen Freitag stellte die Unionsfraktion ihren Entwurf für ein »Impfvorsorgegesetz« vor, der einen »gestuften Impfmechanismus« beinhaltet: Demnach soll der Bundestag vergleichbar mit dem Mechanismus zur Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Möglichkeit bekommen, bei Vorliegen konkreter Voraussetzungen die Aktivierung eines Impfmechanismus zu beschließen.
Max Zeising
Sieben Abgeordnete der Linksfraktion, darunter Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht, haben einen Antrag gegen die Einführung einer Impfpflicht unterzeichnet. Linke-Chefin Susanne Hennig-Wellsow ist dagegen »im Moment« für die Impfpflicht ab 18.
Corona, Gregor Gysi, Impfpflicht, LINKE, Linksfraktion, Sahra Wagenknecht, Susanne Hennig-Wellsow, Wolfgang Kubicki
Politik & Ökonomie
Politik Impfpflicht-Debatte
2022-02-16T16:52:55+0100
2022-02-16T16:52:55+0100
2023-01-20T19:15:47+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1161409.sieben-linke-machenrs-mit-kubicki.html
Daimlerwerk im Tesla-Fieber
Kurz vor 13 Uhr kommen am Donnerstag schätzungsweise 300 Beschäftigte des Mercedes-Benz-Werks in Berlin-Marienfelde aus den Toren des Betriebs zu beiden Seiten der Daimlerstraße. Auf einem Transparent steht: »Unser Werk, unsere Arbeit, unsere Familien. Tradition bewahren, Zukunft machen.« Die Gewerkschaft IG Metall verteilt ihre roten Fahnen. Es wird laut getrötet, ein Gewerkschafter schlägt auf eine Pauke und der Hund der Tempelhof-Schöneberger Bezirksverordneten Katharina Marg (Linke) bellt dazu. Marg ist gekommen, um ihre Solidarität zu demonstrieren, genauso wie Harald Gindra, der Wirtschaftsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Ein Song der Berliner Hip-Hop-Combo K.I.Z. wird abgespielt: »Hurra, diese Welt geht unter«. Für die 2500 Beschäftigten ist es kein Grund zum Jubeln, dass die Zeit der Verbrennungsmotoren, die hier gebaut werden, langsam abläuft. Sie würden alternativ gern Teile für Elektroautos fertigen, um eine berufliche Perspektive zu haben. Wenn der Standort nicht auf Elektromobilität umschwenkt, droht eine Schließung des Werks auf Raten, da der Konzern nicht mehr in die Produktion von Verbrennungsmotoren investieren will. Das weiß auch der Betriebsratsvorsitzende Michael Rahmer nur zu genau. »Wir sind gesprächsbereit«, versichert der Mann, der seit 44 Jahren in dem Betrieb tätig ist. »Aber es gibt nichts, worüber man reden könnte. Es liegt kein Konzept vor.« Rahmer formuliert es bei der Kundgebung drastisch: »Wir sind am Arsch!« Dass die technische Berufsausbildung auslaufen soll, sei ein schlechtes Zeichen. Ein schlechtes Zeichen ist auch, dass der Werksleiter zum US-Konzern Tesla wechselt, der 50 Kilometer entfernt im brandenburgischen Grünheide eine Fabrik für seine modernen Elektroautos errichtet, die im Sommer 2021 eröffnen soll. Ahnt er etwa, dass in Marienfelde bald Schluss ist? Das fragen sich die Zurückgelassenen. Betriebsratschef Rahmer erfuhr nach eigener Aussage am Montagabend per SMS, dass der Boss geht und bereits am Dienstag seinen Betriebsausweis abgibt. Rahmer erinnert das an den Mann, der mit seiner Freundin Schluss macht und nicht den Mut hat, ihr das ins Gesicht zu sagen. Dabei habe der alte Chef doch versprochen: »Wir kämpfen gemeinsam für den Standort.« Viele Kollegen fühlen sich nun im Stich gelassen. Eigentlich ist diese Personalie nur eine Randgeschichte, wenn auch eine bezeichnende. Mit dem Schicksal des deutschen Traditionsunternehmens Mercedes Benz und der Zukunft des Marienfelder Betriebs hat Tesla nur indirekt zu tun. Jan Otto, Bevollmächtigter der IG Metall, betont ausdrücklich, dass er nichts dagegen habe, wenn Tesla in Grünheide 8000 Arbeitsplätze schafft. Das könne für Berlin und Brandenburg nur gut sein. Nicht geholfen wäre der Region allerdings, wenn dafür genauso viele Jobs anderswo wegfallen - zum Beispiel hier in Marienfelde. Es gebe leider Pläne, perspektivisch nur 500 bis 700 Jobs an diesem Daimler-Standort übrig zu lassen. Dagegen kämpft die IG Metall. Schließlich zahlt Mercedes Tariflöhne, für Berliner Verhältnisse »Top-Gehälter«, wie Otto sagt. Bei Tesla weiß man nicht, wie viel Geld die Mitarbeiter in Grünheide bekommen werden. Otto hat in seiner Zeit bei der IG Metall noch nie erlebt, dass ein neues Unternehmen freiwillig Tarif zahlt. Da brauchte es immer den Druck der gewerkschaftlich organisierten Belegschaft. Otto nennt es eine Lüge, dass für die Produktion von Elektroautos weniger Mitarbeiter benötigt werden als für Autos mit Verbrennungsmotoren. Dass der Daimler-Konzern trotz des angekündigten harten Sparkurses nicht plane, sein Berliner Motoren- und Antriebswerk in Marienfelde zu schließen, hatte Vorstandsmitglied Markus Schäfer erst Ende September vor Journalisten erklärt. Der Kommunikationschef der Daimler AG, Jörg Howe, bekräftigte am Mittwochabend gegenüber »nd«, dass der Standort erhalten werden solle. In welcher Konfiguration sei allerdings derzeit Gegenstand intensiver Verhandlungen. In einer schriftlichen Stellungnahme teilte der Konzern mit: »Mercedes Benz ist fest entschlossen, seine Antriebssparte konsequent zu transformieren und auf ›Electric First‹ sowie Digitalisierung auszurichten. Das Unternehmen geht damit einen weiteren wichtigen Schritt im Rahmen der Ambition 2039 - seinen Weg hin zur CO2-Neutralität.« Damit schaffe man interessante Perspektiven für die Beschäftigten, auch am Standort Marienfelde. Zu den Gerüchten um einen angeblichen Wechsel des bisherigen Werksleiters zu Tesla wollte sich Howe nicht äußern. »Wir kommentieren Personalien anderer Unternehmen nicht«, heißt es. Bestätigt wird, dass der 57-jährige Rene Reif zum Jahresende vorzeitig ausscheide. »Auf eigenen Wunsch« trete er in den Vorruhestand. Indessen übernahm der 48-jährige Clemenz Dobrawa, bisher Geschäftsführer des Leitwerks für den globalen Batterieproduktionsverbund der Mercedes-Benz AG in Kamenz, zu Monatsbeginn die Standortleitung der Werke Berlin und Hamburg. Er verfüge über Know-how beim Übergang zur Elektromobilität, heißt es, und werde die Werke »auf ein zukunftsfähiges Fundament stellen«.
Andreas Fritsche und Tomas Morgenstern
Im Berliner Mercedes-Benz-Werk wächst die Sorge um die Zukunft des Standorts, seit Tesla am Stadtrand Elektroautos bauen will. Muss nun die Belegschaft ausbaden, dass Daimler den Strukturwandel zur Elektromobilität verpasst hat?
Berlin, IG Metall
Hauptstadtregion
Brandenburg Autobranche
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1144349.daimlerwerk-im-tesla-fieber.html
Frankreich: Macron spielt Vabanque
Dass die Europawahl am Sonntag einen massiven Sieg des rechtsextremen Rassemblement National (RN) bringen würde, war absehbar. Die Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron, als Schlussfolgerung daraus das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzuberaumen, war aber selbst für seine engsten Vertrauten eine Überraschung und für viele Franzosen ein Schock. »Ich gebe Ihnen noch einmal Gelegenheit, Ihre Stimme einzusetzen, um Klarheit zu schaffen«, erklärte Macron eine Stunde nach Schließung der letzten Wahllokale an die Adresse der Wähler gewandt. »Ich habe Ihre Botschaft gehört und lasse sie nicht ohne Antwort«, sagte er in einer kurzen Fernsehansprache. »Nach diesem Tag könnte ich nicht so tun, als sei nichts geschehen.« Konsequenterweise gebe er den Wählern Gelegenheit, sich noch einmal klar und deutlich zu äußern. Darum löse er gemäß Artikel 12 der Verfassung die Nationalversammlung auf und beraume für den 30. Juni und den 7. Juli Neuwahlen an. Damit reagiert Macron auf das Debakel seines Lagers und den großen Erfolg des rechtsextremen Rassemblement National bei der Europawahl am Wochenende. Die Partei von Marine Le Pen hatte mit 31,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen eine Steigerung gegenüber der Wahl von 2019 um acht Prozent erreicht. Es ist damit das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Zählt man die Zahlen der Bewegung Reconquête von Eric Zemour und der Le Pen-Nichte Marion Maréchal sowie einiger gleichgesinnter Splitterparteien hinzu, die Bündnispartner von RN sind, können sich die Rechtsextremen in Frankreich auf nahezu 40 Prozent der wahlberechtigten Franzosen stützen. Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa Dagegen erreichte die Regierungspartei Renaissance, die aus der 2016 von Macron gegründeten Bewegung En marche hervorgegangen ist, nur 15,2 Prozent und verlor damit gegenüber 2019 mehr als ein Fünftel der Stimmen. Die Sozialisten verzeichneten 14 Prozent und verdoppelten die Zahl ihrer Stimmen im Vergleich zu 2019. Es folgten mit 8,7 Prozent die linke Bewegung La France insoumise, mit 5,5 Prozent die rechtsbürgerliche Oppositionspartei der Republikaner, mit 5,2 Prozent die Grünen und mit 2,5 Prozent die Kommunisten. Die Wahlbeteiligung lag mit 51 Prozent erstmals seit 1994 bei einer Europawahl wieder bei etwas mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten. Seit Wochen im Wahlkampf und noch am Sonntagabend kurz nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen hatte der Parteivorsitzende und Spitzenkandidat des Rassemblement National, Jordan Bardella, von Emmanuel Macron neue Parlamentswahlen gefordert. »Die beispiellose Diskrepanz zwischen den Stimmabgaben für die Regierungsmehrheit und für uns als der stärksten Oppositionspartei ist ein klares Misstrauensvotum gegen den Präsidenten und seine Regierung«, sagte Bardella. Als kurz darauf Macron seine Entscheidung für Neuwahlen bekannt gab, begrüßte die RN-Fraktionsvorsitzende und Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen dies als »logischen Schritt im Geiste der Verfassung der Fünften Republik« und erklärte: »Wir sind bereit, die Macht auszuüben.« Das wird allerdings von vielen Beobachtern der politischen Szene angezweifelt und darauf konzentriert sich die Debatte um die Gründe, die den Präsidenten bewogen haben, Neuwahlen anzuberaumen. Die einen vermuten, dass Emmanuel Macron darauf vertraut, dass die Aussicht, die Rechtsextremen schon in Kürze an den Hebeln der Macht zu sehen, die »republikanische Front« gegen sie über einstige Parteiengrenzen hinweg neu beleben kann. Andere bewerten ein solches Kalkül als »höchst riskant«. Sie geben zu bedenken, dass der Wahlerfolg für RN vor allem als »Denkzettel« seitens der Franzosen zu werten sei, die einst große Hoffnungen in die von Macron versprochene neue Politik gesetzt hatten und die durch den dann tatsächlich verfolgten neoliberalen Kurs zutiefst enttäuscht wurden. Andere Bobachter sehen in Macrons kühner Entscheidung den »richtigen und einzig möglichen Ausweg«, um eine Situation abzuwenden, in der das Land »unregierbar« würde. Der Abgeordnete François Ruffin von der linken Bewegung La France insoumise bezichtigt Macron, »mit dem Feuer zu spielen«. Andere Kritiker bleiben diplomatischer und warnen davor, »die Demokratie und die Institutionen in Gefahr zu bringen«. Der Politikwissenschaftler Eugène Demoulin analysiert, dass Macron »die Flucht nach vorn« angetreten hat. Denn sollten die Rechtsextremen tatsächlich jetzt an die Regierung gelangen, so könnten sich die Franzosen in den Jahren bis zur nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahl 2027 davon überzeugen, dass die RN-Politiker »nur große Worte schwingen und kein bisschen erfolgreicher als ihre Vorgänger regieren«. Das könnte dann zur Folge haben, dass 2027 weder eine rechtsextreme Präsidentin gewählt wird noch diese sich auf eine durch ihre Bewegung gestellte Regierung stützen kann. Wie die bereits in drei Wochen stattfindende Wahl ausfällt und ob das Rassemblement National dabei überhaupt in die Nähe der Macht kommt, wird stark von den linken Parteien abhängen. Dessen sind sich diese bewusst. Da sich die 2022 gebildete linke Parteienallianz Nupes »überlebt« hat, wie der KP-Vorsitzende Fabien Roussel am Wahlabend feststellte, ruft dieser zusammen mit dem Parteivorsitzenden der Sozialisten, Olivier Faure, und dem LFI-Abgeordneten François Ruffin dazu auf, eine »Volksfront« zu bilden. Die Bewegung La France insoumise hat die anderen linken Parteien, Bewegungen und Organisationen für Montagnachmittag zu einem ersten Treffen zu diesem Thema eingeladen.
Ralf Klingsieck, Paris
Nach dem rechtsextremen Erfolg bei der Europawahl und der schweren Niederlage seiner Regierungspartei Renaissance will der französische Staatschef Emmanuel Macron »Klarheit« schaffen.
europawahl, Frankreich, Rechtsradikalismus
Politik & Ökonomie
Politik Wahlsieg für Rechtsextreme
2024-06-10T17:28:08+0200
2024-06-10T17:28:08+0200
2024-06-11T16:28:55+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182842.wahlsieg-fuer-rechtsextreme-frankreich-macron-spielt-vabanque.html
»Rechte Propaganda will Gefühle vom Verstand abspalten«
Sie veranstalten Mitte Januar an der Uni Lüneburg einen Workshop »Ideologie – Propaganda – Faschismus«, der nicht als klassische Wissenschaftskonferenz gedacht ist. An der Humboldt-Universität in Berlin haben wir im Sommer über die Aktualität des Ideologiebegriffs diskutiert. Dabei haben wir auch über die sich abzeichnende Ideologie des autoritären Anti-Antisemitismus gesprochen, die über den Begriff der »Staatsräson« einen Brückenschlag zwischen unterschiedlichen politischen Lagern ermöglicht – von rechts über die Ampel-Koalition bis zu Teilen der Linken. Mit unserem Workshop wollten wir das fortsetzen, sind dabei aber auch noch auf neue Fragen gestoßen: Wie werden Ideologien eigentlich verbreitet? Wie sehen mediale Praktiken aus? Was hat es mit dem »neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit« auf sich? Den Querdenkern, Rechten und Neonazi-Gruppen wird ja immer bescheinigt, dass sie sich geschickt der neuen sozialen Medien bedienen. Simon Strick hat dafür den Begriff des »digitalen Faschismus« verwendet. Gleichzeitig wollen Sie aber auch die faschistische Propaganda der 30er und 40er Jahre analysieren – unter anderem mit Texten von Willi Münzenberg, Leo Löwenthal, Theodor Adorno und Siegfried Kracauer. Diese Texte bewegten sich auf einem erstaunlich hohen Niveau und waren zugleich sehr praxisbezogen. Ich denke, dass sie uns helfen können, die Praxis antidemokratischer Propaganda auch heute besser zu begreifen. Alex Demirović ist Sozialwissenschaftler und Vertreter der Kritischen Theorie. Als Senior Fellow lehrt er zurzeit am Leuphana Institute for Advanced Studies an der Universität Lüneburg. Außerdem gestaltet er für die Rosa-Luxemburg-Stiftung den Theorie-Podcast »Too long, didn’t read« und schreibt einmal im Monat eine Meinungskolumne für das »nd«. Bei allen Unterschieden zwischen den genannten Autoren gab es in der damaligen Debatte eine Gemeinsamkeit: Alle betonten die Irrationalität der faschistischen Propaganda. Man hat fast den Eindruck, der Erfolg der Nazis beruhte auf ihrer Irrationalität. Richtig, alle unterstreichen, dass die Nazis mit ihrer Propaganda darum bemüht waren, Gefühle vom Verstand abzuspalten. Gegen das blasse Denken sollte Zugang zum Herzen gefunden werden. Die Menschen sollten eine Masse bilden, die nicht in ihrem Wissen angesprochen wurde. Propaganda war hier kein Mittel mehr, um Menschen für ein Ziel zu gewinnen oder zum selbstständigen Nachdenken zu bewegen. Rechte Propaganda heute zielt ebenfalls stark auf Emotionen ab: Angst, Bedrohung, Untergangsszenarien. Aber auch das Moment der Gewalt, des Terrors gehört dazu, denn durch Gewalt wird Macht demonstriert. Und: Die Menschen sollen in ihren Überzeugungen verunsichert werden, nicht mehr sicher sein, was wahr und falsch ist. Deswegen die systematischen Lügen. Aus dem Konferenz-Reader ist bei mir vor allem der überraschend anschauliche Adorno-Aufsatz »Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda« hängen geblieben. Darin heißt es, der Faschismus befriedige den »doppelten Wunsch der Geführten, sich der Autorität zu unterwerfen und zugleich Autorität zu sein«. Die faschistische Propaganda funktioniert so gut, weil sie das Verlangen des autoritären Charakters bedient. Der faschistischen Propaganda geht es darum, den Einzelnen zum Teil eines Kollektivs zu machen, das sich nicht zuletzt über die Bekämpfung seiner Gegner definiert. Im Hitler-Faschismus waren das – oft in Personalunion – Juden und Marxisten. Heute könnte man im Sinne der Kritischen Theorie anmerken, dass die Nazis weitgehend erfolgreich waren: Die Juden wurden ermordet oder aus Europa vertrieben. Auch der Marxismus ist nach einer kurzen Renaissance marginalisiert. Nun sucht sich der Faschismus andere Hassobjekte: Muslime, Queere, Kulturmarxismus, »Tiefer Staat«, etablierte Parteien, Staatsfunk. Um so absurder ist es, dass die offiziellen Medien, die demokratischen Parteien nicht gegen die Rechte kämpfen und glauben, das würde sich von allein erledigen. Gleichzeitig scheint die Orientierung an Führerpersönlichkeiten in den rechten Bewegungen heute weniger wichtig zu sein. Ja, dem historischen Faschismus ging es darum, die Massen auf den Führer einzuschwören. Um Hitler wurde ein mythologischer Kult geschaffen: »Alles, was ihr seid, seid ihr durch mich.« Bei manchen Rechten heute lässt sich das auch beobachten, beispielsweise beim Auftreten von Donald Trump. Interessanterweise ist es bei der AfD bislang eher wenig ausgeprägt. Der Soziologe Leo Löwenthal hat in seiner Studie »Falsche Propheten« von 1949, in der er die rhetorischen und psychologischen Aspekte rechter Mobilisierung untersucht, zwischen Propaganda und Agitation unterschieden. Halten Sie das für sinnvoll? Löwenthal zufolge gibt sich der faschistische Agitator als jemand aus der Mitte seiner Zuhörer: Der Agitator sagt, was angeblich alle denken. Propaganda hingegen besteht aus Slogans. Münzenbergs Analyse »Propaganda als Waffe« von 1937 unterscheidet etwas anders: Bei Hitler gebe es keine Agitation, wenn darunter bestimmte theoretische Prinzipien verstanden werden, sondern nur Propaganda, die Großreklame sei. Die Zeitungen, der Volksempfänger, die Versammlungen, die Massenaufmärsche, die Fahnen, die Symbole, der Führerkult – alles diene der Propaganda. Aber vielleicht versteht man das faschistische Projekt sowieso am besten mit Kracauer, der ja auch bereits auf Münzenbergs Buch zurückgreifen konnte. Kracauer beschreibt die Entwicklung in etwa folgendermaßen: Männer, die aus dem Krieg kommen, nehmen den bewaffneten Kampf gegen die Republik auf und bilden paramilitärische Verbände. Es geht ihnen darum, totale Macht zu erlangen. Sie wollen die Menschen zu einer homogenen Masse formen, die vom Führer gelenkt wird. Wer widerspricht, wird niedergeschlagen; die Medien werden gleichgeschaltet. Propaganda wird zum Selbstzweck, es geht um nihilistische Macht und die Herstellung einer politischen Einheit, die das gewährleistet – das autoritäre Reich. Wichtig dabei ist, dass das Machtstreben grenzenlos ist und keine realen Probleme löst. Tatsächlich war der deutsche Faschismus ja vor allem ein Kolonialprojekt mit wahnhaften Versprechen: Man wollte Land erobern, die dort lebende Bevölkerung vertreiben, Juden-Marxisten als Feinde ermorden. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Schon in den 30er und 40er Jahren wurde festgestellt, dass die rechten Führer zwar an Schmierenschauspieler erinnern oder offen psychopathische Züge tragen, es allerdings genau dieser Umstand ist, der sie »nahbar« macht. Wenn man das liest, denkt man natürlich an Trump, von dem viele Wähler ja auch wissen, dass er ein lügender Idiot ist. Einer, in dem man sich wiedererkennt. Das ist mir bei der Lektüre des Adorno-Textes auch aufgefallen: »Große kleine Männer« heißt es dort. Dass er durchsichtig lügt, macht den Führer schwach, aber auch attraktiv; es wirkt gespielt. Bei Donald Trump ist es aber doch etwas anders als im klassischen Faschismus. Trump wiederholt einfache Aussagen, stammelt Unverständliches. Auch er spricht gewaltsam und brutal, aber bei ihm kommt es sehr viel weniger martialisch daher als beim alten Faschismus. Es wirkt weniger ritualisiert, zeremoniell, eher beiläufig. Willi Münzenberg, der viele Zeitungen und Verlage mit aufbaute, hat sich positiv auf den Begriff der »linken Propaganda« bezogen. Da stellt sich natürlich die Frage, ob so etwas überhaupt möglich ist. Der Definition nach geht es der Propaganda darum, die Meinungen der Menschen zu formen, und das hat zwangsläufig etwas Antiaufklärerisches. Horkheimer und Adorno behaupten, es könne keine »Propaganda der Wahrheit« geben. Münzenberg, Kracauer und Löwenthal hingegen sind der Ansicht, dass Propaganda durchaus eine Form sein kann, mit der sich Menschen erreichen und neugierig machen lassen. Sie ist noch nicht die aufgeklärte Wissensarbeit von mündigen Individuen selbst, sondern ein Medium, um das Interesse daran zu wecken. Was wäre in Ihrem Sinne eine gute linke Medienarbeit – also »Propaganda« im positiven Sinne? Von dem Historiker Arthur Rosenberg (1889–1943) gibt es die Aussage, die Linke hätte den Faschismus besiegt, wenn sie es nur mit ihm zu tun gehabt hätte. Besiegt worden sei sie aber aufgrund der Unterstützung der rechten Stoßtrupps durch Polizei und Justiz, also durch die Mischung von Legalität und Illegalität der Gewalt. Für mich folgert daraus, dass es viel mehr Berichterstattung über antifaschistische Praxis geben müsste. Münzenbergs Schlussfolgerung hieß »Angreifen, angreifen, angreifen«, also an jedem erdenklichen Punkt linke Gegenpropaganda zu entwickeln. Das bedeutet heute zum Beispiel, in den sozialen Medien Gegenpositionen und Antifa-Arbeit zu entwickeln und die Algorithmen dementsprechend zu trainieren. Ich denke zudem auch, dass wir den konventionellen Journalismus deutlicher kritisieren sollten. Beispielsweise verstehe ich nicht, warum der Wahlaufruf von Elon Musk nicht systematisch gegen die AfD gewendet wird. Kritisiert wird ja vor allem, Musk mische sich von außerhalb in die deutsche Politik ein. Aber die Meinungsäußerung von außen ist das geringere Problem. Viel entscheidender ist doch, dass die AfD von einem superreichen US-Tech-Milliardär unterstützt wird, der über ein globales Satellitensystem und eine Kommunikationsplattform verfügt, der den US-Staat umbauen, die EU, die Gewerkschaften, den Wohlfahrtsstaat und die Demokratie zerstören will. Die extreme Rechte ist das Projekt globaler kapitalistischer Eliten – das sollte im Zentrum linker Gegenpropaganda stehen.
Interview: Raul Zelik
Der Sozialwissenschaftler Alex Demirović im Interview über die Massenmanipulation der Nazis und linke Gegenpropaganda
Donald Trump, Faschismus, linke Bewegung, Medienkritik, Nationalsozialismus, Rechtsradikalismus
Politik & Ökonomie
Politik Alex Demirović im Interview
2025-01-03T15:12:16+0100
2025-01-03T15:12:16+0100
2025-01-10T15:04:27+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1187950.rechte-propaganda-will-gefuehle-vom-verstand-abspalten.html
»Kiel entwaffnen – Rüstungsindustrie versenken«
Vom 3. bis 8. September planen Antimilitarist*innen aus verschiedenen Ländern in Kiel ein Camp unter dem Motto »Kiel entwaffnen – Rüstungsindustrie versenken«. Die Aktionstage sollen mit einer überregionalen antimilitaristischen Demonstration am 7. September in Kiel enden. Die norddeutsche Hafenstadt ist vielleicht manchen als Ausgangspunkt der Novemberrevolution 1918 im Gedächtnis. Weniger bekannt ist, dass Kiel heute ein Hotspot der Rüstungsindustrie ist. Einen guten Überblick hierzu gibt die Broschüre »Militär und Rüstung in Kiel«, die mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schleswig-Holstein und weiteren linken Gruppen 2003 herausgegeben wurde. Obwohl das Papier vor mehr 20 Jahren erstellt wurde, gibt sie einen guten Einblick in das Geflecht von Firmen und Institutionen, die in Kiel Militarisierung vorantreiben. Das hat sich seit der nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in Deutschland aufgerufene militaristische Zeitenwende noch weiter verstärkt. Gerade in Zeiten der erklärten Kriegstüchtigkeit Deutschlands sieht der Sprecher des antimilitaristischen Bündnisses »Rheinmetall Entwaffnen« die Notwendigkeit, dagegen Widerstand zu leisten: »Wir werden bei den Aktionstagen in Kiel gemeinsam mit internationalen Freund*innen und Genoss*innen über Strategien für unseren gemeinsamen Kampf diskutieren und auch direkte Aktionen gegen Militär und Rüstungsindustrie durchführen«, erklärt der Antikriegsaktivist, der nicht mit Namen in der Zeitung genannt werden will. Das antimilitaristische Bündnis hat in den vergangenen Jahren mit mehrtätigen Aktionscamps vor Rüstungsstandorten deutlich gemacht, dass Antimilitarismus in Theorie und Praxis möglich ist. Zweimal fand das Camp im niedersächsischen Unterlüss, dem Sitz des Rheinmetall-Konzerns, statt. Auch Oberndorf, der Heimatort der Rüstungsschmiede Heckler und Koch, wurde von den Rüstungsgegner*innen bereits besucht. Vor zwei Jahren besuchten sie Kassel, seit Jahrzehnten ein Hotspot der deutschen Rüstungsindustrie.   An allen bisherigen Camp-Standorten gab es Versuche von Polizei und Politik, das antimilitaristische Camp zu verhindern. »Erst gerichtlich konnten wir die gewünschten Plätze bekommen«, meint der Rheinmetall-Entwaffnen-Aktivist. In Kiel will das Bündnis in unmittelbarer Nähe der Werft, in der Rüstungsgüter produziert werden, die Zelte aufschlagen. Die Anmeldung ist kürzlich erfolgt, von den zuständigen Behörden gab es noch keine Reaktion.     Derweil sorgt das Thema Rüstung in der Kieler Stadtpolitik schon jetzt für Auseinandersetzungen. Am 13.6. hatte die Fraktion Die Linke/Die Partei in die Kieler Ratsversammlung einen Antrag unter dem Titel »Ostsee: Meer des Friedens« eingebracht. Dort fordert die Fraktion, die Ablehnung sämtlicher militärischer Übungen auf der traditionsreichen Kieler Woche. Dort haben sich in den vergangenen Jahren immer auch die Bundeswehr und die Nato in Szene gesetzt. Für die CDU erklärte deren Ratsmitglied Antonia Grage: »Dieser Antrag, dessen Überschrift blanker Hohn angesichts des Inhalts ist, ist mit seiner Zielsetzung in Gänze abzulehnen«. Die CDU polemisierte mit der Parole »Wir stehen zu unserer Bundeswehr« dagegen und erklärt: »Als CDU-Ratsfraktion freuen wir uns über die Präsenz der Bundeswehr auf der Kieler Woche und über die lokal ansässigen Rüstungsunternehmen, die zur Wertschöpfung in Kiel beitragen«. Mit dieser Auseiandersetzung wird schon deutlich, dass das Camp auch für die Antimilitarist*innen in Kiel eine Unterstützung sein kann, gerade in Zeiten, in den bei den Rüstungskonzernen die Aktien steigen. Erst kürzlich wurde bekannt, dass die Bundeswehr dem Rheinmetall-Konzern einen Auftrag von 8,5 Milliarden erteilt hat.  Erst kürzlich wurde bekannt, dass die Bundeswehr Rheinmetall einen Auftrag von 8,5 Milliarden erteilt hat.
Peter Nowak
Vom 3. bis 8. September planen Antimilitaristen ein Camp unter dem Motto »Kiel entwaffnen – Rüstungsindustrie versenken«. Die Aktionstage sollen mit einer überregionalen Demonstration am 7. September in Kiel enden.
Bundeswehr, CDU, Kiel, Schleswig-Holstein
Politik & Ökonomie
Politik Antikriegsbewegung
2024-07-14T15:41:46+0200
2024-07-14T15:41:46+0200
2024-07-22T13:44:37+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1183700.antikriegsbewegung-kiel-entwaffnen-n-ruestungsindustrie-versenken.html
Anwalt des Globalen Südens
Mit dem Sieg von Luiz Inácio Lula da Silva über den Rechtsextremen Jair Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren hat Brasilien nicht nur innenpolitisch ein neues Kapitel aufgeschlagen. Unter dem Mitgründer der Arbeiterpartei (PT) knüpft die Diplomatie des größten Staates Südamerikas wieder bei der souveränen und selbstbewussten Außenpolitik an, die vor zwei Jahrzehnten während der ersten beiden Amtszeiten von Lula und unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff prägend war. Der bevorstehende 19. G20-Gipfel der mächtigsten Akteure in der politischen Weltarena in Rio de Janeiro ist dabei ein wichtiger Schritt. Er fällt in eine Zeit, in der die Missachtung des internationalen Rechts mit den Konflikten in der Ukraine und Israels Krieg im Nahen Osten eine gefährliche neue Qualität angenommen hat. Die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus, wo der Aufstieg Chinas als Bedrohung der hegemonialen Rolle der USA betrachtet wird, verstärkt die Ungewissheit über kommende Entwicklungen. Am Rande des Treffens werden eine Reihe bilateraler Gespräche zwischen den Spitzenpolitikern stattfinden. So wird am Dienstag Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Chinas Staatschef Xi Jinping zusammentreffen, der Brasilien gleichzeitig einen Staatsbesuch abstattet. Nach Rio reisen wird auch der scheidende US-Präsident Joe Biden. Zunächst begünstigt durch hohe Preise für seine Exportgüter auf dem Weltmarkt, war die Wirtschaft des Schwellenlandes Brasilien während der PT-Ära gewachsen und auch sein internationales Gewicht. Große Sozialprogramme wurden finanziert; der steigende Massenkonsum kurbelte den Aufschwung mit an. Dieser Aufstieg des Landes fand seit 2009 seinen Ausdruck auch als Teil des Brics-Bündnisses aufstrebender Wirtschaftsnationen, als Alternative zum Block der führenden westlichen Industriestaaten. Unter dem 2016 durch einen Parlamentsputsch installierten de-facto-Präsidenten Michel Temer und Staatschef Bolsonaro verlor Brasilien international beträchtlich an Prestige und Einfluss. Von Trump-Nacheiferer Bolsonaro an die Spitze des Itamaraty, des brasilianischen Außenministeriums, beförderte Ideologen wurden vom diplomatischen Dienst ausgesessen. Die nun wieder aktivere Rolle auf der Weltbühne und bei der regionalen Integration bedeutet keine Aufgabe des traditionellen Kurses einer Neutralität gegenüber den Großmächten und einer nüchtern an den eigenen Interessen orientierten Politik. Entsprechend lässt sich Brasilien, das den vom Kreml gestarteten Angriff auf die Ukraine als Stellvertreterkrieg der USA mit Russland sieht, auch nicht in den Block des Westens als Partei hineinziehen. Zudem importiert Brasilien aus Russland Erdölprodukte und für sein Agrarbusiness wichtigen Kalidünger aus Belarus. Statt Waffen und Munition für Kiew zu liefern, startete Lula umgehend eine Friedensinitiative für eine diplomatische Lösung des Konflikts und positionierte sein Land als Vorsprecher des Globalen Südens. Für dessen Entwicklung sind die großen Krisen und die Embargopolitik ein Hemmnis mit gravierenden Folgen für die Bevölkerungen. Auch Brasilien selbst braucht für seine Handlungsbeziehungen – auch für die von der Regierung Lula anvisierten Ziele bei der sozialen und ökologischen Entwicklung – eine Entspannung der Weltlage. Auch nach der Abwahl von Bolsonaro ist die brasilianische Gesellschaft stark polarisiert, besitzen konservative und rechtsextreme Kräfte breiten Rückhalt und beherrschen den Kongress. Der Gipfel in Rio de Janeiro wartet mit einer von Brasilien, das in diesem Jahr den Vorsitz der G20 innehat, initiierten Neuerung auf. Als neue Säule vorgeschaltet war ihm das Meeting von Vertretern von Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen aus aller Welt »G20 Social«, das vom vergangenen Donnerstag bis Samstag in der Stadt am Zuckerhut abgehalten wurde – eine Art Weltsozialgipfel von oben. Zum Themenspektrum gehörten die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, der Schutz der Biodiversität, die Lage von Migranten, der Kampf gegen Rassismus und für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsleben. Vor fünf Jahren war Lula nach 580 Tagen Haft infolge eines politisch motivierten Urteils in einem manipulierten Prozess mithilfe des Obersten Gerichtshofes wieder in Freiheit gelangt und startete ein unvergleichliches politisches Comeback. Keine andere Person des öffentlichen Lebens in Brasilien und im dortigen linken Spektrum besitzt eine vergleichbare Popularität wie der aus einfachsten Verhältnissen stammende frühere Gewerkschaftsführer. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung verbindet mit Lula weiter den millionenfachen Aufstieg aus der Armut und die Verbreiterung von Bildungschancen in einer von rassistischer Benachteiligung geprägten Gesellschaft, mit einem weiter extrem ungleich verteilten Reichtum. Für andere verkörpert der linke Politiker den Angriff auf ihre realen oder symbolischen Privilegien. Während sich die Mitte von Lulas laufender Amtszeit nähert, zeigt der Armutsindex für Lateinamerika für 2023 vor allem wegen Brasilien und dessen Sozialpolitik eine Verringerung an. Gegenüber dem Vorjahr reduzierte sich in der Region der Anteil der Armen an der Bevölkerung nach den Zahlen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) um 1,5 auf 27,3 Prozent. Das ist im Wesentlichen auf direkte Transferleistungen für arme Familien in Brasilien, wo ein Drittel aller Lateinamerikaner lebt, zurückzuführen, stellte ECLAC fest. Die meisten Länder der Region würden weiterhin viel zu wenig in die Beseitigung der strukturellen Armut investieren. Auch auf dem anstehenden G20-Gipfel will Brasilien Umverteilung zum Thema machen, durch die Vereinbarung einer globalen Mindeststeuer für Milliardäre. Demnach sollen künftig die individuell bisher kaum herangezogenen Superreichen jährlich mit mindestens zwei Prozent ihres Vermögens besteuert werden, um den weltweiten Kampf gegen die Armut zu finanzieren. Bis zu 250 Milliarden US-Dollar könnten so eingenommen werden. Im August hatten die G20-Finanzminister in einer Absichtserklärung erklärt, sich um eine effektivere Besteuerung der Reichsten der Reichen bemühen zu wollen. Angesichts der Verquickung von Oligarchen und Politik dürfte die praktische Umsetzung des Vorschlages noch auf viele Hürden treffen.
Peter Steiniger
Am Montag und Dienstag treffen sich in Rio de Janeiro die Staats- und Regierungschefs führender Industrie- und Schwellenländer. Brasilien möchte den Blick auf die Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung lenken.
Armut, Brasilien, G20, USA
Politik & Ökonomie
Politik G20-Gipfel in Rio
2024-11-17T17:00:19+0100
2024-11-17T17:00:19+0100
2024-11-24T23:24:51+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1186837.anwalt-des-globalen-suedens.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Mehr offener Judenhass
Judenhass wird in Deutschland zunehmend durch strafrechtlich relevantes Verhalten ausgelebt. So wurden dem Bundeskriminalamt (BKA) im ersten Quartal dieses Jahres 793 antisemitische Delikte gemeldet, darunter 14 Gewalttaten. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linke-Bundestagsabgeordneten Petra Pau hervor. Zum Vergleich: Im Vorjahr waren es zum Meldezeitpunkt Mitte Mai noch 379 Straftaten, darunter acht Gewalttaten. Die Zahl wurde später noch auf 643 Taten hochkorrigiert – eine seit Jahren übliche Nachmeldung aufgrund verzögerter Zuordnung seitens der Polizei. Auch in diesem Jahr ist entsprechend von einem noch stärkeren Anstieg auszugehen. Neben dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, verurteilten auch die Innenminister der Länder den zunehmend offenen Hass. Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) erklärte, allein in seinem Bundesland seien im vergangenen Jahr 347 antisemitische Straftaten registriert worden – ein Anstieg um 224 Prozent gegenüber 2022. Poseck rügte insbesondere propalästinensische Demos: »Die öffentliche und fortgesetzte Leugnung des Existenzrechts Israels auf unseren Straßen – auch durch die Parole ›From the River to the Sea‹ – muss ein Ende haben.« Auf Bundesebene werden nach Angaben der Bundesregierung im ersten Quartal 381 Straf- und vier Gewalttaten der »rechten Szene« zugeordnet. 242 Straf- und drei Gewalttaten seien aus Motiven einer »ausländischen Ideologie« begangen worden. Aus einer »linkspolitischen« Motivation heraus wurden demnach zwölf Straftaten verübt, darunter war eine Gewalttat begangen. 82 Straf- und drei Gewalttaten wurden demnach einem »religiösen« Motiv zugeordnet. Vor allem wurden Volksverhetzung oder das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wie etwa des Hakenkreuzes verfolgt. Einen Schwerpunkt bildeten auch Sachbeschädigung und gefährliche Körperverletzung. Häufig kam es auch zum Straftatbestand der Belohnung und Billigung von Straftaten, worunter auch die Glorifizierung des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023 fallen kann. Die dienstälteste Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau fragt seit 19 Jahren für jedes Quartal die Zahl der antisemitischen Straftaten ab. Gegenüber »nd« sagte sie: »In den vergangenen Wochen kam es erneut zu zahlreichen antisemitischen Attacken. Zuletzt auch in meinem Wahlkreis. In Biesdorf haben Unbekannte einen jüdischen Mann massiv beschimpft und beleidigt und anschließend einen Hitlergruß gezeigt. Die Bedrohung und Gewalt gegen jüdische Menschen sind seit dem 7. Oktober extrem hoch.« Pau weiter: »Was sich bei tätlichen Angriffen Bahn bricht, hat eine völlig neue Qualität. Die Phrase ›Antisemitismus hat keinen Platz in unserer Gesellschaft‹ ist Unsinn. Der Judenhass hatte leider immer Platz.« Nun seien Maßnahmen und Einsatz statt Phrasendrescherei gefragt. Pau kritisiert auch die gesellschaftliche Linke: »Man sah sich leider zu oft auf der richtigen Seite und hat den eigenen Antisemitismus nie deutlich genug aufgearbeitet.«
David Bieber
Auch im ersten Quartal dieses Jahres wurde ein Anstieg bei judenfeindlichen Delikten registriert. Darunter waren laut Bundesinnenministerium 14 Gewalttaten.
Antisemitismus, Juden, Kriminalität
Politik & Ökonomie
Politik Antisemitismus
2024-05-13T16:28:14+0200
2024-05-13T16:28:14+0200
2024-05-14T13:40:07+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182141.antisemitismus-mehr-offener-judenhass.html
Ostern auf der Schlossinsel
Den schönsten Blick auf Köpenicks barockes Schlösschen, das sich in der Dahme spiegelt, hat der Betrachter von der Langen Brücke aus. Nur ein paar Schritte sind es über den kleinen hölzernen Steg, der die Altstadt mit der Insel verbindet. Schon lässt man den Verkehrslärm hinter sich und taucht in eine mehr als tausendjährige Geschichte. Aber auch unsere Vorfahren aus der Steinzeit wussten schon die herrliche Lage zu schätzen, wie Grabfunde belegen. Überdies hat das Terrain noch einiges mehr zu bieten: Architektur, Kunst und Kultur. Dies eingerahmt in ein Parkidyll. Kein Wunder, dass die Anlage zu den beliebtesten Ausflugszielen in der Region gehört. So nutzten zahlreiche Besucher Ostern die Gelegenheit, Mozartklängen im Aurorasaal zu lauschen oder das einstige hochherrschaftliche Anwesen zu erkunden. Durch zwei Torhäuser, die wie der Palast und die als Konzertsaal dienende Kapelle vis-à-vis seit 2004 im neuen Glanz erstrahlen, gelangt der Gast in den Hof. Ein Rundweg lädt zum Flanieren ein. Hier und da schmücken bunte Tupfer die Landschaft. Zart rosa blüht der Schneeballstrauch und Blaustern breitet sich auf der Wiese aus. Am östlichen Ufer zeigen die Mahonien schon gelbe Knospen. In der Bucht selbst tat sich der Winter schwer, dem Frühling Platz zu machen. »Seit zwei Wochen ist der Fluss endlich eisfrei«, atmet Elektrobootverleiher Hans Melitzke erleichtert auf. Dort, wo sich heute die Solartankstelle befindet, warfen während einer Hungersnot nach dem Dreißigjährigen Krieg Fischerfrauen nachts die Netze aus und überraschten nach der Legende ihre ahnungslosen Männer am Morgen mit reicher Ausbeute. Der Name »Frauentog« erinnert an diesen ungewöhnlichen Fischzug. An warmen Tagen lässt sich das Treiben der Boote auf dem Fluss von der Terrasse des Schlosscafés beobachten. Doch der Park ist nicht nur Schauplatz für Schiffe. Gleich eine ganze Kollektion an Plastiken erfreut den Spaziergänger. So zieren vor der Schlosskulisse Walter Lerches »Kinder mit Schildkröte« den Park. Ein Stück weiter ist die vor allem bei Kindern für Kletterübungen beliebte bronzene Giraffenmutter mit Kind von Hans Henning zu entdecken, und am Westufer hat Hermann-Joachim Pagels frecher »Hühnerdieb« seinen angestammten Platz. Unter alten Weiden, Kiefern und Mammutbäumen lässt es sich auch bei Hitze auf der Insel aushalten. Zudem sind seltene Exemplare wie Schwarznuss, Blutbuche oder Flatterulme zu bewundern. Letztere, am Westufer der Dahme zu finden, hat mit biblischem Alter von 350 Jahren schon viel Prominenz unter ihrem Blätterdach gesehen. So anno 1712, als im einstigen Barockgarten eine zehn Meter hohe Aloe blühte. Auch Zar Peter der Große soll das Prachtexemplar gebührend bestaunt haben. Ein Kupferstich im Souterrain des Schlosses vermittelt einen Eindruck vom Ausmaß dieser Pflanze. Das botanische Wunder hat sich in den nachfolgenden 300 Jahren offenbar nicht wiederholt. Nur wenige Ausflügler wissen, auf welch geschichtsträchtigem Boden sie wandeln. Schon Sammler und Jäger siedelten hier unmittelbar am Zusammenfluss von Dahme und Spree. Erste Burganlagen wurden bereits im 8. und 9. Jahrhundert von den slawischen Wenden errichtet. Das stellten Archäologen fest, nachdem sie bei der Sanierung des Schlosses den Baugrund freilegten. Zudem stießen sie auf Reste einer mittelalterlichen Festung. Auf deren Fundamenten ließ Kurfürst Joachim II. um 1560 ein Jagdschloss im Stil der Renaissance errichten. Diese sensationelle Erkenntnis brachten ausgegrabene Fragmente eines Eckturms aus jener Epoche zutage. Nur 120 Jahre später wurde das Gebäude unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm durch den heutigen Barockbau ersetzt. Als letzter Herrscher aus dem Haus Hohenzollern residierte dessen Sohn, Preußenkönig Friedrich I., auf der Insel. Für Friedrich den Großen dürfte dieser Ort allerdings zeitlebens kaum in erfreulicher Erinnerung gewesen sein: Tagte hier doch 1730 das Kriegsgericht, nachdem seine Flucht nach England gescheitert war. Weil sich der Rat weigerten, den Thronfolger zu verurteilen, entging er dem vom Vater geforderten Tod. Am Ende musste Leutnant von Katte seine Treue zum Kronprinzen in Küstrin mit dem Leben bezahlen. Seit 1963 ist das Gebäude Domizil des Köpenicker Kunstgewerbemuseums. Zu sehen sind Kostbarkeiten, die einmalig in der Welt sein dürften. Zu den Glanzstücken gehört das Silberbüfett aus der Schatztruhe der Hohenzollern. Der mit üppigem Stuck verzierte Wappensaal, der selbige, in dem einst das Schwert des Damokles über dem jungen Friedrich schwebte, zählt zu den schönsten Sälen. Über das Schloss, dessen Bau- und Siedlungsgeschichte informiert eine Dauerausstellung: Geöffnet ist donnerstags bis sonntags, 10 bis 17 Uhr. Der Eintritt beträgt 4, ermäßigt 2 Euro. Tel. 65 66 17 49
Barbara Staacke
Am Ufer der Dahme werden in einer Ausstellung Schätze aus vergangenen Zeiten präsentiert
Ausstellung, Treptow-Köpenick
Hauptstadtregion
Brandenburg
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Milde?
Martin Kusejs Theater ist böse, bilderhart. Tief eingedunkelter Geist. Bürgers Weg: Blindgang auf abschüssiger Rampe. Regisseur Kusej leitet das Bayerische Staatsschauspiel München. Seine zweite Spielzeit wird »weniger radikal« sein. Kunst, die gegensteuerte, übt nun das große Entgegenkommen? Mild statt wild? Kusej kuscht? Nein, Kuscheln findet bestimmt nicht statt. Aber Tendenz, die findet statt. Wegen der Quote in Sparzeiten geht also ein Meister in die Schule des Publikums: Wes Brot ich ess, des Weltbild mal ich. Theater lernt von Galerien: Kunst kann man kaufen. Sabine Stefan
Redaktion nd-aktuell.de
Kusejs Theater
Theater
Feuilleton
Kultur
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Wirtschaft zieht sich aus Wohnbündnis zurück
Berlin. Aus Verärgerung über den Klimaschutzplan 2050 hat die Immobilienwirtschaft ihre Zusammenarbeit mit der Bundesregierung im Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen auf Eis gelegt. Angesichts der »Mehrbelastung für den Gebäudesektor« gebe es »vorerst keine Grundlage mehr für eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit«, teilten mehrere Verbände am Mittwoch mit. Grund sei die Verschärfung der Einsparziele im Gebäudesektor um acht Millionen Tonnen CO2 bis zum Jahr 2030, die Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) kurzfristig veranlasst habe. Bis Ende Januar solle geklärt werden, wie ein »gemeinsamer Weg« gefunden werden könne. Bis dahin werde die Mitarbeit der Bundesarbeitsgemeinschaft Immobilienwirtschaft Deutschland (BID) und des Eigentümerverbands Haus & Grund stillgelegt. Die Regierung will bis 2050 einen »nahezu klimaneutralen Gebäudebestand« erreichen. Als Zwischenziel nennt der Plan für 2030 eine Senkung der Treibhausgasemissionen von Gebäuden auf 70 bis 72 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
CO2, Immobilie
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
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Czaja: Ärzte sind gerechter verteilt
Seit 2013 versucht Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) mit Verbündeten, Ärzte mit sanftem Druck und Überzeugung dahin zu lotsen, wo sie dringender gebraucht werden. In den vergangenen drei Jahren seien 158 Praxen in Bezirke verlegt worden, die vorher eher unterdurchschnittlich versorgt waren, sagte der Senator am Mittwoch. Das sei ein erster Erfolg. Bei 6000 Praxen und 9000 niedergelassenen Ärzten in der Hauptstadt wirkt die Zahl nicht besonders groß. Doch pro Jahr werden nur 200 bis 300 Arztsitze frei und nicht mehr als 60 bis 80 ziehen aus eigenem Antrieb um. Die Eröffnu... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Ulrike von Leszczynski
Arztpraxen sind nicht immer unbedingt dort, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Seit 2013 versucht der Gesundheitssenator eine Trendwende. Nun sieht er erste Erfolge.
Berlin, Rundfunkabgabe
Hauptstadtregion
Berlin
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Absurdes Feindbild BBC
Die Ankündigung der britischen Kulturministerin kam nicht eben überraschend. »Die BBC-Rundfunkgebühr wird für die kommenden zwei Jahre eingefroren«, sagte Nadine Dorries am Montag im Unterhaus. Das heißt, dass die jährliche Gebühr, die alle britischen Haushalte entrichten müssen, bis 2024 nicht gemäß der Inflation heraufgesetzt wird - was einer drastischen Diät für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gleichkommt. Die Sendeanstalt BBC hatte einen Angriff auf ihre Finanzen erwartet. Denn die Tories haben es seit langer Zeit auf die Öffentlichen abgesehen: Sie halten die BBC für einen ideologischen Gegner, einen einflussreichen noch dazu, und sie trachten seit vielen Jahren danach, der Organisation die Flügel zu stutzen. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Bei konservativen Briten gilt die BBC als unpatriotisch, linksliberal, auf London fokussiert, pro-europäisch und deshalb unfähig, die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung wiederzugeben - »abgehobene Champagner-Sozialisten«, wie es das Revolverblatt »The Sun« formuliert. In den vergangenen Jahren, spätestens seit dem Brexit und den darauffolgenden Kulturkämpfen, haben solche Angriffe einen Höhepunkt erreicht. Dabei geht es um einen Streit zwischen Vertretern traditioneller Werte - Familie, Nation, Armee - und jenen, die für die Rechte sexueller Minderheiten einstehen, die gegen Rassismus auf die Straße gehen oder einen ungeschönten Umgang mit der imperialen Vergangenheit Großbritanniens fordern. Laut ihren Kritikern zählt die BBC zu dieser Seite. Nach dem Wahlsieg von 2019 boykottierte Boris Johnsons Regierung eine Zeit lang das prominente Radio-Nachrichtenprogramm »Today« - und zwar weil die BBC die Tories während des Wahlkampfs unfair behandelt habe. Diese Anschuldigung lässt sich jedoch kaum erhärten, im Gegenteil: Wie der konservative Journalist Peter Oborne damals schrieb, habe die Art der Wahlberichterstattung - die Themenwahl sowie die Prominenz, die gewissen Vorfällen eingeräumt wurde - eher den Tories genützt. Das gilt auch für die BBC-Berichterstattung im Allgemeinen. Dass die Organisation eine linke Schlagseite habe, ist durch keinerlei Beweise belegt. Die Angestellten mögen in gesellschaftlichen Fragen eher dem linksliberalen Spektrum angehören, aber insgesamt vertritt die BBC eher eine konservative, regierungstreue Weltsicht. Zu diesem Schluss kommen zahlreiche Studien, die die Medienwissenschaftler Patrick Barwise und Peter York in ihrem Buch »The War Against the BBC« (2020) zitieren. Der heutige Vorsitzende der BBC, Richard Sharp, ist ein Geldgeber der Tory-Partei, und der Generaldirektor Tim Davie, der sein Amt im September antrat, war früher ein Tory-Gemeinderat. Dennoch bleibt die BBC das Feindbild der Regierung und ihrer Unterstützer in der konservativen Presse. Vor einigen Tagen schrieb ein prominenter Kolumnist im »Daily Telegraph«, die BBC habe sich im Streit um die Lockdown-Verstöße des Premierministers »wie Fox News für Linke« verhalten. Das Einfrieren der Rundfunkgebühr ist ein erster Schuss vor den Bug der BBC. Und das wird Folgen haben: In den kommenden zwei Jahren muss die Organisation Einsparungen von mehreren hundert Millionen Pfund vornehmen. Die Rundfunkgebühr beträgt derzeit 159 Pfund pro Jahr und Haushalt, also etwa 200 Euro. Daraus finanziert die BBC rund drei Viertel ihres Einkommens, das derzeit bei etwa 5 Milliarden Pfund pro Jahr liegt. Bereits im Lauf des vergangenen Jahrzehnts sind die finanziellen Mittel der BBC drastisch geschrumpft; inflationsbereinigt muss sie heute mit 30 Prozent weniger Geld auskommen als 2010. Die Tories spielen auch seit langer Zeit mit der Idee, das gesamte Gebührenmodell der BBC über Bord zu werfen. Bis 2027 ist die Finanzierung über die Gebühren gesichert - dann läuft die entsprechende Gesetzesgrundlage aus. »Wie das künftige Finanzierungsmodell aussieht, ist Gegenstand von Diskussionen«, sagte Nadine Dorries diese Woche. Manchen Tories schwebt vor, dass man stattdessen BBC-Abonnements einführen könnte, so wie bei Netflix, oder dass der Rundfunk über einen staatlichen Zuschuss finanziert wird. Aber alle diese Varianten hätten zur Folge, dass die BBC wesentlich kleiner werden müsste. Ob die Briten eine geschrumpfte BBC schätzen würden, ist eine andere Frage. Denn deren Programme sind nach wie vor sehr beliebt bei der Bevölkerung. Die Londoner »Financial Times« merkt zu den Absichten der Regierung an: »Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten ist die BBC eine wesentliche Säule des britischen Kulturlebens und eine der bekanntesten Exportmarken des Landes.« Eine Umfrage von 2020 ergab, dass 62 Prozent der Bevölkerung die BBC als vertrauenswürdigste Nachrichtenquelle ansehen - damit schneidet sie mit großem Abstand besser ab als alle anderen Medienorganisationen.
Peter Stäuber, London
Die Ankündigung der britischen Kulturministerin kam nicht eben überraschend. »Die BBC-Rundfunkgebühr wird für die kommenden zwei Jahre eingefroren«, sagte Nadine Dorries im Unterhaus. Das kommt einer drastischen Diät für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gleich.
BBC, Großbritannien
Politik & Ökonomie
Politik Kulturkampf in Großbritannien
2022-01-20T17:52:01+0100
2022-01-20T17:52:01+0100
2023-01-20T19:31:27+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160627.kulturkampf-in-grossbritannien-absurdes-feindbild-bbc.html?sstr=BBC
Erneut oppositioneller Bürgermeister abgesetzt
Während die Türkei außenpolitisch auf Tauwetter gegenüber Deutschland und anderen EU-Staaten setzt, wird die Unterdrückung der Opposition und der Medien im Inland mit jedem Tag intensiver. Am Donnerstag verurteilte ein Gericht in Diyarbakir den ehemaligen Fraktionschef der linken Oppositionspartei HDP, Idris Baluken, wegen der »Mitgliedschaft in und Propaganda für« die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu 16 Jahren und acht Monaten Haft. Am selben Tag wurde der Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Besiktas, Murat Hazinedar, vom Innenministerium in Ankara abgesetzt. Er gehört der größten Oppositionspartei CHP an. Zusammen mit Hazinedar wurden auch zwei CHP-Stadträte abgesetzt. Besiktas ist ein relativ wohlhabendes Stadtviertel mit 190 000 Einwohnern am Ufer des Bosporus. Im Ausland ist vor allem der gleichnamige Fußballverein bekannt. Im Jahr 2014 war Murat Hazinedar mit 76 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Besiktas gewählt worden. Der Kandidat der regierenden AKP erhielt damals lediglich 16 Prozent der Stimmen. Das Innenministerium begründet nun die Absetzung Hazinedars mit gegen ihn anhängigen Untersuchungen. Zugleich wurden Ausreisesperren nicht nur gegen Hazinedar, sondern auch gegen seine Ehefrau und seinen Sohn verhängt. Die Liste der Vorwürfe gegen Hazinedar ist lang: So soll er für Dienstleistungen der Gemeinde »Geschenke« verlangt haben, Geschäftsleute zu Zahlungen gezwungen haben. Er soll ungesetzliche Ausschreibungen gemacht haben und am Gesetz vorbei Genehmigungen erteilt haben. Er soll außerdem staatliches Eigentum für private Zwecke gebraucht haben. Und vor allem soll Murat Hazinedar Mitglied der »bewaffneten Terrororganisation FETÖ/YPG« sein. Besagte Terrororganisation ist ein Konstrukt türkischer Staatsanwälte. FETÖ steht für »Fethullah Gülen Terrororganisation«. Gemeint sind alle Anhänger des pensionierten Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Putschversuch am 15. Juli 2016 verantwortlich macht. Die laizistische CHP war gegenüber Gülen immer kritisch eingestellt, ganz im Gegensatz zu Erdogan selbst, der die Gülen-Anhänger lange Zeit gefördert hat. YPG steht für »Volksverteidigungseinheiten« und meint den bewaffneten Arm der Partei der demokratischen Union (PYD) in Syrien. Die mehrheitlich aus Kurden bestehenden Verbände der YPG kämpfen an der Seite anderer syrischer Gruppen und der USA erfolgreich gegen den Islamischen Staat. Die YPG steht der PKK nahe. Um sie deshalb mit den Anhängern Gülens als eine Organisation zu bezeichnen, bedarf es aber schon einer Menge Verschwörungstheorie. Das Vorgehen gegen die CHP-Bürgermeister von Besiktas mag auch von Problemen in den eigenen Reihen ablenken. Zum Jahreswechsel musste die Stadtverwaltung von ganz Istanbul, die seit über zwei Jahrzehnten von Erdogans AKP, beziehungsweise von einer Vorgängerpartei geleitet wurde, zugeben, dass die Kassen leer sind. Der bereits an Unternehmer vergebene Bau von sechs U-Bahnlinien wurde gestoppt; Verträge mussten annulliert und Arbeiter entlassen werden. Trotzdem gehen die Arbeiten an Erdogans Prestigeprojekt, dem dritten Flughafen Istanbuls, der der größte Flughafen der Welt werden soll, weiter. In den vergangenen Monaten hatte Erdogan auch einige AKP-Bürgermeister zum Rücktritt gezwungen, so die von Istanbul und Ankara, um die Positionen mit anderen Gefolgsleuten zu besetzen. Auch im Südosten des Landes wurden 2016 zahlreiche Bürgermeister inhaftiert und stattdessen Stadtverwalter eingesetzt.
Jan Keetman
Präsident Erdogan weilt in Paris, der Außenminister besucht Deutschland. Unterdessen wurde ein CHP-Bürgermeister in Istanbul abgesetzt und der Ex-Fraktionschef der HDP zu fast 17 Jahren Haft verurteilt.
AKP, Türkei
Politik & Ökonomie
Politik Repression in der Türkei
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1075326.erneut-oppositioneller-buergermeister-abgesetzt.html