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Krake der Wall-Street
An der Wall Street nennt man Goldman Sachs einen »Vampir-Kraken« – ein Tiefseemonster, das im Dunkeln seine Opfer mit Fangarmen festhält und ihnen den Lebenssaft aussaugt. Der Name bürgerte sich 2009 ein, als Analysten mit Erstaunen sahen, wie Goldman massive Gewinne auswies, während der Rest der Wall Street litt und die Arbeitslosigkeit in den USA durch die Decke schoss. Jetzt, da Goldman Sachs von der Börsenaufsicht SEC Betrug gegenüber Anlegern vorgeworfen wird, bekommt dieser Ausdruck eine neue Bedeutung. Viele Amerikaner sehen einen Beweis dafür, dass Goldmans Tentakeln zu tief ins wirtschaftliche und politische System reichen. »Das erste, was man über Goldman Sachs wissen muss, ist, dass sie überall sind«, schrieb Matt Taibbi im vergangenen Jahr im Magazin »Rolling Stone«, wo der Titel »Vampir-Krake« kreiert wurde. Seit Jahren waren die Verbindungen der wohl mächtigsten Investmentbank der Welt in Was-hington und darüber hinaus bekannt gewesen, wenn auch nicht deren Ausmaß. Nun wird das von der Bankenaufsicht angestrengte Verfahren als ein Ersatz-Duell zwischen der Bank und ihren Kritikern angesehen. Diese Kritiker sind oft dieselben, die eine durchgreifende Finanzreform verlangen. »Goldman hat in der öffentlichen Meinung einen regelrechten Absturz erlitten«, sagt Eric Jackson, der in Florida eine Investmentfirma betreibt, die auf ethisch einwandfreie Anlagen setzt. »Das ist ein hinreichender Grund, Dinge zu verändern.« Und auch bei Goldman selbst gibt man zu, dass man ein Problem mit dem Ansehen hat. Die SEC wirft Goldman vor, gemeinsame Sache mit dem Hedgefonds-Manager John Paulson gemacht zu haben, um hypothekengebundene Anlagen zu verkaufen, während dieser auf einen Kursabsturz wettete. Viele Amerikaner sehen solche Geschäfte als typisch für das Verhältnis von Wall Street und »Mainstreet« – Normalbürgern und Mittelstand – an. »Goldman Sachs betrachtet sich wahrscheinlich als eines der Unternehmen, die zu groß – oder zu wichtig – sind, um zu scheitern«, schreibt John Crudele in seiner an der Wall Street viel gelesenen Kolumne in der »New York Post«. »Dabei ist man einfach zu gierig, um zu existieren.« Diesmal könnten auch die engen politischen Verbindungen nicht ausreichen, um das Haus vor empfindlichen Strafen zu schützen. In der Vergangenheit galten diese Beziehungen als Garant für den Erfolg. Die Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush beriefen ehemalige Spitzenmanager von Goldman zum Finanzminister. Der Chef der New Yorker Filiale der US-Notenbank ist ebenso ein Ex-Goldman-Manager wie der frühere Gouverneur von New Jersey. Politische Verbindungen sind die eine Seite des Einflusses. Der Investmentbank wird auch vorgeworfen, für die Erdöl-Blase von 2007 mit verantwortlich zu sein und Griechenland geholfen zu haben, seine Staatsschulden zu verschleiern. Aber Goldman schien bisher über allen Vorwürfen zu thronen. Vorstandschef Lloyd Blankfein meinte einmal vor Reportern auf die Frage, ob man in der Krise bei hohen Boni keine Schuldgefühle habe: »Wir tun Gottes Werk.« Goldman Sachs ist die mit einem Umsatz von 45,2 Milliarden Dollar und 32 500 Mitarbeitern größte Investmentbank in den USA. 1869 von einem deutschen Auswanderer in New York gegründet, expandierte man zunächst im Wertpapierhandel. Die Bank war als Hauptanbieter geschlossener Fonds Mitauslöser des Börsencrashs von 1929. Nach dem Krieg setzte man mehr auf die Begleitung von Börsengängen und das Platzieren von Kommunalanleihen. In den 80er Jahren begann die internationale Expansion. Im Zuge der Finanzkrise gab Goldman Sachs den Sonderstaus als Investmentbank auf, wobei dieser Geschäftszweig aber weiter dominiert. ND
John Dyer, Boston
Goldman Sachs ist für viele Amerikaner zum Symbol für alles Negative an der Wall Street geworden. Die Investmentbank scheint immer zu gewinnen, was auch kommt.
Goldman Sachs
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/169769.krake-der-wall-street.html
Alternativen zum Fleisch auf dem Teller
Kaum ein Thema spaltet Konsumenten und Produzenten so sehr wie das Produkt Fleisch. Klimaschädlich, qualvoll, ungesund und miese Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen – billiges Fleisch hat seinen Wohlstandsruf längst verloren. Der Fleischkonsum in Deutschland nimmt seit Jahren ab, wenn auch langsam. Damit sich hier noch mehr bewegt, beschäftigt sich der vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebene Fleischatlas in diesem Jahr mit »Rezepten für eine bessere Tierhaltung«. In technologischen Lösungen wie Laborfleisch sieht Barbara Unmüßig von der Heinrich-Böll-Stiftung eher »Ablenkungsmanöver«. Schließlich wird in Deutschland sowohl zu viel Fleisch gegessen als auch produziert. Sie plädiert für politische Ansätze wie das Tierwohllabel. Untersucht werden auch steuerpolitische Instrumente wie eine veränderte Mehrwertsteuer: Auf die meisten Grundnahrungsmittel, so auch auf Fleisch und Milch, wird der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent erhoben. Würde dieser auf 19 Prozent steigen, wäre Fleisch im Vergleich teuer. Die Autoren erwarten dadurch einen »leichten Rückgang des absoluten Fleischkonsums«, warnen aber, dass der Preis von teurem Fleisch stärker steigen würde. »Dann würde es sich noch mehr lohnen, billiges Discounterfleisch zu kaufen.« Eine weitere Maßnahme wäre ein gemäßigter Mehrwertsteuersatz für Lebensmittel wie Hafer- und Sojadrinks. Zwar sind Sonderangebote für Fleisch weiter in den Werbebroschüren zu finden, doch einige Supermärkte haben diese auf hintere Seiten verbannt oder präsentieren Steak und Kotelett gemeinsam mit Gemüse und Salat. Würde sich der Einzelhandel darauf verständigen, auf solche Sonderangebote zu verzichten, könnte sich auch die Wahrnehmung der Kundschaft von den Kosten der Tierhaltung wandeln, heißt es im Fleischatlas. Insgesamt plädiert der Fleischatlas vor allem für Verzicht: »Weniger und dafür besser ist die Losung«, sagte der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger. Das lässt auch Platz für neue Weideformen oder Direktvermarktung. Und für neue Proteinquellen: Insekten werden an vielen Orten gegessen. In Belgien, den Niederlanden und der Schweiz finden sich entsprechende Produkte seit 2017 in den Supermärkten. had
Haidy Damm
Deutschland produziert und isst zuviel Fleisch, sagen die Herausgeber des Fleischatlas. Deswegen soll die Mehrwertsteuer für Fleischprodukte steigen.
Fleisch, Konsum, Mehrwertsteuer, Tierhaltung, Vegetarische Ernährung
Politik & Ökonomie
Politik Fleischatlas
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1075767.fleischatlas-alternativen-zum-fleisch-auf-dem-teller.html
Neuer Trainer, alte Fehler
Es war ein seltsamer Impuls, dem Marco Rose während seines ersten Statements nach dem bislang schmerzlichsten Erlebnis als Trainer von Borussia Dortmund folgte. »Wenn es einfach reicht, in so einem wichtigen Spiel in der Champions League kompromissloser und konsequenter zu sein, dann hat man es sich verdient«, sagte er nach der 3:1-Niederlage bei Sporting Lissabon, in deren Folge Dortmund aus dem Wettbewerb ausgeschieden ist. Diese Worte enthielten nicht nur Selbstkritik, sondern auch einen leisen Vorwurf an den Gegner, der mit begrenzten Möglichkeiten und einem Otto-Rehagelschen Pragmatismus in die K.o.-Runde eingezogen ist. Roses Augen blitzten gefährlich, als ob er es für verwerflich hält, diesen so glanzvoll strahlenden Wettbewerb mit langen Bällen aus der Abwehrkette an den gegnerischen Strafraum zu beschmutzen, die dann auch noch - wie vor Pedro Goncalves’ 1:0 (30.) - zu Toren führen. Vielleicht hätte jedoch auch den dauerhaft von Verletzungen gebeutelten Dortmundern in diesem schwierigen Spiel ein weniger fehleranfälliger Spielansatz geholfen. Die Hauptursachen für diese folgenschwere Niederlage sind schließlich schon lange gut bekannt. »Wir diskutieren in dieser Saison immer wieder über die gleichen Fehler«, sagte Marco Reus in Anspielung auf die chronische Neigung seines Teams zu kleinen Unaufmerksamkeiten, zu technischen Fehlern, und zur Nachlässigkeit beim Verteidigen wie vor Goncalves’ 2:0 (39.). Nur ein einziges Mal spielte der BVB im laufenden Spieljahr in der Bundesliga zu Null, in der Champions League sind elf Gegentreffer in fünf Partien einfach zu viel, und irgendwann formulierte Reus einen Satz, der sogar noch eine Ebene tiefer reicht. »Wenn wir mal eine gute Phase haben, kommt dann so was wie heute raus oder in Amsterdam. Und das wirft uns in unserer Entwicklung zurück, weil wir einfach nicht draus lernen.« Das ist ein hartes Urteil zu einem Klub, der eigentlich weltweit bewundert wird, weil hier ein besonders gutes Lernklima herrscht und immer wieder junge Spieler zu großen Stars reifen. Dieser Prozess ist ins Stocken geraten, seit Marco Rose Cheftrainer ist. Lucien Favre hat in seinen zweieinhalb Jahren beim BVB dreimal das Achtelfinale der Königsklasse erreicht, nun ist der Klub zum ersten Mal seit 2017 wieder in der Gruppenphase gescheitert. Das schmerzt sportlich; in dieser wirtschaftlich angespannten Gesamtlage aber auch finanziell. Ob und zu welchen Anteilen die Arbeit des Trainers zu den Ursachen für diese Enttäuschung zählt, die Rose selbst als »Einschnitt« bezeichnete, lässt sich allerdings nur schwer sagen. Denn seit dieser Trainer in Dortmund arbeitet, fehlten ständig mehrere wichtige Spieler. Rose ist ein Verwalter des Mangels. Jungstar Erling Haaland ist sowieso nicht zu ersetzen, auch die unberechtigte rote Karte für Mats Hummels beim 1:3 gegen Amsterdam prägte diese Gruppenphase. Das noch größere Problem war aber die Masse der Ausfälle. In den ersten drei Monaten der Saison waren zwei Drittel der Startelfkandidaten irgendwann verletzt oder krank, und wenn die Genesenen zurückkommen, fehlen Fitness und Spielpraxis. Das zählt sicher zu den Gründen dafür, dass Nico Schulz, der zuvor wochenlang ausgefallen war, nach ordentlichem Beginn in Lissabon durch eine völlig missratene Ballannahme das 0:1 einleitete. Schulz war nur ins Team gerückt, weil der ebenfalls ständig mit seinen sensiblen Muskeln kämpfende Raphael Guerreiro sich beim Aufwärmen mit neuen Problemen krankgemeldet hatte. Das 3:0 (Pedro Porro per Elfmeternachschuss, 81.) ermöglichte Dan-Axel Zagadou durch ein vollkommen unnötiges Foul im Strafraum. Er war nach einer monatelangen Pause auch erst vier Minuten für die erste Mannschaft im Einsatz. Derlei Fehler lassen sich mit fehlender Spielpraxis also erklären. Und dass Emre Can in einer weiteren Schlüsselszene des Spiels die rote Karte sah, passte zu dieser insgesamt völlig missratenen Champions-League-Saison. Der Platzverweis war zwar umstritten, denn die Fernsehbilder hinterließen eher den Eindruck, dass Can Pedro Porro mit seiner verärgerten Wischbewegung nach einem Zweikampf gar nicht getroffen hatte (74.), Rose jedoch sagte: »Fakt ist, dass wir den Schiedsrichter einfach nicht in so eine Situation kommen lassen sollten, das entscheiden zu müssen.« Can ist als erfahrener Spieler eigentlich für genau solche Partien verpflichtet worden, an diesem Abend war er aber nicht zum ersten Mal Teil des Problems. Dass Donyell Malen in der Nachspielzeit zum 3:1 traf und die Mannschaft bis zum 1:0 »ordentlich im Spiel« war, wie Rose anmerkte, tröstete niemanden. Lissabon war »einfach kompromissloser und konsequenter in bestimmten Situationen«. Diese Beobachtung klang verdächtig nach der in Dortmund so verhassten Mentalitätsdebatte, aber in diesem Herbst spielen so viele Faktoren eine Rolle, dass exakte Analysen für Beteiligte wie Beobachter gleichermaßen schwer sind. Und es bleibt ja noch die Europa League, die sich zunächst einmal zweitklassig anfühlt. Aber in diesem Wettbewerb zählen die Dortmunder nun zu den Titelkandidaten. So könnte dieser instabile BVB im kommenden Jahr noch viele spannende Spiele in Europa bestreiten anstatt nur zwei Achtelfinalduelle in der Königsklasse gegen irgendein Team, dass zu stark ist für Marco Roses Projekt.
Daniel Theweleit
Die 1:3-Niederlage bei Sporting Lissabon spiegelt den Saisonverlauf der Dortmunder Fußballer eindrucksvoll wider. Ohne Spielpraxis machen sie oft zu viele Fehler. Doch der Abstieg kann auch eine Chance auf Großes sein.
Borussia Dortmund, Dortmund, Fußball, Lissabon, UEFA Champions League
Sport
Sport Dortmund in der Champions League
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158975.dortmund-in-der-champions-league-neuer-trainer-alte-fehler.html
Angewidert von den Banken-Zuhältern?
Die Bundesregierung hat offenbar den Ankauf gestohlener Bankdaten, die auch Hinweise auf Steuerhinterziehung beinhalten, im Sinn. Man wolle sich dabei auf der Liechtenstein-Linie bewegen, hieß es am Montag im Finanzministerium. Vor zwei Jahren waren dem BND Kontendaten deutscher Steuersünder angeboten worden, die Geld bei der fürstlichen LGT gebunkert hatten. Der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) gab dem BND grünes Licht und fünf Millionen Euro zum Kauf. Nun liegt aus der Schweiz ein Angebot für 2,5 Millionen Euro vor. Nach einem ersten Überschlag könnte der aktuelle Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bis zu 100 Millionen Euro eintreiben – wenn er das Diebesgut mit Daten über Konten in der Schweiz kauft. Es ist wie überall: Die kriminelle Energie wächst mit der Höhe des erwarteten Gewinns. Der Staat macht sich zum Hehler, warnen Datenschützer – allen voran ihr oberster im Bund, Peter Schaar. Juristen a... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
René Heilig
Streit über Spagat zwischen Recht und Recht
Datenkauf, Peter Schaar, Steuerhinterziehung
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/164258.angewidert-von-den-banken-zuhaeltern.html
Scharfe Kritik am geplanten Radikalenerlass
Magdeburg (dpa/ND). Der von Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) angestrebte sogenannte Radikalenerlass hat am Donnerstag im Magdeburger Landtag heftige Kritik bei der Opposition ausgelöst. Der Erlass wird derzeit im Innenministerium parallel zu einem möglichen Verbotsverfahren für die NPD geprüft. Mit ihm will Stahlknecht erreichen, dass verfassungsfeindlich eingestellte Menschen nicht im öffentlichen Dienst tätig sein dürfen. Die ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Landtag von Sachsen-Anhalt debattierte über Vorhaben des CDU-Innenministers – SPD zeigt sich gespalten
Extremismus, Extremismusklausel, NPD, Sachsen-Anhalt
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/201584.scharfe-kritik-am-geplanten-radikalenerlass.html
Viele Ideen treffen auf viel Widerstand
Soviel Frankreich war kaum einmal in Europa: Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gilt als französische Lieblingskandidatin, die Europäische Zentralbank wird von der ehemaligen französischen Wirtschaftsministerin Christine Lagarde geleitet. Die Idee des Präsidenten Emmanuel Macron zu einer »Reformkonferenz 2020/22« wurde von Kommission und EU-Parlament übernommen, die dabei geplante »Bürgerbeteiligung« imitiert den »grand débat national«, mit dem Macron im letzten Jahr den Franzosen (vergeblich) die Lust am Protest abkaufen wollte. Auch der vor einem Jahr abgeschlossene »Vertrag von Aachen« über die deutsch-französische Zusammenarbeit geht auf Macron zurück. Zu allem Überfluss läuft die stärker binnenorientierte französische Wirtschaft dem deutschen Exportweltmeister den Rang ab: Seit 2018 lagen die Pariser Wachstumszahlen über den deutschen Werten. Die Wirtschaftsberater von Ernst & Young erklärten Frankreich 2019 zum führenden Investitionsstandort für Industrie- und Innovationsprojekte. Die aktuellen sozialen Auseinandersetzungen scheinen dem »Modell Frankreich« kaum zu schaden; man hat eher den Eindruck, als schauten einige soziale Akteure in Deutschland neidisch über den Rhein: Auch wenn der Kampf noch nicht entschieden ist, so konnten Gelbwesten und Gewerkschaften der Regierung schon jetzt erhebliche Kompromisse (z.B. beim Renteneintrittsalter) abringen. In Deutschland wurde das nicht einmal versucht. Betrachtet man allerdings die Substanz der französischen EU-Reformwünsche, dann ist die Erfolgsbilanz weniger günstig. So enthusiastisch die Wahl Macrons und dessen europafreundliche Rhetorik hierzulande begrüßt wurden, so rasch zeigte sich, dass deutsche und französische Vorstellungen kaum vereinbar sind. Das gilt für die innere Verfassung der EU wie für die Außenpolitik. Zwar ließ sich Deutschland auf das von Macron geforderte Eurozonenbudget ein - im Ergebnis geriet dieses aber zu einer Karikatur des französischen Vorschlags. Ausgestattet mit einem Bruchteil der gewünschten Mittel, bietet der Minihaushalt keinen Ansatz für die von Frankreich geforderte Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Macrons Vorschlag für einen europaweiten Mindestlohn wurde in Berlin herb abgefertigt - nicht Merkel, sondern die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer beschied diesem, dass er nicht als Präsident, sondern lediglich als Chef der Bewegung »La République en Marche« spreche. Kramp-Karrenbauer trat Frankreich noch einmal kräftig ans Schienbein, als sie die Aufgabe von Straßburg als Sitz des EU-Parlaments anregte. Ähnlich erging es Macrons Überlegungen zur europäischen Verteidigungspolitik - Kanzlerin Merkel und Außenminister Maas machten deutlich, dass eine Relativierung der US-Führungsrolle nicht in Frage käme. Wie groß der deutsch-französische Dissens in der Außenpolitik ist, zeigt die aktuelle Debatte um die EU-Beitrittswünsche von Albanien und Mazedonien. Frankreich verhinderte die Aufnahme der zugesagten Beitrittsverhandlungen und begründete dies u. a. mit dem Wunsch, das EU-Erweiterungsverfahren zu reformieren. Beim Besuch des albanischen Ministerpräsidenten in Berlin machte Merkel aber klar, worum es in Wirklichkeit geht: Deutschland möchte den Westbalkan, wo die NATO schon jetzt präsent ist, aus »geopolitischen Erwägungen« in der EU haben, um diese Region zusammen mit der NATO gegen Russland zu positionieren. Frankreich dagegen möchte Distanz zur NATO halten und das Verhältnis zu Russland zu »normalisieren«. Macrons »Neugründung Europas« stößt überall auf deutschen Widerstand: kein Europäischer Währungsfonds, keine Begrenzung des Steuerwettbewerbs, kein Risikoausgleich in der Eurozone, keine außenpolitische Unabhängigkeit. Ob die oben erwähnte »Konferenz zur Zukunft Europas«, die im Mai beginnen soll, daran etwas ändern wird, ist wenig wahrscheinlich. Zu weit liegen deutsche und französische Interessen und Vorstellungen auseinander, zu stark unterscheiden sich die politischen Kulturen der beiden Länder. Dabei ist das deutsch-französische Verhältnis - nach dem Brexit - mehr denn je zentral für die Zukunft der EU. Wirtschaftlich und politisch sind sie die einzigen EU-Mitglieder von globaler Bedeutung, zusammen stehen sie für fast 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU. Eine Überwindung der Krise innerhalb der EU ist derzeit nicht in Sicht.
Jörg Goldberg
Jörg Goldberg sieht viel Frankreich in Europa, aber die Pariser Reformwünsche gehen selten in Erfüllung
Angela Merkel, Europäische Union, Frankreich, NATO
Meinung
Kommentare Frankreich in Europa
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1132189.viele-ideen-treffen-auf-viel-widerstand.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Gorleben bleibt offen
Hannover. Das Erkundungsbergwerk Gorleben im Wendland wird in den kommenden Jahren auf niedrigem Niveau offengehalten für eine eventuelle spätere Nutzung als Endlager für hochradioaktiven Müll. Darauf verständigten sich am Dienstag der Bund und das Land Niedersachsen. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) erklärte, es gehe darum, bei den Menschen in der Region Vertrauen zu schaffen: »Wir wollen die Suche transparent und ergebnisoffen gestalten, das heißt, es gibt keine Vorfestlegung.« Das Ende der Erkundung des Salzstocks ist Bestandteil des im vergangenen Juli in Kraft getretenen Standortauswahlge... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Bei der Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Müll bleibt Gorleben weiterhin ein denkbarer Standort. Kritiker vermuten, dass durch die Erforschung Gorlebens, einen Vorsprung zu anderen Standorten hat.
Atommüll, Endlager, Gorleben
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/940684.gorleben-bleibt-offen.html
Brandenburg: Zahl der Lehramtsstudenten leicht gestiegen
Potsdam. Die Zahl der Student*innen in Lehramtsstudiengängen ist in Brandenburg im aktuellen Wintersemester leicht gestiegen. Aktuell studieren 4762 Menschen in Brandenburg auf Lehramt. Das geht aus einer Antwort des Wissenschaftsministeriums auf eine kleine Anfrage der CDU-Fraktion hervor. Es handelt sich aber lediglich um eine vorläufige Zahl. Die endgültigen Zahlen sollen im Frühjahr 2025 vorliegen. Im Wintersemester 2023/24 waren 4606 Menschen in einem Lehramtsstudiengang eingeschrieben. Der Höchststand der vergangenen zehn Jahre war im Wintersemester 2021/22 erreicht, als 4668 Menschen in Brandenburg Lehramt studierten. Im Wintersemester 2014/15 waren es 4211 Student*innen. Das Land klagt seit Jahren über einen Lehrermangel. Das Bildungsministerium hatte zuletzt eine ganze Reihe von Bemühungen unternommen, um den Lehrerjob attraktiver zu machen.
Redaktion nd-aktuell.de
Brandenburg kämpft schon lange gegen seinen Lehrermangel. Die aktuelle Zahl der Lehramtsstudenten lässt vermuten, dass die Bemühungen Erfolge bringen.
Bildungspolitik, Brandenburg
Hauptstadtregion
Berlin Bildung
2025-01-05T17:52:39+0100
2025-01-05T17:52:39+0100
2025-01-05T17:52:43+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1187986.bildung-brandenburg-zahl-der-lehramtsstudenten-leicht-gestiegen.html
Mitreißende Präsenz
Die lange in Berlin ansässige Schauspielerin Miriam Goldschmidt ist im Alter von 70 Jahren gestorben. Wie ihr Ex-Mann, der Schweizer Schauspieler Urs Bihler, sagte, starb Goldschmidt am Montag in Lörrach an Krebs. Bihler habe Goldschmidt Ende der 60er Jahre bei einem ihrer Gastspiele in Basel kennengelernt, sagte Bihler. Die Schauspielerin ging Anfang der 70er Jahre nach Paris und wurde dort bei Peter Brook tragendes Mitglied des »Centre international de créations théâtrales«, wie die Zeitung »BZ - Basellandschaftliche Zeitung« berichtete. Dort habe Peter Stein die gebürtige Frankfurterin gesehen und an die Berliner Schaubühne eingeladen. Sie spielte dort in den 80er Jahren unter anderem in Genets »Die Neger« und in »Kalldewey, Farce« von Botho Strauss. »Miriam Goldschmidt hatte auf der Bühne eine hin- und mitreißende Präsenz«, schrieb die »BZ«. Goldschmidt spielte unter anderem auch in Darmstadt, München, Bochum und Zürich. Goldschmidt, Tochter eines Schwarzen und einer Jüdin, lernte ihre Eltern nie kennen, wie sie dem WDR 2014 erzählte. Sie wuchs zunächst in Heimen, dann in einer Adoptivfamilie auf. Goldschmidt lebte nach Angaben von Bihler seit 15 Jahren in Berlin. Wegen der Krankheit sei sie an Ostern in Lörrach an der Schweizer Grenze in ein Hospiz gegangen, weil ihr Sohn in Basel lebt. Sie sei zu ihrem 70. Geburtstag am 8. Juli noch einmal aufgelebt, sagte Bihler. Danach habe sich ihr Zustand aber rapide verschlechtert. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Miriam Goldschmidt tot
Berlin, Schweiz, Theater
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1060762.mitreissende-praesenz.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Neue Hebammen braucht die Stadt
Von einer schwangeren Frau zu verlangen, sie solle einen Mundschutz tragen, ist wissenschaftlich unzulässig«, sagt Katja Salatzki nach den Erfahrungen aus den letzten Wochen mit den Eindämmungsverordnungen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. »Ich kann mich als Hebamme mit FFP-Maske und Schutzkittel schützen, aber eine Frau, die entbindet, braucht Sauerstoff, sonst wird auch das Kind unterversorgt«, erklärt die erfahrene Hebamme. Es sei in der ersten Phase der Coronakrise ein »Riesenaufwand« gewesen, die vertrauensbildenden Kurse und Angebote auf Online-Präsenz umzustellen, berichtet sie. Sehr schnell habe man auf die jeweils neuen Bestimmungen reagieren müssen, die nötige Schutzkleidung zum Glück mit Hilfe der Hauptstadtkliniken zusammenbekommen. Seit 32 Jahren arbeitet Salatzki in ihrem Beruf. Mit 16 begann die heute 48-Jährige in Ostberlin ihr Fachschulstudium, wie es damals hieß: »Ich war sehr jung, stand selbst noch mitten in der Phase sexueller Orientierung«, erinnert sich die Hebamme. Als sie mit 19 ihren Abschluss hat, beginnt sie im Krankenhaus zu arbeiten, steht zehn Jahre im Drei-Schicht-System im Kreißsaal, unter anderem im Vivantes-Klinikum Neukölln. In dieser Zeit bekommt Katja Salatzki selbst zwei Kinder. Jeweils nach vier Wochen fängt sie wieder an zu arbeiten - »Erziehungsgeld gab es damals nicht«. Dann wechselt sie in ein Geburtshaus, wo Frauen außerklinisch, nur mit Hilfe von Hebammen, entbinden können. Nach einigen Jahren entschließt sie sich, selbst eines zu gründen und eröffnet - kurz nach der Geburt des dritten Kindes - das Geburtshaus Treptow: »Wir waren nur zu zweit und fingen an mit zwei Geburten im ersten Jahr.« Jetzt arbeiten zwölf Hebammen in dem Haus, das am 10. Juni seinen 15. Geburtstag feiert und im deutschsprachigen Raum die meisten Geburten zu verzeichnen hat: 350 pro Jahr. »Die Wartelisten sind lang, wir schaffen kaum, alles abzuarbeiten«, fasst Katja Salatzki den Arbeitsalltag auf 500 Quadratmetern in der alten Villa am Treptower Park mit drei Geburts- und mehreren Kursräumen zusammen. »Man kann sich in dem Beruf entwickeln«, ist sich Salatzki Berufskollegin Isabelle Kunze sicher. Auch Kunze hat über zwölf Jahre im Kreißsaal bei Vivantes gearbeitet, einige davon zusammen mit Katja Salatzki. »In der Klinik ist es hart, da gibt es auch viel Leid«, sagt die resolute Spreewälderin, die ebenfalls für das Hebammenstudium nach Berlin gekommen ist. »Und das Drei-Schicht-System machst du solange mit, bis du selbst Kinder hast«, lacht sie. 2010 hat Kunze sich zusammen mit zwei ehemaligen Schüler*innen aus dem Krankenhaus selbstständig gemacht und die »Kiezhebammen« gegründet, betreut seitdem werdende Mütter in Neukölln, Kreuzberg und Treptow. Beide, Salatzki und Kunze, strahlen Verlässlichkeit und Zugewandtheit aus, und große Empathiefähigkeit - die eine bedachter, die andere mit fröhlicher Unruhe. Beide sind der Ansicht, dass es vor allem die Praxis sei, die das Erfahrungswissen der früher häufig »weise Frauen« genannten Geburtshelferinnen ausmache. Sie freuen sich, dass sich immer mehr Frauen in Berlin zu Hebammen ausbilden lassen. Aktuell sind es 283 an den drei Hebammenschulen und im Dualen Studium, 49 mehr als im Jahr zuvor, wie das Statistische Landesamt im Mai mitteilte. Allerdings sei die anschließende Verweildauer im Beruf deutlich geringer, erklärt der Berliner Hebammenverband auf Anfrage. »Die Arbeitsbedingungen sind immer noch sehr schlecht«, sagt die Vorsitzende Ann-Jule Wowretzko. Bislang fand die Ausbildung immer in Kliniken mit geburtshilflicher Abteilung statt. Innerhalb von drei Jahren mussten 1600 Theorie- und 3000 Praxisstunden absolviert werden. 2019 haben Bundestag und Bundesrat die Hebammenausbildung aufgewertet. Zukünftig besteht sie aus einem drei- bis vierjährigen Bachelor-Studium mit hohem Praxisanteil und einer staatlichen Abschlussprüfung. Deshalb stehen nun auch in der Hauptstadt Veränderungen an: Die letzten Ausbildungsjahrgänge von Charité und Vivantes starten in diesem Jahr, die Charité bereitet einen Hebammenstudiengang ab 2021 vor. Den Weg gewiesen hatte die Evangelische Hochschule Berlin (EHB). Seit 2013 gibt es hier den Studiengang Hebammenkunde, in dem zur Zeit knapp 50 Studierende eingeschrieben sind. 60 sollen es einmal werden, erklärt Melita Grieshop. Die Professorin für Hebammenwissenschaft und Leiterin des Studiengangs gehört zu den absoluten Verfechter*innen einer Akademisierung des Berufs. »Wir mussten dringend die Ausbildungskapazitäten erhöhen, das hat der Runde Tisch Geburtshilfe klargestellt«, sagt sie eindringlich. Der Mangel an Hebammen vor allem in Kliniken liege auch an der unzureichenden Attraktivität der Arbeit, erklärt Grieshop. »Das sich der Gesetzgeber mit dem Hebammengesetz eindeutig zu dieser eigenständigen Arbeitsform bekannt hat, finde ich ein großartiges Zeichen«, erklärt die energische Wissenschaftlerin. Das Studium entspricht mit den praktischen Studienphasen einer Vollzeitbeschäftigung und habe eine hohe Prüfungslast. Die Neuerung stärke die Anerkennung, auch wenn sich dies noch nicht im Gehalt widerspiegele. »Aber das ist ja in allen Sorgeberufen so, in denen Frauen den größten Anteil stellen und die man neuerdings als systemrelevant erkannt hat«, so Grieshop. »Das Studium ist super, aber wir müssen dafür auch ein Jahr länger auf die dringend benötigten jungen Kolleginnen warten«, beschreibt Katja Salatzki ihre Perspektive auf die Akademisierung. »Das ist eine rundum wissenschaftliche Ausbildung, die können Studien lesen«, meint auch Isabelle Kunz. Aber allein, dass die zukünftige »Examensgeburt« nicht mehr am Menschen stattfinden soll, sondern mit Schauspielerinnen, lasse sie zweifeln, ob die Qualifikation ausreiche für die praktische Arbeit: »Empathie kannst du ja nicht im Studium lernen«, gibt sie zu bedenken. Katja Salatzki formuliert es im Bezug auf die Zeit der Corona-Verordnungen ähnlich: »Es war schwer, die Balance zu halten und in der Struktur zu bleiben, und dabei trotzdem immer beherzt und liebevoll zu reagieren.« Das ihr das allerdings nicht gelungen sein könnte, scheint schwer vorstellbar.
Claudia Krieg
Im nächsten Jahr eröffnet an der Charité ein neuer Standort für die Hebammenausbildung. Das liegt an steigenden Interessentenzahlen und der Akademisierung der Qualifikation. Viele Hebammen begrüßen das.
Berlin, Charité, Hebamme, Krankenhaus
Hauptstadtregion
Berlin Geburtshilfe
2020-05-29T12:32:47+0200
2020-05-29T12:32:47+0200
2023-01-21T11:10:08+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1137270.geburtshilfe-neue-hebammen-braucht-die-stadt.html
Der Sparsame
Mehr ist manchmal weniger. Zumindest für die Beschäftigten des Drogerie-Patriarchen Anton Schlecker. Der sparsame Oberschwabe lässt derzeit reihenweise kleinere Filialen schließen, um sie durch größere Schlecker-XL-Märkte zu ersetzen. So weit, so schlecht. Denn für die Beschäftigten bedeutet XL in diesem Fall weniger Verdienst, da sie sich über eine Zwickauer Leiharbeitsfirma in ihren neuen Job vermitteln lassen müssen – mit entsprechenden Gehaltseinbußen. Diese Lohnkürzung durch die Hintertür ist typisch für das Geschäftsgebaren des Milliardärs Anton Schlecker. Bereits im Jahre 1998 verurteilte ihn das Stuttgarter Landgericht zu einer millionenschweren Geldstrafe und zehn Monaten Gefängnis auf Bewährung. Schlecker soll seine Mitarbeiter jahrelang hinters Licht geführt haben, in dem er ihnen weis machte, er zahle Tariflohn. Dabei lagen die Gehälter der Schlecker-Angestellten weit unter dem branchenüblichen Salär. Seine beinahe pathologische Sparsamkeit stellte der pressescheue Unternehmer selbst in Extremsituationen unter Beweis. Als seine beiden Kinder Lars und Meike im Dezember 1987 entführt wurden, gelang es ihm durch harte Verhandlungen, das geforderte Lösegeld um knapp die Hälfte zu drücken. Am Ende zahlte Schlecker 9,6 Millionen Mark – und damit exakt die Summe, die durch seine Versicherung gedeckt war. Seine beiden Kinder überlebten das Geschacher und lenken nun zusammen mit dem Vater die Geschicke des Konzerns. Von ihrer Firmenzentrale im schwäbischen Ehingen leiten die Schleckers einen Konzern mit europaweit mehr als 14 000 Filialen und 50 000 Mitarbeitern. Damit ist die Drogeriekette Marktführer in Europa. In Deutschland kommt Schlecker auf einen Marktanteil von mehr als 70 Prozent. Dabei war dem Metzgerssohn Anton Schlecker eigentlich ein ganz anderes Schicksal beschieden. Noch in den 60er Jahren führte er die elterliche Fleischwarenfabrik, bis er 1975 seinen ersten Drogeriemarkt im idyllischen Kirchheim unter Teck eröffnete, nachdem die Preisbindung für Drogerieartikel weggefallen war. Nur wenige Jahre später besaß der sparsame Schwabe bereits 100 Schlecker-Filialen und wechselte endgültig das Metier.
Fabian Lambeck
Anton Schlecker / Der Firmenpatriarch steht derzeit wegen Lohndrückerei am Pranger
Niedriglohn, Schlecker
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Personalie
https://www.nd-aktuell.de//artikel/162913.der-sparsame.html
Gnadenlose Gesetzeshüter
Den Bauarbeitern Salem Fellak und Hocine Hocini wird vorgeworfen, am zweiten Tag des Ramadan in ihrer Mittagspause auf einer privaten Baustelle mehrere Schluck Wasser zu sich genommen und von ihren belegten Broten abgebissen zu haben. Die Beweisstücke wurden bei der öffentlichen Sitzung im Städtchen Ain El Hammam vom Untersuchungsrichter präsentiert. Dass zum Zeitpunkt des Verbrechens 40 Grad im Schatten herrschten, konnte den gnadenlosen Gesetzeshüter nicht erweichen. Auch dass der Islam in Härtefällen – und dazu gehört Schwerstarbeit – Ausnahmen erlaubt, interessiert das Gericht offenbar nicht. Nicht einmal die Tatsache, dass die Verfassung jedem Bürger Religionsfreiheit garantiert, wurde bisher in der Verhandlung berücksichtigt. Dies beträfe zumindest den 47-jährigen Hocini, der sich offen zum christlichen Glauben bekennt. Er und sein 13 Jahre jüngerer... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Abida Semouri, Algier
Weil sie im Fastenmonat Ramadan am helllichten Tag gegessen und getrunken haben, drohen zwei Algeriern jetzt Gefängnisstrafen. Die Staatsanwaltschaft hat in dem Prozess, in dem am heutigen Dienstag das Urteil erwartet wird, drei Jahre Haft wegen »Angriffs auf die Gebote des Islam und Gefahr für die öffentliche Ordnung« gefordert.
Algerien, Gefängnis, Ramadan
Politik & Ökonomie
Politik
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Heim für Bonars Nachlass
Die Bundesstiftung Aufarbeitung übernimmt den Nachlass des 1996 gestorbenen Malers, Grafikers und Fotografen Rainer Bonar. Der Nachlass des 1956 in Ostberlin geborenen Künstlers werde dem Archiv der Stiftung am kommenden Dienstag von den Erben Bonars übergeben, teilte die Bundesstiftung am Donnerstag in der Hauptstadt mit. Bei einem anschließenden Podiumsgespräch sollen Bonars Wirken als unangepasster Künstler sowie das Spannungsverhältnis zwischen oppositioneller und staatlicher Kunst in der DDR diskutiert werden. Auf dem Podium sitzen unter anderem der Leipziger Kulturhistoriker Bernd Lindner, der Journalist Hannes Schwenger und die Dresdner Kunsthistorikerin Susanne Altmann. Das Werk von Rainer Bonar stehe für den Traum von der Freiheit im geteilten Deutschland, hieß es. Seine Bilder und Grafiken trügen die Handschrift eines Unangepassten, der sich zeitlebens kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in beiden deutschen Staaten auseinandergesetzt hat. Bis zu seiner Übersiedlung 1981 nach Westberlin arbeitete Bonar den Angaben zufolge unter den Repressionen des SED-Regimes und im Visier der Staatssicherheit. In Westberlin war er später als freiberuflicher Maler und Grafiker tätig. Das Archiv der Bundesstiftung Aufarbeitung beherbergt bereits mehrere bildkünstlerische Vor- und Nachlässe. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Malerei, Sachsen
Feuilleton
Kultur
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Orlando gedenkt seiner Opfer
New York. Nach dem Attentat von Orlando versammeln sich am Montagabend unter anderem tausende Menschen um das historische Schwulenlokal »Stonewall Inn« in New York, um der Opfer zu gedenken. Die Menschen im Stadtviertel Greenwich Village tragen Blumen und Kerzen und führen Regenbogenflaggen mit. Redner rufen zu mehr Gleichberechtigung für Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender-Menschen (LGBT) auf und fordern mehr Respekt für Minderheiten sowie striktere Waffengesetze. Als Mitglied der LGBT-Gemeinde fühle er sich verpflichtet, an solch einem Tag Flagge zu zeigen, sagt Yesai Fstkchyan (26). »Es ist ein toller Ort, um mit den Gefühlen fertig zu werden, die einen bewegen, und auch anderen dabei zu helfen.« Die 20-jährige Studentin Erin Kohler vom Ithaca College spricht von einem Gefühl des Zusammenhalts: »Es ist, als wäre deine Familie zusammengekommen, um sich dadurch stärker zu fühlen.« Kohler führt den Vorsitz des »Queer Club« in Ithaca, ist gleichzeitig auch Mitglied der US-Waffenlobby National Rifle Association (NRA) und geht leidenschaftlich gern auf die Jagd. Dennoch befürwortet die Studentin Beschränkungen beim Verkauf halbautomatischer Waffen. »Ich verstehe nicht, wieso Sturmgewehre nötig sind. Es gibt überhaupt keinen Grund (sie zu besitzen).« Strengere Waffengesetze in den USA forderte der UN-Menschenrechtsbeauftragte Zeid Ra'ad al-Hussein. Die US-Regierung müsse ihre Verpflichtung ernst nehmen, die Bürger vor den »erschreckend alltäglichen, aber verhinderbaren Gewaltakten, die ein direktes Ergebnis einer ungenügenden Waffenkontrolle sind«, zu schützen, sagte Zeid am Dienstag in Genf. Der 29-jähriger Attentäter Omar Mateen hatte in der Nacht zum Sonntag den Nachtclub »Pulse« in Orlando mit Schusswaffen angegriffen und anschließend Gäste als Geiseln genommen. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei beendete die Geiselnahme gewaltsam und tötete dabei den Attentäter. 49 weitere Menschen starben. »Wie viele Massentötungen von Schulkindern, Kollegen, afroamerikanischen Kirchenbesuchern wird es noch geben, bevor die USA scharfe Waffengesetze beschließen«, sagte der UN-Menschenrechtsbeauftragte mit Blick auf die jüngsten Amokläufe und Massentötungen in den USA. Die Argumente der Waffenlobby insbesondere in den USA wies Zeid zurück. »Verantwortungslose Waffen-Propaganda behauptet, dass Schusswaffen eine Gesellschaft sicherer machen, während alles dagegen spricht.« Ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen belege den Zusammenhang zwischen Waffenbesitz in der Bevölkerung und zerstörerischer Waffengewalt. »Beispiele aus vielen Ländern zeigen eindeutig, dass gesetzliche Regelungen für den Erwerb und die Nutzung von Schusswaffen zu einem dramatischen Rückgang von Gewaltverbrechen geführt haben«, sagte Zeid. US-Präsident Barack Obama war im Verlauf seiner achtjährigen Amtszeit mit mehreren Initiativen zur Verschärfung des Waffenrechts am Widerstand des Kongresses gescheitert. Nach dem Orlando-Attentat hatte er erneut betont, dass es die US-Gesetzgebung einzelnen »sehr leicht macht«, an »sehr starke Waffen zu kommen«, selbst wenn diese Menschen schwere Probleme hätten oder psychische Störungen aufwiesen. Angesichts der Tatenlosigkeit des von den Republikanern beherrschten Kongresses sei der Präsident »frustriert, manchmal sogar wütend«, sagte sein Sprecher Josh Earnest. Schon kurz nach der Tat forderte der wahrscheinliche republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump Obama zum Rücktritt auf. Er warf dem Präsidenten vor, es im Anti-Terror-Kampf an Härte vermissen zu lassen. Am Montag kündigte der rechtspopulistische Milliardär an, bei einem Wahlsieg die Einreise aus allen Staaten zu stoppen, die unter Terrorverdacht stünden. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Viele tausend Menschen haben sich in Orlando und anderswo in den USA versammelt und der Opfer der Terrorattacke vom Wochenende gedacht.
Homosexualität, USA, Waffen
Politik & Ökonomie
Politik
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Syriens Opposition ist noch ohne Führung
ND: Sie haben kürzlich in Kairo den Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, getroffen. Mit welchem Ergebnis?Louay Hussein: Herr al-Arabi hat gesagt, er sei lediglich ein Diener der arabischen Staaten und treffe keine Entscheidungen. Er hat uns zugehört und versprochen, dass er unseren Vorschlag für eine Lösung in Syrien an die anderen arabischen Staaten weiterleiten wird. Was enthält Ihr Vorschlag?Wir haben einen Bericht übergeben, aus dem hervorgeht, dass die Regierung dem Plan der Arabischen Liga nach unserer Einschätzung nicht nachkommt. Die Liga sollte mehr Druck machen, damit Syrien die arabische Initiative umsetzt. Wir fordern eine Beobachterdelegation und dass möglichst viele Medien ins Land kommen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Wir bieten an, die Delegation durch Juristen und politisch aktive Leute zu unterstützen. Eine entsprechende Liste von Personen haben wir überreicht. Sie könnten als syrische B... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Der Journalist und Schriftsteller Louay Hussein gehört seit vielen Jahren zu den politischen Gegnern der Assads. 1984 verhaftet, kam er erst 1991 frei. Im Juni dieses Jahres gehörte Hussein zu den Organisatoren der ersten Oppositionskonferenz in Syrien. Anfang Oktober war er Mitbegründer der Gruppe »Aufbau des syrischen Staates«. Sie versteht sich als nationale Opposition, lehnt bewaffnete Aktionen aber ab. Mit Louay Hussein sprach in Damaskus Karin Leukefeld.
Arabische Liga, Arabische Umbrüche, Syrien
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/212034.syriens-opposition-ist-noch-ohne-fuehrung.html
Bezahlkarte für Geflüchtete: Bargeldlimit rechtswidrig
Das Sozialgericht Hamburg bewertet die pauschale Beschränkung des monatlich verfügbaren Bargeldbetrags für Geflüchtete als rechtswidrig. Das teilten die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und Pro Asyl am Mittwoch unter Berufung auf eine Eilentscheidung des Gerichts mit. Dieses bemängelte demnach die pauschale Festsetzung des Bargeldbetrags, der mit der neuen Bezahlkarte abgehoben werden kann, auf 50 Euro pro Monat. Das Hamburger Amt für Migration müsse den Einzelfall prüfen, bevor es eine Bargeldsumme festlege. Die persönlichen Lebensumstände der Betroffenen müssten ebenso berücksichtigt werden wie örtliche Gegebenheiten. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Die beiden Organisationen hatten eine Familie bei der Klage gegen das Bargeldlimit unterstützt. Die Eltern mit einem Kind konnten zusammen monatlich 110 Euro abheben. Das Gericht gestand ihnen nun knapp 270 Euro Bargeld zu. Berücksichtigt wurde dabei auch, dass die Mutter mit einem zweiten Kind schwanger ist. Das Amt kann gegen die Entscheidung Beschwerde einlegen. Im Juni hatten die Ministerpräsidenten der Länder die pauschale Bargeldbeschränkung für Personen beschlossen, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben. Zuvor hatten sie sich auf die flächendeckende Einführung der Bezahlkarte mit eingeschränkten Funktionen gegenüber einer normalen Geldkarte geeinigt. Bund und Länder begründen dies damit, dass man so die Überweisung von Geld an »Schlepper« und Angehörige im Ausland verhindern wolle. Damit verringere man Anreize für die Einwanderung nach Deutschland. Die GFF und Pro Asyl werten die Hamburger Entscheidung als »Etappensieg« im Kampf gegen die aus ihrer Sicht diskriminierende und stigmatisierende Bargeldlimitierung für Geflüchtete. Zudem mache der Gerichtsbeschluss deutlich, dass der Bund-Länder-Beschluss nur Empfehlungscharakter habe. Das Hamburger Amt für Migration dürfe sich darauf mithin nicht berufen. Die beiden Organisationen versuchen mit weiteren Klagen, die Einführung restriktiv ausgestalteter Bezahlkarten zu stoppen. »Die Entscheidung aus Hamburg bestätigt, dass eine pauschale Bargeldobergrenze von 50 Euro für Schutzsuchende nicht haltbar ist, ohne das menschenwürdige Existenzminimum zu gefährden«, betonte Lena Frerichs, Verfahrenskoordinatorin der GFF. Wiebke Judith, die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, erinnerte daran, dass die Hamburger »SocialCard« den Alltag der Nutzer »massiv« erschwere. »Günstige Onlineeinkäufe oder private Gebrauchtwareneinkäufe sind mit der Bezahlkarte ebenso wenig möglich wie der Abschluss eines Handyvertrages oder die Anmeldung im Sportverein«, so Judith. Zudem werde sie nicht in jedem Geschäft akzeptiert. Hamburg startete im Februar 2024 als erstes Bundesland mit der Bezahlkarte. Das Sozialgericht Hamburg stellt nun klar, dass eine pauschale Obergrenze, wie sie der Bund-Länder-Beschluss empfiehlt, nicht rechtens ist. Die individuelle Festlegung eines Bargeldlimits werde aber untragbaren Aufwand für die überlasteten Kommunen erfordern, gibt Wiebke Judith zu bedenken. Bezahlkarten ohne Bargeldbeschränkung wären mithin sinnvoll und würden die Rechte der Empfänger wahren.
Jana Frielinghaus
Zwei Menschenrechtsorganisationen unterstützten die Klage einer Familie gegen die pauschale Begrenzung des verfügbaren Bargeldbetrags auf der neuen Bezahlkarte für Geflüchtete. Nun liegt eine Gerichtsentscheidung vor.
Asylpolitik, Einwanderung, Flüchtlinge, Hamburg
Politik & Ökonomie
Politik Migration
2024-07-24T17:57:24+0200
2024-07-24T17:57:24+0200
2024-07-26T12:34:07+0200
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Parteitag in Brandenburg: FDP kämpft um Existenz
Potsdam. Jetzt geht es um alles: Die Liberalen stemmen sich als »Bollwerk gegen Schwarz-Grün« einem drohenden Scheitern bei der Bundestagswahl in zwei Wochen entgegen. Bei einem außerordentlichen Parteitag in Potsdam forderte der Bundesvorsitzende Christian Lindner eine Politik, die Wirtschaftswachstum in den Mittelpunkt stellt und die Migration in geordnete Bahnen lenkt, auch durch eine verschärfte Kontrolle der Zuwanderung. »Die AfD macht man nicht klein mit Lichterketten. Die AfD macht man klein, indem man die Probleme klein macht, die diese Partei einst groß gemacht haben«, sagte Lindner, der mit seiner Rede mehrfach Jubel auslöste und zum Schluss etwa vier Minuten lang beklatscht wurde. Die FDP kämpft um den Wiedereinzug in den Bundestag. In den Meinungsumfragen liegt sie seit Wochen bei vier Prozent. Damit würde sie wie schon 2013 aus dem Parlament fliegen. Unklar ist, ob und wie es für die Partei nach einem solchen Scheitern weitergehen könnte. Lindner sagte, die Wirtschaftswende habe für die Liberalen Priorität. »Es ist eine Zeit gekommen, in der gelten muss: economy first.« Eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik sei in der Ampel nicht zu machen gewesen. Deswegen sei die FDP ausgestiegen. »Wir hatten keine andere Wahl«. Der FDP-Vorsitzende griff scharf die Grünen und ihren Kanzlerkandidaten Robert Habeck an. »Robert Habeck ist die größte Wachstumsbremse in unserem Land«, sagte Lindner über den Bundeswirtschaftsminister. »Bei Robert Habeck wächst nur der Frust und nicht die Wirtschaft.« Deutschland brauche auch eine andere Einwanderungspolitik, betonte Lindner. »Wir haben es viel zu lange denen schwer gemacht zu kommen, die wir dringend im Arbeitsmarkt brauchen. Und wir haben es viel zu lange denen leicht gemacht zu bleiben, die nur irregulär in unseren Sozialstaat eingewandert sind. Und umgekehrt ist besser.« Der Parteitag beschloss einen Wahlaufruf mit diesen und anderen Kernforderungen der FDP für die Wahl. Lindner erklärte die Bundestagswahl zur Richtungsentscheidung über das nächste Kabinett. Es gehe nicht darum, ob Olaf Scholz (SPD), Unionskandidat Friedrich Merz (CDU) oder gar Habeck Kanzler werde. »Die entscheidende Frage ist nicht mehr die Kanzlerschaft. Die entscheidende Frage ist Wachstum oder Stagnation. Die entscheidende Frage ist Freiheit oder Staat. Die entscheidende Frage ist Lindner oder Habeck im Kabinett. Das ist die entscheidende Frage dieses Wahlkampfs.« Der FDP-Vorsitzende und frühere Ampel-Finanzminister erteilte den Grünen erneut eine klare Absage: »Nach der nächsten Bundestagswahl werden die Freien Demokraten keine Regierung gemeinsam mit den Grünen bilden.« Wenn die FDP wieder in den Bundestag komme, habe sich auch Schwarz-Grün erledigt. Lindner attackierte auch CDU-Chef Merz, der Habeck für seine in der eigenen Partei umstrittenen asylpolitischen Vorschläge gelobt habe. »Das zeigt eines: Friedrich Merz, er will Kanzler werden. Aber er ist auch bereit, dafür einen Politikwechsel in Deutschland zu opfern. Wir nicht.« Auch mit der CSU wird der Ton ruppiger. »Markus Söder warnt vor Leihstimmen an die FDP: Welche Leihstimmen hat die CSU denn, über die sie verfügen kann, wie die verteilt werden?«, fragte Lindner. »Markus Söder hat genau zwei Stimmen, seine eigenen. Die muss er uns nicht leihen, die kann er behalten.« Lindner betonte, die FDP werbe nicht um Leihstimmen. »Wir wollen Bekenntnisstimmen haben. Wer uns gut findet, möge uns wählen.«Kubicki sieht FDP als Bollwerk gegen Schwarz-Grün Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki richtete sich dagegen direkt an die Sympathisanten der Union: »Die dringend notwendige Wende in der Wirtschaftspolitik und in der Migrationspolitik wird es nur mit den Freien Demokraten geben«, sagte er. »Deshalb rufe ich alle unionsgeneigten Wähler auf: Wählen Sie am Wahlsonntag die FDP. Wir sind das Bollwerk gegen Schwarz-Grün.« Kubicki wies darauf hin, dass viele Wahlberechtigte noch unentschlossen seien. »Die können alles ändern. Und ich sage euch: Am Wahlabend werden sich einige noch wundern.« Kristina Schröder (CDU), ehemalige Bundesfamilienministerin, sprach als Gast vor den FDP-Delegierten und warb für Schwarz-Gelb. Es gebe Sorgen wegen einer Klimapolitik, bei der Wohlstand und Freiheit verloren gingen, und wegen unkontrollierter, illegaler Migration. »Ich bin überzeugt, dass unsere beiden Parteien die große Chance haben, auch bisherige Nichtwähler oder Wähler, die wir an die AfD verloren haben, zurückzugewinnen«, sagte Schröder. dpa
Carsten Hoffmann und Ulrich Steinkohl
Vor der Neuwahl des Bundestags stehen die Liberalen am Abgrund. Mit dem Slogan »Schwarz-Grün verhindern« hofft Christian Lindner, noch mal über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen
Die Grünen, Einwanderung, FDP, Schwarz-Grün
Politik & Ökonomie
Politik Bundestagswahlen
2025-02-09T16:58:38+0100
2025-02-09T16:58:38+0100
2025-02-09T21:58:19+0100
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Auch Multis haben eine Heimat
Die EU liegt in Sachen Covid-19-Impfung weit zurück. Eine Ursache dafür ist der Mangel an Impfstoff, und dieser Mangel trifft nicht – wie üblich – eine arme Region, sondern eine der reichsten der Welt. Die EU-Kommission wird daher kritisiert, bei der Beschaffung des Vakzins zu langsam und zu geizig gewesen zu sein. Zu ihrer Verteidigung wird angeführt, sie habe in gutem Glauben agiert, sei aber von den USA und Großbritannien ausgebootet worden. Was diese Argumente verhandeln, ist lediglich die Schuldfrage. Der Sache nach ist der aktuelle «Impfnationalismus» ein Teil eines Trends, den Ökonomen «Wirtschaftsnationalismus» nennen. Die Vakzin-Episode zeigt, wie der Weltmarkt funktioniert, welche Sitten hier mittlerweile herrschen – und dass die Erzählung eines übermächtigen globalen Kapitals, dem schwache Nationalstaaten gegenüberstehen, nie gestimmt hat. Im Großmächtevergleich macht die EU derzeit eine schlechte Figur: Etwa 40 Prozent der Briten sind bereits gegen Covid-19 geimpft worden, ein Viertel der US-Amerikaner – aber nur ein Zehntel der EU-Bürger. Das kostet nicht nur Leben, «auch unser Wohlstand und unsere Wirtschaft hängen von der Geschwindigkeit der Impfung ab», so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der Vorsprung der Briten und der USA ist bares Geld wert: «Der Beitrag von zügigen Impfungen auf die Wirtschaftsentwicklung sollte nicht unterschätzt werden», schreibt die Fondsgesellschaft DWS. Tatsächlich handelte die britische Regierung schneller, sie ließ Impfstoffe früher zu als die EU und schloss früher Lieferverträge mit Pharmafirmen ab. Sie verließ sich dabei insbesondere auf das Vakzin der Universität Oxford. Für Produktion und Vertrieb wollte sich Oxford ursprünglich mit dem US-Konzern Merck zusammentun, berichtete jüngst der britische Sender Sky News. Diesen Deal verhinderte jedoch die britische Regierung, weil sie fürchtete: Wenn die US-Regierung Impfstoff-Exportbeschränkungen erlassen oder Merck unter Druck setzen würde, wäre Großbritannien abgeschnitten. Oxford wandte sich daraufhin an den britisch-schwedischen Konzern Astra-Zeneca, der der britischen Regierung vertraglich bevorzugte Belieferung zusagte. Bei der Sicherung der Versorgung agierte London also «aus Angst vor US-Präsident Donald Trump», erklärt der US-Journalist Dave Keating. Nicht ohne Grund: Im März 2020 berichteten Medien von Trumps Versuch, den deutschen Impfstoffhersteller Biontech unter US-Kontrolle zu bringen, um einen Impfstoff exklusiv für die Vereinigten Staaten zu produzieren. Dieser Versuch scheiterte zwar. Doch tat sich Biontech anschließend mit dem US-Konzern Pfizer zusammen. Damit war Washington quasi am Ziel. Denn Pfizer hat enorme Produktionskapazitäten in den USA, die Trump für die heimische Bevölkerung reservieren konnte. Juristischer Hebel dafür war zunächst ein Gesetz aus dem Korea-Krieg, dass inländische Unternehmen zur Lieferung an den Heimatmarkt verpflichtet. Dem folgte im Dezember 2020 Trumps Executive Order, die Pfizer formell zur Bevorzugung des US-Marktes zwang. America-First-Klauseln enthalten auch die Verträge Washingtons mit den US-Pharmakonzernen Moderna und Johnson & Johnson. Sowohl Washington wie auch London setzten also nicht auf den freien Weltmarkt, auf dem allein der Preis über den Zugang zu Ressourcen entscheidet. Stattdessen zielten sie auf exklusiven Zugriff auf produzierte Impfstoffe. Und diesen Zugriff sicherten sie zum einen durch die Nationalität der Produzenten Astra-Zeneca und Pfizer; und insbesondere die USA zum anderen dadurch, dass die Produktion auf heimischem Boden, unter der Verfügungsgewalt Washingtons stattfindet. Diese Strategie wurde bei anderen Lieferanten wiederholt: «Es ist entscheidend, dass die Vakzine in den Vereinigten Staaten hergestellt werden. Denn die heimische Produktion ist die einzige Sicherheit dafür, dass Amerikaner Zugang zum fertigen Produkt erhalten», steht in einem der Verträge Washingtons mit dem US-Konzern Moderna. Die EU dagegen betrat spät die Bühne. Sie hatte es verpasst, Biontech einen europäischen Partner aufzuzwingen und «verhielt sich in der Folge wie ein Käufer auf einem freien Markt», erklärt Keating. «Von heute aus gesehen scheint das naiv.» Zunächst konnte sich Brüssel dank seiner Finanzstärke ebenfalls Millionen Dosen Impfstoff sichern. Da die Entwicklung der Vakzine von Konzernen wie GSK oder Sanofi sich allerdings verzögerte, blieb Europa stark auf Lieferungen durch Astra-Zeneca angewiesen. Dennoch hätte die Kalkulation Brüssels aufgehen können. Ende Januar aber führten Produktionsprobleme bei Astra-Zeneca zur Kürzung der produzierten Mengen. Und da der britisch-schwedische Konzern sich an die Vereinbarung mit London gebunden sah, entfielen die Kürzungen ganz auf das EU-Kontingent. Seitdem bleiben Lieferungen in die EU aus und Großbritannien wird bevorzugt beliefert – auch mit jenen Impfstoffen, die in der EU produziert werden. Millionen Dosen aus der EU gehen auch nach Kanada, Japan und Mexiko, da diese Länder wegen des US-Exportstopps auf Europa als Bezugsquelle angewiesen sind. Auf dem EU-Gipfel wurde diese Woche bekannt, dass seit 1. Dezember 2020 aus der Union insgesamt 77 Millionen Dosen ausgeführt worden sind – inklusive der Kontingente aus dem Covax-Programm für ärmere Länder. «Es ist schwer zu erklären, warum in der EU produzierte Impfstoffe an andere Länder geliefert werden», klagte von der Leyen, Laut dem belgischen Virologen Steven van Gucht «scheint es, dass wir uns zu sehr auf den freien Markt verlassen haben. Europa hätte »von Anfang an darauf achten sollen, dass die Produktion auf dem eigenen Territorium und für die eigene Bevölkerung stattfindet«. So wiederholt sich beim Impfstoff, was in letzter Zeit bei vielen Gütergruppen geschieht: Regierungen verlassen sich nicht länger auf die Kalkulationen multinationaler Konzerne, auf den Weltmarkt und ihre Finanzmacht, sondern denken national. Ob benötigte Güter weltweit erhältlich sind, tritt hinter der Frage zurück, wo sie von wem hergestellt werden. »Reshoring« heißt das Stichwort, also das Zurückholen von Produktion nach Hause, in den eigenen Machtbereich, geschützt vor den Wettbewerbern. Dafür betreiben die USA, die EU und China Industriepolitik, unter Titeln wie »Made in China« oder »Made in the US« bauen sie heimische Kapazitäten für Batterien, Hochleistungsrechner, Computerclouds oder -chips auf. Ziel ist die Erreichung »strategischer Souveränität«, also die Unabhängigkeit vom Ausland. Mitten im globalen Markt spielen also wieder die Nationalität der multinationalen Konzerne und der Ort ihrer Produktion eine entscheidende Rolle. Denn auch Multis haben eine Heimat. Die Frage des Produktionsstandortes versucht die EU nun für sich nutzbar zu machen. Sie droht anderen Ländern – insbesondere Großbritannien – mit Exportbeschränkungen für Impfstoffe, und das kann sie allein, weil diese Impfstoffe auf ihrem Territorium hergestellt werden. Als Begründung wirft Brüssel Astra-Zeneca vor, seine Lieferpflichten vernachlässigt zu haben. Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag warnte von der Leyen Astra-Zeneca, dass der Konzern keinen in der EU hergestellten Impfstoff mehr exportieren kann, wenn er die Lieferverpflichtungen gegenüber der EU nicht einhält. »Wir müssen und wollen unseren europäischen Bürgern erklären, dass sie ihren fairen Anteil bekommen«, sagte sie nach dem Treffen. »Ich denke, es ist klar für die Firma, dass sie zuerst die Verträge mit den EU-Staaten einhalten muss, bevor sie wieder an den Export von Impfstoffen denken kann.« Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, Exportbeschränkungen würden künftig »wahrscheinlicher«, wenn Unternehmen ihre Verträge gegenüber der EU nicht einhielten. Der britisch-schwedische Konzern wiederum hält dagegen, er sei vertraglich zur Bevorzugung Großbritanniens verpflichtet und wird darin von der Regierung in London unterstützt. Welche Rechtsauffassung sich hier durchsetzt, ist abermals eine reine Frage der Macht. Auch von daher mag es wenig verwunderlich sein, dass sich Brüssel mit London anlegt – und nicht mit dem Schutzpatron jenes Konzerns, der bislang die meisten in der EU produzierten Impfdosen nach Großbritannien geschickt hat: dem US-Konzern Pfizer.
Stephan Kaufmann
Die EU steht in der Kritik, weil sie bei Covid-19-Impfung weit hinter den USA und Großbritannien zurückliegt. Der Impfstoffkrieg zeigt dabei, welche Sitten derzeit auf dem Weltmarkt herrschen.
EU, Impfstoff, Pandemie, USA, Wirtschaftskrieg
Politik & Ökonomie
Politik Kampf um Impfstoffe
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1150094.auch-multis-haben-eine-heimat.html
Südafrika in der Kohlefalle
Die Kohlepreise sind weltweit im Keller, und zwar schon seit Jahren. »Keep it in the ground« (lasst die Kohle im Boden) - fordern Klimaschützer und finden damit immer häufiger Gehör. Und das hat durchaus auch finanzielle Folgen: Wie die britische Tageszeitung »Guardian« im Dezember berichtete, haben sich inzwischen Fonds und Anleger mit einem Kapital von zusammen 5,2 Billionen US-Dollar bereiterklärt, nicht mehr in fossile Energieträger zu investieren. Ein Jahr zuvor war es noch die Hälfte. Doch nicht alle Länder ziehen mit - für manche könnte ihr Kohlereichtum gar zur Falle werden. Südafrika ist so ein Fall. Bis zum Jahr 2050 müsste das Land entweder sämtliche Kohlekraftwerke oder die Verflüssigungsanlage des halbstaatlichen Ölkonzerns Sasol stilllegen, erklärte Jesse Burton vom Energy Research Centre der Universität Kapstadt im Gespräch mit der Wirtschaftszeitung »Business Day«. Der Bau weiterer Kohlekraftwerke sei in jedem Fall... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Christian Selz
Mit Milliardenkrediten gebaute neue Kraftwerke, enorme Investitionen des Staatsfonds und korrupte Deals gefährden in Südafrika das Erreichen der Klimaschutzziele. Und der Kohlepreis ist im Keller.
fossile Energie, Strom, Südafrika
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1041090.suedafrika-in-der-kohlefalle.html
Saarland ist besonders teuer
Saarbrücken (dpa/ND). Krankenhausbehandlungen sind im Saarland besonders teuer. So kostet ein Kaiserschnitt in einer saarländischen Klinik rund 3000 Euro, über 200 Euro mehr als in Thüringen und noch über 100 Euro mehr als im Bundesdurchschnitt. Das berichtete der Leiter der Krankenkasse TK im Saarland, Jörn Simon, in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa in Saarbrücken. Für eine kompliziertere Lebertransplantation an der Saar müsse die Krankenkassen sogar 98 568 Euro bezahlen, 7527 Euro mehr als in Thürin... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Kassen zahlen mehr für Hospitalbehandlung
Krankenhaus, Saarland
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/175560.saarland-ist-besonders-teuer.html
Großkoalitionärer Hühnerhaufen
Jetzt ist es höchst amtlich: Unsere Konjunktur verliert in diesem und im nächsten Jahr an Fahrt. Schon eine Wachstumsdelle um wenige Stellen hinter dem Komma bewirkt, dass die bislang auf Harmonie getrimmten Großkoalitionäre wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen durcheinanderlaufen. In der CDU/CSU kommen die Wirtschaftsliberalen aus der Deckung und holen ihre Galionsfigur, den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz, zurück in die Politik. In keinem Fall dürfe an der schwarzen Haushaltsnull von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und der Schuldenbremse gerüttelt werden, heißt es. Die Koalitionsvorhaben müssten ja nicht alle im ersten Jahr umgesetzt werden. CDU-Parteivize Michael Fuchs fordert ein Sparpaket - auch damit Deutschland in der EU mit gutem Beispiel vorangeht. Dass damit die Konjunktur weiter einbrechen wird, ficht ihn nicht an. Peter Ramsauer (CSU), Vorsitzender des Bundestags-Wirtschaftsausschusses,... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Ursula Engelen-Kefer
Jetzt ist es amtlich: Unsere Konjunktur verliert in diesem und im nächsten Jahr an Fahrt. Schon eine Wachstumsdelle um wenige Stellen hinter dem Komma bewirkt, dass die bislang auf Harmonie getrimmten Großkoalitionäre wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen durcheinanderlaufen.
Berlin, CDU, Große Koalition, Haushalt, SPD
Meinung
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Mutmaßlicher Entführer gefasst
Im Fall des vor vier Wochen verschwundenen vierjährigen Flüchtlingsjungen Mohamed hat die Polizei einen 32 Jahre alten Mann festgenommen. Zur Festnahme haben Hinweise aus dem familiären Umfeld geführt, teilten sowohl Polizei als auch Staatsanwaltschaft am Donnerstag mit. Nach Informationen der Ermittlungsbehörden wurde im Kofferraum des Autos des Verdächtigen die Leiche eines Kindes gefunden. Die Identität des Kindes sowie die Todesumstände sollten noch am Freitag durch eine Obduktion geklärt werden, so die Staatsanwaltschaft. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der vierjährige Mohamed tot. Über das Motiv des Täters war zunächst nichts bekannt. Der Verdächtige wurde vernommen. Auf einer Pressekonferenz am späten Nachmittag wollte die Polizei weitere Details nennen. Bei dem Festgenommenen soll es sich um den Mann handeln, den Bilder aus mehreren Überwachungskameras in Moabit zeigten. Das berichten die ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Sarah Liebigt
Knapp vier Wochen nach dem Verschwinden des vierjährigen Mohamed in Berlin führten Fahndungsfotos zu dem mutmaßlichen Entführer.
Polizei
Hauptstadtregion
Berlin
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Wann wir schreiten Seit' an Seit' ist noch nicht ausgemacht
Ausgewiesene Parteilinke wie Ottmar Schreiner, Rudolf Dreßler, Hermann Scheer, Andrea Ypsilanti und Johano Strasser haben offenbar die Nase voll. Und nicht nur, weil sie in ihrer Einladung nach Kassel die ein Jahrzehnt anhaltende »Basta- und Abnick-Politik« geißeln, die zu einem »anhaltenden Niedergang der SPD« bis zum historischen Debakel der Bundestagswahl geführt habe. Auch der Umgang der Parteispitze mit dem miesesten SPD-Wahlergebnis seit Ende des 19. Jahrhunderts scheint ihnen nicht zu gefallen. Kritisieren sie doch zugleich den »überfallartigen Ringtausch des Führungspersonals«, der vom Parteivorstand »ohne jede Atempause« abgesegnet worden sei. Doch die »schonungslos offene Aussprache«, die die Anhänger des »Basis-Ratschlages« befürworten, ist ganz offenkundig nicht allen Genossen geheuer. Noch SPD-Generalsekretär Hubertus Heil gab dem »Kölner Stadtanzeiger« zu Protokoll, sich nicht im Klaren zu sein, »was das soll«. Karl Lauter... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Gabriele Oertel
Genau eine Woche vor dem SPD-Parteitag in Dresden haben für den 8. November prominente SPD-Mitglieder zu einem »Basis Ratschlag« nach Kassel eingeladen. Sie wollen eine »schonungslos offene Aussprache« über Ursachen des Debakels der SPD bei der Bundestagswahl. Der Parteivorstand im Berliner Willy-Brandt-Haus reagiert wenig amüsiert.
Kassel, SPD
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Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/158234.wann-wir-schreiten-seit-an-seit-ist-noch-nicht-ausgemacht.html
Sperrzaun am Taschenberg
Flugverbot in der Dresdner Innenstadt: Von Mittwoch bis Sonntag ist der Luftraum in Sachsens Landeshauptstadt für Drohnen und Flugmodelle gesperrt - in einem Umkreis von 1,4 Kilometer rund um das Hotel Taschenbergpalais. Dort treffen sich die etwa 130 Teilnehmer der 64. Bilderberg-Konferenz, um drei Tage lang im Geheimen zu beraten. Ihr Sicherheitsbedürfnis bringt für Hobbyflieger einige Beeinträchtigungen mit sich, vor allem aber für viele Stadtbewohner und Touristen zu Lande. Die Stadt richtete um das Hotel einen »Sicherheitsbereich« ein. In dem Areal, das bis zum Zwinger und dem Residenzschloss mit dem Grünen Gewölbe reicht, sind jegliche Art von Versammlungen sowie Menschenansammlungen mit mehr als 15 Teilnehmern verboten. Mit derlei Maßnahmen ebenso wie mit einem Aufgebot von täglich 400 Polizisten und dem Aufbau eines Zaunes, der 2015 für die Absicherung eines G7-Treffens in Dresden angeschafft worden war, wollen sich die Be... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Protest wird auf Abstand gehalten
Dresden
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1014502.sperrzaun-am-taschenberg.html
Die Erbsünde
Der amerikanische Gründungsmythos - Siedlungsbeginn durch Europäer - beginnt mit einer Lüge. Dennoch wird er nächstes Jahr seinen 400. Jahrestag feiern: die Landung der »Mayflower« mit 102 englischen Siedlern am 21. November 1620 an der Küste von Massachusetts. Abgesehen davon, dass bereits Mitte des 16. Jahrhunderts Kolonisten der Krone in Neufundland zu siedeln begannen, steht vor der Ankunft der Pilgerväter jedoch die Landung des ersten Sklavenschiffs. Am 20. August 1619 in Jamestown, Virginia, löscht ein niederländisches Kaperschiff seine Ladung und übergibt rund 20 Frauen und Männer aus dem heutigen Angola. Sie werden für den Kauf von Schiffsproviant in Zahlung gegeben, wie Tabakpflanzer John Rolfe notiert. Rolfe war bis zu ihrem Tod 1617 Ehemann der legendären Pocahontas, Tochter eines Indianerhäuptlings. Sie hatte zwischen den Algonkin und englischen Siedlern vermittelt. Rolfes Notiz ist das älteste Dokument für den Verkauf von ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Reiner Oschmann
Wer kennt die »White Lion«? Während jedes Schulkind - zumindest in den USA - die Geschichte der »Mayflower« kennt, ist das erste Schiff eher unbekannt. Denn mit ihm gelangten keine europäischen Siedler nach Amerika, sondern Sklaven aus Afrika. Und deren Nachfahren kämpfen noch heute um Reparationen.
Sklaverei, USA
Politik & Ökonomie
Politik Sklaverei
2019-09-20T14:18:54+0200
2019-09-20T14:18:54+0200
2023-01-21T13:39:53+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1126098.sklaverei-die-erbsuende.html?sstr=Jamestown
Unfrieden in der Thüringer Koalition
Eine Debatte über den Ende September im Kanzleramt ausgehandelten Asylkompromiss hätte es in Thüringen ganz sicher gegeben. Zu unterschiedlich sind die Haltungen von Linkspartei, SPD und Grünen zu dem, was Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder in Berlin ausgehandelt hatten. Darunter: Milliardenhilfen des Bundes für die Länder und die Einstufung von Albanien, Kosovo und Montenegro als »sichere Herkunftsländer«. Aber diese Debatte wäre gewiss ruhiger verlaufen, wenn da nicht soziale Medien wie Twitter wären, mit deren Hilfe sich Politiker in nie dagewesener Geschwindigkeit zu Wort melden können. So, wie es die Vorsitzende der LINKEN in Thüringen, Susanne Hennig-Wellsow, mit einem Tweet tat, kaum dass die Eckpunkte des Asylkompromisses bekannt geworden waren. »Thüringen wird der von der Bundesregierung geplanten Verschärfung der Asylgesetze nicht zustimmen«, schrieb sie damals. Problem ist nicht allein, dass T... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Sebastian Haak, Erfurt
Der Asylkompromiss führt zum Regierungsstreit in Thüringen. Aus der SPD wird sogar mit Koalitionsbruch gedroht. Schuld daran sind auch die neuen Medien.
Asylpolitik, Flüchtlinge, SPD, Thüringen
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/987330.unfrieden-in-der-thueringer-koalition.html
Massaker durch US-Luftangriff in Somalia
Washington Bei einem Luftangriff der US-Armee sind nach Angaben des Pentagon rund 60 Kämpfer der Shebab-Miliz getötet worden. Bei der Attacke in der Region Harardhere am Freitag seien keine Zivilisten ums Leben gekommen, behauptete das US-Militär am Dienstag. Es handele sich um den folgenreichsten Schlag gegen die Islamistengruppe seit November 2017. AFP/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Somalia, USA
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1103745.massaker-durch-us-luftangriff-in-somalia.html
Peter Sodann: Der Trotzist
Dieser Kommissar hieß Bruno – Ehrlicher. Als führe Ehrlichkeit zum guten Ziel. Der geradezu partisanische Name war kein sehr feinsinniger Witz, eher ein richtig grobes Ding. Das passte zu Peter Sodann. Der achtete in jeder seiner Regungen auf einen gewissen Anteil von Grobheit. Weil er danach suchte, deutlich zu sein. Er hätte, gefragt nach seinen Universitäten, wahrscheinlich unumwunden geantwortet: die Niederungen. Wo der Schmutz unter die Fingernägel kriecht – man nennt das auch Arbeit. Sodanns Arbeit an der eigenen Aura: noch beim Siegen die Strahlung des Geringen wahren, des Stutzigen, des Ungelenken. Ehrlicher war der erste ostdeutsche »Tatort«-Kommissar nach der Wende: sächsisch nicht als Dialekt, sondern als Haltung. Der Mann kam nicht aus dem Heldentum, sondern aus der Nachbarschaft. Einkaufstüten waren ihm näher als die Pistolentasche. Raffiniert begriffsholzig wie ein Provinz-Columbo, raffiniert einfältig wie ein Schwejk, klug wie tückisch einen falschen Verdacht schürend: Er sei womöglich nur ein altbackener Simplicius Simplicissimus des Beamtentums. In Halle hat Intendant Sodann, über 20 Jahre lang, mit Kraft, List, Ausdauer, Fantasie und vielen treuen Mitstreitern aus einem alten Kino eine Kulturinsel geformt, die überregional für Schlagzeilen sorgte. Weil dieser Kulturort in Sachsen-Anhalt so entschieden örtlich blieb, so bodenständig, hallensisch sozusagen. Ohne jede fremdgesteuerte Angleichung an aktuelle medienpolitische Trendbörsen. Dies »neue theater« war Zentrum einer Kultur aus Bildung, Unterhaltung und Kneipe. Dazu ein Puppentheater, eine Galerie, eine Bibliothek. Sagte Shakespeares Lear von sich, an ihm sei jeder Zoll ein König, so war bei Sodann jeder Zoll ein Schlitzohr. Kumpel auf dem Kaiserthron. Für diesen Eindruck tat er viel. Schlurfte, ging zu den Stammtischen, als sei der Weg dahin ganz roter Teppich. Vielleicht nicht Teppich, jedoch rot. Ein gebürtiger Meißener, aber fern allem Porzellan. Er hinterließ lieber Scherben, als nur immer einer glatten, bruchlosen Schaufensterglanzgesinnung zu folgen. Sein Vater war Stanzer, blieb in Hitlers Krieg, die Mutter Landarbeiterin – solche Leute hatten triftigen Grund, nach der Ruinenzeit einen Staat zu preisen, der Arbeitermacht danach bemaß, was ein Arbeiter aus sich machte. Und ein Arbeiter vom Schlage Sodann hatte dann das Richtige aus sich gemacht, indem er nicht alles mit sich machen ließ. Er gehörte einer Generation an, mit der, wenn sie ausstirbt, auch der Begriff ABF ausgestorben sein wird: Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. 1961 sperrte ihn der Staat weg, wegen Mitgliedschaft im Leipziger Studentenkabarett »Rat der Spötter«. Sechs Monate Einzelhaft. Der zähe Kerl ließ sich trotz der Schikanen nicht zum Feind machen (da konnten sich Staat und Stasi, das eine verknotet im anderen, noch so anstrengen). Seltsame Fügungen: Im Fernsehen stellte der einst Verfolgte später ausgerechnet den General Mielke dar, im »Deutschlandspiel«, und einen weiteren Offizier der Staatssicherheit, in »Nikolaikirche« von Frank Beyer und Erich Loest. Nach aufgezwungener Dreher-Arbeit im VEB Starkstromanlagenbau Leipzig durfte Sodann sein Schauspielstudium fortsetzen, er spielte am Berliner Ensemble (Krach mit der Weigel), in Erfurt, in Karl-Marx-Stadt, wurde Schauspieldirektor in Magdeburg. Dann Halle. Die SED hat er verflucht, aber einem der vielen Stasi-Spitzel, die auf ihn angesetzt waren, hat er später die Grabrede gehalten. Er nannte sich einen betenden Kommunisten und hängte im Hallenser Theater-Café Jesus, Lenin und Einstein auf – seine utopische Dreifaltigkeit. Den Herbst 1989 nannte er nicht Revolution, sondern: »Gefängnisaufstand« – ein Volk jagte seine Wärter davon. Er hatte als Intendant Spaß am störrischen Behaupten eines Ensembles von Jung und Alt, und auch daran, etwa den BE-Regisseur Manfred Wekwerth bei sich inszenieren zu lassen – dies just in jenem Moment, da sich dem Ex-ZK-Mitglied und Akademiepräsidenten die großen Theater politisch korrekt verweigerten. Als Komödianten-Chef vereinte Sodann den Zirkusdirektor mit dem Pastor, er war Vorsteher und Hausmeister, Familienhüter und Weltenkönig. Ein sozialistischer Prinzipal Striese, Peter, der Große: Zar dort, wo er auch Zimmermann sein durfte. Nach dem Ende der DDR Organisator beliebter (kämpferischer!) 1.-Mai-Umzüge, auf der Bühne dickköpfig und unverblümt daran glaubend, dass man Büchner und Millowitsch, Schiller und Ohnsorg verbinden könne. Er konnte. Des Intendanten Credo: »Bei mir wird auf dem Flügel nicht gevögelt.« Theater spielte und inszenierte er knorrig, volksnah, unverschnörkelt. Wirkte so auch in Filmen von Lothar Warneke (»Addio, piccola mia«), Roland Gräf (»Der Tangospieler«), Bernhard Wicki (»Sansibar oder Der letzte Grund«). Unvergesslich sein alter Genosse in Andreas Dresens »Gundermann«. Sodann gibt im Film einen SED-Genossen, gestählt in Klassenkämpfen, jetzt ein Strickjacken-Opa, der sehr viel Verständnis für den jungen rebellischen Baggerführer aufbringt – nein: scheinbar nur, denn das so zugewandte Gesicht erweist sich als inquisitorische Maske eines eisig Abrechnenden. Vertrauen als Folterinstrument. Da maßt sich ein Veteran das Aburteil an, also: die Entfernung eines jungen Unbotmäßigen aus der Partei. Ein alter kalter Gott, der aber ganz warm lächelt. Ein Lauern auf Samtpfoten. Das Leder der ideologischen Härtung taugt noch immer zur Peitsche. Grandios abstoßend, herzschnürend. Sodann war ein Spieler ganz aus Hintergründen heraus, er blendete nicht mit Präsenz, aber er leuchtete doch aus, listig, mit Vorliebe für Lädierte und Gezeichnete. Proletkult ganz auf der Höhe des Romantischen. Und: Er wusste, wie man ein Problem am sinnfälligsten löst. Ganz einfach: Man wendet sich flugs einem anderen Problem zu. Sodann war nämlich eines Tages nicht mehr Prinzipal der Theaterinsel in Halle, eines weiteren Tages nicht mehr TV-Kommissar, und Bundespräsident wurde der Linkskandidat 2009 auch nicht. Also wechselte er das Aufmerksamkeitsfeld: Er konzentrierte sich mit gehöriger Leidenschaft auf seine DDR-Bibliothek. In Staucha (Landkreis Meißen) gedieh sie gewaltig, im ausgebauten Heuboden des Kuhstalls und in der Scheune eines ehemaligen Ritterguts. Wuchs und wuchs. Der Bestand umfasst mehrere Millionen Exemplare. Die Bibliothek lebt: Sie sprengt Räume. Ein beglückendes Problem. Freunde sagten, dieser kantige Kerl sei ein Fossil. Das ist heiter benannte Traurigkeit: Wahre Clowns sind immer von gestern, weil ihre Unbeholfenheit unpassend bleibt; das Ungeschmeidige stört. Sodann hat nie aufgehört mit ganz einfachen, aber sturen Gedanken. Etwa über die ungerechte Verteilung von Reichtum, Arbeit, Macht. Er blieb Plebejer, Diderot und Brecht im Munde führend. Die plebejische Art als intelligente Ausnutzung des Vorurteils, es fehle dem Plebejertum vor allem an Intelligenz. Plebejertum ist Souveränität von unten auf, gerichtet gegen alles, was von oben herab Herrschaft versucht. In diesem Sinne war Sodann nie Trotzkist, ein Trotzist ist er geblieben. Erdig, ostig, wetterfest, unaufwendig, schlipsfremd, handwerklich, trittfest, robust. Nicht sehr weltläufig – aber der wahre Überblick wächst aus dem Bewusstsein, dass es der feine Riss ist, der jeden Mauerbeton sprengt. Nun ist Peter Sodann im Alter von 87 Jahren gestorben.
Hans-Dieter Schütt
Der Mann kam nicht aus dem Heldentum, sondern aus der Nachbarschaft: Der Schauspieler Peter Sodann ist im Alter von 87 Jahren gestorben.
Theater
Feuilleton
Kultur Nachruf
2024-04-07T18:05:34+0200
2024-04-07T18:05:34+0200
2024-04-08T18:19:45+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1181294.peter-sodann-der-trotzist.html
Zeitreise: Sukowa gibt Konzert in Berlin
(ND). Die international gefeierte Theater- und Filmschauspielerin Barbara Sukowa (»Rosa Luxemburg«, »Berlin Alexanderplatz, »Lola«) kommt mit ihrer Band »The X-Patsys« für zwei Konzerte nach Deutschland. Ganz im Geiste von »Devouring Time«, der neuen CD-Produktion von Barbara Sukowa & The X-Patsys, warte eine alles »ver... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Schauspieler
Hauptstadtregion
Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/181634.zeitreise-sukowa-gibt-konzert-in-berlin.html
Hungerstreik gegen türkische »Kriegspolitik«
»Der Hungerstreik ist eine friedliche Form des Widerstandes. Durch ihn solidarisieren wir uns mit der Jugend in Nordkurdistan«, sagt die 19-jährige Hêvîn Tekin am Dienstag vor einem Zelt am Brandenburger Tor. Gemeinsam mit rund 30 weiteren Aktivisten will sie bis Donnerstagabend einen Hungerstreik durchführen, um auf das militärische Vorgehen des türkischen Staates in den kurdischen Gebieten aufmerksam zu machen. »Die Gräueltaten lassen mir keine Ruhe. Auch ich habe dort Familie«, sagt Tekin. Gefordert wird von den Aktivisten eine »Demokratisierung« der Türkei, »Freiheit« für den inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan, eine Aufhebung des in Deutschland geltenden Verbots der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie ein Ende der »Unterstützung der Bundesregierung für die Kriegspolitik des türkischen Staates«. Bereits seit dem frühen Nachmittag hatten Aktivisten die Aktion vorbereitet, die am Abend starten sollte. Ein Bündnis verschiedener kurdischer Gruppen hatte zuvor zu dem Hungerstreik aufgerufen. Unter den Organisationen sind unter anderem der Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) sowie die Jugendorganisation der Partei der Demokratischen Union (PYD), die als syrischer Ableger der PKK gilt. »Solange das Sterben in den kurdischen Gebieten weiter geht, solange wird es auch weitere Aktionen von uns geben«, sagt der 28-jährige Aktivist Arif Jan. seb Foto: nd/Ulli Winkler
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Türkei
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Brandenburg
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1000375.hungerstreik-gegen-tuerkische-kriegspolitik.html
Wenn der dringend benötigte Treppenlift nicht genehmigt wird
»Es war ein Albtraum«, erinnert sich Alexandra Becker aus dem nordrhein-westfälischen Dülmen. Monatelang spielte sich ihr gesamtes Leben im Wohnzimmer ab: Sie übernachtete auf dem Sofa neben dem Pflegebett ihres schwer mehrfachbehinderten Sohns Sandro. Spätestens nach der zweiten Hüftoperation war Becker klar, dass es dem 75 Kilo schweren, schon zuvor gehbehinderten Jugendlichen niemals mehr möglich sein würde, über die Treppe ins Obergeschoss zu gelangen. Dort hat er sein Zimmer und ein behindertengerechtes Bad. Selbst Hochziehen am Treppengeländer und Runterrutschen auf dem Schoß der Mutter ging nicht. Der rund 38 000 Euro teure Rollstuhltreppendeckenlift war längst vom Facharzt verordnet. Doch die Krankenkasse genehmigte ihn nicht. Alexandra Becker ließ eine Pflegeberatung kommen, schrieb an die Krankenkasse. Ein aufgrund der Akten erstelltes Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) behauptete, die Familie hätte einen Aufzug und bräuchte deshalb keinen Lift, obwohl kein Aufzug existierte. Wieder verging kostbare Zeit. Nach fast einem Jahr Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse wurde der Treppenlift schließlich bewilligt. Viele Eltern von behinderten Kindern könnten ähnliche Geschichten erzählen. Es gibt Familien, die gar keine Hilfsmittel mehr beantragen, weil sie resigniert haben. Die Pflege schwer kranker oder behinderter Kinder verlangt den Eltern viel Kraft ab. Da bleibt oft keine Energie mehr, um für Fußorthesen oder einen zweiten Therapiestuhl für den Kindergarten zu kämpfen. Betroffene initiierten eine Petition mit 55 000 Unterschriften, die im Mai 2021 dem Petitionsausschuss im Bundestag überreicht wurde. Darin verlangen die Unterzeichner, dass Krankenkassen ärztlich eingeleitete Therapien oder Verordnungen nicht systematisch infrage stellen, sondern übernehmen. Weitere Forderung: Der Medizinische Dienst soll nicht durch fachfremde Gutachter und nur nach Aktenlage über die Gewährung von Hilfsmitteln entscheiden dürfen. Der sozialmedizinische Beratungs- und Begutachtungsdienst der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung soll sicherstellen, dass die Leistungen der Kranken- und der Pflegeversicherung nach objektiven medizinischen Kriterien allen Versicherten zu gleichen Bedingungen zugutekommen. Die Krankenkassen seien nicht verpflichtet, den Medizinischen Dienst bei der Hilfsmittelversorgung mit einer Stellungnahme zu beauftragen, weshalb nur ein sehr geringer Teil der jährlich bundesweit rund 19 Millionen verordneten Hilfsmittel zum Medizinischen Dienst kämen. Der Verein »Hölder-Initiative für Kultur und Inklusion« in Lauffen bei Heilbronn spricht sich für eine »Umkehr der Beweislast« aus: Die Eltern sollten die verordneten Hilfsmittel grundsätzlich von der Krankenkasse erhalten, es sei denn, die Kassen können belegen, dass diese überflüssigerweise verordnet wurden. Wichtig sei außerdem, dass bei schwerbehinderten Kindern oder Kindern mit unheilbaren Erkrankungen die Pflegegrade entfristet würden und nicht immer wieder neu belegt werden müsse, warum das Kind beispielsweise weiterhin Physiotherapie benötigt. epd/nd
Judith Kubitscheck
Beantragen, warten, streiten: Eltern behinderter Kinder müssen mit Krankenkassen oft um Hilfsmittel kämpfen, die schon längst verordnet wurden und die im Alltag dringend benötigt werden.
Gesundheitspolitik, Krankenkasse
Ratgeber
2022-01-13T20:05:15+0100
2022-01-13T20:05:15+0100
2023-01-20T19:35:30+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1160431.wenn-der-dringend-benoetigte-treppenlift-nicht-genehmigt-wird.html
Laut und grell
Die siebtgrößte Stadt Europas ist Kiew, 2,8 Millionen Einwohner, doch was die Lautstärke anbetrifft, ist sie ganz sicher die Nummer eins des Kontinents. Wo immer man sich in der Stadt aufhält, der Verkehr dröhnt mehrspurig um einen herum. Uralte Wolgas, fabrikfrische BMWs, chinesische Geländewagen, postsowjetische Kleinbusse, ächzende Trolleybusse, quietschende Straßenbahnen - alles wirrt so ziemlich kreuz und quer durcheinander, angeleitet allein vom ewigen Hupen und im Ausnahmefall auch von den Ampeln. Und doch ist die Stadt Kiew für einen Moment verstummt, so hörte es sich jedenfalls am Donnerstagabend an. Ukraine raus, Schweden raus, auf der große Fanmeile am Majdan waren zwar Zehntausende gekommen,... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Fußball, Fußball-EM 2012, Ukraine
Sport
Sport Abseits
https://www.nd-aktuell.de//artikel/230610.laut-und-grell.html
Auf der Suche nach einem Ort, an dem sich in Frieden leben ließe
Es sollte der ganz große Wurf werden, ein Stück über Migration und Flucht, vor sich selbst oder der Welt, vor äußerer Verfolgung oder dem inneren Bedrängtsein. »Exodos« nennt Sasha Waltz die Kreation zum 25-jährigen Bestehen ihrer Compagnie, setzt damit die Recherchen des Vorgängerprojekts »Kreatur« fort und erweitert die Uraufführung auf rund 165 pausenfreie Minuten. Mit einer Fülle an Bildern und Bezügen warten sie und ihre 26 Tänzer auf und bespielen beide Säle im Radialsystem, ehe sich die Aktion auf einen Raum konzentriert. Beim griechischen Begriff Exodos denkt man zuerst an die biblische Flucht der Stämme Israels aus Ägypten, ihren Gang durch das sich teilende Rote Meer. Eigentlich bezeichnet das Wort den Abzug der Spieler aus dem antiken Drama, es lässt sich aber auch auf die Migranten von heute beziehen, auf deren oft tödliche Odyssee, auf die sie sich auf der Suche nach einer lebenswerten Existenz in einem fremden Land begeben. Viel Stoff also und viele mögliche Assoziationen. Zu beiden Seiten eines Glaskastens betritt man den ersten Raum und fühlt sich wie in einem Panoptikum. Enge Vitrinen auf Podesten bergen wachsbleiche starre Gestalten, aus dem Nebel durch Oberlicht herausgehoben, ihrem Gefängnis hilflos ausgeliefert. Im zweiten Raum, über eine Schleuse verbunden, lässt ein Trio einen Tänzer per Seilzug immer wieder schweben: Jesus am Kreuz oder römischer Gladiator in barocker Pose; rotgewandete Frauen zieht er an Arm oder Bein mit sich. Ein Deckenleuchter erhellt matt die Szene, ein riesiges Gebläse windet. In Raum 1 haben derweil die Wesen ihren transparenten Kerker verlassen, helfen einander, mischen sich unter die umstehenden Zuschauer und beziehen sie - von Sasha Waltz ist das so beabsichtigt - in das Geschehen ein. Holzstäbe tragen einzelne Tänzer wie Streben des Kreuzes, die Tänzer balancieren darauf, der Kopf des einen ist von einem Seil umwickelt. Autoverkehrsgeräusche und weiteren bearbeiteten Live-Lärm legt das Soundwalk Collective als Klangcollage darüber. Eine Tänzerin schleppt an Fäden Schuhe hinter sich her, ein Waschbecken rollt herein, Rundspiegel tauchen auf. Überall ereignet sich etwas, Zuschauertrauben bilden sich, jeder wählt, was er sehen möchte, Zufall komponiert das Stück. Mit Kreide umranden Akteure den Standort der Zuschauer, als Momentaufnahme auf der Spur durch den Abend; eine Gliederpuppe wird in einen der Glasarreste hineindrapiert. Als nur eine ferne Lichtquelle aufleuchtet, drängen alle, Spieler wie Publikum, dorthin, werden eins. Eine Prozession durch aus Leibern geformte Tore formiert sich, für alle, die mitmachen möchten. Selbst eine Radlerin quetscht sich durch. Dann bilden die Akteure einen Belag aus menschlichen Steinen, über die geschritten wird, ehe in den zwölf Paaren jeder seinen Partner traktiert, dann fürsorglich trägt. Temporäre Skulpturen entstehen so, die sich auflösen. Tänzerisch dynamisch wirkt dies Räderwerk in den Raum hinein, wird zum Rangeln und Seilziehen zweier Parteien, dann folgt Sprung über ein viele Meter langes Seil. Inzwischen hat sich das Geschehen in Raum 1 verlagert. Der Glaskasten des Eingangs rückt als Auffanglager ins Zentrum, wird umrundet, erklommen, durch eine Öffnung betreten; Sentas Ballade vom Fliegenden Holländer, auch solch ein zur Flucht Verdammter, kämpft, live gesungen, gegen den Gebläselaut an. In Folkloreformen finden sich da die Menschen, Kette, Mühle, Walzer, skandieren immer wieder: »Utopia!« Sie meinen damit wohl jenen Ort, an dem sich in dauerhaftem Frieden leben ließe. Ein Mann, ein Flüchtling vielleicht, wird eingesperrt und hämmert gegen die Wände, eine Frau reinigt ungerührt die Wände von seinen Abdrücken. Wummernde Beats leiten dann unter Lichtgewitter einen Discotaumel à la Ballermann ein, dem sich Zuschauer anschließen. In der Umarmung vorm Untergang endet der Exzess, die Frauen zerren amazonenhaft ihre gefesselten Männer durch den Raum. Folien, wie sie bereits in »Kreatur« verwendet wurden, legt man zum Kreis, darin sich unter Bodendampf zwei mögliche Pythias verhakeln. Gerollt werden die Folien zu menschlichen Ersatzteilen, Arm oder Bein, ragen wie fragile Gestänge auf. Ein Mann schwingt die weiße Fahne, ist es die der Kapitulation? Dann aber doch noch das gute Ende. Koital verklammert hockt ein Paar im Kasten, wird daraus vertrieben, singt ein italienisches Canzone und das Chanson von den Parole, den leeren Worten, und verlässt plaudernd den dunkelnden Kampfort. Der beabsichtigte ganz große Wurf ist das Welterklärungsepos »Exodos« eher nicht geworden, ein eindringlicher Bilderbogen humanen Fehlverhaltens aber wohl, aus dem jeder sich sein persönliches Stück zusammenpuzzeln kann.
Volkmar Draeger
Sasha Waltz & Guests gastierten mit der Choreografie »Exodos« im Radialsystem
Tanz
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1098589.auf-der-suche-nach-einem-ort-an-dem-sich-in-frieden-leben-liesse.html
Laschet bindet Rechte ein
Die Sitzung der CDU-Spitze am Montag war eine Krisentagung. Parteichef Armin Laschet war nach Teilnehmerangaben empört. Anlass hierfür waren Äußerungen des Thüringer Bundestagskandidaten Hans-Georg Maaßen bei TV Berlin zu möglichen Gesinnungstests bei Journalisten der Tagesschau. Ohne den früheren Geheimdienstchef beim Namen zu nennen, sagte der Kanzlerkandidat nach Informationen der dpa aus Teilnehmerkreisen: »Solche Debatten schaden uns.« Zugleich warnte Laschet, dass sich die Umfragen wieder ändern könnten. Derzeit haben die Konservativen einen komfortablen Vorsprung vor den Grünen. Zugleich betonte Laschet nach Teilnehmerangaben, es werde keine Kooperation und keine Verhandlungen der Union mit der AfD nach der Bundestagswahl im September geben. Der CDU-Chef wurde mit den Worten zitiert: »Wir sind da ganz klar. Ich erwarte von jedem Direktkandidaten, dass er sich daran hält.« Maaßen steht der AfD inhaltlich nahe und hatte Kontakt zu ihren Spitzenleuten. Nach der Sitzung tat CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak vor den Journalisten allerdings so, als gebe es kein großes Problem. »Pressefreiheit hat Verfassungsrang. Das ist essenziell für das Funktionieren der Demokratie«, sagte Ziemiak. Er erklärte, dass Maaßen zurückgerudert sei und keine Gesinnungskontrolle mehr wolle. Maaßen hatte nach heftiger Kritik, die vor allem von Politikern aus den Reihen von SPD, Linken und Grünen geäußert wurde, im Kurznachrichtendienst Twitter geschrieben: »Unabhängiger Journalismus und ein politisch unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk sind für die Demokratie unverzichtbar.« Ein Parteiausschlussverfahren gegen Maaßen sei kein Thema im Bundesvorstand gewesen, so Ziemiak. Allerdings wird diese Forderung von einigen CDU-Politikern erhoben. »Ich würde meiner Partei raten, ein Parteiausschlussverfahren gegen Herrn Maaßen anzustrengen, auch jetzt im Wahlkampf - vielleicht gerade jetzt, denn er wird immer wieder neu provozieren«, sagte der langjährige Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz am Montag im Inforadio vom rbb. Maaßen habe der Partei wiederholt geschadet. Zuvor hatte der niedersächsische CDU-Landeschef Bernd Althusmann Maaßen einen Parteiaustritt nahegelegt. Viele Spitzenleute der CDU teilten diese Haltung nicht. »Die Äußerungen waren alles andere als klug. Aber jeder ist ja seines Glückes Schmied«, sagte der stellvertretende Parteichef Volker Bouffier, der zugleich Ministerpräsident in Hessen ist, am Montag bei seinem Eintreffen zu den letzten regulären Beratungen der CDU-Spitze mit Armin Laschet vor der Sommerpause. »Aber wir sollten das nicht überbewerten«, fügte er hinzu. Thomas Strobl, ebenfalls ein Stellvertreter von Laschet und Innenminister in Baden-Württemberg, sagte auf die Frage, ob der CDU-Vorsitzende zu Maaßen Stellung beziehen solle: »Ich finde, dazu muss sich der Bundesvorsitzende nicht äußern. Es gibt viele Äußerungen, und nicht alles muss man kommentieren.« Das Präsidiumsmitglied Karl-Josef Laumann vom Arbeitnehmerflügel der Partei sagte, Maaßen stehe »ganz, ganz weit rechts von der CDU«. »Aber bislang war alles, was er gemacht hat, sicherlich so, dass es noch so eben im CDU-Spektrum passt.« Maaßen sei Kandidat in einem thüringischen Wahlkreis. »Ich glaube nicht, dass es bei ihm Äußerungen gibt, die ein Parteiausschlussverfahren rechtfertigen«, sagte der nordrhein-westfälische Arbeitsminister. Maaßen hatte sich in Thüringen wohl auch deswegen als Kandidat für den Bundestag durchgesetzt, weil viele CDU-Leute vor Ort davon ausgehen, dass sie mit ihm die AfD kleinhalten können. Der Streit um seine Person wird nun dazu führen, dass Maaßen der Liebling von allen bleibt, denen die CDU unter Kanzlerin Angela Merkel zu liberal geworden ist. Andererseits ist es aber auch möglich, dass der frühere Präsident des Verfassungsschutzes mit seinen Äußerungen bürgerliche Wähler der Union verschreckt und ihr somit Schaden zufügt. Provokation und Dementi - Daniel Lücking über die Menschenfänger am rechten Rand In der Partei hat Maaßen noch einige prominente Fürsprecher. Zur Aufstellung von Maaßen als Direktkandidat in Südthüringen hatte der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz Ende Mai gesagt, das sei »die späte Projektion einer Entwicklung, die seit 20 Jahren zu beobachten ist« und eine Reaktion der Basis auf die personelle Besetzung der Regierung und der Partei. »In der CDU wird heute nicht mehr das ganze Spektrum der Union abgebildet«, hatte Merz in der »Welt am Sonntag« kritisiert. Zugleich lobte er den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet, der zum Beispiel immer Wert darauf gelegt habe, in seiner Landesregierung die Strömungen der CDU mit unterschiedlichen Personen zu integrieren und zu repräsentieren. Im Bund und in der Partei gebe es diesbezüglich aber Leerstellen, so Merz. Diese Integrationspolitik von Laschet führt nun dazu, dass er nicht hart gegen weit rechts stehende Leute wie Maaßen durchgreift und dessen Kompagnons sogar einbindet. Friedrich Merz kann sich nach der Wahl im September Hoffnungen machen, einen wichtigen Posten in der Bundesregierung zu erhalten. Er ist Mitglied im Wahlkampfteam des CDU-Kanzlerkandidaten, ohne ein Amt in der Partei zu bekleiden.
Aert van Riel
In der CDU halten einige Politiker ihren Kollegen Hans-Georg Maaßen nicht mehr für tragbar und wollen ihn loswerden. Armin Laschet ist ebenfalls verärgert. Der Parteivorsitzende wird aber keinen innerparteilichen Konflikt riskieren.
Antisemitismus, Armin Laschet, CDU, Hans-Georg Maaßen, Rechtsextremismus, Werteunion
Politik & Ökonomie
Politik Hans-Georg Maaßen
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1154092.laschet-bindet-rechte-ein.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
Ein gemeinsamer Kampf dort und hier
Auf den türkischen Krieg gegen Afrin in der Demokratischen Föderation Nordsyrien (Rojava) haben auch Staaten wie die USA, Russland, Syrien und Iran erheblichen Einfluss. Steht Rojava im Zentrum der neuen imperialen Konflikte? Ja, in Rojava und auch in Syrien sind verschiedene regionale und internationale Kräfte vertreten. Zahlreiche Länder sind dort direkt mit ihren Armeen oder indirekt wie Saudi-Arabien mit Söldnertruppen präsent. Die Türkei hat schon vor ihrem Angriffskrieg mit Unterstützung des Islamischen Staats und der Al Nusra versucht, sich in Nordsyrien Geltung zu verschaffen. In dieser Gemengelage haben die kurdischen Kräfte eine demokratische Selbstverwaltung aufgebaut und immer versucht, Rojava und seine Einwohner, die verschiedenen Ethnien und Religionen zu beschützen. Die internationalen Kräfteverhältnisse hatten den Vorteil, dass man sich Räume erkämpfen konnte, indem man verschiedene Interessen für sich nutzte. Aber die verschiedenen Beteiligten verfolgen auch ihre eigenen Interessen, wie wir gerade erleben. Welche Rolle kann Rojava in der offenen Demokratiefrage des Nahen Ostens spielen? Rojava ist gegenwärtig das demokratischste Modell im Nahen Osten. Von Iran über Saudi-Arabien bis zur Türkei gibt es kein Quäntchen demokratische Verhältnisse. Die Frau kommt dort, wie ein Sprichwort sagt, erst nach dem Ochsen. Die Revolution in Rojava kann zur Demokratisierung der Region beitragen, was die Befreiung der Frauen, aber auch die Religionsfreiheit angeht. Nicht nur die Kurden in Syrien, auch viele Araber sehen das selbstverwaltete Projekt Rojava inzwischen als einen Weg in die Befreiung. In Rakka und vielen anderen Teilen Syriens haben die Menschen die Ideen übernommen und versuchen, sie zu leben. Jetzt wird dieses Projekt von der Türkei in Afrin angegriffen. Dagegen gibt es weltweit Demonstrationen. Was sind die Perspektiven dieser Proteste? Der Kampf wird natürlich in Afrin geführt und dort entschieden. In Afrin steht die zweitstärkste Armee der NATO den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gegenüber, die nicht mal Flugabwehrraketen und Panzerabwehrwaffen haben. Wir hier im Westen können nicht viel mehr als ein Sprachrohr für Afrin sein, Öffentlichkeit schaffen, internationale Solidarität organisieren und moralische Unterstützung leisten. Aber Kriege werden nicht nur mit Waffen geführt, daher sollten die weltweiten Solidaritätsaktionen nicht unterschätzt werden. Wir können auf die Bundesregierung einwirken, dass sie ihre Unterstützung als Kriegspartei an der Seite des türkischen Regimes beendet. Damit leisten wir auch einen Beitrag zur Einhaltung internationaler Rechtsnormen. Internationale Solidarität war in den vergangenen 30 Jahren kaum sichtbar. Mit dem Kampf um Kobane 2014 und der Befreiung vom IS im darauffolgenden Frühjahr ist wieder eine breite Solidaritätsbewegung entstanden. Wie erklären Sie sich das? Das liegt am Charakter der Revolution in Rojava. Sie ist eine ökologische Revolution, die im Einklang mit der Natur steht und nicht im Dienste kapitalistischen Profitstrebens. Es gibt eine fortschrittliche Bewegung, die nicht in nationalstaatlichen Grenzen denkt, die sich nicht nur für die Rechte der kurdischen, sondern aller Menschen einsetzt. Es sind dieselben Inhalte, für die auch hier Menschen schon lange auf die Straße gehen. So besteht eine Verbundenheit zwischen den Kämpfen dort und hier. Und in all dem scheint auch die Perspektive auf, dass es noch einen anderen Weg als den des Kapitalismus gibt. Welche Auswirkungen hat die Idee des demokratischen Konföderalismus, die in Rojava gelebt wird, auf die kurdische Gemeinschaft hierzulande? Das Projekt Rojava ist in der kurdischen Geschichte einmalig. Die Ideale, die dort gelebt und verteidigt werden, sind für sehr viele Menschen, die aufgrund der Verfolgung aus der Region geflohen sind, ein starkes Symbol, das bis hierher ausstrahlt. Zum Beispiel haben wir hier ähnliche Strukturen entwickelt. In den kurdischen Vereinen gibt es zwei Co-Vorsitzende, eine Frau und einen Mann. Es gibt auch hier eine eigenständige Frauenorganisation, was zur Folge hat, dass sich viel mehr Frauen engagieren und für ihre Rechte einstehen. In jedem Verein gibt es eine Arbeitsgruppe zu Ökologie, zu Frauenrechten und zu Minderheiten. So war Rojava beispielgebend für die Strukturen hier in Europa. Das PKK-Verbot in der Bundesrepublik jährt sich in diesem Jahr zum 25. Mal. Wie bewerten Sie, dass die Bundesregierung daran festhält und es sogar ausweitet in Form von Verboten weiterer kurdischer Flaggen und Symbole? Früher wurden hier auch der ANC oder die PLO als Terrororganisationen diffamiert. Deswegen wissen doch alle, wie es einzuschätzen ist, wenn die Bundesregierung behauptet, die PKK sei eine Terrororganisation. Im Fall der PKK steht man jedoch vor der besonderen Situation, dass die Türkei schon lange ein NATO-Verbündeter der Bundesrepublik ist, und dass die Bundesregierung über die Türkei ihre Politik zum Nahen und Mittleren Osten bestimmt hat. Kein anderes europäisches Land hat die PKK so verfolgt wie Deutschland. Hier sind beispielsweise die PKK-Fahnen verboten und dürfen nicht auf Demonstrationen geschwenkt werden. Die Bundesregierung fährt im Interesse und auf Verlangen des türkischen Staates oft auf subtile Weise eine ganz harte Linie, die einen großen Teil der kurdischen Migrantinnen und Migranten bevormundet, kriminalisiert und sie ins Abseits des politischen Lebens drängt. Das kann nicht hingenommen werden. Jetzt ist davon auszugehen, dass die neue Bundesregierung wieder Waffen aus deutscher Produktion an die Türkei liefern wird ... Ja, auch das spricht für die deutsche Politik, obwohl es bewiesen ist, dass dieses Kriegsgerät dort in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eingesetzt wird. Schon in der Vergangenheit hat man darüber hinweggeschaut, wie die Türkei im eigenen Land gegen die kurdische Bevölkerung Krieg geführt hat. Heute schaut man weg, wie die Türkei in andere Länder eindringt, um den kurdischen Widerstand zu eliminieren. Haben Sie Erwartungen an die neue Bundesregierung? Die Türkei ist nicht mehr die Türkei, die sie vor drei oder fünf Jahren war. Seit dem Militärputschversuch im Juli 2016 entwickelt sich das Land mit großen Schritten zu einem faschistoiden Staat, zu einer islamistischen Republik. Insofern ist es nicht zu viel verlangt, wenn man von der neuen Bundesregierung erwartet, dass sie jegliche Unterstützung des türkischen Staates einstellt, solange in der Türkei Menschenrechte verletzt, solange in der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung und über die Grenzen der Türkei hinaus Kriege geführt werden. Wie mit Kobane, als aufgrund des öffentlichen Drucks viele Staaten nicht mehr stillschweigend zuschauen konnten, hoffen wir, dass jetzt mit Afrin eine ähnliche Situation entsteht. Denn es sind dieselben Kräfte, die gegen die Banden des IS kämpften und sich heute gegen den türkischen Angriffskrieg verteidigen. Werden die zahlreichen Proteste gegen den türkischen Einmarsch weitergehen? Es stehen verschiedene Aktionen sowohl in Deutschland als auch in Europa an. Für den 3. März ist in Berlin die bundesweite Demonstration »Gemeinsam gegen die türkischen Angriffe auf Afrin« geplant. Solange diese Angriffe weitergehen, werden wir hier unseren Protest auf die Straße tragen, nach Bündnispartnern suchen, gemeinsam mit möglichst vielen Menschen und Gruppen versuchen, dem Krieg Einhalt zu gebieten.
Niels Seibert
Weltweit protestieren Kurdinnen und Kurden gegen die türkischen Angriffe auf Afrin. In Deutschland werden die Proteste kriminalisiert. Betroffen ist nicht nur die PKK. Yavuz Fersoglu vom kurdischen Verband NAV-DEM spricht über die aktuelle Situation.
PKK, Syrien, Türkei
Politik & Ökonomie
Politik Kurdischer Verband NAV-DEM
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Befristet Forschen
Nur für einen Teil seiner Wissenschaftler ist Brandenburg heute das Land, in dem Milch und Honig fließen. Es handelt sich zwar nicht mehr um die Probleme, mit denen sich die aus der DDR stammenden Hochschullehrer in den 1990er Jahren herumschlagen mussten. Aber auch heute ist es keine Freude, mit ständiger Existenzangst leben zu müssen. Die »nicht ganz einfachen Bedingungen« kamen kürzlich zur Sprache bei einem Fachgespräch der Linksfraktion im Landtag. DAs Thema: »Prekäre Beschäftigung in der Wissenschaft. Bedingungen, unter denen heute Wissenschaft und Forschung im Bundesland stattfinden«. Fraktionschef Christian Görke sprach von »prekärer, ungesicherter Arbeit«, die etwa ein Viertel der in diesem Bereich Beschäftigten ausführen muss. Dabei sei für seine Partei die Wissenschaft wichtig für die Zukunft Brandenburgs. Standen noch im Jahr 2000 einer unbefristeten Einstellung vier befristete gegenüber, so hat sich das Verh... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Wilfried Neiße
Nur für einen Teil seiner Wissenschaftler ist Brandenburg heute das Land, in dem Milch und Honig fließen. Es handelt sich zwar nicht mehr um die Probleme, mit denen sich die aus der DDR stammenden Hochschullehrer in den 1990er Jahren herumschlagen mussten.
LINKE, Wissenschaft
Hauptstadtregion
Brandenburg Brandenburg
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Der Schuster als Künstler
Am 73. Tag der Oktoberrevolution, so heißt es, habe Lenin einen Freudentanz aufgeführt. Der Grund: Die Pariser Kommune - für Lenin ein Vorbild - hatte nur 72 Tage gedauert, vom 18. März 1871 bis zu ihrer blutigen Niederschlagung am 28. Mai. Inzwischen ist dieses Ur-Modell einer Räterepublik, die 1919 in München ihren Nachfolger fand, unverdient in Vergessenheit geraten. Vielleicht vermag das 150-jährige Jubiläum daran etwas zu ändern? • Buch im nd-Shop bestellen Kristin Ross: Luxus für alle. Die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune. A. d. Engl. v. Felix Kurz. Matthes & Seitz, 203 S., geb., 20 €. • »Luxus für alle« von Kristin Ross, Professorin für Vergleichende Literaturgeschichte in New York, widmet sich der »politischen Gedankenwelt« der Kommunarden. Denn hier finden sich Grundfragen jeder sozialen Bewegung auf engstem Raum durchgespielt. Marx, der das Kommune-Experiment als übereilt abgelehnt hatte, studierte sie dennoch genau. Welche Antworten gab sie auf die Fragen nach dem Verhältnis von Diktatur und Demokratie, nach der Autonomie von Volksvertretung, nach Volksbewaffnung, Trennung von Staat und Kirche, nach der Emanzipation der Frau? Musste der Versuch, eine Stadt, getrennt vom Land, nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten, nicht zwangsläufig scheitern? Die Kommune konnte nur im Schatten des verlorenen Krieges von 1870 gegen Deutschland entstehen. Die Lasten des Krieges wurden von der Thiers-Regierung vor allem dem einfachen Volk aufgeladen. Die französische Armee war geschlagen und Paris von deutschen Truppen umstellt. So entstand ein Machtvakuum in der Stadt - das zornige Volk bewaffnete sich. Eines der ersten Dekrete des Zentralkomitees (!) der Kommunarden betrifft den rückwirkenden Erlass fälliger Mieten, die von der Bevölkerung nicht mehr bezahlt werden konnten, auch die Rückgabe von gepfändetem Eigentum sowie den Erlass des Verbotes von Nachtarbeit für Bäckergesellen - man ist dicht dran an den Problemen des Volkes. Soziologisch betrachtet besteht dieses Volk weniger aus Proletariern als aus kleinen Handwerkern und diversen Alltagskünstlern. Einer der führenden Kommunarden etwa lebte vom Herstellen von Kunstblumen. Kristin Ross schlägt nun im Vortragsstil, in dem das Buch gehalten ist, einen weiten Bogen zu den geistigen Einflüssen und habituellen Besonderheiten der Akteure der Kommune. Ein revolutionärer Schuster etwa besteht darauf, dass es eine Kunst sei, einen guten Schuh herzustellen. An solchen Beispielen wird deutlich, dass hier der Fabrikarbeiter eine untergeordnete Rolle spielt, sich das Bewusstsein der Kommunarden, ihre Vorstellung von Sozialismus aus anderen Quellen speist. Der Reichtum der Gesellschaft soll gerecht verteilt werden, gewiss, aber gibt es dafür Vorbilder? Der Kommune gehen, wie bereits bei der 1789er Revolution, zahlreiche Debattierklubs in der Stadt voraus. Die Kommunarden schleifen die Vendome-Säule, das Symbol für Napoleons siegreiche Feldzüge. Erstaunlich stark ist der russische Einfluss, wie Kristin Ross minutiös aufzeigt. Es ist nicht nur der Anarchist Kropotkin, es sind auch Tschernyschewski und die Volkstümler (Narodniki), mit denen sich auch Marx zu dieser Zeit intensiv befasste. Über Marx’ Kommune-Rezeption lesen wir: »Was das ›arbeitende Dasein‹ der Kommune in seinen Augen erreicht hatte, war die praktische Auflösung des Warenfetischismus und die Herstellung von dessen Gegenteil, von sozialen Verhältnissen einer ›freien assoziierten Arbeit‹.« Unverständlicherweise ersetzt Felix Kurz, der Übersetzer, die seit 150 Jahren eingeführte Vokabel der Bewegung »Volkstümler« nun durch »Populisten«, was ganz falsche Assoziationen weckt. Die Volkstümler, die gegen die Leibeigenschaft der Bauern kämpften (die 1861 aufgehoben wird), haben weitreichende soziale Ideen von Gleichheit und Solidarität, die auf der bäuerlichen Dorfgemeinschaft (der Obschtschina) basiert. Die starke, bis ins 20. Jahrhundert andauernde Wirkung der Sozialrevolutionäre hat hier ihre Wurzel - wie offenbar auch die Pariser Kommune. Schade ist, dass die Autorin, die sich so intensiv den geistigen Einflussräumen widmet, dem realen Ablauf der Kommune - der durchaus erinnernswert scheint - keinen Raum in ihren Betrachtungen gibt. Dabei wäre gerade das im überschaubaren Paris möglich und für die Diskussion von politischer Aktion in Bezug auf die Umlauf befindlichen Theorien interessant gewesen. Die Kommune ist ein revolutionäres Experiment, das viele studierten. Marx entwickelte daran seine Vorstellung einer zukünftigen Dominanz von Gebrauchswert- über die Tauschwertproduktion. Die Trennung von Luxusproduktion für die Reichen und schlechter Massenware fürs Volk gilt es aufzuheben, dem Prinzip der Kommune folgend: »Luxus für alle!« Denn im Grunde ist jeder Arbeiter ein Künstler wie jeder Künstler ein Arbeiter. Die Tragik der Kommune besteht darin, dass sie sich als universelle »Weltrepublik« verstand, aber nicht über die Stadtgrenzen von Paris hinausgelangte. In der sogenannten Blutwoche zerschlugen französische Truppen die Kommune; Bismarck hatte den Ring der deutschen Truppen um Paris für diesen Vergeltungsschlag geöffnet. Nach einem heftigen Barrikadenkampf und dem Brand zahlreicher offizieller Gebäude der Stadt wurden etwa 20 000 Kommunarden exekutiert, die letzten 147 am 28. Mai 1871 auf dem Friedhof Père Lachaise. Weitere 10 000 kamen ins Gefängnis oder wurden verbannt. Aber das Beispiel der ersten sozialistischen Revolution war in der Welt.
Gunnar Decker
Kristin Ross reflektiert die politische Gedankenwelt der Pariser Kommune
Buchhandel, Buchmesse Leipzig, Bücher, Frankreich, Karl Marx, Marxismus
Feuilleton
Kultur Frühjahrsbücher
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Auf dem Weg zum Angriff
Es eilt - das ist der Debatte um die Bewaffnung von Drohnen deutlich anzumerken. Befürworter und Gegner organisierten seit Mai dieses Jahres Onlinesitzungen, um ihre Argumente vorzubringen. Eine Debatte, die bereits seit zehn Jahren andauert, soll nun noch vor den Bundestagswahlen 2021 enden. Der Verteidigungsausschuss hörte dazu in dieser Woche Expert*innen an. Für die Soldat*innen spricht Oberstleutnant André Wüstner. Einsatzerfahrung in Afghanistan und natürlich sein Posten als Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes prägen seine Sicht. Optimaler Schutz für eigene Kräfte müsse sichergestellt sein, und das würde den Soldat*innen schon viel zu lange verwehrt, kritisiert Wüstner die Parlamentarier. Unverständlich ist für ihn, dass es in der Diskussion um bewaffnete Drohnen immer wieder auch um autonome, also selbstständig oder automatisiert funktionierende, Waffensysteme gehe. Wüstner will das trennen. »Unbemannte, bewaffnete Systeme, die ferngesteuert werden, sind ein Schritt hin zur automatisierten Kriegsführung«, sagt Tobias Pflüger, Sprecher der Linken im Verteidigungsausschuss, dem »nd«. Diesen Weg zeichnen nicht nur Wissenschaftler vor, sondern auch die geplante Entwicklung, die die Bundeswehr längst begonnen hat. Beim Future Combat Air System, das derzeit von Airbus entwickelt wird, sollen Drohnenschwärme zum Einsatz kommen, die durch künstliche Intelligenz gesteuert mit einem Kampfflugzeug zusammen operieren sollen. »Das sind völlig neue Dimensionen, die gesetzlich geregelt werden müssen«, stellt Pflüger klar. »Drohnenbefürworter suggerieren, es sei eine rein defensive Waffe. Bewaffnete Drohnen sind Angriffswaffen. So deutlich muss das gesagt sein!« Dass bewaffnete Drohnen kaum noch zu verhindern sind, zeichnet sich derzeit immer deutlicher ab. Innerhalb der SPD-Fraktion scheint die notwendige Mehrheit beschafft, nur der Zeitplan ist derzeit noch nicht offen gelegt. Stimmen, wie die der Abgeordneten Hilde Mattheis, die sich innerhalb der SPD und als Bundesvorsitzende des Forums »DL21 - Die Linke in der SPD« klar gegen die Drohnenbewaffnung ausspricht, scheinen nicht ins Gewicht zu fallen. »Kampfdrohnen sind das Gegenteil von sozialdemokratischer Außen- und Friedenspolitik«, sagt Mattheis und erinnert an den Beschluss, nach dem die SPD für die Ächtung vollautomatisierter letaler Waffensysteme eintreten will. »Zu glaubwürdiger Politik gehört es, diese Beschlüsse auch angesichts von Forderungen aus der Union aufrecht zu erhalten«, bekräftigt Mattheis. Doch danach sieht es derzeit bei der SPD nicht aus, auch wenn der Verteidigungspolitiker Fritz Felgentreu sich gegen gezielte Tötungen und einen automatisierten Einsatz ausspricht. Die Vorsitzende der Linken, Katja Kipping, kritisiert das Verhalten. »Die SPD sollte von einer Bewaffnung mit Drohnen unbedingt die Finger lassen. Während die Bundeswehr von der Verteidigungsarmee zur Interventionsstreitmacht umgebaut wird, kann die SPD nicht ernsthaft glauben, Angriffswaffen wie Kampfdrohnen auf Schutzaufgaben einschränken zu können.« Eine Garantie dafür, dass bewaffnete Drohnen auch in künftigen Regierungskoalitionen nur zu Schutzzwecken eingesetzt werden, gibt es nicht. Andreas Schüller, der als Experte des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) vorträgt, weist auf die Fehleranfälligkeit von Drohnensystemen hin. Besonders beim Einsatz in bewohnten Gebieten kann nicht gewährleistet werden, dass nur Gegner und nicht auch die Zivilbevölkerung bekämpft werden. Zu den künftigen Gefahren gehört auch, dass die neue Angriffswaffe einen Kriegsgrund liefern könnte. Die Eurodrohne, von Anfang an bewaffnet geplant, soll ihren Stützpunkt in Jagel in Schleswig-Holstein haben. »Wird die bewaffnete Drohne von dort aus gesteuert und greift an, dann wird der Stützpunkt ein nach dem Völkergewohnheitsrecht ›legitimes Ziel‹. Das leugnen die Befürworter der Drohnen, obwohl es völkerrechtlich völlig unstrittig ist«, kritisiert Pflüger. »Mein Eindruck ist, dass Befürworter und Bundeswehr diese Problematik bislang verdrängen.« Für Soldat Wüstner ist die Diskussion um die Drohnenbewaffnung nicht nachvollziehbar. Schließlich würde um den Einsatz anderer Waffensysteme auch nicht diskutiert.
Daniel Lücking
Im Bundestag trugen Experten ihre Positionen zur Bewaffnung von Drohnen vor. Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, wird die Beschaffung bald eingeleitet. Risiken werden bislang ausgeblendet.
Bundeswehr, SPD, Waffenhandel
Politik & Ökonomie
Politik Drohnen
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1142759.drohnen-auf-dem-weg-zum-angriff.html
Feuersturm in Falkenberg
Apokalyptische Szenen spielen sich auf dem Gebiet der Stadt Falkenberg/Elster ganz im Süden Brandenburgs ab. Auf rund 850 Hektar brennt am Dienstag bereits der Wald. Das sind 8,5 Quadratkilometer, eine Fläche, in die der Große Tiergarten in Berlin viermal hineinpassen würde. Unter »ungeklärten Umständen« sei der Brand am Montagnachmittag ausgebrochen, teilte der Landkreis Elbe-Elster am Montagnachmittag mit. Zunächst ging es um rund 100 Hektar Wald, die in Flammen standen. Doch das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Schon am Abend war die Rede von 800 Hektar. Zunächst ist die Evakuierung von drei Ortslagen der Stadt Falkenberg mit zusammen 600 Bewohnerinnen und Bewohnern angeordnet worden, am Dienstagnachmittag wurde dies Rehfeld und Kölsa wieder aufgehoben, die Anordnung gilt nur noch für Kölsa-Siedlung. Eine Schweinemastanlage mitsamt den Tieren ist bereits abgebrannt. Das Haus des Gastes in der Kernstadt Falkenberg ist zu einer Notunterkunft umfunktioniert worden. »Die Lage ist immer noch ernst. Wir haben immer noch Brandherde«, sagt Kreisbrandmeister Steffen Ludewig. Nach Angaben des Landkreises sind am Dienstag 480 Einsatzkräfte aus mehreren Landkreisen ausgerückt. 90 Fahrzeuge waren im Löscheinsatz. Ein Panzer der Bundeswehr soll Schneisen in den Wald brechen, um die Brandausbreitung zu verhindern. Johanna (85) und Hannelore (81) sind zwei Einwohnerinnen, die Feuerwehr und Deutsches Rotes Kreuz aus ihren Häusern in Kölsa abgeholt haben. Sie haben die Nacht auf dunkelblauen Feldbetten mit roten Fleecedecken verbracht. »Ich bin 85 Jahre alt – aber so einen großen Brand habe ich noch nie erlebt«, sagt Johanna. »Fliegeralarm, das kennen wir noch, aber so was nicht«, sagt ihre Bekannte Hannelore. Beide loben, dass sich die Helfer sehr gut um sie gekümmert hätten. »Wir wurden ordentlich versorgt.« Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) befürchtet, dass sich der Einsatz wegen des Waldbrandes in Falkenberg im Süden des Bundeslandes noch lange hinziehen kann. »Ihn komplett zu löschen, wird wahrscheinlich noch Wochen dauern«, sagte er am Dienstag in dem Einsatzgebiet im Kreis Elbe-Elster. Durch Detonation im Boden seien neue Munitions-Verdachtsflächen entdeckt wurden, die noch gar nicht in Karten verzeichnet gewesen seien. Der Kampfmittelbeseitigungsdienst sei deshalb in dem Gebiet im Einsatz. Der Brand sei noch nicht unter Kontrolle, sagte der Minister. Die Brandursache war bisher unklar, der Ort des Ausbruchs südwestlich des Einsatzgebietes aber bekannt, sagte der Minister. Es sei auffällig, dass an dieser Stelle in den vergangenen Wochen mehrfach kleine Brände ausgebrochen seien. Genauere Erkenntnisse gebe es noch nicht. Am Dienstag leistet die Bundeswehr Katastrophenhilfe in Elbe-Elster. Löschhubschrauber fliegen über Falkenberg. Das Wasser holen sie aus dem Kiebitzsee. Das Gewässer in einem Naherholungsgebiet wird deswegen für Besucher gesperrt. Die Hubschrauber können nach Angaben eines Kreissprechers pro Ladung jeweils 5000 Liter Wasser aufnehmen. Eine Bundesstraße ist wegen des Waldbrandes gesperrt worden. Am Morgen war auch der Zugverkehr auf der Strecke Leipzig-Cottbus unterbrochen. Der Landesfeuerwehrverband bezeichnet das Feuer als bisher größtes des Jahres in Brandenburg. Der Vizepräsident des Verbandes, Frank Kliem, sagte am Dienstag, die Situation sei auch besonders dramatisch, da Orte geräumt werden mussten und dies neben der Brandbekämpfung großen logistischen Aufwand bedeute. »Die Rettungskräfte sind doppelt gefordert«, so Kliem. Es müssten Ortschaften gesichert werden, um auch möglichen Plünderungen vorzubeugen. Der Deutsche Wetterdienst gibt keine günstige Prognose, dass die Witterung bei der Brandbekämpfung helfen kann. Wenn, dann werde nur geringer Niederschlag erwartet. Vor allem in Schauernähe sei mit Windböen von bis zu 60 Stundenkilometern zu rechnen, die das Feuer weiter entfachen könnten. Auch für diesen Mittwoch sei nicht mit viel Niederschlag zu rechnen, für Donnerstag ist wieder Sonnenschein angesagt. Der Großbrand im Elbe-Elster-Kreis in Brandenburg unterscheidet sich nach den Worten des Waldbrandexperten Philipp Haase von anderen Bränden im Land. »Wir reden hierbei von einem Baumkronenbrand, das Feuer läuft von Krone zu Krone und findet sehr viel brennbares Material wie Nadeln«, sagte der stellvertretende Waldbrandschutzbeauftragte am Dienstag. Das Feuer brenne über den Spitzen der Bäume in einer Höhe von bis zu 25 Meter. Dort seien die Windgeschwindigkeiten auch höher als am Waldboden, die Flammen könnten sich schneller ausbreiten, so Haase. Für das Gebiet bedeute das einen »Totalverlust« der Bäume. Das unterscheide den aktuellen großen Waldbrand von anderen Bränden in Brandenburg. Der Kreisbrandmeister von Elbe-Elster, Steffen Ludewig, geht von mehreren Tagen aus, bis das Feuer gelöscht sein könnte. Die Kameraden müssten die vielen Glutnester im Boden »händisch« ausmachen. Das bedeutet: die abgebrannten Flächen durchstreifen und mit der Hacke den Boden aufreißen. Bis zur Entspannung ist es noch ein langer Weg. Neben dem fehlenden Niederschlag sorgt auch die große Verdunstung wegen hoher Temperaturen für extrem trockene Böden nicht nur in Brandenburg. Die verbreiteten Kiefer-Monokulturen verschärfen die Brandgefahr. Da der Großteil ihrer Wurzeln nicht besonders tief reicht, vertrocknen die Bäume und geben dem Feuer so reichlich Nahrung. Mit dpa
Nicolas Šustr
Hunderte Menschen sind bereits evakuiert worden, weitere könnten folgen. Weil in Falkenberg/Elster die Baumspitzen brennen, kann sich das Feuer rasend schnell verbreiten.
Brandenburg
Hauptstadtregion
Berlin Waldbrand in Brandenburg
2022-07-26T14:30:22+0200
2022-07-26T14:30:22+0200
2023-01-20T17:54:10+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165598.waldbrand-in-brandenburg-feuersturm-in-falkenberg.html?
Neue Therapie bei EHEC gibt Hoffnung
Hoffnung im Kampf gegen den Darmkeim EHEC: Während in Norddeutschland die Zahl der Neuerkrankungen offenbar sinkt, meldeten Ärzte in Hannover am Montag erste Erfolge bei der Behandlung von schwerkranken Patienten mit einem neuen Medikament. Allerdings erhöhte sich in Deutschland die Zahl der Todesfälle nach einer Infektion mit dem aggressiven Erreger auf mindestens zwölf. Nach Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Bremen meldeten am Montag auch Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern erste Todesfälle. Im Kreis Paderborn starb am Sonntag eine 91-jährige Frau an den Folgen der Infektion, im Kreis Gütersloh eine 40- bis 50-Jährige, im Landkreis Parchim eine 87-Jährige. Nach offiziellen Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) sind bisher 329 Menschen als Folge einer EHEC-Infektion am hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) erkrankt, das sich u. a. durch Nierenversagen äußern kann. Unterdessen scheint der Anstieg der Neuerkrankungen in Norddeutschland offenbar gestoppt. Die Zahl der Neuinfektionen sei »deutlich rückläufig«, sagte Jörg Debatin, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), am Montag vor Journalisten. Dies sei auch an anderen Kliniken zu beobachten. Auch die Zahl der HUS-Fälle scheine stabil zu sein. Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) sieht dies als mögliches Indiz, »dass der Höhepunkt der Erkrankungswelle überschritten ist«. Hoffnungen setzen die Ärzte in ein neues Medikament, mit dem jeweils rund ein Dutzend schwerkranke EHEC-Patienten an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und am Hamburger Uniklinikum derzeit behandelt werden. Der Antikörper mit der Bezeichnung Eculizumab war im vergangenen Jahr erfolgreich bei drei Kleinkindern eingesetzt worden, die nach einer EHEC-Infektion schwer erkrankt waren. Die neuartige Therapie scheine auch bei erwachsenen Patienten nach ersten Einschätzungen erfolgreich zu sein, sagte ein MHH-Sprecher am Montag. Der UKE-Nierenspezialist Rolf Stahl sagte, verlässliche Aussagen seien aber erst in drei bis vier Wochen möglich. Als eine Quelle der Erkrankungen hatten die Behörden in Deutschland mit EHEC belastete Salatgurken aus Spanien ausgemacht. Wie und wo der Darmkeim auf das Gemüse gelangte, ist weiter unklar. Der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, warnte indes vor Panikmache. Die Lage sei beherrschbar, sagte er der »Passauer Neuen Presse« (Montag). Jeder könne sich schützen, indem er sich häufig die Hände wasche und vorübergehend auf bestimmtes Gemüse verzichte. Das RKI bekräftigte seine Warnung vor bestimmten Gemüsesorten. Vor allem die Menschen in Norddeutschland sollten weiter auf den Verzehr von rohen Gurken, Tomaten und von Salat verzichten, sagte RKI-Präsident Reinhard Burger im Bayerischen Rundfunk. Die Klagen von Bauern über Umsatzeinbrüche könne er verstehen. »Aber die Gesundheit der Menschen hat hier klar Priorität.« Infektion oder Verdachtsfälle wurden aus Schweden, Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz gemeldet. Auch in Frankreich sind erste Fälle von EHEC aufgetreten. Gesundheitsminister Xavier Bertrand berichtete von drei Patienten, die alle zuvor in Deutschland gewesen waren. Die Erkrankten leben in Nordfrankreich, in Toulouse und auf Korsika. Eine Lieferung vermutlich verseuchter Gurken wurde in der Bretagne abgefangen und sofort vom Markt genommen. Die französischen Gurkenbauern betonten unterdessen, dass die Anbaubedingungen in Frankreich andere sind als in Spanien. Sie fürchten, dass die Verbraucher aus Angst vor Ansteckung ihr Gemüse verschmähen. AFP
Redaktion nd-aktuell.de
Weitere Todesfälle durch das Darmbakterium / Weit mehr als 300 Menschen sind inzwischen erkrankt
EHEC, Gesundheit, Infektionen, Therapie
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Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/198809.neue-therapie-bei-ehec-gibt-hoffnung.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
»Beute« - ein Buch wie eine Bombe
An den Beginn hat die Autorin eine Triggerwarnung gestellt. Die steht heute oft vor einem Text oder Film, um verstörende Inhalte anzukündigen. Tatsächlich hält das neue Buch von Ayaan Hirsi Ali, der in Somalia geborenen Aktivistin für Frauenrechte, die 1992 in die Niederlande kam und heute, verheiratet mit dem namhaften schottischen Historiker Niall Ferguson und zwei Söhnen in den USA lebt, für Leserinnen und Leser schwere Brocken mit bedrückenden Fakten bereit. Hirsi Ali wuchs in Afrika auf, ehe sie Asyl beantragte (»durch die Flucht nach Holland entging ich einer Zwangsheirat«), studierte, ins Parlament gewählt wurde und in die USA ging. Ihre Bücher waren auch deshalb Bestseller, weil sie heiße Eisen anpackt. Dass sie sich damit angreifbar macht, ist unvermeidlich. Sie hat sich nicht einschüchtern lassen, wie ihr jüngstes Buch zeigt. Es widmet sich einem gesellschaftlichen Problem, das in Ländern West-, Nord- und Südeuropas zu besichtigen ist, die mit verstärkter muslimischer Zuwanderung zu tun haben. Hirsi Alis These, die sie am Ende zu Reformvorschlägen aus der Sicht einer Frau führt, die selbst einmal Asylbewerberin und zweimal Einwanderin war und bekennt: »Ich bin für Immigration«, lautet: Viele muslimische Männer, die mit einem Frauenbild, das vom westlichen Ideal der Gleichberechtigung weit entfernt ist, nach Europa gekommen sind, setzen eine bisher weithin stillschweigende Erosion von Frauenrechten in Gang. »Meine Schwester und ich hüllten uns als heranwachsende Mädchen in Mogadischu und Nairobi in Hidschabs und entzogen uns so den Blicken der Öffentlichkeit. Heute müssen sich Frauen in Europa Gedanken machen, wie sie sich am besten so kleiden, dass sie der Aufmerksamkeit einer zunehmenden Zahl von herumstreunenden Männern, die nach Frauen Ausschau halten, entgehen.« Hirsi Ali beklagt eine Verdrängung des Problems: »Die Konsequenz eines Lebens in einem Zustand des Nichtwahrhabenwollens ist, dass nahezu alle Beteiligten verlieren. Regierungen, die fürchteten, dass eine offene Diskussion über das Problem populistischen Parteien in die Hände spielen würde, erlebten, wie sie genau das taten, indem sie die Debatte unterdrückten. Populisten profitierten in ganz Europa davon, dass sie die Einzigen waren, die das Tabu brachen. Parteien der linken Mitte, die davon träumten, eine zunehmende Zahl von Muslimen sei das neue Proletariat, büßten das Vertrauen ihrer traditionellen Wählerschichten ein.« Die Autorin, die ausdrücklich erklärt, männliche Muslime nicht zu dämonisieren, schildert anhand belegter Fälle aus verschiedenen europäischen Ländern, zu welchen Veränderungen es namentlich im Gefolge der starken Zuwanderung aus muslimischen Ländern in den Jahren 2015/16 im öffentlichen Raum kommt, wie - vor Corona - in bestimmten Vierteln von Brüssel, Berlin und London, Paris, Wien und Stockholm immer weniger Frauen unterwegs sind, Cafés, Plätze und Parks aber voller Männer. Wie es zu Belästigungen von Frauen und Mädchen durch junge Muslime beim Einkauf, in Schulen, Schwimmbädern, Toiletten und Parks kommt. Und wie es nicht nur in der Silvesternacht 2015 in Köln, sondern auch anderswo und wiederholt zu sexueller Belästigung, Vergewaltigung und Mord kam. Kurzum: wie Frauen Beute werden. Die Schilderung solcher Vorfälle bildet den Hintergrund für Hirsi Alis Befund, dass es durchaus kausale Verbindungen zwischen gestiegener Migration vor allem junger Männer aus muslimischen Ländern und der Zunahme von Sexualverbrechen in Europa sowie, als Folge, eine Schwächung hiesiger Frauenrechte gibt. Die Autorin zitiert Frauen, mit denen sie in Europa sprach, darunter die 39-jährige Nicola Frank aus Oldenburg. Eine Frau, die sich lange als »echte Linke« sah und »am Gymnasium in antirassistischen Gruppen« arbeitete. Sie berichtet von Belästigungen, die sie im öffentlichen Raum - im Beisein ihres zweijährigen Sohnes - durch Burschen (»bestimmt unter 25, und eindeutig Einwanderer«) erfuhr, und ergänzt: »Aus meiner Sicht muss ich sagen, dass das eine Konsequenz der Migration ist. Es fällt schwer, das auszusprechen. Es gibt ein Problem mit der Kultur und der Einstellung arabischer Männer gegenüber Frauen.« Und zögernd fügt sie an: »Ich wagte es nicht, das offen auszusprechen und mit meinen linken Freunden über diese Dinge zu reden. Ich wollte nicht als Rassistin beschimpft werden.« Hirsi Ali fragt, warum trotz erwiesener Fälle sexueller Gewalt muslimischer Männer gegen Frauen und Mädchen in Europa kein vergleichbarer Aufschrei wie im Falle prominenter MeToo-Opfer aus der US-Filmbranche erfolgt. Sie wirft Feministinnen vor, sich so sehr auf hiesige Themen konzentriert zu haben, dass ihnen entging, was Frauen in anderen Gesellschaften ungleich schlimmer widerfährt. Sie beschuldigt westliche Feministinnen der Einäugigkeit, denn sie entschuldigten ihre Untätigkeit gegenüber oft mörderischer Gewalt außerhalb der westlichen Welt damit, »dass die Durchsetzung ihrer Werte in der muslimischen Welt eine Erscheinungsform des Neokolonialismus sei«. MeToo, schreibt Hirsi Ali, habe zwar einen Ozean überquert, doch zur Überwindung einer Kulturbarriere scheine die feministische Bewegung nicht imstande zu sein. »Opfer von Migrantenbanden« würden weitgehend ignoriert, die Aussagen angegriffener Frauen abgewiesen, obwohl »die Zahl der Opfer von Belästigungen - von schweren Straftaten wie Vergewaltigung ganz zu schweigen - in Europa sehr viel größer ist als etwa in Hollywood oder an der Wall Street.« Die Autorin sieht zwei Antwortoptionen: eine rechtspopulistische, die auf Generalverdammnis von Migration und Migranten setze. Oder - von ihr gefordert - eine radikale Reform des Integrationssystems. Hirsi Ali nennt sechs Punkte, deren Umsetzung rechte Populisten schwächen würde. Sie schlägt vor, die Unterscheidung zwischen politischen Asylbewerbern und Wirtschaftsmigranten aufzuheben und Niederlassung an die Verpflichtung des Immigranten zur unbedingten Einhaltung der Gesetze des Aufnahmelandes zu koppeln. Zweitens fordert sie vom Westen, die Ursachen der Massenmigration zu bekämpfen, drittens »die Attraktivität der großzügigen Sozialleistungen« in Westeuropa zu überdenken, viertens die Herrschaft des Rechts gegenüber Gewalttätern »wiederherzustellen«, fünftens »auf erfolgreiche Einwanderer zu hören« und sechstens Sexualkundeunterricht für alle Schulkinder verpflichtend zu machen. So prosaisch und strittig die Vorschläge sein mögen, sie krönen ein Buch, das ebenso lesbar wie drängend ist und das zuletzt sogar die Triggerwarnung vergessen lässt. Ayaan Hirsi Ali: Beute - Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht. A. d. Engl. v. Karsten Petersen u. Werner Roller. Bertelsmann, 428 S., geb., 22 €.
Reiner Oschmann
Ayaan Hirsi Ali über junge muslimische Migranten und westliche Frauenrechte
Einwanderung, Feminismus, Islam
Feuilleton
Kultur Ayaan Hirsi Ali
2021-07-07T17:05:29+0200
2021-07-07T17:05:29+0200
2023-01-20T21:52:32+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1154206.beute-ein-buch-wie-eine-bombe.html
Molkenmarkt am Scheideweg
Diesen Mittwoch wird Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD) bekanntgeben, nach welchem Entwurf der Molkenmarkt als Wohn- und Kulturquartier wieder aufgebaut werden soll. Am Dienstag beriet eine von der Stadtentwicklungsverwaltung eingesetzte Jury darüber. Sie fällt eine Richtungsentscheidung, wie Berlin einen der ältesten Orte der Stadt in Zukunft haben will: eher historisierend und teuer in der Errichtung, in Anlehnung an die Nachbauprojekte von Altstadtquartieren der letzten Jahrzehnte, wie in Frankfurt am Main oder Potsdam, oder zukunftsorientiert mit äußert flexibel nutzbaren Bauten, einem hohen Anteil an Sozialwohnungen und durchdachten Lösungen für eine Welt in der Klimakrise. Der von der Jury gekürte Siegerentwurf soll wiederum Basis sein für eine zu verabschiedende »Charta Molkenmarkt«. Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) will sich bei deren Erarbeitung jedoch nicht vom Abgeordnetenhaus hineinreden lassen. Es habe sich kein Vorgang finden lassen, in dem seine Verwaltung eine Beteiligung zugesichert habe, erklärte der Senator am Montag in der Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses. Er lehne das auch ab, so Geisel. Offenbar hatte Geisel nicht besonders gründlich suchen lassen. »Wir werden Teams auswählen, mit diesen Teams dann auch im nächsten Jahr in einen großen öffentlichen Dialog eintreten, und wir werden Ergebnisse dann im nächsten Jahr dem neuen Abgeordnetenhaus vorlegen«, sagte Manfred Kühne, Leiter der Abteilung Hochbau der Stadtentwicklungsverwaltung, am 8. Oktober 2021 bei einem Wissenschaftlichen Kolloquium der Historischen Kommission zum Molkenmarkt. »Das Abgeordnetenhaus soll eine Charta für den Molkenmarkt beschließen, für das Quartier, in dem die Qualitätskriterien festgelegt werden«, sagte Kühne weiter, wie ein bis heute auf Youtube verfügbarer Mitschnitt belegt. Am späten Montagnachmittag bis in den Abend hinein präsentierten die zwei Planungsteams bei einem per Youtube übertragenen sogenannten Bürgerabend zunächst ihre überarbeiteten Entwürfe zum Molkenmarkt. Denn Ende 2021 sind in einer ersten Juryentscheidung aus den zahlreichen eingereichten Vorschlägen zwei erste Plätze ausgewählt worden: einerseits der konservative unter Federführung des zwischenzeitlich verstorbenen Architekten Bernd Albers und seiner Kollegin Silvia Malcovati. Andererseits der progressive Entwurf der Planungsgemeinschaft OSCKA von OS Arkitekter aus Dänemark und der Berliner Czyborra Klingbeil Architekturwerkstatt. Doch bei beiden Konzepten gab es Nachbesserungsbedarf. Zunächst war Silvia Malcovati am Zug, um die Korrekturen an ihrem Entwurf vorzustellen. »Es geht keineswegs darum, eine historische Phase der Stadt zu rekonstruieren, es geht auch nicht darum, die Parzellenstruktur der Vorkriegszeit wieder herzustellen«, verteidigte sie ihren Entwurf zunächst grundsätzlich. Denn vor allem dieser hatte viel Kritik auf sich gezogen. Bloß, weil man auf die Historie des Viertels Bezug nehme, »heißt das nicht, dass man die Stadt von vorgestern bauen muss«, sagte Theresa Keilhacker, Präsidentin der Berliner Architektenkammer, bei einer Veranstaltung im Mai. Auch die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte kritisierte den Entwurf. Zusammen mit der ebenfalls kommunalen Degewo soll sie auf den durch die Verkleinerung des autobahnartigen Straßennetzes gewonnenen Flächen rund 400 Wohnungen errichten. Ablehnung hagelte es auch von Kulturschaffenden, denn neben Wohnungen sollen dort auch Flächen für Kunst und Kultur entstehen. Zu wenig flexibel, zu teuer, zu wenig klar das sogenannte kulturelle Band, das Orte wie das Haus der Statistik, die Alte Münze und das Nikolaiviertel verbinden soll. Nicht zuletzt sprachen sich auch alle stadtentwicklungspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Koalitionsfraktionen, Mathias Schulz (SPD), Julian Schwarze (Grüne) und Katalin Gennburg (Linke), in Gesprächen mit »nd« gegen den Entwurf aus. Die Befürchtung: Werden die Baukosten durch sehr kleinteilige Strukturen nach oben getrieben, wird das einen extremen Privatisierungsdruck ausüben, da die Landeseigenen so wirtschaftlich nicht in der Lage sein werden, zu ihren Vorgaben zu bauen. Malcovati hat auf die Kritik reagiert. Man habe die »Aufmerksamkeit auf Flexibilität und Bezahlbarkeit« gelegt, sagte sie am Montag. Statt schmaler Townhouses mit jeweils einem Treppenhaus pro Einheit setze man nun auf eine zentrale Erschließung. Durch unterschiedliche Fassadengestaltung soll nach außen hin jedoch der Eindruck der Kleinteiligkeit erzeugt werden. Für den historisierenden Touch schlägt das Planungsteam auch die Verwendung roter Dachziegel für einen Teil der Gebäude vor. Ephraim Gothe, dem SPD-Baustadtrat von Mitte, scheint die Änderung nicht zu schmecken. »Sie haben den Städtebau auf Effizienz getrimmt. Im Koalitionsvertrag steht drin: Architektur soll kleinteilig und in hoher Qualität ausgeführt werden«, merkte er an. Auch Bürgerinnen und Bürger konnten mit nur 280 Zeichen umfassenden Textnachrichten kommentieren. Die Kritik fiel weitgehend vernichtend aus. »Was für ein unglaublicher Rollback der Ewiggestrigen«, hieß es da beispielsweise. Oder: »Aussagen zu ökologischen Themen fallen sehr dürftig aus.« In der extremen Minderheit waren Einschätzungen, wie, dass es sich um ein »sehr schlüssiges Gesamtkonzept« handele. »Die Überarbeitung wirkte wie ein bisschen Herumdokterei, um die Kritik zu entkräften. Der Entwurf ist dadurch noch unstimmiger geworden«, urteilte auch Grünen-Stadtentwicklungspolitiker Julian Schwarze gegenüber »nd«. »Echte Nachhaltigkeit beginnt bereits in der Planungsphase«, sagte Architekt Marek Czyborra vom Team OSCKA. Hier gebe es »die Chance, einen CO2-positiven Stadtteil zu bauen«, erläuterte er. Die Gebäude sollen in Skelettbauweise erstellt werden, möglichst aus Holz, aber auch Beton wäre möglich. Das führt zu größtmöglicher Flexibilität bei der Aufteilung der Innenräume nicht nur bis zur Fertigstellung, sondern auch bei später geänderten Bedürfnissen. Um eine möglichst vielfältige Anmutung zu erzeugen, plädiert Czyborra für die Möglichkeit, zurückgesetzte Staffelgeschosse zu bauen, wie es das übliche Konzept der in Berlin bei 22 Meter liegenden Traufhöhe ermöglicht. Für den Molkenmarkt ist allerdings bisher eine sogenannte Gebäudeoberkante definiert, über die kein Haus hinausragen darf. »Alle Wohnungen entsprechen den Richtlinien für geförderten Wohnungsbau«, erklärte Czyborra zu seinem Entwurf. Damit wäre auch eine Quote von 100 Prozent Sozialwohnungen möglich, wie sie unter anderem die Linke-Politikerin Gennburg fordert. Architekt Czyborra wandte sich auch deutlich gegen den Abriss des derzeit als Atelierhaus genutzten Gebäudes Klosterstraße 44 aus, das 1968 als Telefonverstärkerstelle errichtet wurde. Das Haus solle erhalten und zu Wohnraum umgenutzt werden. »Es ist wieder sichtbar, wie deutlich der Vorsprung beim Entwurf von OSCKA ist in Bezug auf Baustoffe, Nachhaltigkeit und die soziale Wohnraumfrage«, sagte Grünen-Politiker Julian Schwarze zu »nd«. »Es ist ein ganzheitlicher Ansatz erkennbar, der auf die Fragen der Zeit reagiert«, so sein Urteil. »Beim Streit um die Bebauung am Molkenmarkt geht es nicht allein um ästhetische Spitzfindigkeiten oder baukulturelle Fragen«, unterstreicht die Linke-Politikerin Gennburg. »Der SPD-Bausenator kann sich eben nicht mit Verweis auf scheinbar abstrakte Architekturdiskurse rausreden. Nein, es geht ganz klar um eine politische Entscheidung für eine bezahlbare und klimaresiliente Bebauung im Herzen der Stadt und zwar als Gegenentwurf zur feudalistischen Schlossarchitektur auf der anderen Seite der Spree«, so die Stadtentwicklungsexpertin weiter zu »nd«. Dazu müssten »alle Fachpolitiker*innen jetzt Stellung beziehen«. Julian Schwarze von den Grünen tut das: »Es geht um die Frage, was für einen Städtebau Berlin im Zentrum der Stadt umsetzen will. Ob wir die Stadt von gestern oder die Stadt von morgen gestalten.«
Nicolas Šustr
Historisierend-feudal oder sozial-ökologisch? Die Entscheidung einer Jury über die Neubebauung des Molkenmarkts, die diesen Mittwoch bekanntgegeben werden soll, wird eine Wegmarke der Berliner Stadtentwicklung sein.
Abgeordnetenhaus, Berlin, Wohnen
Hauptstadtregion
Berlin Soziale Stadtentwicklung
2022-09-13T15:18:06+0200
2022-09-13T15:18:06+0200
2023-01-20T17:29:50+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1166884.molkenmarkt-am-scheideweg.html
Die LINKE erhält ein Orakel an der Saar
Das Orakel an der Saar. Als solches hatte ein Journalist die künftige Rolle Oskar Lafontaines beschrieben. Launig korrigierte dieser: Das Orakel gehöre nach Delphi. »Gnôthi seautón«, zitierte er schlagfertig die Inschrift, die es einst geziert haben soll. Und fügte milde die Übersetzung an: »Erkenne dich selbst«. Lafontaine erntete respektvolles Lachen. So schlecht ist der Vergleich trotzdem nicht. Erkenne dich selbst – die LINKE ist noch immer mit dieser Aufgabe beschäftigt. Die klassischen Mittel der Rhetorik, wie sie im antiken Griechenland eingeübt wurden – als ein stilbildendes Mittel der Demokratie –, werden dabei allerdings zuweilen vernachlässigt. Gerade die fragwürdigen Rangeleien im Vorfeld von Lafontaines Entscheidung überschatten seinen Rückzug über die gesundheitlichen Probleme hinaus. Festzustellen ist: Lafontaine verabschiedet sich aus Berlin. Man glaubt ihm aufs Wort, dass ihm das schwergefallen ist. Auch, dass er den Krebs als Warnschuss empfindet, den zweiten nach einem Attentat, das er 1990 nur knapp überlebte. Er hoffe, dass man seine Entscheidung werde respektieren können, formulierte er nach der Vorstandssitzung seiner Partei in Berlin vor der Presse. Doch die letzten Wochen haben wohl nicht nur ihm, sondern manch anderem in der Partei schwer zu denken gegeben. Was wird aus der Partei ohne Lafontaine – vorerst ohne Lafontaine an der Spitze? Gregor Gysi wiederholte den Satz, der nun schon mehrfach von ihm zu hören war: Keiner sei so gut wie Lafontaine in der Lage, die Bundespolitik von der Saar aus zu beeinflussen. Eine Würdigung für Lafontaine, doch für die Partei ein Bekenntnis der Schwäche. Die Erkrankung des Vorsitzenden und die Wochen der Unsicherheit haben die LINKE mächtig ins Schlingern gebracht. Beschwörende Rufe aus den Landesverbänden, es gehe nicht ohne ihn, sprechen für sich: Die LINKE ist sich ihrer selbst nicht sicher, und das liegt nicht am Gegenwind, auf den sie in der Gesellschaft trifft. Denn diesem hat sie bislang erfolgreich getrotzt. Er sei sicher, dass die LINKE weiter erfolgreich sein könne, formulierte Lafontaine am Sonnabend. »Personen sind wichtig, aber Strategien von Parteien sind entscheidend.« 15, 16 Prozent seien für die LINKE bei Wahlen möglich, zeigte er sich überzeugt. Voraussetzung: dass die Partei nicht austauschbar, nicht beliebig werde. Wer den eingeschlagenen Weg verlasse, werde das gleiche Schicksal erleiden wie die SPD, so Lafontaine – und man muss sich schon anstrengen, darin nicht so etwas wie ein Orakel zu vernehmen. Seine Entscheidung habe nichts, aber auch gar nichts mit den Personaldebatten der vergangenen Wochen zu tun, sagt er. Wie es zu diesen kommen konnte, dazu sagte er nichts. Gregor Gysi und Klaus Ernst, der Partei- und Fraktionsvize, hätten das getan, ihnen sei nichts hinzuzufügen, wiederholte er seinen bisher einzigen Kommentar. Beide hatten Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch bekanntlich der Illoyalität gegenüber Lafontaine geziehen. Ein Beleg für diese Illoyalität ist bisher von niemandem erbracht worden. Bartsch hatte daraufhin angekündigt, auf dem Rostocker Parteitag im Mai nicht wieder für eine Funktion in der Führung anzutreten. Der zum Machtkampf zwischen ihm und Bartsch stilisierte Konflikt sei aufgebauscht und überhöht worden, so Lafontaine noch. Ebenso wie der in der Öffentlichkeit beschriebene Konflikt zwischen angeblichen Regierungsbefürwortern im Osten und angeblichen Regierungsgegnern im Westen. Es gebe keine programmatischen Konflikte, nur Scharmützel über Einzelfragen. Gerade diejenigen in der Partei aber, die sich hinter Lafontaine versammelt hatten, um Bartsch von seinem Posten zu verdrängen, machen immer wieder strategische Differenzen geltend. Vielen gilt hier das »Forum Demokratischer Sozialismus«, in dem sich die »Realos« der Partei versammeln, als Inbegriff des Renegatentums. Wenn diese Differenzen keine Rolle spielten, wäre umso unklarer, wieso Lafontaines Rückzug nicht ohne den des Bundesgeschäftsführers auskam. Wenn zwei nicht miteinander können, ist es ja nicht nötig, dass beide von Bord gehen. Das Ergebnis ist ein zusätzliches Personalproblem an der Parteispitze. Außer den Vorsitzenden Lafontaine und Lothar Bisky, der sich in der Europäischen Linken engagiert, ist nun noch der Posten des Bundesgeschäftsführers neu zu besetzen – abgesehen von möglichen weiteren Wechseln; Der frühere Parteibildungsbeauftragte Bodo Ramelow hat frühzeitig ebenfalls erklärt, sich aus dem Bundesvorstand zurückzuziehen. Der Schatzmeister wird auch neu zu wählen sein, Karl Holluba zieht sich aus Altersgründen zurück. Die Person Bartsch ist nicht um seiner selbst willen wichtig. Sondern deshalb, weil die Interessengruppen der Partei an ihm ihre Richtungsansprüche exerzierten. Zumindest daran ist zu sehen, dass es sie doch gibt, die relevanten Meinungsunterschiede. Ob sie die strategischen Gemeinsamkeiten überwiegen, ist eine andere Frage. Die muss die Partei selbst beantworten. Schon der Parteitag in Rostock könnte ein erster Test werden, auch wenn er nun von demonstrativen Bekenntnissen zu Lafontaine bestimmt werden dürfte. Auf den großen Moderator Gregor Gysi kommt eine größere Verantwortung zu, er werde sich dieser stellen, erklärte er am Sonnabend. Allerdings hat er hierfür ein Stück der alten Souveränität verspielt, als er Bartsch mit dem Vorwurf der Illoyalität überraschte und düpierte. Denn mit ihm wurden auch die ostdeutschen Landesvorsitzenden düpiert, die vor einer Beschädigung des Bundesgeschäftsführers gewarnt hatten. Dass ihre Niederlage und nicht nur der angekündigte Rückzug Bartschs in Kauf genommen wurde, ja offenkundig Zufriedenheit bei seinen Kritikern auslöste, zeigt ein weiteres Problem: das Ost-West-Problem. Dieses wird von Lafontaine bestritten, von Gysi aber bestätigt, wenn er auch am Sonnabend wiederholte: Die Vereinigung der Partei muss erst noch hinbekommen werden. Zudem bestätigt die Partei es auch selbst, indem sie anhaltend auf Regeln zum Ost-West-Proporz bedacht ist. Die Frage nach dem künftigen Führungspersonal beschäftigt jetzt außer der Partei auch die Öffentlichkeit. Das sei jedoch »die Frage, die Sie sich schenken können«, wie Gysi am Sonnabend den Journalisten gleich eingangs klarmachte. Im Gespräch für eine künftige Doppelspitze sind seit längerem Gesine Lötzsch und Klaus Ernst, beide Lafontaine-Vertraute, die überdies die Doppelquote Frau-Mann und Ost-West erfüllen. Gysi selbst hatte im ND-Interview jüngst angedeutet, künftig das »Zentrum« der Partei bilden zu wollen. Lothar Bisky erhob kürzlich in dieser Zeitung den indirekten Vorwurf einer Rückkehr des Stalinismus in der Partei und bezog sich dabei auf Hinterzimmerdiplomatie mit dem Ziel, Personen zu Fall zu bringen, auf die Ignoranz demokratischer Entscheidungsprozesse. Dies ist vielleicht noch kein Stalinismus und womöglich in anderen Parteien ähnlich. Doch Lafontaines Anspruch, die LINKE müsse auf ihre positiven Alleinstellungsmerkmale setzen, wenn sie auch künftig Erfolg haben will, kann um die innerparteiliche Kultur keinen Bogen machen. Für ein freundliches »Erkenne dich selbst« von der Saar dürfte auch künftig immer wieder Gelegenheit sein.
Uwe Kalbe
Sicher war ihm nicht nach Kräftemessen zumute an diesem Sonnabend. Aber ab und an blitzte die gewohnte Schlagfertigkeit bei Lafontaine auf. Es ist nicht anzunehmen, dass sich seine Angriffslust legt.
Dietmar Bartsch, Gregor Gysi, LINKE, Oskar Lafontaine, Saarland
Politik & Ökonomie
Politik
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Fliegen war gestern, die Zukunft heißt Wissenschaft
Knapp zehn Kilogramm dürfte der riesige Schlüssel wiegen, den Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Donnerstag vor dem ehemaligen Flughafen-Hauptterminal an den Chef der Tegel Projekt GmbH, Philipp Bouteiller, übergeben hat. Er steht symbolisch für rund 60 000 Schlüssel, die der Objektentwickler für die insgesamt 59 Gebäude erhält, die er vom Land übernimmt. Die Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg (FBB) hatte das Tegeler Airportgelände mit seinen insgesamt 130 Gebäuden und Anlagen am Vortag an die Eigentümer, den Bund und das Land Berlin, zurückgegeben. Seit Donnerstag ist Tegel Projekt nun offiziell dafür zuständig. Zum Bestand zählen neben den Bauten gut 42 Kilometer Wasserleitungen, je rund zehn Kilometer Strom- und Wärme-Kälte-Netze, die komplette Kommunikations- und Betriebstechnik mit Aufzügen, Lüftungs- und Schließsystemen. Übernommen wurden auch Feuerschutz-, Blitzschutz- und Notstromanlagen sowie die Beleuchtung. Mit der symbolischen Schlüsselübergabe startet zugleich die Nachnutzung des einstigen Westberliner City-Flughafens Berlin-Tegel, der am 4. November 2020 den Betrieb einstellte und am 4. Mai 2021 endgültig geschlossen wurde. Und es beginnt die Zukunft für »Berlin TXL - The Urban Tech Republic & Schumacher Quartier«. Es sei einer der seltenen Fälle, in denen Berlin noch einmal eine Fläche für echte Stadtentwicklung im Wortsinn zur Verfügung stehe, sagte Michael Müller. Und auch Sebastian Scheel (Linke), Senator für Stadtentwicklung und Wohnen sowie Aufsichtsratsvorsitzender der Tegel Projekt GmbH, verwies auf das große Potenzial, das sich dem Land Berlin mit diesem Standort biete. »Eine solche Fläche wird es in europäischen Großstädten und Hauptstädten nicht noch einmal geben.« Laut Projektgesellschaft entsteht auf dem 500 Hektar großen Areal über einen Zeitraum von voraussichtlich 20 Jahren nicht nur ein vollkommen neuer Stadtteil, sondern Berlins Modell für die Stadt von morgen: ein klimaneutrales, autoarmes und wassersensibles Wohnquartier für mehr als 10 000 Menschen und ein auf urbane Technologien spezialisierter Forschungs- und Industriepark mit Hochschulcampus. Auf einer Fläche von 150 Hektar werde Landschaftsraum der »Tegeler Stadtheide« zu einem riesigen grünen Freizeit- und Erholungsraum gestaltet. Die Senatsverwaltung für Umwelt habe diese Aufgabe Grün Berlin übertragen. Die öffentlich und unter Bürgerbeteiligung geführte Diskussion über die Zukunft des Geländes, das mit dem geplanten Flughafenneubau in Schönefeld frei würde, begann 2008. Sie mündete in einen Masterplan, auf dessen Grundlage Tegel Projekt das Gesamtkonzept entwickelte. Dabei habe man letztlich sogar davon profitiert, dass sich der neue Hauptstadtflughafen um volle neun Jahre verzögert hat, räumte Bouteiller ein. Mit der Urban Tech Republic entstehe ein großer Wirtschaftsstandort rund um den künftigen Campus der Beuth Hochschule für Technik, an dem Wirtschaft und Wissenschaft gemeinsam Berlin forschen werden, sagte Senator Scheel. Mit dem Schumacher Quartier werde dann das größte neue Stadtquartier Berlins geschaffen. »Es soll maßstabbildend sein dafür, was in der Zukunft in den Städten, in Metropolen und großen Ballungsräumen gebraucht wird«, sagte er und verweist auf die Klimaresilienz. Man plane eine Schwammstadt, die Niederschläge auffangen und speichern soll, ein konzeptionell neues Stadtquartier der erneuerbaren Energien. Und es werde das weltgrößte Quartier in Holzbauweise, für das Holz aus Berlins Umland verwendet werden soll. Der Tegel-Projekt-Chef kündigte für 2027 den Umzug der Beuth-Hochschule in das ehemalige Hauptterminalgebäude an. Im gleichen Jahr soll auch die Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienst-Akademie aus dem ehemaligen Kasernengelände in Reinickendorf in die Flughafenhangars von Tegel verlegt werden. Wie Scheel informierte, seien bereits die ersten Bebauungspläne beschlossen und damit die planerischen Voraussetzungen die Unterbringung der Beuth-Hochschule und der Unternehmen geschaffen worden. Bereits im Mai 2021 hat die Tegel Projekt GmbH mit der Kampfmittelräumung im Bereich der künftigen zentralen Baustellenzufahrt am Kurt-Schumacher-Damm, östlich der Start- und Landebahnen, begonnen. Diese rund 22 000 Quadratmeter große Fläche ist bereits zu 80 Prozent beräumt, erklärte das Unternehmen am Donnerstag. Für 17 600 Quadratmeter sei die Kampfmittelfreigabe erteilt worden. Insgesamt 350 Stück sprengfähige Munition mit einem Gesamtgewicht von knapp 900 Kilogramm sowie fast 30 000 Kilogramm Munitionsschrott seien bei der Sondierung bislang gefunden worden. Gesichert worden seien Granaten, Brandbomben und Handgranaten. Der überwiegende Teil wurde auf dem Sprengplatz Grunewald entschärft.
Tomas Morgenstern
Mit der Übergabe des ehemaligen Flughafenareals in Tegel durch das Land Berlin an die Tegel Projekt GmbH beginnt dessen Umbau zum maßstabbildenden Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort, zum Zukunftscluster für nachhaltiges Arbeiten und Wohnen.
Berlin, Flughafen Tegel, Flugverkehr, Forschung, Hochschule, Stadtentwicklung, Wissenschaft, Wohnungsbau
Hauptstadtregion
Berlin Schlüsselübergabe in Berlin-Tegel
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1155321.schluesseluebergabe-in-berlin-tegel-fliegen-war-gestern-die-zukunft-heisst-wissenschaft.html
Österreichische Literatur: Meaoiswiamia versus Mia san mir
Es gab einmal eine Zeit, in der hatte die österreichische Literatur bei den Nachbarn im Norden einen sehr speziellen Ruf. In der alten Bundesrepublik galt sie als experimenteller, lustiger und subversiver als das, was zwischen Passau und Flensburg geschrieben wurde. Graz wurde in den 1970er Jahren gar als die »heimliche Literaturhauptstadt« (nicht bloß Österreichs!) gehandelt, die dort erscheinende Zeitschrift »manuskripte« war für Talentscouts in der BRD Pflichtlektüre – aber nicht etwa, weil in den von Alfred Kolleritsch verantworteten Heften biederes Erzählen und Romanschreiberei dominiert hätten! Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek zeichneten düstere Bilder eines von Katholizismus und Nationalsozialismus hoffnungslos devastierten Alpenlandes, was auf dem deutschen Buchmarkt mit Angstlust goutiert wurde. Die Wiener Gruppe, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und ihre Freunde, waren faszinierendere literarische Role Models als Martin Walser oder F. C. Delius. In Anbetracht der »Stunde Null« wurde von den Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 eine neue Moral propagiert, aber keine Notwendigkeit gesehen, der Sprache anders zu Leibe zu rücken. Kein Wunder auch, dass sich ein junger literarischer Underground in Ostberlin, dass sich Autoren wie Bert Papenfuß lieber an Ernst Jandl orientierten als an Günter Kunert. Wenn sich jetzt Österreich als Gastland auf der Leipziger Buchmesse präsentiert, dann ist dieser zu Klischees geronnene historische Hintergrund natürlich präsent, auch in begleitenden Ausstellungen und Symposien. Aber wie ist es um die österreichische Gegenwartsliteratur bestellt? Ist sie überhaupt noch frecher, amüsanter und formal aufregender als die deutsche? Und falls ja: Wird der Leipziger Auftritt dem gerecht? Zudem stellt sich die Frage, ob es deutschen Lesern überhaupt bewusst ist und ob es sie interessiert, wenn ein in einem großen deutschen Verlag erscheinendes Buch von einem Österreicher geschrieben wurde; explizit geworben wird damit meistens nicht. Die österreichische Literatur ist auf dem deutschen Markt sowieso – mal mehr, mal weniger inkognito – präsent, während österreichische Verlage einen erschreckend geringen Marktanteil haben und oft nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in die potenteren deutschen sind. Umgekehrt ist ästhetisch anspruchsvolle deutsche Literatur den deutschen Verlagen sehr oft zu steil und erscheint in den der Sprachkunst zugewandteren österreichischen – man denke nur an Gundi Feyrer oder Ulrich Schlotmann. Wenn auf den Buchmessen Länder wie Argentinien oder Litauen zu Gast sind, dann führt das in der Regel dazu, dass Anstrengungen unternommen werden, um ein breiteres Spektrum dieser Literaturen in Übersetzungen zu präsentieren, dass Bücher von Autoren auf Deutsch erscheinen, die es ohne den Messe-Schwerpunkt nicht geben würde. Im Falle Österreichs liegen die Dinge natürlich anders. Ob in diesem Frühjahr überhaupt mehr Bücher österreichischer Autorinnen und Autoren erscheinen, ist schwer zu sagen; markante Anthologien gibt es jedenfalls nicht. Das selbst für Österreicher auf den ersten Blick nicht leicht zu entziffernde Motto »meaoiswiamia« (»mehr als wir«) soll wohl irgendwie Offenheit und Diversität signalisieren. Laut Katja Gasser, der künstlerischen Leiterin, richtet es sich »gegen das brachiale ›mia san mir‹«. Die ORF-Journalistin, die keine Gelegenheit auslässt, sich mit Autorenbegleitung selbst ins Bild zu setzen, wünscht sich, dass Österreich nach dem Messeauftritt in Erinnerung bleiben möge »als ein Land, das weiß, dass Demokratie an keinem Ort und zu keiner Zeit in Stein gemeißelt ist, dass man sich um sie, die Demokratie, täglich bemühen muss«. Diversität in der österreichischen Literatur, das jedenfalls ist – wenn man nicht die habsburgischen Mythen aus der Mottenkiste holen möchte und einmal von der in Österreich geschriebenen slowenischen Literatur absieht – fast so etwas wie das Ein-Mann-Projekt des brillanten kongolesisch-österreichischen Schriftstellers und Vortragskünstlers Fiston Mwanza Mujila, der sich durchaus von der österreichischen Avantgarde beeinflusst zeigt und keine öden Familienchroniken in Romanform vorlegt. In einem Interview mit dem »Standard« sagt Katja Gasser: »Vielleicht macht das unsere Literatur aus: Konformitätsuntauglichkeit.« Abgesehen davon, dass dieses Kriterium wohl auf jede ästhetisch herausfordernde Literatur zutrifft und sicherlich genauso auf Jörg Burkhard oder Elke Erb – die »meaoiswiamia«-Aktivitäten scheinen eher das Gegenteil beweisen zu wollen: Seht her, wir können genauso langweilige buchpreistaugliche Romane schreiben wie ihr! Denn wenn Autoren auf diesem kommerziellen Level mitmischen wollen, dann ist nichts hinderlicher als Konformitätsuntauglichkeit, auch wenn die Begleitrhetorik natürlich immer anderes suggeriert, und dann dürfen diese Bücher auch nicht in einer Sprache geschrieben sein, die Übersetzungen und internationale Vermarktbarkeit erschweren. Moritz Baßler hat das jüngst in seiner Studie über den »Populären Realismus« ausgeführt. Zwar ist die Liste der in den Österreich-Auftritt irgendwie involvierten Autoren lang – sogar auf einen Auftritt von Gerhard Rühm dürfen wir uns freuen! –, die Scheinwerfer werden aber doch klar auf Autorinnen und Autoren gerichtet, die für diesen »Populären Realismus« stehen. In den 25 »Literaturgesprächen mit Katja Gasser« kommt mit Ferdinand Schmatz nur ein einziger Vertreter der avancierten Literatur vor, während Romanciers von Helena Adler, Marie Gamillschegg und Reinhard Kaiser-Mühlecker bis Verena Roßbacher oder Andreas Unterweger im Vordergrund stehen. Auch in den gemeinsam mit dem ORF-Fernsehen produzierten »Begegnungen mit österreichischen Autor:innen« unter dem Motto »Archive des Schreibens« sieht es nicht anders aus: Unter den Porträtierten ist kein Lyriker, kein experimenteller Sprachkünstler, dafür begegnen wir Michael Stavarič, Olga Flor, Elias Hirschl und Raphaela Edelbauer. Letztere ist ein Beispiel dafür, wie leicht nacherzählbare, auf Buchpreise schielende Romane mit Manierismen aufgepeppt werden, die dann eine »Tradition der österreichischen Avantgarde« beglaubigen sollen; das unfreiwillig Komische der Edelbauerschen Stilblüten ist zwar nicht der Literaturkritik, dafür aber der »Titanic« aufgefallen. In einer Umfrage der »Zeit« zur österreichischen Literatur wärmt die Kritikerin Daniela Strigl sogar den Mythos von der Grazer Literatur noch einmal auf, weiß dazu aber auch nur Olga Flor, Clemens Setz und Valerie Fritsch zu nennen. Dabei wirken in der steirischen Landeshauptstadt auch Autoren wie Max Höfler, der grotesken Humor und Lust am Experiment zu verbinden weiß, und Stefan Schmitzer, dem eine politische Literatur vorschwebt, die vor Sprachkritik nicht haltmacht. In Österreich entsteht aufregende Lyrik, man denke nur an Barbara Hundegger oder Christian Steinbacher, und es gibt auch eine dank Subventionen blühende Zeitschriftenlandschaft, zu der die Grazer »perspektive« ebenso zählt wie »Triëdere« aus Wien. In Leipzig wird diese Szene in ihrer Breite leider nicht vorgestellt. Trotz allem: Es lohnt sich dranzubleiben bei der österreichischen Literatur. Unser Autor gibt gemeinsam mit Ralph Klever die Zeitschrift »Idiome. Hefte für Neue Prosa« heraus und hat zuletzt im Klever Verlag den Band »Für eine andere Lietartur« veröffentlicht.
Florian Neuner
Österreich ist Gastland auf der ab Donnerstag bis Sonntag für das Lesepublikum geöffneten Leipziger Buchmesse. 200 Verlage aus der Alpenrepublik präsentieren ihre Werke.
Literatur, Österreich, Roma
Feuilleton
Kultur Leipziger Buchmesse
2023-04-26T14:51:32+0200
2023-04-26T14:51:32+0200
2023-04-27T14:10:35+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172759.leipziger-buchmesse-oesterreichische-literatur-meaoiswiamia-versus-mia-san-mir.html?sstr=HC|Artmann
Keine Annäherung im Atomstreit
Moskau (AFP/nd). Im Atomstreit mit der Islamischen Republik Iran ist kein Durchbruch in Sicht. Bei den Gesprächen der Vertreter des Irans und der Verhandlungsgruppe aus den fünf UN-Vetomächten und Deutschland gab es am Dienstag in Moskau keine Anzeichen für Fortschritte. Knackpunkt ist offenbar die Anreicherung von Uran, die Teheran ungeachtet von Forderungen aus dem Westen nicht zurückfahren möchte. Die Gespräche in Moskau galten als entscheidend für eine diplomatische Lösung im Atomstreit. Allerdings schienen beide Seiten aneinan... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Bei den Moskauer Verhandlungen über das Atomprogramm Irans gab es am Dienstag offenbar keinerlei Fortschritte. Beide Seiten, die 5+1-Gruppe und Iran, erklärten, dass die Standpunkte unverrückbar geblieben seien.
Atomprogramm, Iran, Russland
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/230258.keine-annaeherung-im-atomstreit.html
Menetekel Yasuní
Ökonomie hat das Primat vor Ökologie. Dieses Grundmuster der kapitalistischen Produktionsweise sollte mit dem Modell Yasuní punktuell nach dem Motto »Es geht auch anders« durchbrochen werden. Ecuadors Regierung hatte angeboten, gegen Entschädigung auf die Ölförderung im Yasuní-Nationalpark zu verzichten, um damit dort die immense Artenvielfalt und den Lebensraum zweier indigener Völker unangetastet zu lassen. Ein Bruch mit der kapitalistis... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Martin Ling über die Erdölförderung in Ecuadors Nationalpark
Ecuador, Erdöl
Meinung
Kommentare
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Hausbesetzung in Leipzig dauert an
Leipzig. Eine Hausbesetzung im Leipziger Osten ist am Wochenende weitergegangen und hat die Debatte um bezahlbares Wohnen in der Messestadt befeuert. Bereits am Samstag meldeten sich die Aktivisten der Gruppe »Leipzig besetzen« zu Wort. »Wir würden uns freuen, wenn der Eigentümer oder die Eigentümerin auch den direkten Kontakt zu uns aufnehmen würde«, hieß es. Seit Beginn der Besetzung habe man Bereitschaft zu Verhandlungen auf Augenhöhe signalisiert. Die ganze Nacht hätten sich Menschen vor dem Haus aufgehalten, zudem sei es in der näheren Umgebung zu »Solidaritätsbesetzungen« gekommen, hieß es von den Aktivisten. Sie nennen sich »Initiative für selbstverwaltete Freiräume und die Rückeroberung des Lebens in der Stadt«. Die Leipziger Polizei blieb entspannt. Man habe inzwischen den Eigentümer ermittelt, der nicht in der Stadt wohne, aber am kommenden Mittwoch kommen wolle, um mit den Besetzern zu reden, sagte eine Polizeisprecherin auf Anfrage. Bis dahin werde man das Objekt beobachten: »Wir belassen das so, wie es momentan ist.« »Mit der Besetzung wird aufgezeigt, dass es in Leipzig drängende Probleme gibt: Immobilienpreise explodieren, Freiräume für nichtkommerzielle Nutzungen gibt es faktisch nicht mehr«, erklärte die Leipziger Linke-Stadträtin und Landtagsabgeordnete Juliane Nagel. Leerstand werde in der Regel zu teurem Wohnraum umgewandelt, den sich Menschen ohne und mit geringen Einkommen nicht leisten könnten. Auch der so genannte spekulative Leerstand sei ein Problem und treibe Immobilienpreise nach oben. Mit der Aktion werde der der Finger in die Wunde gelegt. »Ich hoffe, dass die Gespräche mit dem Besitzer positiv verlaufen und die Initiative ihr ambitioniertes Konzept verwirklichen kann. Ich erwarte, dass die Stadtverwaltung hier unterstützend zur Seite steht, gerade wenn es um die Entwicklung eines tragfähigen sozialen Projektes geht«, betonte Nagel. Sie halte Hausbesetzungen zu sozialen Zwecken und als Protest gegen Mietenwahnsinn und Gentrifizierung für legitim. Besetzungen von lange leerstehenden Gebäuden für gemeinnützige Zwecke sollten als positiver Beitrag für das Gemeinwesen grundsätzlich legalisiert werden. Die CDU Leipzig verlangte dagegen ein sofortiges Ende der Aktion. »Polizei sollte das Gebäude sofort räumen, wenn Hausbesetzer nicht Einsicht zeigen und die Besetzung abbrechen«, hieß es. Der Pressesprecher der Partei, Eric Buchmann, nannte das Vorgehen der Besetzer inakzeptabel und bemerkte: »Auch wenn diese Personen manche Probleme in unserer Stadt thematisieren. Ja, viele Menschen leiden unter steigenden Mieten und ja, es gibt Verdrängungsprozesse in manchen Stadtteilen. Aber die Antwort darauf kann nicht sein, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen und anderen einfach das Recht auf ihr Eigentum abzuerkennen.« dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
»Miethaie zu Fischstäbchen«: Mit solchen Slogans machten Hausbesetzer schon kurz nach der Wende in Leipzig auf Mietexplosionen und Leerstände aufmerksam. 30 Jahre später kommt es wieder zu Hausbesetzungen.
Hausbesetzung, Leipzig, LINKE, Mieten, Mietenwahnsinn, Wohnen
Politik & Ökonomie
Politik Mietenwahnsinn
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Marginale Krypto-Welt
Der Ton wird rauer: In immer mehr Ländern üben Vertreter von Behörden oder quasi-staatlichen Institutionen scharfe Kritik an der Krypto-Währung Bitcoin, die wieder durch Kursturbulenzen für Schlagzeilen sorgt. Diese sei kein normales Zahlungsmittel, sondern ein »reines Spekulationsobjekt«, schimpfte jetzt Japans Zentralbankchef Haruhiko Kuroda und ist sich da einig mit den Kollegen der Bundesbank. In China gibt es auch schon Handelsverbote. Das ist wenig verwunderlich. Das Bitcoin-System ist so ausgestaltet, dass es sich der Kontrolle von Behörden wie auch den geldpolitischen Interventionen der Notenbanken entzieht. Das lockte zunächst libertäre Netzaktivisten an, aber eben auch Leute, die hiermit kriminelle Geschäfte abwickeln. Der gewaltige Kursaufstieg ruft aber zunehmend Leute auf den Plan, die mithilfe des digitalen Schneeballsystems ihre Dollar-, Euro- oder Yuan-Privatvermögen rasch vergrößern wollen. Sie sind also dem herkömmlichen Geld verbunden, weshalb die Währungshüter zunehmend nervös werden. Allerdings würde man sich wünschen, dass die Reaktionen bei vergleichbaren Vorgängen auf den formellen Finanzmärkten ähnlich scharf wären. Im Derivatebereich gibt es ähnliche Vorgänge, die bei den Regulierern maximal für Stirnrunzeln sorgen. Dabei werden hier ganz andere Summen bewegt und gehebelt als in der marginalen Krypto-Welt.
Kurt Stenger
Bei den starken Reaktionen auf den Bitcoin-Boom würde man sich wünschen, dass sie bei vergleichbaren Vorgängen auf den formellen Finanzmärkten ähnlich scharf wären. Im Derivatebereich gibt es ganz ähnliche Vorgänge.
Derivat, Finanzmarkt
Meinung
Kommentare Bitcoin und Co
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Die Verwaltung wird aufgeräumt
Es wurde eng am Dienstag im Sitzungssaal des Roten Rathauses. Der gesamte Senat und alle zwölf Bezirksbürgermeister kamen zusammen, um über die Zukunft der Verwaltung zu sprechen. Alle Beteiligten einigten sich auf ein gemeinsames, zwölfseitiges Diskussionspapier. Bis Mai kommenden Jahres soll daraus ein verbindlicher »Zukunftspakt Verwaltung« werden. »Eine bessere Zusammenarbeit zwischen Senat und Bezirken in einer neuen Qualität« sei das Ziel, erklärt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) in der anschließenden Pressekonferenz. »Das Problemlösungsbewusstsein ist soweit gediehen, dass wir aufhören uns vorzuwerfen, wer gerade Schuld ist«, beschreibt der Pankower Bezirksbürgermeister Sören Benn (LINKE) die neue Trautheit. »Wir haben den Willen, dass nicht nur alles besser, sondern endlich mal gut wird«, so Benn. Das Leistungsversprechen gegenüber den Bürgern müsse formuliert und umgesetzt werden. Konkret wurden fünf Handlungsfelder definiert. Zum Beispiel die Themen Personalentwicklung und Personalgewinnung. »Wir haben 1650 Mitarbeiterstellen in Reinickendorf, von denen etwa 80 nicht besetzt sind«, erklärt der dortige Bezirksbürgermeister Frank Balzer (CDU). Im vergangenen Jahr wurden im Bezirk insgesamt 328 Besetzungsvorgänge für Stellen abgeschlossen. Das zeigt die enorme Fluktuation, mit der die Verwaltungen zu kämpfen haben. Das liegt zum einen am nach jahrelangem Personalabbau erfolgten Stellenzuwachs, andererseits an der hohen Anzahl an in den Ruhestand gehenden Beschäftigten. Weil über Jahre kaum jemand eingestellt wurde, stellt das einen empfindlichen Aderlass dar. »Wir brauchen unglaublich viel Personal«, sagt Balzer. Allerdings dauerten Einstellungsvorgänge derzeit vier, fünf oder sechs Monate. Das sei zu lang. Die Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) nennt als Problem auch die unterschiedlichen Gehaltsstrukturen zwischen den Verwaltungsebenen. In Senatsverwaltungen werden für eine vergleichbare Tätigkeit wie in den Bezirken oft einige hundert Euro mehr monatlich bezahlt, was die Konkurrenz um das knappe Personal noch verschärft. Der Pankower Benn wünscht sich zumindest in Personalfragen auch ein Durchgriffsrecht, um den Wildwuchs bei Einstellungsverfahren reduzieren zu können. Ein besonderes Schmankerl, das die Bürger und ihre Verwalter immer wieder umtreibt sind die Doppelzuständigkeiten. »Müssen Bebauungspläne von einer Instanz zur nächsten gegeben werden?«, fragt Balzer. Für Monika Herrmann gehört dazu auch die unterschiedliche Zuständigkeit für Straßen- und Parkreinigung. »Ich würde sagen die Berliner Stadtreinigung (BSR) ist das Unternehmen, das Berlin sauber hält«, so Herrmann. Daneben nennt sie auch die Aufgabenabgrenzung zwischen Polizei und Ordnungsamt. Für die Themen Müll, Parken und Lärm seien beide zuständig. »Das macht auch mich etwas wirr«, sagt sie und will, dass für alle diese Themen künftig nur noch das Ordnungsamt verantwortlich sein soll. »Dann brauchen wir mehr Personal und die Beschäftigten müssen rund um die Uhr arbeiteten dürfen«, so die Bürgermeisterin. Das müsse wiederum mit den Personalräten geklärt werden. Aber bitteschön nicht in jedem Bezirk einzeln, sondern einmal mit dem Hauptpersonalrat für alle Bezirke. Ihr Reinickendorfer Amtskollege ärgert sich auch über das Missverhältnis zwischen dem Investitionsetat der Bezirke von 5,5 Millionen Euro und den zahlreichen vom Senat aufgelegten Sonderprogrammen, die das Zehnfache ausmachten. »Natürlich freut sich jede Senatsverwaltung, wenn sie etwas Gutes tun kann«, so Balzer. Aber die Bezirke könnten den Bedarf selbst erkennen und dementsprechend investieren, findet er. Zum ersten mal überhaupt sei übrigens der komplette Senat mit allen Bezirkschefs bei einem Termin zusammengekommen, erklärt der Regierende Bürgermeister. »Das ist ein gutes Zeichen«, so Müller. Diesen Eindruck teilt auch der CDU-Politiker Balzer, obwohl seine Partei nicht der Regierungskoalition angehöre. »Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass uns eine Verwaltungsreform wirklich voranbringen kann«, sagt er.
Nicolas Šustr
Vernünftige Personalführung, klarere Strukturen, eindeutige Zuständigkeiten. Senat und Bezirke geben sich für die Ausarbeitung einer verbindlichen Verwaltungsreform noch ein halbes Jahr Zeit.
Berlin, Personal, Reform, Spardiktat
Hauptstadtregion
Berlin Verwaltunsgreform in Berlin
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1106175.verwaltunsgreform-in-berlin-die-verwaltung-wird-aufgeraeumt.html
Letzte Nerz-Farm in Brandenburg geschlossen
Frankenförde. Brandenburgs letzte Pelztierfarm ist in Frankenförde (Teltow-Fläming) geschlossen worden. Er sei jetzt 70 Jahre alt und gehe in den Ruhestand, sagte Betreiber Alfons Grosser am Dienstag der »Märkischen Allgemeinen Zeitung«. Einst wurden 16 000 Nerze auf der Farm gehalten, deren Schließung der Verein Tierschutzbüro seit Jahren die Schließung gefordert hatte. Er hatte Grosser Verstöße gegen das Tierschutzgesetz vorgeworfen. Auch in Sachsen-Anhalt stellte eine umstrittene Nerzfarm in Söllichau im Landkreis Wittenberg den Betrieb ein. dpa/nd
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Brandenburg, Tierschutz
Hauptstadtregion
Brandenburg
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Berlin: Müller wird nächster Regierender Bürgermeister
Berlin. Stadtentwicklungssenator Michael Müller soll Berlins nächster Regierender Bürgermeister werden. Im SPD-internen Wettstreit um die Nachfolge von Klaus Wowereit (SPD) erzielte der 49-Jährige überraschend bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit von 59,1 Prozent. »Dass es so einen großen Vertrauensbeweis gibt, freut mich wahnsinnig. Ich hoffe, dass wir gemeinsam als Berliner SPD dieses Votum der Mitglieder auch nutzen und die führende Kraft bleiben«, sagte Müller nach der Auszählung. Müller steht als Regierender Bürgermeister allerdings noch nicht endgültig fest. Zunächst muss er bei einem SPD-Parteitag am 8. November nominiert und dann im Dezember im Abgeordnetenhaus gewählt werden. Auch der Koalitionspartner CDU muss also zustimmen. Regierungschef Wowereit äußerte sich erfreut, dass mit Müller die Arbeit des rot-schwarzen Senats in »politischer Kontinuität, aber auch mit neuen Akzenten« fortgesetzt werde. ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Stadtentwicklungssenator Müller soll Berlins nächster Regierender Bürgermeister werden. Im SPD-internen Wettstreit um die Nachfolge von Klaus Wowereit erzielte er überraschend bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit.
Berlin, Mitgliederentscheid, Regierender Bürgermeister, SPD
Hauptstadtregion
Berlin
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Aufklärung unerwünscht?
nd: Wie kamen Sie dazu, über Klaus Barbie zu forschen?Hammerschmidt: Ein Hauptseminar an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz über die deutsche Südamerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert hat mein Interesse an den »Rattenlinien« geweckt. Die »Rattenlinien« waren die von westlichen Geheimdiensten, dem Roten Kreuz und dem Vatikan initiierten Fluchtrouten, über die hochrangige NS-Funktionäre nach 1945 nach Südamerika und somit einer Strafverfolgung entkamen. Eine Person, die von dieser Protektion profitierte, war Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, der trotz seiner Eintragung auf internationalen Fahndungslisten bis 1983 in Freiheit lebte und sein NS-Repressionswissen an westliche Nachrichtendienste und an südamerikanische Militärdiktaturen weitergab. Sie haben auch beim Verfassungsschutz Akten zu Barbie angefordert.Das mittlerweile aufgrund hartnäckiger Interventionen freigegebene Aktenmaterial von ausländischen Nachr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
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Peter Hammerschmidt über Barbie und den Verfassungsschutz
Verfassungsschutz
Politik & Ökonomie
Politik
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Gerichtsurteil: Facebook verstößt mit Voreinstellungen gegen Datenschutz
Berlin. Das soziale Netzwerk Facebook verstößt mit seinen Voreinstellungen und Teilen der Nutzungs- und Datenschutzbedingungen gegen den Datenschutz in Deutschland. Dies entschied das Landgericht Berlin am Montag. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) hatte gegen das Unternehmen geklagt. Die Einwilligungen zur Datennutzung, die sich das Unternehmen bei der Registrierung neuer Facebook-Accounts einholt, sind demnach teilweise unwirksam. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. (Az. 16 O 341/15) Das Gericht kritisierte mit Blick auf die Voreinstellungen etwa, dass in der Facebook-App für Mobiltelefone der Ortungsdienst bereits aktiviert ist, der Chat-Partnern den eigenen Aufenthaltsort verrät. Zudem war in den Einstellungen zur Privatsphäre per Häkchen voreingestellt, dass Suchmaschinen einen Link zur Chronik des Teilnehmers erhalten. Dadurch wird das persönliche Facebook-Profil für jeden schnell und leicht auffindbar. Die Richter entschieden, dass alle fünf vom vzbv monierten Voreinstellungen auf Facebook unwirksam sind. Es sei nicht gewährleistet, dass diese vom Nutzer überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Nach dem Bundesdatenschutzgesetz dürfen personenbezogene Daten nur mit Zustimmung der Betroffenen erhoben und verwendet werden. Damit diese bewusst entscheiden können, müssen Anbieter klar und verständlich über Art, Umfang und Zweck der Datennutzung informieren. Lesen Sie das Urteil hier. »Facebook versteckt datenschutzunfreundliche Voreinstellungen in seinem Privatsphäre-Center, ohne bei der Registrierung ausreichend darüber zu informieren«, sagt Heiko Dünkel, Rechtsreferent beim vzbv. »Das reicht für eine informierte Einwilligung nicht aus.« Die Richter erklärten außerdem acht Klauseln in den Nutzungsbedingungen für unwirksam. Diese enthielten unter anderem vorformulierte Einwilligungserklärungen, wonach Facebook Namen und Profilbild der Nutzer »für kommerzielle, gesponserte oder verwandte Inhalte« einsetzen und deren Daten in die USA weiterleiten durfte. Die Richter stellten klar, dass mit solchen vorformulierten Erklärungen keine wirksame Zustimmung zur Datennutzung erteilt werden könne. Lesen Sie auch: Teilerfolg – Datenschutzaktivist aus Österreich kann gegen Facebook klagen, aber nicht per Sammelklage. Unzulässig ist auch eine Klausel, mit der sich Nutzer verpflichten, auf Facebook nur ihre echten Namen und Daten zu verwenden. »Anbieter von Online-Diensten müssen Nutzern auch eine anonyme Teilnahme, etwa unter Verwendung eines Pseudonyms, ermöglichen«, erklärte der vzbv. Das schreibe das Telemediengesetz vor. Nach Auffassung des Landgerichts war die Klarnamenpflicht schon deshalb unzulässig, weil Nutzer damit versteckt der Verwendung dieser Daten zustimmten. Nicht durchsetzen konnten sich die Verbraucherschützer mit dem Versuch, die Werbeaussage »Facebook ist kostenlos« verbieten zu lassen. Dagegen will der Verband in Berufung gehen. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Mehrere Klauseln der Nutzungsbedingungen von Facebook sind in Deutschland unzulässig. Bei der Registrierung werde die weitgehende Weitergabe von Daten versteckt, diese sei deswegen unwirksam, urteilt ein Gericht. Auch die Klarnamenpflicht ist unwirksam.
Datenaustausch, Datenschutz, Datensicherheit, Facebook, Informationen
Politik & Ökonomie
Politik Verbraucherschutz
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Zu lasche Bremse
Die Mieten - besonders in Ballungsräumen - sind zu hoch. Das ist keine neue Erkenntnis, seit Jahren warnen Mieterinitiativen und Parteien vor einer Entwicklung, die die Ärmsten aus den Städten verdrängt und Existenzängste verschärft. Inzwischen betrifft das Problem auch die Mittelschicht, die sich mit einem Durchschnittseinkommen etwa in Berlin kaum noch eine Wohnung leisten kann. Die Bundespolitik scheint die Dringlichkeit aber nicht zu sehen: Die von der Vorgängerkoalition beschlossene Mietpreisbremse ist zu lasch und schiebt Spekulantentum keinen wirklichen Riegel vor. Nun soll sie noch einmal angepasst werden, doch auch dann wird sie nicht genug Schutz bieten. Angesichts absurder Marktentwicklungen hilft es nämlich wenig, wenn der Nachmieter sich beim Vermieter über die Vormiete erkundigen kann. Sinnvoller wäre ein Verbot von Mieterhöhungen, wenn sie nicht durch nachweisbar notwendige Sanierungsmaßnahmen erklärbar sind. Doch eine Politik, die im Glauben daran, dass es der Markt schon regeln wird, Grundrechte wie das auf Wohnen der Gewinnmaximierung von Eigentümern unterordnet, hat an richtigem Mieterschutz kein Interesse. Stattdessen fördert sie ein ums andere Mal Wohneigentum - aktuell mit dem geplanten Baukindergeld -, wer mieten muss, muss sehen, wo er bleibt. Jedenfalls nicht in einer neuen, bezahlbaren Wohnung, denn von denen werden viel zu wenige gebaut.
Grit Gernhardt
Grit Gernhardt findet, dass gegen Mietwucher viel mehr getan werden müsste
Bundesregierung, Gentrifizierung, Mieten, Wohnen
Meinung
Kommentare Mietpreisbremse und Baukindergeld
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Gedenken am 8. und 9. Mai: Den Sieg feiern mitten im Krieg?
Selbst die vermeintlichen Drohnenangriffe auf den Kreml sind für Russlands Regierung kein Grund, den 9. Mai nicht feierlich zu begehen. Die Parade werde wie geplant stattfinden, sagte Kremlsprecher Dmitrij Peskow kurz nach den Anschlägen am 3. Mai. Auch Wladimir Putin halte an seinem Auftritt zum 78. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland fest, betonte Peskow. Man muss kein Wahrsager sein, um vorauszusehen, dass Putin am Dienstagmorgen auf dem Roten Platz einen scharfen rhetorischen Bogen von der Wehrmacht zur Nato und ihrer Rolle in der Ukraine, die Russland bedrohten und bedrohen, spannen wird. Sonst aber soll es den Anschein haben, alles verlaufe normal. Schließlich ist der Tag des Sieges der Lieblingsfeiertag des russischen Präsidenten. Und auch seines Volkes, wenn man dem staatlichen Meinungsforschungsinstitut WZIOM glaubt. Das präsentierte Anfang Mai eine Umfrage, derzufolge 65 Prozent der Russen den Tag des Sieges als wichtigsten Feiertag bezeichnen. Seit Wochen bereitet die Propaganda die Menschen im Land auf den Feiertag vor, der deutlich kleiner ausfallen wird als vor dem Angriff auf die Ukraine. Mindestens 21 Städte haben die traditionelle Parade bereits abgesagt, Moskau und St. Petersburg verzichten auf das Überfliegen von Kampfflugzeugen. Mehrere Regionen verzichten auf das Feuerwerk, um das gesparte Geld an die Front zu schicken, so die offizielle Begründung. In Wahrheit fehlt vielen Gemeinden mittlerweile das Geld für große Feste. Trotz aller Rhetorik kann Russland nicht mehr verbergen, dass dieser 9.Mai kein gewöhnlicher Tag des Sieges wird. Moskau wird eine abgeriegelte Stadt sein, in der Putin mit seinem einzigen ausländischen Gast, dem kirgisischen Präsidenten Sadyr Dschaparow »feiern« wird. Das Volk bleibt dieses Mal ausgeschlossen. Im ganzen Land wurde das Unsterbliche Regiment abgesagt, ein Gedenkmarsch, bei dem die Teilnehmer Bilder ihrer Angehörigen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, zeigen. Offiziell geschieht das aus Sicherheitsgründen. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml große Menschenmengen verhindern will. Wie schon während der Corona-Pandemie rufen die Organisatoren zu einem digitalen Flashmob auf. Hinter der Absage des Unsterblichen Regiments könnte jedoch mehr stecken, vermutet der Historiker Maxim Kusachmetow. Er glaubt, die Regierung befürchte, dass bei der Aktion die Bilder von Gefallenen aus dem Krieg in der Ukraine gezeigt und dadurch die hohe Opferzahl der russischen Armee offensichtlich werden könnte. Weiter südlich in der Ukraine wird an diesem 9. Mai nicht gefeiert. Durch das Kriegsrecht im Land wurde der Tag (wie auch der 1. Mai) zum Arbeitstag erklärt. Kiew ist seit dem Euromaidan bestrebt, seine Geschichte und damit auch die Erinnerungskultur zu »dekommunisieren« und zu nationalisieren. Den 9. Mai abzuschaffen, hat man sich bisher noch nicht getraut. Seit 2015 ist aus dem Tag des Sieges aber der Tag der Erinnerung und des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg geworden. Als Zeichen der europäischen Anpassung akzentuiert Kiew seitdem den 8. Mai als Tag des Erinnerns und der Versöhnung. Bis 2022 fuhr Kiew mit dieser Doppelgedenkstrategie gut. Im Dezember fand die Stiftung Demokratische Initiativen heraus, dass jeder Dritte (35 Prozent) in der Ukraine beide Tage als wichtig empfindet. Allerdings, auch das wird deutlich, hat der 9. Mai seit der russischen Invasion an Ansehen verloren. Denn 2021 waren noch 41 Prozent der Ukraine für beide Feiertage. Das Kiewer Internationale Institut für Soziologe sprach kurz vor dem 9. Mai von einer »dramatischen Veränderung« der Bedeutung des Tags des Sieges in der Ukraine. Lediglich 13 Prozent empfinden den Tag noch als Feiertag, vor zwei Jahren waren es noch 30 Prozent. Schuld daran, so die Soziologen, ist neben dem seit mehr als einem Jahr andauernden Krieg auch die zunehmende Militarisierung des 9. Mai in Russland, die für die Aggression gegen die Ukraine verantwortlich gemacht wird.
Daniel Säwert
Der Tag des Sieges ist der wichtigste Feiertag für die Russen. Eine Absage kommt deshalb auch in Kriegszeiten nicht infrage. In der Ukraine wenden sich die Menschen hingegen zunehmend ab.
Russland, Ukraine, Wladimir Putin
Politik & Ökonomie
Politik Zweiter Weltkrieg
2023-05-07T17:38:19+0200
2023-05-07T17:38:19+0200
2023-05-11T17:56:19+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1173046.gedenken-am-und-mai-den-sieg-feiern-mitten-im-krieg.html
Vom Gulag geprägt
Zum 100. Geburtstag Alexander Solschenizyns will die Regierung in Russland für das »Gewissen der Nation« neue Denkmäler errichten, während weite Kreise, die den Untergang der Sowjetunion nicht verschmerzen können, Solschenizyn als »Lügner« und »Vaterlandsverräter« schmähen. Was aber bedeutet uns heute der Literaturnobelpreisträger von 1970? Die Lebenserfahrung Solschenizyns, der in seiner Jugend für Lenins Ideen schwärmte, wurde vom Gulag geprägt. Im Februar 1945 wurde der Artilleriehauptmann in Ostpreußen verhaftet, weil er in Briefen an einen Schulfreund Stalin kritisiert hatte. Es war ein Glücksumstand, dass er in einen »Sonderknast« am Rande Moskaus kam, wo er von 1947 bis 1950 mit Lew Kopelew und anderen Wissenschaftlern am strategisch wichtigen Komplex der Phonoskopie forschte (davon handelt sein Roman »Im ersten Kreis«, in dem Solschenizyn unter dem Namen Gleb Nerschin agiert). Anschließend arbeitete er als Maurer im Lager ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Karlheinz Kasper
Alexander Solschenizyn zum 100: In Russland gilt er als »Gewissen der Nation« und als »Vaterlandsverräter«
Literatur, Russland
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1107649.vom-gulag-gepraegt.html
Ein Ultra-Realo in Ungnade
Er galt als Hoffnungsträger der Grünen, wurde immer wieder für Posten in der Landes- und Bundespolitik gehandelt. Doch inzwischen ist Boris Palmer (42) bei großen Teilen der Partei in Ungnade gefallen. Als Spielfeld blieb dem Ultra-Realo nur die Universitätsstadt Tübingen. Am kommenden Sonntag muss der Ziehsohn von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sogar um seinen Oberbürgermeister-Posten bangen. Im Kampf um seine Wiederwahl in der schwäbischen Provinz schwingt die Frage mit: Was wird aus Palmer? In Tübingen hat Palmer durchaus Erfolge vorzuweisen, mit denen er wuchern kann. Der ausgeglichene Haushalt oder der verringerte Kohlendioxid-Ausstoß sind Pluspunkte. Es gehe bei der Wahl nur darum, wer in den nächsten acht Jahren OB sei, sagt Palmer. Bundesweit wird je nach Ergebnis eine andere Botschaft gelesen: Entweder Palmer ist für höhere Weihen geeignet oder nicht, meint der Tübinger Politikprofes... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Susanne Popp, Tübingen
Für Parteilinke ist er ein Problem: Tübingens grüner OB Boris Palmer. Er wurde als Wegbereiter von Schwarz-Grün gehandelt, auch als Nachfolger des Landeschefs. Doch nun steht der OB-Posten in Frage.
Bürgermeister, Die Grünen
Politik & Ökonomie
Politik
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Gesetze gegen Frauen in vielen Ländern
In Dutzenden Ländern der Welt halten sich frauenfeindliche Gesetze, obwohl sie mit internationalem Recht unvereinbar sind. Darauf hat »Equality Now«, eine Frauenrechtsorganisation mit Sitz in New York, in einem Bericht hingewiesen und die Weltgemeinschaft aufgefordert, Abhilfe zu schaffen. Durch viele dieser Gesetze werden Frauen ihrer elementaren Menschenrechte wie dem Schutz vor Gewalt, Vergewaltigung und innerfamiliärer Gewalt beraubt. In Malta müssen Männer, die eine Frau entführen, keine strafrechtliche Verfolgung fürchten, wenn sie ihre Opfer heiraten. Nigerianer dürfen ihre Frauen zu »Erziehungszwecken« körperlich züchtigen. In Kongo sind Frauen verpflichtet, mit ihren Ehemännern zusammenzuleben und ihnen dorthin zu ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Thalif Deen, New York
Frauenrechte
Politik & Ökonomie
Politik
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Weniger Berliner überschuldet
Die Zahl der Berliner, deren Zahlungsverpflichtungen und Ausgaben dauerhaft ihr Einkommen übersteigen, ist 2016 leicht gesunken. Dennoch steckt weiterhin rund jeder achte Erwachsene auf absehbare Zeit in der Schuldenfalle. Männer sind doppelt so häufig betroffen wie Frauen, und auch die Gruppe der 60- bis 69-Jährigen hat zunehmend Schulden. Das geht aus dem am Dienstag vorgestellten Schuldneraltlas Berlin-Brandenburg 2016 des Wirtschaftsauskunfts- und Risikomanagementunternehmens Creditreform hervor. Insgesamt waren zum 1. Oktober 373 221 Hauptstädter, die älter als 18 Jahre sind, überschuldet - fast 3000 weniger als 2015 (376 184). Damit entwickelt sich die private Überschuldung in Berlin entgegen dem bundesweiten Trend, ging sie doch in der Stadt binnen zwölf Monaten 0,8 Prozent zurück (Bund plus 1,9). Die Schuldnerquote, die die Zahl der überschuldeten Personen ins Verhältnis zu der der Einwohner setzt, sei von 12,99 Prozent auf 12,74 Prozent gesunken. »Damit liegt Berlin aber noch immer deutlich über dem Bundesdurchschnitt, auch wenn sich der Abstand verringert hat«, sagte Creditreform-Sprecher Michael Herzog. »Und die Hauptstadt ist mit Bremen weiter Schlusslicht.« Bundesweit sei die Schuldnerquote von 9,92 auf 10,06 Prozent gestiegen. Ursache für den positiven Trend sei neben der rückläufigen Zahl der Überschuldungsfälle vor allem ein »größtenteils aus Zuwanderung« resultierender Bevölkerungszuwachs, heißt es. Doch auch das gute Wirtschaftsklima in der Stadt sei eine gute Grundlage für eine langfristige Entspannung. Herzog verwies beispielsweise auf eine ausgesprochen gute Auftragslage bei kleinen und mittleren Unternehmen in Berlin. »Ausschlaggebend für die positiven Entwicklungen war sicherlich die anhaltend gute Wirtschaftslage in der Bundeshauptstadt, die eine kräftig sinkende Arbeitslosigkeit zur Folge hatte«, heißt es im Atlas. »Allein im Vergleich zum Vorjahresmonat nahm die Zahl der Arbeitslosen im Oktober 2016 - vorrangig im Bereich SGB II - um rund 14 700 auf noch 172 000 Betroffene ab (minus 8,5 Prozent).« Noch immer seien Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut Hauptauslöser von Überschuldungsprozessen. Die Schuldnerdichte hat sich 2016 in allen 23 Stadtbezirken verringert - vor allem in Hohenschönhausen, Wedding, Tiergarten und Mitte, wobei sie dort überdurchschnittlich hoch blieb. Auch die absolute Zahl Betroffener sank. Längerfristig betrachtet ergebe sich aber ein differenziertes Bild. So sei seit 2009 die Zahl der Überschuldeten vor allem in Spandau (plus 22,6 Prozent) und Hellersdorf (plus 16,6) stark gestiegen, während es in acht Bezirken, allen voran Prenzlauer Berg (minus 10,3) weniger gab. Mit einer Quote von 18,13 Prozent sei Wedding Schlusslicht, Zehlendorf mit 7,49 Spitze. Die Verbesserung der Überschuldungssituation beruhe ausschließlich auf dem Rückgang »weicher« Faktoren (Mahn- und Inkassofälle), wird konstatiert. Einen neuen Höchststand habe mit 231 860 (plus 2,8 Prozent) die Zahl der »hart« (gerichtsrelevant) Überschuldeten erreicht. »Das ist unter dem Strich negativ und bedeutet, dass das Klima für Schuldner in Berlin rauer wird«, räumte Herzog ein.
Tomas Morgenstern
Berlins Wirtschaft boomt, die Auftragslage kleiner und mittlerer Unternehmen ist stabil und die Bevölkerung der Stadt wächst durch Zuzug - mit günstigen Auswirkungen auf die Verschuldungsquote.
Arbeitslosigkeit, Berlin, Schulden
Hauptstadtregion
Berlin
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CDU-Berater mit Rechtsdrall
Er hat sich einen Namen als Pegida-Experte und -Versteher gemacht: der in Dresden lehrende, aus Passau stammende Politologe Werner Patzelt. Seit Aufkommen der Bewegung der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« Ende 2014 haben die Öffentlich-Rechtlichen den Wissenschaftler zum obersten Deuter nationalistischer und rassistischer Wallungen erkoren. In jeder zweiten Talkshow zum Thema »Flüchtlingskrise« und Rechtsruck war seine Expertise gefragt, in den Nachrichtensendungen ohnehin. Dass er selbst CDU-Mann rechtskonservativer Prägung ist, stört in den Sendeanstalten offenbar niemanden - und auch nicht, dass er offensiv für ein Bündnis von Christdemokraten und rechtsradikaler AfD in Sachsen und in anderen Bundesländern wirbt. Am Sonntag teilte Sachsens CDU stolz mit, der Wissenschaftler leite jetzt die Kommission, die ihr das Programm für die Landtagswahl am 1. September schreiben wird. Die AfD wird’s freuen. Denn Patzelt empfiehlt der CDU, was sie ohnehin die ganze Zeit tut: weiter nach rechts zu rücken, um AfD-Wähler zurückzugewinnen und wieder »politischer Champion in Sachsen« zu werden. Den Erfolg der rechten Konkurrenz hat diese Strategie aber nicht geschmälert. Im Gegenteil.
Jana Frielinghaus
Der Pegida Experte und Politologe Werner Patzelt ist CDU-Mann rechtskonservativer Prägung. Er tritt offensiv für ein Bündnis mit der AfD ein. Das kann er jetzt für die CDU-Sachsen umsetzen, da er die Kommission für das Wahlprogramm leitet.
AfD, CDU, Dresden, Sachsen
Meinung
Kommentare Werner Patzelt
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Waffenlieferungen an die Ukraine: Fico tanzt aus der Reihe
Bei seinen ersten öffentlichen Auftritten wiederholte der in der vergangenen Woche ins Amt eingeführte slowakische Premier Robert Fico die Aussagen, die ein Gros seines Wahlkampfes geprägt hatten. Bratislava, so der sozialdemokratisch-populistische Politiker, werde künftig keine Waffen mehr an die Ukraine liefern und auch entsprechende Beschlüsse der EU nicht unterstützen. Die humanitäre und zivile Hilfe will man hingegen fortsetzen. Fico begründet diese Haltung mit den Worten, die Ukraine sei »durch und durch korrupt«, und man dürfe ein solches System nicht unterstützen. Zudem sei Frieden im Osten Europas nur zu erreichen, indem man mit Russland in Verhandlungen trete und auch die Interessen Moskaus berücksichtige. Mit dieser Positionierung bildet Fico einen Schulterschluss mit dem Amtskollegen in Budapest, Viktor Orbán. Dabei erhält Fico Rückendeckung vom neu berufenen Außenminister, dem Smer-SSD-Parteikollegen Juraj Blanár. Der Politiker aus dem Norden des Landes war bereits in der Vergangenheit mit prorussischen Aussagen und Kritik an der Politik des Westens aufgefallen. So stimmte Blanár im Parlament, dem Nationalrat, nicht für eine Verurteilung russischer Kriegsverbrechen und lehnte auch deutlich einen Verteidigungspakt mit den Vereinigten Staaten ab, der es der US-Airforce erlauben sollte, zwei Militärflughäfen in der Slowakei zu nutzen. Man wird sich sowohl in der EU als auch in der Nato darauf einstellen müssen, dass nun in Bratislava eher skeptische Partner das Sagen haben. Eine gemeinsame Haltung in beiden Bündnissen gegenüber den aktuellen Konflikten dürfte das deutlich erschweren. Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Die Hoffnungen in Brüssel und Washington richten sich nun auf den Hlas-Vorsitzenden und neu gewählten Präsidenten des Nationalrats, Peter Pellegrini. Der einstige Parteikollege Ficos fährt mit seiner ebenfalls sozialdemokratisch ausgerichteten Partei einen deutlich EU-freundlicheren Kurs und könnte als dritthöchste Instanz im Lande für einen politischen Ausgleich sorgen. Auch innenpolitisch dürfte sich nach dem Antritt der neuen Regierung Fico die Spaltung der Gesellschaft vertiefen. Staatspräsidentin Zuzana Čaputová zeigte während der Vereidigungszeremonie wenig Begeisterung. Ihre Partei, Progresívne Slovensko (Fortschrittliche Slowakei), war vor den Nationalratswahlen als aussichtsreichste Kraft gehandelt worden. Doch die linksliberale PS kam unter ihrem Spitzenkandidaten Michal Šimečka nur auf den zweiten Rang und konnte so nicht das Mandat für eine Regierungsbildung erhalten. Den Auftrag hatte nun zum wiederholten Male SMER-SSD-Chef Robert Fibo erhalten, dem es rasch gelang, eine Koalition mit der drittplatzierten Hlas von Peter Pellegrini und der kleineren rechtskonservativen SNS zu schmieden. So schnell wie die Koalition geschaffen war, so holprig ging dann jedoch die Regierungsbildung voran. Etliche der politischen Akteure sind noch angeschlagen von den Unruhen des Jahres 2018. Vor allem der Mord am Enthüllungsjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová hatten damals das Ende des dritten Kabinetts Fico eingeläutet. Innenminister Robert Kaliňák musste nur wenige Tage nach dem Doppelmord seinen Hut nehmen und geriet darüber hinaus in Verdacht, selbst in die organisierte Kriminalität verwickelt zu sein. Doch mit dem Rücktritt des Ministers allein ließ sich die Bevölkerung nicht beschwichtigen, was schließlich zum Rücktritt der gesamten Regierung geführt hatte. Mit Volksbegehren übernahmen die Fortschrittlichen die politische Initiative, was ihre Vertreterin Čaputová bei den Wahlen 2019 auf den Präsidentensessel beförderte. Nun jedoch heißt der Ministerpräsident erneut Fico. Und auch Kaliňák ist wieder mit an Bord, diesmal in der Funktion des Verteidigungsministers. Turbulenzen gab es um den Kandidaten für den Posten des Umweltministers: Der SNS-Vertreter Rudolf Huliak wurde von der Präsidentin nicht akzeptiert. Die Begründung von Čaputová war, dass ein Leugner der wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels unmöglich das Umweltressort leiten könne. Huliak wurde dann von dem rechtskonservativen Tomáš Taraba ersetzt. Der 43-jährige Investmentmanager verfügt indes auch nicht über einschlägige fachliche Kompetenzen. Einwände hatte Präsidentin Čaputová auch gegen die Nominierung der früheren Fernsehmoderatorin Martina Šimkovičová. Die parteilose, jedoch für die rechtspopulistische SNS antretende Journalistin war in der Vergangenheit vor allem wegen der Verbreitung von Verschwörungstheorien aufgefallen. Gegen Šimkovičová konnte die Präsidentin ihr Veto allerdings nicht durchsetzen. So wird man national und international mit Spannung darauf schauen, wie sich die Kulturpolitik des Landes entwickelt. Doch Umwelt und Kultur sind eher Nebenschaubühnen des politischen Geschehens an der Donau. Nach den ersten Auftritten Ficos und seiner Minister auf dem internationalen Parkett wird sich die Aufmerksamkeit vor allem auf seine außenpolitische Orientierung richten. Schwierigkeiten im Verhältnis der Slowakei zu ihren europäischen Partnern sind damit vorprogrammiert.
Jindra Kolar, Prag
Schulterschluss mit Ungarn: Bei seinem ersten Auftritt in Brüssel verkündete der neue slowakische Regierungschef Robert Fico, unter seiner Regierung werde es keine weitere militärische Unterstützung der Ukraine geben.
Slowakei, Ukraine
Politik & Ökonomie
Politik Slowakei
2023-10-31T17:20:53+0100
2023-10-31T17:20:53+0100
2023-11-01T17:38:01+0100
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Sparhaushalt auf der Straße abgelehnt
Gewerkschafter, Linke, Mitglieder der Bewegungen »Wohnrecht für alle«, »No TAV« (Susatal) und andere - zu Zehntausenden kamen am Wochenende aufgebrachte Bürger nach Rom. Bereits am Vortag hatte es Streiks im Transportwesen gegeben. Auch am Samstag demonstrierten die meisten friedlich, aber bestimmt, gegen die Sparpolitik der Regierung von Enrico Letta. Der Hauptvorwurf: Die Wirtschaft und Finanzinstitute sollen saniert werden, die Bevölkerung muss dies mit Preis- und Steuererhöhungen bezahlen. Dass Enrico Letta von der Demokratischen Partei (PD) bei der Vorstellung seines Haushaltsentwurfs am Dienstag erklärte, die Steuerbelastung für die Einzelnen würde sinken, sehen viele nur als Ablenkungsmanöver: Tatsächlich ist ein Absenken der Einkommenssteuer geplant, doch wegen der Erhöhung der Benzinpreise - 6,5 Cent pro Liter als Sozialbeitrag - und einer geplanten Mehrwertsteuererhöhung von 21 auf 22 Prozent sehen die Bürger sich vor allem als Opfer der Maßnahmen. Die Wut war groß. So kam es am Samstagnachmittag auch zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Behörden hatten ein massives Aufgebot von mehr als 3000 Ordnungskräften gestellt. Verletzte gab es auf beiden Seiten, elf Demonstranten könnten vor Gericht gestellt werden. Die Proteste richteten sich auch gegen Gebäude: gegen das Wirtschaftsministerium, die römischen Filialen von UniCredit, den Zentralsitz der rechtsradikalen Organisation CasaPound. Am Abend blockierten mehrere Zeltlager Verkehrsknotenpunkte der Hauptstadt. Die Besetzungen dauerten auch am Sonntag an. »Wir bleiben hier, bis wir erhört werden«, so ein Sprecher der Protestbewegung. Für Dienstag sei ein Treffen mit Infrastrukturminister Maurizio Lupi geplant. Die angekündigten Sparmaßnahmen sind auch innerhalb der Parteien umstritten. Vertreter der linksgerichteten Gewerkschaften und der PD warfen den Plänen mangelnden sozialen Charakter vor. Der zurückgetretene Vorsitzende und Ex-Regierungschef Mario Monti nannte den Verzicht auf die Grundsteuer Imu - von ihm im »Rettungspaket für Italien« eingeführt - ein »Einknicken Lettas« vor dem rechten Koalitionspartner Volk der Freiheit (PdL). Selbst demokratische Minister erwogen einen Rücktritt. Seinen politischen Rückzug kann sich Silvio Berlusconi indes wohl nicht mehr aussuchen. Das Appellationsgericht Mailand hat am Sonnabend ein zweijähriges Ämterverbot über den ehemaligen Ministerpräsidenten verhängt. Das Gericht entsprach damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die Anwälte des Medienmoguls lagen zwar sofort Berufung ein. Doch in der kommenden Woche droht Berlusconi bereits der Verlust seines Senatssitzes. Auch im Ruby-Prozess steht eine Entscheidung an. Dort wurde er in erster Instanz wegen Amtsmissbrauch und Prostitution Minderjähriger zu sieben Jahren Haft und lebenslänglichem Ämterverbot verurteilt. Sollte das angerufene Appellationsgericht dieses Urteil bestätigen - und damit wird noch in diesem Jahr gerechnet - dürfte Berlusconi nur noch als Graue Eminenz seiner Mitte-Rechts-Bewegung in Erscheinung treten. Aus den Reihen der PdL gab es immerhin Unterstützung. Sekretär Angelino Alfano erklärte, die Rechtspartei stünde »fest geschart um unseren Führer«. Der PdL-Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, Renato Brunetta, wiederholte, man könne den »Führer der Mehrheit des italienischen Volkes« nicht ignorieren und in der Möglichkeit, politisch zu agieren, behindern. Lediglich in einem der in Italien schwelenden Konflikte zeichnete sich am Wochenende eine Lösung ab. Der in Rom verstorbene NS-Kriegsverbrecher Erich Priebke soll nach Angaben seines Anwalts Paolo Giacchini an einem geheimen Ort bestattet werden. Da die deutsche Botschaft laut Agenturen keine diesbezüglichen Anfragen des Anwalts oder der Angehörigen erhielt, dürfte sich das Grab in Italien befinden. Priebke war an dem Massaker der Nazis bei den Ardeatinischen Höhlen nahe Rom mit 335 getöteten Zivilisten beteiligt.
Wolf H. Wagner, Florenz
Die Regierung Italiens unter Enrico steht wegen ihrer Sparpläne in der Kritik - nicht nur tausender Demonstranten, sondern auch auf der Regierungsbank. Mehrere Minister erwägen den Rücktritt.
Italien, Silvio Berlusconi, Sozialabbau, Sparprogramm, Treibstoffpreise
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Wenn die Weltbilder wanken
Vor zehn Jahren wusste noch kaum jemand, was mit Identitätspolitik überhaupt gemeint ist. Inzwischen haben ihre Vertreter beträchtliche Landgewinne im sogenannten Kulturkampf erreicht. Wie über etwas zu sprechen ist, mit welchen Vokabeln und welchen Prämissen, das entscheidet immer häufiger eine gebildete Minderheit. Der soziale Zwang, der mit dieser Hoheit über den Diskurs einhergeht, hat zweifellos viel Gutes bewirkt. Die Hemmschwelle für diskriminierendes Handeln und Sprechen war wohl noch nie höher. Doch nicht erst seit der anlässlich des Kriegs in Nahost erneut entbrannten Diskussion um den Postkolonialismus befindet sich die Identitätspolitik nunmehr in der Defensive. Im vor einem Jahr im Hanser-Verlag erschienenen Band »Canceln« meinte der »Zeit«-Feuilletonist Ijoma Mangold, seitdem die »Woken« als Vertreter dieser neuen Diskursmoral einen Namen hätten, seien sie erstmals angreifbar geworden. Wie Mangold schreibt, agierten sie zuvor aus der Deckung heraus. Sie behaupteten zum Beispiel gerne, es gebe gar keine »Cancel Culture« und ihre derart verunglimpften Einlassungen wären nichts anderes als zivilgesellschaftliches Engagement. Mit diesem Versteckspiel ist jetzt Schluss, da Vertreter bestimmter Interessen und Träger spezifischer Gesinnungen als »Woke« identifiziert sind. Wenn sie sich von diesem Schmähwort verkannt fühlen, teilen sie nur das Schicksal all jener, die zuvor von ihnen selbst als Rechte, als »Terfs« oder als »alte weiße Männer« disqualifiziert wurden. Für eine eher traditionelle Linke, die ökonomische Gerechtigkeit den Repräsentationsfragen vorzieht, ist das eine gute Nachricht. Vermutlich hat kein anderes politisches Lager so sehr unter dem Erfolg der Woken gelitten, reklamieren doch auch sie die Bezeichnung links für sich und sprechen sie jenen ab, die sich mehr für den Mindestlohn als für Pronomen oder Gendersternchen interessieren. Fortschritt, also das linke Projekt schlechthin, vollzog sich bei den Woken rasant, während die ökonomisch orientierte Linke in der Vergangenheit zu leben schien. Susan Neiman schlägt nun zurück und natürlich trägt ihre Streitschrift den neuen Kampfbegriff im Titel: »Links ist nicht woke« heißt das Buch, mit dem die Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums trennen will, was ihr zufolge nicht zusammengehört. Für eine wahre Linke ist Neiman zufolge ein Bekenntnis zum Universalismus unentbehrlich, das heißt ein Programm, das allen Menschen zugutekommt, mithin für die Gemeinschaft und das Allgemeine streitet. Mit einer Identitätspolitik, die im Gegenteil auf die Grenze und ihre Unüberwindbarkeit pocht, ist eine solche Agenda in der Tat nicht zu vereinbaren, weshalb Neiman sie naserümpfend als »Stammesdenken« oder »Tribalismus« abtut und damit überkommenen Epochen zuordnet. Tatsächlich problematisieren Anhänger des Postkolonialismus die Aufklärung, also die entscheidende geistige Ressource der Moderne, da diese die globale Ausbeutung befördert oder überhaupt erst motiviert habe. Neiman gibt sich einige Mühe, diesen Verdacht zu zerstreuen und präsentiert als Beweise Zitate von Kant und Diderot. Gewinnen kann sie den Disput so aber nicht, weil die Kant-Kritiker eben auch einwandfrei rassistische Textstellen in der Hinterhand haben. Ohnehin ist der Versuch, die wohl folgenreichste Revolution des Denkens seit der griechischen Antike auf die Kategorien schuldig beziehungsweise unschuldig zu reduzieren, ein ziemlich hilfloses Unterfangen. Die Woken machen sich etwas vor, wenn sie meinen, die Aufklärung verabschieden, missachten oder verlernen zu können. Doch auch Neiman sitzt einem Missverständnis auf. Wenn Studenten sich weigern, Kant zu lesen, weil sie auf Social-Media-Screenshots rassistische Passagen aus dessen Werk entdeckt haben, dann verstehen sie ihn eben nicht – wie Neiman – als Denker und Wegbereiter der Moderne, sondern als eine sehr konkrete politische Figur. Das Streitpotenzial zwischen Neiman als klassische Intellektuelle und den Woken verpufft in dem Moment, in dem man anerkennt, dass Letztere vor allem ein rhetorisches Interesse an Philosophie haben, dass für sie Inhalte nur solange von Belang sind, wie sie für ihre politische Argumentation nützlich sein können. Das soll nicht heißen, dass eine Auseinandersetzung mit ihnen keinen Sinn ergäbe, wohl aber, dass es vergebene Liebesmüh ist, ihnen gegenüber auf geistesgeschichtliche Korrektheit zu pochen. Von Julie Burchill wäre das ohnehin nicht zu erwarten, ist sie doch eher für beherzte Kraftausdrücke bekannt. Die britische Journalistin entstammt der Punk-Bewegung, schrieb bereits als Teenager für den »New Musical Express«, später dann für mal linke, zeitweise auch für konservative Blätter über Filme, Mode, Feminismus und inzwischen am liebsten über die Woken, denen sie auch ihr jüngstes Buch widmet: »Willkommen bei den Woke-Tribunalen«. Sie wirft darin den von ihr so genannten »Woke Bros.« unter anderem vor, Genitalverstümmlung als legitime Praxis einer anderen Kultur zu rechtfertigen, Minderjährige zu ermutigen, ihr Geschlecht zu wechseln, und Männern eine Entschuldigung zu liefern, in Frauenumkleideräumen »an ihren Schwänzen herumzuspielen«. Burchills unerbittliche Haltung unter anderem gegen Transaktivist*innen und den Islam erinnert an Alice Schwarzer und die Gründe, warum diese in linken und netzfeministischen Kreisen inzwischen so schlecht beleumundet ist. Anders als Schwarzer bedient sie sich für ihre Argumentation aber eines derben und beleidigenden Tonfalls und das wahrscheinlich auch, um die eigene Autorität als Angehörige der Working Class zu rechtfertigen. Ihre Angriffe auf die Woken kann man mithin auch als Verteidigung einer spezifischen Kultur verstehen, für die eine junge, akademisch geprägte Linke maximal Befremden aufbringt, wenn sie denn überhaupt Interesse an ihr zeigt. In gewisser Weise betreibt Burchill also selbst Identitätspolitik. »Aufgrund meiner Herkunft musste ich mich nie anstrengen, nicht rassistisch zu sein; ich hatte mir nie genug Gedanken darüber gemacht, um mich darum zu sorgen – das ist etwas für Leute, die Zeit haben, Leute, die zur Uni gehen.« Der dezidierte Antirassismus der Woken, ihre Selbstbefragung und das ständige Misstrauen anderen gegenüber sind ihr nicht nur fremd, sondern auch verdächtig. Der Streit zwischen altlinken »Boomern« und Woken ist auch ein Generationenkonflikt. Die Alten führen ihn so unerbittlich, weil sie um ihr Weltbild bangen. Und die Aggressivität der Jungen mag auch daher rühren, dass sie in vielen westlichen Gesellschaften aufgrund der demografischen Entwicklung institutionell so wenig Einfluss haben, dass sie auf anderen Feldern umso entschiedener auftreten. Davon abgesehen tragen die älteren Linken natürlich selbst ein gehöriges Maß an Schuld daran, dass progressive Kräfte sich heute nicht mehr vornehmlich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, haben ihre Mütter und Väter die Hoffnung auf eine solche doch bereits kampflos aufgegeben, als Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder den politischen Einfluss auf die Wirtschaft sausen ließen und dies als modernes gerechtes Projekt verkauften. Es ist bezeichnend, wie wenig sich Neiman und Burchill für die Frage interessieren, warum das woke Denken sich so mühelos ausgebreitet hat. Man könnte auf den Gedanken kommen, sie wollten mit ihrer vehementen Gegenwehr vom Versagen der eigenen Generation ablenken. Susan Neiman: Links ist nicht woke. A. d. amerik. Engl. v. Christiana Goldmann. Hanser Berlin, 176 S., geb., 22 €.Julie Burchill: Willkommen bei den Woke-Tribunalen: Wie #Idenität fortschrittliche Politik zerstört. A. d. Engl. v. Christoph Hesse. Edition Tiamat, 376 S., br., 34 €.
Michael Wolf
Vermutlich hat kein anderes politisches Lager so sehr unter dem Erfolg der Woken gelitten, wie die traditionellen Linken. Woran liegt das? Und ist dies ein Grund, jenen den Kampf anzusagen?
Feuilleton
Kultur Wokeness
2024-02-18T17:17:33+0100
2024-02-18T17:17:33+0100
2024-02-19T18:18:02+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180110.wokeness-wenn-die-weltbilder-wanken.html?sstr=postkolonialismus
Umweltgipfel im Kohleland
In Sydney beginnt an diesem Dienstag der erste »Global Nature Positive Summit«. Das dreitägige Treffen dient der Umsetzung des beschlossenen UN-Naturschutzabkommens, in dem sich Ende 2022 rund 200 Staaten verpflichtet haben, jeweils mindestens 30 Prozent der Land- und der Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen. In diesem Rahmen setzte man sich auch das Finanzziel, jährlich 200 Milliarden US-Dollar für die Instandsetzung der Natur auszugeben. Der »Positive Summit« soll Investitionen des Privatsektors »zum Schutz und zur Wiederherstellung unserer Umwelt fördern«, wie es offiziell heißt. Rund 1000 Vertreter von Regierungen, Wirtschaft, Wissenschaft und Umweltgruppen werden erwartet. Allerdings gibt es Kritik am Austragungsort: Als der Gipfel 2022 angekündigt wurde, sicherten Australiens Labor-Regierung und speziell die hochmotivierte Umweltministerin Tanya Plibersek zu, die Umwelt oben auf die Prioritätenliste zu setzen. Seither gibt es zwar kleine Fortschritte, doch die Bilanz ist alles andere als positiv: Mehr als 2200 Arten gelten in Australien als vom Aussterben bedroht. Sämtliche Ökosysteme auf dem Kontinent sind unter Druck geraten, 19 zeigen bereits Anzeichen eines Kollapses oder befinden sich kurz davor. Zurzeit kämpft Canberra darum, ein Gesetzespaket zum Naturschutz durchzusetzen und eine neue nationale Umweltaufsichtsbehörde zu etablieren. Dass dies kaum vorankommt, liegt aus Sicht der Regierung an der Blockadehaltung der Opposition, also der Grünen und der Konservativen. Die »Extremisten« auf beiden Seiten stünden echtem Fortschritt im Wege, klagte die sozialdemokratische Ministerin Plibersek am Montag in einem Pressegespräch vor Beginn des Gipfels, der von ihr geleitet wird. Ihre Botschaft an die Teilnehmer ist es, Natur und Wirtschaft zu koppeln. Ökonomische Rahmenbedingungen müssten so geändert werden, »dass unsere Wirtschaft die Natur schützt und nicht zerstört«, sagte Plibersek. Als Beispiele führt sie Mechanismen an wie »Grüne Anleihen« und einen »Nature Repair Market«, den ihre Regierung im vergangenen Jahr startete, um Landbesitzer zu belohnen, die sich für Naturschutz einsetzen. Staaten könnten die Finanzierung nicht allein leisten. Mehr als 2200 Arten gelten in Australien als vom Aussterben bedroht. Australiens Engagement für eine nachhaltige Finanzstrategie sei vielversprechend, urteilt eine Expertengruppe der Monash University in Melbourne. Und die hier geplante obligatorische Nachhaltigkeitsberichterstattung für Unternehmen, die auch Fragen der Artenvielfalt umfassen soll, könne dazu beitragen, dass Firmen erstmals Biodiversitätsziele festlegen. Christine Milne sieht die Vorschläge der Regierung dagegen weniger positiv. Dass Australien einen großen Gipfel für Naturschutz durchführt, sei reines »Greenwashing«, kritisiert die Umweltaktivistin und ehemalige Vorsitzende der Grünen. Nach wie vor fänden hier großflächige Rodungen statt, und es würden neue Kohle- sowie Gasprojekte genehmigt. Erst vor zwei Wochen gab Plibersek grünes Licht für die Erweiterung von drei Kohleprojekten. Auch Bob Brown, ebenfalls Ex-Grünen-Chef und Umweltaktivist, der sich auf seiner Heimatinsel Tasmanien oft wagemutig vor die Bulldozer der Forstindustrie stellt, spricht von einem »kolossalen Schwindel«, den die Regierung sich da erlaube. Im Bundesstaat New South Wales, wo der Gipfel stattfindet, würden riesige Flächen abgeholzt, die eigentlich Teil eines Koala-Nationalparks sein sollten. »Ich habe die Bäume auf dem Boden liegen sehen – mit den Kratzspuren der Koalas«, sagt der 79-Jährige. Auch Plibersek räumt ein, dass es im Land eine »Biodiversitätskrise« gebe, die durch Extremereignisse wie Buschbrände noch verstärkt werde. Allerdings werde Australien 30 Prozent des Landes und 30 Prozent der Ozeane rund um den Kontinent bis 2030 unter Schutz stellen. Schon jetzt gelte dies für »eine Fläche von der Größe Deutschlands«, so die Ministerin. Zudem investiere ihre Regierung Millionen in den Kampf gegen wild lebende Katzen, die für einen großen Teil des Artensterbens in Australien verantwortlich seien, sowie in ein Programm zur Verbesserung der Wasserqualität am berühmten Great Barrier Reef. Auf die inzwischen sieben Kohleprojekte angesprochen, die sie seit Beginn ihrer Amtszeit abgezeichnet hat, verweist Plibersek auf den von der Regierung geförderten Ausbau der erneuerbaren Energien. Umweltschützer dagegen weisen auf die hohen Subventionen hin, die Projekte rund um fossile Brennstoffe in Australien nach wie vor erhalten. Premierminister Anthony Albanese sei seit seinem Amtsantritt bereits über 20 Mal nach Westaustralien gereist, um dort Vertreter der Bergbaufirmen zu treffen, weiß Brown. Letzere hielten in vielen Bereichen im Land »die Zügel in der Hand«. Der konservative Oppositionsführer Peter Dutton wiederum hat erst vor wenigen Tagen bei einer Konferenz deklariert, er werde der »beste Freund« der Branche werden, sollte er nach den Wahlen im kommenden Jahr Premierminister werden. Unterstützt wird er von erzkonservativen Blättern und Sendern des Murdoch-Imperiums, die Propaganda gegen Umweltschutz betreiben. Dass der aktuelle Gipfel trotz guter Vorsätze eine positive Bewegung in Australien anstoßen könnte, daran glauben Brown und Milne nicht.
Barbara Barkhausen
Australien ist Gastgeber des ersten »Global Nature Positive«-Gipfels. Dass hier neue Kohleprojekte genehmigt und großflächig Wälder gerodet werden, verärgert Umweltschützer.
Australien, fossile Energie, Umweltschutz
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Nature Positive Summit
2024-10-07T15:39:47+0200
2024-10-07T15:39:47+0200
2024-10-08T14:47:44+0200
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185798.nature-positive-summit-umweltgipfel-im-kohleland.html
Von der Tragödie zum TV-Triell
Es ist eine altbekannte Geschichte: Vor knapp zweieinhalbtausend Jahren entwickelte sich in der Polis Athen etwas, das wir heute als Urform der Demokratie begreifen. Zur selben Zeit und auf demselben Breitengrad - also nicht ganz zufällig - entstanden die großen Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides, die die Grundlage des europäischen Theaters bis heute bilden. Der rituelle Charakter, der Glaube an die Möglichkeit der kollektiven Verständigung, die Feier der Gemeinschaft sind die Eigenschaften, die die attische Demokratie mit den antiken Tragödien teilt. Beides hat seinen Platz in den Geschichtsbüchern gefunden. Dass die Demokratie westlicher Ausprägung heute in einer Krise steckt, ist eine alte Leier. Krise - das Wort geistert seit 30 Jahren durch die Redaktionen, schallt durch sämtliche Nachrichtenstudios und ruft in Diskussionen als Beschreibungsmerkmal für den politischen Zustand kaum noch Reaktionen jedweder Art hervor. Richtig ist die Aussage dennoch. Eine Verwandtschaft der demokratischen Verfasstheit hierzulande mit der hohen Kunst der Tragödie ist natürlich kaum mehr zu sehen. Von Farce könnte viel eher die Rede sein. Vorbildhaft für die Bundesrepublik sind seit 1945 die USA, wo es eine hinlänglich bekannte Nähe gibt zwischen Washington und Hollywood, dem Markt, wo, nach Brecht, die Lügen verkauft werden. Nur dem Umstand, dass Deutschland den amerikanischen Entwicklungen ein paar Jahre hinterherhinkt, ist es zu verdanken, dass die Geschäfte im Kanzleramt heute noch nicht vorrangig twitternd geführt werden. In den USA gibt es eine lange Tradition der politischen Debatten mittels Rededuell. Von einer Streitkultur, einem gewinnbringenden intellektuellen Austausch der Argumente zu sprechen, ist aber Idealisierung, letztlich ein Euphemismus. Hier ging es, erstaunlich einfältig, schon immer um die Länge der Redebeiträge und letztlich um die Erledigung des politischen Gegners. Wer Zweifel an der Primitivität dieser Form der »demokratischen« Auseinandersetzung hat, muss nur ein paar Minuten des TV-Duells zwischen Joe Biden und Donald Trump ansehen, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Das »Duellieren« politischer Gegner, beispielsweise auf Theaterbühnen, gehört in den USA zum ohnehin vollkommen kommerzialisierten politischen Geschäft und zum Wahlkampf dazu. Seit 1960 wird es als Politereignis im Fernsehen inszeniert, dem vorherrschenden Massenmedium in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch in der Bundesrepublik gab es schon bald einige zaghafte Anfänge. Politische Debatten wurden im Rundfunk übertragen. Konkurrenten, nicht nur im Kampf um das höchste Regierungsamt im Land, wurden unmittelbar aufeinander losgelassen. Die grundverschiedenen politischen Systeme der USA und der Bundesrepublik haben einen Zweikampf erst einmal eigentümlich erscheinen lassen, und so wurde die sogenannte Elefantenrunde geboren: das öffentliche Aufeinandertreffen der Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien, bei denen sich, durchaus einleuchtend, der Vergleich mit den dicken, zähen und ungestümen Rüsseltieren durchgesetzt hat. Das Fernsehduell nach amerikanischem Vorbild kursierte zunächst nur als Idee - und wurde, zumeist von den Amtsinhabern, abgelehnt. Das änderte sich mit der Bundestagswahl 2002, als vor laufenden Kameras Edmund Stoiber und Gerhard Schröder zweimal aufeinanderstießen. Die Spektakel hatten beträchtliche Zuschauerquoten. Wenn man die TV-Ereignisse aus den digitalen Archiven hervorkramt, fällt zuerst auf, dass man trotz reißerischer Anmoderationen gewillt war, ein gewisses Niveau nicht zu unterschreiten. Zu politischen Fragen wurden gegensätzliche Positionen dargelegt, es gab keinerlei Verpflichtung zu besonders kurzen Ausführungen, die bloße Erwähnung von wirtschaftlichen Zusammenhängen oder die Darlegung von Zahlen führten nicht zum sofortigen Moderatoren-Veto, das könne der einfache Bürger nicht verstehen. Die Hybris bei der Vernunftehe von Medien- und Politbetrieb zeigte sich schnell, als den Duellen das Attribut »wahlentscheidend« zugesprochen wurde. Man glaubte, im Anschluss an die TV-Streits einen »Sieger« ausmachen zu können. Den Wert an sich eines solchen politischen Schlagabtauschs wollte man gar nicht begreifen, sondern die mediale Erregungsmaschine am Laufen halten. Bei dem Wort Duell dachte man wohl zuallererst an russische Romane des 19. Jahrhunderts - am besten mit tödlichem Ausgang. Unterhaltungswert sticht Inhalt. Dass bisschen Charisma, das Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder bei den TV-Duellen 2002 und 2005 noch aufwies, war spätestens mit der »Elefantenrunde« am Wahlabend 2005 dahin, als er, nah am Größenwahn, sich auch angesichts der Katastrophe siegesgewiss zeigte. Die Politikmüdigkeit, sowohl vonseiten der Regierenden als auch des mehr oder minder interessierten Publikums, hält seitdem an und wird alle vier Jahre im Fernsehen zur Schau getragen. Performerqualitäten sind mehr gefragt als politische Ideen. Und auch dabei wird vor allem die performative Unauffälligkeit goutiert. Beim 2013 zwischen SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgetragenen Duell mündete dies in deren Diktum »Sie kennen mich!«, was in Zeiten des Stillstands auch angesichts der Katastrophe - vielleicht ist dem einen oder anderen die Griechenland-Krise noch erinnerlich - offenbar ausreicht, um die Geschicke eines Landes weiter in die falsche Richtung führen zu dürfen. Die Mimen für die Duelle wechselten, und das Niveau sank weiter. Man pochte als vermeintlicher Anwalt des Fernsehpublikums auf einfache Antworten. Die Kontrahenten waren sich oft einig und mussten sich also nicht gegenseitig ins Wort fallen, was dafür die Moderatoren übernahmen. Dennoch gab es kaum wirklich kritische Nachfragen. Stattdessen ein Beharren auf möglichst genau gleiche Redeanteile. Der Unterhaltungskünstler Stefan Raab wurde in den Rang eines Politjournalisten erhoben. Die Fragen fanden teilweise aber auch ganz außerhalb bisher gekannter journalistischer Kategorien statt, und Merkel wurde gefragt, welche Schulnote sie Deutschland im Fach soziale Gerechtigkeit geben würde. Ganz so, als wäre die Sozialpolitik in diesem Land eine Fernsehquizshow. Nun ist das Duell zum Triell geworden, und die Kandidaten Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz konnten bereits einmal im Fernsehen ihr Unvermögen zur Schau stellen. Der politische Jammerzustand muss nicht täglich neu beklagt werden. Aber wir stecken auch in einem polit-ästhetischen Dilemma. Rhetorisch vollkommen unbegabt, reden die Kandidaten sich um Kopf und Kragen, flankiert von tendenziösen Fragen der Fernsehjournalisten. Wer glaubt, es gehe nicht schlimmer, der sei auf die quotengeilen komplementären Wahlformate verwiesen. Zum Beispiel auf eine Sendung mit dem dümmlichen Titel »Wahlarena«, bei der die Kandidaten sich einzeln Zuschauerfragen stellen. Annalena Baerbock durfte sich im Rahmen dieser öffentlich-rechtlichen Offenbarung Komplimente für ihre Schuhe anhören. Wenn so volksnahe Politik aussieht, möchte man doch lieber darauf verzichten. »Der ganze Wahlkampfdreck stammt von Idioten mit Abitur. Dagegen ist jeder Porno-Rapper aus dem Plattenbauviertel Shakespeare«, hielt Dietmar Dath bereits 2009 fest. Es hat sich nichts geändert. Es gibt keinen Grund, in Defätismus zu verfallen. Die Verhältnisse sind, wie sie sind. Und natürlich sollte man sich noch schleunigst überlegen, wer denn nun wirklich als kleineres Übel durchgehen kann. Aber bitte mit etwas Nüchternheit. Künstliche Aufgeregtheit und wie ein Glaubensmantra vorgetragene Erfindungen wie »Wechselstimmung« sollte man dem Fernsehen überlassen. »Einmal, alle vier Jahre, da tun wa so, als ob wa täten … diß is ein scheenet Jefiehl!«, legte Kurt Tucholsky einem älteren, aber leicht besoffenen Herrn in seinem gleichnamigen Text in den Mund. »Halten Sie die Fahne hoch! Hie alleweje! Un ick wer Sie mal wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch … rejiert wern wa doch … Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes! Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute Nacht -!« Die nächsten »Kanzler-Trielle« werden am Sonntag, 12.9., 20.15 Uhr, ARD/ZDF und am Sonntag, 19.9., 20.15 Uhr, Sat.1/ProSieben/Kabel Eins ausgestrahlt; eine »Elefantenrunde« ist zu sehen am Donnerstag, 23.9., 20.15 Uhr, ARD/ZDF.
Erik Zielke
Der Zustand der Demokratie zeigt sich auch in ihrer medialen Inszenierung in Zeiten des sogenannten Wahlkampfs. Fernsehduelle, -trielle, »Elefantenrunden« sorgen für Einschaltquoten, um wirkliche Auseinandersetzung geht es indes nicht.
Bundestagswahl, Demokratie, Fernsehen, USA, Wahlkampf
Feuilleton
Kultur Wahlkampf
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Alles besser als Homeschooling
Wenn in Bayern am Montag die Schule wieder beginnt, müssen die Schüler*innen auch im Unterricht Masken tragen. Das mag zwar konsequent sein, schließlich ist die Gefahr einer Infektion mit dem Coronavirus in geschlossenen Räumen mit vielen Menschen besonders hoch. Doch wird das stundenlange Maskentragen für viele belastend sein. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb alle anderen Bundesländer bislang davon absehen. Der zentrale Satz in der Erklärung des Ministerpräsidenten Markus Söder nach dem Schulgipfel lautete: »Maske ist besser als Schulausfall.« Alle Bundesländer haben sich vorgenommen, nach den Sommerferien wieder zum Regelbetrieb zurückzukehren. Alternativen dazu standen bei den Kultusminister*innen nicht mehr zur Diskussion. Homeschooling hat sich nicht bewährt, weil dafür schlicht die Grundlagen fehlen: Nicht alle Schüler*innen haben zu Hause die nötige Ruhe, es fehlen digitale Konzepte sowie Ausstattung, und die Schulbücher sind für den Fernunterricht konzipiert. Sollte es nun zu einer zweiten Infektionswelle kommen, werden auch die Masken nicht helfen. Es könnte erneut zu Schulschließungen kommen. Und dann ist zu befürchten, dass viele Schulen vor den gleichen Problemen stehen werden wie im Frühjahr.
Stefan Otto
Alle Bundesländer haben sich vorgenommen, nach den Sommerferien wieder zum Regelbetrieb zurückzukehren. Alternativen dazu standen bei den Kultusminister*innen nicht mehr zur Diskussion.
Bildungspolitik
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Kommentare Corona und soziale Folgen
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1141206.alles-besser-als-homeschooling.html
Pietkong
In Stuttgart, einem Kaff im Schwäbischen, bekannt für seine Parkhäuser und seine kulturelle Bedeutungslosigkeit, hat eine Hand voll gelangweilter junger Männer mit zu viel Testosteron im Körper (der Lesart und offiziellen Sprachregelung der örtlichen Polizei zufolge: die »Party- und Eventszene«) ein paar Schaufensterscheiben eingeworfen und Steine auf Polizeifahrzeuge geworfen. Nicht völlig auszuschließen ist nach derzeitigem Wissensstand, dass zuvor einige junge Leute bei ihrem Feierabenddrogenkonsum von übereifrigen Polizisten übermäßig drangsaliert und kujoniert wurden. Im konservativen Stuttgart, wo, wer nach 22 Uhr noch auf den Straßen unterwegs ist, schon mal grundsätzlich als gefährlicher Herumtreiber und Tunichtgut gilt und wo das Mitführen eines Krümels Haschisch als Kapitalverbrechen betrachtet wird, gibt es keine »Party- und Eventszene«. Es kann sie nicht geben, schon allein deshalb, weil es in Stuttgart keine »Partys« und »Events« gibt, die eine solche Bezeichnung verdient hätten. Der »Kölner Stadt-Anzeiger« will im Einschlagen von Schaufenstern und im Klauen von Billigware nun gar einen »Zivilisationsbruch« ausgemacht haben (»Täter, die höhnisch den Zivilisationsbruch zelebrieren«). Was Journalisten halt so schreiben, wenn der Tag lang ist und die Meise im Kopf groß. (Der letzte als ein solcher bezeichnete »Zivilisationsbruch« in der deutschen Geschichte war der Holocaust, das nur zur Erinnerung.) Kurz: Das Treiben wird nachträglich zum »Bürgerkrieg« umgelogen, um den Ausbau Stuttgarts zur von bis an die Zähne bewaffneten Cops bewachten, reaktionären Spießerfestung weiter voranzutreiben. Was aber die wenigsten wissen: Die »vollkommene Stadtkatastrophe«, wie der Dichter Jan Orthwien Stuttgart einmal nannte, kann selbst durch sogenannten Vandalismus nur schöner werden. Der Menschenschlag, der dort lebt, hat die Begrenztheit seines Talbewohnerdaseins jahrhundertelang durch übermäßige Bautätigkeit zu kompensieren versucht. Das Ergebnis ist eine unansehnliche Ansammlung hässlicher Einkaufspassagen, verstörender Betonbrücken und würfelförmiger Behausungen. Im Grunde muss man die Steinewerfer, so stumpfsinnig und geistlos diese auch gehandelt haben mögen, als freischweifende unfreiwillige Architekturkritiker verstehen. Unterschätzt wird Stuttgart hingegen als Wiege einer gefährlichen Sekte, der sogenannten Pietisten (»Pietkong«): In kaum einer anderen deutschen Stadt ist die Konzentration sich auf den ersten Blick harmlos gebender, tatsächlich aber eindeutig als extremistisch einzustufender evangelischer Religonslehrerinnen so hoch wie in dieser unscheinbaren, kleinen »Stadt«.
Thomas Blum
In Stuttgart flogen Steine auf die Polizei und in Schaufenster: Im Grunde muss man die offenbar bis unter die Schädeldecke unter Testosteron stehenden Steinewerfer, so stumpfsinnig und geistlos diese auch gehandelt haben mögen, als freischweifende Architekturkritiker verstehen.
Baden-Württemberg, Stuttgart
Feuilleton
Kultur Stuttgart
2020-06-22T15:56:29+0200
2020-06-22T15:56:29+0200
2023-01-21T10:59:41+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1138179.pietkong.html
Angela Davis in Hellersdorf
Reichlich roten Fahnenstoff gibt es derzeit in Berlin-Hellersdorf. Die in Halle geborene Performancekünstlerin Elske Rosenfeld setzt das mit Arbeiterkämpfen aufgeladene Textil im Rahmen der Ausstellung »Neues Deutschland« in der von der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) betriebenen Station urbaner Kulturen üppig ein. Sie beschäftigt sich mit einem ganz besonderen Kapitel der DDR-Geschichte. 1972 besuchte die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis die DDR. Eine Solidaritätskampagne, unterstützt auch von der DDR, hatte zu ihrer Befreiung aus dem Gefängnis beigetragen. Sie war in den USA wegen Terrorismusvorwurf inhaftiert. Das Verfahren wurde später eingestellt. Als Davis - damals in der weltweiten Linken mit einem Heldenstatus auf Höhe der bereits verstorbenen Ikonen Che Guevara und Ho Chi Minh sowie des inhaftierten Nelson Mandela - die DDR besuchte, schälte sich aus dem Spalier der klatschenden FDJ-Mitglieder die schmale Gestalt einer jungen Frau heraus. Sie umarmte Davis stürmisch. Es handelte sich im Erika Berthold. Die Tochter eines hohen Parteifunktionärs der SED war eine Mitgründerin der ostdeutschen Kommune 1. Sie wollte gemeinsam mit ihrem damaligen Partner Frank Havemann, ein Sohn des Dissidenten Robert Havemann, und anderen Mitstreiterinnen und Mitstreitern den Geist der 68er auch in die DDR tragen. Bertholds Geschichte ist im Buch »Die 68erinnen« von Ute Kätzel enthalten. Insgesamt 14 Frauen aus Ost und West, die meisten, trotz wichtiger Rollen seinerzeit, heute eher unbekannt, werden darin vorgestellt. Das Buch, in rotes Leinen gebunden, ist Teil von Rosenfelds Installation. Diese wird eröffnet mit einem wandgroßen Foto, das eine rote Fahne an einer Wäscheleine auf der Wiese vor einem Neubaublock zeigt. In einem solchen Areal befindet sich auch der Galerieraum der Station urbaner Kulturen. In ihrer auf Video festgehaltenen Performance legt Rosenfeld rote Farbschichten über Vergrößerungen des Fotos. der Begegnung. Sie beschreibt, wie sie auf dieses historische Dokument stieß. In das auf zwei Monitoren präsentierte Video integriert die Künstlerin Fernsehaufnahmen vom Davis-Besuch. Die Vergangenheit wird lebendig. Bertholds spontane Umarmungsaktion wird im Rückblick als Ausbruch aus dem ritualisierten Empfang gefeiert. Schon Spontaneität ist hier ein Zeichen von Dissidenz. Die Auffassung kann man teilen. Schade ist lediglich, dass Bertholds wohl wichtigere Aktionen - eben die Mitgründung der ostdeutschen Kommune 1 oder ihr Protest gegen den Einmarsch sowjetischer Panzer in der ČSSR 1968, der ihr, wie auch Frank Havemann, eine Gefängnisstrafe einbrachte - bei Installation und Performance unter den Tisch fallen. Der zweite Teil der Ausstellung wird vom aus Nigeria stammenden, seit längerer Zeit in Berlin lebenden Fotografen Akinbode Akinbiyi bestritten. Akinbiyi pflegt längere Wanderungen zu Fuß durch urbane und weniger urbane Räume zu unternehmen und kreiert dabei seine Fotoserien. Für die Ausstellung wanderte er vom Frankfurter Tor nach Hellersdorf. Man sieht den Wandel der Bebauung, von den klassischen Stalinbauten hin zu den abstrakteren Neubaukästen am Stadtrand. Akinbiyi fängt auch Graffiti und Schilderübermalungen ein. Besondere Hingucker sind Fassadenkletterer, die sich am Tage seiner Wanderung von einem Hochhaus abseilten. Insgesamt sind die Bilder allerdings wenig spektakulär. Sie entfalten ihren Reiz für viele Besucher wohl erst aus der Distanz, einer zeitlichen oder räumlichen. Frühere Serien von Akinbiyi aus Lagos oder auch Berlin, die letztes Jahr in einer umfassenden Ausstellung im Gropius-Bau zu sehen waren, besaßen jedenfalls größere Strahlkraft. Die Unscheinbarkeit des Alltags ist indes Konzept dieser Ausstellung. Der Titel »Neues Deutschland« will zum einen auf den Unterschied der Hellersdorfer Peripherie zum vielfach abgelichteten Zentrum Berlins hinweisen. Ein »Neues Deutschland« entsteht hier tatsächlich durch Zuwanderung, wie nicht zuletzt die Präsenz des Flüchtlingsheims unweit der Station urbaner Kulturen belegt. Um den Unterschied zu bemerken, müssten sich allerdings auch Personen aus dem Zentrum an die Peripherie begeben - Peripheriebewohner selbst kennen ihr Umfeld schließlich recht genau. »Neues Deutschland« spielt natürlich auch auf diese Zeitung sowie deren Vorgänger »Alemania Libre« und »Nueva Alemania« als Exilzeitschriften an. Themen wie Migration, Freiheit und Solidarität werden dadurch aufgerufen. Angesichts des auslaufenden Mietvertrags der nGbK in der Kreuzberger Oranienstraße könnte die Dependance in Hellersdorf bis zum Beziehen der Räume in den neu zu bauenden Pavillons in der Karl-Marx-Allee zum neuen wichtigen Standort werden. Reizvoll ist auch, dass sich die nGbK eine große Freifläche im unmittelbaren Umfeld zur künstlerischen Bespielung sicherte. Hier lässt sich zum Thema urbane Kulturen sicher viel entwickeln. Stadtpolitisch ist das auch nötig. Trotz aller Wohnungsmisere darf nicht vergessen werden: Leben ist mehr als nur Wohnen. Und selbst hier gibt es Probleme. Die Arbeiten zum 14-stöckigen Wohnturm, den Projektentwickler Haberent für die kommunale Gesobau in der Stollberger Straße entwickelt, stagnieren seit Längerem. Das Geld scheint knapp, Handwerker klagen über nicht bezahlte Rechnungen. Baufortschritt ist nicht zu erkennen. Erstbezug sollte aber eigentlich in diesem Frühjahr sein. Das »neue Deutschland«, das hier in Beton gegossen wird, wirkt nicht nur einfallslos. Es will noch nicht einmal entstehen. »Neues Deutschland«, Station urbaner Kulturen, Auerbacher Ring 41, 12619 Berlin, bis 4. Dezember, geöffnet Do und Sa 15 bis 19 Uhr.
Tom Mustroph
Die Unscheinbarkeit des Alltags ist ein Konzept dieser Ausstellung. Der Name will zum einen auf den Unterschied der Hellersdorfer Peripherie zum vielfach abgelichteten Zentrum Berlins hinweisen - aber nicht nur.
Berlin, DDR, Einwanderung, Kunstausstellung, Marzahn-Hellersdorf
Feuilleton
Kultur Ausstellung
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1157860.ausstellung-angela-davis-in-hellersdorf.html
Stärkung der Familien
Es sind erste Ausrufezeichen, die Anne Spiegel setzt. Die grüne Familienministerin will Instrumente nachjustieren und bei Bedarf neue schaffen, um auf die Bedürfnisse der Familien besser eingehen zu können. Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes soll ein Elternteil zwei Wochen bezahlten Sonderurlaub bekommen. Ein solches Entgegenkommen ist zu begrüßen. Eltern werden dankbar sein, wenn ihnen Zeit gegeben wird, damit sie den Ausnahmezustand einer Geburt meistern können. Beim Elterngeld nachzuregeln, macht ebenso Sinn. Schließlich gibt es noch immer die große Diskrepanz, dass Väter zwar mehr Verantwortung bei der Kinderbetreuung übernehmen wollen, dann aber doch vielfach deutlich weniger Elternzeit als Mütter nehmen. Anspruch und Wirklichkeit liegen hier noch weit auseinander. Insofern könnte es effektiv sein, Anreize zu schaffen, damit sich tatsächlich Väter mehr in die Familienarbeit einbringen. Notwendig ist auch das dritte angekündigte Vorhaben – nämlich eine Auszeit für jene zu schaffen, die Angehörige pflegen. Es sind Leerstellen, die Spiegel jetzt zielgenau füllen will. Wenn die Vorhaben tatsächlich so umgesetzt werden, wird der Nutzen für die Familien groß sein.
Stefan Otto
Die Familienministerin Anne Spiegel kündigt neue Leistungen für junge Eltern sowie eine berufliche Auszeit für Pflegende an. Werden die Vorhaben umgesetzt, können sie eine große Unterstützung für die Betroffenen sein.
Anne Spiegel, Elternzeit, Familienministerium, Pflegezeit
Meinung
Kommentare Erweiterte Elternzeit
2021-12-20T16:49:48+0100
2021-12-20T16:49:48+0100
2021-12-20T18:05:18+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159770.erweiterte-elternzeit-staerkung-der-familien.html
SPD-Basis irritiert über Sondierungsergebnis
Manches im Sondierungspapier von Union und SPD liest sich, als hätte die SPD wesentliche Punkte durchsetzen können: Der Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren soll erhalten bleiben. Auch das Rentenniveau soll nicht weiter sinken. Und beim Mindestlohn sind in dem Dokument als Zielmarke für das kommende Jahr 15 Euro pro Stunde festgehalten. Freilich ist im Papier auch zu lesen, dass weiter die Mindestlohnkommission über die Höhe dieser Entgeltuntergrenze entscheiden soll. Dieser gehören neben Repräsentanten der Gewerkschaften und Wissenschaftlern auch Interessenvertreter der Wirtschaft an. Bei der letzten Verhandlungsrunde war der Mindestlohn, der derzeit bei 12,41 Euro liegt, gegen das Votum der Gewerkschaften durchgesetzt worden. Gänzlich gegen die von der SPD zuletzt vertretenen Positionen sind die Vorhaben beim Bürgergeld. Hier haben sich CDU und CSU auf ganzer Linie mit ihrem im Bundestagswahlprogramm festgehaltenen Plan durchgesetzt, vermeintlich faulen Erwerbslosen die Daumenschrauben anzulegen und ihnen gegebenenfalls alle Leistungen zu kürzen. Für alle, die »arbeiten können«, soll laut Sondierungspapier wieder der sogenannte Vermittlungsvorrang gelten. Das heißt: Letztlich haben Betroffene kaum eine Chance, Jobs abzulehnen, auch wenn diese Dequalifikation und mieseste Bezahlung bedeuten. »Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern« wollen Union und SPD »verschärfen«. Und weiter: »Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.« Bei all dem werde man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten. Dieses hatte allerdings 2019 Totalsanktionen für rechtswidrig erklärt und lediglich befristete Teilsanktionierungen von maximal 30 Prozent des Regelsatzes als zulässig befunden. Diese gibt es bereits. Die Kürzung oder Streichung der Wohnkosten, das hatten die Karlsruher Richter ebenfalls betont, sind nicht zulässig. Folgerichtig kommt nicht nur aus den Gewerkschaften, aus Sozialverbänden und von der Linkspartei scharfe Kritik an diesen Plänen wie auch an den Beschlüssen zur Asylpolitik. Auch in den Reihen der SPD rumort es. So betonte der Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion, Tim Klüssendorf, mit Blick auf die Passagen zu Bürgergeld und Migration: »In den Koalitionsverhandlungen muss hier dringend nachgebessert werden, damit eine Zustimmung der SPD möglich ist.« Auch der Vorsitzende der bayerischen Jusos, Benedict Lang, erklärte am Montag: »Wenn sich in den Koalitionsverhandlungen nicht deutlich was bewegt, dann wird der Koalitionsvertrag für weite Teile der Partei – auch über die Jusos hinaus – nicht zustimmungsfähig sein.« Die SPD-Nachwuchsorganisation lehnt die Angriffe auf das Bürgergeld, die geplante Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit und die verabredeten Punkte im Bereich Migration ab. »Dass die SPD-Spitze diese Einigung als Erfolg verkauft, zeigt, wie weit der Rechtsruck fortgeschritten ist«, beklagt Lang. Bei der SPD ist ein Mitgliederentscheid über eine mögliche Koalition geplant. Vor der im Sondierungspapier angekündigten Umstellung von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit warnte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Dies, »gekoppelt mit Anreizen für mehr Überstunden«, berge »hohe Risiken für die Gesundheit der Beschäftigten«, mahnte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. »Wie so unverzichtbare Ruhezeiten gewährleistet bleiben und Missbrauch zulasten hart arbeitender Menschen abgewendet werden sollen, bleibt offen.« Im Spondierungspapier heißt es, die Maßnahme solle »im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie« stehen. »Dass die SPD-Spitze diese Einigung als Erfolg verkauft, zeigt, wie weit der Rechtsruck fortgeschritten ist.« Piel betonte zudem, dass Sanktionen Bürgergeldbeziehende nicht schneller in Arbeit bringen. Bereits in der im September 2022 veröffentlichten Langzeitstudie »Hartz plus« wurde nachgewiesen, dass Leistungskürzungen nicht aktivieren, sondern für einen längeren Verbleib in Hartz IV sorgen. An die Untersuchung erinnerte Otmar Tibes, Gründer des Blogs »Politik & Ökonomie« und Sozialdemokrat. Dass es beim Sanktionsregime nicht darum geht, Menschen in existenzsichernde Arbeit zu bringen, haben selbst Verfechter der einst von der damaligen rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Hartz-Reformen eingeräumt. Vielmehr ging es um eine Drohkulisse gegenüber denjenigen, die noch Arbeit haben: Wer gegen schlechte Arbeitsbedingungen und miese Löhne aufmuckt, landet im Hartz-Disziplinierungskarussell. Gegen die Vorhaben der mutmaßlichen künftigen Koalitionäre positionierte sich auch Alexander Jorde, der 2017 bekannt wurde, als er der damaligen Kanzlerin und erneuten Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel, in der ARD-»Wahlarena« bohrende Fragen zum Zustand des Gesundheitswesens stellte. Der Krankenpfleger ist seit 2018 SPD-Mitglied. Auf der Plattform X konstatierte er mit Blick auf das Sondierungspapier: »Zwei Seiten zu Migration. Zu Pflege und Gesundheit: Drei Sätze.« Er werde »keinem Koalitionsvertrag zustimmen, in dem de facto der Achtstundentag abgeschafft wird«, kündigte Jorde an. Die gesetzlichen Regelungen in Deutschland wie auch in der EU lassen indes längst eine hohe Flexibilität zu. Laut Arbeitszeitgesetz kann die tägliche Arbeitszeit von acht auf zehn Stunden verlängert werden, wenn es innerhalb von sechs Monaten bei durchschnittlich acht Stunden bleibt. Ebenso flexibel ist die Regelung zur wöchentlichen Arbeitszeit, die auf bis zu 60 Stunden verlängert werden kann, wenn der Durchschnitt innerhalb von vier Kalendermonaten bei 48 Stunden bleibt.
Jana Frielinghaus
Nicht nur in der Linken und in den Gewerkschaften ist man entsetzt über die faktische Abschaffung des Bürgergelds und viele andere von den Sondierern von Union und SPD geplante Maßnahmen im Arbeitsmarkt.
Arbeitszeit, Einwanderung, Hartz IV, SPD
Politik & Ökonomie
Politik Sozialpolitik
2025-03-10T17:46:38+0100
2025-03-10T17:46:38+0100
2025-03-14T12:41:07+0100
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189660.sondierungen-mit-union-spd-basis-irritiert-ueber-sondierungsergebnis.html?sstr=Frielinghaus
Mehr Vergessen als Erinnern
Schilder am Eingang warnen vor starken Lichtblitzen im dritten Teil. Das kann noch dauern, der dritte Teil heißt »Revolution« - vorher müssen wir durch »Demenz« und »Depression«. Anders kann man diese »Studie zu drei Mythen der Gegenwart« nicht nennen: eine Qual. Das liegt einerseits am Gegenstand, andererseits an den drei - völlig unverbundenen - Textblöcken, bei denen der Verdacht der Resteverwertung aufkommt. Petras geht in der kommenden Spielzeit nach Stuttgart. Am Gorki beginnt nun mit »Demenz Depression und Revolution« der Abschied von einer, nicht unerfolgreichen, Ära. Während Petras hier inszeniert, bereitet er dort schon die neue Spielzeit vor. Anders ist diese anfangs befremdlich-uninspirierte, unkonzentriert-zerfahrene Arbeit nicht zu erklären. An diesem Abend wird deutlich, dass es ein Problem sein kann, wenn jemand als Intendant sich selber als Regisseur einsetzt und bevorzugt seine eigenen Stücke, die er unter dem Namen Fritz Kater schreibt, inszeniert. Es liegt keineswegs an den starken Schauspielern, die aus dem Text und der Szene herauszuholen versuchen, was herauszuholen ist. Aber viel ist das nicht: weder starke Licht- noch Blitze anderer Art sind zu bemerken. Die etwas hochtrabend als »Mythen« daher kommenden Schlagworte Demenz, Depression und Revolution vereint allerdings eine Absicht: den Verlust von Wirklichkeit zu zeigen, lauter Übergänge ins Nichts. Kann davor Kunst bewahren? Der erlösungsbedürftige Mensch bleibt eingesperrt in seinen endlichen Körper, der unaufhaltsam zerfällt. Das ist doch ein so ungeheueres Thema, dass es jeden äußeren Handlungsablauf von innen her aufsprengt! Stattdessen erleben wir die ersten beiden Teile als Mischung aus Urania-Vortrag und pädagogischem Exkurs. Die Struktur des ersten Teils des insgesamt mehr als dreieinhalbstündigen Abends: Protokollaussagen von Demenz-Betroffenen und ihrer Angehörigen werden mit sehr stilisierten Textpassagen von Petras/Kater kompiliert. Eine eher mechanische Arbeit, die äußerlich bleibt und Gesagtes bloß bebildert. Das dringt nicht vor zum Rätselwesen Demenz, wie es Arno Geiger in »Der alte König in seinem Exil« ins Bild brachte. Und wo ist der Dritte?!, fragt sein Vater erwartungsvoll-vorwurfsvoll, nachdem er seine beiden Socken angezogen hat. Eine Frage, die es in sich hat. Mancher muss viel zurücklassen, um bei ihr anzulangen. Damit ist einiges gesagt über diese Krankheit, die noch im dramatischen Selbstverlust stellenweise ein großes Staunen gebiert, das den Menschen als fantasiebegabtes Wesen zeigt. Petras' an D' Annunzio erinnernde Dichtung über Schmetterlinge als »Sommergesichter verschwundener Toter«, die in höchster (und problematischster!) Künstlichkeit daher kommt, wird übergangslos mitten hinein in die Demenz-Protokolle geworfen - Thomas Lawinky rettet die Szene an der Grenze zur Peinlichkeit durch seine durch und durch unlyrische Person. Live-Musik auf der Bühne gibt es auch (Miles Perkin) - »Help« dröhnt es durch den Zuschauerraum. Erinnern und Vergessen. Ein großes labyrinthisches Thema, für das man sich Zeit nehmen sollte. Der erste Teil wird in siebzig Minuten abgehandelt. Dann schließt sich die Anstaltstür, die zum Himmel gereckten Arme fallen herab. Weiter geht's zur Depression, die Demenz können wir vergessen. Dieser zweite Teil ist der ausrechenbarste des Abends. Die Geschichte, angelehnt an die des Fußballnationaltorhüters Enke, der so lange an Depressionen litt, bis er sich vor einen Zug warf. Sie ist allzu bekannt, als dass man hier seiner konventionell erzählten Karriere von Station zu Station mit etwas anderem als Langeweile zu folgen vermag. Wiederum mühen sich (wie im ersten Teil Peter Kurth und Cristin König) die Schauspieler Michael Klammer und Aenne Schwarz, dem Ganzen etwas zu geben, was nicht aufgeht in dem, was auszusprechen ist. Aber der Text gibt nichts her, da drängt nichts ans Licht, bleibt aber auch nichts im Dunkeln. Es ist auf fatale Weise alles klar. Der dritte Teil »Revolution« lässt immerhin einiges aufblitzen von dem, was an Theater möglich scheint, wenn der Intendant Petras seinen Regisseur Petras ein Stück von dessem Alter Ego Fritz Kater inszenieren lässt. Der Riss, der durch die Zeit geht, zeigt sich hier wenigstens ansatzweise und lässt an Petras' große Arbeiten am Gorki Theater wie »Heaven (zu tristan)« oder »we are blood« denken. Dieser Künstler braucht die Verwerfungen der Geschichte als Thema, um wesentlich zu werden. Der Einzelne vor der Wahl zwischen zwei Unannehmbarkeiten stehend. Ein Schriftsteller in Prag 1968, bei dem die Weltgeschichte anklopft. Was tut so ein narzisstischer Autor, der sich selbst immer Mittelpunkt der Welt ist? Er schreibt einfach weiter. Sein Buch wird fertig, als die Geschichte auch mit einer ihrer Utopien fertig wird. Im Zusammenspiel mit Rebecca Riedels Videoprojektionen kippt das Dokumentarische immer wieder ins Traumhaft-Surreale: Der absurde Grund des Geschehens öffnet sich. Die Identitäten wechseln, alle drei Schauspieler dieses Teils spielen einmal jede der Rollen. Denn nichts anderes ist Revolution: Rollenwechsel! Thomas Lawinky überzeugt, weil er gegen sein massiges Brutalo-Image anspielt und gleichsam die weibliche Seele in sich entdeckt. Das ist großartig, da wird es gleich grotesk, da beginnt etwas nicht im vorhinein Ausrechenbares. Neben Cristin König überrascht hier vor allem die junge Svenja Liesau (noch Schauspielstudentin an der Ernst Busch Schule!) mit ihrem großräumig-präzisen Spiel. Den Namen muss man sich merken. Weitere Vorstellungen 19.1. u. 6.2.
Gunnar Decker
Armin Petras: »Demenz Depression und Revolution« am Gorki Theater
Maxim-Gorki-Theater, Theater
Feuilleton
Kultur
https://www.nd-aktuell.de//artikel/809115.mehr-vergessen-als-erinnern.html
Erhebliche Unterschiede
In der französischen Linken ist vieles anders. Zu Demonstrationen gegen die Anhebung des Rentenalters erscheinen Mandatsträger*innen der Linken schon mal mit Schärpen in Nationalfarben. Und im Wahlkampf verkündete der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, man werde nicht zulassen, dass sich die Rechte der Geschichte der Nation bemächtige. Die extreme Rechte vergieße »Tränen für eine französische Identität, die nie existiert hat«, sagte Mélenchon und ergänzte: »Wir sind die Patrioten. Die wahren Patrioten.« Sahra Wagenknecht lässt sich ein solcherart unverkrampftes Verhältnis zur Nation gewiss nicht nachsagen. Doch in anderer Hinsicht ist ihre neue politische Bewegung zweifelsohne von Mélenchon inspiriert. Ähnlich wie der Franzose attackiert auch Wagenknecht die Europäische Union, wie er verknüpft sie soziale Forderungen mit einer Kritik des politischen Establishments, und wie die Mélenchon-Partei La France Insoumise (Aufständisches Frankreich) setzt auch das BSW ganz auf seine populäre Führungsperson. Der Name der 2018 gescheiterten Wagenknecht-Bewegung Aufstehen verweist auf die französische Partei. Doch damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon wieder zu Ende. Der 1951 in Marokko geborene Mélenchon hat Frankreichs Linke in den vergangenen Jahren durcheinandergewirbelt. Sein Aufstieg war dabei eng verknüpft mit dem Niedergang der traditionellen Volksparteien, der mit den strategischen (Fehl-)Entscheidungen der Parteien weniger zu tun hatte als gemeinhin gedacht. Der eigentliche Ursprung der politischen Krise waren Entwicklungen in der Weltwirtschaft: Nachdem die Profitraten in den keynesianisch regulierten Volkswirtschaften in den 70er Jahren massiv unter Druck geraten waren, setzte ein wichtiger Teil der Eliten auf einen neoliberalen Neuanfang, der sich die technologischen Innovationen zunutze machte. Im Rahmen der »Globalisierung« verloren nicht nur die Nationalstaaten an Handlungsmacht gegenüber dem (über Staatsgrenzen hinweg agierenden) Finanzkapital. Auch die sozialen Milieus, die die politische Landschaft in den westlichen Staaten geprägt hatten, lösten sich auf. In Frankreich verlief dieser Prozess traumatisch. Die Deindustrialisierung und vor allem die Zerschlagung der Stahl- und Kohleindustrie fielen, wie auch die meisten neoliberalen Finanzreformen, in die Präsidentschaft des Sozialisten François Mitterrand (1981–1995). Mit dem Zerfall der Arbeitermilieus büßten nicht nur die regierenden Sozialist*innen, die den Prozess politisch zu verantworten hatten, ihre Wählerbasis ein, sondern auch die Kommunistische Partei, die sich den Reformen erbittert widersetzt hatte. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Auch konservative Parteien gerieten in der Wirtschaftstransformation unter die Räder. Durch den Niedergang des Katholizismus und die Verbreitung individualistischerer Lebensentwürfe nahm die Parteienbindung bei Konservativen dramatisch ab, was sich in der Folge der rechtsextreme Front National zunutze machte. Frankreich war eines der ersten Länder Europas, in denen sich eine faschistische Partei etablieren konnte. 1988 lag der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen nur knapp hinter den beiden bürgerlichen Kandidaten und schaffte es mit einem Programm, das sich Migrationsbekämpfung und »die Verteidigung der nationalen Identität« auf die Fahnen schrieb, bei den Präsidentschaftswahlen 2002 auch erstmals in die Stichwahl. Das ist der Hintergrund, vor dem der langjährige Abgeordnete der Sozialistischen Partei (PSF) Mélenchon sein eigenes politisches Projekt lancierte. Mélenchon, der sich in trotzkistischen Jugend- und Studierendenorganisationen politisiert und danach dem linken Flügel der Sozialdemokratie angehört hatte, warf seiner Partei die Unterwerfung unter den neoliberalen Zeitgeist vor und gründete 2008 die Partei der Linken (Parti de Gauche). Dieses Projekt schien sich zunächst in eine ähnliche Richtung zu bewegen wie die Linke in Deutschland. Doch spätestens mit den Präsidentschaftswahlen 2017 wurden die Unterschiede manifest: Mit seinem radikal-oppositionellen Diskurs schwang sich Mélenchon zum wichtigsten Politiker links der Mitte auf und lag mit 19,6 Prozent meilenweit vor dem Kandidaten der damals noch regierenden Sozialdemokratie, der es nur auf 6 Prozent schaffte. Mélenchon gelang es dabei nicht nur, die Sozialdemokratie zu beerben, sondern bildete auch einen Pol gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft. Trotz scharfen Widerspruchs aus den großen Medienhäusern baute er sein Ergebnis bei den Wahlen 2022 auf 22 Prozent aus und zwang Sozialdemokrat*innen, Grüne und Kommunist*innen danach in eine gemeinsame Linksfront. Heute hält die Neue Ökologische und Soziale Volksunion (Nupes) im französischen Parlament etwa ein Viertel der Abgeordnetensitze. Wer in Deutschland nun die Hoffnung hegt, Sahra Wagenknecht könnte mit ihrem Bündnis etwas Vergleichbares glücken, sollte die erheblichen Unterschiede zwischen den politischen Projekten zur Kenntnis nehmen. Da ist zunächst die Referenz an die Nation. Zwar ist Mélenchon dezidiert EU-kritisch und propagiert eine souveräne Wirtschaftspolitik Frankreichs. Doch im Unterschied zu Wagenknecht hat er diese Kritik nie mit migrationsfeindlichen Positionen verknüpft. Mélenchons Kritik am Identitätsbegriff der Rechten zielt im Gegenteil auf eine Verteidigung des Rechts auf Migration ab: Mélenchon proklamiert einen antirassistischen Patriotismus, der die Migrant*innen vor der rechten Hetze in Schutz nimmt. In diesem Sinne hielt Mélenchon 2017 mit Zehntausenden seiner Anhänger*innen am Hafen von Marseille eine Schweigeminute für die im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten ab und klagte das EU-Grenzregime mit den Worten an: »Jeden Tag sterben auf diese Weise zwei Kinder.« In einem Interview forderte er unlängst zudem die Regularisierung aller Sans-Papiers, also aller illegaler Einwanderer*innen in Frankreich. Zweitens hat sich Mélenchon viel konsequenter als die Sozialistische oder Kommunistische Partei für ein Bündnis mit den Umwelt- und Klimabewegungen entschieden. La France Insoumise will nicht nur den Ausstieg aus der Atomkraft, die von einer klaren Bevölkerungsmehrheit in Frankreich befürwortet wird, sondern auch den ökologischen Umbau der Gesellschaft beschleunigen. In diesem Sinne hat sich Mélenchons Partei an den Protesten von Umweltgruppen und Kleinbauern gegen die großen Wasserspeicher (»méga-bassins«) beteiligt, die in Anbetracht des Klimawandels von der industriellen Landwirtschaft gefordert und mit Unterstützung der Regierung gerade überall im Land errichtet werden. Drittens richtet sich Mélenchons Kritik eher gegen ein politisch-ökonomisches System als gegen »eine unfähige Regierung«. Als französische Arbeiter in den 2010er Jahren Unternehmer als Geiseln nahmen, um Fabrikschließungen zu verhindern, solidarisierte sich Mélenchon wortstark mit den Beschäftigten. Und nach der Ermordung eines nichtweißen Jugendlichen bei einer Polizeikontrolle im Sommer 2023 kritisierte er den »systemischen Rassismus« der Polizei und weigerte sich, die Bewohner der migrantisch geprägten Armenviertel zur Gewaltlosigkeit aufzurufen. Zugespitzt könnte man wohl sagen: Mélenchons Populismus geht es um eine Klasse und nicht um einen Wirtschaftsstandort. Er ist eher Hugo Chávez als Sahra Wagenknecht.
Raul Zelik
Der französische Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon ist sehr erfolgreich. Von Sahra Wagenknecht unterscheidet ihn viel. Mélenchon propagiert einen antirassistischen Patriotismus und stellt sich auf die Seite der Migranten.
Einwanderung, Frankreich, linke Bewegung, Neoliberalismus
Politik & Ökonomie
Politik Mélenchon und Wagenknecht
2024-01-26T16:18:31+0100
2024-01-26T16:18:31+0100
2024-07-10T10:16:57+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179545.melenchon-und-wagenknecht-erhebliche-unterschiede.html
Climatejusticecrew: Solidarisch campen in Berlin
Mitten im spärlich begrünten Invalidenpark in Berlin, zwischen den Bundesministerien für Verkehr sowie Wirtschaft und Umwelt, haben ein Dutzend Klimaaktivist*innen sich einen ganz eigenen Ort geschaffen. Unter einem Gerüst, das, mit Pullis, Tüchern und tibetischen Gebetsfahnen behängt, ein wenig Schatten spendet, sprechen fünf von ihnen über die Biodiversitätskrise. »Es ist wie in einer Wohngemeinschaft, in der vier Personen immer einkaufen, kochen und putzen und eine Person nur den Kühlschrank leer isst und Dreck macht«, erklärt Biologiestudentin Mandy. Die WG steht für die Erde, der eine Nutznießer für den Menschen, der auf Kosten anderer Arten lebt, indem er zum Beispiel eine Straße baut, die Tieren und Pflanzen Lebensraum wegnimmt. Eigentlich sei es nicht so schwer, etwas gegen die Biodiversitätskrise – umgangssprachlich auch Massenartensterben genannt – zu unternehmen. Jeder einzelne Garten, der gepflegt wird, trage dazu bei. »Es reicht schon, aufzuhören zu zerstören«, sagt Mandy mit Blick auf die asphaltierten Flächen. Davon gibt es rund um den Invalidenpark genug. Aber auch gegenüber den Anzugträger*innen, die ständig zwischen ihren Zelten hindurchlaufen, fühlen sich Yuno und Mary nicht allzu wohl. Beide kommen eigentlich aus dem A20-Protestcamp bei Oldenburg, wo sie ein Moorgebiet gegen ein Küstenautobahnprojekt verteidigen. »Das wollten wir nach Berlin bringen«, sagt Yuno zu »nd«. So organisierte die autonome transnationale Gruppe Climatejusticecrew mit anderen Klimaaktivist*innen zusammen schon das zweite Jahr in Folge ein Camp genau zwischen den beiden zuständigen Ministerien. Die ersten beiden Wochen drehten sich schwerpunktmäßig um die Verkehrswende; unter anderem sei die »Tour de Verkehrswende« im Camp angekommen. In dieser letzten Woche, die am Samstag endet, will man sich umfassender mit globaler Klimagerechtigkeit beschäftigen. So standen neben dem Thema Biodiversität Workshops über eine ostafrikanische Ölpipeline, Klima-Migration oder Rojava auf dem Programm. Bildung und Vernetzung sind Anliegen des Camps; vor allem gehe es aber darum, ein solidarisches Zusammenleben zu erproben, gemeinschaftlich für Verpflegung, Sicherheit und Ordnung zu sorgen. »Wir adressieren nicht die Machthabenden, sondern wollen uns einen autonomen Raum in der Stadt erobern und Strukturen erproben, die resilienter sind als das System«, betont Yuno. Mary sagt, sie glaube nicht, dass Natur und Klima wirklich zu retten seien. »Aber ich habe Hoffnung, noch zu erleben, dass sich gesellschaftlich was ändern wird.« Die Frage sei natürlich, was nach dem bestehenden System kommt, gibt Yuno zu bedenken. »Auf Faschismus habe ich keinen Bock.« Deshalb gelte es schon jetzt, in Strukturen wie Klimacamps solidarische Gemeinschaften zu erschaffen. Schließlich, fügt Yuno noch hinzu, müsse man sich auch Hoffnungslosigkeit leisten können. »Wenn ich die Folgen der Klimakrise am eigenen Leib spüre, bleibt mir nichts anderes übrig als zu kämpfen.« Auch das will die Climatejusticecrew im Invalidenpark vermitteln.
Louisa Theresa Braun
Im Climatejusticecamp im Invalidenpark organisieren Aktivist*innen nicht nur Workshops zu Biodiversität oder Klima-Migration, sondern erproben auch ein solidarisches Zusammenleben.
Berlin, Biodiversität, Verkehrspolitik
Politik & Ökonomie
Politik Klimabewegung
2023-09-07T17:31:48+0200
2023-09-07T17:31:48+0200
2023-09-08T14:52:39+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1176124.klimabewegung-climatejusticecrew-solidarisch-campen-in-berlin.html
Neue Vernetzung im Rhein-Main-Gebiet
Im Anschluss an eine Flüchtlings- und Antirassismusdemonstration wurde in der Mainmetropole Frankfurt ein leerstehendes Haus der städtischen Wohnungsgesellschaft ABG-Holding besetzt. Schon wenige Stunden später wurde es von der Polizei unter Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray geräumt. Das Projekt Shelter initiierte die Besetzung und will den Kampf um ein selbstverwaltetes Zentrum für Geflüchtete auch nach der Räumung fortsetzten. Seit Monaten wirbt die Gruppe für das Zentrum. Zugleich ist sie Teil eines neuen Vernetzungsprozesses in der Stadt, an dem auch Mieter- und Studierendengruppen sowie Beschäftigte aus 17 Betrieben im Sozialbereich beteiligt sind. »Wesentliche Themen und Aktivitäten sind die gegenseitige Unterstützung bei der Organisierung in den Betrieben, der Austausch zwischen bestehenden Betriebsgruppen, der gegenseitige Besuch von Betriebsversammlungen und die Information übe die Arbeitssituation in den Betrieben«, erklärt eine Mitbegründerin des Netzwerks den Zweck. Wenn Beschäftigte sanktioniert oder gekündigt werden, organisiert das Netzwerk Solidarität. Es will auch rumänische Wanderarbeiter, die besonders im Osten Frankfurts täglich auf Arbeitssuche sind, über ihre Rechte informieren. Kooperationspartner ist dabei die Frankfurter Beratungsstelle »Faire Mobilität« des DGB. »Viele rumänische Bauarbeiter haben Interesse, deutsch zu lernen. Tagsüber müssen sie arbeiten, aber ein Abendkurs wäre sicher ein interessantes Angebot«, meint Beraterin Letitia Matarea-Türk. Die Zusammenarbeit so unterschiedlicher Gruppen hatte durch ein politisches Großevent Anschub bekommen. »Die Blockupy-Proteste, die in den letzten Jahren Frankfurt zum Zentrum eines sogar über Deutschland hinausgehenden Widerstands gegen die Krisenpolitik gemacht haben, brachten uns wichtige Impulse«, betont der Erwerbslosenaktivist Harald Rein gegenüber »nd«. Die Aktionen sollten Frankfurt und die Rhein-Main Region zu einem »Wendland des antikapitalistischen Protests« machen. Wie das Zwischenlager Gorleben das Wendland zum Zentrum des bundesweiten Anti-AKW-Protests machte, sollte die Europäische Zentralbank (EZB) die Antikrisenproteste in Frankfurt bündeln. Das Konzept ging auf. An mehreren Aktionstagen beteiligten sich Tausende Gegner der europäischen Krisenpolitik, zuletzt am 18. März 2015. Dieser Tag stellte für die Blockupy-Bewegung zugleich eine Zäsur dar. Nach der Neueröffnung der EZB war klar, dass es eine weitere Mobilisierung in der bisherigen Form nicht geben wird. Mit der regionalen Vernetzung will man jetzt neue Strukturen schaffen. An einem stadtpolitischen Ratschlag »Frankfurt für alle!« beteiligten sich Anfang Dezember zahlreiche Initiativen. Dort wurde auch die Demonstration am Tag der Menschenrechte organisiert, die in die kurze Besetzung des leerstehenden Hauses mündete. Als Selbstverständnis formuliert die regionale Koordinierung: »Wir sehen die hier ankommenden Geflüchteten nicht als Konkurrent*innen im Zugang zu öffentlichen Leistungen, sondern als Mitstreiter*innen im Kampf für soziale Gerechtigkeit, denen unsere uneingeschränkte Solidarität gilt.« Mehr Infos: »Crossing Arms – Crossing Fights«
Peter Nowak
Auch ohne Blockupy will die Mainmetropole das Zentrum für sozialen Widerstand bleiben. Flüchtlings-, Mieter- und Studierendengruppen sowie Beschäftigte im Sozialbereich wollen gemeinsam die Politik in der Stadt prägen.
Blockupy, Frankfurt am Main
In Bewegung In Bewegung
https://www.nd-aktuell.de//artikel/995139.neue-vernetzung-im-rhein-main-gebiet.html
Zivilgesellschaftliche Initiativen sind letzte Hoffnung
Başay-Yıldız bewertete dies positiv. Doch ihre Kritik, dass der Verfassungsschutz die Aufklärung des NSU-Komplexes behindere, hielt sie aufrecht. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf Aktenvernichtungen und erinnerte daran, dass etwa die Akte von Ralf Maschner, den die Behörde als wertvollen V-Mann eingeschätzt hatte, gelöscht wurde. Haldenwang erklärte in einer Replik, dass es sich bei den kritisierten Punkten vor allem um Fehler einzelner Personen handele. Namentlich nannte er Lothar Lingen, der für das Schreddern wichtiger Akten des NSU-Komplexes verantwortlich sei. Der Geheimdienstchef bescheinigte sich selbst, dass er konsequent Aufklärung betrieben und dem Parlament alle Unterlagen ungeschwärzt vorgelegt habe. Gleichzeitig räumt er ein, dass ein Nachrichtendienst Beschränkungen unterliege und weiterhin nicht alle Informationen offengelegt werden könnten. »Wir müssen teilweise Informationen sperren, wenn es um die Sicherheit von Leib und Leben von Quellen geht. Das ist weiterhin oberste Prämisse«, sagte Haldenwang. »Das reicht nicht«, erwiderte Başay-Yıldız, die immer wieder im Fokus rechter Drohungen steht. Sie erinnerte daran, dass sich der erwähnte Lothar Lingen im zuständigen Ausschuss auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen hat. Sie kritisierte auch, dass Journalist*innen noch immer keinen Einblick in seine Akte bekommen haben. Dabei nannte die Juristin Urteile, die Journalist*innen dieses Recht auf Akteneinsicht zusprechen. »Es handelt sich um ein Ermessensproblem. Sie sind als Leiter der Behörde dafür verantwortlich«, erklärte die engagierte Juristin an Haldenwang gewandt. Auf Nachfrage betonte die Anwältin, dass ihre Mandant*innen vom Verfassungsschutz keine weitere Aufklärung erwarten. Sie hätten sich damit abgefunden, dass zentrale Fragen des NSU-Komplexes offen bleiben. Dazu gehört die Frage, welche Rolle örtliche Neonazistrukturen bei der Ausforschung der Opfer spielten. Haldenwang erklärte, er wäre der glücklichste Mensch der Welt, wenn es dazu weitere Aufklärung geben könnte. Die Möglichkeiten seien aber irgendwann erschöpft. So wird auch die weitere Aufklärung des NSU-Komplexes die Aufgabe der von Matthias Quent erwähnten zivilgesellschaftlichen Initiativen bleiben. Der Soziologe sparte nicht mit Kritik an den Verfassungsschutzbehörden. Quent sah den NSU-Komplex als Teil eines Musters rechter Gewalt, das nicht neu sei. Er verwies auf das Oktoberfestattentat 1980 in München und die rechten Pogrome von Rostock bis Hoyerswerda in den 90er Jahren. Der Soziologe machte sich für eine unabhängige Forschung zu rechten Umtrieben stark. Er plädierte für die Stärkung zivilgesellschaftlicher Gruppen, die seit Jahren gegen rechte Tendenzen kämpfen. »Der Kampf gegen den Rechtsextremismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und darf nicht an den Verfassungsschutz delegiert werden«, erklärte Quent. Das wurde beim Pressegespräch an mehreren Stellen deutlich. So benannte Haldenwang in seinem Eingangsstatement die Zahl von 280 Menschen, die seit 1990 Opfer rechter Gewalt geworden sind. Es blieb aber unerwähnt, dass es in vielen Fällen dem Engagement antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Gruppen in Kooperation mit engagierten Medienvertreter*innen zu verdanken ist, dass sie oft erst nach vielen Jahren von den Behörden als Opfer rechter Gewalt anerkannt wurden. Für Polizei und Justiz waren es häufig Opfer von Auseinandersetzen ohne politischen Hintergrund.
Peter Nowak
Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang sieht kaum Möglichkeiten zur Aufarbeitung der rechtsradikalen NSU-Mordserie. Kritiker seiner Behörde weisen auf frühere Vertuschungen hin, die nur durch eine kritische zivilgesellschaft gekontert werden.
Matthias Quent, NSU, NSU 2.0, Rechtsradikalismus, Rechtsterrorismus, Seda Başay-Yıldız, Thomas Haldenwang
Politik & Ökonomie
Politik Rechtsterrorismus
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1157611.zivilgesellschaftliche-initiativen-sind-letzte-hoffnung.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles
»Time« würdigt #MeToo-Bewegung
New York. Harvey Weinstein. Kevin Spacey. Louis C.K. Charlie Rose. James Levine. Gerade einmal zwei Monate sind die Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe gegen Filmmogul Weinstein alt, seitdem kommt das US-Entertainment nicht mehr zur Ruhe. Kaum eine Woche vergeht ohne neue Berichte aus der Film-, Fernseh- oder Medienwelt. Auch in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Sport und über die USA hinaus wird offen über Missbrauch, Sexismus und Macho-Kultur gesprochen, teils mit drastischen Folgen für die mutmaßlichen Täter. Nun hat das »Time«-Magazin die Frauen und Männer, die die #MeToo-Bewegung ins Rollen brachten, gebündelt zur »Person des Jahres« 2017 gekürt. »The Silence Breakers« (diejenigen, die ihr Schweigen brechen), titelte das bald 100 Jahre alte Gesellschaftsmagazin am Mittwoch - und zeigt auf dem Cover diejenigen, die mit teils haarsträubenden Berichten an die Öffentlichkeit gingen. Schauspielerin Ashley Judd ist dabei, die die Affäre um Weinstein gemeinsam mit anderen Frauen ins Rollen brachte - Weinstein weist die Vorwürfe zurück. Sängerin Taylor Swift, die einen Radiomoderator für einen Po-Grapscher erfolgreich verklagte, ist ebenfalls abgebildet. Erwähnt wird auch die deutsche Grünen-Politikerin Terry Reintke, die in einer persönlichen Rede im EU-Parlament von Missbrauch berichtet hatte. Prominente Gesichter wie Judd und Swift mögen die Bewegung symbolisch anführen. Doch sie besteht aus Frauen und Männer aus allen Gesellschaftsbereichen, Schichten, Einkommensgruppen und Ländern der Welt, schreibt »Time«. »Sie arbeiten möglicherweise auf Feldern in Kalifornien oder am Empfang in New Yorks Regal Plaza Hotel oder im Europäischen Parlament. Sie sind Teil einer Bewegung, die keinen offiziellen Namen hat. Aber jetzt haben sie eine Stimme.« Um diese Spannweite zu verbildlichen, lud »Time« Missbrauchsopfer zum Gespräch, deren Lebenswege unterschiedlicher kaum sein könnten: Mit dabei waren etwa eine mexikanische Feldarbeiterin unter dem Pseudonym Isabel Pascual und eine Krankenhaus-Angestellte aus Texas. Die hochschwangere Software-Entwicklerin Susan Fowler kam ebenfalls dazu, die den von Sexismus geprägten Alltag beim Fahrdienstanbieter Uber beschrieben und Uber-Chef Travis Kalanick damit aus dem Amt getrieben hatte. Auch dabei: Adama Iwu, eine Lobbyistin aus Sacramento, die »mehr Miete zahlt als Pascual in zwei Monaten verdient«. Was diese Betroffenen eint, sind der Ekel, die Angst und die Scham nach sexuellen Übergriffen. Es sind »anzügliche Kommentare, erzwungene Küsse, opportunistische Grapscher über Jahre«, schreiben die Autoren der Titelstory. Und auch die Fragen, die die Missbrauchsopfer nach der jeweiligen Tat plagten, seien dieselben: »Hat sie das irgendwie herausgefordert? Hätte sie es abwehren können? Bauscht sie das Ganze auf?« Sechs Wochen lang hatte »Time« Dutzende Betroffene aus zahlreichen Branchen befragt. Fast alle hätten eine »vernichtende Angst« davor gehabt, die Fälle zu melden. Weinstein mag der wirkliche Dammbruch gewesen sein, doch Thema waren Sexismus und Missbrauch das ganze Jahr über. Zu verdanken haben die USA das keinem Geringeren als Präsident Donald Trump, der schon im Wahlkampf mit derben Kommentaren aufgefallen war. Die Botschaft seiner Wahl sei im Großen und Ganzen gewesen, dass Frauen nicht zählen, sagt NBC-Moderatorin Megyn Kelly. Trumps Sieg hatte in Washington Hunderttausende auf die Straße getrieben, pinkfarbene »Pussy Hats« wurden zum Symbol gegen vulgäres Macho-Gehabe und Prahlereien mit sexueller Gewalt. Kelly bezweifelt, ob das bei einem Sieg seiner Konkurrentin Hillary Clinton ähnlich gelaufen wäre. Dass die Bewegung mit #MeToo eine Art übergreifende Bezeichnung hat, ist Schauspielerin Alyssa Milano zu verdanken. Sie hatte den Begriff von Aktivistin Tarana Burke übernommen und im Oktober dazu aufgerufen, sich als Opfer sexueller Übergriffe zu erkennen zu geben. Als sie am Morgen nach ihrem Tweet sah, dass mehr als 30 000 Menschen den Hashtag verwendet hatte, brach sie in Tränen aus. Laut »Time« erschien der Begriff schon eine Woche später in 85 Ländern. »Wir haben unsere Ängste überstanden, um das Schweigen zu brechen«, twitterte Milano zur Entscheidung des Magazins am Mittwoch. Der Schmerz verbinde alle Opfer miteinander. »Wir sind verbunden.« dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
2017 nahm die Debatte um Macho-Gehabe und sexuelle Übergriffe an Fahrt auf. Das »Time«-Magazin zeichnet nun die Männer und Frauen hinter der Bewegung mit seinem Titel »Person des Jahres« aus.
Feminismus, Gleichberechtigung, Sexismus, Sexualisierte Gewalt
Politik & Ökonomie
Politik Sexuelle Gewalt
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1072555.sexuelle-gewalt-time-wuerdigt-metoo-bewegung.html
Karsais karge Bilanz
London (AFP/nd). Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat eine negative Bilanz des internationalen Militäreinsatzes in seinem Land gezogen. Der NATO-Einsatz habe Afghanistan »viel Leid gebracht, den Verlust zahlreicher Leben und keine Vorteile, denn das Land ist nicht sicher«, sagte Karsai dem britischen Rundfunksender BBC. »Wir wollten absolute Sicherheit und einen klar umrissenen Kr... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
NATO-Einsatz brachte Afghanistan »keine Vorteile«
Afghanistan, Hamid Karsai
Politik & Ökonomie
Politik London
https://www.nd-aktuell.de//artikel/835408.karsais-karge-bilanz.html
Fingerzeige auf neue Terrormethoden
Einer der Attentäter, der im Konzertsaal Bataclan gemordet hat, soll Ismaël Omar Mostefaï gewesen sein. Er wurde 29 Jahre alt und war zumindest bis 2012 einer von gut 38 000 Einwohnern der Präfekturhauptstadt Chartres. Sie liegt 100 Kilometer südwestlich von Paris. Ab 2013 verliert sich die Spur des jungen Mannes. Gerüchte besagten, er sei in die Türkei gegangen. Wahrscheinlicher ist, dass man ihn in Syrien gedrillt hat. Identifiziert wurde er durch den Abdruck eines Fingers. Der blieb erhalten nachdem der Mann seine Sprengstoffweste gezündet hat. Mostefaï war der Polizei bekannt, die hat ihn wiederholt erwischt. Seit 2004 wurde Mostefaï mehrfach verurteilt, stets wegen kleiner Delikte. Er kam nie in Haft. Dass er vermutlich zu einem jener Kommandos gehörte, die am Freitagabend in Paris mehr als 120 Menschen umbrachten, zeigt, dass die Verführer nicht nur innerhalb französischer Haftanstalten Menschen für Mordtaten rekrutieren kön... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
René Heilig
Spätestens seit den Attentaten vom 11. September 2001 in New York und Washington ist klar, dass die Globalisierung den Terrorismus nicht ausschließt. Und doch gibt es nun durch Paris neue Aspekte.
Islam, Islamismus, Krieg, Terror
Politik & Ökonomie
Politik
https://www.nd-aktuell.de//artikel/991278.fingerzeige-auf-neue-terrormethoden.html
Republikaner drehen den Spieß um
Die Geschehnisse vom 6. Januar 2021, als Anhänger*innen des damals amtierenden US-Präsidenten Donald Trump das Kapitol in Washington D.C. erstürmten, um die Bestätigung des Wahlsiegs von Joe Biden zu verhindern, bewegen die US-amerikanische Politik weiter. Ein Untersuchungsausschuss unter einer demokratischen Mehrheit im Repräsentantenhaus beschäftigte sich anderthalb Jahre lang mit der Aufklärung und veröffentlichte einen Abschlussbericht, der die Ereignisse als Teil eines perfiden Plans von Trump darstellte, sich die Macht zu sichern. In der Tat wiegen die Beweise schwer, dass Trump entscheidend zur Eskalation am Kapitol beitrug und über Stunden nichts unternahm, um die Situation zu entschärfen. Doch die Republikaner sind anderer Ansicht. Nachdem sie die Mehrheit im Repräsentantenhaus wieder übernommen haben, wollen sie nun den Spieß umdrehen: Für die prekäre Lage am Kapitol seien Pannen der Sicherheitsbehörden verantwortlich gewesen, die Untersuchung der Demokraten sei Teil einer politisch motivierten Hexenjagd, der Ex-Präsident diene als Sündenbock, seine Anhängerschaft solle kriminalisiert werden. Als Bedingung für die Wahl des politisch eher blassen Kevin McCarthy zum Sprecher des Repräsentantenhauses forderte eine Gruppe rechter Abgeordneter deshalb einen neuen Untersuchungsausschuss, der ihre Sicht auf die Lage herausarbeiten soll. Und der als Teil der neuen Geschäftsordnung der Kammer beschlossene Entwurf für das Statut des Komitees hat es in sich: Es soll sich damit befassen, wie Bundesbehörden, insbesondere die Polizei, als »Waffe« gegen US-Bürger*innen missbraucht werden. Die Republikaner, die sich über Jahrzehnte in Sachen Law and Order gegenseitig überboten, machen sich scheinbar über Nacht plötzlich Sorgen um die Lage der Bürgerrechte in den USA. Im Zuge der Verhandlungen mit McCarthy wurde das Mandat des neuen Ausschusses immer breiter: Dieser soll sich mit den Aktivitäten sämtlicher Bundesbehörden sowie mit laufenden Ermittlungsverfahren beschäftigen. Einige Kommentator*innen sehen darin den Versuch republikanischer Abgeordneter, sich der Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem Sturm auf das Kapitol und Trumps sonstigen Manövern, den Ausgang der Präsidentschaftswahlen von 2020 zu unterlaufen, zu entziehen. Der Abgeordnete Scott Perry aus Pennsylvania, gegen den ein Ermittlungsverfahren läuft, wollte gegenüber dem Fernsehsender ABC nicht ausschließen, dass er selbst Mitglied des Untersuchungsausschusses werden könnte. Doch es ist keinesfalls sicher, dass diese Strategie der Republikaner Erfolg haben wird. Sollten Justiz und Ermittlungsbehörden die Behinderung von Verfahren befürchten, würden sie wohl gerichtlich gegen die Weitergabe von Informationen an den Ausschuss vorgehen. Die Herausgabe solcher Informationen war in der Vergangenheit immer wieder Streitpunkt zwischen dem Kongress und Bundesbehörden. Die Republikaner sehen den neuen Ausschuss in der Tradition des Church-Komitees, das Mitte der 70er Jahre CIA-Operationen wie »MK Ultra«, »Cointelpro« und »Mockingbird« aufarbeitete, die Grundrechte massiv verletzt und in den Prozess der demokratischen Meinungsbildung eingegriffen hatten. Sie sprechen von einer Verschwörung von Bundesbehörden gegen das konservative Amerika als Ganzes. Die Demokraten befürchten hingegen eine Verfolgung politisch unliebsamer Beamt*innen und Institutionen. »Ich nenne es das McCarthy-Komitee, und ich meine nicht Kevin, sondern Joe«, so der demokratische Abgeordnete Jim McGovern aus Massachusetts gegenüber der »New York Times« in Anspielung auf den berüchtigten Kommunistenjäger der 50er Jahre, Senator Joseph »Joe« McCarthy, und seine jahrelangen Anhörungen im Kongress. »Dieser Ausschuss ist nichts weiter als ein wahnwitziger Plot von extremistischen Trump-Anhängern, die bei den Republikanern das Ruder übernommen haben und nun Steuergelder dafür verwenden wollen, ihren rechten Verschwörungsunsinn zu verbreiten«, so McGovern.
Julian Hitschler
Ein neuer Untersuchungsausschuss im US-Repräsentantenhaus beschäftigt sich mit dem angeblichen politischen Missbrauch der Justiz gegen das konservative Amerika. Die Demokraten sprechen von »Wahnwitz«.
Donald Trump, USA
Politik & Ökonomie
Politik USA
2023-01-13T17:46:59+0100
2023-01-13T17:46:59+0100
2023-01-20T14:53:05+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170138.usa-republikaner-drehen-den-spiess-um.html
Jude Bellingham: Das eingelöste Versprechen
Im Sommer 2020, als der junge englische Fußballer Jude Bellingham zu Borussia Dortmund kam, haben sie für ihn gesungen. »Hey Jude« von den Beatles, neu interpretiert nicht von den Fans, sondern von den neuen Kollegen, den Profis in Schwarz-Gelb. »Super Idee«, fand Bellingham, und ganz spontan ging ihm durch den Kopf: »Wie hat man es bloß geschafft, die Jungs dazu zu überreden?« Viel interessanter war eigentlich die Frage: Wie hatte es der BVB bloß geschafft, dieses Bürschlein ins Revier zu locken? Den Überflieger aus Birmingham, der bei seinem Wechsel in die Bundesliga kurz vor seinen 17. Geburtstag stand. Bellingham galt damals als das größte Versprechen des europäischen Fußballs und hatte allerlei andere Angebote. Doch er ging ins Ruhrgebiet. Zu Beginn dieser Woche ist er mit höchsten Weihen bedacht worden: der Auszeichnung zum besten Spieler der Liga. Nicht mehr in der Bundesliga beim Ballspielverein Borussia 09 e.V. Dortmund, sondern in Spaniens Primera División beim Real Madrid Club de Fútbol, dem größten und prestigeträchtigsten Fußballverein der Welt. Seit einem Jahr kickt Jude Bellingham in Madrid, und dass er am Samstag im größten und prestigeträchtigsten Wettbewerb der Welt im größten und prestigereichsten Stadion der Welt ausgerechnet auf Borussia Dortmund trifft, findet er selbst »so seltsam, dass ich es kaum glauben kann«. Früher schlicht Pokal der Landesmeister, heute Champions League: ein inszeniertes Spektakel und Gelddruckmaschine des Fußballs. Und jetzt das große Finale. Dieses Duell im Wembley zu London um den Henkelpott der Champions League war nicht so zu erwarten, weil einerseits die Dortmunder eine eher bescheidene Saison hingelegt haben und sich Real seinerseits noch im Übergang wähnte von einer Ansammlung verdienter Veteranen um den deutschen Nationalspieler Toni Kroos zu einer zukünftigen Großmacht um den atemberaubenden Brasilianer Vinícius Júnior. Aber welche Rolle spielt das schon vor dem Hintergrund des Wiedersehens von Jude Bellingham mit dem BVB? Vor einem Jahr hatte sich Bellingham mit der Meisterschale aus Dortmund verabschieden wollen. Es fehlte allein ein Sieg daheim über Mainz. Das Ende der Geschichte ist bekannt. Der BVB erwurschtelte nur ein 2:2, und Bellingham, der wegen einer Knieverletzung zuschauen musste, weinte bitterlich. Er hat den Rückschlag längst weggesteckt. 19 Tore schoss der Engländer in der spanischen Liga, dazu vier in Europas Königsklasse; er gewann die Spanische Meisterschaft und den Supercup. Und jetzt, am Samstag in Wembley? Erst einmal freut sich Jude Bellingham, die alten Freunde wiederzusehen, besonders seinen Landsmann Jadon Sancho, denn der »hat mich damals unter seine Fittiche genommen, als ich in Dortmund angekommen war«. Beide werden sie in drei Wochen bei der EM in Deutschland gemeinsam für England auflaufen, aber erst einmal geht es gegeneinander, in dieser Schlussvorstellung des europäischen Fußballzirkus, die passenderweise in Bellinghams Heimatland abgehalten wird. Es gab da schon mal ein ganz besonderes Champions-League-Spiel in England, für Jude Bellingham und den BVB. Drei Jahre ist das jetzt her. Die Dortmunder gastierten im Viertelfinale bei Manchester City, und Bellinghams Vater Mark hatte sich mit dem Auto aus Birmingham auf den Weg gemacht, um seinen Sohn anzufeuern. Er hatte früher auch mal Fußball gespielt und in seiner Karriere mehr als 700 Tore geschossen, wenn auch nur im Amateurfußball, aber da galt er als Legende. Mitspieler erzählen noch heute davon, dass Mark Bellingham nach den Spielen immer als erstes unter die Dusche spurtete und dann gleich weiter zum Auto, um es noch pünktlich zur Nachtschicht zu schaffen. Hauptberuflich verdient er sein Geld als Sergeant bei der West Midlands Police. Vor Papas Augen stibitzte Jude dann im Frühjahr 2021 Citys brasilianischem Torhüter Ederson den Ball und erzielte ein einwandfreies Tor, von dem nur der Schiedsrichter wusste, warum es keine Anerkennung fand. Der BVB verlor unglücklich 1:2 und mit eben diesem Ergebnis auch im Rückspiel, als Bellingham das Hoffnung gebende 1:0 erzielt und auch ansonsten ein so großartiges Spiel gemacht hatte, dass Manchesters Trainer Pep Guardiola später zu Protokoll gab, da läge vielleicht ein Urkundenbetrug vor: »Ich kann es gar nicht glauben, vielleicht ist er ein Lügner. Er ist zu gut für einen 17-Jährigen. Ein fantastischer Spieler.« Im vergangenen Sommer hätte Bellingham auch in die Heimat wechseln können, dokumentiert ist ein Angebot von Manchester United, das den Dortmundern angeblich 120 Millionen Euro eingebracht hätte. Es wurde dann aber Madrid für geschätzt 100 Millionen, immer noch ein gutes Geschäft für die börsennotierte Borussia Dortmund GmbH. Aber Geld ist ein Faktor, mit dem das Phänomen Bellingham nicht greifbar ist. Wer wissen will, wie der 20-Jährige tickt, möge bei Jamie Bynoe-Gittens nachfragen. Auch bei ihm handelt es sich um einen jugendlichen Engländer, der sein Glück beim BVB machen will. Auch er war 17, als er gegen den VfL Bochum zum ersten Mal in Dortmunds Startaufstellung stand, und das Größte war für ihn, »dass ich zusammen mit Jude Bellingham auf der linken Seite spielen durfte«. Die beiden kannten sich noch aus gemeinsamen Tagen in England. »Jude war in den Nachwuchs-Nationalteams immer ein Jahr über mir«, sagt Bynoe-Gittens. »Als wir uns zum ersten Mal über den Weg gelaufen sind, war ich 13 und er 14. Jude ist ein großartiger Fußballspieler und Mensch, der Erfolg beim BVB hat ihn genauso wenig verändert wie der Aufstieg zum Weltstar in Madrid. Wir telefonieren heute noch regelmäßig miteinander.« In Dortmund hatte sich Jude Bellingam vor vier Jahren die Rückennummer 22 ausgesucht, eine auf den ersten Blick seltsame Wahl. Er brachte sie aus Birmingham mit, wo ihm ein früherer Trainer damit hatte signalisieren wollen, dass er auf dem Platz nicht so leicht festzulegen sei. »Für ihn war ich keine Nummer 10, keine 8 und keine 4, sondern alles zusammen. Eben eine 22! Ich habe das als sehr große Wertschätzung meiner fußballerischen Fähigkeiten empfunden und bin dafür sehr dankbar«, so Bellingham. Bei Real hat er eine andere und doch ganz besondere Nummer bekommen. Die 5, die einen nicht ganz unbedeutenden Vorbesitzer hat. Bis 2006 trug Zinédine Zidane diese Nummer auf seinem Rücken, der vielleicht größte Fußballspieler, den der an großen Spielern reich gesegnete Klub je gesehen hat. Trotz di Stefano, Puskas oder Ronaldo. Jude Bellingham hat mal erzählt, dass sein Vater zu Hause im Kleinstädtchen Stourbridge gern ein schneeweißes Hemd mit der Nummer 5 trug. Auf Judes Frage, wer denn dieser Zidane sei, bekam er die Antwort: »Wenn du alt genug bist, werde ich es dir auf Youtube zeigen.« Im vergangenen Sommer, kurz vor dem Wechsel nach Madrid, hat Cater Mark seinem Sohn das Hemd geschenkt.
Sven Goldmann
Bei Real Madrid wurde Jude Bellingham in diesem Jahr zum Weltstar. Im Finale der Champions League trifft er auf seine alte Liebe Borussia Dortmund und gute Freunde. Zu allem Überfluss steigt das Spiel in seiner Heimat.
Borussia Dortmund, Dortmund, England, Fußball, Nordrhein-Westfalen, Spanien
Sport
Sport Champions League
2024-05-31T16:11:21+0200
2024-05-31T16:11:21+0200
2024-05-31T16:11:54+0200
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182602.jude-bellingham-das-eingeloeste-versprechen.html
Die Logik von Machtpolitik
Die schöne Jüdin Rahel und der kastilische König Alfonso, ein Paar inmitten der Glaubenskriege auf der iberischen Halbinsel im 12. Jahrhundert – dieser Stoff hat viele Künstler interessiert. Ein Höhepunkt dieser Reihe ist der Roman »Die Jüdin von Toledo« von Lion Feuchtwanger, in dem die mittelalterlichen religiösen Fanatiker für die Reaktionäre des 20. Jahrhunderts stehen. Den gleichen Titel trägt ein Trauerspiel, das der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer nach dem Scheitern der Revolution von 1848 verfasste. Hauptfigur ist freilich der König. Alfonso hat von klein auf nie etwas anderes als Arbeit für den Staat gekannt, ist in seiner lieblosen Ehe leichte Beute der verführerischen Rahel. Bald aber kehrt er zu seiner Pflicht im Staat zurück. Dass seine Getreuen voreilig die Jüdin töten, akzeptiert er schließlich. Der Monarch ist durch die Erfahrung der Liebe zu einem ganzen Menschen geworden. Am Ende zählt die Amtspflicht, der Tod der Frau wird in dieser Moral als notwendiges Opfer abgehakt. Hans-Ulrich Treichel hat für Detlev Glanert ein Libretto frei nach dem Drama von Grillparzer verfasst. Tatsächlich sehr frei: Das Handlungsgerüst bleibt zwar erhalten, doch die Wertungen werden ins Gegenteil verkehrt. Dafür rückt Treichel das Politische in den Vordergrund. Die kastilischen Granden, mitsamt der gehässigen Königin, wollen einen Krieg gegen die Muslime. Alfonso will den nicht. Rahel steht für eine andere Welt. Grillparzer ist daran interessiert, wie ein König sich verliert und wie er sich wieder diszipliniert. Das Sinnliche dazwischen spart er aus. Bei Treichel und besonders in Glanerts Komposition kommt es vor. Es sind utopische Passagen der Ent-Härtung, und Regisseur Robert Carsen inszeniert dazu im Hintergrund eine Verständigung der Vertreter von Christentum, Islam und Judentum. Nur kann das nicht dauern. Königin und Adel denunzieren Rahel als Spionin im Dienste der Muslime. Alfonso muss zwischen Machtverzicht und Verrat an der Geliebten wählen. Anders als bei Grillparzer stimmt er dem Mord an der Jüdin zu. Am Ende ist er wieder Repräsentant des Staats. Während im Vordergrund Rahels Schwester die Tote beklagt, rüstet sich der Chor lautstark zum Krieg. Mit Projektionen von Waffen und dann von zerbombten Gebäuden, wie sie in der Ukraine und in Gaza zu sehen sein mögen, bezieht Carsen den Schlussakt auf die Gegenwart. Dass die »FAZ« hier antiisraelische Umtriebe witterte, muss nicht gegen die Inszenierung sprechen. Carsen drückt dem Werk keine Idee auf, sondern entwickelt seine Ideen aus dem Werk heraus. Musikdramaturgisch funktioniert dies alles außergewöhnlich gut. In den knapp zwei Stunden reiner Spielzeit gibt es keine Längen. Glanerts Komposition beruht, was Ausdruckscharaktere und Form angeht, auf tradierten Mustern. Es ist eine Ästhetik, die auf Verständigung mit dem Publikum setzt. Es geht um etwas Heutiges, das soll vermittelt werden, doch nicht trivial und nicht ohne Anstrengung. Dabei geht es zuweilen musikalisch so dicht zu, dass die Durchhörbarkeit leidet. Diese Kritik aber wiegt gering gegenüber dem, was in dieser Oper gelungen ist: die prägnante Charakterisierung der Hauptfiguren und die Fülle an Orchesterfarben, die das Geschehen tragen und an vertraute Klangmodelle anschließen, ohne je dem Klischee zu verfallen. Der Jubel des Premierenpublikums war groß und berechtigt. Glanerts Musikästhetik steht für das heute Sinnvolle: Oper als Kunst mit Publikum zu bewahren, es diesem Publikum nicht zu gemütlich zu machen, dabei Aufgaben zu stellen, die für ein gutwilliges Ohr lösbar sind. Zum Erfolg trug das Dirigat von Jonathan Darlington ebenso bei wie die Besetzung der Hauptrollen. Unter ihnen ist besonders Christoph Pohl als Alfonso zu nennen, dem freilich die Komposition auch die größte Vielfalt an Haltungen zubilligt. Er ist zuweilen auftrumpfend als Herrscher und zärtlich als Liebender. Als hilflos und schwach erweist sich Alfonso gegenüber der Königin Eleonore, die ganz auf die Logik der Machtpolitik setzt und an kaum mehr als an Hass und Tod denkt. Tanja Ariane Baumgartner gibt dieser Figur die Gewaltsamkeit und den Sarkasmus, den die Partitur fordert. Wie gesagt, spitzt Treichel gegenüber Grillparzer den politischen Konflikt zu. Im Drama wird ausführlich moralisiert. In der Oper ist dagegen klar, dass Eleonore und Manrique einen Staatsstreich gegen Alfonso planen und der sich nur durch eine Wendung gegen Rahel retten kann. Grillparzer verklärt die Staatsmoral, Treichel und Glanert üben moralische Kritik an einem Staat, der die Liebe zerstört und den Krieg führt. Sie werten das Private auf. Gewiss ist dies uns heute sympathischer. Die Frage ist, ob nicht – solange in der Welt Kriege drohen und ein Staat potenzieller Feind des anderen ist – beide Seiten des Konflikts zwischen Glück und Pflicht im Kunstwerk starkzumachen wären. Das wäre der Schritt vom Traurigen zum Tragischen. Nächste Vorstellungen: 26.2., 1.3., 8.3.
Kai Köhler
Dass die »FAZ« bei der der neuen Inszenierung der »Jüdin von Toledo« antiisraelische Umtriebe wittert, spricht nicht gegen die Aufführung, sondern entlarvt eher kriegerische Medien.
Dresden, Juden
Feuilleton
Kultur Religionskritik
2024-02-18T15:44:25+0100
2024-02-18T15:44:25+0100
2024-02-19T18:58:51+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180096.religionskritik-die-logik-von-machtpolitik.html
Der große Aufschwung lässt auf sich warten
Der große Aufschwung lässt noch auf sich warten. Dieses Jahr kommt er nicht mehr. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung senkte in seiner am Mittwoch veröffentlichten Konjunkturprognose seine Erwartungen stark. »Wir erleben einen Aufschwung mit angezogener Handbremse«, sagte IMK-Chef Sebastian Dullien. Er und seine Kolleg*innen gehen davon aus, dass die Wirtschaftsleistung nach dem Einbruch infolge der Corona-Pandemie dieses Jahr um 2,6 Prozent steigen wird. Im Juni waren sie noch von 4,5 Prozent ausgegangen. Das IMK ist nicht das einzige Institut, das seine Prognose dieser Tage senkte. Das Münchner Ifo-Institut revidierte in seiner vergangene Woche veröffentlichten Prognose seine Aussichten von 3,3 auf 2,5 Prozent nach unten. »Die ursprünglich für den Sommer erwartete kräftige Erholung nach Corona verschiebt sich weiter«, sagte Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser. Und auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist nicht mehr so optimistisch wie noch vor einigen Monaten. Es geht für dieses Jahr nur noch von 3,2 statt 2,1 Prozent Wirtschaftswachstum aus. Für nächstes Jahr hoben die IMK-Ökonom*innen ihre Erwartungen allerdings leicht an. Sie gehen nun davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt dann um 5,1 Prozent wächst. Im Juni gingen sie von 4,9 Prozent aus. Die Arbeitslosenrate wird demnach im Laufe von 2022 von 5,7 auf 5,1 Prozent zurückgehen. Während sich dieses Jahr vor allem die Entwicklung in der Exportwirtschaft positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirkt, wird es nächstes Jahr der private Konsum sein, schätzen die Forscher*innen. So legten die Menschen hierzulande seit Beginn der Corona-Pandemie insgesamt rund 200 Milliarden Euro zusätzlich zur Seite. »Einen Teil dieser Zusatzersparnis werden die Haushalte in den Konsum stecken«, sagte Dullien. Er geht deshalb davon aus, dass die privaten Konsumausgaben im kommenden Jahr um 8,2 Prozent zulegen werden, nachdem sie in diesem Jahr noch leicht um 0,4 Prozent sanken. Vergangenes Jahr waren sie aufgrund der Verunsicherung und Kontaktbeschränkungen infolge der Pandemie um 5,9 Prozent eingebrochen. Auch die Inflationsrate und die staatliche Neuverschuldung werden laut dem IMK nächstes Jahr wieder zurückgehen. Demnach geht die dieses Jahr besonders hohe Preissteigerung von 2,9 Prozent auch auf temporäre Sondereffekte wie die Rückkehr zum alten Mehrwertsteuersatz zurück. Das staatliche Defizit wird vermutlich von 4,9 Prozent der Wirtschaftsleistung in diesem auf 1,9 Prozent im nächsten Jahr zurückgehen. Denn der Aufschwung spült neue Einnahmen in die Staatskassen, und vor allem reduziert eine höhere Wirtschaftsleistung schon rein mathematisch die Schuldenquote. Für das IMK gibt es vor allem zwei Gründe, warum der große Aufschwung dieses Jahr noch auf sich warten lässt. Zum einen ist die Corona-Pandemie noch nicht überstanden. Dies liegt auch an den schleppenden Fortschritten beim Impfen. Das IMK ging im Juni noch davon aus, dass bis Ende Juli 75 Prozent aller Erwachsenen gegen Covid-19 mindestens einmal geimpft sein könnten. Zum anderen wirken sich die Lieferengpässe immer stärker auf die Wirtschaft aus. »Da sich aber die Nachfrage hin zu Elektronikprodukten verschoben hat und sich in vielen Teilen der Welt die Nachfrage schneller erholt als von den Unternehmen erwartet, sorgen Engstellen für besonders große Probleme«, erklärte Dullien. Das gelte für wichtige Rohstoffe und Vorprodukte, deren Gewinnung und Produktion nach der Pandemie auch erst mit Verzögerung wieder hochgefahren wird. »Diese Engstellen sind hartnäckiger, als wir erwartet haben«, so Dullien. Die Engpässe haben ihm zufolge die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu den Nachbarvolkswirtschaften stärker getroffen, weil sie im besonderen Maße von der Automobilindustrie abhängig ist. So sind Kraftwagen und Kraftwagenteile mit einem Volumen von 187,5 Milliarden Euro und einem Anteil von 15,6 Prozent an den deutschen Gesamtexporten Deutschlands wichtigste Ausfuhrgüter. »Man braucht 10 000 Teile, um ein Auto zu bauen, und nur ein Teil, um es nicht zu bauen«, führte Dullien weiter aus, wie sich die Engpässe auf die Branche auswirkten. Laut der IMK-Prognose brach die Produktion dort in den ersten sieben Monaten dieses Jahres preisbereinigt um fast 23 Prozent ein, weil die benötigten Halbleiter fehlten. Hiesige Autobauer gingen deshalb auch immer wieder in Kurzarbeit. Erst am Mittwoch teilte Volkswagen mit, dass wegen Mikrochipmangels in seinem Stammwerk in Wolfsburg erneut Kurzarbeit gefahren wird. So ziehen sich die zuerst bis Ende dieser Woche einkalkulierten Einschränkungen weit in den Oktober hinein, wie das Unternehmen am Mittwoch mitteilte.
Simon Poelchau
Hiesige Autobauer melden derzeit wegen des anhaltenden Chipmangels immer wieder Kurzarbeit an. Zuletzt tat dies Volkswagen. Das hat Auswirkungen auf den Aufschwung. Der kommt dieses Jahr noch nicht wirklich in Schwung.
Corona-Krise, Konjunktur, Lieferengpässe
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt Konjunktur
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Weihnachtsmann ist Osterhase
Der Rechtsanwalt und Schriftsteller Wolfgang Schüler, der in Hönow bei Berlin und in Schweden lebt, hat in einem neuen Band seiner kuriosen Gerichtsberichte wieder einmal von diesen bedauernswerten Akteuren berichtet, die sich als Richter, Staats- und Rechtsanwälte, Beklagte und Angeklagte, als Zeugen und Sachverständige redlich bemühen, dass Gesetze und Paragraphen letztlich in halbwegs vernünftige oder abstruse Urteile gegossen werden können. Deutsche Gesetzestexte von Bedeutung, weiß der Autor aus eigener Praxis, sind mit ellenlangen kleingedruckten Kommentaren versehen. Diese erläutern, was die nur schwer verständlichen Formulierungen denn tatsächlich zu bedeuten haben. Jura-Studenten im ersten Semester erlernen diese schwere Kunst der Gesetzesauslegung an einem ganz einfachen Beispiel: »Weihnachtsmann im Sinne des Gesetzes ist auch der Osterhase.« Damit ist genau die Diktion dieses amüsanten und fachlich hochinteressanten Buches getroffen. Lehrreich sind die meisten Geschichten, und zuweilen springt den Leser auch die große Angst an: Vor deutschen Gerichten zu gewinnen wird immer mehr zur Glückssache – weil man mit den gleichen juristischen Argumenten auch verlieren kann. »Und das Beste an dem ganzen Deutschen Recht ist, dass es klar wie Kloßbrühe und piepeinfach zu verstehen ist«, lesen wir ironisch am Schluss des Buches. Und der gerichtliche Vergleich ist erst richtig gut, »wenn sich beide Parteien übertölpelt fühlen«. Wie in den Bänden zuvor sind die Kapitel alphabetisch nach den Sachverhalten geordnet. Von A bis Z heißt hier von Alkohol bis Zwangsräumung, womit über diese Gesellschaft und ihr Gerichtswesen ja schon fast alles gesagt ist. Aber auch über GEMA und GEZ, Hunde, Pädophilie, Schnarchen und Weihnachten und viele andere Gebiete können z. T. merkwürdige Urteile nachgelesen werden, und mancher landet völlig unschuldig hinter schwedischen Gardinen – ohne aber den Autor in der schwedischen Wildnis anzutreffen. Die Urteile sind für den Laien oft unverständlich. Ein gewisser Bernhard musste z. B. für die Müllabfuhr nach der Satzung der Kommune zahlen, obwohl er sie gar nicht in Anspruch nahm. Glücklicherweise, fügt Schüler an, gibt es keine Afghanistan-Satzung. »Sonst würde sich die Bundeswehr dort im Kriegseinsatz befinden, obwohl sie nur Ordnungsaufgaben wahrnimmt, alten Omas über die Straße hilft und Müll wegräumt.« Der Mörder seiner Mutter erhielt sein Pflichtteil zugesprochen, obwohl Mama von ihm schon mehrfach bis zur Gehirnerschütterung verprügelt worden und er testamentarisch vom Erbe ausgeschlossen war. – Furchtbare Juristen tauchen auf, Advokaten als des Teufels Spielkameraden. Noch ein Beispiel gefällig? Ein Bundestagsabgeordneter verursachte auf einem Empfang Schaden am Stehtisch, weil die Vereinspräsidentin, Schnittchen auf einem Tablett tragend, über sein lässig nach hinten ausgestrecktes Bein stolperte. Sie hielt 7500 Euro Schadensersatz für angemessen, aber das Gericht sah es in einem Grundrechtsurteil anders: Es gilt »als allgemein bekannt, dass man zur Gewichtsverlagerung seinen Fuß auch nach hinten setzt«. Wer dieses Buch studiert hat, weiß also ganz genau: Die deutsche Paragraphenwildnis ist selbst für studierte Juristen undurchdringbar, der Richter nicht selten vom Mond und die Entscheidung oft überraschend für Kläger und Beklagten. Und das Gute daran ist, dass in einem solchen juristischen System ziemlich gut manipuliert werden kann … Wolfgang Schüler: Noch mal davongekommen. Fälle vor Gericht. Das Neue Berlin, Berlin 2010. 175 S., br., 9,95 €.
Frank-Rainer Schurich
Die schwere Kunst der Gesetzesauslegung
Buchrezension, Literatur
Feuilleton
Kultur
2010-03-31T18:01:23+0200
2010-03-31T18:01:23+0200
2023-02-17T12:54:56+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/168291.weihnachtsmann-ist-osterhase.html
Haftbefehle gegen FARC-Rebellen
Medellín. Ein Gericht in der kolumbianischen Stadt Medellín hat Haftbefehle gegen 19 Führungsmitglieder der FARC-Guerilla wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erlassen. Auch FARC-Chef Rodrigo Londoño, genannt »Timochenko«, soll sich wegen der Zwangsrekrutierung von Minderjährigen verantworten. Mitglieder der Delegation zu den Friedensgesprächen mit der Regierung sind ebenfalls betroffen. dpa/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Guerilla, Linksradikalismus
Politik & Ökonomie
Politik
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Religionen gegen Hass
(epd). In der Debatte um das anti-islamische Schmäh-Video hat der Berliner Bischof Markus Dröge die Religionsgemeinschaften zum Schulterschluss aufgerufen. »Meine Hoffnung ist, dass wir hier bei uns im interreligiösen Dialog zusammenhalten und uns gemeinsam gegen solche Aktionen, gegen die Instrumentalisierung der Religionen für Hass und Gewalt verwahren«, sagte Dröge am Dienstag in Berlin. Der Berliner Bischof sprach sich dafür aus, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, »um provokative Vorführungen, die als politische Hassaktion geplant sind, zu verhindern«. Meinungs- und Kunstfreiheit seien dazu da, Diskussionen in der Gesellschaft anzuregen. Eine Hassaktion unterlaufe diesen Zweck.
Redaktion nd-aktuell.de
Gewalt, Religion
Hauptstadtregion
Brandenburg
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Schäuble rät zur Selbstanzeige
Berlin (dpa/ND). Deutsche Behörden verfügen offenbar über sehr viel mehr Material als bekannt, mit dem Steuerhinterzieher bei mehreren Schweizer Banken überführt werden könnten. Die »Financial Times Deutschland« berichtete am Mittwoch, es seien mehrere Datensätze in Umlauf. Unter anderem gehe es um Konten bei Crédit Suisse, Julius Bähr und HSBC. Jedoch werden in dem Bericht auch längst bekannte Fälle genannt. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) riet allen Deutschen mit Geheimkonten in der Schweiz zur Selbstanzeige. Er mache sich aber keine Illusionen, dass der Steuerbetrug in Deutschland auf Dauer zurückgeht, sagte er der »Augsburger Allgemeinen«. Die rechtliche Prüf... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Auch andere Länder an Steuer-CD interessiert
Banken, Datenkauf, Datenschutz, Steuerhinterziehung
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt
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Osnabrück kommt auf den Hund
Osnabrück. Sie sind Freunde, treue Begleiter, Beschützer und mitunter eine Gefahr für die Allgemeinheit: Ist der Hund also im Grunde auch nur ein Mensch? Mit dieser Frage beschäftigen sich bis Dezember 2010 die großen Kultureinrichtungen Osnabrücks. Das bislang einzigartige Kooperationsprojekt finanziert wesentlich das Land Niedersachsen. Immerhin: Mehr als fünf Millionen Hunde werden derzeit in Deutschland gehalten, in 13,4 Prozent aller Haushalte lebt der Vierbeiner. »Wir wollen eine vielfältige, sehr unterhaltsame, aber auch kritische Informationspolitik zum Thema Hund betreiben. Auße... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Thorsten Stegemann, dpa
Ein bislang einzigartige Kooperationsprojekt ist bis Ende 2010 in Osnabrück zu sehen. Alle großen Kultureinrichtungen beschäftigen sich mit dem Thema Mensch und Hund.
Ausstellung, Osnabrück
Politik & Ökonomie
Politik
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Einseitige Berichterstattung über Muslime dient den Islamisten
Am 23. Februar findet die Bundestagswahl statt. Viele junge Muslim*innen in Deutschland sehen sich kaum in den Parteien repräsentiert. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Community wahr? Es gibt viele Bemühungen in der Community, Muslim*innen zu ermutigen, wählen zu gehen – insbesondere auch, um dem Rechtsextremismus entgegenzuwirken. Das Bewusstsein für die Relevanz der Wahlen ist insgesamt stark und das ist auch gut so. Bestimmt hat jede Partei einige Dinge, die dem einen oder der anderen nicht gefallen, aber trotzdem können sich viele Muslim*innen mit unterschiedlichen Parteien identifizieren und wählen diese auch. Sie sollten sich genau deswegen auch noch stärker politisch engagieren, um etwas gegen die fehlende Repräsentanz zu tun. Zugleich braucht es dafür aber auch eine deutlichere Offenheit der Parteien gegenüber Muslim*innen. Wir fordern einen ernstgemeinten Einsatz für Muslim*innen, der sich in politischen Maßnahmen widerspiegelt. Inwiefern? Wir beobachten Frustration bei jungen Muslim*innen darüber, dass bei vielen Parteien weiterhin eine klare Haltung gegenüber Rassismus, eine Versachlichung der Debatten um den Islam sowie die Einbeziehung ihrer Perspektiven fehlt. Ich schätze aber, dass die Wahlbeteiligung hierdurch nicht verringert wird. Im Gegenteil – es führt zu mehr Engagement, um den Status quo zu ändern. Asmaa Soliman ist Sozialwissenschaftlerin und politische Bildnerin. Seit Anfang 2020 ist sie Leiterin des Programms Young Post­migrant Alliances und der Jungen Islam-Konferenz bei der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa. Die rechtsextreme AfD könnte zweitstärkste Kraft werden – wie stark beunruhigt das die Community? Natürlich beunruhigt das die Community sehr. Man macht sich starke Sorgen und hofft weiterhin, dass dieses Szenario nicht Realität wird. Falls doch, denke ich, wird sich sehr viel verändern, auch der Wille von Muslim*innen und allgemein Menschen mit Migrationsgeschichte, weiterhin in Deutschland zu bleiben. Denn ich höre von sehr vielen, dass sie mit dem Gedanken spielen, auszuwandern, quasi eine selbstbestimmte Ausreise. Die Junge Islam-Konferenz schmiedet eine Allianz gegen Rechtsextremismus. Warum ist das notwendig? Für uns als Junge Islam-Konferenz ist der Aufbau einer Allianz gegen Rechtsextremismus integraler Bestandteil unserer Arbeit. Unsere Ziele sind die Sicherstellung der gleichberechtigten Teilhabe von Muslim*innen und der Kampf gegen antimuslimischen Rassismus. Das sind dabei aber nicht nur unsere, sondern gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Wie sieht diese Allianz konkret aus? Wir wollen Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen erreichen. Junge Menschen beteiligen sich beispielsweise an unserer Kampagne #unboxstories. Hier geht es um positive Geschichten eines inklusiven und rassismuskritischen Europas, wobei das, was uns verbindet, in den Vordergrund gerückt wird. Die Kampagne ist von Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen gemeinsam entwickelt, wird in die breite Gesellschaft kommuniziert und setzt sich für ein inklusives Europa ein. Die Allianzen entstehen somit bei unseren Plattformen und sollen dann auch darüber hinaus weiterhin erhalten bleiben. Welche Gruppen von jungen Muslim*innen konnten Sie bislang am besten erreichen? Wir erreichen mit unserer Arbeit viele Muslim*innen – insbesondere jene, die sich politisch engagieren und sich mit anderen Gleichgesinnten zusammenschließen möchten. »Haltung statt Herkunft« ist unser Motto und das reflektiert auch ganz gut unsere Teilnehmer*innenschaft. Viele beschreiben die Junge Islam-Konferenz als einen Vermittlungsort zwischen muslimisch geprägten und weiß geprägten Jugendgruppen. Das ist etwas Besonderes, das uns auch ausmacht. Was ist, wenn man muslimisch sozialisiert, aber gar nicht gläubig ist? Bei uns braucht sich niemand Sorgen machen, ob er oder sie religiös ist oder nicht. Es geht bei uns nicht primär um konfessionelle Zugehörigkeiten oder um religiöse Inhalte. Gleichzeitig muss sich auch niemand für seine oder ihre muslimische Identität rechtfertigen oder diskriminierende Erfahrungen machen. Wir wertschätzen die Komplexität und Vielschichtigkeit der Identitäten und stellen sie nicht infrage. Bei uns bieten wir auch Räume insbesondere für mehrfach marginalisierte Jugendliche an, wie zum Beispiel für feministische und queere Muslim*innen. Wenn es um Muslim*innen oder um die Rolle des Islam geht, werden die Debatten hierzulande oft schnell toxisch. Wie können Diskussionen sachlich und konstruktiv geführt werden? Wir müssen uns von Scheindebatten lösen, wie zum Beispiel, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht. Die bringen uns nicht weiter und spalten die Gesellschaft. Wir müssen uns stattdessen auf die Frage fokussieren: Wie können wir im Sinne der Demokratie, der Freiheit und des Respekts dem Islam und Muslim*innen einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft ermöglichen? Dafür ist es wichtig, dass die Politik im Austausch mit muslimischen Communitys ist, ihre Lebensrealitäten versteht, und ihre Bedürfnisse, Sorgen und Ängste ernst nimmt. Es wird kritisiert, die deutsche Berichterstattung sei oft einseitig bis muslimfeindlich. Manche Islamwissenschaftler*innen sprechen davon, dass solche Berichterstattung faktisch dem Islamismus dient. Wie sehen Sie das? So ist das leider. Deshalb haben wir auch als Junge Islam-Konferenz die Medienakademie ins Leben gerufen, um das zu verhindern und junge Muslim*innen zu befähigen, selbst an Debatten teilzunehmen, damit nicht nur über sie gesprochen wird. Und ja, die muslimfeindliche Berichterstattung dient dem Extremismus auf allen Seiten – sowohl dem Islamismus als auch dem Rechtsextremismus. Beide haben in vielerlei Hinsicht ähnliche Weltbilder. Beide Ideologien berufen sich auf einen Wir-ihr-Gegensatz und konstruieren die »Anderen« als abweichend und nicht zugehörig. Sie würden sich von der vermeintlichen Norm der »Wir«-Gruppe unterscheiden und müssten deswegen abgegrenzt werden. Die Rechtsextremisten nutzen dies, um Hass gegenüber Muslim*innen zu schüren und zu behaupten, Muslim*innen gehören nicht zu Deutschen. Die Islamist*innen nutzen das Narrativ, um zu sagen: Schaut, sie hassen euch doch sowieso, ihr gehört nicht dazu, deswegen müsst ihr uns folgen. Von der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird dabei oft ignoriert, dass vor allem Muslim*innen im Visier der Islamisten stehen. Islamismus ist auf jeden Fall ein wichtiges Thema. Muslim*innen sehen sich dabei immer drei Herausforderungen gleichzeitig gegenüber: Zum einen haben sie Angst, selbst Opfer von islamistischen Angriffen zu sein. Zweitens spüren sie stärkeren antimuslimischen Rassismus nach islamistischen Anschlägen. Drittens können sie auch Zielscheibe von islamistischen Predigern sein, die versuchen, sie für ihre Ideologie zu gewinnen. Welche Rolle können die Moscheegemeinden hierbei spielen? Moscheegemeinden müssen aktiver dabei sein, Alternativen zu islamistischen Narrativen und Predigern zu bieten. Insbesondere die Jugendprogramme müssen besser ausgestattet sein und Vorbilder anbieten, die eine muslimisch-deutsche Identität verkörpern. Interpretationen islamischer Texte, die von Islamisten genutzt werden, müssen dekonstruiert werden. All das muss viel mehr passieren.
Negin Behkam
Mit dem Aufbau einer Allianz gegen Rechtsextremismus kämpft die Leiterin der Junge Islam Konferenz Asmaa Soleiman gegen antimuslimischen Rassismus
Islam, Islamismus, Rassismus, Rechtsradikalismus
Politik & Ökonomie
Politik Islam
2025-02-07T17:37:17+0100
2025-02-07T17:37:17+0100
2025-03-06T10:12:36+0100
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Kipping fordert »Recht auf Nichterreichbarkeit«
Berlin. Die Ergebnisse der Eltern-Studie aus Hessen zeigen für Linken-Chefin Katja Kipping, dass »Familien und insbesondere Alleinerziehende mehr denn je Unterstützung brauchen«. Das reiche »von Arbeitszeitmodellen, die um die 30-Stunden-Woche kreisen und die Arbeit für alle Beschäftigten produktiver, effizienter und gesünder machen, bis zu kostenlosen Betreuungsangeboten durch gut ausgebildetes und besser entlohntes Personal«, sagte Kipping im Gespräch mit der »Neuen Osnabrücker Zeitung« (NOZ). Von der Bundesregierung verlangte Kipping, »Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice zu ermöglichen und dabei abzusichern, dass das Recht auf Nichterreichbarkeit und das Recht auf Feierabend gewährleistet sind«. Überdies müssten Eltern und Kinder mit Blick auf eine drohende zweite Coronawelle stärker ins Blickfeld der Regierung rücken. »Über die Sommerpause brauchen wir einen Digitalisierungsschub - um Beschäftigten vom Osnabrücker Land bis ins Allgäu Homeoffice zu ermöglichen und schulische Bildung aus den Klassenzimmern zu den Kindern zu bringen.« Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hatte am Dienstag in Wiesbaden eine Studie vorgestellt, wonach die Corona-Einschränkungen für fast die Hälfte der Eltern eine sehr belastende Phase war. Frauen hätten noch häufiger als Männer von einer hohen Belastung berichtet. Agenturen/nd
Redaktion nd-aktuell.de
Die Coronakrise hat gezeigt: Unter den bundesweiten Corona-Einschränkungen haben besonders Familien und Frauen gelitten. Die Linken-Vorsitzenden Katja Kipping fordert deshalb zahlreiche Maßnahmen zur Entlastung.
Corona-Krise, Familienpolitik, Katja Kipping, LINKE
Politik & Ökonomie
Politik Coronakrise
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Geschmiert
Wieder etwas mehr Licht im Dunkel des verworrenen Korruptionsskandals im Weltfußball: Richard Lai, Präsident des Fußballverbandes des westpazifischen US-Territoriums Guam, hat sich am Donnerstag der Annahme von Bestechungsgeldern schuldig bekannt. Der 55-jährige US-Bürger gab vor Gericht zu, im Jahr 2011 Schmiergelder in Höhe von insgesamt 100 000 Dollar von einem FIFA-Präsidentschaftskandidaten für seine Stimme angenommen zu haben. Laut dem US-Sender »ESPN« und »BBC« handelt es sich dabei um Mohamed Bin Hammam, der später vom Weltverband wegen der Bestechung einer anderen Person lebenslang gesperrt wurde. Bin Hammam trat deswegen 2011 überhaupt nicht zur Präsidentschaftswahl an. Zudem erhielt Richard Lai laut eigener Aussage zwischen 2009 und 2014 mehr als 850 000 Dollar vom asiatischen Verband AFC. Und zwar nicht nur, um Einfluss im Sinne der Verbandsinteressen zu nehmen, sondern auch, um weitere Fußballfunktionäre zu identifizieren, die einer Bestechung nicht abgeneigt wären. Offiziell seien die Gelder für die Suche nach einem Trainer für Guam ausgewiesen worden. Sie wanderten stattdessen aber auf das Privatkonto von Lai. Die Ethikomission des Weltverbands reagierte umgehend und schloss Lai provisorisch für 90 Tage von allen fußballrelevanten Tätigkeiten aus. Verlängert werden kann die Sperre um maximal 45 Tage. Lai ist selbst Mitglied der Audit- und Compliance-Kommission der FIFA, die die Vollständigkeit und Verlässlichkeit der finanziellen Rechnungslegung gewährleisten soll. Deswegen seien diese Vergehen besonders bedeutsam, sagte die zuständige Staatsanwältin. Die US-Justiz ist hartnäckig bei ihren Ermittlungen zu Korruptionsvorwürfen beim Fußballweltverband. Seit Ende Mai 2015 gab es in den USA mehr als 40 Anklagen unter anderem wegen Bestechung, Erpressung und Geldwäsche. In Frankreich laufen zur Zeit ebenso Ermittlungen wegen Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe der WM 2018 und 2022, wie »Le Monde« berichtet.
Samuela Nickel
Personalie
FIFA, Fußball, Korruption, USA
Politik & Ökonomie
Politik
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Eingeliefert, ausgeliefert
Dieter Friemann, Jahrgang 1943, ist mit 65 Jahren in Rente gegangen. Davor war er zuletzt selbstständig als Inhaber einer Gaststätte samt Pension an der Elbe in Sachsen-Anhalt. Der bis vor kurzem noch recht rüstige Pensionär hat in seinem Leben viel Sport getrieben, war Langstreckenläufer, spielte Fußball. Er ist gesetzlich versichert. Bis zu seinem Unfall war er 1,72 Meter groß, seitdem fehlen ihm sechs Zentimeter. Am 28. Dezember 2018 fuhr Friemann mit seiner Ehefrau im Flixbus von Berlin nach Hamburg. Von dort sollte es dann weiter ins heimatliche Stade gehen. Kurz vor dem Ziel in der Hansestadt benutzte Friemann noch einmal die Bustoilette. Als er sie wieder verließ und die Treppe zum Oberdeck des Doppelstockbusses schon fast bewältigt hatte, machte der Bus eine Notbremsung. Der Rentner stürzte auf der Treppe so schwer, dass er regelrecht durch die Luft flog: »Etwa zwei Meter fünfzig. Also nicht von der Teppichkante.« Er kam a... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Ulrike Henning
Ein Patient kommt nach einem Unfall ins Krankenhaus. In guten Händen ist er damit nicht automatisch - auch, weil er seine Diagnose erst nach der Entlassung erfährt und offenbar bleibende Schäden behält.
Hamburg, Krankenhaus, Rentenpolitik
Gesund leben Asklepios-Klinik
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Angela Merkel spielt Miss Sophie
»The same procedure as every year ...!« Der Satz stammt eigentlich aus dem TV-Silvester-Sketch »Dinner for One«. Darin weist Miss Sophie ihren Butler James an, alles so zu machen wie im vergangenen Jahr. Lustig? Ja. Doch genau das tut die Merkel-Regierung auch bei Bundeswehr-Auslandseinsätzen. Und das ist gar nicht lustig. Beispiel Kosovo. Seit dem Angriff auf Jugoslawien 1999 ist die Bundeswehr in dem inzwischen (scheinb... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
René Heilig
René Heilig fragt nach Auslandseinsätzen und dem Aufblühen von Kosovo
Angela Merkel, Bundeswehreinsatz, Kosovo
Meinung
Kommentare
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Wir haben die Macht verloren
Vorweg die gute Nachricht: Wer den ersten Teil, die Erfolgskomödie »Monsieur Claude und seine Töchter«, nicht gesehen hat, kann die Fortsetzung, die jetzt in Deutschland in den Kinos anläuft, ohne Probleme verstehen. Und wer den ersten Film zu platt fand, sollte Monsieur Claude noch eine Chance geben, denn der zweite Teil ist politischer, handlungsreicher und an vielen Stellen tiefgründiger. Anhand der vier Schwiegersöhne von Monsieur Claude, der ein reaktionärer, reicher Katholik ist, wird erzählt, wie es für Migranten in westlichen Gesellschaften ist, wenn rechte Parolen salonfähig werden. »Es ist immer schwierig, einen Teil Zwei ins Kino zu bringen, denn die Erwartungshaltung ist dann sehr hoch«, sagt Torsten Frehse zum »nd«. Frehse ist Geschäftsführer des Filmverleihs Neue Visionen, der schon den ersten Teil der Komödie in die deutschen Kinos gebracht hat. »Eigentlich muss der Film also noch besser sein als der erste«, erklärt er weiter. Tatsächlich könnte dies auf »Monsieur Claude 2« zutreffen, denn der neue Film gibt einen größeren Einblick in die Herausforderungen, denen sich Menschen mit einem vermeintlichen Migrationshintergrund gegenübersehen: So werden etwa dem schwarzen Schauspieler Charles nur Rollen als Dealer oder Dieb angeboten, und der aus Algerien stammende Rechtsanwalt Rachid hat es satt, Burka tragende Klientinnen zu vertreten. Des Weiteren gibt es einen Geflüchteten aus Afghanistan, dem Marie, die Ehegattin von Monsieur Claude, ohne vorherige Absprache mit ihrem Mann Unterschlupf auf dem riesigen Familienanwesen gewährt. Doch nur unter der Bedingung, dass der ausgebildete Lehrer bei ihnen Gartenarbeit leistet. Somit werden auch die Grenzen der Willkommensgesellschaft thematisiert. Die Komödie spielt zwar in Frankreich, doch die Szene, in welcher der Schwiegersohn chinesischer Herkunft, Chao, in einem Restaurant vom Kellner mit »Kleiner Gelber« angesprochen wird, könnte genauso gut in Deutschland spielen. Und auch die Vorurteile, mit welchen sich der Geflüchtete aus Afghanistan auseinandersetzen muss, könnten von Deutschen kommen. Der Regisseur, Philippe de Chauveron, spricht mit seinem Drehbuch somit Probleme und Fragen unserer Zeit an, die in allen westlichen Gesellschaften eine Rolle spielen. In der oben genannten Szene konfrontiert Chao den Kellner und macht klar, dass Rassismus für ihn kein Spaß ist. Und doch lacht er selbst über abwertende Kommentare seines Schwiegervaters über das Essen in der Elfenbeinküste oder das heiße Klima Algeriens. Mit diesem Kniff gelingt es dem Regisseur zu zeigen, dass menschliche Toleranzgrenzen variabel sind. Und natürlich lachen Menschen manchmal auch über Witze, die sie nicht lustig finden. Wahrscheinlich sind die meisten Menschen harmoniebedürftig und stellen ihren Schwiegervater nicht so schnell zur Rede wie einen unbekannten Kellner. Humor ist sicher ein gutes Ventil, um auf solche Marotten hinzuweisen. Der Film macht auch all jenen Hoffnung, die reaktionäres Denken, das vorgibt, sogenannte traditionelle Werte bewahren zu wollen, über Bord werfen möchten. So spricht Monsieur Claude etwa in einer Sequenz mit dem aus der Elfenbeinküste stammenden Vater seines schwarzen Schwiegersohnes über das Recht für gleichgeschlechtliche Paare zu heiraten. Beide sind sich einig, dass ihnen dies zu weit geht, und stellen fest: »Wir haben die Macht verloren.« In Frankreich läuft »Monsieur Claude 2« bereits seit einigen Wochen in den Kinos und wurde von der Presse überwiegend positiv besprochen. Wer über rassistische Witze nicht mehr lachen kann und die Debatten über die Grenzen der Hilfe für Geflüchtete leid ist, sollte daher schnell ins Kino gehen. Die Komödie von Philippe de Chauveron gibt humorvolle Antworten auf schwierige Fragen unserer Zeit. »Monsieur Claude 2«, Frankreich 2019. Regie: Philippe de Chauveron; Darsteller: Christian Clavier, Chantal Lauby, Ary Abittan. 99 Min.
Katharina Schwirkus
Wer über rassistische Witze nicht mehr lachen kann und die Debatten über die Grenzen der Hilfe für Geflüchtete leid ist, sollte schnell ins Kino gehen. Die neue Komödie von Philippe de Chauveron gibt humorvolle Antworten auf die schwierigsten Fragen unserer Zeit.
Einwanderung, Film, Frankreich, Migration, Rassismus
Feuilleton
Kultur "Monsieur Claude 2"
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Vater von Hanau-Attentäter mit bizarrem Brief an Opferangehörige
Am kommenden Montag jährt sich das rassistische Attentat von Hanau zum vierten Mal. Der Attentäter hatte gezielt nach Migrant*innen gesucht und neun Menschen ermordet. Anschließend brachte er seine Mutter um und tötete sich selbst. Die Angehörigen der Opfer werden seit der Tat vom Vater des Attentäters belästigt. Jüngst traf es Serpil Temiz Unvar. Ihr 23-jähriger Sohn Ferhat war bei dem Anschlag ermordet worden. Die »Frankfurter Rundschau« berichtet von einem bizarren Schreiben, das Serpil Temiz Unvar jüngst von Hans-Gerd R. erhalten hat. Der Vater des Attentäters bezeichnet dieses als »sechste Mahnung« und fordert von Unvar 3376 Euro Schadenersatz. Sie sei für Nachstellungen und Aufkleber an seinem »Herrschaftsgut« verantwortlich, die er habe beseitigen müssen. Die »Frankfurter Rundschau« vermutet, es könnten Aufkleber mit den Gesichtern der Opfer des Anschlags gemeint sein, mit denen an diese erinnert wird. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Hans-Gerd R. führt in seinem Brief außerdem aus, dass er Vorkehrungen für sein »Ableben« getroffen habe. Die Forderungen aus dem Mahnschreiben würden dann an eine »Institution« abgetreten, die ihren Sitz an seiner Adresse habe. Serpil Temiz Unvar ist beunruhigt. Der »Frankfurter Rundschau« erzählte sie, dass ihr das Schreiben wieder Angst gemacht habe. Es zeige, dass er »keine Ruhe gebe und gefährlich werden könnte«. In den vergangenen Monaten war es nach den Angaben von Unvar ruhig geworden. Davor hatte Hans-Gerd R. die Angehörigen immer wieder belästigt. Rassismus spielt dabei offenbar eine große Rolle. So hatte er Unvar in einem früheren Schreiben aufgefordert auszureisen. Auch in ihrem Wohnumfeld belästigt Hans-Gerd R. die Angehörigen. Vor Unvars Haus stellte er sich mit seinem Schäferhund auf. Auch hier stieß er rassistische Beleidigungen aus. Deswegen ist ein Kontakt- und Näherungsverbot ausgesprochen worden, das auch Briefe und andere Kommunikationswege beinhaltet. Verwunderlich ist das alles nicht. Hans-Gerd R. teilte das von Rassismus und Verschwörungserzählungen geprägte Weltbild seines Sohnes schon zu dessen Lebzeiten. Heute ist er davon überzeugt, dass sowohl sein Sohn als auch seine Frau von einem Geheimdienst ermordet wurden. Vor anderthalb Wochen durchsuchte die Polizei sein Haus nach Waffen, wurde aber nicht fündig. In den kommenden Monaten soll wegen zahlreicher Delikte vor dem Amtsgericht Hanau gegen R. verhandelt werden. Auch eine psychiatrische Begutachtung soll dann erfolgen. Antifaschistische und antirassistische Gruppen im ganzen Land erinnern am kommenden Wochenende an den Anschlag. Auch in Hanau ist eine Demonstration geplant.
Sebastian Weiermann
Bedrohungen, Beleidigungen und jetzt ein bizarres Schreiben: Der Vater des Attentäters von Hanau belästigt die Hinterbliebenen. Er offenbart dabei ein Weltbild, das dem seines Sohnes ähnelt.
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2024-02-13T13:04:52+0100
2024-02-13T13:04:52+0100
2024-02-15T13:25:25+0100
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Schwerpunktwoche gegen Falschparker
Ein weißer Lieferwagen steht in der Schlüterstraße in der Nähe des Kurfürstendamms im Halteverbot auf dem Radweg. So weit, so alltäglich, über 95 000 Anzeigen gab es im vergangenen Jahr für Fahrer*innen, die ihre Fahrzeuge auf Radwegen oder in zweiter Reihe abstellten. Damit diese Zahl sinkt, kontrolliert die Berliner Polizei noch bis Freitag dieser Woche verstärkt die Straßen. Das Problem liegt neben dem Verhalten der Fahrer in der städtischen Infrastruktur, meint Rainer Paetsch, Bereichsleiter der Verkehrsüberwachung der Polizei. »Es gibt nicht genug Parkplätze für alle Kraftfahrzeuge und jeder will irgendwo stehen«, sagt er. Wer in der Verkehrsüberwachung tätig sei, merke jedes Jahr, dass es enger auf den Straßen werde. Es kämen immer mehr Autos hinzu. Die Polizei hat zum Pressetermin an den Kurfürstendamm geladen und alle schauen zu, wie der erste Kleintransporter auf dem Radschutzstreifen falsch geparkt wird, also dem markierten Weg auf der Fahrbahn. Für die Kontrollen hat die Polizei Straßen ausgewählt, in denen Fahrer*innen besonders oft auf den Radwegen, in zweiter Reihe oder auf Busspuren parken, sagt Polizeisprecher Carsten Müller. In Stoßzeiten mit besonders viel Verkehr sind in diesen Tagen stadtweit Beamt*innen von allen Polizeiabschnitten unterwegs, genauso wie das Ordnungsamt und die Busspurbetreuer der Berliner Verkehrsbetriebe, die seit kurzem selbst Strafzettel schreiben dürfen. Denn auch auf Busspuren wurden 2017 rund 33 000 Verstöße wegen Falschparkens festgestellt. Auch das Warnblinklicht schützt vor Strafe nicht. Zwei Polizeibeamte in gelben Warnwesten nähern sich dem Fahrzeug. Denn für Lieferwagen gilt die Straßenverkehrsordnung genauso. Zwischen 15 und 35 Euro kostet das die Falschparker. Teurer wird es, wenn die Fahrer*innen nicht in Reichweite ihres Autos seien und lange wegblieben. Dann würde abgeschleppt, sagt Paetsch. In diesem Jahr ist es die zweite Falschpark-Kontrollaktion der Polizei. 2016 wurde erstmals eine durchgeführt. Bei der ersten diesjährigen Kontrolle im Frühjahr notierten die Beamt*innen innerhalb von fünf Tagen über 4000 Parkverstöße. Zusätzlich wirkt sich der Onlinehandel auf die Straßen aus. »Bei Amazon haben wir alle schon bestellt. Dass der Lieferant unten auf dem Schutzstreifen steht, wenn er bei mir klingelt, da denkt keiner dran«, sagt Kommissar Paetsch. Insofern bleibt die Frage, wo Fahrer*innen ihre Autos oder Transporter hinstellen können. Lara Eckstein, Sprecherin des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs Berlin (ADFC), hält die Falschparker-Kontrollaktion der Polizei für »nötig und sinnvoll«. »Falschparker sind eine Gefahr, wenn Radfahrende immer wieder in den Fließverkehr ausscheren müssen und Fußgänger nicht gesehen werden«, sagt Eckstein. Trotzdem, die momentanen Kontrollen sind dem ADFC zu kurzsichtig. »Diese Schwerpunktaktionen generieren Aufmerksamkeit, aber wir wollen, dass es tagtäglich Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer gibt.« Deshalb fordere der ADFC eine im ganzen Jahr und in allen Bezirken tätige Polizei-Fahrradstaffel. In Mitte, wo die Polizei bereits seit über vier Jahren selbst auf zwei Rädern unterwegs ist, würden Falschparker zwar schon aufgeschrieben, es könne aber noch mehr werden, sagt Eckstein. Selbst Polizist Paetsch macht sich keine Illusionen: »Richtig zu Herzen nehmen, mit langanhaltender Wirkung, werden es sich wohl die wenigsten.«
Marion Bergermann
Die Berliner Polizei hat eine Aktionswoche gegen Falschparken gestartet. Es ist die zweite in diesem Jahr. Der durch Onlinekäufe ausgelöste Lieferverkehr verschärft die Lage.
Berlin, Radverkehr, Verkehrspolitik
Hauptstadtregion
Berlin Berliner Polizei
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1105049.schwerpunktwoche-gegen-falschparker.html
Drohender Angriff auf die Energieversorgung
Nach dem Rückzug der russischen Armee aus den nördlichen Vororten von Kiew durchstreifen französische und ukrainische Ermittler in weißen Schutzanzügen die Ruinen. In den Kleinstädten Butscha und Borodjanka wurden bisher mehrere Hundert Tote geborgen, viele Opfer weisen Spuren von Folter auf. Um die Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen, dokumentieren Experten die Gräueltaten mit Kameras. Auch in Libyen berichten Medien über die vielen zivilen Opfer des Ukraine-Krieges. In Tripolis erinnern die Schilderungen von Massengräbern viele Menschen an die 18-monatige Belagerung der Hauptstadt des nordafrikanischen Landes. Mehr als 200 000 Menschen hatten zu Beginn der Kämpfe im Frühjahr 2019 das Kampfgebiet im Süden von Tripolis verlassen. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. »Viele Libyer werden durch den Krieg in Europa gerade retraumatisiert«, sagt der Menschenrechtsaktivist Mohamed dem »nd«. Tatsächlich droht neue Gefahr. Die ehemaligen Belagerer von Tripolis scheinen erneut einen Angriff vorzubereiten. Deshalb möchte der 28-Jährige seinen Nachnamen nicht gedruckt sehen. Das könnte ihn in Gefahr bringen. Viele Libyer befürchten, dass der Konflikt zwischen Russland und dem Westen ausgehend vom Ukraine-Krieg auch ihr Land ergreifen könnte. »In Libyen wird auch fast zwei Jahre nach Kriegsende Jagd auf alle gemacht, die offen über die Kriegsverbrechen reden«, sagt Mohamed. Noch immer befinden sich viele Kämpfer der privaten russischen Sicherheitsfirma Wagner im Land. In dem derzeitigen Machtvakuum in Libyen und zwei miteinander konkurrierenden Regierungschefs sieht der Kreml offenbar die Chance, eine zweite Front gegen den Westen aufzumachen. Wagner-Söldner helfen offenbar bei der Blockade zweier Ölhäfen im Osten des Landes. Aber auch in Tripolis hat der Terror auf Wohngebiete mit dem Abzug der Belagerer nicht aufgehört. Rückkehrende Familien fanden versteckte Sprengfallen und Minen an Eingangstüren, Kühlschränken oder unter Kinderbetten. »Das kaltblütige Vorgehen ist in Butscha und Tripolis aus meiner Sicht die Handschrift von Wagner«, sagt Jamal Alaweeb. Der Kommandeur einer westlibyschen Kampfgruppe hat in Tripolis gegen Wagner und zuvor gegen den Islamischen Staat in der Stadt Sirte gekämpft. »Die direkte Konfrontation mit uns mieden die von Sudanesen bewachten Wagner-Leute. Ihr Job war es hauptsächlich, hinter der Front Angst und Schrecken zu verbreiten - und die Aufklärung der Lage«, erklärt Alaweeb. »Der Islamische Staat hat immerhin versucht, in den besetzten Gebieten bei einem Teil der Bevölkerung Sympathien zu gewinnen.« Die Armee von Feldmarschall Khalifa Haftar, Söldner aus dem Sudan und Kämpfer der russischen Sicherheitsfirma Wagner gingen in Tripolis dagegen ähnlich brutal vor wie die russische Armee jetzt im Norden der Ukraine. Aus heutiger Sicht meint Alaweeb, dass der Häuserkampf in Tripolis für die Wagner-Söldner ein Training für die Ukraine gewesen sei. »So wie der gesamte Stellvertreterkrieg.« Von den rund 2000 Söldnern der Sicherheitsfirma Wagner gibt es nur wenige verschwommene Fotos. Die meisten wurden bei ihrem Abzug aus Tripolis von Passanten gemacht, die selbst Angst hatten, erschossen zu werden. Viel weiß man nicht über die Söldner. Ihr Handeln bleibt oft verborgen. Bekannt ist aber, dass der Kreml mehrere Hundert Wagner-Kämpfer aus Mali, Syrien, der Zentralafrikanischen Republik und Libyen vor dem 29. Januar abzog und in die Ukraine einfliegen ließ. In Libyen ist die Zahl der Wagner-Kämpfer aber hoch geblieben. Sie sind wohl auch weiterhin mit modernsten russischen Pantsir-Luftabwehrsystemen und Mig-29 Jets ausgestattet, die wie die lasergesteuerten Mörsersysteme niemals ohne Einverständnis des Kreml in ihre Hände gelangt wären. Ein zwei Meter tiefer Graben war im Krieg 2019 und 2020 der letzte Vorposten Wagners in Tripolis. Keine 500 Meter von dem Frontabschnitt im Stadtteil Ain Zara entfernt, wo wir im Februar 2021 Mohamed Haddat, den Kommandeur der westlibyschen Armee, trafen. Bei einem Gegenangriff flohen die hier stationierten Wagner-Kämpfer unerkannt. Nach Kriegsende fand ein aufmerksamer Entminungsspezialist dort ein verstaubtes Samsung-Tablet. Zu Hause lud er die Batterie und wunderte sich über die kyrillische Schrift und zahlreichen Karten auf dem Gerät. Über den libyschen Militärgeheimdienst landete das Gerät bei der BBC, die es an IT-Experten weitergab. »Auf dem Gerät fand man schließlich die Beweise für unsere Beobachtungen der Geisterarmee, die wir oft nur als Schatten an der Front sahen«, sagte einer unserer Begleiter am Fundort. »Eine Struktur zur Durchsetzung staatlicher Interessen außerhalb der Landesgrenzen schaffen«, so beschrieb ein ehemaliger Wagner-Söldner die Aufgabe der privaten Firma gegenüber BBC-Reportern. Bei ihrer Arbeit nehmen die in Russland und Osteuropa angeworbenen Kämpfer keine Rücksicht auf die Genfer Kriegsrechtskonvention oder andere Regeln. Verbrannte Erde - das ist es, was Wagner hinterlässt. In den Straßenzügen rund um das Gefängnis von Ain Zara sind die Fassaden mit Einschusslöchern übersät. In der Dämmerung brennt nur in wenigen der mit Plastikfolie verklebten Fenstern Licht. Vor allem die als Gefechtsstand genutzten Gebäude wurden von Drohnenangriffen fast völlig zerstört und damit für immer unbewohnbar. Ähnlich sieht es nun auch in den Städten der Ukraine oder im syrischen Aleppo aus - überall dort, wo Wagner nachweislich zum Einsatz kam. Die Bilder der Schutthaufen und Ruinen im ukrainischen Mariupol erinnern an die tschetschenische Hauptstadt Grosny nach der russischen Invasion, die 2009 offiziell beendet wurde. Grosny galt damals als die durch Krieg am schwersten zerstörte Stadt weltweit. Zahlreiche Wagner-Söldner haben damals auch in Grosny gekämpft. Es war der Beginn der russischen Privatarmeen. »Mit Wagner entstand eine Hybridarmee aus russischen Streitkräften, lokalen Söldnern und osteuropäischen Militärexperten«, sagt Iliasse Sidiqui, Analyst für eine westeuropäische Sicherheitsfirma, der die Wagner-Aktivitäten seit Jahren beobachtet. In Kriegsgebieten wie Libyen tritt Wagner offiziell als »Ausbildungsteam« auf, um lokale Truppen fit zu machen. Offiziell entsendet Moskau Militärausbilder, tatsächlich landen vollständig ausgerüstete Kampfeinheiten. Libyens General Haftar bat im Sommer 2017 Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Moskau um militärisches Gerät und Militärexperten. Im Dezember 2017 empfing er in Bengasi Emissäre von Wagner. Damals kämpfte er gegen islamistische Milizen in Ostlibyen, wo der Großteil des libyschen Öls aus dem Boden gepumpt wird. So wurde Libyen für die Gruppe Wagner zur Goldgrube. In einem 2018 im Internet veröffentlichten Video sitzt der libysche General an einem langen Tisch im Kreml zwischen dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und dem Oligarchen Yevgeny Prigozhin, der Finanzmogul hinter der Söldnertruppe. Wagner war ursprünglich der Kriegsname von Oberstleutnant Dmitri Walerjewitsch Utkin, ein Fallschirmspringer-Veteran der Spezialeinheiten des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Nach seiner Pensionierung 2013 ließ er sich von der russischen Sicherheitsfirma Slavonic Corps zuerst in den Irak, später in die Ostukraine und auf die Krim entsenden, wie so viele ehemalige russische Soldaten, deren staatliche Rente zum Leben nicht ausreicht. Im Donbass wurde Utkin mit einem Wehrmachtshelm an der Front gesichtet, seine beiden SS-Tattoos am Hals deutlich sichtbar. Utkin macht aus seiner Leidenschaft für das Dritte Reich keinen Hehl. Als die Firma Slavonic Corps, die im Irak und auf Handelsschiffen vor der Küste Somalias stationiert war, 2014 durch den russischen Staat aufgelöst wurde, präsentierte sich Utkin unter dem neuen Firmennamen Wagner. Offiziell streitet Russlands Regierung alle Kontakte zu der Kampfgruppe ab, private Militärfirmen sind in Russland sogar illegal. Laut russischen Quellen traf sich allerdings Russlands Generalstabschef bereits 2010 mit Eeben Barlow, Gründer der südafrikanischen Sicherheitsfirma Executive Outcomes, die in den 90er Jahren mit arbeitslosen weißen Spezialkräften von Südafrikas Apartheidsregierung schmutzige Kriege in Afrika führte. Diese Logik prägt das Verhalten der Wagner-Truppe. Was einst 2014 in Syrien als »Gladiatoreinheit« im Auftrag des russischen Militärgeheimdiensts unter Utkins Kommando begann, sei mittlerweile zu einer »Armee von Sklaven« verkommen, so der russische Ex-Wagner-Kämpfer Marat Gabidullin. Der 65-Jährige wollte seine Memoiren in Russland unter dem Titel »Zweimal im selben Fluss« 2020 als Buch veröffentlichen. Doch er zog sein Werk aus der Druckerei zurück, weil er Drohungen erhalten haben soll. In Interviews bestätigt er: In den vergangenen Jahren habe Wagner vermehrt Kämpfer ohne jegliche Kriegserfahrung angeheuert. Ein UN-Expertenteam hat im Oktober 2021 in einem Bericht über die Machenschaften der Söldnertruppe in der Zentralafrikanischen Republik konstatiert, dass sie dort gezielt Kriegsverbrechen begehe. »Vertreter der Wagner-Gruppe haben Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt begangen gegen Frauen, Männer und junge Mädchen«, heißt es dort. Es sei nicht klar, wie viele Menschen Opfer sexueller Gewalt wurden, weil »Überlebende Angst haben, ihre Fälle vorzubringen«. Wagner-Söldner wurden auf Geheiß des Präsidenten Faustin Archange Touadéra in die Zentralafrikanische Republik geholt worden und genossen de facto Straflosigkeit. Die UN-Experten forderten die Regierung auf, »alle Beziehungen zu privatem Militär- und Sicherheitspersonal zu beenden, insbesondere der Wagner-Gruppe«. In Libyen bereiten sich derzeit die Kommandeure der westlichen Milizen auf einen neuen Krieg vor. Augenzeugen berichten von Verlegungen der Wagner-Einheiten in die Heimatstadt des früheren Staatschefs Muammar al-Gaddafi, Sirte, und der Einrichtung einer neuen Operationszentrale von Haftars ostlibyscher Armee. Eine unbekannte Zahl an Mig-29 Jets der russischen Luftwaffe steht im zentrallibyschen Jufra zum Einsatz bereit, bewacht von sudanesischen und tschadischen Söldnern. Mit dem ostlibyschen Flughafen Al-Khadim, den regelmäßig russische Transportflieger aus Syrien anfliegen, haben die Paramilitärs von Wagner damit Zugriff auf drei Flughäfen in Afrikas ölreichstem Land. Italiens Regierungschef Mario Draghi kündigte kürzlich Verhandlungen mit der libyschen Regierung über die Ausweitung des Gas- und Ölexports über die »Greenstream«- Pipeline nach Europa an. Zeitgleich beobachten westliche Diplomaten mit Sorge die Stationierung von Wagner-Söldnern in der ostlibyschen Hafenstadt Bomba. Mit kleinen Kommandoaktionen könnten die Söldner von dort die Handelsschiffe auf dem Mittelmeer angreifen. Überhaupt könnten Wagner-Einheiten mit Haftars Armee Libyens Energielieferung nach Europa schnell beenden.
Mirco Keilberth, Tripolis
Die private Söldnergruppe Wagner ist noch immer in Libyen und scheint seine Aktivitäten wieder zu verstärken. Das hat auch einen Grund: Die Ölexporte aus dem Land sind wichtig für die EU-Staaten, die russisches Öl boykottieren.
Libyen, Russland, Syrien, Ukraine
Politik & Ökonomie
Politik Libyen
2022-04-24T17:21:13+0200
2022-04-24T17:21:13+0200
2023-01-20T18:40:15+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1163228.drohender-angriff-auf-die-energieversorgung.html
Pariser Klimabeutel noch fast leer
Der internationale Klimaschutz läuft zäh. Und das liegt am »Klingelbeutel-Prinzip«, nach dem der Pariser Klimavertrag konzipiert ist. Er legt zwar eine maximale Erderwärmung im Korridor von 1,5 bis zwei Grad Celsius fest, was beim globalen Treibhausgas-Ausstoß ungefähr eine Halbierung bis 2030 und eine Netto-Null ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erfordert. Doch wie viel CO2-Minderung die einzelnen Vertragsstaaten hierzu leisten müssen, steht nicht in dem Abkommen. Diese Beiträge sind freiwillig. Und die aktuelle Bilanz zeigt: Bisher kommt im Paris-Klingelbeutel viel zu wenig zusammen. Im zehnten Jahr seines Bestehens gerät das Abkommen zunehmend in die Krise. Die Regierungen der 195 Vertrags-Staaten haben sich im Paris-Abkommen verpflichtet, ihre nationalen Klimaziele, die sogenannten NDCs, in einem Fünfjahres-Zyklus anzupassen, um die Erwärmung entsprechend den Vorgaben zu begrenzen. Bisher nämlich reichen die CO2-Einsparpläne bei weitem nicht aus, um bei zwei Grad zu landen, geschweige denn bei 1,5 Grad. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Nach den Kalkulationen des UN-Umweltprogramms Unep in Nairobi steuert die Erde derzeit auf ein Plus von 2,6 bis 3,1 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit zu, wenn die Regierungen nur die derzeit gültigen NDCs erfüllen und nicht nachschärfen. Damit drohen wichtige Kippelemente des Weltklimas irreversibel ausgelöst zu werden. Letzte Woche sorgte für weitere Ernüchterung. Nur 13 der 195 Staaten haben zum Ablauf der offiziellen Frist am 10. Februar neue nationale CO2-Pläne eingereicht. Die allermeisten Länder, darunter die Emissions-Schwergewichte China, Indien und EU, haben sie einfach verstreichen lassen. Von den 13 Ländern kommen nur drei aus der G20-Gruppe der Industrie- und Schwellenländer, nämlich die USA, Großbritannien und Brasilien. Die anderen Staaten sind Andorra, Ecuador, die Marshallinseln, Neuseeland, die Schweiz, Simbabwe, Singapur, St. Lucia, Uruguay und die Vereinigten Arabischen Emirate. Doch selbst die Pläne dieser »Musterschüler« sind mit Vorsicht zu genießen. Die USA legten ihren CO2-Plan noch kurz vor der Amtseinführung des neuen Präsidenten Donald Trump vor, der inzwischen den Austritt seines Landes aus dem Paris-Vertrag eingeleitet hat – die NDC der USA sind damit praktisch wertlos. Zudem ergab eine Analyse der Klimaforschungsgruppe Climate Action Tracker bei fünf der zwölf Staaten, dass nur der neue Plan von Großbritannien zu einem 1,5-Grad-Pfad passt. Die Ziele Brasiliens, der Schweiz, der USA und der Emirate seien damit »nicht kompatibel«. Unter anderem Neuseelands Plan hat die Gruppe noch nicht analysiert, aber eine Klimaexpertin des Landes, Christina Hood, bezeichnete ihn als »schockierend wenig ehrgeizig.« Die Gründe, warum viele der »Big Player« ihre Pläne noch nicht eingereicht haben, sind unterschiedlich – ökonomischer Druck, politische Unsicherheit wegen anstehender Wahlen, technische Probleme. China als größter Emittent mit allein rund einem Drittel des CO2-Ausstoßes hat bisher nicht bekanntgegeben, wann es seinen Klimaplan veröffentlichen wird. Indien, nach den USA die globale Nummer drei, könnte dies »in der zweiten Hälfte dieses Jahres« tun, wie zuständige Regierungsfachleute dem Blatt »Indian Express« sagten. Sie fügten hinzu, ehrgeizige Verbesserungen an Indiens NDC seien unwahrscheinlich – und zwar aus Enttäuschung über den schwachen Beschluss zur internationalen Klimafinanzierung auf dem letztjährigen UN-Klimagipfel in Baku. In EU-Kreisen wiederum hieß es laut Medienberichten, der langwierige Prozess in der Europäischen Union zur Verabschiedung neuer Gesetze mache es »im Grunde unmöglich«, die Frist einzuhalten. Aus Russland, Nummer vier im CO2-Ranking und großer Exporteur fossiler Energien, gibt es keine Nachricht über einen Zeitplan. Die letzte wichtige Nachricht zum Thema Klimaschutz kam aus Moskau 2021, also der Zeit vor dem Überfall auf die Ukraine. Damals hieß es, man peile Netto-Null-Emissionen für 2060 an. Dasselbe Datum hat auch China genannt, Indien will 2070 so weit sein. Im Fall von Australien, einem traditionellen Kohleland mit Energiewende-Agenda, wird erwartet, dass die Regierung die Veröffentlichung ihres neuen Plans bis nach den Parlamentswahlen im Mai verschiebt. Entscheidend ist hier, ob die in Klimafragen progressive Labor-Regierung bestätigt wird – derzeit fraglich. Kanada wiederum hat einen NDC-Entwurf veröffentlicht, der weniger ehrgeizig ist als die Vorgabe, die seine offiziellen Klimaberater gemacht hatten. Viele Klima-Fachleute hoffen natürlich, dass rechtzeitig vor dem nächsten UN-Klimagipfel im November in Brasilien doch noch ambitionierte CO2-Pläne beim UN-Klimasekretariat in Bonn eintreffen – der Ankündigung einer Ländergruppe folgend, die sich auf der Baku-Konferenz verpflichtete, 1,5‑Grad-konforme NDCs zu veröffentlichen. Zu dieser Gruppe gehören etwa die EU, Chile, Mexiko und Norwegen. Der Chef des Klimasekretariats, Simon Stiell, machte dazu in Goodwill. Er sagte jüngst in einer Rede in Brasilien, »die überwiegende Mehrheit der Länder« habe angedeutet, in diesem Jahr neue Pläne vorzulegen, und er glaube, dass »die Länder dies äußerst ernst nehmen«. Und praktisch verlängerte Stiell die Abgabefrist bis September. Dann müssten die NDCs vorliegen, damit sein Sekretariat sie noch vor der Konferenz in Brasilien gesammelt auf ihre Klimaschutz-Wirkung bewerten könne. Auch Umwelt- und Entwicklungsorganisationen schwenkten angesichts der Verunsicherung, die die erneute Wahl des Klimawandel-Leugners Trump zum US-Präsidenten ausgelöst hat, auf diese Linie ein, statt die Regierungen für ihre Missachtung der Frist zu kritisieren. So erklärten die deutschen Organisationen Germanwatch und Misereor: »Lieber ambitionierte Klimaziele ein paar Monate später als pünktliche, die aber weniger konsequent sind.« Die beiden NGOs appellierten an die EU, spätestens im September Handlungspläne vorzulegen, »die der Problemlage ohne Einschränkung gerecht werden«. Dies könne auch andere Staaten dazu bewegen, deutlich verbesserte Ziele aufzustellen.
Joachim Wille
Nur ein gutes Dutzend Regierungen hat bisher neue CO2-Reduktionspläne für das 1,5-Grad-Ziel geliefert. UN-Klimachef Stiell macht bei den Verzögerungen ebenso auf Goodwill wie viele Umweltorganisationen.
Brasilien, Europäische Union, Frankreich, Klimaschutz, Klimawandel, UNO, USA
Politik & Ökonomie
Wirtschaft und Umwelt UN-Klimaschutzabkommen
2025-02-16T12:19:48+0100
2025-02-16T12:19:48+0100
2025-02-16T13:55:07+0100
https://www.nd-aktuell.de//artikel/1189073.un-klimaschutzabkommen-pariser-klimabeutel-noch-fast-leer.html?sstr=china|ukraine
Man muss sich nicht unbedingt lieben
nd: Herr Liebich, ist das Papier von Bernd Riexinger und Katja Kipping der Lohn für das lange Werben der Oslo-Gruppe? Stefan Liebich: Ich glaube, dass sich beide bedanken würden, wenn ich Ja sage. Die Vorsitzenden machen das, was wir auf unserem Bundesparteitag 2010 beschlossen haben. Damals haben wir in einem Leitantrag festgehalten, dass man für gesellschaftliche Veränderungen auch andere Mehrheiten braucht, und dass es die Verantwortung der Parteispitze ist, dazu eine strategische Debatte zu führen. Aber das ist leider lange Zeit nicht passiert. Wir haben uns mit uns selbst beschäftigt. SPD und Grüne haben ihrerseits dazu beigetragen, dass es schwer wurde. Zwischen 2010 und heute lag der Programmparteitag, der Haltelinien für Regierungsbeteiligungen festgelegt hat. Auch Kipping und Riexinger formulieren welche. Wie wichtig sind diese? Liebich: Ich war nie ein Freund von Haltelinien. Ich finde es richtig, dass Katja Kipp... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Redaktion nd-aktuell.de
Bundestagsabgeordnete von SPD, Linkspartei und Grünen, die sich das erste Mal 2009 und danach immer wieder zum zwanglosen Gespräch trafen, hätten ihrer Gruppe nie den Namen »Oslo-Gruppe« gegeben. Der wurde ihnen in Anlehnung an die rot-rot-grüne Regierung in Norwegen verliehen. Als Vorreiter einer solchen Koalition verstehen sich die Teilnehmer aber schon. Mit dabei: Sven-Christian Kindler (Grüne) Stefan Liebich (LINKE) und Frank Schwabe (SPD). Zuversicht und Zweifel klingen an, was eine baldige Umsetzung betrifft - wie Uwe Kalbe und Aert van Riel im Gespräch mit ihnen erfuhren.
Bundestag, Bundeswehreinsatz, Die Grünen, Koalition, LINKE, SPD, UNO
Politik & Ökonomie
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https://www.nd-aktuell.de//artikel/239262.man-muss-sich-nicht-unbedingt-lieben.html
Lobbygruppen präsentieren Wunschlisten
Keine 24 Stunden war das Wahlergebnis alt, schon meldeten sich die Wirtschaftsverbände zu Wort. Und ihre Wunschliste ist lang: Egal ob Euro-Krise, Energiewende oder Steuern - bei jedem Thema haben die Lobbygruppen etwas, das sie von der Wahlsiegerin und alten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) durchgesetzt haben wollen. Schnell soll die Kanzlerin jetzt eine neue Regierung bilden und lieber auf die Schuldenbremse drücken als Geld ausgeben. »Ich gratuliere Angela Merkel zu ihrem Wahlsieg«, konnte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, aufatmen. Denn Forderungen wie die nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn oder einer Vermögenssteuer können sich mit dem Rekordergebnis für die Union an der Wahlurne wohl nicht durchsetzen. Dafür nutzte die DIHK den Tag nach dem Urnengang, um die Ergebnisse einer Umfrage unter rund 2100 Unternehmern zu veröffentlichen. Dort durfte... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.
Simon Poelchau
Deutschlands Wirtschaft erhofft sich viel von der neuen Bundesregierung. Ganz oben auf der Wunschliste steht billige Energie. Doch auch mehr Geld und die Euro-Krise sind Themen.
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