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Auf königlichen Bahnen in Berlin | Worum geht es? Nach der WM 2020 in Berlin wurden die Weltcups im Bahnradsport vom Weltverband UCI abgeschafft und durch zwei neue Formate ersetzt: die Nation Cups und die UCI Track Champions League. In der Champions League gibt es am Saisonende vier Sieger, denn die Serie ist in einen Sprint- und einen Ausdauerbereich aufgeteilt – jeweils für Frauen und Männer. In den fünf Runden der Saison 2022 gibt es ein identisches Rennprogramm. In jedem Lauf können die Fahrerinnen und Fahrer Punkte sammeln, die Punktbesten sind die Gesamtsieger. »Wir begrüßen dieses Format und sehen eine riesengroße Chance, sich mittelfristig als fernsehtaugliche, emotionsgeladene Sportart zu etablieren«, sagt Martin Wolf, Generalsekretär im Bund Deutscher Radfahrer. Auftakt der Saison war am 12. November in Palma de Mallorca. An diesem Samstag kommt die UCI Track Champions League erstmals nach Deutschland in das Berliner Velodrom. Danach zieht die Karawane am 26. November weiter nach St. Quentin-en-Yvelines – hier wurden Mitte Oktober die Weltmeister 2022 gekürt. Der Abschluss ist analog zu 2021 mit einer Doppelveranstaltung am 2. und 3. Dezember in London. Im Sprint werden der klassische Sprint und das Keirin gefahren. Die Wettbewerbsformate sind deutlich komprimierter als bei einer WM oder EM – es folgt quasi Lauf auf Lauf, zudem sind die Rennen kürzer. Auf eine normalerweise zähe Sprint-Qualifikation wird verzichtet. Auch das Scratch-Rennen ist für das TV weiter verdichtet und geht nur über 20 Runden (5 Kilometer), normalerweise fahren die Männer 15 und die Frauen 10 Kilometer. Zweite Disziplin im Ausdauerbereich ist das klassische Ausscheidungsfahren. Olympiasieger, Welt- und Europameister: Viele Top-Fahrer und -Fahrerinnen sind auch in der zweiten Saison dabei. Herausragender Athlet bei den Männern ist der Niederländer Harrie Lavreysen. Der 25-Jährige ist der dominierende Sprinter der vergangenen Jahre, gewann zweimal Gold bei den Olympischen Spielen in Tokio und ist inzwischen elfmal Weltmeister. Bei den Frauen ist erstmals Laura Kenny dabei. Mit fünf Goldmedaillen bei Olympischen Spielen ist die Britin eine der erfolgreichsten Athletinnen im Radsport überhaupt. Insgesamt sind 72 Sportler (36 Frauen, 36 Männer) aus 25 Nationen am Start. Im Ausdauerbereich sicherten sich 2021 Trophäe und Preisgeld Katie Archibald aus Großbritannien und Gavin Hoover aus den USA. Im Sprint der Männer setzte sich wie erwartet Harrie Lavreysen durch. Das Trio ist wieder dabei. Im Sprint der Frauen ging der Premieren-Erfolg an Emma Hinze aus Cottbus. Die Titelverteidigerin sagte ihre Teilnahme 2022 ab. »Mein Körper sagt mir, dass ich die Akkus wieder aufladen sollte. Jetzt ist die Zeit gekommen«, sagte Hinze. Die 25-Jährige will bis zur EM in der Schweiz eine Pause einlegen. Neben der Vorjahreszweiten Lea Sophie Friedrich ist erstmals Pauline Grabosch (beide Cottbus) im Sprint-Bereich der Frauen eingeladen. Friedrich, inzwischen siebenfache Weltmeisterin, ist nach ihrem starken WM-Auftritt eine der Top-Favoritinnen auf den Gesamtsieg und legte einen guten Start auf Mallorca hin. Ihr Debüt gibt auch Lea Lin Teutenberg aus Köln im Ausdauerbereich. Im Sprint der Männer ist Stefan Bötticher am Start. Der Chemnitzer überzeugte 2021 vor allem im Keirin und belegte bei der Premiere den zweiten Platz. Im Ausdauerbereich Männer bekam der Berliner Moritz Malcharek eine Einladung. Seine Fahrkarte war die Silbermedaille bei der Europameisterschaft in München im Scratch. 500 000 Euro an Preisgeld werden ausgeschüttet. Die Sieger der vier Kategorien erhalten jeweils 25 000 Euro. Ein Laufsieg wird beispielsweise mit weiteren 1000 Euro honoriert. Emma Hinze als erste Champions-League-Siegerin Sprint fuhr so in der vergangenen Saison 31 050 Euro an Preisgeld ein. Zum Vergleich: Für den Sieg im Sprint-Turnier bei der EM in München gab es nur 670 Euro vom europäischen Verband UEC. Neben den für den Bahnradsport hohen Preisgeldern überzeugt die neue Serie des Weltverbandes mit zwei weiteren Punkten. Alle Teilnehmer erhalten Punkte für die Ranglisten der UCI und sind damit schon so gut wie sicher für die nächste Weltmeisterschaft im August 2023 in Glasgow qualifiziert. Dank einer auf acht Jahre angelegten Partnerschaft der UCI mit dem Medienriesen Discovery Sports, der »Mutter« des Sportkanals Eurosport, sowie einer umfassenden Social-Media-Strategie hat die UCI Track Champions League in ihrer ersten Saison eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Alle Rennen werden live und frei empfangbar im TV übertragen. Diskutiert wird der Termin. Die Serie liegt kurz nach dem eigentlichen Saisonhöhepunkt im Bahnradsport, der Weltmeisterschaft. Aufgrund der Rennen im November fehlen in diesem Jahr im Ausdauerbereich nahezu komplett Profis aus der World-Tour – die müssen sich bereits auf die nächste Straßensaison vorbereiten. Viele der Sprinterinnen und Sprinter haben nach der WM Urlaub gemacht und reisen nicht in Top-Form an. Gerade im Ausdauerbereich wird auch das Format diskutiert. »Wenn man Pech hat, fährt man sich länger warm als man Wettkampf hat«, kritisiert Doppel-Weltmeister Roger Kluge aus Ludwigsfelde. Die Veranstalter haben auf die Kritik reagiert und ein Punktefahren außerhalb der Champions-League-Wertung zusätzlich ins Rennprogramm genommen. »Die Stimmung bei meiner Premiere in Palma de Mallorca war total cool. Es ist ein bisschen wie bei den Sixdays: einfach lockerer und entspannter«, sagt Teutenberg. Die WM-Vierte im Ausscheidungsfahren kam direkt aus ihrer Saisonpause. »Für mich ist es nicht so schlecht, dass die Rennen etwas kürzer sind und die Belastung nicht so hoch ist. Ich bin schon in der Vorbereitung für meine nächste Straßensaison«, so die 23-Jährige. Bötticher genießt es und ist dankbar für die Plattform, die der Bahnradsport erhält: »Natürlich ist es ein kompletter Unterschied zu anderen Wettbewerben. Hier sind immer nur 20 oder 25 Minuten Zeit zwischen den Rennen. Das macht den Wettbewerb aber auch wieder spannend.« Für die Vorjahres-Zweite Friedrich ist es »einfach eine geile Show«. | Thomas Juschus | Fast alle Sportarten spielen inzwischen in der Champions League. Seit 2021 hat auch der Bahnradsport seine »Königsklasse«. An diesem Samstag ist die neue Rennserie erstmals in Berlin zu Gast. Wie läuft die Liga? | Bahnverkehr, Berlin, UEFA Champions League | Sport | Sport Bahnradsport Champions League | 2022-11-18T12:49:23+0100 | 2022-11-18T12:49:23+0100 | 2023-01-20T16:57:36+0100 | https://www.nd-aktuell.de//leserbrief/?id=1126129 |
Realistischer Kunstkapitalismus | Ist das Kunst oder kann das weg? Diese Frage konnte man sich öfter schon Anfang des letzten Jahrhunderts stellen, zum Beispiel, als Marcel Duchamps »Das große Glas« (1915 – 1923) erstmals ausgestellt wurde. Das Werk besteht aus einer zweiteiligen Glasplatte, auf der fremdartige apparathafte Formen zu sehen sind, die sich nicht als bestimmte Objekte oder Aussagen deuten lassen. Der alternative Titel des Werks, »Die Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar« erschließt sich einem erst recht nicht. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich führt Duchamps Glasplatte in seinem Buch »Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie« als musterhaftes Beispiel für die autonome Kunst der Moderne an: Es ist ein sprödes, rätselhaftes Werk, dem sich der Rezipient exegetisch nähern muss und das er doch nie ganz verstehen wird. Das theoretische Rüstzeug für einen solchen Kunstbegriff des Enigmatischen lieferte zum Beispiel Theodor W. Adorno mit seiner posthum erschienenen »Ästhetischen Theorie« (1970). Adorno zufolge birgt wahre Kunst einen utopischen Gehalt. Um ihn erfassen zu können, muss man sich der Eigenlogik des autonomen Kunstwerks gänzlich hingeben. Wahre Kunst verweigert sich demnach dem einfachen Verständnis bzw. dem unbedachten Konsum. Wenn man heute Museen für moderne Kunst besucht und etwa die minimalistischen Malereien von Agnes Martin oder die disproportionalen Kritzelfiguren von Paul Klee betrachtet, dann ist man mit diesem hergebrachten Kunstverständnis durchaus gut beraten. Man muss diese Werke mit seinem kulturgeschichtlichen Wissen verknüpfen, um etwas aus ihnen ziehen zu können. Wem der moderne Kunstbegriff des Enigmatischen allerdings schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, der sollte sich mit Ullrich daran erinnern, dass mit der gesamten Kultur auch unsere Vorstellung von Kunst stets historischem Wandel unterworfen ist. Selbst die Philosophie Adornos ist, wie er übrigens selbst erkannte, ein Produkt ihrer Zeit – nämlich des westlichen Spätkapitalismus. Was wir heute unter dem Begriff »Kunst« rubrizieren, könnte also schon bald nicht mehr als solche gelten. Wie Ullrich ausführt, luden erst die Philosophen des 18. Jahrhunderts wie Friedrich Hölderlin und Friedrich Schlegel den Kunstbegriff mit tiefsinniger Bedeutung auf. Die Kunst sollte die Menschen von der Entfremdung in der modernen Gesellschaft befreien und dem Einzelnen eine bessere Zukunft ermöglichen. In einer immer säkularer werdenden Gesellschaft lebten religiöse Vorstellungen in ihr fort. Dabei folgte sie einer Logik der Selbstdementis: In kurzen Abständen definierten die Avantgarden jeweils die Bedingungen, dafür, was unter Kunst zu verstehen sei, neu; die jeweils alten wurden verworfen. Allerdings führte genau dieses ständige Verwerfen von Vorangegangenem Ende des 20. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Entleerung des Kunstbegriffs. Wenn alles zur Kunst erklärt werden kann, ist sie dann nicht auch irgendwie egal? Das leitet hin zu Ullrichs buchtitelgebendem Gegenstand, nämlich der Kunst »nach dem Ende ihrer Autonomie«. Damit ist die zeitgenössische Kunstwelt gemeint. Anhand anschaulicher Beispiele beschreibt Ullrich diese Sphäre, in der eine Kunst vorherrscht, die sich leicht konsumieren lässt, oder die klare politische Botschaften oder Angebote zur Partizipation enthält. Aber gibt es die autonome Kunst denn gar nicht mehr?, mag man sich fragen. Ganz klar lässt sich die Trennung zwischen diesem und jenem Zeitalter sicher nicht ziehen. Ullrichs Aussagen treffen jedoch als Beschreibung einer Tendenz zweifellos zu. Die Kunst drängt heute aus ihrem selbstreferentiellen System, aus den weißen Wänden des Museums, sie ist nicht mehr nur oder gar hauptsächlich für intellektuelle Kunstkenner gemacht. Maßgeblich hat das Ullrich zufolge etwas mit der Globalisierung und den Sozialen Medien zu tun: Neue Käuferschichten aus Asien und der arabischen Welt, die nicht mit dem autonomen Kunstbegriff vertraut sind, haben wenig Probleme damit, Kunstwerke als Markenprodukte zu betrachten – ohne ihnen mit der quasireligiösen Ehrfurcht der westlichen Moderne gegenüberzutreten. So war es zum Beispiel möglich, dass der Künstler Jeff Koons 2017 in einer Kooperation mit der Luxusmarke Louis Vuitton Taschen mit berühmten Gemälden bedrucken und damit einen Riesenerfolg erzielen konnte. Kunst und Konsum widersprechen sich schon lange nicht mehr. War ihre Zusammenführung zu Zeiten Andy Warhols noch eine Provokation, schert sich nun kaum jemand mehr darum. Manchmal geht es nun bei der neuen Kunstproduktion offenbar auch einfach darum, die Menschen sich besser fühlen zu lassen. Ullrich führt als Beispiel das Art Toy »Little Cloud« an, eine weiße Wolke mit Gesicht, die es in ganz verschiedenen Ausführungen – etwa als Plastikfigur, Lampe oder Krypto-Kunst – zu kaufen gibt. Little Cloud sei eine Projektionsfläche, aber anders als ein Artefakt der modernen Kunst eine gewesen sei – es handele sich um ein Markenprodukt, das je nach Ausführung und Form verschiedene Funktionen erfüllen könne und das sich mit seiner kindlich-süßen Ästhetik einer tiefsinnigen Interpretation geradezu verweigere. Kann man da noch von Werk sprechen? Ullrich schlägt vor, diesen Begriff nur für die autonome Kunst der Moderne zu gebrauchen. Kunstspezifische Fragen und kunsthistorische Genealogien träten in der postautonomen Kunstwelt in den Hintergrund. Das alles klingt wie eine Verfallsgeschichte. Eine solche möchte Ullrich aber gerade nicht erzählen. Zwar stellt er fest, dass der utopische Kunstbegriff der Moderne abhanden gekommen sei. Allerdings habe die Kunst nun vielleicht dennoch utopisches Potenzial – denn es gehe nun oft darum, politisch Stellung zu beziehen und die Welt zu verbessern. Anstelle traditioneller Kunstkriterien träten nun politisch-moralische Gesichtspunkte, so dass sich etwa ein Exponat für eine Ausstellung qualifizieren könne, wenn es besonders anschaulich von einer Unterdrückungs- oder Minderheitengeschichte erzähle. Als Vorreiterin für diese neue kunstpolitische Ausrichtung könne etwa die Dokumenta 2017 gelten. Anders als in der Moderne, schreibt Ullrich, in der die Verheißungen noch auf eine metaphysische – absolute – Wahrheit oder eine völlig neue Weltordnung gerichtet waren, gehe es nun darum, einen diesseitigen Glauben an eine humane Gesellschaft zu stärken und Wege zu ihr aufzuzeigen. Dagegen lässt sich einwenden: Ist dieser Unterschied, also der zwischen einer neuen Weltordnung und mehr demokratischer Teilhabe an den bestehenden Verhältnissen, nicht ein Unterschied ums Ganze? Die Entwicklung der Kunstwelt lässt sich als Teil einer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung begreifen: Konkurrierten noch bis zum Zerfall der Sowjetunion zwei große politische Systeme und Ideologien miteinander auf der Weltbühne, scheint die Schlacht heute geschlagen zu sein. Heute erscheint das westlich-kapitalistische Gesellschaftsmodell als die beste aller möglichen Welten im kollektiven Imaginären. Kapitalismus und Fortschritt fallen vermeintlich in eins: Die Geschichte schrumpft damit zu einer Vorgeschichte der kapitalistischen Gegenwart, die das bereits erreichte Telos bildet. Der Kulturtheoretiker Mark Fisher nannte dieses ideologische Gerüst »kapitalistischen Realismus«. In dieser Vorstellung gibt es einzig die Möglichkeit, den Kapitalismus gerechter und sozialer zu gestalten und nicht, ihn abzuschaffen. Daran wollen sich nun auch Kunstschaffende offenbar immer mehr und expliziter beteiligen. Zugegeben: Es fällt schwer, die neuen Kunstprodukte, die sich ohne erkennbaren doppelten Boden affirmativ zu ihrem Status als Waren verhalten, als irgendwie emanzipatorisch zu begreifen – auch wenn sie, wie etwa die von der afroamerikanischen Künstlerin Faith Ringgold designten Sneaker, auf soziale Missstände verweisen. Doch vielleicht verbirgt sich hinter dieser Abwehrhaltung nur das westlich-elitäre Weltbild der Kritikerin? Das insinuiert zumindest Ullrich. Auch wenn man mit ihm damit nicht übereinstimmen mag, ist die Lektüre von »Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie« bereichernd, weil sie die eigenen vermeintlichen Gewissheiten über Kunst auf den Prüfstand stellt. Es ist ein Thema, über das man streiten sollte, auch anhand einzelner Objekte und Aktionen. Wolfgang Ullrich: Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. Wagenbach, 192 Seiten, 22 €. | Larissa Kunert | Die autonome Kunst und der Werkbegriff sind am Ende, konstatiert der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich. Das solle aber nicht verdrießlich stimmen. | Feuilleton | Kultur Kunst | 2022-06-10T15:19:42+0200 | 2022-06-10T15:19:42+0200 | 2023-01-20T18:16:40+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1164449.kunst-realistischer-kunstkapitalismus.html |
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Provokation am Jahrestag | Die Ankündigung steht: Radikale Unabhängigkeitsbefürworter wollen die katalanische Metropole Barcelona am 21. Dezember lahmlegen. An diesem Tag will der spanische Regierungschef Pedro Sánchez von der sozialdemokratischen PSOE in der Stadt eine Sitzung seines Ministerrates abhalten: in Barcelona statt wie üblich in Madrid. Es ist mit massiven Behinderungen zu rechnen. Schon in den vergangenen Wochen haben »Komitees zur Verteidigung der Republik« (CDR) im Stil der französischen Gelbwesten Autobahnen blockiert und Zahlstellen geöffnet. Zum zweistündigen Generalstreik hat die Gewerkschaftskonföderation CSC aufgerufen, die unter anderem die Anhebung des Mindestlohns auf 1200 Euro und die Rücknahme von zwei Arbeitsmarktreformen fordert. Die größeren Gewerkschaften sind außen vor. Jeden Tag lesen rund 25.000 Menschen unsere Artikel im Internet, schon 2600 Digitalabonennt*innen und über 500 Online-Leser unterstützen uns regelmäßig finanziell. Das ist gut, aber da geht noch mehr! Damit wir weiterhin die Themen recherchieren können, die andere ignorieren und euch interessieren. Hier mitmachen! Zum Streik rufen auch Studenten- und Schülervereinigungen auf, sowie die beiden großen zivilgesellschaftlichen Organisationen Katalanischer Nationalkongress (ANC) und Òmnium Cultural, deren Präsidenten Jordi Sànchez und Jordi Cuixart seit 14 Monaten inhaftiert sind. Sie sollen eine Rebellion angeführt haben. Beide sind zentrale Organisatoren der Mobilisierungen, bei denen seit 2012 ein bis zwei Millionen Menschen für die Unabhängigkeit von Spanien auf die Straße gehen. Eine größere Entspannung, die nach dem Regierungswechsel im Juni in Madrid vom rechten Mariano Rajoy von der Volkspartei PP zum gemäßigteren Sozialdemokraten Pedro Sánchez in Teilen erwartet wurde, ist ausgeblieben. Eine neue Zuspitzung ergab sich zum Beispiel durch den Hungerstreik von vier politischen Gefangenen, darunter der frühere ANC-Präsident Jordi Sànchez (siehe Interview). Pedro Sánchez, der im Juni nur mit Stimmen der katalanischen Unabhängigkeitsparteien an die Schalthebel in Madrid kam, versprach Dialog, der bisher ergebnislos blieb. Deshalb befindet sich Spanien im Vorwahlkampf, da Sánchez keinen eigenen Haushalt beschließen kann und das Land somit auf vorgezogene Neuwahlen 2019 zustrebt. Der »Schachzug« des Regierungschefs mit der Kabinettssitzung in Barcelona wird hier als »mehrfache Provokation« gesehen. Mit massiven Protesten, so erklärte Mireia Boya, soll der Sánchez-Regierung gezeigt werden, dass sie »in Katalonien nicht willkommen ist«. Die Parlamentarierin der linksradikalen CUP verweist gegenüber dem »nd« darauf, dass sich die Regierung ausgerechnet am 21. Dezember hier versammeln will. »Er führt sich wie ein Kolonialherrscher auf, der in der Kolonie seine Macht zeigen will.« Am 21. Dezember 2017 fanden unter spanischer Zwangsverwaltung vorgezogene Regionalwahlen in Katalonien statt, bei der das Unabhängigkeitslager wie 2015 eine knappe absolute Mehrheit im Parlament errang. Eigentlich fänden Sitzungen dieser Regierung Donnerstags statt. Extra wurde sie auf Freitag in Barcelona verlegt, wo es seit dem Ende der Franco-Diktatur 1975 und dem folgenden Übergang zur Demokratie keine Sitzungen des spanischen Kabinetts mehr gegeben habe, so Boya. »Da wir die Wahlen erneut gewonnen haben, wird seither verhindert, dass der Präsident ins Amt kommt, der auch gewählt wurde und wir die Programme umsetzen, mit denen wird gewählt wurden«, sagt Boya. Sie blickt auch auf den Hungerstreik »unserer politischen Gefangenen«. Auch wenn von der CUP bisher niemand inhaftiert sei, seien alle Gefangene der Bewegung auch die der CUP. Einen wirklichen Dialog wolle Sánchez mit dem katalanischen Regierungschef Quim Torra nicht führen, weshalb er das Angebot mit Provokationen anreichert, um ihn unmöglich zu machen. Ohnehin habe Sánchez schon im Vorfeld rote Linien eingezogen, über ein Unabhängigkeitsreferendum oder das Selbstbestimmungsrecht werde er nicht sprechen, kündigte er angesichts der Kritik von Konservativen bis Ultrarechten an, die Katalonien sofort wieder unter Zwangsverwaltung sehen wollen. Ein Unabhängigkeitsreferendum, »das hier 80 Prozent der Bevölkerung fordern«, sei der einzige Ausweg. »Es wird Zeit, dass wir zu zählen beginnen«, meint Boya, die glaubt, dass längst eine Mehrheit die Unabhängigkeit will. Dass in Spanien nun offen faschistisch auftretende Parteien wie VOX in Parlamente gewählt werden, stärke die Bewegung weiter. Allerdings vermisst sie auf der Ebene der Parteien derzeit eine gemeinsame Strategie, die es im vergangenen Jahr gab, als auch gegen die spanische Staatsgewalt das Referendum durchgesetzt oder massiv gegen die Repression gestreikt wurde. »An der Basis sind wir aber geeint.« | Ralf Streck, Barcelona | Kurz vor Weihnachten droht der Streit zwischen Spaniens Zentralregierung und den Unabhängigkeitsbefürwortern in der politischen Krisenregion Katalonien erneut zu eskalieren. | Katalonien, Spanien | Politik & Ökonomie | Politik Katalonien | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1108449.provokation-am-jahrestag.html |
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Volksbühne in Tempelhof | Architekt Francis Kéré und Volksbühnen-Intendant Chris Dercon haben am Montag einen ersten Teil ihres geplanten Satelliten-Theaters vorgestellt. In Hangar 5 des stillgelegten Flughafens Tempelhof ließ Kéré eine Tribüne für 400 Zuschauer errichten, die mit Holz verkleidet und mit Stoff verhüllt werden soll. Zu Kérés bekanntesten Projekten gehört das Operndorf des 2010 verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief in Burkina Faso. Als »flexibel und radikal einfach« bezeichnete Dercon die Arbeit Kérés für die Volksbühne, die sich mit der Satelliten-Spielstätte in die Stadt öffnen soll. Die Volksbühne würde laut Dercon gerne jedes Jahr im Herbst und möglicherweise im Sommer in dem mobilen Theater in Tempelhof spielen. Derzeit fehlt jedoch noch das Geld für die Fertigstellung. Mit der gegenwärtigen Basisförderung der Volksbühne sei das im Moment finanziell nicht zu leisten, sagte Dercon. Premiere feiert der neue Theaterraum im Hangar 5 dennoch am 14. September bei der Uraufführung des Tanzstücks »A Dancer's Day« von Choreograph Boris Charmatz. Der Franzose eröffnet am 10. September mit dem zehnstündigen Tanzspektakel »Fous de Danse« auf dem Tempelhofer Feld auch offiziell die erste Spielzeit unter der Intendanz von Dercon. Der Belgier ist Nachfolger des langjährigen Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf. dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Tanz, Theater | Feuilleton | Kultur | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1062734.volksbuehne-in-tempelhof.html |
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Alt genug zum Blumenkaufen | Das könnt ihr doch, oder?«, fragt die Mutter, nachdem sie ihrer fünfjährigen Tochter Sako und deren gleichaltriger Freundin Konatsu den Einkaufszettel erklärt hat. Eben haben sie noch mit Einhornkuscheltieren und Barbies gespielt. Jetzt sollen sie was für den Haushalt tun: »Ihr kennt doch das Hutgeschäft Tsuruya bei der Grundschule? Kauft dort mal je einen Hut in Größe M.« Und wenn sie schon auf dem Weg sind, sollen sie auch noch Früchte mitbringen, sagt die Mutter. Die beiden Kinder nicken, ziehen sich ihre Masken ins Gesicht, schnallen sich leere Rucksäcke auf ihre Rücken und tapsen Hand in Hand auf die Straße. Während das Publikum vorm Fernseher gleich große Verwirrung oder Gefahr erwarten mag, meistern Sako und Konatsu ihre Aufgabe souverän. Über den Zebrastreifen, über eine stark befahrene Straße. Dann sagt Sako: »Größe M. Weißt du noch?« – »Ja«, nickt Konatsu, sie weiß noch. Im Hutgeschäft reiben sie zuerst Desinfektionsmittel in die Hände, lassen sich dann beraten und bezahlen. Nach dem Obsteinkauf geht›s schließlich zurück nach Hause. Geschafft. In Japan sind es Bilder, die man manchmal live auf der Straße beobachten kann, vor allem aber regelmäßig über den Fernseher sieht. Die Serie »Hajimete no otsukai«, was auf Deutsch in etwa »Mein erster Auftrag« bedeutet, ist hier seit Jahrzehnten ein Quotenschlager. Kinder, die teilweise sogar erst zwei Jahre alt sind, werden mit Aufgaben betraut, die eigentlich nicht für Kinder bestimmt scheinen: Einkaufen, Botschaften an Nachbarn übermitteln und einiges mehr. Manchmal kommt es zu Tränen, aber in der Regel gibt es ein Happy End. Das Gesamtprodukt ist derart happy und entzückend, dass es seit Kurzem auch für den Weltmarkt produziert wird. Die Onlinebezahlplattform Netflix hat »Hajimete no otsukai« für das internationale Publikum in »Old Enough!« umgetauft und machte aus den Episoden von je mehreren Stunden einzelne Folgen von etwa zehn Minuten und bewirbt sie seit einigen Wochen intensiv auf seiner Plattform. Und schon ist in mehreren Ländern eine Debatte entbrannt: Sei die Sendung nicht gefährlich, grausam, irgendwie insgesamt kinderfeindlich? In Japan werden solche Fragen kaum gestellt. Das liegt nicht nur daran, dass die Sendung schon seit Anfang der 90er Jahre praktisch dem ganzen Land bekannt ist. Hier wirkt das Setup auch nicht so realitätsfern wie in vielen anderen Ländern. Das ostasiatische Land hat im internationalen Vergleich etwa kaum große Probleme mit Straßenkriminalität oder Verkehrsunfällen. Auch deshalb pendeln Kinder schon im jungen Alter mit der U-Bahn, wenn es der Schulweg erfordert. Beim TV-Produkt »Hajimete no otsukai« geht es allerdings nicht nur um die Aufgaben, die Kinder bewältigen können, sondern um das Amüsement eines meist erwachsenen Publikums. Niedliche Protagonisten, eine heile Welt und ein kleines bisschen Spannung ohne große Fallhöhe – was allerdings eine Mischung ist, die auch anderswo funktioniert. Im deutschsprachigen Raum hatten schon TV-Sendungen Erfolg, in denen Kinder ihre erwachsene, reife oder altkluge Seite zeigten. Von Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre begeisterte etwa das aus den USA übernommene Format »Dingsda« ein großes Publikum. Kleinkinder sollten Prominenten komplizierte Begriffe erklären. Einige fielen auf Babysprache zurück, andere beeindruckten mit elaboriertem Vokabular. Wer von den Prominenten mehr Begriffe erriet, gewann den Wettbewerb. Die wahren Stars aber waren die Kinder. Vor vier Jahren legte die ARD die Sendung neu auf. In Japan dagegen war »Hajimete no otsukai« nie weg. Und Netflix ist auch nicht das einzige Unternehmen, das das Konzept auf weiteren Märkten einführt. Schon vor einigen Jahren startete etwa der singapurische TV-Sender CNA eine Show unter dem Namen »Old Enough«, die genauso aufgebaut ist wie das japanische Original. »Wir dachten, es wäre doch spannend zu sehen, wie unabhängig Kinder in Singapur sind«, erklärte Poh Kok Ing, Produzent der Serie, den Entschluss. Die Sendung deutete an, dass auch im für seine öffentliche Sicherheit bekannten südostasiatischen Stadtstaat die Kinder gut unterwegs waren. Ähnlich sieht es in Südkorea aus, wo auch schon Versionen des Konzepts umgesetzt werden. Da sagt der Vater seinem kleinen Sohn Sungjae: »Wenn du zum Metzger gehst und Schweinebacke bestellst, wird er dich fragen, wie viel. Und dann sagst du: ›Gib mir 600 Gramm!‹« Der kleine Sungjae wiederholt alles, übt einmal. Und macht sich auf den Weg. Bei jeder dieser Episoden bleibt nicht nur der Eindruck zurück, dass junge Menschen schon zu einigem fähig sind, wenn man es ihnen nur zutraut. Im Ursprungsland Japan wie auch in Singapur und Südkorea offenbart sich zudem – trotz regelmäßiger Safety-Checks vor der Produktion – die hohe öffentliche Sicherheit. So könnten die großen Aufgaben für die kleinen Menschen auf dem Weltmarkt noch einmal mehr beeindrucken. Verfügbar auf Netflix | Felix Lill | Mit zwei Jahren allein im Supermarkt und Curry kaufen? Die in Japan seit Jahrzehnten erfolgreiche Sendung «Hajimete no otsukai» («Mein erster Auftrag») schickt Kleinkinder auf Alltagsafari, um Dinge zu erledigen. | Japan, Kinder, Sicherheit | Serienkiller Serienkiller "Old Enough" | 2022-04-26T16:00:37+0200 | 2022-04-26T16:00:37+0200 | 2023-01-20T18:39:39+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1163262.serienkiller-old-enough-alt-genug-zum-blumenkaufen.html |
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Hoffnung, Optimismus, Fortschritt | »Kein Grund zur Euphorie, aber ein solides Ergebnis«, auf diesen Nenner brachte Wahlkampfchef und Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn in dieser Woche das Abschneiden der LINKEN bei der Europawahl. Einem kleinen prozentualen Verlust stehe der Zugewinn von rund 200.000 Stimmen gegenüber. Unmittelbar nach der Wahl hatte die Spitze der Linken das Ergebnis als einen »Grund zur Freude und zum Feiern« bezeichnet. Auch von einem »starken und unübersehbaren Signal für ein soziales Europa« war die Rede, wenngleich die Tatsache, dass man sich in der Partei mehr ausgerechnet hatte, auch nicht verschwiegen wurde. Linkenchef Bernd Riexinger sprach von einem »kleinen Wermutstropfen«, Linksfraktionschef Gregor Gysi wollte das Ergebnis zwar feiern, aber sah keinen Anlass »zum in die Luft springen«.
Spitzenkandidatin Gabi Zimmer sagte, man habe angestrebt, »dass die Linken aus Deutschland gestärkt in das Europaparlament kommen«. Sie bedauerte, ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Tom Strohschneider | »Kein Grund zur Euphorie, aber ein solides Ergebnis«, bilanzierte Linken-Geschäftsführer Höhn das Abschneiden bei der Europawahl. Eine »gründliche Wahlauswertung« soll es auf der Klausur des Vorstandes Anfang Juli geben. | Europawahlen, LINKE, Matthias Höhn | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/934574.hoffnung-optimismus-fortschritt.html |
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»Einen Partner brauche ich hier ja nicht« | Ein fröhlicher Hase ziert das Vereinslogo. »Cross Country Hoppers«, so heißt der Verein, dem sich Margit Schirmer aus Hamburg-Niendorf vor sechs Jahren angeschlossen hat. Und mit gut 30 gleichgesinnten »Querfeldein-Hüpfern«, die sich in drei Linien formiert haben, absolviert die 50-jährige Hausfrau nun eine Folge von ausgefeilten Schritten, nach rechts angetäuscht und links gesteppt, zwei forsche Stampfer und gleichzeitig locker geschnippt. »Line Dance« in der Pausenhalle der Grundschule Heidberg im nördlichen Speckgürtel der Hansestadt. Jeans und Cowboystiefel als Outfit dominieren, aus dem Lautsprecher hören wir die Country-Sängerin Shania Twain. Der Gruppentanz ist ein US-Import und hat sich dort während des 20. Jahrhunderts entwickelt. Wobei die Wurzeln viel tiefer in die Vergangenheit reichen: Paarweises Gehopse und Gewalze ist aus kulturgeschichtlicher Sicht ein relativ neues Phänomen, rhythmische Bewegung im Kollektiv ist die ursprüngliche Version, die bereits für gute Laune in der Horde sorgte. »Line-Dance«, der Mega-Klassiker, seit der Mensch die ersten Weisen geschrammelt hat. Und zugleich aktuell und ziemlich praktisch in der modernen Welt der Großstadtsingles. »Ich tanze gern, aber momentan habe ich gerade keinen Partner«, erzählt Andrea Grantz (35) dem ND-Reporter. Die Callcenter-Agentin ist vor zwei Jahren zu den »Cross Country Hoppers« gestoßen: »Einen Partner brauche ich hier ja nicht, und gleichzeitig habe ich in unserem Klub viele Gleichgesinnte gefunden.« Andere wiederum leben zwar in einer Ehe oder festen Beziehung, doch die zweite Hälfte des Paarverbundes – meist sind es die Männer – hat sich mittlerweile verabschiedet vom Sturm und Drang, als alles begann. Damals ... als ohne Ende in der Disco durchgetanzt und später im gleichen Tempo höllisch verliebt die Party auf der sturmfreien Bude fortgesetzt wurde. Nun zieht es die Männer eher zum gemütlichen Fußball in der Glotze plus Bier und Chips. Entsprechend hilft »Line Dance«, einen Modus vivendi zwischen den verschiedenen Präferenzen der Geschlechter zu finden. »Mein Mann hat einfach keine Lust zum Tanzen«, sagt Margit Schirmer, »na gut, dann bleibt er eben zu Hause.« Keine Überraschung demnach, dass die Frauen das Rückgrat der »Line Dance«-Szene bilden und die Herren deutlich in der Minderheit sind. Einmal in der Woche treffen sich die »Cross Country Hoppers« zum Trainingsabend und üben mit ihrem Instructor neue Choreografien ein. »Step left to left, side swaying onto left, sway onto right, sway onto left, touch right beside left!«, kommandiert Übungsleiterin Anke Kohlsdorf, und diszipliniert folgt ihr die Truppe, niemand tanzt aus der Reihe, die bekannten Profis von der »River Dance«-Show können's auch kaum besser. Linientreue, die – weil Tanz – ausnahmsweise mal Spaß macht. Und nebenbei noch die Generationen vereint: Zu den Jüngeren zählt die 18-jährige Kerrin, die sich von ihrer Mutter hatte überreden lassen, den »Line Dance« auszuprobieren. Inzwischen ist die Biologiestudentin selbst Fan geworden, es sei ziemlich entspannend, »den Stress des Tages in der Gruppe einfach wegzutanzen«, findet sie. Zumal die »Cross Country Hoppers« nicht ausschließlich auf Countryseligkeit fixiert sind. Erst spielt Instructorlady Anke Kohlsdorf einen Bossa Nova an, dann folgt Shakira und holt ein wenig WM-Stimmung zurück in die Grundschule Heidberg: »Waka Waka«! Vielleicht jagt das ja doch die eine oder andere männliche Couch-Potato vom Sofa hoch.
Weitere Informationen unter: www.cross-country-hoppers.de | René Gralla | Wir haben's einfach mal probiert: Frauen sind das tanzende Rückgrat der »Cross Country Hoppers« | Irland, Tanz | Feuilleton | Kultur | https://www.nd-aktuell.de//artikel/185643.einen-partner-brauche-ich-hier-ja-nicht.html |
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Wohnen in Woyzeck | Nach fast zwei Jahrzehnten Wartezeit weckt ein neues Buch von Emine Sevgi Özdamar beträchtliche Erwartungen. Mit ihrer Istanbul-Berlin-Trilogie »Sonne auf halbem Weg«, erschienen von 1992 bis 2003, hatte sich die Berlinerin, geboren 1946 in Malatya, als prägnante Stimme der deutschsprachigen Literatur Gehör verschafft. In ihrem über 700 Seiten starken Roman »Ein von Schatten begrenzter Raum« verhilft sie dieser Trilogie zu einem furiosen Crescendo. Es ist ein autobiografischer Roman, eine materialreiche Lebensschau, in der sie die ästhetischen Koordinaten eines Werdegangs verhandelt und dessen Topoi energetisiert: Istanbul, Stadt der Militärputsche und Hinrichtungen; das zweigeteilte Berlin, stets attribuiert als »Draculas Grabmal«; schließlich Paris, Stadt der Liebe und des Lichts. Özdamar rekonstruiert das kunstsinnige Flair der späten 70er Jahre in Paris in berührenden Episoden. Dorthin ist sie dem Brecht-Schüler Benno Besson gefolgt, um an der Inszenierung des »Kaukasischen Kreidekreises« mitzuwirken. Mit ihm hatte sie in Ostberlin gearbeitet, nachdem sie sich 1976 in einen Zug gesetzt hatte und von Istanbul nach Westberlin gefahren war. Vor Paris macht sie einen längeren Abstecher ans Bochumer Schauspielhaus. Gerufen von Matthias Langhoff, der ihr den Ort als »Schlafstadt der Sozialdemokraten« beschrieb. »Die Häuser«, berichtet sie ihrer Mutter in Istanbul, »haben schwarze Gesichter, früher lebten dort Grubenarbeiter. Es gibt in der Nähe vom Theater das Bergmannsheil. Da hörst du Männer krank husten, Arbeiter aus den früheren Zechen. Aber das Theater, sagt man, sei das beste Theater Deutschlands.« Dort begegnet sie Regisseuren wie Heiner Müller, Luc Bondy oder George Tabori und schreibt ihr erstes Stück »Karagöz in Alamania« (Schwarzauge in Deutschland), das einen türkischen Arbeiter und seinen Esel auf die Bühne bringt. Da das Lasttier in Alamania beschäftigungslos ist, entwickelt es sich zum belesenen Marxisten, während sich sein Besitzer der bekannten Narrengestalt angleicht. 1980 inszeniert Langhoff in Bochum »Lieber Georg«, einen Text von Thomas Brasch, der Georg Heym nachspürt, jenem expressionistischen Dichter, der 1912 mit nur 24 Jahren beim Schlittschuhlaufen starb, als er seinem Freund, der ins Eis eingebrochen war, helfen wollte. In dem Stück kann sich Özdamar einzig mit Heym identifizieren, »dem Dichter, der auf dem Eis sterben wird, in der Vorkriegsatmosphäre eines Landes zerbrechen wird, wo der Faschismus seine Spuren zeigt.« Im Pariser Bataclan» besucht sie 1978 ein Konzert der britischen Punkband The Stranglers. Von einem schmalen Balkon der ersten Etage bittet sie ein junger Mann um eine Zigarette. «Genau 37 Jahre später, genau in dieser engen Gasse, wird eine schwangere Frau sich an einem schmalen Fenstersims in der zweiten Etage des Bataclan hängend festhalten und ›Hilfe‹ rufen und sagen: ›Ich bin schwanger.‹» Am 13. November 2015 überfällt ein Terrorkommando des Islamischen Staats im «Bataclan» ein Konzert der US-Metalband Eagles of Death Metal und richtet ein Blutbad an, bei dem 89 Menschen ermordet werden. . Deren Ende wird für sie eingeläutet mit der triumphalen Rückkehr Khomeinis am 1. Februar 1979 von Paris nach Teheran. Dass alle zukünftigen Kriege Religionskriege seien, erklärt ihr Heiner Müller. Der Roman beginnt auf einer türkischen Insel. Ein windiges Eiland. Hier spürt sie den Schicksalen vertriebener griechischer Türken nach. Hier reift ihr Entschluss, die Heimat zu verlassen, nach Europa zu gehen. Hier ist sie den warnenden Stimmen der Krähen ausgesetzt, die sie begleiten werden: «Wenn du gehst, gehst du als Charlotte Corday oder als Ophelia von hier fort und kommst dort in Berlin als Putzfrau an.» Prophezeiungen, die sich zu erfüllen scheinen, als sie in «Lieber Georg» als türkische Putzfrau improvisiert: «Ist Putzfrau keine Rolle?» Die Krähen setzen ihr zu, bis zum dramatischen nächtlichen Finale, in dem die Ich-Erzählerin auf die Lagerfeuer der Migranten am Berliner Oranienplatz blickt und sich zugestehen muss, dass die Warnungen der Vögel berechtigt waren. «Jeder Intellektuelle in der Emigration», zitiert sie Adorno, «ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will.» Özdamar berichtet von den Gräben zwischen der Türkei und Europa und dem zerrissenen Dasein von Migranten. Ein Kollege fragt die Erzählerin nach einem türkischen Wort: «Hannes, wir haben in der Türkei keinen Endiviensalat, das Wort gibt es nicht auf Türkisch.» «Kann noch kommen.» «Ja, wenn die Türkei in die EG kommt.» Für sie ist die «Grenzenlosigkeit des Herzens» eine Voraussetzung zur Aufhebung kultureller Grenzen, nicht aber der Unterschiede. Und doch fühlt sie sich in die «türkische Schublade» gezwängt; erlebt die Folklorisierung des Werks, im Feuilleton abgefeiert als Beispiel gelungener Integration. «Soll Deutschland […] nur eine Tür sein, durch die man durchkann oder nicht?» Der doppelten Diskriminierung als Türkin und türkische Schriftstellerin entspricht eine umfassende Unbehaustheit: «Wo wohnen Sie, Madame?» Immer wieder hält sie dieser Frage sanfte Antworten entgegen: «Im Lächeln eines armen Drehorgelspielers» oder «In den glänzenden Augen von Brasch und Bondy» oder aber «in Woyzeck», dem berühmten Stück von Georg Büchner: Wohnen in der Sprache also. «Ich lebe mit den Toten in einem Schuhkarton.» Auf ein solches Buch haben wir lange gewartet. Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Suhrkamp, 763 S., geb., 28 €. | Alfons Huckebrink | Istanbul, Ostberlin, Paris, Bochum und die Warnungen der Krähen: «Ein von Schatten begrenzter Raum» ist Emine Sevgi Özdamars großer Roman über ihr Leben als Intellektuelle in der europäischen Emigration. | Berlin, Frankreich, Literatur, Roma, Theater, Türkei | Feuilleton | Kultur Roman »Ein von Schatten begrenzter Raum« | 2022-08-03T13:49:55+0200 | 2022-08-03T13:49:55+0200 | 2023-01-20T17:50:02+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165816.roman-ein-von-schatten-begrenzter-raum-wohnen-in-woyzeck.html?sstr=T%C3%BCrkei|1980 |
»Ich habe sehr viele Spiegel zerschlagen« | Wie geht es Ihnen? Ganz gut, ich bin ein bisschen aufgeregt, weil ich gestern eine Zusage bekommen habe, dass ich in China in einem Museum ausstellen könnte. Abgefahren, wie kam es dazu? Das ist ein Ausstellungsprojekt für einen kulturellen Austausch für europäische und chinesische Künstler*innen. Ich hatte mich zuerst mit meinem Debüt, dem verspiegelten Auto, beworben, aber das ist wohl zu groß für die Reise. Vielleicht fliege ich mit den kleineren Projekten. Erst mal aufregend! Total, herzlichen Glückwunsch! Sasha Gold ist Ihr Künstlerinnenname. Davor waren Sie als »Szene-Strafanwältin« Alexandra Wichmann bekannt. Diesen Job haben Sie vor zwei Jahren wegen Ihrer Gesundheit aufgegeben. Können Sie erzählen, was los war? Das war alles nach G20. Aber insgesamt ist Strafverteidigung sehr stressig. Das können glaube ich alle, die diesen Job machen, unterschreiben. Man muss im Gericht immer funktionieren, den ganzen Tag präsent sein, und für die Leute geht es immer um sehr viel. Da ist viel Druck im Spiel. G20 war zusätzlich eine hohe Belastung für alle Anwält*innen, die dort mitgewirkt, die Protestierenden verteidigt und versucht haben, quasi die Grundrechte zu verteidigen. Ich habe nicht gesehen, dass sich das ändern wird. Der Beruf hat mir Spaß gemacht, und wenn’s mit weniger Workload gehen würde, hätte ich das auch fortgeführt. Aber ich habe Stresssymptomatiken bekommen und schließlich für mich entschieden, dass es mir wichtiger ist, dass es mir gut geht. Was sehr viel Mut erfordert. Gerade Jura ist ein krasses Studium, für das man viel Zeit opfert. Wie war das Gefühl, alles fallen zu lassen? Mir wurde nicht eingetrichtert, dass es immer wichtig sei, Sachen durchzuziehen. Vielleicht hatte ich es vom Mindset her einfacher. Es gibt Menschen, die krass darauf gepolt sind, zu Ende bringen zu müssen, was sie angefangen haben. Ich habe das so gedeutet: Ich will die Erfahrung nicht missen. Ich will das Jurastudium nicht nicht gemacht haben, ebenso wie die Arbeit als Strafverteidigerin. Es ist total interessant, diese Einblicke zu haben. Ich habe interessante Menschen getroffen und sehr viel Wissen angesammelt. Das bereue ich nicht. Das war ein Teil Ihres Lebens und jetzt kommt der nächste. Genau. So sehe ich das. Konnten Sie sich darauf vorbereiten? Nicht so richtig. Als ich angefangen hatte im Anwaltsbüro Schulterblatt36 zu arbeiten, das als Kollektiv organisiert und in dem Feld tätig war, das mich interessierte, dachte ich tatsächlich: Das mache ich bis zur Rente. Das hat mir damals auch ein bisschen Angst gemacht. Die Entscheidung aufhören, habe ich dann doch recht plötzlich getroffen. Wieso sind Sie überhaupt Rechtsanwältin geworden? Als es um die Wahl des Studiums ging, habe ich mich sehr an meinem Vater orientiert, der auch Jurist ist. Ich hatte mir Anerkennung erhofft. Meine Mutter meinte damals zu mir, ich solle das auf gar keinen Fall studieren. Diese starren Regeln und auch die Menschen konnte sie sich für mich gar nicht vorstellen. Während des Studiums habe ich mich gefragt, was ich mit dem Staatsexamen eigentlich machen will. Strafverteidigerin oder Anwältin kam am meisten mit meinen Überzeugungen überein. Ich habe auch über den Bereich Asylrecht nachgedacht. Als Rechtsanwältin haben Sie Betroffene von Polizei-Razzien vertreten, sich für einen chronisch Kranken eingesetzt, der Hanf für den Eigenbedarf anbaute und eine Klage gegen einen Spitzeleinsatz in der linken Szene eingereicht. Was hat Sie am meisten beschäftigt in dem Beruf? Die Verfahren mit den Menschen, denen vorgeworfen wurde, Kleinstmengen an Marihuana an der Hafenstraße verkauft zu haben. Die haben mich berührt. Das waren Geflüchtete, bei denen häufig nicht klar war, ob sie traumatisiert waren. Dann werden sie in Unterkünften irgendwo weit weg von Städten untergebracht, was für junge Menschen furchtbar ist. Wie alle Mitte 20 haben sie das Bedürfnis nach Leben, Arbeit, Selbstverwirklichung. In Hamburg wurde es üblich, dass Haftstrafen im Raum stehen, wenn der Vorwurf lautete, 0,5 oder ein Gramm Marihuana verkauft zu haben. Jedenfalls wenn Geflüchtete die Beschuldigten waren. Im Gefängnis ist es auch schwieriger für Menschen, die kein Deutsch sprechen. Du bist im absoluten System, aber du verstehst die Regeln nicht. Ich habe oft miterlebt, wie unfair sie behandelt wurden. Rassismus im Gefängnis. Haben Sie auch weniger belastende Momente als Anwältin erfahren? Es sind natürlich immer witzige Geschichten dabei, die das Leben so schreibt. Eine gewisse Komik hat immer ein selbstverschuldetes Verhalten, das zur Strafverfolgung führt. Ich hatte Mandanten, die einen Rucksack in der Bahn vergessen hatten, wo klar war, dass sich eine nicht unerhebliche Menge Drogen darin befindet und kein Perso. Die Person hat sich dann trotzdem bei der Bahn oder dem Hamburger Verkehrsverbund gemeldet und nach dem Rucksack gefragt. (lacht) Solche Sachen sind natürlich tragisch, aber bringen einen auch zum Schmunzeln. Sie leben eher in einer linken Bubble. Würden Sie behaupten, so ein extremer Berufswechsel ist hier einfacher? Das ist ein bisschen zwiespältig. Was die Kunst anbelangt würde ich sagen, ja, auf jeden Fall ist so eine Entscheidung einfacher. Es bestehen glaube ich mehr Kontakte zu niedrigschwelligen künstlerisch tätigen Menschen oder Räumen, die man nutzen kann. In meinem privaten Umfeld haben mich viele supportet, weil sie gesehen haben, wie es mir mit dem Anwältinnenberuf ging. Andererseits gibt es auch einen gewissen Erwartungsdruck, dem linke Anwält*innen ausgesetzt sind, und natürlich ist es für die Szene auch immer traurig oder enttäuschend, wenn jemand aufhört. Ich habe viel Verständnis für die Entscheidung erfahren, aber trotzdem ist es eine gewisse Form von Druck, weiter zur Verfügung zu stehen. Enttäuschung erzeugt auch Druck. Sie haben sich »ausgerechnet« für Kunst entschieden. Ich war eigentlich schon immer kreativ tätig. Ich habe eine ganze Zeit lang abstrakte Spraykunst gemacht - aber immer nur so nebenbei. Das, was ich jetzt mache, ist sehr zeitaufwendig. Und das auszubauen, war mir jetzt erst möglich. Zwischendurch hatte ich bei Kulturevents, Partys und Festivals kleine Installationen gemacht und dabei gemerkt, dass ich am meisten Spaß habe und es mir am besten geht, wenn ich eine Woche lang minutiös so einen Floor gestalten und da wirklich in Kleinstarbeit versinken kann. Ihr erstes Projekt ist ein verspiegeltes Auto. Als ich das erste Mal davon gehört habe, hat es mich wieder an diese kapitalistische Welt erinnert, aus der Sie geflohen sind. Spiegel sind ein Symbol für Narzissmus. Ich habe alle umsonst bekommen, es waren Wegwerf-Objekte. Aber im Überfluss vorhanden. Die Leute, die mir ihre alten Spiegel geschenkt haben, waren alle so froh, dass sie jetzt noch eine Bestimmung bekommen haben. Wie kommt das, dass so viele Menschen so etwas zu Hause stehen haben, obwohl sie sie nicht mehr brauchen? Wenn man einen Spiegel wegschmeißt, schmeißt man sich sozusagen in dem Moment selbst weg. Außerdem bringen Spiegelscherben Pech. (überlegt) Ich hab jetzt sehr viele Spiegel zerschlagen. (lacht) Aber Sie haben sie zu etwas Neuem zusammengefügt. Ja. Vielleicht heißt das, dass ich jetzt alle verkleben muss, so dass keine Scherben übrig bleiben. Ich mag den Titel des Spiegel-Autos: »Why Not? Everybody’s Darling«. Wo kommt er her? Das »Why not« ist zufällig entstanden, weil ich es so lustig fand, wie verschieden Leute darauf reagiert haben. »Everybody’s Darling« ist eine Person, die von allen gemocht wird. Das wird eigentlich eher über Frauen gesagt. Das Auto ist eine »Sie«. Die sehr aufwendige Verwandlung in eine Schönheit spielt darauf an, dass Frauen nach wie vor einem krassen Schönheitsideal unterliegen und ihnen krasse Erwartungen entgegengesetzt werden. Beliebt sein ist immer noch daran gekoppelt, wie Frau aussieht. Und das durch alle Gesellschaftsschichten hinweg. Das mag in linken Kontexten weniger sein, aber ich glaube, auch da ist der Druck auf Frauen recht hoch, gut auszusehen. Sie machen noch mehr Dinge mit Spiegeln. Spiegel und Objekte, die nicht mehr gebraucht und als wertlos angesehen werden. Das Durchfahrt-Verboten-Schild habe ich auch vom Schrottplatz. Es ist von der Sonne ausgeblichen und verbeult. Der Titel ist »Where are my boundaries?«. »Wo sind meine Grenzen« ist eine Frage, die zunächst einfach wirkt, aber eigentlich ist es ein lebenslanges Projekt, die Antwort darauf herauszufinden. Auch eine genderspezifische Betrachtung ist sehr spannend. Die Frage stellt sich für weiblich sozialisierte Menschen auf andere Art und Weise. Sie sind darauf gepolt oder so sozialisiert, zu gefallen. Das steht im Fokus, und sie merken oft erst im Nachhinein, dass sie gewisse Dinge gar nicht wollten. Nur die andere Person wollte es, deswegen haben sie es mitgemacht. Und das hier (zeigt auf einen Mini-Mercedes für Kinder, der halb mit Spiegeln beklebt ist) steht für diese frühzeitige Polung auf den Kapitalismus. Dem Kind frühzeitig beizubringen, dass das ihr Lebensziel sein wollte, impft sofort einen kapitalistischen Druck ein. Der Titel ist »Projection / what about the boys?«. Ich glaube nämlich überhaupt nicht, dass das Spielzeug unbedingt Eltern kaufen, die selbst einen Mercedes fahren. Sondern dass das eine Projektion von ihren eigenen Wünschen ist, die sie nicht erfüllt bekommen haben. Was auch traurig ist. Man projiziert viele Wünsche in die eigenen Kinder. Meine Vermutung ist, dass mehr Jungs dieses Auto geschenkt bekommen als Mädchen. Ihr Debütprojekt entstand, während die Welt wegen Covid-19 einen Stillstand erleben musste. Wie hat das Ihre Arbeit beeinflusst? Tatsächlich hat diese Situation die Realisierung möglich gemacht. Das Auto stand irgendwo in Schleswig-Holstein auf einem Grundstück von einem Bauern, wo ich jedes Mal hätte hinfahren müssen. Da das Dockville-Festival nicht stattfinden konnte, kam mir der Gedanke zu dessen Gelände hier in Wilhelmsburg. Die Leute vom Dockville haben mir das ermöglicht und auch immer nettes Feedback gegeben. Die Pandemie hat Ihnen geholfen. Ja, und es war ein passendes Projekt, weil ich in den Zeiten, wo man sich sozial distanzieren musste, draußen aber trotzdem alles voll war, hier auf dem Gelände alleine arbeiten und viel draußen sein konnte. Für mich ist der Lockdown deswegen auch psychisch nicht so anstrengend. Da habe ich eine sehr privilegierte Position. Was dürfen wir noch von Ihnen erwarten? Feministische Themen sind mir auf jeden Fall sehr wichtig. Kunst ist ja auch etwas, was man selbst erlebt hat. Also alles, was man so erfahren hat, drückt man irgendwie in dem künstlerischen Objekt aus. Das ist teils bewusst und teils unbewusst. Das zweite Thema ist Asyl und Asylrecht, Rechtsprechung und juristische Sprache. Ich habe eine grobe Idee für eine zukünftige Installation, um das von diesem sehr abgeschlossenen Rechtsraum zu transportieren. Wie alles juristisch formuliert und gewertet wird, ist für den »Durchschnittsmenschen« nicht so einsehbar. Das ist ein Thema, das mir vor dem Auto noch durch den Kopf ging. Lustigerweise werden da auch Spiegel Teil sein. Am Ende fließt die Anwältin-Persona also wieder mit dem Künstlerinnen-Ich zusammen. Wie geht es Ihrer Work-Life-Balance jetzt? Darüber habe ich in den letzten Tagen auch nachgedacht. Ich arbeite schon viel, wenn man alles zusammenrechnet. Aber ich muss nicht sechs Tage die Woche zehn Stunden arbeiten, die mit Prozessen voll sind. Ich bin freier und kann mir Auszeiten nehmen und mir geht’s total gut damit. | Leonie Ruhland (Text) und Leon Salner (Fotos) | Sasha Gold war mal die Szene-Anwältin Alexandra Wichmann. Sie vertrat
Demonstranten, die nach dem G20-Gipfel angeklagt wurden. Jetzt steht sie nicht mehr im Gericht, sondern baut Skulpturen. Im Interview erzählt sie
von ihrer Suche nach Anerkennung, dem Erwartungsdruck aus der linken Szene. | G20, Interview, Kunst | Feuilleton | Kultur Sasha Gold | 2021-02-05T12:08:58+0100 | 2021-02-05T12:08:58+0100 | 2023-01-21T04:32:31+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1147941.sasha-gold-ich-habe-sehr-viele-spiegel-zerschlagen.html |
»Weil die Regierung pleite ist« | Iran ist in Aufruhr. Seit vergangenem Freitag demonstrieren in vielen Städten Tausende gegen die Regierung. Diese reagiert mit Gewalt, manche Quellen sprechen bereits von über 200 Toten. Warum sind die Menschen so wütend? Der Auslöser war die Verdreifachung des Benzinpreises sowie die Rationierung der Vorräte. Hinzu kommt, dass diese Entscheidung völlig überraschend verkündet wurde. Von den einfachen Leuten wusste niemand darüber Bescheid. Die Regierung hat eines Tages gesagt: Morgen kostet das Benzin dreimal so viel. Innerhalb weniger Stunden wurde die angekündigte Preiserhöhung umgesetzt. Das hat Einfluss auf sämtliche Lebensbereiche: Plötzlich kosten Lebensmittel auch drei Mal so viel, das ganze Leben kostet auf ein Mal drei Mal so viel. Das hat in vielen eine unglaubliche Angst ausgelöst. Deshalb ist das Volk nun auch so wütend. Aber die wirtschaftliche Situation in Iran ist schon seit Langem schwierig. Das Land kämpft mi... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Philip Malzahn | In Iran protestieren in vielen Städten Tausende von Menschen. Die Menschen sind wütend, weil sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen verschlechtert hat. Doch es sind kaum Informationen aus dem Land zu bekommen. | Benzinpreise, Iran, Protestbewegung | Politik & Ökonomie | Politik Iran | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1128982.iran-weil-die-regierung-pleite-ist.html |
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Rock’n Roll-Tanz auf Krücken | Der junge Mann steht mitten im Raum. »Ich heiße Sascha, ich bin 27 Jahre alt«, sagt er. »Die Hälfte meines Lebens bin ich in der Szene aktiv.« Er zeigt mit dem Finger auf eine imaginäre Stelle. »Da habe ich früher geschlafen«, sagt er und streckt den Arm in eine andere Richtung: »Hier habe ich immer meine Transaktionen gemacht. An- und Verkauf.«
Sascha ist obdachlos. Früher hat er im »Bonner Loch« gewohnt. Das ist der Platz nach der Unterführung, die vom Bahnhof in die Fußgängerzone der ehemaligen Hauptstadt der BRD führt. Offiziell heißt dieser Abschnitt »Klanggrund«, weil hier eine Installation des Klangkünstlers Sam Auinger aufgebaut ist. Lange traf sich hier die Drogenszene der Umgebung, bis sie vertrieben wurde und zum nahegelegenen Busbahnhof umzog. Hier war auch lange Saschas Zuhause, er wohnt nun unter einer Eisenbahnbrücke. Jetzt steht er in einem großen Ballettsaal und probt mit anderen Ex-Junkies und mit professionellen Tänzern für das Stück »Bonnkrott - eine Stadt tanzt«. Choreografin Yoshiko Waki gibt Anweisungen. »Jetzt gehen alle dahin, wo der Sascha steht«, ruft sie in den Ballettsaal. Elf Leute bewegen sich auf den jungen Mann zu, der auf einem Hocker sitzt.
Die Tanztheater-Compagnie »bodytalk« von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart wird »Bonnkrott« am 3. Juli im »Klanggrund« uraufführen. Das Konzept für das Projekt stammt von Baumgart, Waki ist die Regisseurin. Finanziert wird es unter anderem von der Kulturstiftung des Bundes mit Mitteln des Sondertopfes »Kultur im öffentlichen Raum«. Neben professionellen Tänzern wirken Suchtkranke mit, die einen Teil ihres Lebens im »Bonner Loch« verbracht haben. Sie erzählen ihre Geschichte. »Das Bonner Loch ist für einige der Weg zum Zug, für andere der Weg vom Zug und unsere Leute sind da manchmal auf Entzug«, erklärt Baumgart.
Sascha ist seit acht Jahren auf der Straße. Kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes hat seine Freundin ihn hinausgeworfen. Er rutschte in die Drogenszene, kam auf Heroin. Seine Gesundheit ist ruiniert, er hat Hepatitis C, der Rücken ist kaputt. Lange war das »Bonner Loch« sein Wohnzimmer. »Ich habe eigentlich alles hier, bis auf eine Küche«, sagt er in dem Stück. »Das ist komisch, wo ich doch Koch gelernt habe.« Seit einiger Zeit ist er in einem Substitutionsprogramm, er nimmt Medikamente statt Heroin. Weil er keinen Suchtdruck hat, muss er nicht täglich Geld für Drogen besorgen. Die Proben machen im Spaß. »Ich habe ja jetzt Zeit«, sagt er. Sascha sitzt auf dem Barhocker, den Waki in den Ballettsaal gestellt hat. Mitspieler zerren an ihm, manche massieren ihn. Jeder hat einen Vorschlag. »Du musst das rational angehen«, sagt einer. Sascha hat von all den gut gemeinten Ratschlägen genug - im Leben wie im Stück. »Immer nur dieses Negative, ich will auch mal was Lustiges sehen«, ruft er.
Baumgart und Waki haben Sascha und die anderen Laien-Darsteller in einem Café für Junkies und ehemalige Drogenkonsumenten für das Projekt gewinnen können. Die professionellen Tänzer kommen unter anderem von der Berliner Volksbühne oder von der Deutschen Oper Berlin. Zu den eindrucksvollen Choreografien gehört ein Rock’n Roll-Tanz auf Krücken, mit dem das Ensemble in atemberaubender Geschwindigkeit den Raum füllt.
Für die 53-jährige Petra ist das Stück Teil eines Neuanfangs. »Tanzen ist meine Leidenschaft«, sagt sie. Auch Petra ist im Substitutionsprogramm. Sieben Jahre war sie clean, dann hatte sie einen Rückfall. Während sie ihre Geschichte erzählt, tanzt und schreit im Hintergrund der Tänzer Mack Kubicki. Nicht alle beteiligten Ex-Junkies wollen ihre Geschichte präsentieren. Judith, die eigentlich anders heißt, möchte ihre Erfahrungen nicht in aller Öffentlichkeit ausbreiten. Seit acht Jahren lebt sie ohne Drogen und wird substituiert. »Nur meine engsten Freude wissen davon«, sagt die 40-jährige.
Baumgart und Waki haben »bodytalk« 2008 gegründet, und seitdem eine ganze Reihe von Produktionen in öffentlichen Räumen realisiert. »Uns geht es um die Frage, was passiert, wenn Tanz und Realität aufeinandertreffen«, sagt Baumgart. Für die Produktion »Zig Leiber/Oi Division« über Neonazis im angeblich rechtsfreien Raum bekamen sie 2011 den Leipziger Bewegungskunstpreis. Wenn das Bonner Projekt abgeschlossen ist, werden die beiden mit dem Polnischen Tanztheater in Posen ein Stück entwickeln.
Tanztheater »Bonnkrott - Eine Stadt tanzt«, Premiere am 3. Juli 20 Uhr im »Klanggrund« Bonn am Hauptbahnhof, weitere Aufführungen v. 4. bis 6. Juli 20 Uhr; am 6. Juli auch 18 Uhr. Eintritt frei. | Anja Krüger, Bonn | Sascha ist obdachlos. Früher hat er im »Bonner Loch«, am Bahnhof in die Fußgängerzone. Er wirkt mit im Tanztheaterstück »Bonnkrott - eine Stadt tanzt«, neben professionellen Tänzern und ehemaligen Drogenkonsumenten. | Drogen, Sucht, Tanz, Theater | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/937531.rockrn-roll-tanz-auf-kruecken.html |
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Streit um Energiespar-Gutachten | Den großen Häuserblöcken in der Schönstraße in Weißensee sieht man nicht an, dass sie schon fast 80 Jahre alt sind. In den ehemaligen Sozialwohnungen leben noch viele MieterInnen mit geringen Einkommen, darunter Studierende und SeniorInnen mit kleiner Rente. Manche befürchten, dass sie sich ihre Wohnungen bald nicht mehr leisten können. Der Grund ist die Modernisierungsankündigung, die die Deutsche Wohnen, der die Häuser gehören, vor einigen Monaten an die MieterInnen der Blechenstraße 12-18, der Schönstraße 34-40, der Großen Seestraße 19-22 und der Parkstraße 72 verschickt hat. Zu den angekündigten Maßnahmen gehört auch eine energetische Sanierung. Für die BewohnerInnen ist klar, dass damit Mieterhöhungen auf sie zukommen. »Manche sind ausgezogen. Es stehen mittlerweile einige Wohnungen leer«, erklärt Sebastian Roos auf »nd«-Anfrage. Er gehört zu den MitbegründerInnen einer Initiative, in der etwa 30 MieterInnen aktiv sind. »Wenn wir eine Sanierung schon nicht verhindern können, fordern wir zumindest eine sozial verträgliche Modernisierung.«, so Roos. Schon vor einigen Wochen wandten sie sich an BezirkspolitikerInnen von LINKEN, SPD und Grünen. Dabei verwiesen sie auf ein Beispiel in ihrem Bezirk. In der Grellstraße 12 in Prenzlauer Berg bereitet die Deutsche Wohnen ebenfalls umfangreiche Baumaßnahmen vor. Nach Protesten der MieterInnen verständigten sich das Bezirksamt mit dem Unternehmen auf einen sozialverträglichen Ablauf der Modernisierungsmaßnahmen. Doch der zuständige Baustadtrat von Pankow, Vollrad Kuhn (Grüne), musste die Hoffnungen der MieterInnen enttäuschen, dass sich das Modell auch bei ihnen anwenden lässt. »Die Grellstraße liegt in einem Milieuschutzgebiet, die jetzt betroffenen Häuser nicht, daher ist eine solche Vereinbarung hier nicht möglich«, sagte Kuhn dem »nd«. Er sei aber mit der Deutschen Wohnen im Gespräch, um Streitpunkte zu klären. Dabei geht es auch um die Veröffentlichung eines Gutachtens zur Energieeinsparung durch die energetische Sanierung. Die MieterInnen fordern eine Kopie. Die Deutsche Wohnen erlaubt allerdings nur die Vervielfältigung einer kurzen Zusammenfassung. »Das Unternehmen ist nicht zur Veröffentlichung des Gutachtens verpflichtet«, bestätigt Kuhn die Rechtsauffassung der Deutschen Wohnen. »Spätestens wenn das Unternehmen die Mieter auf Duldung verklagt, wird sie wohl in den Gerichtsverfahren dieses Gutachten offenlegen. Vorher gibt es leider kein juristisches Mittel,« erklärt Anwältin Carola Handwerg, die die betroffenen BewohnerInnen berät. Sie verweist auf juristische Erfolge. Mehrere MieterInnen haben in erster Instanz gewonnen. Sie waren von der Deutschen Wohnen auf Duldung der Modernisierung verklagt worden. »Hier könnte sich ein Weg öffnen, bessere Bedingungen für die Sanierung auszuhandeln«, so Handwerg. Sie bedauert, dass sich nur ein kleiner Teil der MieterInnen wehrt. | Peter Nowak | Die Deutsche Wohnen will eine kleine Siedlung in Weißensee energetisch modernisieren. Einige MieterInnen sind gleich ausgezogen, andere kämpfen in einer Initiative für ihre Rechte. | Mieten | Hauptstadtregion | Berlin | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1073920.streit-um-energiespar-gutachten.html |
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Besonnenheit dringend nötig | Natürlich könnte es zu einem Durchbruch in der derzeit festgefahrenen Lage beitragen, würde sich die Exkanzlerin als Vermittlerin zwischen Moskau, Kiew und der Nato zur Verfügung stellen. Der entsprechende Vorschlag von Linksfraktionschef Dietmar Bartsch ist dennoch rein symbolischer Natur. Denn es ist unwahrscheinlich, dass Merkel ihrem im Vergleich zur US-Administration und zum diplomatischen Corps der Ukraine ebenfalls besonnen agierenden Amtsnachfolger dazwischenfunken wird. Außerdem hat Angela Merkel in ihrer Amtszeit trotz ihres vergleichsweise guten Drahtes zu Russlands Präsident Putin auch nicht viel zur Entspannung der seit langem schwelenden Krise um die Ukraine beigetragen. Ihren Außenminister Heiko Maas (SPD) hat sie jahrelang in Moskau diplomatisches Porzellan zerschlagen lassen. Dessen unversöhnliches Auftreten gegenüber seinem Amtskollegen trug maßgeblich zur Abkühlung des deutsch-russischen Verhältnisses bei. Und auch Merkel hat Nato-Manöver wie »Defender 2020« und die Stationierung deutscher Truppen im Baltikum mitgetragen. Zudem sind Kanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron erkennbar sehr bemüht, die Wogen zu glätten, das Normandie-Format wiederzubeleben, um die Staats- und Regierungschefs Russlands und der Ukraine an einen Tisch zu bekommen. Und dem eskalierenden Vorgehen der US-Administration mit ruhigen Tönen entgegenzuwirken. Das lobte auch Dietmar Bartsch, der richtigerweise die Notwendigkeit hervorhob, »gemeinsam mit Russland zu Lösungen zu kommen« und eine »Sicherheitsarchitektur schaffen, die dauerhaft trägt«. Bleibt zu hoffen, dass die genannten Politiker nicht auf die US-Forderung nach schnellem Nato-Beitritt der Ukraine einschwenken. | Jana Frielinghaus | Linksfraktionschef Bartsch schlägt der Bundesregierung vor, Angela Merkel um Vermittlung im Ukraine-Konflikt zu bitten. vermitteln zu lassen. Dabei hat die Ex-Kanzlerin real wenig zur Entspannung der deutsch-russischen Beziehungen beigetragen. | Angela Merkel, Die Linke, Dietmar Bartsch, Heiko Maas, Russland, SPD, Ukraine, USA | Meinung | Kommentare Ukraine-Konflikt | 2022-02-15T18:33:36+0100 | 2022-02-15T18:33:36+0100 | 2023-01-20T19:16:16+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1161390.ukraine-konflikt-besonnenheit-dringend-noetig.html |
Ein »Huh« auf die Frauen | »Huh!« Da war sie wieder - diese mitreißende Leidenschaft der isländischen Anhänger. Der Schlachtruf, der im vergangenen Sommer die Fußballfans während der EM der Männer europaweit entzückt hatte, erfüllte am Dienstagabend das Tilburger Stadion König Wilhelm II. Auch zur Europameisterschaft der Frauen sind sie wieder in Massen gekommen. Der Amsterdamer Flughafen Schiphol meldete insgesamt 10 000 Ankömmlinge von der Vulkaninsel. Geschätzte 2000 sahen nun das erste Spiel ihrer Fußballerinnen in der Gruppe C gegen Frankreich. Die 0:1-Niederlage trübte ihre gute Laune nur unwesentlich. Das »Allez les bleues« war nur dann im Stadion zu hören, wenn sich die isländischen Fans mal eine kurze Pause gönnten. Immerhin: Rund 1000 Anhänger hielten an diesem Abend zur Equipe Tricolore. Auch dieser Enthusiasmus begeistert Claire Lavogez. »In Frankreich gibt es viele Menschen, die Frauenfußball mögen«, war sich die französische Mittelfeldspielerin schon vor dem Turnier der großen Unterstützung aus der Heimat sicher. Eine Überraschung hingegen waren die Isländer bei der EM 2016 - die Fußballer und ihre Fans. Sollten die Zahlen aus Schiphol stimmen, könnte dieser Sommer noch erstaunlicher werden. Freyr Alexandersson ist davon überzeugt. »Am Sonnabend gegen die Schweiz werden noch mehr kommen. Und zum letzten Gruppenspiel gegen Österreich noch mal mehr«, sagte der Trainer der isländischen Fußballerinnen. Den Grund dafür, lieferte er auch gleich mit: »Egal ob Frauen oder Männer, egal ob schwarz oder weiß - wir Isländer sind eine Einheit.« Gelebte, wünschenswerte Normalität: Mit ihrem Baby auf dem Arm erzählte Islands Stürmerin Harpa Thorsteinsdottir nach dem Spiel von dem großen Kampf, den sie und ihre Mitspielerinnen dem Favoriten aus Frankreich geliefert hatten. Sie beklagte den Elfmeterpfiff, der in der 86. Minute schließlich die Entscheidung durch den verwandelten Strafstoß von Eugénie Le Sommer brachte. Klar, sie waren unterlegen: Die Französinnen schossen 20 Mal aufs isländische Tor und ließen den Ball meist ansehnlich laufen. Die Isländerinnen liefen mehr, als dass sie das Spielgerät hatten und kamen nur vier Mal zum Torabschluss. Einen Elfmeter hätten aber auch sie verdient gehabt. Das Foulspiel an Fanndis Fridriksdottir in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit blieb aber ungeahndet. »Wenn ich spiele oder trainiere, kümmert sich der Papa um unser Baby«, erzählte Thorsteinsdottir. Während des gesamten Turniers ist die Familie zusammen in den Niederlanden. Im April 2011 hatte die heute 31-Jährige ihren ersten Sohn geboren, drei Monate später spielte sie schon wieder Fußball. Sportlich waren die isländischen Auswahlfußballerinnen ihren männlichen Kollegen lange Zeit voraus. Die Männer konnten sich erst im vergangenen Jahr für das erste große Turnier überhaupt qualifizieren - sorgten dann aber mit dem Viertelfinaleinzug gleich für Furore. Für die Frauen ist es bereits die dritte EM-Endrunde, und schon vor vier Jahren schafften sie es ins Viertelfinale. Verglichen mit ihren Gegnerinnen vom Dienstagabend ist das aber immer noch eine kurze Geschichte. Am 7. April 1919 wurde der französische Fußballverband gegründet. Schon knapp ein Jahr zuvor hatten die Fußballerinnen ihre erste offizielle Partie gespielt. Der erste Verein entstand schon 1912: Femina Paris. Schnell folgten weitere in Marseille, Toulouse und Reims. Die erste Frauenmeisterschaft wurde dann 1919 bei der Verbandsgründung ausgetragen. 50 Jahre später traten die Französinnen zusammen mit Dänemark, England und Italien bei der ersten inoffiziellen Europameisterschaft an. Akzeptiert waren die Fußballerinnen in Frankreich von Beginn an. Im Laufe der Zeit wurden sie immer beliebter - auch durch ihre Erfolge. In den vergangenen acht Jahren gab es in der Champions League nur ein Finale ohne einen französischen Klub. In dieser Zeit gewann Olympique Lyon vier Mal den Titel - auch in dieser Saison, gegen Paris St. Germain. 14 Spielerinnen dieses Endspiels sind Teil des französischen Teams bei der EM. Sie haben Großes vor. Denn das Nationalteam konnte bislang noch keinen Titel bejubeln. Verkrampfen wollen sie bei ihrem Vorhaben nicht. Claire Lavogez lacht, als sie sagt: »Klar, wir werden gewinnen.« | Alexander Ludewig, Tilburg | Die Isländerinnen bewegen Massen, die Französinnen haben noch Großes vor. Der Favorit aus Frankreich gewann verdient mit 1:0, brauchte aber auch ein wenig Glück. | Frankreich, Fußball, Island | Sport | Sport | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1057974.ein-huh-auf-die-frauen.html |
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Stefan Raab: Manchmal kommen sie wieder. Na und? | Ostern ist zwar schon ein paar Tage her, aber trotzdem ist man in Unterhaltungsdeutschland noch ein bisschen in Aufruhr, weil just rund um die Feiertage Stefan Raab sein Comeback in den sozialen Netzwerken ankündigte. Grund genug für treue Stefan-Fans, diese Ankündigung zu feiern wie die Auferstehung des Messias. »Der Babo ist zurück«, freute sich Hip-Hop-Größe Haftbefehl. Die Polizei in Hannover nutzte den Dienst-Account, um sich als Servicestelle für etwaige Raab-Produktionen anzubiedern (»Wir stehen für Raab in Gefahr 2.0 jederzeit zur Verfügung«). Und Otto-normal-Fans forderten direkt: »Stefan for President!« Andere hingegen warnten vor der Rückkehr Raabs: Sein Programm habe immer schon für Klassismus, Rassismus, Schmäh-TV gestanden – und habe damit den Grundstein mitverlegt für das klassisch bekannte Mobbing-Fernsehen, das davon lebt, auf Kosten Schwächerer platte Witze zu machen, über die dann ein Millionenpublikum lachen kann. Als mich jedoch die Nachricht von Raabs Comeback ereilte, konnte sie mir egaler nicht sein. »Was soll Stefan Raab im deutschen TV denn noch schlimmer machen?«, fragte ich mich. Fast schon brav wirkten seine Comeback-Clips mit seinem ewigen Sidekick Elton, die bei Instagram Millionen und bei Tiktok weitaus weniger Menschen erreichten. Ein bisschen Fatshaming, ein bisschen Schießen gegen Influencer*innen, das Ganze so langweilig abgedreht, dass jede*r direkt weggeschaltet hätte, wären die »Hallo, da bin ich wieder!«-Videos nicht von einem TV-Promi ins Netz gestellt worden. Vielleicht aber sehe nur ich das so, weil ich schon seit Jahren quasi allergisch gegen deutsche TV-Produktionen bin und ich meinen Fernseher nur einschalte, um ganz schnell einen Streamingsender anzusteuern, der am besten gar nix mit muffigem Deutsch-TV zu tun hat. Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«. Sehr selten mache ich eine Ausnahme, zum Beispiel dann, wenn ich ahne, dass eine Produktion aus den hiesigen Gefilden außergewöhnliches Fremdscham-Potential hat. Das kommt ungefähr ein- bis zweimal im Jahr vor. In diesem Jahr war es passenderweise dann auch Ostern so weit: RTL beglückte zum zweiten Mal ein Millionenpublikum (dieses Mal auch mich) mit »Die Passion«, einer Mischung aus einem Deutsch-Pop-High-School-Musical und dem Vibe einer Open-Air-Oberstufen-Krippenspiel-Aufführung im niedersächsischen Plattland. Handlungsstrang dazu: Die letzten Stunden von Jesus, gespielt von Sänger Ben – beziehungsweise, an die Wand gespielt von Jimi Blue Ochsenknecht, der als Judas die Rolle seines Lebens spielte. Ochsenknecht, der sich vor ein paar Wochen noch als »unfreiwilliger Erzeuger« seiner einzigen Tochter im Netz blamierte, schien in »Die Passion« komplett in seiner Rolle aufzugehen als Verräterarschloch mit Reue-Tendenzen. Das kam Method Acting schon sehr nahe – inklusive ein paar Tränen, die er bei einem schauerlichen Duett von Falcos »Out oft the Dark« verdrückte. Sollte es ein zweites Cringe-TV-Highlight für mich in diesem Jahr geben, so weiß ich jetzt schon, dass es nicht der für September angekündigte Boxkampf zwischen Stefan Raab und Regina Halmich sein wird. Dieses Ereignis scheint mir zu elaboriert, zu subversiv, zu entwickelt für das, was in den vergangenen Jahren im deutschen TV ohne Stefan Raab passiert ist. Ja, man kann auf jeden Fall daran erinnern, dass Raab jede Menge Scheiße gebaut hat und vieles von dem, was er so auf die Mattscheibe geschickt hat, superproblematisch war. Und gleichzeitig kommt mir Raab nach Jahren, die man mit Dieter Nuhr, Oliver Pocher und Konsorten verbringen musste, fast schon vor wie ein kleineres Übel, weil neben problematischen Sendeinhalten zumindest noch die ein oder andere witzige Idee abfiel, über die man dann doch auch mitlachen konnte. Raab gefiel sich natürlich immer schon in der Rolle des Arschlochs – aber gleichzeitig war er auch ein innovativer Fleißarbeiter, der tatsächlich auch mal lustige Einfälle hatte. Er steht für mich für den Typus Mensch, der mir Ende der 90er auf unzähligen Bauernpartys in Ostwestfalen sturzbetrunken und mit einem süffisanten Lächeln gegenüberstand, um mich daran zu erinnern, wer hier der Ehrgeizigere von uns beiden war und die besseren Noten in Mathe hatte (ich war es nicht). Dementsprechend wird das, was Stefan Raab liefern wird, an mir vorbeirauschen wie die vergangenen sieben bis fünf Jahre TV-Total mit ihm, die ich erfolgreich ignorieren konnte. Ich werde die nächsten zwölf Monate einfach weiter die deutschsprachige TV-Landschaft ignorieren – und mich erst nächstes Ostern wieder blicken lassen. Nämlich dann, wenn (hoffentlich!) wieder »Die Passion« ausgestrahlt wird. | Nadia Shehadeh | Unsere Kolumnistin Nadia Shehadeh guckt in der Regel kein lineares Fernsehen. Deshalb ist ihr auch das Comeback von TV-Entertainer Stefan Raab egal. Über Ostern war sie trotzdem von einer TV-Sendung gefesselt. | Fernsehen, Kunst und Kultur | Meinung | Kommentare Fernsehen | 2024-04-05T13:16:49+0200 | 2024-04-05T13:16:49+0200 | 2024-07-02T10:51:53+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1181254.fernsehen-stefan-raab-manchmal-kommen-sie-wieder-na-und.html |
Nachwachsende Tropenwälder | Tropische Regenwälder wachsen von alleine nach - wenn man sie lässt. Und dann geschieht das schneller als Wissenschaftler bisher angenommen hatten. Millionen Hektar aufgegebener landwirtschaftlicher Nutzflächen in Lateinamerika und Afrika könnten auch ohne teure Aufforstungen zu Kohlenstoff speichernden Sekundär- und Primärwäldern werden. Dies zeigt eine kürzlich im Fachjournal »Science« veröffentlichte Studie. »Tropenwälder verschwinden in alarmierendem Tempo durch Abholzung. Aber sie haben auch das Potenzial, auf brachliegenden Flächen natürlich nachzuwachsen«, schreiben die Forscher. Landaufgabe aufgrund von Verlust der Bodenfruchtbarkeit oder Migration habe zu einer raschen Zunahme des Nachwachsens von Wäldern in den Tropen geführt. Gegenwärtig bedeckten nachwachsende Regenwälder eine Fläche von 2,4 Millionen Quadratkilometern allein in Lateinamerika und der Karibik. Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Wissenschaftler der Universität Wageningen und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig untersuchten die Waldentwicklung in 77 Regionen und 2200 Sekundärwaldflächen in Zentralamerika, Amazonien, der Atlantischen Regenwaldregion Ostbrasiliens sowie in Westafrika. Lässt man eine natürliche Waldregeneration zu, erlangten diese sogenannten Sekundärwälder bereits nach 20 Jahren im Durchschnitt fast 80 Prozent der für Primärwälder charakteristischen Merkmale, stellten die Forscher fest. Dies gelte etwa für die Fruchtbarkeit und Kohlenstoffbindung des Bodens, die Baumvielfalt und die Waldstruktur. Es dauere allerdings weitere 100 Jahre, bis sich wieder eine ähnliche Artenvielfalt herstellt und soviel Biomasse gespeichert wird wie in den ursprünglichen Regenwäldern. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass natürliche Regeneration eine kostengünstige, naturbasierte Lösung für den Klimaschutz, die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die Wiederherstellung von Ökosystemen darstellt. »Angesichts der lokalen und globalen Bedeutung der Sekundärwälder und ihrer raschen Erholung nach 20 Jahren befürworten wir die (unterstützte) natürliche Regeneration als kostengünstige, naturbasierte Lösung, um die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs), der UN-Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen (2020-2030), des UN-Klimaabkommens und des Übereinkommens über die biologische Vielfalt zu erreichen«, betont Nadja Rüger, Wissenschaftlerin am iDiv und eine der Co-Autorinnen der Studie. Soweit die gute Nachricht. Die schlechte betrifft Brasiliens Cerrado-Savanne. Seit den 1970er Jahren bis heute wurde mehr als die Hälfte dieses zentralbrasilianischen Ökosystems mit einer ursprünglichen Fläche von rund zwei Millionen Quadratkilometern abgeholzt, vor allem für den Soja- und Mais-Anbau und Rinderzucht auf künstlich angelegten Weiden. Daten der Arbeitsgruppe für die Sanierung degradierter Gebiete im Cerrado (GTPastagens) zufolge gibt es heute 23,7 Millionen Hektar degradierte Rinderweiden, wo sich der Cerrado wieder regenerieren könnte. Doch eine Forschungsarbeit mehrerer Universitäten und Institute von São Paulo zeigt, dass eine natürliche Regenerierung des Cerrado so gut wie unmöglich ist. In einer 2017 im »Journal of Applied Ecology« veröffentlichten Studie untersuchten die Forscher 29 Gebiete, die zuvor als Rinderweide genutzt wurden und drei bis 25 Jahre brach lagen. Sie stellten fest, dass viele der für den Cerrado typischen Pflanzen- und Tierarten nicht zurückkehrten, unabhängig davon, wie lange die Flächen zuletzt beweidet wurden. »Unsere Studie zeigt, dass eine natürliche Regenerierung des Cerrado im Grunde unmöglich ist«, erklärte die Co-Autorin der Studie Giselda Durigan vom Institut für Waldforschung in São Paulo. Auch 25 Jahre nach dem Ende der Beweidung durch Rinder fehlten in den nachgewachsenen Savannen 37 Prozent der ursprünglichen Arten - vor allem die einheimischen Gras-, Stauden- und Straucharten, die für eine Vielzahl von Säugetieren und Vögeln Nahrung und Lebensraum bieten. Als eine Hauptursache dafür, dass der Cerrado nicht natürlich nachwächst, identifizierten die Forscher die in der Rinderzucht eingesetzten, aus Afrika stammenden Grasarten. Deshalb brauche es beim Cerrado menschliches Zutun, um das ursprüngliche Ökosystem wiederherzustellen. Zuerst müssten die exotischen Gräser aus den aufgegebenen Flächen entfernt werden, erläutert die Forscherin. Der zweite Schritt sei die Wiederansiedlung einheimischer Cerrado-Grasarten. Die dritte und schwierigste Maßnahme sei die Wiedereinführung von Feuer als Waldmanagement. Der Cerrado ist ein seit Jahrtausenden an regelmäßige Buschbrände angepasstes Ökosystem mit zahlreichen Pflanzenarten, die sich ohne Feuer nicht verjüngen oder ausbreiten können. Wenn der Cerrado nicht alle drei oder vier Jahre brenne, so Durigan, komme es zur unvermeidlichen Verholzung und dem Verlust von Artenvielfalt. | Norbert Suchanek, Rio de Janeiro | Tropische Regenwälder wachsen von alleine nach und das schneller als Wissenschaftler bisher angenommen haben. Aufgegebene landwirtschaftliche Nutzflächen in Lateinamerika und Afrika könnten auch ohne teure Aufforstungen zu Kohlenstoff speichernden Sekundär- und Primärwäldern werden. | Savanne, Sekundärwald, Tropen, Urwald, Viehzucht | Feuilleton | Wissen Umwelt | 2022-03-04T20:13:30+0100 | 2022-03-04T20:13:30+0100 | 2023-01-20T19:06:11+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161902.umwelt-nachwachsende-tropenwaelder.html?sstr=Kohlenstoff |
Wir müssen über Faschismus reden | Der Jahresauftakt der Linkspartei am Wochenende war ganz und gar keine Routineveranstaltung nach dem Motto »Alle Jahre wieder«. Nicht nur, weil die Partei nun zeigen muss, ob und wie sie nach langer Selbstzerfleischung zu alter Politikfähigkeit zurückfindet. Sondern vor allem, weil das Wahljahr 2024 auf allen Ebenen im Zeichen eines Abwehrkampfs gegen rechts steht. Ob in Europa, Bundesländern oder Kommunen – überall steht vor der gesamten demokratischen Gesellschaft knallhart die Aufgabe, die immer aggressiveren Rechtsextremisten aufzuhalten. Ob sie mit Schlips und Kragen im Parlament sitzen oder mit Stiefeln und Trommeln aufmarschieren. Nazis terrorisieren vor Ort Demokraten und schmieden in Hinterzimmern Deportationspläne. Das ist Faschismus, der offen so benannt werden muss. Auch wenn nach den Landtagswahlen in Sachen Regierungsbildung schwierige, unangenehme Fragen auf Die Linke zukommen können – sie hat eine große Verantwortung im Kampf gegen den Vormarsch der Unmenschlichkeit. | Wolfgang Hübner | Auch wenn nach den Landtagswahlen Ost in Sachen Regierungsbildung schwierige, unangenehme Fragen auf Die Linke zukommen können – sie hat eine große Verantwortung im Kampf gegen den Vormarsch des Faschismus. | Die Linke, Faschismus, Nationalsozialismus, Rechtsradikalismus | Meinung | Kommentare Linkspartei | 2024-01-14T17:48:50+0100 | 2024-01-14T17:48:50+0100 | 2024-01-15T13:54:44+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179195.wir-muessen-ueber-faschismus-reden.html |
Rechtsruck in Sachsen: »Wir werden weitermachen« | Am 21. August sind Sie bedroht worden. Die Polizei ermittelt wegen Bedrohung und Volksverhetzung und hat den Staatsschutz eingeschaltet. Was ist passiert? Unser Demokratieförderverein hat eines der »Wahllokale« betrieben, in denen die U18-Wahl in Plauen stattfand. Diese finden bundesweit immer kurz vor Landtags- und Bundestagswahlen als eine Art Praxissimulation für Jugendliche statt. Schon morgens kam eine Berufsvorbereitungsklasse herein. Da gab es einen »rechten Block«. Die Jugendlichen haben immer wieder Kommentare in unsere Richtung gemacht. Die Lehrerinnen haben mich aber fast noch mehr aufgeregt: Eine von ihnen bediente die Hufeisentheorie, deutete also an, »Linke« seien genauso schlimm wie »Rechte«. Im Nachgang sagte eine Lehrerin sogar, wir seien doch selbst schuld, dass ihre Schüler hier so redeten. Und wie ging es weiter? Am Nachmittag, kurz vor Schließung des Lokals, kamen fünf Jungs herein und meinten: »Wir wollen die NSDAP wählen.« Ich habe gesagt, dass das zum Glück nicht mehr geht und dass alles Weitere auf den Wahlzetteln steht. Die haben sie dann auch genommen. Dann haben sie die Regenbogenfahne auf einem Tisch entdeckt. Sie wollten sie mitnehmen und verbrennen, meinten sie. Ich habe ihnen gesagt, dass das nicht gehe. Sie haben sich in die Tür gestellt und gesagt: »Aber zum CSD am Samstag, da kriegt ihr richtig auf die Fresse.« Ich habe sie gefragt, ob sie sich nicht schämten, ich könnte ihre Großmutter sein. Dann sind sie abgezogen. Vor einiger Zeit haben wir auch eine anonyme Drohung per E-Mail bekommen, dass uns demnächst mal gezeigt werde, wo es langgeht. Doritta Kolb-Unglaub ist geschäftsführende Vorständin des Demokratiefördervereins Colorido im sächsischen Plauen. Die 62-jährige Sozialpädagogin engagiert sich seit langem für Demokratie und politische Bildung, Inklusion und Integration und gegen jede Form von Diskriminierung. Ihr Verein ist nicht das erste Mal mit rechten Angriffen und Bedrohungen konfrontiert, oder? Nein, aber es hat eine andere Qualität, weil es so viele junge Leute sind. Bei den U18-Wahlen haben hier im Vogtlandkreis 54 Prozent der Jugendlichen für die AfD gestimmt. Seit ungefähr vier Wochen gibt es die »Vogtland-Revolte«, so nennen sie sich – seit der Christopher-Street-Day-Parade in Bautzen, die massenhaft von Nazis angegriffen wurde. In sozialen Medien hieß es: Das können wir im Vogtland auch. Aber es sind nicht mehr wie früher Leute, denen man ihre Gesinnung ansieht, so mit Springerstiefeln, sondern richtige Milchreisbubis, so hätte man die früher genannt, und auch Mädchen. Wer sie anführt und anheizt, wissen wir noch nicht. Die Polizei beobachtet sie, deshalb haben sie uns ernst genommen nach dem Vorfall bei der U18-Wahl. Dass die AfD in Thüringen stärkste Kraft geworden ist, hat sicher auch damit zu tun, dass mit 16 gewählt werden durfte. Ich war immer dafür, dass auch junge Menschen wählen dürfen. Aber hier muss erst Aufklärung erfolgen, und das leistet die Schule zu wenig. Was ist für Sie die Konsequenz aus der Bedrohungslage? In Greiz ist AfD-Landeschef Björn Höcke mit jungen Menschen Moped gefahren. Wir waren dort bei einem Demokratiefest. Auf dem Rückweg kamen uns vier Jugendliche entgegen. Der eine streckte den Arm und sagte: »Der Führer grüßt.« Ich habe nur noch auf den Boden geschaut. Wird es so werden in Zukunft, dass wir nur noch auf den Boden schauen? Ich war zu DDR-Zeiten Oppositionelle. Dass es jetzt wieder losgeht, finde ich furchtbar. Dieses Weggucken, damit man nicht als Andersdenkende erkannt wird. Deshalb schaue ich sehr kritisch auf die Wahlergebnisse und zwar nicht nur wegen der AfD. Es ist schlimm, dass auch das Bündnis Sahra Wagenknecht so viele Stimmen bekommen hat. Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost. Wie geht es jetzt für Ihren Verein und andere Initiativen weiter? Noch sind wir knapp an der Sperrminorität für die AfD in Sachsen vorbeigekommen. Aber es gibt schon Stimmen, die sagen, dass wir als Verein einfach aufhören sollten. Das werden wir nicht tun. Aber die Lage wird für uns natürlich nicht leichter, zumal Ministerpräsident Michael Kretschmer schon gesagt hat, dass wir froh sein sollen, wenn bis Weihnachten in Sachsen eine Koalition zustande kommt. Das heißt, dass Demokratie-Förderrichtlinien für das nächste Jahr frühestens danach verhandelt werden – da werden wir also erstmal gar nichts bekommen. Wir müssen jetzt dafür kämpfen, dass der Vogtlandkreis die »Demokratie leben!«-Fördergelder vom Bund beantragt, denn daran hängen viele tolle Projekte hier. Wir sind bundesweit und regional gut vernetzt. Wir kämpfen um das Demokratiefest, das jedes Jahr am 3. Oktober hier im Dreiländereck Sachsen-Thüringen-Bayern stattfindet und nun einer AfD-Veranstaltung weichen soll. Wir müssen den Resilienz-Muskel jeden Tag ein wenig stärken. | Interview: Yaro Allisat | Bei den U18-Wahlen im Vogtlandkreis stimmten 54 Prozent der Jugendlichen für die AfD. Am 21. August wurde der Verein Colorido in Plauen bedroht. Der kämpft nun gegen zunehmende Radikalisierung und um seine Existenz. | AfD, Bildungspolitik, Sachsen | Politik & Ökonomie | Politik Demokratie | 2024-09-12T17:37:51+0200 | 2024-09-12T17:37:51+0200 | 2024-09-16T17:56:33+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185221.demokratie-rechtsruck-in-sachsen-wir-werden-weitermachen.html?sstr=volksverhetzung |
Die Revolution muss sozialistisch sein | Gerne wird es zur Vorgeschichte der Europäischen Union das Manifest gezählt, das drei italienische Antifaschisten 1941, mitten im Krieg, auf der Gefängnisinsel Ventotene vor der Küste zwischen Rom und Neapel heimlich verfasst hatten. Auf dem Höhepunkt der Machtausweitung der Diktaturen Hitlers und Mussolinis rief es zu einer grundlegenden europaweiten sozialistischen Umwälzung auf. In seiner radikalen Abrechnung mit den gesellschaftlichen Ursachen, die zum Krieg geführt hatten, war es eindeutig. Die Herausbildung der Nationalstaaten sei zwar historisch ein mächtiges Moment zur Durchsetzung von Demokratie gewesen, selbst unter kapitalistischen Bedingungen. Doch deren Konkurrenz untereinander und die Unterwerfung der Gesellschaft unter zunehmend totalitär verfasste Staaten habe zur Krise und zu einem Zweiten Weltkrieg geführt, angezettelt vom deutschen Militarismus, dessen Triumph mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Ein Sieg der Alliierten würde jedoch allein nicht ausreichen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Diktaturen ermöglicht hatten, dürften nicht unangetastet bleiben. Also forderten die Verfasser eine grundlegende Umwälzung, die Europa vereinigen müsse und die Konkurrenz der Staaten untereinander aufheben würde. Sie fügten hinzu: »Die Revolution muss, soll sie unseren Bedürfnissen entsprechen, sozialistisch sein, das heißt, sie muss sich einsetzen für die Emanzipation der arbeitenden Klassen und für die Schaffung humanerer Lebensbedingungen.« Das Manifest mündete in eine Reihe konkreter, unmittelbar in Angriff zu nehmender demokratischer und sozialer Forderungen. Zu deren Umsetzung müssten Arbeiterschaft und Intellektuelle zusammenwirken. Die drei Verfasser standen für unterschiedliche Strömungen und Erfahrungen der italienischen Arbeiterbewegung. Hauptautor Altiero Spinelli, Jahrgang 1907, hatte sich 1924 der Kommunistischen Partei angeschlossen. Bereits nach drei Jahren geriet er in Haft und durchlitt die verschiedensten Gefängnisse, bevor er 1939 auf die Insel verbannt wurden. Da war er bereits aus der Partei ausgeschlossen worden, weil die Moskauer Schauprozesse kritisiert hatte. Einen ambivalenten politischen Weg hatte Ernesto Rossi, Jahrgang 1897, zurückgelegt. Er war an der Gründung der faschistischen Partei in Italien beteiligt, verließ diese aber noch vor Mussolinis »Marsch auf Rom« und schloss sich der manchmal liberalsozialistisch genannten Gruppierung Giustizia e libertà (Gerechtigkeit und Freiheit) an, in der sich republikanisch und antifaschistisch gesinnte Intellektuelle sammelten. Als einer ihrer Führer wurde er 1930 verhaftet. Der Dritte in der Runde, Ernesto Colorni, repräsentierte die sozialistische Strömung. Als Kontaktmann zwischen der Parteiführung im Exil und den im Untergrund in Italien wirkenden Genossen geriet er 1938 ins Visier der faschistischen Geheimpolizei. Hinzu kam, dass er aus einer jüdischen Familie stammte und auch in Italien sukzessive antisemitische Gesetze eingeführt wurden. Verheiratet war er übrigens mit Ursula Hirschmann, der Schwester eines Aktivisten der linkssozialdemokratischen Widerstandsgruppe Neu Beginnen in Deutschland, der später in den USA unter seinem amerikanisierten Namen Albert Hirschman ein bekannter, oftmals quer zur herrschenden ökonomischen Orthodoxie argumentierender Wirtschaftsexperte war. Das Manifest wurde von seinen drei Verfassern auf Zigarettenpapier geschrieben und durch die Ehefrauen von Rossi und Colorni nach Besuchen ihrer Männer aus der Haftanstalt auf Ventotene herausgeschmuggelt. Einzelne Passagen zirkulierten schon bald in der illegalen Presse der Resistenza, der italienischen Widerstandsbewegung. Doch erst nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943, der auch zur Freilassung der drei Autoren führte, erlebte deren Vision ein breiteres Echo, auch wenn sich die Befreiung Italiens noch zwei Jahre hinzog. Mit seiner Verschränkung von grundlegenden demokratischen Forderungen mit einer sozialistischen Ausrichtung als Abrechnung mit Faschismus und Nazismus traf das Manifest von Ventotene das gesellschaftliche Bewusstsein im Augenblick des Sturzes der Diktaturen in Europa. Die Ursachen der Katastrophe des Kriegs wurden in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und dem schändlichen Verhalten von deren Eliten gesehen. Selbst im sogenannten Ahlener Programm der CDU von 1947 tauchte noch die Forderung nach einer »gemeinwirtschaftlichen Ordnung« auf, da der Kapitalismus der Lage nicht mehr gerecht werde. Sozialistische Vorstellungen hatten die verschiedensten Widerstandsbewegungen in Europa mobilisiert und motiviert. Sie übernahmen nach der Befreiung in vielen Ländern, wenngleich nur für kurze Zeit, die Macht in Form von Befreiungs- oder antifaschistischen Komitees und waren teils an den ersten Nachkriegsregierungen beteiligt. Doch dieser »Moment der Befreiung«, wie es der in Paris lehrende deutsche Historiker Gerd-Rainer Horn jüngst in einer umfassenden, leider noch nicht ins Deutsche übertragenen Studie formulierte, verflog schnell. Stefan Heyms Buch über den bei Kriegsende 1945 vorübergehend unbesetzten kleinen Ort Schwarzenberg im Erzgebirge gibt trotz der geografisch äußerst kleinen Dimension eine Ahnung von jener hoffnungsvollen Aufbruchstimmung, die jedoch bereits Sommer 1945 versiegte. Nicht zuletzt, weil sich die Alliierten in den Konferenzen von Jalta und Potsdam auf einen Kompromiss geeinigt hatten, der gebotener Entnazifizierung das gesamtgesellschaftliche Gleichgewicht international nicht infrage zu stellen. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus. Das blieb nicht ohne Folgen für das Manifest von Ventotene. Die ersten Nachkriegsveröffentlichungen entschärften dessen antikapitalistische Dimension, der Tenor lag ganz auf die Schaffung eines europäischen Föderalstaates, die Frage nach dessen gesellschaftlicher Verfasstheit trat in den Hintergrund. Darauf konzentrierte sich vor allem Spinelli im Rahmen der verschiedenen entstehenden europäischen Institutionen, während Rossi in Italien als Journalist tätig war. Colorni war tragischerweise in den letzten Kämpfen vor der Befreiung Roms im Mai 1944 umgekommen. Es ist letztlich also nicht verwunderlich, dass das Manifest von Ventotene heute zu einer Art bloßem Schlagwort geworden ist, ohne dessen ursprünglichen Inhalt zu erwähnen. So erklärt sich auch, dass es von der frisch gekürten Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nicht gerade als Antikapitalistin bekannt, zur Begründung der von ihr avisierten Politik angeführt wurde. Reiner Tosstorff ist außerplanmäßiger Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. | Reiner Tosstorff | Mit seinen demokratischen und sozialistischen Forderungen traf das Manifest von Ventotene das gesellschaftliche Bewusstsein zur Zeit der Katastrophe. | Italien, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, linke Bewegung, Nationalsozialismus, Sozialismus | Feuilleton | Kultur Manifest von Ventotene | 2025-05-01T17:59:22+0200 | 2025-05-01T17:59:22+0200 | 2025-05-09T13:20:17+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1190938.die-revolution-muss-sozialistisch-sein.html |
Neues Geld in altem Gewand | Ist der Hype endgültig vorbei, die große Blase geplatzt, sind Bitcoin und andere Kryptowährungen tot? Immerhin ist es ruhig geworden um die digitalen Gelder, seitdem Anfang des Jahres der Kurs des Bitcoin nach einer wahnsinnigen Rallye in den Keller sackte und jetzt auf niedrigem Niveau herumdümpelt. Seitdem sind Meldungen über Kryptowährungen den großen Medien meist nur noch eine Randmeldung wert. Nichtsdestotrotz diskutieren die Ökonomen und die Szene im Stillen weiterhin über das digitale Geld. »Im Moment befinden wir uns in einer Blase. Die Krypto-Community ist definitiv in einer Blase. Ich glaube kaum, dass es viele Menschen gibt, die das bezweifeln«, sagte etwa Mitbegründer der Onlineenzyklopädie Wikipedia, Jimmy Wales, laut dem Szenemagazin »Btc-Echo« vergangene Woche auf einer Konferenz. Noch könne man jedoch nicht wissen, wann diese Blase platzt. Der Internetaktivist sieht das Phänomen also ähnlich kritisch wie die beiden... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Simon Poelchau | Die Erfinder von Kryptowährungen wie Bitcoin wollen mit einem neuen Geld die Wirtschaft besser machen. Doch haben ihre Konzepte dieselben Fehler wie frühere Währungssysteme. | Bitcoin, Digitalisierung, Ski, Wirtschaft | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Kryptowährungen | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1090286.neues-geld-in-altem-gewand.html |
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Requiem für Ron Holloway | (ND). Der Tod des vielfach geehrten Medienwissenschaftlers, Filmjournalisten, Berlinale-Mitarbeiters und langjährigen Herausgebers der Fachzeitschrift »Kino – German Film & International Reports« hat große Trauer in der Filmg... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Berlinale | Hauptstadtregion | Brandenburg | https://www.nd-aktuell.de//artikel/163420.requiem-fuer-ron-holloway.html |
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Wahlkampfschlager Schultoilette | An vielen Berliner Schulen sind stinkende Toiletten, dreckige Klassenzimmer und Flure seit Jahren ein Ärgernis. Das weiß auch die Hauptstadt-SPD, die die bisweilen unappetitliche Hygienesituation an den Schulen nun zum Wahlkampfthema gemacht hat. Wenn sie sich etwas wünschen dürfe, so Berlins neue SPD-Chefin Franziska Giffey auf dem Landesparteitag am Wochenende, dann wäre es, dass die vor Jahrzehnten an externe Putzfirmen ausgelagerte Schulreinigung rückgängig gemacht wird und »jede Schule wieder ihre eigene Reinigungskraft hat«. »Wir haben die Aussage aufmerksam zur Kenntnis genommen«, sagt Philipp Dehne von der Bürgerinitiative »Schule in Not«, die sich seit über zwei Jahren genau dafür einsetzt: feste Reinigungskräfte an jeder Schule, angestellt beim Bezirk, mit mehr Zeit und anständig bezahlt. Nur so, ist die Initiative überzeugt, könne man der miesen Gesamtsituation ein Ende bereiten. Schließlich sei es bisher so, dass sich die Firmen im Zuge der Ausschreibungen gegenseitig bei den Preisen unterbieten und dann den Kosten- und Zeitdruck an ihre ohnehin prekär beschäftigten Putzfrauen und -männer weitergeben. Die Folgen könne man auf den Schulklos sehen und riechen. Was war letzte Woche noch mal wichtig in Berlin? Plop und Zisch! Aufgemacht! Der Podcast „Rote Brause“ liefert dir alle wichtigen News aus der Hauptstadtregion in nur 15 Minuten. »Schule in Not« zufolge drängt die Zeit, da im Sommer kommenden Jahres in mehreren Bezirken die Verträge mit den externen Dienstleistern auslaufen. Die Initiative baut in diesem Zusammenhang dann auch auf die derzeit laufenden Verhandlungen zum Berliner Nachtragshaushalt und fordert, dass hierin auch Mittel festgeschrieben werden, die den Weg für Modellprojekte zur Rekommunalisierung der Schulreinigung frei machen. Zwischen sechs und zehn Millionen Euro müsste das Land nach Schätzungen der Aktivisten dafür locker machen. »Die SPD hat jetzt die Chance zu zeigen, dass sie den Worten auch Taten folgen lässt«, sagt Dehne mit Blick auf die Sitzung des Hauptausschusses des Abgeordnetenhauses am Mittwoch, in dem das Thema auf die Agenda gesetzt werden soll. »Wenn die Rekommunalisierung im Sommer anfangen soll, dann muss jetzt mit den Planungen begonnen werden. Ansonsten verschiebt sich der Prozess ein weiteres Jahr. Das darf nicht sein.« Das sieht die Berliner Linke genauso. So spricht sich Linke-Landesvorsitzende Katina Schubert gegenüber »nd« klar dafür aus, die Modellversuche im Nachtragshaushalt festzuschreiben. »Wir alle wissen, dass dreckige Schulen für viele Kinder und Jugendliche ein ernsthaftes Problem sind, und zwar schon lange vor und unabhängig von Corona. Deshalb ist es wichtig, jetzt Nägel mit Köpfen statt Wahlkampf zu machen«, so Schubert in Richtung SPD. Aus Koalitionskreisen ist zu hören, dass die Sozialdemokraten der Idee, Gelder für entsprechende Pilotprojekte loszueisen, zumindest aufgeschlossen gegenüberstehen. Also Rekommunalisierung jetzt? Nun mal nicht hyperventilieren, heißt es derweil aus den Reihen des dritten Koalitionspartners, den Berliner Grünen. »Die Rekommunalisierungsdebatte ist ja generell richtig«, sagt Daniel Wesener, haushaltspolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus. Aber solche Projekte müssten zum einen gut vorbereitet sein, zum anderen obliegt die Schulreinigung nicht dem Land, sondern den Bezirken. »Hier muss man sagen: Ehrlich währt am längsten. Wir können nicht in die Haushalte der Bezirke eingreifen«, so Wesener zu »nd«. Grundsätzlich wollen sich auch die Grünen nicht sperren, verweisen hierbei aber auf den nächsten Doppelhaushalt für 2022 und 2023, damit es eben kein auf wenige Schulen beschränktes Pilotprojekt bleibt. »Was die Bezirke hierfür brauchen, ist finanzielle Beinfreiheit.« Der zur Debatte stehende zusätzliche Posten in Höhe von bis zu zehn Millionen Euro sei zudem bereits in den Bezirkshaushalten vorhanden. »Die rot-rot-grüne Koalition hat bereits im Sommer mit dem ersten Nachtragshaushalt die finanziellen Voraussetzungen geschaffen, dass mögliche Defizite in den Bezirken durch den Landeshaushalt ausgeglichen werden.« Entsprechende Modellprojekte seien daher längst möglich, das sollten auch die Koalitionspartner wissen. »Aber gut, im kommenden Jahr wird gewählt«, so Wesener. Ein Blick in die Bezirke zeigt freilich, dass sich die Begeisterung der Verantwortlichen in argen Grenzen hält. Zwar haben sich - nicht zuletzt auf Initiative von »Schule in Not« - sechs Bezirksverordnetenversammlungen bereits mehrheitlich für eine Rekommunalisierung ausgesprochen. Klar ist aber, dass das Votum der Verordneten die jeweiligen Bezirksämter erst einmal zu gar nichts verpflichtet. Dass bei dem Thema mitunter beharrlich auf Durchzug geschaltet wird, weiß auch Philipp Dehne: »Aber es gibt eben Bezirksämter wie in Tempelhof-Schöneberg, Charlottenburg-Wilmersdorf und Lichtenberg, in denen es Offenheit gibt.« | Rainer Rutz | Pilotprojekte zur Rekommunalisierung der Schulreinigung sollen über den Nachtragshaushalt finanziert werden. Dabei sind die Gelder längst vorhanden, sie werden von den Bezirken bloß nicht eingesetzt. | Berlin, Bildungspolitik, Rekommunalisierung | Hauptstadtregion | Berlin Schulen | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1145180.schulen-wahlkampfschlager-schultoilette.html |
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Dystopie und »Großer Krieg« | Mehr Dystopie geht kaum: Am 23. Oktober 2077 wird die Welt durch den »Großen Krieg« weitgehend zerstört. Jedenfalls ist das der Hintergrund der Computerspielserie »Fallout« - zwei Stunden Atomschläge zwischen der USA und China werden genügen, um eine Anti-Erde zu hinterlassen, die mit keiner positiven Utopie mehr zu retten scheint. Wenn es um Zukunftsentwürfe geht, sind negative Gegenbilder wie die Fallout-Welt gar nicht so selten - wo die Utopie ein Vor-Schein des guten Wünschbaren ist, besorgt die Dystopie den Auftrag möglicher Vermeidung: So bitte nicht! Das ist kein Argument gegen das Spiel, im Gegenteil: Auch im fünften Teil der Serie, irritierenderweise »Fallout 3« genannt, fehlt der bissige Umgang mit Technikrisiken und Kriegsrüstung nicht. Jetzt aber erst einmal ein paar Mutanten in der atomaren Ödnis jagen. Irgendeiner muss es ja tun. vk Screenshots: Bethesda Softworks | Redaktion nd-aktuell.de | Krieg | Feuilleton | Kultur | https://www.nd-aktuell.de//artikel/829515.ausweitung-der-schmuddelzone.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Ehefrau mit einem einseitigen Vertrag über den Tisch gezogen | So hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 15. März 2017 (Az. XII ZB 109/16) einen Ehevertrag aufgelöst, bei dem diese Grenze überschritten war. 1993 hatte ein Unternehmersohn eine Bürokauffrau geheiratet. Nach der Heirat arbeitete sie sporadisch als Teilzeitsekretärin im Familienunternehmen mit. Im Dezember 1995 brachte die Frau eine Tochter zur Welt. Drei Wochen später überraschte der Ehemann seine Angetraute mit einem Ehevertrag, den sie Knall auf Fall unterschreiben sollte. Bei einer eventuellen Scheidung sollte die Frau nichts erben, auf nachehelichen Unterhalt, auf Zugewinn- und Versorgungsausgleich verzichten. Nur Betreuungsunterhalt sollte sie vorübergehend erhalten, falls gemeinsame Kinder zu versorgen wären. Den Ehevertrag hatte die Mutter des Mannes gefordert, der das Familienunternehmen gehörte. Sie wollte dem Sohn nur unter dieser Bedingung Geschäftsanteile übertragen und ihn zum Mitunternehmer machen. Bei der Ehefrau wurde 1997 Multiple Sklerose diagnostiziert. Sie ist inzwischen zu 100 Prozent schwerbehindert und bezieht seit 2008 eine Erwerbsminderungsrente von 777 Euro im Monat. 2011 trennte sich das Paar, 2014 wurde die Ehe geschieden. Im Scheidungsverfahren forderte die Frau Unterhalt: Der Ehevertrag sei unwirksam, denn ihr Mann habe sie über den Tisch gezogen. So sah es auch der Bundesgerichtshof. Die Krankheit der Frau spiele dabei allerdings keine Rolle: Dass sie wegen Multipler Sklerose unterhaltsbedürftig werden würde, sei zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht absehbar gewesen. Ein Ehevertrag sei auch nicht automatisch sittenwidrig, wenn er zum Nachteil eines Partners den Zugewinnausgleich, Versorgungsausgleich und nachehelichen Unterhalt ausschließe, betonten die BGH-Richter. Das sei vielleicht moralisch fragwürdig, aber rechtlich zulässig. Im konkreten Fall spreche allerdings das »Gesamtbild« für Sittenwidrigkeit. Der Unternehmer habe seine wirtschaftliche und soziale Überlegenheit ausgenutzt, um die Frau zu einem umfassenden Verzicht zu drängen. Anders als bei einem Verzicht vor der Heirat habe die Frau hier auf alle - durch die Ehe bereits - bestehenden Rechte verzichtet, ohne dass ihr dafür irgendeine Kompensation, zum Beispiel in Form von Alterssicherung, zugestanden wurde. Den Vertrag habe die Familie des Mannes ausgearbeitet. Die Ehefrau sei in keiner Weise einbezogen worden. Sie habe ihn vor ihrer Unterschrift nicht einmal gelesen und widerstandslos einem Totalverzicht zugestimmt. Der Vertrag spiegle die überlegene Verhandlungsposition des Ehemannes wider und benachteilige die Ehefrau in krasser Weise. Daher sei der vereinbarte Verzicht auf nachehelichen Unterhalt und Versorgungsausgleich nichtig, so der BGH. OnlineUrteile.de | OnlineUrteile.de | Man kann zwar in einem Vertrag, auch in einem Ehevertrag, alles Mögliche vereinbaren, doch die Vertragsfreiheit hat ihre Grenze, wo der Partner schwerwiegend benachteiligt wird. | Ehe, Unterhalt | Ratgeber | 2017-07-11T17:26:34+0200 | 2017-07-11T17:26:34+0200 | 2023-01-22T09:04:51+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/978387.kritik-an-prags-politik.html |
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Zeichen für die Zukunft | Viktor Kireev war das sichtbare Beispiel für die Auswirkungen von zwei Wochen Europameisterschaft. Der Torhüter der russischen Handballer verletzte sich im letzten Spiel in der zweiten Halbzeit am Knie, humpelte über das Feld und musste später auf dem Weg in die Kabine gestützt werden. Solch ein Turnier ist zum Ende hin für viele Spieler eine körperliche Qual, die Belastungen sind hoch. Die bittere, weil knappe 29:30-Niederlage der Russen gegen die deutsche Mannschaft machte die Schmerzen auch nicht gerade erträglicher. Nach allem, was man weiß, haben die deutschen Nationalspieler ohne weitere schwerwiegende Blessuren am Mittwochmorgen den Flieger in Richtung Frankfurt am Main bestiegen. Die Akteure, die das Turnier in Bratislava ohne Corona-Infektion überstanden haben und mit dem Erfolg über Russland einen erfreulichen Abschluss erlebten, waren erschöpft und glücklich. Glücklich darüber, das laut Bundestrainer Alfred Gislason »eigenartigste Turnier von allen« hinter sich gebracht zu haben. In der offiziellen Abrechnung landen die Deutschen auf dem siebten oder achten Rang, das hing noch von den Spielen am Mittwochabend (n.Red.) in der anderen Hauptrundengruppe ab. Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
dasnd.de/hohmann Das klingt angesichts der Tatsache passabel, dass der Deutsche Handballbund (DHB) vor einem halben Jahr einen Neuaufbau ausgerufen hatte und während der Tage in Bratislava von einem schweren Corona-Ausbruch ausgebremst wurde. Schöngeredet wurde das Abschneiden dennoch nicht - ein gutes Zeichen. »Wir werden weitere Schritte gehen müssen. Ungeachtet der Umstände: Auf Platz sieben oder acht wollen wir nicht bleiben, wir wollen nach oben«, sagte Axel Kromer, der Sportvorstand des DHB. Gleichzeitig verband er die Forderung mit einem Lob für die Vorstellung in den finalen 60 Minuten: »Wir haben eine absolute Kraft- und Energieleistung zum Sieg nutzen können. Darauf können wir noch mal stolz sein.« Die verrückten Tage in der Slowakei konnten den ursprünglichen Zweck nicht erfüllen. Das neuformierte Team sollte sich einspielen, zueinanderfinden, sich auf und neben dem Feld aneinander gewöhnen. Von den 17 Akteuren, die am 12. Januar nach Bratislava geflogen waren, saßen am Mittwoch nur noch drei im Flieger. Der Rest wurde wegen einer Corona-Infektion schon vorher per Krankentransport heimgebracht. Zwischendurch herrschte ein rechtes Durcheinander, von Tag zu Tag wurden neue Coronafälle vermeldet und weitere Spieler aus Deutschland nachgeholt. Dennoch brachte das Turnier zentrale Erkenntnisse. »In dieser Mannschaft sind Leute mit wenig Erfahrung, aber sie haben Mut. Das ist eine schöne Aussicht«, sagte Johannes Bitter. Der 39-jährige Torhüter musste den Rücktritt vom Rücktritt erklären, weil vier andere Keeper ausgefallen waren. Plötzlich stand er mit Kollegen auf dem Feld, die er zuvor nur aus Duellen in der Bundesliga kannte. Julian Köster war ihm selbst dort noch nicht über den Weg gelaufen. Der 21-Jährige spielt in der zweiten Liga beim VfL Gummersbach und ist die Entdeckung im deutschen Team. Mit Köster lebt die Hoffnung, dass in Deutschland eine neue Riege von Rückraumspielern heranwächst. Der 22-jährige Leipziger Luca Witzke und der ein Jahr ältere Sebastian Heymann aus Göppingen zählen ebenso dazu, wurden in der Slowakei aber durch den Covid-19-Erreger ausgebremst. Wetzlars 23-jähriger Keeper Till Klimpke sowie die Außenspieler Lukas Mertens (25) aus Magdeburg und der Lemgoer Lukas Zerbe (26) versprechen auch viel für die Zukunft. Als unumstrittener Leitwolf hat sich Johannes Golla herauskristallisiert. Der Kreisläufer aus Flensburg wurde vor ein paar Monaten zum Kapitän des Teams ernannt und füllte diese Rolle nahezu perfekt aus. Der 24-Jährige zeigte Weltklasseleistungen, war ein Vorbild an Einsatz und etablierte sich ohne große Worte, sondern durch sein Auftreten als Führungsspieler der neuen deutschen Mannschaft. Bundestrainer Alfred Gislason schwärmt von seinem Kapitän. »Er hat seine Rolle überragend ausgefüllt, das kann man nicht viel besser machen«, sagte der Isländer und bemühte einen schmeichelnden Vergleich: »Er erinnert mich sehr an Markus Ahlm in Kiel. Ich habe ihn immer eine Art Diesel genannt: Wenn er läuft, dann hört er nicht auf. Golli hat eine unglaubliche Leistung gebracht im gesamten Turnier.« Ahlm war der herausragende Kreisläufer, als Gislason mit dem THW Kiel alle Titel abräumte. Der Gedanke an Titel treibt Golla an. Er blickte zwei Jahre voraus. 2024 findet die nächste Europameisterschaft in Deutschland statt. »Das ist ein Ziel, für das jeder brennt. Wir werden alles daransetzen, spätestens dort bestmöglich vorbereitet zu sein«, erklärte Golla. Der Flensburger ist überzeugt, dass die verrückten Umstände in Bratislava helfen können, bei der Heim-EM voll wettbewerbsfähig zu sein. Es ist zu hoffen, dass die Pandemie bis dahin überstanden ist. | Michael Wilkening, Bratislava | Knapp, aber verdient gewannen die deutschen Handballer ihr letztes Spiel bei der Europameisterschaft mit 30:29 gegen Russland. Das bei diesem Turnier vom
Coronavirus geplagte Team will spätestens in zwei Jahren endlich um Titel spielen. | Corona, DHB, Europameisterschaft, Handball, Handball-EM, Slowakei | Sport | Sport Handball-EM | 2022-01-26T17:02:32+0100 | 2022-01-26T17:02:32+0100 | 2023-01-20T19:28:04+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160787.handball-em-zeichen-fuer-die-zukunft.html?sstr=Gislason |
In der U-Bahn von Dresden nach Prag | Wer derzeit mit dem Zug von Dresden in die tschechische Hauptstadt Prag fährt, müsste eigentlich einen Attraktivitätszuschlag bezahlen. Weil sich die Trasse durch das Elbtal südlich der sächsischen Landeshauptstadt windet, eröffnen sich aus dem Zugfenster bezaubernde Blicke auf die bizarren Felsentürme des Elbsandsteingebirges. Allerdings hat die Idylle ihren Preis. Die Fahrt erfolgt in vergleichsweise beschaulichem Tempo; für die knapp 150 Kilometer benötigen die Eurocity-Züge zweieinhalb Stunden. Die Autofahrt dauert 30 Minuten weniger. Außerdem verkehren die Züge nur alle zwei Stunden. In nicht allzu ferner Zeit soll sich das ändern. Dann könnte in Dresden stündlich ein Zug nach Prag abfahren, der bereits 60 Minuten später an der Moldau eintrifft. Allerdings hat auch das seinen Preis. Der Panoramablick auf das Elbsandsteingebirge wäre passé. Stattdessen brettern die Züge dann mit 200 Sachen durch Tunnelröhren, die den Kamm des Erzgebirges in bis zu 500 Metern Tiefe unterqueren. Sie wären Teil einer milliardenteuren Neubaustrecke, für die 2008 eine erste Machbarkeitsstudie erstellt wurde und an der die Deutsche Bahn AG seit fünf Jahren konkret plant. Im Jahr 2044, sagt Projektleiter Kay Müller, könnten darauf die ersten Züge fahren. Das ehrgeizige Vorhaben hat jetzt einen wichtigen Punkt erreicht: Die DB hat bekannt gegeben, welcher Variante für die Unterquerung des Erzgebirges sie den Vorzug gibt. Ursprünglich waren innerhalb eines 1,8 Kilometer breiten Korridors sieben verschiedene Trassen untersucht worden, die teils unterirdisch, teils aber auch über der Erde verlaufen sollten. Die Landesdirektion Sachsen als zuständige Genehmigungsbehörde hatte zwei davon als »raumverträglich« eingestuft. Eine davon sollte 26 Kilometer unter der Erde verlaufen, aber ein Stück weit auch oberirdisch. Auf diesem Abschnitt hätte unweit des Abzweigs von der bisherigen Trasse bei Heidenau eine fast 500 Meter lange Brücke über das Tal des Flüsschens Seidewitz errichtet werden müssen, zudem war ein längerer Überholbahnhof geplant. Die zweite Variante sieht vor, dass die Züge in Heidenau in einen 30 Kilometer langen Tunnel einbiegen und erst kurz vor der tschechischen Bezirkshauptstadt Ústí nad Labem wieder an die Oberfläche kommen. Jetzt steht fest: Die Bahn gibt dieser Variante den Vorzug. Das sei das Ergebnis einer Prüfung von Wirtschaftlichkeit, Auswirkungen auf die Umwelt und Baudurchführung. »Die Volltunnelvariante liegt in allen drei Bereichen vorn«, sagte Müller. In manchen Punkten ist das offenkundig, etwa was Lärm oder Naturzerstörung anbelangt: »Wenn wir unter der Erde bauen, erzeugen wir über der Erdoberfläche keine Betroffenheit«, sagte Müller. Mit Blick auf die Kosten sei die Abwägung zunächst »nicht so eindeutig« gewesen. Nach Abwägung aller Rahmenbedingungen aber sei klar, dass die Volltunnelvariante auch »die wirtschaftlichere« sei, betont der Projektleiter. Bei der Alternativvariante würden die Kosten vor allem durch das Brückenbauwerk und den tief eingeschnittenen Bahnhof in die Höhe getrieben, bei dem es zudem Probleme mit dem Grundwasser gebe. Konkret beziffern wollte Müller die Baukosten zunächst nicht, weil in den nächsten Monaten noch Feinplanungen erfolgten und Risiken bewertet werden müssten: »Was ich heute sage, wäre in einem halben Jahr wahrscheinlich überholt.« Im Bundesverkehrswegeplan wird ein Betrag von 1,2 Milliarden Euro genannt, plus 217 Millionen für Planungsleistungen. Die tatsächlichen Kosten liegen bei derlei Projekten in aller Regel deutlich über den anfangs genannten Beträgen. Das dürfte beim Bahntunnel nach Prag nicht anders sein. Sicher ist nach Angaben Müllers aber, dass sich das Ergebnis der Abwägung zwischen den beiden Varianten nicht mehr ändern werde: »Die Volltunnelvariante wird auf jeden Fall den Vorzug erhalten.« Dieses Ergebnis wird vor allem bei einer Bürgerinitiative für Erleichterung sorgen, die sich 2018 gründete und, wie ihr Name sagt, vehement für einen »Basistunnel nach Prag« statt der halboffenen Variante stritt. Sie versammelt Anwohner der künftigen Strecke, die durchaus akzeptieren, dass die bisherige und notorisch überlastete Trasse den Anforderungen eines wichtigen europäischen Schienenkorridors nicht mehr gerecht wird, und die auch befürworten, dass die Bewohner des Elbtals vom Lärm der Züge entlastet werden. »Das Nadelöhr im Elbtal muss aufgelöst werden«, sagte Sprecher Steffen Spittler. Allerdings hatte man auch wenig Lust, den Krach zu übernehmen. Die Kernforderung war daher: kein Lärm in bewohnten Gebieten. Im Tal der Seidenwitz wäre die Bahnbrücke die dritte große Talquerung nach denen für die Autobahn A14 und die Südumfahrung Pirna gewesen. Daher entwarf die Initiative Pläne für eine komplett im Tunnel verlaufende Trasse. Bahn und Politik bot man eine »Entwicklungspartnerschaft« an. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Die Zuversicht, dass diese Variante umgesetzt werden könnte, war indes zuletzt geschwunden. In den von der Bahn eingerichteten Beteiligungsformaten fühlte man sich teils als fünftes Rad am Wagen; von der Politik fühlte man sich nicht ernst genommen. »Dass der Volltunnel gebaut wird, ist aus heutiger Sicht zwar immer noch möglich, aber dennoch fragwürdig«, heißt es auf der Internetseite der Initiative; der Planungsprozess sei »nicht transparent genug, um einschätzen zu können, ob wirklich nach der besten Lösung gesucht wird«. Um so größer dürfte beim 10. Dialogforum an diesem Montag die Überraschung gewesen sein, dass nun doch die von der Initiative bevorzugte Variante weiter verfolgt werden soll. Bis tatsächlich mit dem Bau begonnen wird, ist es freilich noch ein langer Weg. Die DB werde die Variante noch ein weiteres halbes Jahr mit Anwohnern und Vertretern der Anrainerkommunen diskutieren, sagte Müller. Im Sommer 2024 soll der entsprechende Entwurf beim Bundesministerium für Verkehr eingereicht werden. Danach muss der Bundestag, der das Vorhaben 2016 in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen hatte, über Umsetzung und Finanzierung abstimmen. Mit einem Beschluss wird in der ersten Jahreshälfte 2025 gerechnet. Danach folge eine mehrjährige Entwurfs- und Genehmigungsplanung, sagte Müller. Im Jahr 2032 könnte Baubeginn sein. Um die beiden parallelen Röhren durch das Gebirge zu treiben, benötigen vier Tunnelbohrmaschinen rund sechs Jahre. Danach erfolgt der Ausbau. Im Jahr 2044 könnten nach jetziger Planung die ersten Züge durch die »U-Bahn nach Böhmen« rollen. Die DB geht von 48 Personen- und 150 Güterzügen pro Tag aus. Die halboffene Trassenvariante hätte wegen des Überholbahnhofs eine etwas höhere Kapazität gehabt. Aber das, sagt Müller, war ihr einziger Vorteil. | Hendrik Lasch | Um die überlastete Verbindung durch das Elbtal zu entlasten, soll zwischen Dresden und Prag eine neue Bahntrasse unter dem Erzgebirge gebaut werden. Diese wird, wie nun feststeht, vollständig in einem Tunnel verlaufen. | Bahnverkehr, Dresden, Tschechien, Verkehrspolitik | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Verkehrspolitik | 2023-11-20T16:52:19+0100 | 2023-11-20T16:52:19+0100 | 2023-11-21T14:45:35+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1177907.in-der-u-bahn-von-dresden-nach-prag.html |
Spanien: Linke gewinnen bei Regionalwahlen dazu | Berlin. Bei den Regionalwahlen im Baskenland und in Galicien haben linke Kräfte hinzugewinnen können - die sozialdemokratische PSOE verliert. Im Baskenland wurde nach Auszählung aller Stimmen die regierende gemäßigt nationalistische Partei PNV mit 29 Mandaten Siegerin - sie verfehlte damit eine absolute Mehrheit. Auf dem zweiten Platz folgten die linken Unabhängigkeitsbefürworter der EH Bildu mit 17 Mandaten. Die sozialdemokratische PSOE wurde im Baskenland vom linken Bündnis Podemos (Wir können) auf den vierten Platz verdrängt. PSOE verliert sieben ihrer bisher 16 Sitze im Regionalparlament in der Hauptstadt Vitoria. In der Autonomen Gemeinschaft Galicien, der Heimatregion von Spaniens geschäftsführen... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Bei den Regionalwahlen in Spanien linke Kräfte hinzugewinnen können. Die linke EH Bildu wird im Baskenland mit 17 Mandaten zweitstärkste Kraft, Podemos zieht in Galicien an den Sozialdemokraten vorbei. | Basken, Podemos, PSOE, Region, Spanien, Wahlen 2016 | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1026752.spanien-linke-gewinnen-bei-regionalwahlen-dazu.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Wussten Sie, dass ... | ... im ersten Halbjahr des 2012 rund 501 000 Menschen nach Deutschland zugezogen sind? Das sind 66 000 Zuzüge mehr als in den ersten sechs Monaten 2011. Damit stieg nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Zahl der Zuwanderer um 15 Prozent. Von den Zugezogenen waren 447 000 Ausländer, darunter 306 000 aus EU-Staaten. Die Zuzüge von Deutschen ist hingegen mit 54 000 gegenüber dem Vorjahr nahezu unverändert geblieben. nd | Redaktion nd-aktuell.de | Ausländer, Deutschland, EU | Ratgeber | https://www.nd-aktuell.de//artikel/805658.wussten-sie-dass.html |
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Elend innen wie außen | Es ist doch schrecklich, so im Dunkeln zu leben, lasst die Sonne herein!» Dieser Ausruf klingt wie ein Aufbruchsignal. Es ist die Zeit der industriellen Revolution, in der anfangs alles immer schneller und besser zu werden scheint, weil die Maschinen immer größer und stärker werden. Es ist gleichzeitig die Periode des Zweiten Kaiserreichs, der Restauration zwischen 1852 und 1870. Die Stimme kommt aus dem Bauch von Paris. Diesen beschreibt Émile Zola ab Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem zwanzigbändigen Roman-Zyklus der Familie Rougon-Macquart. Luk Perceval, bis zu dieser Spielzeit Leitender Regisseur am Hamburger Thalia-Theater und einer der wichtigsten europäischen Theatermacher, hat diesen Zyklus in drei Jahren zu drei Theaterabenden verdichtet. Aufgeführt wurden «Liebe», «Geld», «Hunger» von 2015 bis 2017 bei der Ruhrtriennale in der Gießhalle in Duisburg. Ein passender Ort, nach dem Ende der Industriegesellschaft von denen zu erzählen, die bereits während ihres Siegeszuges in Dreck und Elend vegetierten. Denn das versprochene Licht leuchte immer nur an ihnen vorbei, für sie war immer Dunkel. So jedenfalls Zolas Befund nach Abschluss seines Romanwerks über die Menschen im Kapitalismus der freien Konkurrenz. Sie bleiben dazu verdammt, ganz unten in jenem Nibelheim auszuharren, wo das Geld gemacht wird: in der brutalen Konfrontation von Mensch und Maschine. Nun stehen die drei Teile auch im Spielplan des Hamburger Thalia-Theaters, aber als das Gesamtwerk, das sie bilden, werden sie hintereinander - in acht Stunden! - nur einige Male als «Zola-Marathon» gezeigt. Perceval knüpft dabei an «Schlachten» an, jenen Shakespeare-Marathon vor fünfzehn Jahren, der legendär wurde. Wie Frank Castorf weiß auch Perceval: Theater braucht seine Zeit, um Geschichten so zu erzählen, dass sie sich ins Gedächtnis einbrennen. Der «Zola»-Marathon will wie eine beharrlich ums eigene Herkommen kreisende Runde alter Menschen sein, die redend das Gestern ins Heute zu holen versuchen, am besten bei Stromausfall und Schneeverwehung: Man hat alle Zeit der Welt, um sich Geschichten zu erzählen. Nein, alle Zeit hat man nicht, denn es sind die mit dem eigenen Leben verknüpften Geschichten. Wenn einer der Beteiligten stirbt, endet nicht nur ein Kapitel, auch ein Erzählstrang, der von weit her bis in die Gegenwart verläuft, wird gekappt. Darum hat Luk Perceval dem Unternehmen auch den Titel «Trilogie meiner Familie» gegeben, das sich verändernde Bildnis von Menschen innerhalb dessen, was man «moderne Zeiten» nennt. Aber der Mensch bleibt - um mit Günther Anders zu sprechen - «antiquiert». Die Grundkoordinaten seines Daseins zwischen Geburt und Tod ändern sich nicht. Im Zusammenprall von Mensch und Maschine zerbricht mancher, der zu langsam oder zu schwach ist, ihn überrollt diese Technik - von der Lokomotive bis zum Internet. Wer geht unter, wer triumphiert in diesem sich rapide verändernden Milieu? Eine Frage, die nicht von gestern ist, sondern sich immer neu stellt. Zola bleibt ein wichtiger Zeuge für die Anfänge des Kapitalismus. Dabei begann es auch für ihn verheißungsvoll, wie er rückblickend schreibt: «Welch ein Enthusiasmus und welch eine Hoffnung waren die unseren. Alles wissen, alles können, alles erobern. Mit Hilfe der Wahrheit eine bessere und glücklichere Menschheit erbauen.» Aber die große Ideen erweisen sich bald als untauglich dafür, den Alltag der einfachen Menschen gerechter zu machen. Was verwendbar ist an neuen Erkenntnissen, das nehmen sich die, die mit fremden Träumen handeln, der unverkäufliche Rest bleibt denen, die ohnehin nichts haben. Kapitalismus ist weder Segen noch Fluch, scheint bloß ein sich ständig erneuerndes Herrschaftsverhältnis zu sein zwischen jenen, die sich selbst verkaufen müssen (so lange sie noch einen zählbaren Wert auf dem Markt haben) und denen, die mit fremder Arbeitskraft (Lebensinhalten!) handeln, als wäre es irgend eine x-beliebige Ware. Reich wird man nur mit letzterem, an ersterem aber geht mancher kaputt. So sehen wir hier in «Liebe», dem ersten Teil des langen Zola-Abends, Menschen im Dunkeln wie Würmer herum kriechen, mit all ihren Hoffnungen auf das wachsende Licht, das doch um sie keinen Bogen machen wird. Oder doch? Da ist Gervaise (Gabriela Maria Schmeide), die eine Wäscherei eröffnet - aber das Elend holt sie wieder ein. Alkohol, Prostitution, Gewalt - das macht jedes solidarische Umgehen miteinander unmöglich. Die Familie als «kleinste Zelle» der Gesellschaft wird zu ihrem Spiegel: All die Brutalitäten von draußen dringen auch nach drinnen. Die Familie Rougon-Macquard: eine Hölle, der man nicht entkommt. Aber da ist doch auch Doktor Pascal (Stephan Bissmeier), der Forschungen zum Wohle der Menschheit anstellt. Aber er kann seiner im Haus lebenden Nichte Clotilde (Marie Jung) nicht widerstehen. All seine großen Ideen - sie verpuffen angesichts seiner Obsession für das junge Mädchen, er verarmt und verkommt wie alle anderen in der Familie. Die Bühne von Annette Kurz: ein großes hölzernes Wellental. Mancher versucht heraufzukommen, aber rutscht über kurz oder lang wieder herunter. Ein dichtes Netz von schicksalhaften Abhängigkeiten und Verstrickungen breitet sich aus. Im zweiten Teil «Geld» - immer mit den gleichen zwölf Schauspielern - begegnen wir der Tochter von Gervaise, Nana. Sie verkörpert den neuen Geist der Zeit. Sie ist in Paris so etwas wie prominent. Eine Prostituierte, die sich an den reichen und mächtigen Männern für ihre soziale Stigmatisierung rächt und gleichzeitig von einem Zuhälter geprügelt wird. Die reichen Freier kaufen für sie Theaterstücke, in denen sie dann - völlig unbegabt - die Hauptrolle spielt. Aufmerksamkeit ist die neue Währung - bereits hier. Der Machtkreisel beginnt sich immer schneller zu drehen: Man demütigt andere zum Ausgleich für erfahrene Demütigung, herrscht in einem Sinn-Vakuum. Die Stadt wird zum Moloch, in dem jede echte menschliche Regung verkommt. Maja Schöne als Nana ist eine explosive Mischung: ebenso zierlich wie Furcht einflößend, eine Verlorene, die jeden Gewinn mitnimmt. Grandios, wie präzise sie diesen permanenten Kraftbeweis am Rande der Gesellschaft führt: ein Opfer, das sich in die Täterschaft zu flüchten versucht. Überhaupt, was für ein furios-spielstarkes Ensemble hat Perceval da geformt! Barbara Nüsse taumelt in «Geld» als todtraurig-getriebener Graf Muffat in Frack und Zylinder der Kokotte Nana hinterher - immer weiter weg von sich selbst. Patrycia Ziolkowska spielt souverän mit Intensitätsgraden von Nähe und Distanz. Als Verkäuferin Denise im neuen Superkaufhaus «Maison des dames» ist sie eine ebenso unsichere Frau wie unbeirrbare Sozialistin, die die Avancen des Spekulanten Saccard mit Ausführungen über die Befreiung der Arbeit zu kontern weiß. Sebastian Rudolph ist auf eindringliche Weise dieser Saccard, ein Scheusal mit Zockerseele, der auf temporäre Erlösung drängt, wobei er jede Krise mit neuer Expansion von nicht vorhandenem Kapital beantwortet: Vortäuschen ist die neue Klugheit der Geschäftigen! Die Urzelle des virtuellen Kapitalismus. An Stelle von Arbeit und Handel mit Waren tritt die bloße Spekulation - im Sog dieser Scheinwirtschaft explodieren Niedertracht und Korruption. Im dritten Teil «Hunger» schließlich tauchen wir aus dem billigen Kaufhausglanz ab in die Unterwelt der Bergwerke, wo nicht gearbeitet, sondern bis über die Erschöpfungsgrenzen hinaus geschuftet wird. Nicht E.T.A. Hoffmanns Romantik beginnt hier unten zu leuchten, sondern Bergarbeiterelend lastet lichtlos. Luk Perceval über die Aktualität dieses sich auf «Germinal» beziehenden Teils: «Mich interessiert eben nicht nur, wie der Kapitalismus funktioniert, mich interessiert: Wie funktioniert der Mensch?» Es geht um Angst, die unfrei macht, um die Schuldzusammenhänge der Generationen. Hier begegnen wir den beiden Söhnen der Wäscherin Gervaise. Etienne (wiederum intensiv Sebastian Rudolph, hier als frenetisch agitierender Empörer) fordert den Streik, während sein Bruder Jacques (der großartige Rafael Stachowiak, aasig und doch verquer-beseelt, ein Peter-Lorre-Typ) unter der Last der Degeneration seiner Familie zusammenbricht. In Zola steckt eben auch ein zeittypischer Biologist, der Jacques zum Mörder werden lässt. Welch ein epischer Spannungsbogen, welch genuine Dramatik - zuletzt eine heilsam-beglückende Überforderung für das Publikum! Letztmalig in der laufenden Spielzeit am 21. Mai ab 16 Uhr | Gunnar Decker | «Welch ein Enthusiasmus und welch eine Hoffnung waren die unseren. Alles wissen, alles können, alles erobern.» Émile Zola war Zeuge des aufstrebenden Kapitalismus mit all seiner Euphorie - aber auch seiner Inhumanität und Zerstörungskraft. Das Hamburger Thalia-Theater absolvierte einen Marathon der wichtigsten Stücke des französischen Dramatikers. | Hamburg, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Theater | Feuilleton | Kultur Zola-Marathon | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1084742.zola-marathon-elend-innen-wie-aussen.html |
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Schriftgelehrter | In Lüdinghausen, etwa 20 Kilometer südlich von Münster, führen die meist katholischen 24 000 Einwohner ein ruhiges Leben. Am Sonntagsmorgen rufen die Glocken zur Messe. Doch vor einem Jahr wurde diese idyllische Atmosphäre gestört. Eines Tages bemerkte ein Passant einen alten Toyota, dessen Heckscheibe mit einem derben Spruch in Riesenbuchstaben beklebt war: «Wir pilgern mit Martin Luther: Auf nach Rom! Die Papstsau Franz umbringen. Reformation ist geil!» Der Passant erstattete Anzeige, die Polizei ermittelte. Einige Tage später fand man Täter und Auto: Auf der Rückscheibe stand nun ein neuer Spruch: «Kirche sucht moderne Werbeideen. Ich helfe. Unser Lieblingskünstler: Jesus - 2000 Jahre rumhängen und noch immer kein Krampf!» Urheber des Spruchs war Albert Voß. Er wurde vom Amtsgericht wegen Gotteslästerung und Störung des öffentlichen Friedens zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch ging er in Berufung - und erhielt am Freitag recht. Die Sprüche seien als Satire erkennbar und als Meinungsfreiheit gedeckt, sagte der Richter. Der 68-Jährige arbeitete als Physiklehrer und ist jetzt im Ruhestand. Mit Martin Luther sowie dem Papst hat er nichts zu tun. Er bezeichnet sich als «gottfreier» Mensch«. In die Wiege gelegt war ihm das nicht. Voß stammt aus einem katholischen Elternhaus und war Messdiener. Später stellte er seine Religion infrage. Eines Tages, so hat er Journalisten erzählt, sah er ein mit einem Spruch aus einem Psalm beklebtes Auto. Da kam ihm die Idee, sein eigenes Auto auch zu bekleben - um darüber aufzuklären, was in der Heiligen Schrift wirklich steht. So entstand 2014 das »Spruchtaxi«, das den Self-Made-Schriftgelehrten vor Gericht brachte. Darauf formuliert er die religiösen Weisheiten nur ein klein wenig um. So wird etwa aus Psalm 68, 24: »Herr, unser Bello schleckt so gerne Blut von Ungläubigen. Nun erschlag wieder einen!« Jetzt will Voß ein größeres Auto: »Da hat man eine größere Fläche und kann vielleicht sogar mit zwei Sprüchen gleichzeitig durch die Gegend fahren.« | Fabio Angelelli | Personalie | Katholische Kirche | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1047049.schriftgelehrter.html |
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Verschwörungstheoretiker versuchen, Wagenknecht zu vereinnahmen | Mit Beginn der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen erblickte die Zeitung »Demokratischer Widerstand« das Licht der Welt. Maßgeblicher Kopf hinter dem Projekt war der Berliner Dramaturg Anselm Lenz. Im Laufe der Proteste wurde die Zeitung zum Verstärker für Verschwörungserzählungen und Hetze. Sie ist ein Sammelbecken von vormals Linken bis zu stramm rechten Autor*innen. Zahlreiche mehr als fragwürdige Personen wie der reurechte Publizist Martin Lichtmesz veröffentlichten im »Demokratischen Widerstand«. Mittlerweile gibt es zwar kaum noch Corona-Proteste, die Zeitung gibt es aber immer noch. Sie versteht sich als Debattenblatt für eine neue Verfassung. In der aktuellen Ausgabe geht es unter anderem darum, dass »das Corona-Regime wieder ausgepackt« werde und man sich darauf vorbereiten müsse, dass das Internet abgestellt werde. Außerdem prangt in der Herausgeberzeile ein neuer Name: Sahra Wagenknecht. Im Newsletter der Zeitung schreibt Lenz, die Linke-Politikerin mit Spaltungsgedanken trete als Mitherausgeberin in die Fußstapfen von Helmut Schmidt, der das »Konkurrenzblatt« »Zeit« herausgegeben habe. Von Wagenknecht wünscht sich Lenz, sie solle »eine kraftvolle Schutzpatronin für das freie Wort, Presse, Literatur und Aktivismus« sein. Er hofft zudem, »das Regime« werde »den Terror gegen Journalisten und Verleger nun zurückfahren«. Kann das sein: Wagenknecht als Mitherausgeberin eines Verschwörungsblättchens? Auf Nachfrage heißt es beim Büro der Bundestagsabgeordneten: »Die Nennung von Sahra Wagenknecht als angebliche Mitherausgeberin der Zeitung ›Demokratischer Widerstand‹ erfolgt ohne jegliche Einwilligung. Sahra Wagenknecht hat dagegen protestiert und die Herausgeber aufgefordert, dies umgehend zu löschen und richtigzustellen, und ist dabei, rechtliche Schritte zu prüfen.« Offenbar handelt es sich also nur um einen Versuch von Anselm Lenz, mit dem Namen Wagenknecht Aufmerksamkeit für sein Projekt zu erzielen. Eine Anfrage beim »Demokratischen Widerstand« nach Wagenknechts Herausgeberrolle blieb unbeantwortet. | Sebastian Weiermann | Sahra Wagenknecht wurde ungefragt als Herausgeberin einer verschwörungstheoretischen Zeitung genannt. Sie prüft rechtliche Schritte. | Corona | Politik & Ökonomie | Politik Querfront | 2023-09-12T16:34:25+0200 | 2023-09-12T16:34:25+0200 | 2023-09-12T16:34:47+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176230.querfront-verschwoerungstheoretiker-versuchen-wagenknecht-zu-vereinnahmen.html?sstr=Anselm Lenz |
Die Ohrfeige | Man könnte sie die palästinensische Beate Klarsfeld nennen - Ahed Tamini. Sie wurde durch eine Ohrfeige zur neuen Ikone des palästinensischen Widerstandes gegen israelische Besatzungswillkür. • Buch im nd-Shop bestellen
Manal Tamimi/ Paul Heron u. a. (Hg.): Ahed Tamini. Ein Schlag gegen die Besatzung.
Manifest, 214 S., br., 13,90 €. Es geschah am 15. Dezember 2017: Die Einwohner des Dorfes Nabi Salih, unweit von Ramallah im Westjordanland, demonstrieren erneut für Landnutzungsrechte, insbesondere um Zugang zu einer Wasserquelle, die ihnen von israelischen Siedlern streitig gemacht wird. Wieder rücken schwer bewaffnete Soldaten an, treiben die Menschen brutal auseinande... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Suzanne Marlé | Wie das Mädchen Ahed Tamini zur Ikone des Widerstands wurde | Buchmesse Leipzig, Israel, Literatur, Nahost | Feuilleton | Kultur Buchmesse Leipzig | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1114667.die-ohrfeige.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Gott verhüt’s? | Ab Januar 2019 wird Deutschland - mit 184 der 190 möglichen Stimmen - für zwei Jahre im UN-Sicherheitsrat sitzen. Das ist eine einzigartige Chance, um in einem viel stärkeren Maße als bisher außenpolitische Prozesse mitzugestalten und die regelbasierte Weltordnung fortzuentwickeln. Wozu erst einmal gehört, bereits bestehende Fundamente zu sichern. Außenminister Maas sieht dabei zurecht viel Arbeit vor der eigenen Haustür. Europa dürfe nicht Schauplatz einer Aufrüstungsdebatte werden, fordert der SPD-Mann. Läuft die nicht längst? Klar. Spätestens seit US-Präsident Trump erklärte, den zwischen der Sowjetunion und den USA geschlossenen INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenraketen in Europa zu kündigen, weil Moskau sich ja auch nicht daran halte. Die Stationierung neuer Raketen in Europa, so prognostiziert Maas mit Hinweis auf die Geschichte, würde in Deutschland auf »breiten Widerstand« stoßen. Mag sein. Allerdings wird eine solche Hochrüstung inzwischen weitaus mobiler und globaler vorangetrieben, als zu Tagen des sogenannten NATO-Doppelbeschlusses. Zudem reicht es kaum, sich auf abermalige Hofgartenproteste und auf Gottes Verhüten zu verlassen. Mit Halbherzigkeit wird das neue UN-Sicherheitsratsmitglied Deutschland weder diese noch andere globale Gefahren eindämmen. Frieden ist immer Resultat von Verhandlungsprozessen. Mit vernunftbestimmten INF-Positionen im eigenen Bündnis könnte Maas schon mal sein weltpolitisches Rückgrat trainieren. | René Heilig | René Heilig zum INF-Vertrag und weltpolitischem Rückgrat | Atomwaffen, Aufrüstung, Heiko Maas, Militarisierung, UNO, USA | Meinung | Kommentare Atomare Abrüstung | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1108806.gott-verhuetrs.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Von Berlin nach Eisenhüttenstadt | In Ihrem Aufruf zum Frauenkampftag schreiben Sie, dass die Bundestagswahl die politische Richtung bestimmen werde. In welche Richtung zeigt das Wahlergebnis Ihrer Meinung nach? Fast alle Parteien, außer Linke und Grüne vielleicht, reden über Deportationen und darüber, dass die Grenze weiter geschlossen werden soll. Viel kann ich zum Ergebnis der Bundestagswahl also nicht sagen. Was kann Ihre Demonstration am 8. März dagegen ausrichten? Wir wollten nur mit einem Bus aus Berlin anreisen, aber nun kommen wir mit zwei. Wir sind sehr glücklich, dass so viele aus Berlin anreisen. Politiker*innen stellen Geflüchtete als Kriminelle dar und schieben ihnen die Schuld für die ökonomische Krise zu. Wir zeigen, dass es auch Menschen gibt, die nicht so denken, dass es Menschen in dieser Gesellschaft gibt, die sich für die Rechte von Geflüchteten und Menschenwürde einsetzen. Warum mobilisieren Sie dieses Jahr nach Eisenhüttenstadt? Frauen in Eisenhüttenstadt klagen über institutionellen und alltäglichen Rassismus. Diejenigen, die in Wohnungen leben, beklagen sich über feindselige Nachbar*innen und diejenigen, die in Lagern leben, beschweren sich über Sozialarbeiter*innen und Sicherheitskräfte – vor allem wenn sie krank sind. Diese sollen ihnen gesagt haben, sie sollen warten, und ihnen empfohlen haben, nicht zum Arzt zu gehen. Eine Frau erzählte uns, dass der Arzt ihr sagte, sie solle Schmerzmittel nehmen, weil er sie nicht behandeln könne, weil sie Asylbewerberin sei. Die Atmosphäre in Bussen soll auch sehr schlimm sein: Die Frauen sagen uns, dass sie aus Angst nicht mit Bussen fahren wollen. Hinzu kommt die Planung des Dublin-Zentrums in Eisenhüttenstadt, um Geflüchtete besser abzuschieben. Den Geflüchteten im Dublin-Verfahren wurde angedroht, keine soziale Hilfe mehr zu bekommen. Geflüchtete werden durch solche Drohungen gespalten. Die einzelnen Fälle von Gewalt im öffentlichen Raum und die steigende Angst vor Deportation retraumatisiert Geflüchtete in Eisenhüttenstadt. War die Situation für Geflüchtete in Eisenhüttenstadt schon mal besser? Ich würde sagen, dass es nie besser war, es gab immer physische und sexuelle Verletzungen für die Frauen. Aber nun nimmt die Zahl der Abschiebungen zu, genauso wie die der Tode auf dem Fluchtweg nach Deutschland. Einige Frauen erzählen uns, dass sie bereits seit einem Jahr in Eisenhüttenstadt leben, obwohl Geflüchtete dort nur temporär bleiben sollen. Es ist deprimierend, weil es mehr zur Normalität wird. Die Menschen warten dort und wissen nicht, was mit ihnen passiert. Sie warten nur und wissen nicht, wofür sie warten. Das ist sehr, sehr schwer. Was bräuchte es, damit sich die Situation für geflüchtete Frauen in Brandenburg verbessert? Lager sind eine Politik der Isolation. Als Frauen im Exil fordern wir, sie zu schließen und vor allem Frauen und Kindern die Möglichkeit zu geben, in Wohnungen zu ziehen. Das Geld, das verwendet wird, um die Lager zu bauen und zu betreiben, könnte für Wohnraum genutzt werden. Eine Verbesserung der Lager sehe ich nicht. Sie diskriminieren und sie spalten die Einwohner*innen von Gemeinden und die Menschen, die in Lagern leben. Nur, wenn wir Lager abschaffen, kann sich die Situation für Geflüchtete verbessern. Sie besuchen in erster Linie isolierte Lager in Berlin und Brandenburg: Gibt es bessere oder schlechtere Lager? Die Lager sind dieselben, manche bestehen aus Containern, insbesondere in Berlin. In Brandenburg haben wir einige mit Containern, aber auch mit festen Gebäuden. In Brandenburg sind die Lager besonders isoliert, einige sind sehr weit weg. Wir waren in einem Lager in Doberlug-Kirchhain: Das war in der Mitte eines Walds, zwei Kilometer von der Stadt entfernt, wohin Busse fahren. Wenn der Bus überhaupt kommt... Genau, dort fährt der Bus nur bis 18 Uhr. Das Ziel Ihrer Besuche ist es, geflüchtete Frauen zu ermächtigen. Wie sieht das konkret aus? Wir teilen unser Wissen als Frauen mit Fluchterfahrung. Wir versuchen, rechtliche Informationen zu teilen. Wenn es traumatisierte Menschen gibt, versuchen wir, Hilfe zu organisieren. Wir versuchen zu helfen, Deutsch-Kurse zu organisieren – ohne Kosten und viel Bürokratie. Wir haben Netzwerke mit medizinischen Kontakten. Es geht darum zu informieren, was in den Lagern passiert, was mit den Frauen in der Gesellschaft passiert, damit diese sehen, dass sie nicht allein sind. Es geht darum, rauszukommen aus dem Lager und Menschen zu treffen, die positiv auf die Frauen zugehen – das hilft auch der Integration. Women in Exile gibt es seit über 20 Jahren: Was hat sich seitdem politisch verändert für geflüchtete Frauen in Deutschland? Obwohl es für Asylsuchende immer noch schwierig ist, erhalten die meisten von ihnen heutzutage eine Arbeitserlaubnis, sobald sie die deutsche Sprache auf B1 beherrschen. In unserer Gruppe sehen wir viele Frauen, die sich später selbst organisieren und ihre eigenen Gruppen machen. Das sehen wir als eine positive Sache. Wir sehen auch, dass es viele Frauen gibt, die nur kurz bei uns sind und sich gut gesellschaftlich integrieren. Als wir angefangen haben, hatten wir viele Frauen aus anderen Ländern, zum Beispiel aus afghanischen Familien. Später kamen Frauen aus Syrien und aus der Ukraine. Für viele Feminst*innen ist es wichtig, als lohnabhängige Frauen zusammen zu kämpfen, um das Patriarchat zu überwinden. Wo sind eure roten Linien in der Zusammenarbeit mit Frauen ohne Fluchtgeschichte? Wir arbeiten sehr eng mit Frauen ohne Migrationsgeschichte zusammen, sie sind auch Teil unserer Gruppe. Eine rote Linie gibt es dennoch. Frauen mit Fluchtgeschichte sind marginalisiert und vulnerabler. Wenn wir nicht selbst unsere Stimme erheben und uns nur auf die Themen konzentrieren, die privilegiertere Frauen betreffen, reicht das nicht. Als geflüchtete Frauen müssen wir uns selbst organisieren. Wir müssen sagen: Auch wir haben Probleme und brauchen Solidarität. Bethi Ngari ist Gründungsmitglied des Vereins Women in Exile, der 2002 in Brandenburg von Geflüchteten gegründet wurde. Der Verein thematisiert die Verschränkung von rassistischer und sexistischer Diskriminierung. Feministischer Kampftag | Interview: Jule Meier | Frauenkampftag heißt auch gegen Abschiebungen demonstrieren: Die Gruppe »Women in Exile« erzählt im Interview, wie es geflüchteten Frauen in der Metropolregion geht und warum sie am 8. März nach Eisenhüttenstadt fahren. | Berlin, Brandenburg | Hauptstadtregion | Berlin Frauenkampftag | 2025-03-06T16:31:21+0100 | 2025-03-06T16:31:21+0100 | 2025-03-07T20:33:59+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1189585.frauenkampftag-von-berlin-nach-eisenhuettenstadt.html |
Hatti Ayo – Elefanten kommen | Die Schüler im malaysischen Sabah auf Borneo staunten nicht schlecht, als plötzlich ein Elefant durch ihre Schulkantine spazierte. In der kambodschanischen Provinz Mondulkiri sind die Bauern schlecht auf wilde Elefanten zu sprechen, weil sich die Dickhäuter gerne über die Bananen-, Mango- und Cashewplantagen hermachen. In Nepal statten in der Paarungszeit wilde Elefantenbullen immer öfter zahmen Elefantendamen in den Dörfern Besuche ab und versetzen die Menschen in Panik. Einem liebestollen Elefanten kommt man besser nicht in die Quere. Es vergeht kaum eine Woche ohne Berichte in den Medien der asiatischen Elefantenländer über nicht glimpflich und mitunter sogar tödlich verlaufende Konflikte zwischen Mensch und Elefant. Mal werden Elefanten beim Eindringen auf Felder und Plantagen von aufgebrachten Bauern getötet. Mal werden Menschen von den mächtigen Tieren zu Tode getrampelt. Spitzenreiter bei solchen Konflikten ist Indien. In den vergangenen drei Jahren seien exakt 299 964 Mensch-Elefanten-Konflikte registriert worden, teilte im März 2023 Bhupender Yadav, Minister für Umwelt, Klima und Wald, dem indischen Parlament mit. 1500 Menschen seien durch Elefantenattacken ums Leben gekommen, während 41 Elefanten durch Zugunfälle, 198 durch Elektroschocks, 27 durch Wilderer und acht durch Vergiftung den Tod gefunden hätten. Unter Umwelt- und Elefantenexperten ist die Ursache für Mensch-Elefanten-Konflikte seit langem eindeutig: der zunehmende Verlust des Lebensraums der Elefanten. Für die Tiere sind die Felder und Plantagen der Bauern ein mehr als willkommener Ersatz für den Verlust ihrer Nahrungsquellen in der Wildnis. Wie drastisch der Lebensraumverlust des asiatischen Elefanten (Elephas maximus) ist, zeigen Wissenschaftler der University of California San Diego in einer im Fachjournal »Scientific Reports« veröffentlichten Studie. Anhand von Landnutzungsdaten 13 asiatischer Elefantenländer errechneten sie den Habitatrückgang seit dem Jahr 850 bis zum Jahr 2015. Ab 1500 sei der Lebensraum des größten asiatischen Landtieres mit der allmählichen Änderung der Landnutzung durch den Menschen immer kleiner geworden, so die Studie. Mit dem Beginn der Kolonialzeit ab 1700, so die Forscher um Leitautorin Shermin de Silva, habe sich die Landnutzung weiter verändert und der Habitatverlust der Elefanten beschleunigt. Der für Elefanten geeignete Lebensraum sei in den vergangenen 300 Jahren um zwei Drittel geschrumpft und habe 2015 nur noch insgesamt 3,36 Millionen Quadratkilometer betragen. Die durchschnittliche Fläche eines geeigneten Lebensraums sei von 99 000 Quadratkilometern auf 16 000 gesunken und diese Lebensräume seien zudem oft zu weit voneinander entfernt. In jüngerer Vergangenheit kommen das Bevölkerungswachstum und damit einhergehender Flächenbedarf als weitere Ursachen hinzu. Auf keinem Kontinent leben mehr Menschen als in Asien. Indien hat gerade mit 1,4 Milliarden Einwohnern China den Rang als bevölkerungsreichstes Land der Welt abgelaufen. Die Wissenschaftler von der University of California San Diego nutzten für ihre Forschung den von Kollegen der University of Maryland erstellten Datensatz »Land-Use Harmonization 2«. Dieser lieferte historische Rekonstruktionen der menschlichen Landnutzung in den bekannten Lebensräumen von Elefanten zurück bis ins neunte Jahrhundert. Wie immer beim Niedergang der Umwelt und der Artenvielfalt kommt der Klimawandel auch beim Verschwinden der Elefantenwelt als zusätzlicher Verdächtiger in Frage. Aber das, so die Forscher aus San Diego, könne zum jetzigen Zeitpunkt wissenschaftlich noch nicht belegt werden. Der Elephas maximus war einst in allen Regenwäldern und im Grasland Asiens heimisch. Im Jahr 2019 wurde die Wildpopulation jedoch nur noch auf 48 323 bis 51 680 Individuen geschätzt. Gut die Hälfte davon entfällt auf Indien. Für die anderen rund ein Dutzend Staaten, in denen der asiatische Elefant beheimatet ist, schwanken die Daten: In China, Vietnam und Bangladesch soll es zwischen 70 und 250 Individuen geben, bis zu 2500 und 5000 in Sri Lanka, Myanmar oder Thailand. Der internationale Naturschutzverband IUCN stuft die Art daher als bedroht ein. Es gibt viele Initiativen, die mit allerlei Methoden den Zusammenprall von Elefanten und Menschen zu vermeiden suchen. Immerhin symbolisiert der Elefant im Buddhismus Glück, Stärke, Fleiß und Intelligenz, während im Hinduismus der Elefantengott Ganesha sehr populär ist. Die indigenen Einwohner von Sabah haben so großen Respekt vor Elefanten, dass sie die grauen Riesen »Nene« – »Großmutter« – nennen. In Thailand machte sich eine Wissenschaftlerin die Angst der großen Elefanten vor kleinen Bienen zunutze. In einem Pilotprojekt stellte sie rund um eine bei Elefanten beliebte Ananasplantage 40 Bienenstöcke auf, um die Tiere von den süßen Früchten fernzuhalten. In Nepal setzen Elefantenschützer auf eine von einem Landsmann in Frankfurt entwickelte App. Wer eine Elefantenbewegung entdeckt, drückt auf der App einen Knopf mit der Aufschrift »Hatti Ayo!«. In Windeseile geht dann diese »Elefanten kommen«-Warnung über die App und per SMS an die Dorfbewohner und die Polizei. Die Menschen können sich so in Sicherheit bringen oder frühzeitig mit viel Lärm die Elefanten vertreiben, etwa durch Trompetenstöße oder Trommeln auf Blechgegenständen. Die Wissenschaftler aus San Diego sehen ihre Arbeit nicht nur als Bestandsaufnahme, sondern auch als einen Baustein für eine zukünftige ökologische und soziale Politik. »Wir verwenden Elefanten als Indikatoren, um die Auswirkungen von Landnutzungsänderungen auf die verschiedenen Ökosysteme zu untersuchen«, sagt de Silva und betont: »Damit wir eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft aufbauen können, müssen wir die Geschichte verstehen, wie es so weit kommen konnte. Diese Studie ist ein Schritt hin zu diesem Verständnis.« | Michael Lenz | Zusammenstöße zwischen Elefanten und Menschen können für beide Seiten tödlich ausgehen. Verantwortlich für die Zunahme der Konflikte sind die Menschen, die den Lebensraum der Elefanten stark verkleinert haben. | Indien | Feuilleton | Wissen Ökologie | 2023-05-25T14:52:57+0200 | 2023-05-25T14:52:57+0200 | 2023-05-29T18:13:07+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173505.oekologie-hatti-ayo-n-elefanten-kommen.html |
Joe Biden: Time to say Goodbye | Joe Biden hat die Vorwahlen der US-Demokraten 2020 vor allem aus einem Grund gewonnen: Die Basis der Partei zog ihn als »sichere« Alternative gegenüber dem Linken Bernie Sanders vor. Man wollte Donald Trump unbedingt schlagen, und Biden schien ein konsensfähigerer Kandidat zu sein. Letztlich ging die Rechnung auch – knapp – auf. Viele Demokraten hängen deshalb an Biden. Doch es ist an der Zeit einzusehen, dass der Amtsinhaber nicht mehr in der Verfassung ist, einen Wahlkampf durchzustehen. Wie wir alle hat der US-Präsident gute und schlechte Tage. Doch bei seinen öffentlichen Auftritten häufen sich inzwischen nicht nur verbale, sondern auch eindeutig kognitive Aussetzer. Er müsste seine Kandidatur zurückziehen. Und es gibt einen weiteren wichtigen Grund, nicht mehr auf Biden zu setzen, um Trumps Rückkehr ins Weiße Haus zu verhindern: Anders als zu Beginn seiner Amtszeit integriert der Präsident nicht mehr, sondern er polarisiert. Viele junge Wähler*innen sind über seine Haltung im Gaza-Krieg zu Recht empört und wenden sich deshalb von den Demokraten ab. Wirtschaftspolitische Erfolge Bidens geraten zudem in Vergessenheit, weil viele temporäre Sozialprogramme, die teilweise noch unter Trump zu Beginn der Pandemie aufgelegt wurden, in seiner Amtszeit ausgelaufen sind. Doch statt die materiellen Sorgen von Gering- und Durchschnittsverdiener*innen ernst zu nehmen, konzentriert sich die Partei im Wahlkampf voll auf die Warnung vor Trumps autoritären Bestrebungen. Bei manchen Linken führt dies zu dem Impuls, diese Gefahr zu verneinen. Doch auch dies wäre ein Fehler. | Julian Htschler | Bei den öffentlichen Auftritten des US-Präsidenten häufen sich inzwischen nicht nur verbale, sondern auch eindeutig kognitive Aussetzer. Er müsste seine Kandidatur zurückziehen. | Bernie Sanders, Donald Trump, USA | Meinung | Kommentare USA | 2024-07-12T15:55:14+0200 | 2024-07-12T15:55:14+0200 | 2024-07-12T15:56:06+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1183679.joe-biden-time-to-say-goodbye.html |
Unfair einkaufen im Supermarkt | Deutschland ist ein Land der Supermärkte. Und auch wenn einem die Firmenschilder etwas anderes weismachen wollen, wird der Markt von vier Ketten dominiert. Marktführer Edeka mit der Discountmarke Netto, die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland, Rewe inklusive der Penny-Märkte sowie Aldi Nord und Süd teilen sich den Hauptteil des Gewinns im Lebensmitteleinzelhandel. Doch die Milliardenumsätze werden auf dem Rücken anderer erwirtschaftet, wie eine Studie der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam zeigt. Die Kampfpreise für Lebensmittel und Non-Food-Artikel sind demnach nur möglich, weil entlang der Lieferkette Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Für die Studie »Die Zeit ist reif - Leid und Ausbeutung in Supermarktketten beenden« hat Oxfam öffentliche Informationen von 16 der größten Supermärkte in Deutschland, den Niederlanden, den USA und Großbritannien ausgewertet und mit Menschenrechtsstandards verglichen. Die vier Fragen waren: Wie transparent arbeiten die Unternehmen? Setzen die Unternehmen bei Lieferanten Arbeitsrechtsstandards durch? Wie behandeln sie Kleinbauern in Anbauländern? Was tun die Unternehmen für Frauenrechte? Bei all diesen Fragen schnitten die deutschen »Big Four« demnach katastrophal ab. Während einige der Supermärkte aus Großbritannien und den USA teils zumindest zweistellige Bewertungen erhielten, erreichten Aldi, Edeka, Lidl und Rewe in jeder der vier Oxfam-Kategorien null bis acht Prozent der Gesamtpunktzahl. Schutz für Frauen ist offenbar das größte Problem, hier erfüllten alle deutschen Supermarktketten sowie acht der zwölf restlichen untersuchten Konzerne null Prozent der Anforderungen. Beim Schutz von Arbeiterrechten kann Lidl klägliche zwei Prozent verbuchen, die anderen drei deutschen Supermärkte lagen bei null Prozent. Lidl erreichte zudem acht Prozent in den Bereichen Transparenz und Arbeiterrechte. Ein anderer wichtiger Kritikpunkt betrifft die Verteilung der Verkaufseinnahmen: Demnach steigt der Anteil, den die Supermärkte am Verkauf etwa von Kaffee, Garnelen oder Bananen erhalten, weiter. Die Arbeiter, die die Produkte herstellten, erhielten keine existenzsichernden Löhne, so Oxfam. Gleichzeitig sei der Anteil, den Supermarktketten etwa am Verkauf einer Banane aus Ecuador bekämen, zwischen 2011 und 2015 gestiegen. »Allein aus diesem Anstieg könnte das Sechsfache des Betrags gezahlt werden, der den Arbeiter/innen fehlt, um den Lebensunterhalt ihrer Familie bestreiten zu können«, heißt es. »Der Supermarkt-Check zeigt, dass Menschenrechte in der Geschäftspolitik der deutschen Supermärkte aktuell nur eine Fußnote sind«, sagt Barbara Sennholz-Weinhardt, Oxfam-Expertin für Wirtschaft und Globalisierung. »Aldi, Edeka, Lidl und Rewe müssen endlich dafür sorgen, dass die Menschen, die unsere Lebensmittel herstellen, fair behandelt werden.« Oxfam hofft, dass die Veröffentlichung der Studie ein Umdenken bewirkt. Man habe die Märkte von Anfang an einbezogen, sagte Franziska Humbert, Oxfam-Expertin für Soziale Unternehmensverantwortung, gegenüber »nd«. Doch außer allgemeinen Nachhaltigkeitsgrundsätzen sei wenig zurückgekommen. Vor einer Woche habe man die Ergebnisse an die Konzerne geschickt, Rewe bot daraufhin ein Gespräch an. Die anderen drei hätten sich nicht geäußert. »Wir wollen, dass die Ketten selbst Verantwortung übernehmen«, so Humbert. In Großbritannien sei die Gesprächsbereitschaft höher gewesen. Für Verbesserungen hat Oxfam konkrete Vorschläge: Die Unternehmen müssten Informationen über Lieferketten und Löhne offenlegen, so könnten die Kunden bessere Kaufentscheidungen treffen. Zudem sollten Supermärkte mit Gewerkschaften in den Herstellerländern zusammenarbeiten und bessere Arbeitsbedingungen erwirken. Löhne müssten existenzsichernd, Handelspraktiken fair für Kleinbauern und Arbeiter sein. Um Frauen zu stärken, sollten die Firmen Grundsätze der UNO zur Stärkung von Frauen umsetzen und verteidigen - im Zweifelsfall auch gegen die Politik in den Herstellerländern. | Grit Gernhardt | Wie die Billigpreise im Supermarkt zustande kommen, wollen viele Kunden nicht wissen. Eine Studie zeigt, dass die Konzerne Gewinne auf dem Rücken von Arbeitern und Kleinbauern erwirtschaften. | Einzelhandel, Großbritannien, Menschenrechte | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1091812.unfair-einkaufen-im-supermarkt.html?sstr=Supermarkt-Check |
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Siebenjährige stirbt angeblich in US-Grenzhaft | Washington. Ein sieben Jahre altes Mädchen ist nach seiner Festnahme durch US-Grenzbehörden einem Bericht der Zeitung »Washington Post« zufolge an Dehydrierung gestorben. Das Kind habe auf der Flucht aus Guatemala tagelang kein Wasser getrunken. Das Mädchen war Aufzeichnungen der US-Grenzbehörden zufolge am 6. Dezember abends zusammen mit seinem Vater und mehr als 160 weiteren Flüchtlingen festgenommen worden. Mehr als acht Stunden später habe es hohes Fieber bekommen und sei bewusstlos geworden. Den Aufzeichnungen zufolge hatte das Kind mehrere Tage weder gegessen noch getrunken. Die Ärzte in der Notaufnahme im Krankenhaus von El Paso (Bundesstaat Texas) konnten nicht mehr helfen. Der Vorfall werde untersucht, um ein Fehlverhalten der Grenzer auszuschließen, erklärte ein Behördensprecher der Zeitung. Seit Wochen bewegen sich tausende Flüchtlinge aus Mittelamerika auf die mexikanisch-amerikanische Grenze zu, mit dem Ziel, in die USA zu gelangen. Sie fliehen vor allem vor Armut und Kriminalität in ihren Heimatländern. Die Regierung von US-Präsident Donald Trump will dies mit allen Mittel verhindern. Tausende Militärs und Nationalgardisten sind inzwischen an der Grenze stationiert. dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Seit Wochen sind Menschen aus Mittelamerika zu Fuß auf dem Weg in die USA. Sie fliehen vor allem vor Armut und Kriminalität in ihren Heimatländern. Jetzt hat ein Kind die Strapazen offenbar nicht verkraftet. | Donald Trump, Flucht, Flüchtlinge, Lateinamerika, Mexiko, Migration, USA | Politik & Ökonomie | Politik Karawane aus Mittelamerika | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1108028.siebenjaehrige-stirbt-angeblich-in-us-grenzhaft.html |
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Neue Schlappe für Geraer Staatsanwalt | Für David R. ist es ein großer Erfolg. Doch richtig ausgelassen freuen kann sich der Mann nicht darüber, der Vorsitzender des Stadtjugendrings in Erfurt ist. Zwar hat das Landgericht Gera in einem vor wenigen Tagen ergangenen Beschluss festgestellt, dass die Staatsanwaltschaft Gera und das dortige Amtsgericht rechtswidrig handelten, als sie die Polizei im März 2018 losschickten, um die Privatwohnung von R. zu durchsuchen. Die bei der Razzia bei ihm sichergestellten Gegenstände müssten ihm »unverzüglich« wieder ausgehändigt werden, heißt es in dem Beschluss des Landgerichts, der »nd« vorliegt. Damit erfüllt sich für R. eine Forderung, die er seit dem Tag der Durchsuchung erhebt. Er will alle Handys, Computer, USB-Sticks und Festplatten wiederhaben, die die Beamten damals bei ihm sicherstellten. Seine Freude ist aber auch getrübt. Dass so viel Zeit zwischen den Durchsuchungen bei ihm und diesem Beschluss des Landgerichts vergangen s... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Sebastian Haak | Der Geraer Staatsanwalt Martin Zschächner hat eine weitere Niederlage einstecken müssen: Erneut hat das Landgericht Gera eine juristische Entscheidung des Mannes für rechtswidrig erklärt. | Erfurt, Linksjugend, Thüringen | Politik & Ökonomie | Politik Martin Zschächner | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1117497.neue-schlappe-fuer-geraer-staatsanwalt.html |
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Nicht skandalös, sondern schäbig | Helfer als Kriminelle stigmatisieren? Eigentlich kennt man das vor allem von der AfD, wenn es darum geht, die Seenotrettung durch Nichtregierungsorganisationen im Mittelmeer zu stigmatisieren. Doch nun stimmt ausgerechnet die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Heike Hänsel, in diesen Chor ein: »Skandalös« findet Hänsel, dass die Bundesregierung acht (!) verfolgten syrischen Zivilschützern der Weißhelme und ihren Familien Asyl gewährt. Sie empört sich nicht darüber, dass Deutschland als baldiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat nicht einmal zwei Prozent der 477 Geretteten Schutz gewährt – sondern, dass die Bundesregierung überhaupt Mitglieder der Weißhelme aufnehmen will. Für ihren jahrelangen Einsatz unter Bombenhagel, die Rettung unzähliger Opfer aus den Trümmern eingestürzter Häuser, wurde der Organisation der Alternative Nobelpreis verliehen. Der Film über die Geschichte der Weißhelme in Aleppo erhielt einen Oscar. Viele Mitarbeiter und Ehrenamtliche haben ihr Engagement für das Überleben von Bedürftigen mit dem Leben bezahlt. Russland, insbesondere aber dem Assad-Regime, sind die Zivilschützer ein Dorn im Auge: Ihre Berichte und Dokumentationen machen die Grausamkeiten des Kriegs in Syrien sichtbar – und belegen dabei, dass Luftangriffe auch zivilen Zielen gelten und Kriegsverbrechen verübt wurden. Entsprechend versuchen beide Regierungen, die Retter mit einer großangelegten Kampagne international zu diskreditieren. In Syrien selbst werden Mitglieder der Weißhelme weiter aus politischen Gründen durch das Assad-Regime verfolgt. Diesen Verfolgten möchte Heike Hänsel nun den Schutz verwehren, indem sie die Retter in die Nähe von Dschihadisten rückt. Genauso wie AfD und CSU versuchen, Seenotretter als Schlepperhelfer zu diskreditieren, versucht Hänsel die Retter zu diffamieren – und Menschen, die verfolgt werden, obwohl sie anderen Menschen helfen, das Recht auf Asyl abzusprechen. Dieses Verhalten lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Schäbig! | Elias Perabo | Die Linksfraktionsvizechefin Heike Hänsel lehnt es ab, dass Deutschland Mitglieder der syrischen Organisation Weißhelme aufnimmt. Doch Helfern das Recht auf Asyl abzusprechen erinnert an die Politik von AfD und CSU. | Asylbewerber, Hilfsorganisationen, LINKE, Seenotrettung, Syrien | Meinung | Kommentare Evakuierung von Weißhelmen | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1095104.nicht-skandaloes-sondern-schaebig.html |
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Leidenschaft für tanzen und schreiben | Seit dem 1. September ist Sonja Heller die Neue in der Marketingabteilung des »nd«. Hier wird sie zukünftig verschiedene Projekte betreuen. Ihr aktuelles ist der neue regionale nd-Newsletter für Berlin-Brandenburg »Muckefuck«, der am Sonntag erstmals erscheinen wird. Dank ihrer Kenntnisse des Berliner Kulturbetriebes wird künftig auch die Bewerbung unserer Kulturveranstaltungen und Podcasts zu ihren Aufgaben gehören. Außerdem gibt sie Unterstützung bei der Organisation von Veranstaltungen. Die kreative und vielfältige Arbeit beim »nd« gefällt ihr. Erfahrungen mit Veranstaltungswerbung bringt Sonja Heller aus ihrer Tätigkeit als freie Mitarbeiterin der Programmredaktionen von »Zitty«, »Tipp« und der Agentur Cinemarketing mit. Zu einem ersten Kontakt mit dem »nd« kam es vor vielen Jahren eher zufällig. Während ihrer Schauspielausbildung in Berlin lagerte die Ausbildungsstätte, das Europäische Theaterinstitut e.V., den Unterricht in das nd-Verlagsgebäude aus. Drei Monate lang fand der in den Seminarräumen im ersten Stock statt. Durch die Zeitungsauslage im Foyer des Gebäudes kam die gebürtige Hessin erstmalig mit »neues deutschland« in Berührung. Ihr Leidenschaften sind seit vielen Jahren schreiben und tanzen. Seit 2017 bloggt die inzwischen 44-Jährige auch unter dem Namen »Herr Sundermeier«. Diese ungewöhnliche Namenswahl ist einem Schild geschuldet, das an ihrer Tür hing, als sie in ein Zimmer zog, das vorher ein Büro der Berliner Verkehrsbetriebe war. »Herr Sundermeier - Arbeitsvorbereitung« stand darauf. Ursprünglich begann sie den Blog, um sich als Rezensentin bei einem Literaturfestival zu bewerben. Auch, als das längst Geschichte war, führte sie ihn weiter, inzwischen ist er mit vielerlei Dingen gut gefüllt. Es finden sich neben Buchrezensionen auch Gedichte, Kurz- und Kindergeschichten darauf. Angefangen zu schreiben hat sie bereits während ihrer Schulzeit - es begann mit kleinen Geschichten, die sie für ihre Oma schrieb. Seither hat Sonja Heller damit nicht mehr aufgehört. Ihre zweite große Leidenschaft gehört Butoh, einer tänzerischen Performanceart aus Japan. Butoh bedeutet soviel, wie die eigene Form zu finden und hat daher auch keine festen Vorgaben, wie getanzt werden muss. »Für mich hat es einfach viel mit Punk zu tun«, sagt Sonja lachend. Auch wenn die Auftritte als Performancekünstlerin seltener geworden sind, geht sie dieser Leidenschaft neben ihrer Arbeit im »nd« weiter nach. Lediglich das Unterrichten des Tanzes hat sie inzwischen an den Nagel gehängt. Über drei Jahre war sie als Tanzlehrerin vor allem in Russland und Lateinamerika unterwegs. Doch das unstete Leben, das damit einherging, war ihr letztlich zu viel. »Ich wusste manchmal nicht einmal, ob ich im nächsten Ort einen Schlafplatz finden werde«, erinnert sie sich an diese Zeit. Deswegen kehrte sie 2015 schließlich nach Berlin zurück - und unterrichtete hier weiter Tanz. Allerdings fand sie keinen richtigen Zugang mehr zu ihren Schülern. Die Kursteilnehmer wollten Spiritualität, aber das war nicht das, was sie selbst wollte. Immer mehr widmete sie sich daher wieder dem Schreiben, da wusste sie ganz sicher, dass sie es wollte. | Ulrike Kumpe | Seit dem 1. September ist Sonja Heller die Neue in der Marketingabteilung des »nd«. Hier wird sie zukünftig verschiedene Projekte betreuen. Ihr aktuelles ist der neue regionale nd-Newsletter für Berlin-Brandenburg »Muckefuck«, der am Sonntag erstmals erscheinen wird. Dank ihrer Kenntnisse des Berliner Kulturbetriebes w... | Berlin, Hinter-den-Seiten, Tanz, Team Neues Deutschland | nd-Commune | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1143808.leidenschaft-fuer-tanzen-und-schreiben.html |
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Plötzlich - »der Afghane« | Im April 2021 verkündete US-Präsident Joe Biden, die verbliebenen 3500 Truppen in Afghanistan bis zum 11. September abziehen zu wollen. Damit beschritt er den Pfad seines überaus umstrittenen Amtsvorgängers Donald Trump, der bereits im Jahr zuvor mit dem Truppenabzug begann. Der längste Krieg der Geschichte der Vereinigten Staaten soll, so scheint es, beendet werden - zumindest aus amerikanischer Sicht. Für die meisten Afghanen war Washingtons 20-jährige Intervention lediglich eine Fortführung der Kriege und Konflikte, die in ihrem Land bereits seit dem Ende der 1970er Jahre andauern. Das Interesse dafür war allerdings bis zum damaligen Zeitpunkt äußerst gering oder kaum vorhanden. Viele Menschen in westlichen Staaten konnten mit Afghanistan wenig bis gar nichts anfangen. Das Land klang für viele Ohren exotisch und mystisch. Es hatte etwas Unbekanntes. Der eine oder andere wusste von den Bergen des Hindukusch und dass dort irgendwie Krieg herrscht. Doch damit hatte man selbst nichts zu tun. All dies änderte sich schlagartig mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Terroristen griffen das World Trade Center in New York sowie das Pentagon in Washington an und töteten fast 3000 Menschen. Als Folge davon erklärten die Vereinigten Staaten, damals angeführt von George W. Bush, Afghanistan, eines der ärmsten Länder der Welt, zum Feind, der die »freie Welt« angegriffen habe - und das, obwohl keiner der Täter Afghane war. Die Kriegstrommel wurde geschlagen und es war praktisch unmöglich, ihr zu entkommen. Am 11. September 2001 war ich neun Jahre alt und lebte in Innsbruck, meinem Geburtsort. Rund zwei Jahre zuvor hatten meine Familie und ich die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten. Jenseits der Tiroler Alpen hatte ich noch nicht viel gesehen und über meine afghanische Heimat wusste ich praktisch nichts. Als ich an jenem Tag nach Hause kam und mich auf das damals übliche Zeichentrickprogramm im Fernsehen freute, wurde ich enttäuscht. Meine Eltern starrten gebannt auf das Gerät, während auf allen Sendern ein Sonderprogramm lief. Man sah die einstürzenden Türme in New York und panische Reporter, die live zugeschaltet waren. Die Berichterstattung hörte nicht auf und meine Eltern machten einen besorgten Eindruck. Dann wurde das Bild eines bärtigen, Turban tragenden Mannes gezeigt. Mein Wissen über Afghanistan war beschränkt, doch ich wusste, dass Osama bin Laden kein afghanischer Name war. Allerdings sollte er in irgendeiner Art und Weise mit den Taliban zu tun haben, die zum damaligen Zeitpunkt über weite Teile Afghanistans herrschten. Ich wusste damals noch nicht, wie sehr mich diese zwei Begriffe, »bin Laden« und »Taliban«, in den darauffolgenden Tagen und Jahren verfolgen würden. Ab dem 12. September 2001 war ich in der Schule plötzlich »der Afghane«, mit dem zuvor selbst die Türken, Bosniaken oder Serben nichts anfangen konnten. »Emran, ihr seid doch aus Afghanistan. Weißt du, warum die das gemacht haben?«, fragte mich eine Grundschullehrerin vor versammelter Klasse. Ich nahm es ihr damals nicht übel. »Der hat irgendwie mit Afghanistan zu tun. Er ist zwar ein Kind, aber vielleicht hat er eine Antwort«. Vielleicht dachte sie sich so etwas. Stotternd versuchte ich, etwas zu sagen, ja, etwas zu erklären. »Bin Laden ist aber kein Afghane … Das haben meine Eltern gesagt …«, brachte ich dann heraus. Rückblickend denke ich, dass das wahrscheinlich der Anfangspunkt einer langen Entwicklung war, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin: Vom damaligen Tag an war ich der ewige Erklärer des Krieges in meiner Heimat. In der Pause ging es weiter mit dem Afghanistan-Thema. Meine Mitschüler meinten, dass mein Land bombardiert werden müsse und dass »wir es verdient hätten«. Der »Dritte Weltkrieg«, Atombombenabwürfe und allerlei mögliche Schreckensszenarien wurden an die Wand gemalt. »Die machen euch und die Taliban platt!«, hörte ich des Öfteren. Hinzu kamen Kommentare wie: »Ist Osama bin Laden dein Onkel?« Heute weiß ich, dass ich damals nicht der Einzige war, dem es so erging. In der gesamten westlichen Welt begann eine Welle der Islamfeindlichkeit, und viele Kinder wurden in ihren Schulen aufgrund der Tatsache, dass sie Muslime waren oder als solche gesehen wurden, drangsaliert, schikaniert und gemobbt … Meine Mitschüler waren plötzlich kriegsgeil und rassistisch. Doch letzten Endes handelte es sich nur um Kinder, und die imitieren meist die Erwachsenen. Die »Unwissenden und Ignoranten«, mit denen ich mich bis heute auseinandersetze, sind in erster Linie Historiker, Feuilletonisten, Journalisten und Politiker. In meiner Familie hingegen stieg ganz real die Angst vor einem Angriff auf Afghanistan durch die USA, der sich nun immer deutlicher abzeichnete. Plötzlich machte man sich nicht nur um Verwandte vor Ort Sorgen, sondern auch um wildfremde Landsleute, die durch mögliche Bombardements getötet werden könnten. Für mich war das ein neuartiges, besorgniserregendes Gefühl. »Mein Land wird bombardiert«, dachte ich mir immer und immer wieder. Es gab Tage, an denen mich der Stress erdrückte. Während die Menschen um mich herum nach Vergeltung lechzten und den Krieg regelrecht herbeisehnten, wurde ich unruhiger und nervöser. Tatsächlich war dies nicht nur in meinem persönlichen Umfeld der Fall, sondern in vielen westlichen Ländern. Kaum jemand stellte einen Angriff auf Afghanistan in Frage. Auch die höchsten politischen Institutionen der Welt, etwa die Vereinten Nationen, segneten jenen Krieg, der seinerzeit von George W. Bush als »Kreuzzug« bezeichnet wurde, ab. Der illegale Angriff auf ein Land und die kollektive Bestrafung eines gesamten Volkes, das mit den Anschlägen in den Vereinigten Staaten nichts zu tun hatte, wurden einfach für legal erklärt. Der Nato-Bündnisfall trat in Kraft, und für viele Menschen, nicht nur Politiker und Militärs, war das anscheinend die normalste Sache der Welt. Im US-Repräsentantenhaus stimmte lediglich eine Abgeordnete, Barbara Lee aus dem Bundesstaat Kalifornien, gegen den Kriegseinsatz. »Ich will nicht erleben, dass diese Spirale außer Kontrolle gerät. Falls wir voreilig zurückschlagen, besteht die große Gefahr, dass Frauen, Kinder und andere Nichtkombattanten ins Kreuzfeuer geraten«, sagte sie damals. Außerdem warnte Lee vor einem Krieg »mit offenem Ende« und »ohne Exit-Strategie«. Doch sie wurde verhöhnt, verschmäht und als Terrorsympathisantin - ein Begriff, der in den darauffolgenden Jahren inflationär gebraucht wurde - abgestempelt. Am 7. Oktober 2001 begann der längste Krieg der amerikanischen Geschichte. Zum damaligen Zeitpunkt wusste das natürlich noch niemand. Bomben und erstmals auch bewaffnete Drohnen kamen im gesamten Land zum Einsatz. Am Boden verbündeten sich US-Spezialeinheiten mit verschiedenen afghanischen Warlords, Drogenbaronen und allerlei anderen fragwürdigen Akteuren, deren Biografien bereits auf den ersten Blick deutlich machten, dass es Washington und seinen Verbündeten weder um Menschenrechte noch um Demokratie ging. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Taliban-Regime zu Fall gebracht. Selbst noch Jahre später behauptete ZDF-Frontmann Claus Kleber, dass »die Afghanen« sich über die amerikanische Intervention gefreut hätten. Kleber meinte, derartige Reaktionen in Kabul erlebt zu haben, und wollte damit gleichzeitig jene in die Schranken weisen, die den Nato-Einsatz kritisierten. Im Dezember 2009, zwei Monate, nachdem auf Befehl des Bundeswehrobersts Georg Klein über 150 Zivilisten durch einen Luftangriff in der nördlichen Kunduz-Provinz getötet wurden, behauptete ZDF-Korrespondent Hans-Ulrich Gack, dass die Bundeswehr »zu sanft« vorgehen würde und »viele Afghanen« ein härteres Vorgehen begrüßen würden. Damit schloss sich Gack dem politischen Neusprech Washingtons und anderer Kriegsparteien an. Anstatt dieses als Journalist zu hinterfragen, verbreitete er es mit Eifer, etwa indem er den korrupten Polizeichef der Provinz, der von der Nato installiert wurde, zitierte und meinte, man müsse die Afghanen »auf die Linie der Bundeswehr und der Bundesregierung« bringen. Journalisten wie Kleber oder Gack, die von Afghanistan praktisch nichts wussten und doch stets mit ihrem Halbwissen prahlten, waren letztendlich wohl auch einer der Gründe, warum ich irgendwann selbst zur Schreibfeder gegriffen habe und Kriegsreporter geworden bin. Die westliche Kriegsberichterstattung hat mich meist frustriert - nicht nur in Sachen Afghanistan. Oftmals war sie geprägt von Unwissen oder rassistischen und orientalistischen Stereotypen. Allein schon von »den Afghanen« zu sprechen, offenbart große Ignoranz, denn die verschiedenen Gruppen, die im Gebiet des heutigen Afghanistan leben, sind überaus heterogen. Dennoch glauben viele westliche Journalisten, aus ihren Beobachtungen in den urbanen Ballungszentren wie Kabul allgemeingültige Rückschlüsse ziehen zu können. Hinzu kommen sprachliche und kulturelle Barrieren, die nicht nur von Kleber, sondern von vielen anderen renommierten Journalisten westlicher Medien kaum durchbrochen wurden … Oftmals wird versucht, die Gewalt zu »afghanisieren«: Wir, sprich: der Westen, haben mit alldem nichts zu tun. Wir wollen nur helfen, doch die Barbaren zerfleischen sich untereinander. Dieses Narrativ wird konsequent durchgedrückt und immer wieder neu aufgerollt. Die Opfer westlicher Gewalt werden stets als Kollateralschäden dargestellt, die man eigentlich nicht töten wollte. Auch hierfür wird meist die Gegenseite verantwortlich gemacht. Man spricht von »menschlichen Schutzschildern« oder findet irgendeine andere Rechtfertigung für das erneute Massaker. Auch hierbei handelt es sich um keine neue Entwicklung. Wer die Berichte von britischen Kolonialisten, die einst Afghanistan erobern wollten, liest, wird oftmals feststellen, dass sich diese kaum von dem unterscheiden, was einige renommierte Medien bis heute über das Land produzieren. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem am 23. August erscheinenden Buch von Emran Feroz: »Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror« (Westend-Verlag, 224 S., br., 18 €.). | Emran Feroz | In seinem neuen Buch »Der längste Krieg« beschreibt der aus Afghanistan stammende und in Österreich aufgewachsene Journalist Emran Feroz seine traumatischen Kindheitserinnerungen an den Kriegsbeginn. Ein Vorabdruck. | 11. September 2001, Afghanistan, Emran Feroz, Islamfeindlichkeit, Krieg, Taliban, Terror | Feuilleton | Kultur War on Terror | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155696.war-on-terror-ploetzlich-der-afghane.html?sstr=taliban |
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Trumps Sündenbock senkt die Zinsen | Wegen Handelskonflikten und zunehmender Sorgen um die Konjunktur steht die US-Notenbank Experten zufolge vor der ersten Senkung ihres Leitzinses seit einem Jahrzehnt. Die Zentralbank will mit der Zinswende offenbar eine drohende Abschwächung der seit nunmehr zehn Jahren wachsenden US-Wirtschaft auffangen. Zudem kommt die Federal Reserve (Fed) damit auch ihrem prominentesten Kritiker entgegen: US-Präsident Donald Trump, der seit Monaten öffentlich harsche Kritik am Kurs der Notenbank äußert. Finanzmärkte rechnen mehrheitlich mit einer Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte. Bei ihrer letzten Sitzung im Juni hatte die Fed die Leitzinsspanne bei 2,25 bis 2,5 Prozent belassen. Die Entscheidung soll an diesem Mittwochabend bekanntgegeben werden. Der weithin erwartete Schritt der Fed markiert eine Zäsur: Im Zuge der verheerenden globalen Wirtschaftskrise 2008/9 senkte die Notenbank die Zinsen aggressiv, um die Konjunktur zu stabilisieren. 2015 bega... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Jürgen Bätz, Washington | Donald Trump kritisierte ihren Kurs mehrfach heftig: Doch die US-Notenbank hielt beharrlich an ihrer Zinspolitik fest. Nun steht nach mehr als zehn Jahren erstmals eine Zinssenkung bevor. | Donald Trump, USA | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1123655.trumps-suendenbock-senkt-die-zinsen.html |
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Die ewig alte Bahn | Das Leben ist grausam. Man wirft sich wohlig ermattet in einen Zug der Deutschen Bahn, der einen im besten Falle nach Nirgendwo führt, und man ist also glücklich seinen Vorgesetzten entronnen – aber was hört man? Eine Stimme aus dem Zuglautsprecher: »Guten Tag, ich bin Ihr Zug-Chef.« Wird man denn überall behandelt wie ein Angestellter? Man soll die Bahn nicht vor dem Aussteigen loben, aber immerhin: Sie will Konsequenzen aus dem Winter ziehen und darauf reagieren, dass offenbar immer mehr Fahrgäste verärgert bis wütend sind. Die Unzufriedenheit, so sagt der Konzern, liege aber nicht darin begründet, dass die Züge sich schamlos verspäten, sondern einzig darin, dass die Kunden nicht früh und nicht ausführlich genug darüber informiert würden. Wir leben längst eine Welt, bei der Ursachen nicht mehr bekämpft werden. Wesentlich wurde der möglichst freundliche Service beim Aushalten, Mundhalten, Hinhalten. »Was kann ich für Sie tun?« ist der Standardsatz, der ankündigt, dass man eben abgezockt wurde. Es zählt also auch nicht der pünktliche Zug – es zählt nur der schöne Zug, sorgfältig und bemüht erst dann zu sein, wenn der Schlamassel eingetreten ist. So liefert die Deutsche Bahn einen kleinen Beleg, warum wir im Hinblick auf Erbärmlichkeiten der Politik oft unverwandt vom Zug der Zeit sprechen. | Hans-Dieter Schütt | Deutsche Bahn | Meinung | Kommentare Kommentiert | https://www.nd-aktuell.de//artikel/164249.die-ewig-alte-bahn.html |
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»Ohne uns kann hier niemand arbeiten« | Sie haben heute Morgen um 6 Uhr angefangen? Um 5.40 Uhr. Das ist unser Beginn. Und es geht bis 13.52 Uhr. 13.52? Was ist das für eine Uhrzeit? Das sind die Arbeitszeiten, die im Tarifvertrag festgelegt wurden. Wir haben 38,5 Stunden in der Woche, und das wird dann auf die Tage umgerechnet. Sie arbeiten in Vollzeit? Ja, Vollzeit. In drei Schichten. Früh-, Spät-, Nachtschicht. Das wechselt alle sieben Tage, und dazwischen haben wir zwei Tage frei. Das klingt anstrengend. Anstrengend, ja. Aber sehr abwechslungsreich. Der Plan wechselt stündlich: Wir sitzen eine Stunde, wir stehen eine Stunde und laufen eine Stunde. Wenn wir um 5.40 Uhr mit der Frühschicht anfangen, ist erstmal die Übergabe von der Nachtschicht dran. Da werden zum Beispiel Schäden mitgeteilt, also wenn eine Toilette kaputt ist, das Licht nicht geht. Anschließend werden die Zeitungen geliefert, die sortieren wir. Die Fraktionen bekommen ih... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Johanna Treblin | Wer ins Berliner Abgeordnetenhaus hineingeht, kommt an ihnen nicht vorbei: den Mitarbeitern vom Ordnungsdienst. Martina Alter ist am längsten dabei: seit 19 Jahren. Ein Gespräch über Arbeitszeiten, Taschenmesser und die Namen der Abgeordneten. | Abgeordnetenhaus, Berlin | Hauptstadtregion | Berlin Berliner Abgeordnetenhaus | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1118432.ohne-uns-kann-hier-niemand-arbeiten.html |
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Weiße Frau, schwarze Hände | Focus-Online ist zur Zeit das reichweitenstärkste deutschsprachige Nachrichtenangebot im Netz. Erreicht hat das der digitale Bruder des Holzmediums »Focus« durch eine konsequente Beschränkung auf Boulevard-Themen - und dem Click-Garanten Sex. Mit Überschriften wie »Yoni-Massage stimuliert 8000 Lustpunkte der Frau« hat man 2015 dem bisherigen Marktführer im Bereich »Schmuddel-Journalismus«, Bild-Online, übertrumpft. Vielleicht also waren die Redakteure des Print-»Focus«, dessen Auflage seit Jahren sinkt und längst wieder deutlich unter der des »Spiegel« und des »Stern« liegt, auf die Kollegen aus der digitalen Abteilung einfach nur neidisch, als sie sich Ende vergangener Woche zu einem Titelbild entschieden, auf dem eine blonde nackte Frau zu sehen ist, die ihre Arme schützend vor ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale hält; notdürftig verdeckt werden diese zudem durch den Schriftzug: »Frauen klagen an. Nach den Sex-Attacken von Migranten: Sind wir noch tolerant oder schon blind?« Der Körper der Frau ist mit dunklen Handabdrücken übersät. Mit Fug und Recht kann man spätestens seit einer Woche den »Focus« also als »Schmuddel-Illustrierte« bezeichnen. Das Titelbild erzeugte in den sozialen Netzwerken das, was man neudeutsch einen Shitstorm nennt. Auf Twitter hieß es beispielsweise »Schwarze Tatschpfoten auf weißer Nacktfrau. Zu blöd, um es zu erfinden: Focus, das un-parodierbare Trottelmagazin« oder »Fucken, Fucken, Fucken und immer an den Leser denken«. Der Chefredakteur der Schmuddel-Illustrierten, Ulrich Reitz, verteidigte sich gegen die Kritik, indem er eine Erklärung verbreiten ließ. »Auf Twitter wurde heute das Cover unserer aktuellen Ausgabe kritisiert. Wir hatten uns dazu entschieden, symbolisch darzustellen, was in Köln geschah. Deshalb zeigen wir, stellvertretend für die vielen weiblichen Opfer, eine zum Sex-Objekt degradierte und entwürdigte Frau - die aber dennoch entschlossen ist, sich zu wehren.« Inwieweit die Darstellung einer von schwarzen Männerhänden begrapschten Frau in eindeutig passiver Körperhaltung etwas mit Wehrhaftigkeit zu tun hat, bleibt das Geheimnis von Reitz. Kritik gibt es aber nicht nur am Cover, sondern auch daran, wie der »Focus« im Innenteil der Ausgabe Aussagen prominenter Frauen verwendet hat. So bediente man sich eines öffentlichen Postings der Journalistin Hatice Akyün, die u.a. für den Berliner »Tagesspiegel« schreibt. Akyün ist über die ungefragte Verwendung ihrer Stellungnahme »sehr wütend«, wie sie gegenüber dem »Tagesspiegel« erklärte. »Mit vollem Bewusstsein und ohne Rücksicht hat der ›Focus‹ meine Worte gedreht und geschüttelt, damit sie in ihren rassistischen Kontext passen«, sagte Akyün der Berliner Regionalzeitung. Gegen das »Focus«-Titelbild sind beim Deutschen Presserat mittlerweile zahlreiche Beschwerden eingegangen. Wegen einer ähnlichen Illustrierung der Berichterstattung über die Vorfälle in Köln hat sich auch die »Süddeutsche Zeitung« (SZ) Kritik und Beschwerden beim Presserat eingehandelt. In der Ausgabe vom vergangenen Wochenende war auf der Titelseite in Form eines Scherenschnitts der Unterkörper einer Frau zu sehen, dem eine schwarze Hand in den Schritt greift. Im Gegensatz zum »Focus« hat sich die SZ allerdings für diese Darstellung entschuldigt. Bereits am Sonntag distanzierte sich Chefredakteur Wolfgang Krach auf Facebook. Die Darstellung bediene »stereotype Bilder vom ›schwarzen Mann‹, der einen ›weißen Frauenkörper‹ bedrängt.« Die Redaktion bedauere, »wenn wir durch die Illustration die Gefühle von Leserinnen und Lesern verletzt haben, und entschuldigen uns dafür«, erklärte Krach. Der Deutsche Presserat erklärte, dass er in den nächsten Tagen entscheiden werde, ob sich der Beschwerdeausschuss des Gremiums mit den beiden Fällen befassen wird. Übrigens, liebe »Focus«-Redakteure, die Frage, ob ihr schon blind seid, hätten eure Großväter noch mit Leichtigkeit beantworten können. Natürlich seid ihr das, denn vom onanieren wird man blind. | Redaktion nd-aktuell.de | Focus-Online setzt für seinen Erfolg auf Boulevard-Themen - und dem Click-Garanten Sex. Vielleicht also waren die Redakteure des Print-»Focus« darauf neidisch und entschieden sich deshalb für ein umstrittenes Cover. | Köln, Medienkritik, Presse, Rassismus, Sexismus | Aus dem Netz gefischt | 2016-01-14T17:04:13+0100 | 2016-01-14T17:04:13+0100 | 2023-01-22T17:19:01+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/998055.weisse-frau-schwarze-haende.html |
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Zehn Jahre nach Rana Plaza: Die Standards haben sich nicht erhöht | Am 24. April vor zehn Jahren stürzte in Bangladesch der Fabrikkomplex Rana Plaza ein. Über 1000 Arbeiter*innen starben, 2500 wurden verletzt. Erinnern Sie sich noch an den Tag? Dr. Gisela Burckhardt ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende von Femnet e.V. Seit 2015 ist sie gewählte Vertreterin der Zivilgesellschaft im Bündnis für nachhaltige Textilien. Sicher erinnere ich mich, es war ein furchtbarer Schock. Wir haben damals sofort versucht, mit den Arbeiter*innen in Kontakt zu kommen, das war nicht so einfach wie heute. Ich selbst bin nach dem Unglück dorthin gefahren und habe verletzte Arbeiter*innen im Krankenhaus besucht und mit Hinterbliebenen gesprochen. Nachdem die ganzen Verwundeten und Toten geborgen waren, haben unsere Partnerorganisationen, zu denen wir als Mitglied der Clean Clothes Campaign enge Kontakte pflegen, vor Ort nach Labeln und Etiketten gesucht. Wir wollten wissen, wer in der Fabrik produziert hat, wer verantwortlich ist. Die Katastrophe hat die Arbeitsbedingungen in der Textilbranche weltweit in die Schlagzeilen gebracht. International wurde das Brandschutzabkommen Accord verabschiedet. In Deutschland rief der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller das Textilbündnis ins Leben. Wie schätzen Sie diese Initiativen heute ein? Das Brandschutzabkommen Accord war auf jeden Fall ein wichtiger Fortschritt, der leider auch erst durch den öffentlichen Druck nach dem Unglück möglich geworden ist. Rund 220 vor allem europäische Unternehmen haben es zusammen mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen ausgehandelt, um verpflichtende Standards für mehr Arbeitssicherheit und Gesundheit durchzusetzen. Inzwischen liegt die Zuständigkeit bei der Regierung in Bangladesch. Gleichzeitig wurde das Abkommen international ausgeweitet, so wurde es auch in Pakistan unterzeichnet. Ebenfalls als Reaktion wurde in Deutschland das Textilbündnis aus der Taufe gehoben. Das war immerhin ein erster Schritt, Gewerkschaften, Unternehmen und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu bringen. Und heute? Beim Textilbündnis bin ich inzwischen ziemlich ernüchtert. Wir hatten große Hoffnung auf den Dialog mit den Unternehmen gesetzt. Bei einigen hat sich das Bewusstsein zwar geändert, dennoch hat sich vor Ort bis heute nichts verbessert. Wir überlegen immer wieder, ob es noch Sinn macht, im Textilbündnis zu bleiben. Klar ist, wir brauchen auf jeden Fall gesetzliche Regelungen. Ich finde, diese ganze Freiwilligkeit ändert kaum etwas. Insgesamt stellen wir fest: Die sozialen Standards haben sich nicht erhöht – im Gegenteil. Die Löhne wurden in Bangladesch seit fünf Jahren nicht heraufgesetzt trotz gravierender Inflation. Frauendiskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz sind weiter vorhanden. In den Corona-Jahren sind massenhaft Einkommen weggebrochen, weil die Näher*innen keine Löhne bekamen, als die Fabriken geschlossen hatten. Nur sehr wenige waren bereit, die gesetzlich vorgeschriebenen Entschädigungszahlungen auszuzahlen. Minister Müller hat dann den Grünen Knopf gestartet. Das ist ein staatliches Textilsiegel, das 26 soziale und ökologische Produktkriterien und 20 Unternehmenskriterien umfasst… Ich denke, der Grüne Knopf ist auch entstanden, weil das Textilbündnis aus Sicht von Gerd Müller nicht schnell genug Ergebnisse geliefert hat, die Aushandlungsprozesse waren doch sehr zäh. Es war zudem für Verbraucher*innen kaum sichtbar und hatte insgesamt wenig Auswirkungen. Er hat wohl auch deshalb das Siegel zusätzlich ins Leben gerufen. Welche anderen Ansätze beobachten Sie? Aktuell wird das Thema Recycling heftig diskutiert in der Branche. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um Arbeitsbedingungen, sondern um Umweltverschmutzung und Klimawandel. Durch Wiederverwertung will man etwa den CO2-Ausstoß reduzieren. Aber das ist zum großen Teil Augenwischerei. Bei der Baumwolle etwa ist es gar nicht möglich, 100 Prozent zu recyceln. Bei den Chemiefasern wird oft nicht Kleidung recycelt, sondern anderes Plastik wie PET Flaschen. Das macht überhaupt keinen Sinn, denn es reduziert nicht die Menge an Kleidung. Inzwischen gibt es verschiedene Label und Zertifikate, die faire Kleidung vertreiben oder zertifizieren. Sehen Sie da gute Ansätze? Dieser ganze Bereich ist sehr problematisch. Sicher gibt es gute Ansätze wie beim Grünen Knopf oder dem Fair Trade Siegel für den Baumwollanbau. Aber auch letzteres zahlt ja keine existenzsichernden Löhne, sondern einen etwas höheren Preis für die Baumwolle. Der Rest der Lieferkette wird damit noch nicht abgedeckt. Gut ist beim Grünen Knopf, dass die Unternehmen geprüft werden und nicht nur das Produkt. Aber mit existenzsichernden Löhnen hat das alles nichts zu tun. Grundsätzlich schwierig bei den Siegeln ist, dass Unternehmen denken, super, wir bekommen ein Siegel und haben unserer Sorgfaltspflicht genüge getan. Aber das reicht einfach nicht aus. Als Unternehmen muss man die Lieferkette kennen, man muss intensiv in den Dialog mit seinen Lieferanten gehen. Erst wenn man diese gut kennt, ist es möglich, Schwächen zu verbessern und sicherzustellen, dass gute Standards umgesetzt werden. Tatsächlich ist es aber so, dass viele Unternehmen ihre Lieferkette überhaupt nicht kennen. Hier könnte ja das neue Lieferkettengesetz greifen. Das ist auf jeden Fall ein Ansatz. Es geht ja darum, dass Unternehmen auch in der tieferen Lieferkette, also beispielsweise in der Spinnerei aktiv werden müssen, wenn Vorkommnisse oder Verstöße gemeldet werden. Gleichzeitig gibt es aber kein Klagerecht für Betroffene vor deutschen Gerichten, das sehen wir kritisch. Insgesamt müssen wir wohl erst die Umsetzung abwarten und beobachten, wie gründlich die Unternehmen eigentlich geprüft werden. Auch auf EU-Ebene wird ja ein neues Lieferkettengesetz diskutiert… Der Entwurf hat an vielen Stellen noch Mängel, ist aber besser als die deutsche Variante. So soll es Klagemöglichkeiten für Betroffene geben. Gleichzeitig soll aber die Beweispflicht, dass Arbeitsrechte verletzt werden, bei den Betroffenen liegen. Da muss nachgebessert werden: Das Unternehmen sollte nachweisen müssen, dass es Umwelt- und Sozialstandards eingehalten hat. In der Debatte nach der Katastrophe von Rana Plaza ging es medial und bei vielen Aktivist*innen um das »Problem Billigklamotten«. Besonders Unternehmen wie Kik standen im Fokus. Geht es um günstige Klamotten? Nein, überhaupt nicht. Besonders Wirtschaftsvertreter*innen behaupten das immer gerne. Aber es stimmt nicht. Ich bin selbst immer wieder in Fabriken unterwegs, da läuft in der einen Reihe Kik und in der nächsten Hugo Boss oder Gucci. Alle lassen in denselben Fabriken produzieren. Der Unterschied liegt dann in der Verarbeitung oder der Auswahl der Stoffe. Bei den Arbeitsbedingungen jedoch gibt es keinen. Wer teure Kleidung kauft, sorgt nicht dafür, dass Arbeits- und Sozialstandards eingehalten werden. Was also tun? Man muss genau schauen, von wem man kauft. Aber es ist natürlich eine Zumutung, wenn Verbraucher*innen das alles selbst per Recherche herausfinden sollen. Deshalb braucht es das Lieferkettengesetz, das diesen Schritt leistet und die Unternehmen prüft. Auch wenn wir im Grunde durch zahlreiche Studien ja schon wissen, dass Arbeitsrechte in den Textilfabriken verletzt werden. Die Näherinnen werden entlassen, wenn sie sich etwa gewerkschaftlich organisieren. Seit der Pandemie ist der Arbeitsdruck sogar gestiegen, das Produktionssoll wurde gesteigert. Das sind die Fakten, die wir längst kennen. Wenn Sie heute auf die Textilbranche blicken. Was sehen Sie? Das größte Problem der Textilbranche ist die Überproduktion. Die Anzahl der weltweiten Kleidungskäufe hat sich zwischen 2000 und 2015 auf 100 Milliarden verdoppelt. Davon wird sehr sehr viel ungetragen weggeworfen, anderes ein, zweimal angezogen, bevor es in der Tonne landet. Das ist ein massiver Schaden, sowohl für die Umwelt wie auch für die Arbeiter*innen. Die von ihnen unter schlimmen Arbeitsbedingungen hergestellte Kleidung wird ungetragen weggeworfen. Das ist doch Wahnsinn! Wir brauchen weniger Produktion, weniger Kleidungsstücke, die dafür länger haltbar sind – auch im Gedenken an die Opfer von Rana Plaza, die für Fast Fashion gestorben sind. | Haidy Damm | Vor zehn Jahren stürzte der achtgeschossige Textilfabrik-Komplex Rana Plaza in Bangladesch ein. Über 1000 Arbeiter*innen starben, 2500 wurden verletzt. Viele von ihnen leiden bis heute an den Folgen. | Die Grünen | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Textilindustrie | 2023-04-23T15:48:06+0200 | 2023-04-23T15:48:06+0200 | 2023-04-25T11:19:18+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172653.textilindustrie-zehn-jahre-nach-rana-plaza-die-standards-haben-sich-nicht-erhoeht.html?sstr=kik |
»Die Innenpolitik der CDU besteht aus blankem Populismus« | Herr Franco, die Grünen wollen bei der Wahlwiederholung am 12. Februar das Rote Rathaus erobern. Wer den Senat führen will, traut sich dann ja sicher auch das Innenressort zu? Vasili Franco, 1992 im russischen St. Petersburg geboren, beteiligte sich als Jugendlicher an den Protesten gegen die Castor-Transporte in Gorleben und trat 2010 den Grünen bei. Der studierte Verwaltungsrechtler zog nach den Wahlen im September 2021 über ein Direktmandat im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg 5 für die Grünen ins Abgeordnetenhaus ein. Der Fraktionssprecher für Innen- und Drogenpolitik gilt als dezidierter Vertreter des linken Parteiflügels. Ich bin schon lange der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, dass Grüne insgesamt in den Innenressorts Verantwortung übernehmen. Es mag vielleicht schon immer so gewesen sein, dass Polizei und Feuerwehr nie die nächsten Verbündeten der Grünen waren. Aber in der Innenpolitik werden so viele Dinge entschieden, die Auswirkungen auf die Freiheits- und Bürger*innenrechte haben. Auch geht es hier um die Frage, wie wir hier in unserer Stadt zusammenleben wollen. Wenn wir Grünen in Regierungsverantwortung sind und zudem noch einen Führungsanspruch haben, dann gehört auch dieses Politikfeld dazu. Angesichts der Linkslastigkeit der Berliner Grünen bekommen konservative Law-and-Order-Politiker jetzt vermutlich Schnappatmung. Sie zum Beispiel gelten manchen als Radikalinski. Ich finde es einfach nur lustig, dass uns vorgeworfen wird, wir seien polizeifeindlich, wir seien ideologisch, uns könnte man die Sicherheit nicht anvertrauen. Ich bin der vollen Überzeugung, dass das Gegenteil der Fall ist. Man muss sich nur mal den Innenhaushalt anschauen. Seit 2016 ist unter der Koalition zusammen mit SPD und Linken der Innenetat um mehr als 850 Millionen Euro auf fast drei Milliarden Euro angewachsen. Unter dem vormaligen CDU-Innensenator Frank Henkel waren es gerade mal um die 300 Millionen. Uns also vorzuwerfen, wir kümmern uns nicht um die Sicherheit in dieser Stadt, um die Polizist*innen, die Feuerwehrleute und Rettungskräfte, das hat nichts mit der Realität zu tun. Weil Sie gerade den zwischen 2011 und 2016 amtierenden CDU-Innensenator Henkel erwähnt haben: Unterscheidet sich denn SPD-Innensenatorin Iris Spranger mit ihren Positionen so stark von ihrem Vor-Vorgänger? Na ja, es ist schon erschreckend, dass die SPD-Innensenatorin oft näher dran ist an der CDU als an der eigenen Koalition. Statt über eine erfolgreiche Polizeistudie zu diskutieren, lässt sie sich im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses lieber von AfD bis CDU beklatschen. Da muss man sich fragen, für wen diese Innensenatorin regiert. Dennoch ist es wichtig, dass wir hier eine rot-grün-rote Koalition haben, die eben nicht jedem Reflex nach mehr Law-and-Order folgt, sondern für ein Abwägen von Freiheit und Sicherheit steht. Letztendlich kommt dennoch durch, wer das Ressort mit welcher Motivation führt. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hatte ja zu ihrem Amtsantritt von einem neuen Stil gesprochen, von mehr rot-grün-rotem Miteinander statt Gegeneinander. Das hat ja nun zumindest im Bereich Innenpolitik überhaupt nicht geklappt. Ja, das fehlt mir an der Stelle sehr oft. Das gilt vor allem für die Zusammenarbeit mit der Innenverwaltung. Ich bin davon überzeugt, wenn wir mehr Themen als rot-grün-rote Koalition von Anfang an zusammen anpacken würden, würde das auch der Innenpolitik in Berlin guttun. Von interessierter Seite wurde bis vor Kurzem eifrig gestreut, CDU und Grüne würden bereits für die Zeit nach dem 12. Februar anbändeln. Auch wenn Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch dem nach der im Anschluss an die Silvesterrandale von der Union losgetretenen Vornamendebatte vorerst eine Abfuhr erteilt hat: Wäre eine solche Konstellation überhaupt vorstellbar für Sie? Die Innenpolitik der CDU besteht aus blankem Populismus. Die haben es in den Haushaltsverhandlungen nicht mal geschafft, einen einzigen Änderungsantrag im Innenausschuss zu stellen. Sich dann als Verteidigerin der Sicherheit hinzustellen, das finde ich schon ein großes Stück. Das beantwortet meine Frage nicht. Dann deutlich: Wenn ich mir die Politik der CDU der vergangenen Jahrzehnte ansehe, dann frage ich mich, wie man mit so einer Partei überhaupt eine Koalition machen sollte. Ich kann mir das persönlich nicht vorstellen. Und gerade mit der Silvesterdebatte hat die CDU bewiesen, dass sie in dieser Stadt keine Verantwortung übernehmen sollte. Diese Debatte ist zutiefst unredlich. Wenn es um die Frage nach Vornamen geht, weiß jeder, dass daraus keine kriminologischen Erkenntnisse zu ziehen sind. Jeder Richter würde die rechten Hobbydetektive für das, was sie in den letzten Wochen veranstaltet haben, direkt vom Hofe jagen. Was macht eigentlich das angekündigte Lagebild zur Silvesternacht? Da warten wir bis heute drauf. Wie bewerten Sie überhaupt die Krawalle? Seit Tag eins wussten ja alle sehr, sehr viel. Dabei ist bis heute eigentlich unklar, welcher Vorfall sich wo mit welchen Beteiligten zugetragen hat. Das muss aufgearbeitet werden. Aber wir vermischen hier alle möglichen Debatten miteinander. Und wenn die Politik als logische Konsequenz fast nur Debatten über Jugendkriminalität und Integration führen will, dann hat das aus meiner Sicht oftmals wenig mit konkreter Ursachenforschung zu tun. Da sucht man ein Feindbild und befeuert offensichtlich Rassismus, der mit kräftigem Applaus von rechts außen aufgenommen wird. Haben Sie denn anderes erwartet? Tatsächlich hat es mich erschreckt. Vielfalt ist in dieser Stadt Normalität. Klar können wir auch darüber reden, wie wir Migration gestalten. Wir haben durchaus ein Integrationsversagen. Das liegt aber an der ausgrenzenden, stigmatisierenden Politik der vergangenen Jahrzehnte. An einer Politik, die hier bestimmte Brennpunkte überhaupt erst geschaffen hat, Stadtquartiere, in denen die Menschen keine Perspektive haben. Und dann wundert man sich heute über die Folgen der eigenen Politik und gibt die Schuld auch noch denjenigen, die am wenigsten dafür können. Könnte ein Blick in die Kriminalitätsstatistik die Debatte versachlichen? Sicher. Wenn wir uns einfach nur die aktuellen Zahlen im Bereich der Jugendkriminalität anschauen, haben wir den niedrigsten Stand der vergangenen zehn Jahre. Und auch bei Jugendgruppengewalt haben wir so wenige Fälle wie noch nie. Klar, es gibt Probleme und die muss man sich auch anschauen. Aber wir haben es hier weder mit neuen Phänomenen zu tun, noch brauchen wir lange nach Lösungen suchen. Denn die liegen auf der Hand. Das ist die Stärkung von Prävention und sozialen Angeboten. Wer in dieser Debatte einfach mal Kriminolog*innen, Gewaltforscher*innen oder Soziolog*innen zugehört hätte, der wüsste, dass man diese Debatte auch sachlich und unemotional führen kann. Innensenatorin Spranger scheint es vor allem um mehr Ausrüstung für Einsatzkräfte zu gehen: Taser, Bodycams – dann ist alles in bester Ordnung … Wir erleben hier wiederkehrende Phantomdebatten. Seien es die Bodycams, seien es die Taser. Als ob sich Innenpolitik nur darum drehen würde. Dabei sind da die Wege durch den Koalitionsvertrag doch klar vorgezeichnet. Wir setzen auf wissenschaftliche Evaluation. Mich hat das als neues Innenausschussmitglied tatsächlich erstaunt, wie wissenschaftsfeindlich man eigentlich in dem Themenfeld unterwegs ist. Auch im Bereich der Polizei muss doch unser Anspruch sein, Entscheidungen anhand von Daten und Fakten zu treffen. Stattdessen erleben wir eine Innensenatorin, die in allererster Linie eine Ankündigungssenatorin ist. Es wird nicht vorher darüber diskutiert, es wird angekündigt. Einfach mal ein Thema rausgehauen. Oftmals ohne Plan. Nun gut, aber bei der Polizeiwache am Kottbusser Tor in Kreuzberg hat Spranger nicht nur angekündigt, sondern ihr Ding bis zum Ende durchgezogen. In Kürze soll die Wache eröffnen. Die Kotti-Wache ist aus meiner Sicht vor allem ein Symbolprojekt. Hinsichtlich der Sicherheit am Kotti gäbe es wirklich viel, worüber man reden müsste. Nur eine Wache in den Kiez klatschen, ist keine Lösung. Die rund 3,8 Millionen Euro, die hierfür ausgegeben werden, das wären für alle Träger – ob in der Sozialarbeit oder in der Drogenhilfe – so viel Geld, davon können diese nur träumen. Die Maßnahmen, die wir eigentlich brauchen, sind klar. Die Frage ist aber, welche Prioritäten wir setzen. Und aus meiner Sicht sind Symbolprojekte die falsche Priorität. Eine andere Innenpolitik wäre möglich. Es wäre, wie gesagt, an der Zeit. | Interview: Mischa Pfisterer | Vasili Franco ist seit 2021 innenpolitischer Sprecher der Berliner Grünen-Fraktion. Im nd-Interview spricht Franco über den Wahlkampf der CDU, über SPD-Senatorin Iris Spranger und die Debatte nach der Silvesternacht. | Berlin, CDU, Die Grünen, Einwanderung, SPD | Hauptstadtregion | Berlin Abgeordnetenhauswahl | 2023-01-30T13:21:30+0100 | 2023-01-30T13:21:30+0100 | 2023-01-31T11:11:31+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170551.die-innenpolitik-der-cdu-besteht-aus-blankem-populismus.html |
Hertha geht den Weg über die Instanzen | Gestern Nachmittag um kurz nach Drei fällte das DFB-Sportgericht sein Urteil. Es wies den Einspruch von Hertha BSC gegen die Wertung des Relegationsrückspiels bei Fortuna Düsseldorf (2:2) als unbegründet ab. Hertha wollte nach dem Platzsturm der Düsseldorfer Fans und einer 20-minütigen Unterbrechung ein Wiederholungsspiel erreichen. »Schwierig« sei die Entscheidung gewesen, teilte der Vorsitzende des DFB-Sportgerichtes mit. Am Ende musste die »Tatsachenentscheidung« herhalten als Begründung, warum beim Relegationsrückspiel trotz des Chaos' auf Rasen und Rängen die Wertung rechtmäßig war: »Das Spiel wurde dreimal unterbrochen und dreimal fortgesetzt. Das sind Tatsa... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Jirka Grahl | Hertha BSC zieht im Streit um eine Wiederholung des Relegationsrückspiels bei Fortuna Düsseldorf (2:2) vor das Bundesgericht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Das gaben die Berliner am Montag bekannt. Kurz zuvor hatte das DFB-Sportgericht den Einspruch der Hertha gegen die Spielwertung abgewiesen. | 1. Fußballbundesliga, Hertha BSC | Sport | Sport | https://www.nd-aktuell.de//artikel/227494.hertha-geht-den-weg-ueber-die-instanzen.html |
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In der Linken muss alles auf den Prüfstand | Liebe Susanne, liebe Janine, Mit einem Brief, den man durchaus dramatisch nennen kann, hat sich der Vorsitzende des Linke-Ältestenrates, Hans Modrow, an die beiden Parteichefinnen Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler gewandt. Daran setzt er sich grundsätzlich und kritisch mit der Lage der Linkspartei nach der Bundestagwahl vom September 2021 auseinander. Modrow will damit, wie er schreibt, zur Debatte vor dem nächsten Parteitag beitragen, der im Juni in Erfurt stattfinden soll. Modrows Wort hat Gewicht in der Linken, wenngleich er seit Längerem damit hadert, dass die Parteiführung den Rat der Alten ignoriere, wie er sagt. Der Politiker, der an diesem Donnerstag 94 Jahre alt wird, hatte zu DDR-Zeiten diverse Funktionen in FDJ und SED inne. In der Wendezeit 1989/90 war er Ministerpräsident einer so genannten Regierung der nationalen Verantwortung - einer Allparteien-Regierung , in der dann neben Parteivertretern auch Vertreter außerparlamentarischer Oppositionsgruppen als Minister ohne Geschäftsbereich mitarbeiteten. In den 90er Jahren war er Abgeordneter der PDS im Bundestag, später auch im EU-Parlament. zum ersten Mal seit vielen Jahren blieb ich dem stillen Gedenken in Berlin-Friedrichsfelde fern, konnte nicht gemeinsam mit Euch und vielen anderen jene ehren, auf deren Schultern unsere Partei steht. Ich fehlte nicht aus politischen Gründen, wie manch anderer, sondern aus gesundheitlichen: Ich lag im Krankenhaus. Die medizinischen Diagnosen sind nicht eben freundlich, weshalb ich es für angezeigt halte, meine Angelegenheiten zu regeln. Darum auch dieser Brief. Er soll zugleich mein Beitrag sein für die Diskussion im Vorfeld des Parteitages in Erfurt. Die Partei Die Linke - hervorgegangen aus WASG und PDS, und diese wiederum aus der SED, welche ihre organisatorischen Wurzeln in der KPD und der SPD hatte - befindet sich in einer kritischen Situation. Diese entstand nicht erst durch das desaströse Resultat bei den Bundestagswahlen. Das Ergebnis machte die innere Verfasstheit lediglich sichtbar. Wenn die Partei sich nicht im klaren ist, wofür sie steht und was ihr Zweck ist, wissen dies auch nicht die Wähler. Warum sollen sie ihre Stimme einer Partei geben, deren vordringlichstes Interesse darin zu bestehen scheint, mit SPD und Grünen eine Regierung bilden zu wollen? Dass diese Vorstellung offenkundig in der Führung und unter den Mandatsträgern dominiert, ist weder dem Wirken einzelner Genossinnen und Genossen zuzuschreiben noch das Resultat einer einzigen falschen Entscheidung. Es ist Folge einer jahrelangen, jahrzehntelangen Entwicklung. Wann dieser Prozess einsetzte, und wer ursächlich dafür verantwortlich zeichnet, lässt sich sowenig beantworten wie die Frage, ob der Realsozialismus nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 oder mit dem Prager Frühling 1968 hätte gerettet werden können. Wir wissen es nicht. Wir kennen jedoch die demokratischen Spielregeln. Wir haben uns auf sie eingelassen, wie wir eben auch die gesellschaftliche Realität zur Kenntnis nehmen müssen, ob uns diese nun gefällt oder nicht. Schon Bismarck wusste und handelte entsprechend: »Wir müssen mit den Realitäten wirtschaften und nicht mit Fictionen.« Zu den demokratischen Spielregeln gehört es, dass nach einer krachenden Niederlage alles auf den Prüfstand gestellt werden muss. Die kritische Selbstbefragung schließt Personalien zwingend mit ein. Denn wenn alle Verantwortlichen im Amt bleiben, bleibt auch sonst alles beim alten. Es genügt nicht, Kreide zu fressen und Besserung zu geloben. Aus einem mit politischem Mandat ausgestatteten Saulus ist bislang noch nie ein Paulus geworden. Das war eine biblische Legende. Das Maß der Mitverantwortung ist bei jedem Parteimitglied unterschiedlich groß, am größten aber bei jenen, die die Partei führen. Der Bundesgeschäftsführer zum Beispiel trägt eine größere Verantwortung für Wahlstrategie und inhaltliche Ausrichtung der Partei als ein einfaches Parteimitglied - man kann sagen: eine entscheidende. Ansagen der Parteivorsitzenden finden eine höhere Verbreitung als die Meinung einer Basisgruppe; was in der Bundestagsfraktion gesagt wird, besitzt eine andere Wirkung als etwa eine Erklärung des Ältestenrates. Deshalb denke ich, dass ein Neustart nicht ohne personelle Konsequenzen erfolgen kann. Der Parteitag im Sommer in Erfurt ist nach meiner Überzeugung dafür die letzte Chance, es wird keine weitere geben. In der Partei, aus der ich komme, kursierte die Losung von der Einheit von Kontinuität und Erneuerung, wobei jedermann und jedefrau sah, dass die Erneuerung allenfalls Phrase war, um die Stagnation zu verdecken. Wohin dies am Ende führte, wissen wir alle. Marx irrte vielleicht doch, wenn er - Hegel zitierend - meinte, dass sich Geschichte zweimal zutrüge, »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«. Auch wenn sich Geschichte in Wahrheit nicht wiederholt, sind Analogien nicht völlig von der Hand zu weisen. Nach meinem Eindruck scheinen sich in unserer Partei bestimmte Prozesse zu wiederholen. Die SED ging zugrunde, weil die Führung selbstgefällig und arrogant, unbeirrt und unbeeindruckt ihren Kurs verfolgte und ignorierte, was die kritische Basis daran anstößig fand. Damit zerstörte diese Führung objektiv die Partei von oben. Das Ende ist bekannt. Am Ende meiner Tage fürchte ich die Wiederholung. Die politischen Folgen des Scheiterns vor mehr als 30 Jahren können wir im Osten Deutschlands besichtigen. Die Folgen des Scheiterns der Linkspartei werden ganz Deutschland und die europäische Linke insgesamt treffen. Das eine wie das andere ist irreparabel. Dessen sollten wir uns bewusst sein! Wir tragen darum eine große Verantwortung - jede Genossin, jeder Genosse und die Partei als Ganzes. Als Vorsitzender des Ältestenrates war ich mir immer dieser Verantwortung bewusst. Wir haben gemäß der Bundessatzung der Partei gehandelt: »Der Ältestenrat berät aus eigener Initiative oder auf Bitte des Parteivorstandes zu grundlegenden und aktuellen Problemen der Politik der Partei. Er unterbreitet Vorschläge oder Empfehlungen und beteiligt sich mit Wortmeldungen an der parteiöffentlichen Debatte.« Allerdings musste ich, mussten wir erleben, dass unsere Vorschläge und Empfehlungen ohne sichtbare Wirkung blieben, weshalb ich wiederholt auch öffentlich die Frage stellte, ob es dieses Gremiums überhaupt bedarf. Wir waren augenscheinlich überflüssig und lästig, was die Ignoranz deutlich zeigte. Unsere Erfahrungen brauchte niemand. Natürlich gibt es - wie in jeder Familie - auch in unserer Partei einen Generationenkonflikt. Die Neigung der Nachwachsenden, den Rat der Alten als Belehrung oder Bevormundung zu empfinden, ist mir nicht fremd: Ich war schließlich auch einmal jung. Zu diesem Konflikt kommt auch noch der der unterschiedlichen Herkunft. Wer im Osten geboren und aufgewachsen ist, hat eine andere Sozialisation erfahren als die Genossinnen und Genossen aus dem Westen. Sozialisation schließt ein: Bildung, Sprache, Umgangsformen, Mentalität, Erfahrung, Stabskultur … Das alles schwindet mit den Jahren, wie deren Träger auch verschwinden. Es wirkt jedoch nach. Über Generationen. Die Ostdeutschen, auch das muss gesagt sein, sind nicht die besseren Menschen. Sie sind anders. Das sollte sowohl in der Partei selbst als auch in ihrer politischen Arbeit bedacht werden. Geschieht das nicht, erhält man - wie jüngst geschehen - bei Wahlen die Quittung. Bundestagswahlen gewinnt man nicht im Osten, aber man verliert sie dort. Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass auch die Partei wie seinerzeit das östliche Land inzwischen in westdeutscher Hand ist. Ihre Vertreter und Verbündeten geben den Ton an. Wie im Staat gibt es keine Einheit, ich nenne den Zustand Zweiheit. Und das scheint nunmehr auch in der Partei der Fall zu sein. Ja, ich weiß, die Zusammensetzung der Partei hat sich geändert, viele junge Leute aus West wie Ost sind hinzugekommen. Sie kommen vornehmlich aus Städten und nicht vom Lande, haben andere Bedürfnisse und Interessen als wir damals, als wir in ihrem Alter waren. Um so wichtiger ist, dass wir ihnen bewusst machen, aus welcher traditionsreichen Bewegung ihre/unsere Partei kommt, was ihre Wurzeln sind und wofür Generationen gekämpft haben: nämlich nicht für die Stabilisierung des kapitalistischen Systems, sondern für dessen Überwindung. Und den Charakter des Systems erkennt man nicht mit Hilfe des Ausschnittdienstes und der sogenannten sozialen Medien, sondern aus Theorie und Praxis und deren Verbindung. Ich scheue mich deshalb nicht, eine systematische politische Bildungsarbeit in der Partei zu fordern. Natürlich ist das kein Allheilmittel, aber nützlich, um die Welt zu erkennen und zu bestimmen, was die Aufgabe der Partei ist. Auch wenn deren Zustand im steten Wandel begriffen ist, ändert sich der Charakter der Klassengesellschaft nicht. Lautmalerei, Anglizismen und Gendern oder der Kampf gegen die Klimakatastrophe überwinden die sozialen Gegensätze in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht. Das vermeintliche Verschwinden des Industrieproletariats hat doch die Arbeiterklasse nicht ausgelöscht. Die Sozialforschung spricht inzwischen vom Dienstleistungsproletariat, und meint jene abhängig Beschäftigten, die für wenig Geld arbeiten müssen, um zu existieren: Krankenschwestern und Pfleger, Verkäuferinnen im Supermarkt und Außendienstmitarbeiter in Logistikunternehmen, Angestellte bei der Post, im Handel, in der Gastronomie und im Tourismus und so weiter. Sie machen laut jüngsten Untersuchungen inzwischen bis zu 60 Prozent der Beschäftigten aus und sind kaum gewerkschaftlich organisiert. Sie sind ebenso Arbeiterklasse wie die etwa 18 Prozent in Industriebetrieben Tätigen. Diese nahezu vier Fünftel der Gesellschaft kommen in der Wahrnehmung unserer Partei kaum vor. Es ist ja keine Klasse, keine Mehrheit, nur eine Randerscheinung … Nicht weniger gefährlich ist diese absurde Äquidistanz zur Außenwelt. Man kann nicht zu allen Bewegungen und Staaten den vermeintlich gleichen ideologischen Abstand halten. Wer in das gleiche Horn stößt wie die kapitalistischen Kritiker Russlands und Chinas, Kubas, Venezuelas usw., macht sich objektiv mit ihren erklärten wirtschaftlichen und politischen Gegnern gemein. Wollen wir ihnen im Kalten Krieg behilflich sein beim Anrichten eines Scherbenhaufens wie in den Staaten des arabischen Frühlings, in Afghanistan, in der Ukraine und in anderen Staaten, wo die Geheimdienste und die Militärmaschinerie des Westens wüteten? Natürlich sollen wir nicht alles gutheißen, was in anderen Ländern geschieht. Aber bei unserer Beurteilung ist es nicht nur nützlich, sondern auch nötig, die Perspektive der anderen einzunehmen. Im Kampf um den Frieden darf es keine Neutralität geben. Der christlich-europäische Kulturkreis, aus dem wir ebenso kommen wie Karl Marx und der ganze Kapitalismus, kann nicht die Elle sein, mit der wir die Welt vermessen. Es gibt Kulturvölker, die uns Jahrtausende voraus sind. Und es gibt Prioritäten, die auch Willy Brandt setzte: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Liebe Susanne, liebe Janine, ich kann versprechen, Euch künftig mit Schreiben wie diesem zu verschonen. Meine Kraft ist aufgezehrt, ich kann nur auf die Enkel hoffen, die es besser ausfechten. Da schwingt Hoffnung mit. Und die stirbt bekanntlich zuletzt. Berlin, 18. Januar 2022 In solidarischer Verbundenheit Hans Modrow | Hans Modrow | Nach einer krachenden Niederlage muss alles auf den Prüfstand gestellt werden, schreibt Hans Modrow an die Linke-Führung. Die kritische Selbstbefragung schließe Personalien zwingend mit ein. Der Parteitag im Sommer sei die letzte Chance der Linken für einen Neustart. | Hans Modrow, Janine Wissler, LINKE, Susanne Hennig-Wellsow | Politik & Ökonomie | Politik Linkspartei | 2022-01-26T16:56:14+0100 | 2022-01-26T16:56:14+0100 | 2023-01-20T19:28:05+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160784.linkspartei-in-der-linken-muss-alles-auf-den-pruefstand.html |
Die Ablehnung einer Offerte | Egon Krenz, von dessen Erinnerungen hier nicht weiter die Rede sein soll, glaubt, im Frühjahr 1989 durch Erich Honecker einer besonderen Einweihung teilhaftig geworden zu sein; sie bezog sich auf ein zeitgeschichtliches Datum von einiger Bedeutung, den 17. Juni 1953. »Wenn Berija und seine Leute den 17. Juni nicht provoziert hätten«, zitiert Krenz eine Äußerung von Erich Honecker, »wäre es nie zum Einsatz sowjetischer Panzer gekommen«; er beruft sich auf eine Mappe mit streng geheimen Dokumenten, in die Honecker den Mitgliedern des Politbüros damals Einblick gewährt habe. Aber diese Mappe, deren Inhalt 1991 im Rowohlt Verlag in hoher Auflage veröffentlicht wurde, enthält nichts dergleichen. Die Provokation lag in der Verbindung drastischer Lohnkürzungen zu Lasten der Arbeiterschaft des Landes mit der vorbereitungslosen Verkündung einer unerlässlichen Kurskorrektur; beides war nicht das Werk des Innenministers Berija, sondern seiner Widersacher im sowjetischen Politbüro. Die Mappe mit Honeckers Geheimpapieren (Peter Przybylski veröffentlichte sie im umfangreichen Anhang seines Buches »Tatort Politbüro. Die Akte Honecker«) enthält neben vielem anderen auch die von der sowjetischen Führung am 2. Juni 1953 einer nach Moskau berufenen SED-Delegation mit Walter Ulbricht und Otto Grotewohl unterbreiteten »Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR«. Neun Tage später legte sie die SED der Verkündung eines "Neuen Kurses" zugrunde; es war die umfassende Zurücknahme der brachialen Klassenkampfpolitik, die die Partei seit dem Juli des Vorjahrs unter der Parole »Aufbau des Sozialismus« betrieben hatte. Sie war Stalins Reaktion auf die Zurückweisung der im Frühjahr 1952 erklärten Bereitschaft der Sowjetunion gewesen, mit einem als parlamentarische Demokratie vereinigten und militärisch neutralisierten Deutschland einen Friedensvertrag im Rahmen der vier Siegermächte abzuschließen. Die Ablehnung dieser Offerte durch die Adenauer-Regierung im Bund mit den Westmächten hatte der Sowjetführer als eine Kriegserklärung des Westens aufgefasst und der SED danach jene linksradikale Politik freigegeben, die zu schwerwiegenden Versorgungsschwierigkeiten und einer Massenflucht von Arbeitern, Bauern, Handwerkern, Privatunternehmern und Angehörigen der Intelligenz geführt hatte. Dass dieser Kurs von der sowjetischen Partei gebilligt worden war, verschwieg das Rücknahmepapier von Anfang Juni nicht, der Rigorismus der Durchführung aber war die Sache der von Ulbricht kommmandierten SED gewesen, deren Politbüro der Generalsekretär mit Hilfe seines Sekretariats weitgehend ausgeschaltet hatte. Inzwischen war Stalin seit zwölf Wochen tot; ein Triumvirat aus dem Ministerpräsidenten und Parteichef Malenkow, dem Innenminister Berija und dem Parteisekretär Chruschtschow ging daran, schwerwiegende außenpolitische Krisenherde zu beheben. Ulbricht und Grotewohl wurde ein Katalog von Maßnahmen auferlegt, für dessen Verfasser der kurz zuvor zum Hohen Kommissar der Sowjetunion in der DDR ernannte Botschafter Wladimir Semjonow gelten konnte, der aus seiner Berliner Amtstätigkeit als politischer Berater der Sowjetischen Kontrollkommission alle Einzelheiten der begangenen Fehler kannte, schon weil er sie selbst, teilweise in Opposition zu dem Oberkommandierenden Tschuikow, hatte herbeiführen helfen. Nach der Rückkehr von Walter Ulbricht und Otto Grotewohl nach Berlin beschlossen die SED-Instanzen die auferlegte Rückwende; am 11. Juni standen die Einzelheiten in den Zeitungen der DDR und bewirkten das fundamentale Aufatmen einer Bevölkerung, die zehn Monate lang unter Repressionen gegen fast alle Schichten der Bevölkerung gelitten hatte. Die Erleichterung war umso größer, als sie sich mit der begründeten Aussicht auf Verhandlungen zur deutschen Vereinigung verband; der Ausrufung des "Neuen Kurses" folgte eine Woche großer Hoffnungen. Sie deutete auf eine Entmachtung Ulbrichts, aber sie war keine Provokation zum Aufstand, sondern eine Befriedungsmaßnahme. Die Provokation kam von einer anderen Seite, denn Semjonow und die SED-Führung hatten bei allen verkündeten Erleichterungen eine Schicht, eine Klasse der Bevölkerung übersehen: deren herrschende Klasse, das Proletariat. Die diesem zugedachte Pression war noch nicht vollzogen, stand aber unmittelbar bevor, in Gestalt einschneidender Normerhöhungen auf allen Gebieten der industriellen Produktion. Die damit verbundenen Lohnsenkungen beliefen sich auf bis zu 25 Prozent und würden spätestens am 15. Juni, bei der Auszahlung der Gehälter wirksam werden. Die Kampagne für diese Normerhöhungen war im Hinblick auf den bevorstehenden 60. Geburtstag des Generalsekretärs erfolgt, der einen hemmungslosen Personenkult mit sich trieb. Bei der Moskauer Zusammenkunft hatte ihn Lawrentij Berija mit aller Schärfe für die eingetretene Krise verantwortlich gemacht und darauf gedrungen, dass er nach einer Übergangsfrist von zwei Wochen zurücktrete. Rudolf Herrnstadt, der für Agitation und Propaganda verantwortliche ZK-Sekretär, hatte die Gefahren einer jähen Kurswende vorausgesehen; er hatte Semjonow um Aufschub der Veröffentlichung gebeten. »Um eine nicht zu verantwortende Chocwirkung« zu vermeiden, gelte es, Partei und Öffentlichkeit auf die Kursänderung vorzubereiten: »Geben Sie uns 14 Tage!« hatte er den frisch berufenen Hochkommissar angefleht, aber Semjonow hatte die Frist nicht gewährt. »In 14 Tagen«, hatte dieser ihn beschieden, »werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben«. Spielte Semjonow ein doppeltes Spiel? Er konnte den Untergang der DDR nicht wollen, aber was wollte er dann? Und warum hatten Mitteilungen über den sich Anfang Juni ausbreitenden Widerstand von Teilen der Arbeiterschaft gegen die drohende Lohnminderung den umfassend informierten Hochkommissar nicht dazu bewogen, von der brisanten Normenerhöhung abzugehen? Semjonow selbst hat Auskunft über seine Haltung in diesen Mai- und Juni-Tagen gegeben. Er hat es in den Erinnerungen getan, die er nach dem Ende der Sowjetunion in einer Villa am Rhein nahe Bonn zu Papier brachte. Sie sind postum erschienen; in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung haben sie 1995 in deutscher Sprache das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Semjonow war Ende Mai 1953 in eine Verschwörung einbezogen worden, die Nikita Chruschtschow, der sowjetische Ministerpräsident Georgi Malenkow und der Verteidigungsminister Nikolai Bulganin gegen Berija eingegangen waren, der als Innenminister alle Fäden in der Hand hatte und im Bewusstsein seiner Machtstellung darangegangen war, dem ökonomisch und sozial überlasteten Land an zwei weltpolitischen Fronten Entlastung zu verschaffen: im fernen Asien im Korea-Krieg, wo ein Waffenstillstand eingeleitet wurde, und in Europa durch die Behebung der gefährlichen Ost-West-Spaltung, bei der drei Viertel Deutschlands im Begriff waren, unter amerikanischer Führung militärisch aufgerüstet zu werden. Im Kontakt mit Churchill, der dasselbe Interesse an einer europäischen Entspannung bekundete, hatte der Innenminister das Ende des Kalten Krieges ins Auge gefasst und das sowjetische Politbüro auf eine Preisgabe des DDR-Sozialismus als Vorleistung einer Friedenslösung für das vereinigte Deutschland eingestellt. Dafür sprachen elementare ökonomische Interessen, und nicht nur betreffs der Entlastung von Rüstungsausgaben. Die DDR war durch Reparationen, Besatzungskosten, Politikversagen und beginnende Aufrüstung so ausgeblutet, dass ihre Weiterexistenz den Einsatz sowjetischer Hilfslieferungen erfordert hätte; dagegen stellte der abzuschließende Friedensvertrag für die Sowjetunion große ökonomische Vorteile in Aussicht. Es war der Plan eines Mannes, der als Innenminister und Geheimdienstchef über die überanstrengte innere Lage der Union besser als andere Bescheid wusste. Schon wenige Tage nach Stalins Begräbnis (bei der Aufbahrung hatte ein Massenauflauf Hunderte von Menschen erdrückt), hatte er die Erwähnung des Alleinherrschers in Presse und Rundfunk unterbunden und bald darauf Hunderttausende aus den Straflagern entlassen, ohne dass zwischen politischen und kriminellen Häftlingen unterschieden worden wäre; Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den sowjetischen Großstädten waren nicht ausgeblieben. Der Geheimdienstchef als sich übereilender Entstalinisierer – es war der Versuch, die Bürde des Stalinschen Regimes im Alleingang abzuschütteln und sich zugleich von dem Odium des Mittäters zu befreien. Berijas Plan, eine europäische Friedensoffensive mit dem Sozialismus-Verzicht in der DDR zu verbinden, stieß auf den erbitterten Widerstand der sowjetischen Armeeführung, die die DDR nicht nur als Unterpfand ihres opferreichen Sieges über Hitlerdeutschland betrachtete, sondern auch als Sicherheitsglacis gegenüber Angriffen seitens des amerikanisch dominierten Westens; John Foster Dulles, der Außenminister der 1953 neu gebildeten US-Regierung, hatte im Verhältnis zur Sowjetunion die Parole Rollback ausgegeben. Aber die Fronde aus Chruschtschow, Malenkow und Bulganin, der auch der Außenminister Molotow angehörte, fühlte sich zu schwach, um ihren Widerstand gegen Berijas Pläne offen vorzutragen. Sie veranlasste vor einer ZK-Sitzung Ende Mai auch Semjonow, seinen Widerspruch zurückzuhalten, und setzte ganz offenbar auf die Folgen der innenpolitischen Erschütterung, die eine jähe politische Kursänderung für die Stabilität der DDR mit sich bringen würde; von daher erklärt sich Semjonows Widerstand gegen die von Herrnstadt erbetene Vorbereitungsfrist. Scheinbar folgte der Hochkommissar dem aus Moskau ergangenen Auftrag, in der DDR eine Regierungsumbildung vorzubereiten, und kontaktierte dazu einen bürgerlichen Politiker wie den CDU-Vorsitzenden Otto Nuschke; unter der Hand arbeitete er nach seinem eigenen Zeugnis »wie ein Kanalarbeiter, der in Dunkel und Kälte gemeinsam mit Gleichgesinnten einen unterirdischen Tunnel vorantreibt«. Er selbst und die Kontrollkommission unter dem neu berufenen General Gretschko übersahen geflissentlich die Anzeichen der sich anbahnenden Streikwelle gegen die angekündigten Normerhöhungen. Dasselbe tat Walter Ulbricht, der noch den ganzen Parteiapparat in der Hand hatte. Nachdem Rudolf Herrnstadt am 14. Juni im Zentralorgan »Neues Deutschland« die Holzhammermethoden bei der Durchsetzung der Normerhöhungen kritisiert hatte, sorgte Ulbricht dafür, dass die in allen Betrieben des Landes ausliegende Gewerkschaftszeitung »Tribüne« die Normerhöhungen am Morgen des 16. Juni bekräftigte. Der Generalsekretär wusste: es ging bei dem anstehenden Wechsel um seinen Kopf. Es lag zutage: Würde eine Protestwelle die staatliche Autorität aus den Angeln heben, so würde die Sowjetarmee militärisch einschreiten müssen; damit wäre Berijas europäischer Friedensplan erledigt gewesen. Genau dies geschah, als die Erhebung sich am 17. Juni nicht nur gegen die im letzten Moment zurückgenommenen Lohnminderungen richtete, sondern rückwirkend gegen eine elf Monate lang durchgepeitschte Repressionspolitik und dabei vielerorts in Vandalismus und Brandstiftung überging. Die Massen, die gegen ein System demonstrierten, das gerade den Rückzug angetreten hatte, agierten unwissentlich im Sinne derer, die sie loswerden wollten. Berija, aufs höchste beunruhigt, entsandte seine beiden Stellvertreter, Sergej Goglidse, den Chef des Gulag, und Bogdan Kobulow nach Berlin-Karlshorst, um Semjonow für den Ausbruch der Unruhen zur Verantwortung zu ziehen. Aber seine Abgesandten kamen zu spät. Inzwischen hatte im Kreml eine Präsidiumssitzung stattgefunden, in deren Vorfeld es Chruschtschow gelungen war, die Mehrheit der Mitglieder auf seine Seite zu ziehen. Berija wurde am 26. Juni abgesetzt; der schon am 17. Juni in Berlin eingetroffene Generalstabschef Sokolowski konnte die beiden Abgesandten des Innenministers unschädlich zu machen. Semjonow, der um sein Leben gefürchtet hatte, bestellte sie in sein Amtszimmer, wo der Marschall sie festnahm; als Gefangene flogen sie in dem Flugzeug mit, das ihn nach Moskau zurückbrachte. Zu diesem Zeitpunkt war Berija mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben; vieles spricht dafür, dass er unmittelbar nach der entscheidenden Sitzung, zu der auch Marschall Shukow im Kreml erschienen war, in einem Nebenzimmer erschossen wurde. In dem Prozess, den man ihm im Dezember 1953 mit einigen seiner Mitarbeiter machte, vertrat ihn vermutlich ein Doppelgänger; seine Untergebenen Goglidse und Kobulow wurden realiter hingerichtet. Churchill, den Berija über den früheren sowjetischen Botschafter Maiski kontaktiert hatte, reagierte auf die Nachricht vom Sturz des Mannes, mit dem er Hoffnungen auf eine europäische Friedensordnung verbunden hatte, mit einem Schlaganfall. Dass durch den Aufstand, dessen Datum der Bundestag auf Antrag von Herbert Wehner (SPD) bald darauf zum Nationalen Feiertag erklärte, nicht nur die SED-Herrschaft über die DDR, sondern auch Walter Ulbricht als deren Gewährsmann für eine historische Frist gesichert worden war, wurde deutlich, als die Moskauer Führung dem Generalsekretär am 30. Juni zu seinem 60. Geburtstag ein Glückwunschtelegramm schickte; er bekam freie Hand, seine politischen Opponenten aus der Partei auszuschließen. Mit Grotewohl trat er Anfang Juli erneut die Reise nach Moskau an, als Gast des Zentralkomitees, vor dem Malenkow, Chruschtschow und Molotow Berijas Absetzung bekannt gaben und begründeten, nicht zuletzt mit Berijas Absicht, »auf den Sozialismus in der DDR überhaupt zu verzichten und Kurs auf ein bürgerliches Deutschland zu nehmen«. (Malenkow) Krenz lässt in seinem in diesem Jahr erschienen ersten Band seiner Autobiografie »Aufbruch und Aufstieg« (Edition Ost) durchblicken, warum Honecker seinem Politbüro im Frühjahr 1989 die Mär vom Aufstandsverursacher Berija auftischte; er wollte seinen Genossen nahelegen, in Gorbatschow dessen deutschlandpolitischen Wiedergänger zu sehen. Nur Stalin wäre stark genug gewesen, für Deutschland das, was 1954 die österreichische Lösung wurde, also strikte außenpolitische Neutralität bei bürgerlich-demokratischen Innenverhältnissen, gegenüber seinen Generälen durchzusetzen; Berija war, wie sich zeigte, politisch zu schwach dazu. Dass es Gorbatschow mit einem wesentlichen Zugeständnis, der Zustimmung zur Eingliederung der DDR unter eingrenzenden Bedingungen in die Nato, gelang, hatte die Niederlage der Sowjetarmee in Afghanistan zur Voraussetzung, vor allem aber die Tatsache, dass der große Krieg nicht mehr, wie 1953, acht Jahre, sondern inzwischen 45 Jahre zurücklag und die Bundesrepublik unter Helmut Kohl sich die Losung der deutsch-sowjetischen Freundschaft zu eigen gemacht hatte. Die Demonstranten vom Oktober 1989 hatten aus dem Scheitern des 17. Juni etwas Entscheidendes gelernt – die Losung: »Keine Gewalt!« Auch Egon Krenz trug an seiner Stelle dazu bei, dass sich die Staatsmacht von ihr entwaffnen ließ. Zum Thema erschien von Dr. h.c. Friedrich Dieckmann (Jg. 1937), Schriftsteller und Publizist, 2009 ein Buch mit dem Titel »Deutsche Daten oder Der lange Weg zum Frieden«. | Friedrich Dieckmann | Große historische Jubiläen werfen ihre Schatten voraus. Im kommenden Jahr jährt sich zum Beispiel 70. Mal der Arbeiteraufstand vom 17. Juni in der DDR. Wie kam es dazu? Welche Rolle spielten dabei Intrigen im Kreml? | DDR, Friedensbewegung, Russland, SED | Feuilleton | Kultur Arbeiteraufstand in der DDR | 2022-12-09T15:52:03+0100 | 2022-12-09T15:52:03+0100 | 2024-03-03T12:58:16+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1169223.die-ablehnung-einer-offerte.html |
Diebstahl von Motoren soll Seenotrettung gedient haben | Seit Jahren unterstützen die EU sowie einzelne Mitgliedstaaten die tunesische Küstenwache mit Ausrüstung und Ausbildungsmaßnahmen. Damit sollen Überfahrten von Asylsuchenden nach Europa gestoppt werden. Mit Erfolg: Nach einer starken Zunahme sind die Zahlen im Sommer wieder deutlich gesunken. Das lag unter anderem an Pogromen gegen Menschen aus Subsahara-Staaten, die der Präsident Kais Saied vor einem Jahr angezettelt hat. Auf See setzen die tunesischen Behörden auf Abschreckung. Boote mit Geflüchteten werden abgedrängt oder sogar gerammt, die Insassen mit Stöcken geschlagen und mit Schüssen eingeschüchtert. In mehreren Fällen hat die Küstenwache Motoren von Schlauchbooten mitgenommen und Menschen anschließend im Meer treiben gelassen. Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch. Diese Informationen stammen aus Zeugenaussagen, die internationale Organisationen zusammengetragen haben und mit Fotos und Videos belegen. Zu ihnen gehören das Alarm Phone-Netzwerk, das Forum für soziale und wirtschaftliche Rechte in Tunesien (FTDES), die Menschenrechtsorganisation Oxfam und Borderline Europe. Die Bundesregierung will davon aber nichts wissen und verbreitet stattdessen eine fragwürdige These zum Diebstahl der Motoren. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage zu Maßnahmen der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Tunesien schreibt das Auswärtige Amt, Tunesiens Küstenwache habe »in einzelnen Fällen Bootsmotoren zeitweise abmontiert, um Seenotrettung zu ermöglichen«. Dies sei »Medienberichten« zu entnehmen, verwiesen wird dazu auf eine Meldung von Reuters vom Mai des vergangenen Jahres. Die Nachrichtenagentur beschreibt darin, wie abgefangene Bootsinsassen »betteln«, ihre Fahrt nach Italien fortsetzen zu dürfen oder »Widerstand leisten«. In einem Fall habe die Küstenwache den Außenbordmotor des Bootes mit Stöcken zerschlagen. Dies erfolge aber nicht systematisch, zitiert Reuters einen Beamten der Nationalgarde. »Die Partner der tunesischen Küstenwache, insbesondere Deutschland und Italien, übernehmen die Darstellung Tunesiens. Wir betrachten dies als Komplizenschaft beim Verschweigen von Übergriffen auf Migranten«, sagt dazu der tunesische FTDES-Vorsitzende Romdhane Ben Amor auf Anfrage des »nd«. Die gewalttätigen Praktiken seien seit Ende 2021 bekannt. Auf See abgefangene Migranten würden zudem an die algerische Grenze gebracht oder an bewaffnete libysche Gruppen übergeben. Es sei bemerkenswert, wenn die Bundesregierung keine Informationen über rechtswidriges Verhalten der tunesischen Küstenwache haben will, kommentiert Markus Nitschke von Oxfam Deutschland. »Die Menschenrechtsverletzungen der tunesischen Küstenwache gegenüber Migranten sind ausführlich dokumentiert, und es handelt sich auch nicht um Einzelfälle.« Auch die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger, von der die Kleine Anfrage stammte, kritisiert die Antwort des Auswärtigen Amtes. Das Abmontieren von Bootsmotoren als Hilfe zur Seenotrettung darzustellen sei »perfide«, sagt die Linke-Politikerin zum »nd«. Die Bundesregierung wolle offenbar verschleiern, dass sie »mitverantwortlich für die Verbrechen der tunesischen Küstenwache ist«. Tatsächlich unterstützt das Bundesinnenministerium die tunesische Nationalgarde seit Jahren für ihre Maßnahmen auf See. Zuletzt hat die Bundespolizei 12 Schlauchboote und 27 Bootsmotoren an die Grenztruppen geschenkt. Deutschland finanziert auch Ausrüstung für eine Bootswerkstatt und entsprechende Ausbildung. Zum GIZ-Projekt zur »Unterstützung der Grenzverwaltung« im Mittelmeer wollte die Bundesregierung in der Antwort jedoch keine Details nennen. Das Programm diene dazu, »die Qualität der Ausbildung der Küstenwache zu verbessern« und kostet rund 3,5 Millionen Euro. | Matthias Monroy | Die tunesische Nationalgarde nimmt Geflüchteten Außenborder weg und lässt ihre Boote im Meer treiben. Menschenrechtler werfen der Bundesregierung Komplizenschaft vor. | Einwanderung, Kriminalität, Tunesien | Politik & Ökonomie | Politik Küstenwache in Tunesien | 2024-01-10T13:40:29+0100 | 2024-01-10T13:40:29+0100 | 2024-01-10T18:56:32+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1179099.kuestenwache-in-tunesien-diebstahl-von-motoren-soll-seenotrettung-gedient-haben.html?sstr=seenotrettung |
Ein »Angriff« auf ältere Lehrer in Sachsen | Es gab Zeiten, da hatte Sachsen zu viele Lehrer. Grund waren die jahrelang sinkenden Schülerzahlen im Freistaat. Das Land reagierte mit einer Regelung über »Zwangsteilzeit«, die Kündigungen vermied, aber von den Beschäftigten mit erheblichen Gehaltseinbußen erkauft wurde. Zugleich gab es einen Einstellungsstopp an den Schulen. Dann wendete sich das Blatt. Seit 2011 schoss die Zahl der Schüler in die Höhe; zugleich gingen Tausende Lehrer in Rente. Das Land verschlief es lange, angemessen darauf zu reagieren. Die Folgen sind dramatisch. Aktuell fehlten an den Schulen im Freistaat 1400 Lehrer, rechnet Kultusminister Conrad Clemens vor. Im ersten Schulhalbjahr 2024/25 fielen 9,4 Prozent aller Unterrichtsstunden aus. Die Zahl steigt seit Jahren. »So, wie es jetzt ist«, sagt der CDU-Ressortchef, »darf es nicht weitergehen.« Diese Einschätzung dürfte kaum auf Widerspruch stoßen. Einige der Maßnahmen aber, die Clemens jetzt vorstellte, sorgten für Empörung. GEW-Landeschef Burkhard Naumann sprach gar von einem »schweren Angriff auf Lehrkräfte in Sachsen, gegen den wir uns wehren werden«. Dabei geht es nicht um viele kleine Steine, die im Ministerium umgedreht wurden, um das, wie Clemens formulierte, vorhandene »Lehrerarbeitsvermögen noch effizienter einzusetzen«. So müssen Lehrer, die als Fachberater tätig sind, künftig zwei Stunden länger vor Klassen stehen. Es soll weniger Abordnungen in die Schulverwaltung geben. Die bisher Lehrern obliegende Koordination von Ganztagsangeboten soll von Assistenzkräften übernommen werden. Außerunterrichtliche Belastungen sollen reduziert werden, etwa indem für »Kopfnoten« in Betragen oder Fleiß auf dem Zeugnis keine verbalen Einschätzungen mehr formuliert werden müssen. »Die Lehrkräfte sollen weiterhin die verfehlte Bildungspolitik der CDU ausbaden.« Was die Gewerkschaften indes auf die Palme bringt, ist der Abbau einer Vergünstigung für ältere Lehrkräfte. Deren Unterrichtsverpflichtung reduziert sich bisher ab dem 58. Lebensjahr um eine Stunde, ab dem 60. und 61. um je eine weitere. Künftig wird die »Altersermäßigung« erst schrittweise ab 63 gewährt, so spät wie in keinem anderen Bundesland. Der Minister argumentiert mit der »verbesserten Gesundheit vieler im Alter«. Dagegen wettert Michael Jung, Chef des Sächsischen Lehrerverbands SLV, nun sollten »Lehrkräfte, die bereits unter Zwangsteilzeit und Gehaltsverlust litten und nie die Chance auf Verbeamtung hatten, im Alter auch noch auf die Möglichkeit einer Teilzeitbeschäftigung verzichten«. Das sei »nicht hinnehmbar«. Auch aus dem Landtag kommt teils scharfe Kritik an Teilen von Clemens’ Paket. Gerald Eisenblätter, Bildungsexperte der SPD, die gemeinsam mit der CDU eine Minderheitsregierung trägt, erklärte, eine weitere Arbeitsverdichtung und weniger Altersermäßigung würden »die Arbeitsmotivation negativ beeinflussen«. Die Oppositionsparteien Grüne und Linke loben den Minister zwar dafür, dass mehr fächer- und jahrgangsübergreifender Unterricht ermöglicht und Prüfungsdruck reduziert werden soll. Luise Neuhaus-Wartenberg (Linke) sagte auch: »Wir teilen das Ziel, mit dem vorhandenen Personal mehr zu erreichen.« Das Hinausschieben der Altersermäßigung werde aber »zu Recht auf Kritik stoßen«. Christin Melcher (Grüne) beklagte, Sachsens Lehrkräfte sollten »weiterhin die verfehlte Bildungspolitik der CDU ausbaden«. Und der BSW-Abgeordnete Lars Wutzler merkte sarkastisch an, wenn das Ministerium beabsichtige, noch mehr Lehrer in den vorzeitigen Ruhestand zu treiben, sei es »auf einem erfolgversprechenden Weg«. | Hendrik Lasch | In Sachsen fehlen 1400 Lehrer. Fast jede zehnte Unterrichtsstunde fällt aus. Der Kultusminister will Abhilfe schaffen. Einigen seiner Ideen aber sagen Gewerkschaften den Kampf an. | Bildungspolitik, CDU, Sachsen | Politik & Ökonomie | Politik Lehrermangel | 2025-03-12T14:35:11+0100 | 2025-03-12T14:35:11+0100 | 2025-03-13T11:16:45+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1189701.lehrermangel-ein-angriff-auf-aeltere-lehrer-in-sachsen.html |
Uni-Gipfel fast ohne Studenten | Schon kurz nach Beginn des Treffens kam es zu einem kleinen Eklat. Vertreter des Bildungsstreikbündnisses und des Studierendenverbandes »Die Linke.SDS« verließen die Konferenz vorzeitig. Über Fragen wie mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie an den Hochschulen sei überhaupt nicht geredet worden, erklärten die beiden Vertreter des Bildungsstreikbündnisses, Hannah Eberle und Jakob Lohmann. Ben Stotz und Stefanie Graf, die für »Die Linke.SDS« an der Konferenz teilnahmen, begründeten ihren Auszug damit, dass Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) nicht bereit gewesen sei, über ein Verbot von Studiengebühren zu diskutieren. Auch das Recht auf einen Master-Zugang für alle Bachelor-Studierenden habe nicht auf der Tagesordnung gestanden. Auf einem Gegengipfel im Anschluss an die Konferenz erneuerten die linken Studentenvertreter ihre Kritik. Andere Vertreter von Hochschulorganisationen kehrten der Konferenz zwar nicht den Rücken, bezeichneten allerdings die Reaktion von Bund und Ländern auf die Studentenproteste als unzureichend. So kritisierte der Hochschulexperte der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Andreas Keller: »Der Bund darf den Missständen nicht länger tatenlos zusehen.« Der Studentendachverband fzs warf Schavan vor, durch die Einführung eines Nationalen Stipendienprogramms die soziale Auslese an den Universitäten zu verschärfen. Die Adressatin dieser Kritik zog dagegen gestern ein positives Resümee der Konferenz. Der Bund werde in den nächsten zehn Jahren rund zwei Milliarden Euro zusätzlich für die Verbesserung der Lehre ausgeben, erklärte Annette Schavan. Die Mittel sollen für mehr Personal, mehr Weiterbildung der Lehrenden und Beratung der Studierenden ausgegeben werden. Schavan kündigte an, dass sie den Dialog mit den Hochschulgruppen fortsetzen will. Die Konferenz zur sogenannten Bologna-Reform soll künftig einmal im Jahr stattfinden. Der Name der Reform geht auf die Bologna-Erklärung von 1999 zurück. Ziel war es, bis 2010 einen europäischen Hochschulraum zu schaffen. In Deutschland hat die Reform zum Teil zu einer massiven Verschlechterung der Studienbedingungen geführt. Studenten beklagen u.a. überfrachtete Studienpläne und zunehmenden Prüfungsdruck. | Jürgen Amendt | Die Bologna-Konferenz, auf der Vertreter von Politik, Verbänden und Hochschulen gestern in Berlin über Reformen der neuen Studienabschlüsse Bachelor und Master diskutierten, endete ohne greifbares Ergebnis. Der Gipfel war als Reaktion auf die Studentenproteste der letzten Monate einberufen worden. | Berlin, Studienbedingungen | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/171181.uni-gipfel-fast-ohne-studenten.html |
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Neues Führungstrio für Schlossbau | Nach dem überraschenden Rücktritt des bisherigen Baumanagers des Berliner Schlosses, Manfred Rettig, soll der für den Wiederaufbau verantwortliche Förderverein Berliner Schloss e.V nun ein neues Führungstrio bekommen. Rettigs Nachfolger sollen Bauingenieur Hans-Dietrich Hegner, der bisherige kaufmännische Vorstand Johannes Wien und Kulturmanagerin Lavinia Frey werden. Das rekonstruierte Preußen-Schloss soll unter dem Namen Humboldtforum ab 2019 ein Ausstellungs- und Kulturzentrum werden. dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Berlin | Hauptstadtregion | Berlin | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1003241.neues-fuehrungstrio-fuer-schlossbau.html |
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Herzögliches Porzellan wird Landeseigentum | Nach zähen Verhandlungen um die Kunstsammlung der ehemaligen Herzöge Mecklenburgs ist jetzt eine Einigung erzielt worden. Die Schätze gehen bis auf wenige Ausnahmen für einen Preis von 9,5 Millionen Euro in das Eigentum des Landes über.
Dies sei vor acht Tagen mit Donata Herzogin zu Mecklenburg von Solodkoff vereinbart und am Dienstag vom Kabinett gebilligt worden, erklärte ein Sprecher des Kultusministeriums in Schwerin. Demnach sei für alle Sammlungsstücke, die nicht angekauft werden, eine zehnjährige unentgeltliche Leihgabe sowie ein zeitlich unbeschränktes Vorkaufsrecht vereinbart worden, hieß es.
Damit können die rund 260 Werke auch über das Jahr 2014 hinaus in Mecklenburg-Vorpommern gezeigt werden, wie Kultusminister Mathias Brodkorb (SPD) erläuerte. »Das Land verfügt hiermit auf Dauer über einen Kulturschatz von nationalem Rang.«
Über den Ankauf der herzoglichen Gemälde, Möbelstücke, Waffen, Uhren, Porzellane und anderen Kunstgegenstände war mehr als zehn Jahren lang verhandelt worden. Die »Sammlung Christian Ludwig Herzog zu Mecklenburg«, benannt nach Donatas Vater, war 1997 wieder der Familie zugesprochen worden. Bis zum Jahr 2014 durfte das Land die Kunstgüter aber nutzen. - Nun werde, so hieß es, die Kulturstiftung der Länder den Ankauf der Herzogskunst voraussichtlich mit 1,3 Millionen Euro unterstützen. Eine halbe Million Euro wolle die Bundesbeauftragte für Kultur beisteuern. Der Preis für die Sammlung, allerdings ohne einige Stücke mit besonderem Wert für die Landesgeschichte, lag 2010 noch bei 7,9 Millionen Euro. 2012 forderte Donata Herzogin zu Mecklenburg von Solodkoff zehn Prozent Aufschlag. Die Verhandlungen drohten zu scheitern. Gegen das Vorhaben, einen Teil des Kaufpreises mit 300 Hektar Landeswald zu begleichen, legte der Landtag sein Veto ein.
Der Direktor des Staatlichen Museums Schwerin, Dirk Blübaum, begrüßte das Ergebnis. »Mit der Einigung ist die bestmögliche Lösung erzielt worden.« Ein Großteil der Sammlung werde von 2016 an im dann teils sanierten Schloss Ludwigslust gezeigt werden.
Auf dem Dachboden des Schlosses waren eine Reihe weiterer Kunstwerke aus dem Besitz der Herzogsfamilie entdeckt worden wie etwa Möbel oder Büsten. »Beim Dachbodenfund nimmt die Herzogin außerdem von allen Eigentumsansprüchen Abstand«, erklärte das Kultusministerium.
Der Vorsitzende der Linksfraktion, Helmut Holter, zeigte sich erleichtert. »Damit hat das jahrelange Tauziehen hoffentlich ein Ende«, meinte er. Grünen-Fraktionsvorsitzender Jürgen Suhr kritisierte die Höhe des Kaufpreises. CDU-Fraktionschef Vincent Kokert meinte, bedeutende Kunstgegenstände kämen nun wieder in den Besitz des Landes und könnten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Noch aber haben im Schloss Ludwigslust die Restauratoren das Sagen. Tischler, Vergolder und Steinmetze setzen zum Endspurt an. Bis zum Ende dieses Jahres sollen die Sanierungsarbeiten im Ostflügel der einstigen herzoglichen Residenz im wesentlichen abgeschlossen sein. 2015 sollen dann die Audienz- und Wohnräume des Herzogs sowie die Ausstellungen gestaltet werden, erklärte Schlossleiter Peter Krohn dieser Tage. Licht und Vitrinen müssten installiert sowie Dutzende Gemälde aus den Depots geholt und aufgehängt werden. Knapp 13 Millionen Euro EU-Geld fließen in den ersten Abschnitt der Schlosssanierung.
Schloss Ludwigslust wurde von Herzog Friedrich von Mecklenburg-Schwerin zwischen 1772 bis 1776 nach Plänen des Hofbaumeisters Johann Joachim Busch erbaut und bildet den Mittelpunkt einer spätbarocken Stadtanlage. Das Ensemble ist einmalig in Norddeutschland. Die Eröffnung des neuen Schlossmuseums ist für März 2016 geplant.
Gezeigt werden sollen unter anderem die Menagerie-Serie von Jean-Baptiste Oudry, historische Uhren, Meissener Porzellan, Hamburger Silberobjekte, Büsten Jean-Antoine Houdons, Architekturmodelle aus Kork, Elfenbeinarbeiten. Und eine Gemäldegalerie mit Werken der Hofmaler Georg David Matthieu, Johann Dietrich Findorff, Johann Heinrich Suhrlandt und Christoph Friedrich Reinhold Lisiewsky. dpa/nd | Grit Büttner, Schwerin | Eine fast endlose Geschichte um Kulturgut findet ihr Ende: Mecklenburg-Vorpommern kauft für 9,5 Millionen Euro eine Sammlung herzoglicher Kunstwerke an. Der Streit darum dauerte zehn Jahre. | Mecklenburg-Vorpommern | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/928101.herzoegliches-porzellan-wird-landeseigentum.html |
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Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze verlängert | Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat eine Verlängerung der Grenzkontrollen zu Österreich ab dem 12. Mai um weitere sechs Monate angekündigt. Gründe seien die »Ordnung und Begrenzung von irregulärer Migration« sowie die Unterbringungssituation für geflüchtete Menschen in den Kommunen, erklärte ein Sprecher der Ministerin am Wochenende und verwies auf einen im vergangenen Jahr festgestellten »Höchstwert« der irregulären Migration seit 2016. Maßgeblich dafür seien gestiegene Ankünfte in Italien und ein ähnlicher Anstieg von Fluchten aus der Türkei. Das Bundesinnenministerium hatte die Kontrollen an der Grenze zu Österreich erstmals 2015 unter Thomas de Maizière (CDU) eingeführt und seitdem halbjährlich verlängert. Eigentlich darf es im Schengen-Raum, dem 27 europäische Länder angehören, aber keine stationären Personenkontrollen an den Ländergrenzen geben. Dies ist in der EU durch den Grundsatz der Personenfreizügigkeit garantiert – ergänzend zur Waren- und Dienstleistungsfreiheit sowie zum freien Kapital- und Zahlungsverkehr. Erlaubt ist die vorübergehende Kontrolle der Binnengrenzen durch eine Neufassung des Schengener Grenzkodex. Ein neu eingeführter Artikel 29 erlaubt seit 2013 ihre Wiedereinführung für zunächst sechs Monate und eine Verlängerung auf maximal zwei Jahre. Voraussetzung ist, dass der EU-Ministerrat mehrheitlich eine »systematische Gefährdung« der Schengen-Zone anerkennt. Ein solcher Beschluss erging Anfang 2016 angesichts steigender Zahlen ankommender Geflüchteter in Griechenland. Anschließend hatten Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen die an einigen ihrer Landgrenzen eingeführten Kontrollen darauf gestützt. Möglich sind die temporären Kontrollen aber auch aus anderen Anlässen. Nach mehreren Anschlägen begründete dies etwa Frankreich mit einer anhaltenden »terroristischen Bedrohung«. Viele andere Staaten hatten ihre Grenzen auch wegen Gesundheitsrisiken im Zuge der Corona-Pandemie geschlossen. Nachdem Deutschland, Österreich und die drei nordischen Staaten die dreifache Kettenverlängerung der Maßnahmen zur Migrationskontrolle ausgeschöpft hatten, bedienten sie sich ab 2018 einer neuen Begründung. Die Regierungen behaupteten fortan eine »ernste Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit«. Österreich erkannte ab 2019 außerdem ein Risiko »organisierter Kriminalität«, dem schloss sich später auch Dänemark an. Der Gesamtzeitraum, in dem Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, beträgt jedoch höchstens zwei Jahre. Diesen Grundsatz des Schengener Grenzkodex hat der Europäische Gerichtshof vor einem Jahr bekräftigt. Laut dem Urteil ist das EU-Gesetz hinsichtlich der Dauer der Kontrollen sehr eng auszulegen. Selbst die einmalige Verlängerung wegen derselben Bedrohung verstößt demnach gegen das Primärrecht der Union. | Matthias Monroy | Seit acht Jahren lässt die Bundesregierung die Grenze zu Österreich kontrollieren und nennt dazu wechselnde Begründungen. Dem EU-Gerichtshof gefällt das nicht. | Einwanderung, Europäische Union, Österreich | Politik & Ökonomie | Politik Festung Europa | 2023-04-17T17:05:23+0200 | 2023-04-17T17:05:23+0200 | 2023-04-18T14:01:43+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172508.festung-europa-kontrollen-an-der-deutsch-oesterreichischen-grenze-verlaengert.html |
Trump setzt Palästinenser unter Druck | Washington. US-Präsident Donald Trump hat am Dienstabend seinen umstrittenen Nahost-Plan vorgestellt. Nach seinen Worten sieht er eine »realistische Zwei-Staaten-Lösung« für Israelis und Palästinenser vor. Jerusalem sei als »ungeteilte Hauptstadt« Israels vorgesehen, sagte Trump im Weißen Haus an der Seite des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu. Den Palästinensern stellte er zwar einen eigenen Staat mit einer Hauptstadt in Ost-Jerusalem sowie ein größeres Territorium als derzeit in Aussicht. Er knüpfte dies aber an zahlreiche, für die Palästinenser harte Bedingungen. So müssten sich die Palästinenser vom »Terrorismus« lossagen, sagte Trump. Laut Weißem Haus soll der künftige Palästinenserstaat zudem »entmilitarisiert« sein, die Palästinenser sollten ihre Waffen abgeben. Netanjahu fügte hinzu, durch den US-Plan würden die israelischen Siedlungen im Westjordanland anerkannt. Diese Siedlungen in dem von Israel besetzten Palästinensergebiet gelten nach internationalem Recht derzeit als illegal. Zudem werde das Jordantal unter israelischer Kontrolle bleiben, sagte Netanjahu mit Blick auf das strategisch wichtige Gebiet im Westjordanland. Ein Recht auf Rückkehr nach Israel für palästinensische Flüchtlinge werde es nicht geben, betonte der amtierende israelische Regierungschef. Es sei eine »historische Gelegenheit« und die vielleicht »letzte Chance« der Palästinenser auf einen eigenen Staat, sagte Trump. Ziel sei ein zusammenhängendes Territorium für einen Palästinenserstaat. In dem Territorium sollten zunächst über vier Jahre lang keine israelischen Siedlungen gebaut werden. Wie Jerusalem ungeteilte Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem zeitgleich Hauptstadt eines Palästinenserstaates sein kann, führte Trump nicht aus. Er habe Palästinenserpräsident Mahmud Abbas einen Brief geschrieben, um ihn für den Plan zu gewinnen, sagte Trump weiter. Gleichzeitig warnte er die Palästinenser, sein Vorschlag könne ihre letzte Gelegenheit sein, einen eigenen Staat zu bekommen. Trumps Nahost-Plan war mit großer Spannung erwartet worden. Der wirtschaftliche Teil war im vergangenen Jahr vorgestellt worden. Darin vorgesehen sind Milliardeninvestitionen in den Palästinensergebieten. AFP/nd | Redaktion nd-aktuell.de | US-Präsident Trump verspricht einerseits Frieden im Nahen Osten, droht andererseits aber den Palästinensern: Sein Vorschlag könne ihre letzte Chance sein. | Donald Trump, Israel, Nahost, Palästina | Politik & Ökonomie | Politik Nahost | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1132154.nahost-trump-setzt-palaestinenser-unter-druck.html |
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Oppositionsführer in Kambodschas verhaftet | Phnom Penh. Der kambodschanische Oppositionsführer Kem Sokha ist unter dem Vorwurf des Verrats festgenommen worden. Es gebe einen »geheimen Verschwörungsplan zwischen Kem Sokha, seiner Gruppe und Ausländern«, bei dem es sich um Verrat handele, erklärte die Regierung am Sonntag. Kem Sokha sei am Morgen festgenommen worden. Er sei nach einer Hausdurchsuchung von 100 bis 200 Polizisten in Handschellen abgeführt worden, teilte seine Tochter Kem Monovithya auf dem Kurzbotschaftendienst Twitter mit. AFP/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Kambodscha, Kriminalität | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1062569.oppositionsfuehrer-in-kambodschas-verhaftet.html |
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Griechenland will weiter verhandeln | Griechenland will weiter über die Zukunft des Landes verhandeln. So zumindest ist ein Antrag der SYRIZA-geführten Regierung an die EU-Institutionen zu verstehen, der am Dienstagnachmittag bekannt wurde. Nach Medienberichten hat der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras um ein zweijähriges Programm aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) gebeten. Das Online-Medium »Politico« veröffentlichte den an den ESM-Gouverneursrat und Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem adressierten Brief im Internet. Danach soll die Vereinbarung alle finanziellen Bedürfnisse sowie parallel eine Restrukturierung der griechischen Schulden abdecken. Bis eine Vereinbarung geschlossen ist, bittet Griechenland um die Verlängerung des laufenden Kreditprogramms durch die Eurogruppe, um eine »technische Zahlungsunfähigkeit« zu vermeiden. Die Finanzminister der 19 Euro-Staaten wollten nach nd-Reda... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Katja Herzberg | Kurz vor dem Auslaufen des zweiten Kreditprogramms überraschte Athen mit einer Bitte um zweijährige Unterstützung durch den Rettungsschirm ESM. | EU, Eurogruppe, EZB, Griechenland, Krisenpolitik, SYRIZA | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/976394.griechenland-will-weiter-verhandeln.html |
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Politik ist für Ernährung verantwortlich | »Die allermeisten Menschen wollen sich gesund und nachhaltig ernähren - doch dies ist im Alltag oft erstaunlich schwer.« Diese Schlussfolgerung begründet Peter von Philipsborn von der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Angebot. So seien gesunde Lebensmittel häufig teurer, die Auswahl an ungesunden Lebensmitteln in den Regalen überwiege, und es sei für Verbraucher*innen schwer zu erkennen, welche Lebensmittel gesund sind, sagte von Philipsborn bei der Vorstellung des Food Environment Policy Index 2021 (Food-EPI) für Deutschland am Mittwoch bei einer Online-Präsentation. Dieser Index der Ernährungspolitik wurde bereits in 40 Ländern erstellt, nun liegen die Ergebnisse für Deutschland vor. Tatsächlich erreicht die Politik hierzulande für keinen der 47 Indikatoren einen sehr guten Wert - untersucht wurde eine gesundheitsförderliche Ernährungspolitik im Vergleich mit internationalen Best-Practices-Maßnahmen. Deutschland sei gut in den Bereichen Ernährungsempfehlungen und Monitoring, nur würden die Empfehlungen »eben nicht verbindlich umgesetzt«, bemängelte von Philipsborn. »Von der kommenden Bundesregierung erwarten wir konkrete praktische Maßnahmen, um eine ausgewogene Ernährung für alle im Alltag möglich zu machen.« Die Zeit der Rücksicht auf die Lebensmittelindustrie sollte endlich vorbei ein. Für eine gute Ernährungspolitik gebe es Handlungsoptionen auf allen politischen Ebenen. So könnten Bund, Länder und Kommunen gemeinsam verbindlich Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für die Schul- und Kitaverpflegung umsetzen - ebenso wie in Behörden, Hochschulen, Kliniken und Senioreneinrichtungen. Zur Finanzierung sollte laut den 55 Wissenschaftler*innen, die an dem Index gearbeitet haben, eine Herstellerabgabe auf Softdrinks nach britischem Vorbild eingeführt werden. Dort gilt: Je mehr Zucker, desto höher die Steuer. Außerdem brauche es endlich verbindliche gesetzliche Regeln auf Bundesebene, um Kinder vor Werbung für ungesunde Lebensmittel zu schützen. »Zahlreiche Studien zeigen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen hochverarbeiteten Lebensmitteln und Übergewicht besteht«, sagte Antje Hebestreit vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Das gilt insbesondere für Snacks und Softdrinks. »Leider hat die Lebensmittel- und Werbeindustrie ihre unverbindlichen, selbst gegebenen Regelwerke zu Kinder-Lebensmittelwerbung bislang konsequent ignoriert - und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich dies in Zukunft ändern wird, solange die Regeln freiwillig und unverbindlich bleiben.« So wird bereits eine halbe Ewigkeit über die sogenannten Nörglerregale im Handel diskutiert - quengelnde Kinder an der Kasse, weil ihnen Süßigkeiten auf Augenhöhe präsentiert werden. Eigentlich ein Leichtes, hier Abhilfe zu schaffen, kostet nur wenig, schmälert aber wohl auch die Gewinne der Unternehmen. Als ebenfalls erfolgreich einzuschätzende Maßnahme gilt eine gesundheitsförderliche Mehrwertsteuerreform. Gerade in diesen Wochen haben Preissteigerungen bei Obst und Gemüse gezeigt: Verarbeitete, aber oft ungesunde Lebensmittel sind häufig billiger. Vor allem arme Menschen sind so gezwungen, auf gesundes Essen zu verzichten. Hier sei auch die Europäische Union gefragt. Die EU-Umsatzsteuerrichtlinie müsse reformiert werden, um eine vollständige Mehrwertsteuerbefreiung für gesunde Lebensmittel zu ermöglichen, heißt es im vorgelegten Bericht. »Dies hat ernsthafte Folgen für unsere Gesundheit: Unausgewogene Ernährungsmuster erhöhen das Risiko für Adipositas (starkes Übergewicht), Diabetes mellitus Typ 2 (Zuckerkrankheit), Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verschiedene Krebsarten«, erklärte Diana Rubin, Leiterin des Vivantes-Zentrums für Ernährungsmedizin in Berlin. Dabei sei eine ausgewogene Ernährung nicht nur gut für die Gesundheit. »Besonders vorteilhaft für Klima und Gesundheit ist es, rotes und verarbeitetes Fleisch durch gesunde pflanzliche Lebensmittel zu ersetzen.« Bei der Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch entstünden 30 bis 100 Kilogramm CO2-Äquivalente - 30- bis 100-mal so viel wie für ein Kilogramm Hülsenfrüchte. »Verschiedene wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass eine Ernährung entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung mit einem deutlich niedrigeren ökologischen Fußabdruck einhergeht als unsere aktuelle Ernährung«, so Rubin. Aktuelle Zahlen sehen ein Viertel der globalen Treibhausgasemissionen durch unsere Ernährung bedingt, zudem sei das Ernährungssystem hauptverantwortlich für den Biodiversitätsverlust, die Entwaldung und den Verlust von Süßwasserreserven. Manche Maßnahmen wären dabei auch ganz einfach umzusetzen. So empfiehlt die Ernährungswissenschaft Wasser als bestes Getränk zum Durstlöschen. In vielen Ländern ist es selbstverständlich, dass Trinkwasser in Restaurants oder Imbissen kostenlos zur Bestellung dazugereicht wird. Nicht jedoch in Deutschland, wo das Trinkwasser eine gute Qualität hat. Zu teuer sagen Gastronomen. In der neuen Studie wird deshalb auch vorgeschlagen, Gastronomiebetriebe zu verpflichten, Leitungswasser kostenfrei oder gegen eine geringe Servicegebühr abzugeben. | Haidy Damm | Gesundes Essen ist nicht Sache der Konzerne, sondern der Politik. Deshalb müsse die neue Bundesregierung endlich handeln, fordern Wissenschaftler*innen. Der bisherigen Ernährungspolitik stellen sie ein nur mittelmäßiges Zeugnis aus. | Artensterben, Ernährung, Handel, Klimakrise, Landwirtschaft | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Gesundes Essen | 2021-10-19T15:22:52+0200 | 2021-10-19T15:22:52+0200 | 2023-01-20T20:28:02+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157775.gesundes-essen-politik-ist-fuer-ernaehrung-verantwortlich.html |
Wilders Wahl | Gab es in den Niederlanden einen Rechtsruck? Auch wenn es nur lokale Abstimmungen waren und die nackten Zahlen aus allen Kommunen das eigentlich nicht nahe legen – gefühlt ja. 394 Gemeinderäte standen zur Wahl. Geert Wilders ist mit seiner Partei für die Freiheit in Den Haag zweitstärkste Kraft geworden, in Almere die Nr. 1. Schon bei den Europawahlen im Vorjahr hatte die PVV in beiden Städten besonders gut abgeschnitten. Dieses Mal trat man überhaupt nur dort an. Ein geschickter Schachzug, denn auch deshalb wird die Rechtspartei als großer Wahlsieger wahrgenommen, obwohl auch andere wie die linksliberale D66 oder die linke Umweltpartei GroenLinks zulegen konnten. Für Wilders ist die Botschaft wichtig: »Was in Den Haag und Almere geschah, ist überall möglich.« Er hat nach dem Bruch der Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten die vorgezogenen Parlamentswahlen am 9. Juni im Visier. Und landesweite Umfragen sehen ihn mit seiner erst 2006 gegründeten »autoritär geführten, neo-rechtsradikalen Organisation« – so Politologen der Universität Tilburg – tatsächlich auf dem Vormarsch. Fast die Hälfte der Wilders-Wähler will laut Umfragen mit dem Votum gegen soziale Folgen der Wirtschaftskrise, Probleme bei der Ausländerintegration und zunehmende Kriminalität protestieren. Hier müssen die anderen Parteien schnell überzeugende Antworten jenseits der brandgefährlichen Anti-Islam-Parolen Wilders' finden. | Olaf Standke | Geert Wilders, Niederlande, Sozialabbau, Wahl, Wirtschaftskrise | Meinung | Kommentare kommentiert | https://www.nd-aktuell.de//artikel/166389.wilders-wahl.html |
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Bayerische Scharfmacher lassen nicht locker | Seit Samstag erst sind die neuesten Asylrechtsverschärfungen in Kraft, da kommen bereits die nächsten Vorschläge um die rechte Ecke daher, wie Deutschland weiter Geflüchtete bekämpfen sollte. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte gegenüber dem Berliner »Tagesspiegel am Sonntag«, Geflüchtete aus Kriegsländern nicht pauschal anzuerkennen. »Die Genfer Flüchtlingskonvention setzt eigentlich eine individuelle Betroffenheit voraus«, so Herrmann. Betroffen davon wären syrische Kriegsflüchtlinge, für die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Einzelfallprüfung wegen der derzeitigen Überlastung und der hohen Anerkennungsquote ausgesetzt hat. Zudem will Herrmann, dass mehr afrikanische Länder auf die Liste der sicheren Herkunftsstaaten gesetzt werden. »Bisher sind nur zwei Staaten Afrikas in dieser Liste aufgeführt«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das die einzigen Länder sind, in denen Bürger in der Regel... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Markus Drescher | Nach dem Balkan sollen nun afrikanische Länder zu sicheren Herkunftsländern deklariert werden - und mehr Menschen nach Afghanistan abgeschoben werden. | Afghanistan, Asylpolitik, Bayern, Bundeskartellamt, CDU, CSU, Flüchtlinge | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/989028.bayerische-scharfmacher-lassen-nicht-locker.html |
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Gerichtspräsidentin kritisiert Schwarz-Gelb | Im Fall des zu Unrecht abgeschobenen mutmaßlichen Islamisten Sami A. haben Vertreter der Justiz schwere Vorwürfe gegen die verantwortlichen Politiker erhoben. »Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet«, sagte die Präsidentin des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG), Ricarda Brandts, der dpa. Durch das Vorenthalten von Informationen hätten die Behörden verhindern wollen, dass die Justiz rechtzeitig ein Abschiebeverbot verhängen konnte. »Die Verantwortlichen sollten sehr genau analysieren, wie die Ausländerbehörde und möglicherweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen umgegangen sind«, sagte Brandts. Der Fall werfe Fragen zu Demokratie und Rechtsstaat - insbesondere zu Gewaltenteilung und effektivem Rechtsschutz - auf, so Brandts. Der von den Sicherheitsbehörden als islamistischer »Gefährder« eingestufte Sami A. war am 13. Juli nach Tunesien abgeschoben worden. Am Mittwoch entschied das OVG letztinstanzlich, dass die deutschen Behörden den 42-Jährigen nach Deutschland zurückholen müssen. Wie wenig er von rechtsstaatlichen Grundsätzen hält, machte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul deutlich. »Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut«, sagte der CDU-Politiker gegenüber der »Rheinischen Post«. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem »Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen«. Der Minister bezweifelte, dass das im Fall Sami A. geschehen sei. Der Deutsche Anwaltverein reagierte empört. »Es ist Zeit, dass die staatlichen Behörden die Entscheidung des OVG vorbehaltlos anerkennen und nicht nachtreten«, erklärte Präsident Ulrich Schellenberg. Reuls Aussage sei »höchst unangemessen«. Dagegen liegen Regierungspolitiker der FDP in Nordrhein-Westfalen auf einer Linie mit ihren Koalitionspartnern von der CDU. »Das Gericht lässt uns ratlos zurück«, teilte das vom FDP-Politiker Joachim Stamp geführte NRW-Integrationsministerium mit. »Wir bedauern, dass das Oberverwaltungsgericht sich mit der zentralen Frage, ob Sami A. in Tunesien Folter droht, inhaltlich nicht auseinandersetzt.« Das OVG hingegen betonte, dies sei gar nicht Gegenstand des aktuellen Rechtsstreits gewesen. Wie schnell Sami A., der Leibwächter des Al-Kaida-Chefs Osama bin Laden gewesen sein soll, nach Deutschland zurückkehren kann, ist unklar. Er müsse von sich aus zurückreisen, sagte ein Sprecher der Stadt Bochum. Das Auswärtige Amt müsse Sami A. ein Visum ausstellen. »Wir als Stadt geben der Anwältin von Sami A. jetzt eine Kostenzusage für den Rückflug«, sagte Sprecher Thomas Sprenger. Mit Agenturen Seite 5 | Aert van Riel | CDU und FDP befinden sich in Nordrhein-Westfalen im Streit mit Richtern. Die Entscheidung, dass Sami A. nach Deutschland zurückkehren soll, können sie nicht nachvollziehen. | Nordrhein-Westfalen | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1097616.gerichtspraesidentin-kritisiert-schwarz-gelb.html |
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Der Journalist: Ein jammernder Techniktrottel? | 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Marcus Meier | Sind Journalisten allesamt Techniktrottel und Jammerlappen? So wird es behauptet in einem Blogbeitrag, der seit vorgestern mittelschwere Wellen schlägt. Doch zwar klagen Journalisten in der Tat oft, jedoch meist zu recht, findet unser Kolumnist Marcus Meier. | Journalismus, Markt, Medien, Neoliberalismus | Meinung | Kommentare | https://www.nd-aktuell.de//artikel/240056.der-journalist-ein-jammernder-techniktrottel.html |
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Erfolgreiche Überfahrt in die EU: Frage des Geldes | Eigentlich ist es Aufgabe des Hohe Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sicherzustellen, dass Schutzsuchende ihr Recht auf Asyl durchsetzen und eine sichere Zuflucht finden, nachdem sie vor Gewalt, Verfolgung, Krieg oder Katastrophen fliehen mussten. In Libyen scheint die Organisation dieses Ziel aber aus den Augen zu verlieren. Dieser Eindruck entsteht bei der Lektüre einer Präsentation des UNHCR. Darin werden die EU-Mitgliedstaaten mit Informationen zur »Verhinderung gefährlicher Reisen« aus Libyen versorgt. Zugleich wird in dem Papier eine Verstärkung repressiver Maßnahmen angeregt. Um Menschenhandel und -schmuggel zu bekämpfen, solle etwa die Grenzagentur Frontex mehr Daten »mit relevanten Ländern in Afrika« teilen. Europäische Behörden müssten gemeinsame Ermittlungen »unter Einbeziehung libyscher Behörden« durchführen, heißt es weiter. Das Dokument hat die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch online gestellt. Als mutmaßlichen Autor nennt sie den UNHCR-Sonderbeauftragten für die Mittelmeerregion, Vincent Cochetel. Die Präsentation fand demnach am 13. Januar in der Arbeitsgruppe zum »Mechanismus der operativen Koordinierung für die externe Dimension der Migration« (Mocadem) der EU-Mitgliedsstaaten statt. Sie wurde zur gemeinsamen Steuerung der EU-Migrationspolitik in Ländern von »besonderem Interesse« eingerichtet. Zu diesen Ländern gehören Libyen, Ägypten, Tunesien und Niger. Seit ihrer Gründung vor zwei Jahren gibt Mocadem regelmäßig Dossiers heraus. Diesen Papieren, die ebenfalls von Statewatch veröffentlicht werden, ist zu entnehmen: Wenn die afrikanischen Regierungen bei der EU-Migrationskontrolle helfen, erhalten sie dafür viele Millionen Euro und mit etwas Verhandlungsgeschick günstigere Bedingungen bei der Visavergabe oder für die Arbeitsmigration. Die Zahlen, die das UNHCR in der EU-Sitzung präsentierte, haben es in sich. Demnach gab es im vergangenen Jahr 78 676 Seeabfahrten von Libyen aus, eine Steigerung von rund 13 Prozent gegenüber 2021. Mit 53 173 Bootsinsassen haben es viele Menschen nach Italien geschafft, einige Hundert auch nach Malta. Etwa ein Drittel der Boote wurde der Zählung zufolge von der libyschen Küstenwache abgefangen, was einem Rückgang von 23,5 Prozent entspricht. Die meisten Geflüchteten, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, stammen derzeit aus Bangladesch, Ägypten und Syrien. Die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Überfahrt liegt laut dem UNHCR bei im Schnitt 67 Prozent. Ob es die Menschen schaffen, ist dabei auch eine Frage des Geldes, heißt es in dem UNHCR-Dokument: 83,5 Prozent der Menschen aus Bangladesch erreichen demnach Italien oder Malta, für Personen aus Mali liegt die Quote hingegen nur bei 43 Prozent. Das UNHCR bezeichnet dies als »Schutz, den man sich leisten kann«. Mehr Umverteilung, mehr Frontex: EU-Mittelmeeranrainer verabschieden Erklärung zu Migrationspolitik. Die Präsentation bestätigt indes Beobachtungen, die auch schon von Seenotrettungsorganisationen zu hören waren: In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 nahmen die Abfahrten großer Gruppen aus Ostlibyen deutlich zu. Der Landesteil steht nicht unter der Kontrolle der Regierung. Und noch eine Statistik lässt aufhorchen: Laut UNHCR ist die Zahl der Toten im Mittelmeer 2021 gegenüber 2021 um 200 auf 1358 zurückgegangen, obwohl es mehr Abfahrten gab. Die Angaben unterscheiden sich von denen der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die für 2022 von 1417 Toten im zentralen und über 2400 Toten im Mittelmeer insgesamt spricht. Darauf machte ein Sprecher der zivilen Rettungsorganisation Sea-Watch gegenüber dem »nd« aufmerksam. Er betonte, dass auch gegenüber der IOM-Statistik die Dunkelziffer der unentdeckten Überfahrten und damit der unbekannten Todesfälle noch hoch sein dürfte. Sea-Watch kritisiert das UNHCR grundsätzlich. »Statt Fürsprecherin für Flüchtende zu sein, beobachten wir vielmehr öffentliches Schweigen in Bezug auf staatliche Abschottungspolitik und ihre Folgen«, erklärte die Organisation. Das UNHCR müsse sich auch mit Geflüchteten in Libyen solidarisieren. Tausende von ihnen hatten vor einem Jahr vor dem Sitz des UNHCR in Tripolis campiert, um gegen die menschenrechtswidrige Behandlung in libyschen Lagern zu protestieren. Viele wurden verhaftet. Auch die Strukturen der Geflüchteten selbst und ihre Unterstützer kritisieren das UN-Hochkommissariat. Es neige dazu, »für oder über Menschen auf der Flucht zu sprechen, anstatt deren Stimmen zu verstärken«, moniert die Gruppe Solidarity with Refugees in Libya gegenüber »nd«. »Anstatt zuzuhören, kritisiert das UNHCR die Proteste der Flüchtlinge und schweigt angesichts der brutalen Vertreibungen und Inhaftierungen, die für viele bis heute andauern«. Ein Grund dafür liege in der finanziellen Abhängigkeit des UNHCR von westlichen Staaten, vermutet Solidarity with Refugees in Libya. Dadurch werde das UNHCR »Teil eines neokolonialen Polizeisystems zur Steuerung von Migration«. Dies gelte auch für das Büro in Libyen. Dass man in Tripolis die Rolle als Unterstützer der Belange von Schutzsuchenden nicht ausfüllt, ist dem UNHCR offenbar bewusst. Man sei »für das, was was wir tun, und was wir nicht tun«, einer immer stärkeren Kritik der »von Flüchtlingen und Migranten geleiteten Organisationen« sowie Nichtregierungsorganisationen ausgesetzt, heißt es in der Präsentation. Diesen »erhöhten Reputationsrisiken« will das Büro jedoch nicht mit einer besseren Politik für Geflüchtete begegnen, sondern mit einer »besseren Abstimmung unserer jeweiligen Kommunikationsstrategien«. | Matthias Monroy | Eine Präsentation des UNHCR nennt wichtige Daten zu Fluchten über das Mittelmeer. Libyens Küstenwache fängt demnach vor allem Menschen aus Mali ab. Im Durchschnitt sind 67 Prozent der Überfahrten erfolgreich. | Asylpolitik, Einwanderung, Europäische Union, Flüchtlinge, Libyen, Mittelmeer | Politik & Ökonomie | Politik UNHCR | 2023-03-13T16:24:06+0100 | 2023-03-13T16:24:06+0100 | 2023-03-14T09:10:53+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1171657.unhcr-erfolgreiche-ueberfahrt-in-die-eu-frage-des-geldes.html?sstr=arbeitsmigration |
Bundesregierung schwächt gewaltfreie Akteure | Die deutsche Regierung ist nach den Angriffen palästinensischer Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 und Israels anschließenden Krieg in Gaza bei der Finanzierung von Projekten in der Region viel restriktiver geworden. Eine Recherche der Deutschen Welle (DW) dokumentiert, wie dies mit Zochrot und New Profile nun auch zwei bekannte israelische Träger trifft, die von der wendländischen Bildungs- und Begegnungsstätte Kurve Wustrow unterstützt werden. Sie gehören zu 15 Organisationen aus Israel und den besetzten Gebieten in Palästina, die nach Informationen der DW eine deutsche Regierungsfinanzierung verloren haben. Der Sender stützt die Recherche auf Dutzende von zivilgesellschaftlichen Quellen und sieht die Definanzierung als »Teil eines größeren Musters«, bei dem Bundesmittel für Nichtregierungsorganisationen gestrichen werden, wenn diese sich gegen Israels Politik wenden. Das Außenministerium weist dies zurück und erklärt, es finanziere weiterhin »zahlreiche NGOs in Israel und den palästinensischen Gebieten, die die israelische Besatzungspolitik kritisieren«. New Profile ist eine Bewegung, die in Israel Menschen unterstützt, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern. Die Betroffenen müssen regelmäßig ins Gefängnis. Zochrot, das auf Hebräisch »Erinnern« bedeutet, widmet sich der Aufarbeitung der Nakba – der Vertreibung von Palästinenser*innen nach der Staatsgründung Israels 1948. Die Organisation fordert unter anderem das Rückkehrrecht für Flüchtlinge und ihre nachgeborenen Angehörigen. Dies lehnt die israelische Regierung entschieden ab – wie auch die Nakba von rechten Kreisen geleugnet wird. Es bleibt unklar, welche Gründe zum Förderstopp für New Profile und Zochrot führten. Beide Organisationen haben erklärt, dass sie sich klar gegen Antisemitismus aussprechen und das Existenzrecht Israels nicht infrage stellen. Naheliegend ist, dass sie aus Sicht der damaligen Ampel-Koalition trotzdem die uneingeschränkte deutsche Unterstützung für Israels Krieg in Gaza unterlaufen haben. Die Direktorin von Zochrot, Rachel Beitarie, beschrieb, dass ihr deutsche Beamt*innen gesagt hätten, aufgrund der deutschen Geschichte sei es wichtig, Israel zu unterstützen. Der Verlust der deutschen Förderung ist für die Organisationen schmerzhaft: Zochrot berichtet, dass etwa ein Viertel des Jahresbudgets wegfiel, New Profile verlor sogar rund die Hälfte ihrer Finanzierung. Die Kurve Wustrow unterstützt neben Partnern in Nahost auch antimilitaristische Gruppen und Organisationen in Myanmar, Nepal, Sri Lanka, dem Sudan und in der Ukraine. Es sei das erste Mal überhaupt, dass die Bundesregierung eines ihrer laufenden Projekte mitten in der Laufzeit beendet, erklärte der Direktor von Kurve Wustrow, John Preuss, gegenüber »nd«. Warum die Kriegsdienstverweigerung als eine legitime gewaltfreie Aktion von New Profile nicht mehr unterstützt werden soll, kann er sich nicht erklären. Das Hauptthema von Zochrot ist die Rückkehr von palästinensischen Vertriebenen; als völkerrechtlich verbrieftes Recht und Knackpunkt friedlicher Lösungen sollte auch dies öffentlich diskutiert werden dürfen, sagt Preuss. Zukünftig müssen sich ausländische Projektpartner an derartige Entscheidungen der Bundesregierung gewöhnen. Der Bundestag hat im vergangenen November die Resolution »Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken« verabschiedet, die öffentliche Zuschüsse an die Einhaltung der umstrittenen IHRA-Definition von Antisemitismus knüpft. Davor warnen nun mehrere Organisationen, die sich weltweit für gewaltfreien Widerstand einsetzen, in einer Petition. Unter ihnen sind neben der Kurve Wustrow das Forum Ziviler Friedensdienst, Medico International, der Weltfriedensdienst und Oxfam Deutschland. Deutschland habe in der Geschichte des Holocaust begründet eine besondere Verantwortung, Menschenrechte wie das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und das Völkerrecht zu verteidigen, heißt es in der Petition. »Wenn die deutsche Bundesregierung stattdessen die Förderung der Zivilgesellschaft in Palästina und Israel, die sich für jene Rechte einsetzt, einschränkt, riskiert sie nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sondern trägt auch dazu bei, friedliche und gerechte Lösungen in Palästina und Israel zu untergraben.« | Matthias Monroy | Viele Organisationen aus Israel und Palästina werden nicht mehr aus Deutschland unterstützt. Dies könnte die Suche nach friedlichen Lösungen in der Region erschweren. | Antisemitismus, Israel, Juden, Menschenrechte, Nahost, Palästina | Politik & Ökonomie | Politik Nahost-Konflikt | 2025-01-06T14:54:28+0100 | 2025-01-06T14:54:28+0100 | 2025-01-06T18:47:32+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188002.bundesregierung-schwaecht-gewaltfreie-akteure.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Partei ohne Vision | Einige Monate nach dem Start der Großen Koalition beginnt in der SPD das Rätselraten, warum man noch immer im Umfragetief verharrt. Vertreter des linken Flügels fordern eine Profilschärfung und die Betonung des sozialdemokratischen Anteils an der Politik der Regierung. Das klingt hilflos und zeigt, dass die SPD den richtigen Zeitpunkt verpasst hat, ihr schwaches Bundestagswahlergebnis aufzuarbeiten. Mit Kanzlerkandidat Steinbrück hatte man schnell einen Sündenbock gefunden. Weitere personelle und programmatische Konsequenzen scheute die Parteiführung.
Mit vielen alten Köpfen verfolgt die SPD nun eine Politik, die lediglich darauf ausgerichtet ist, dass nicht noch mehr Wähler der Partei den Rücken kehren. So sollen etwa durch die »Rente mit 63« ältere Facharbeiter, die von der Neuregelung profitieren, an die SPD gebunden werden. Außerdem haben die Sozialdemokraten den Mindestlohn durchgesetzt, eine kleine Korrektur in der Arbeitsmarktpolitik, die auch die Gewerkschaften beruhigen soll. Wenn die Genossen bald den Kanzler stellen wollen, wird es nicht ausreichen, diese Minischritte noch lauter zu bejubeln als bisher. Vielmehr müssten sie deutlich machen, wie eine Alternative zur Merkel-Politik aussehen könnte, zum Beispiel in der verheerenden europäischen Krisenpolitik. Dies ist der SPD bisher aber nicht glaubwürdig gelungen. | Redaktion nd-aktuell.de | Aert van Riel über die Unruhe in der SPD wegen schlechter Umfragewerte | Andrea Nahles, Gewerkschaft, Große Koalition, Mindestlohn, Rente mit 63, SPD, Umfrage | Meinung | Kommentare | https://www.nd-aktuell.de//artikel/930023.partei-ohne-vision.html |
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»Dort, wo man Bücher verbrennt,... | Diese Warnung von Heinrich Heine sollte sich in Nazideutschland grausam bewahrheiten: Der 10. Mai weist als Tag des freien Buches in dunkle deutsche Vergangenheit. Es ist ein Tag der Erinnerung an die Bücherverbrennungen, die schon kurz nach Hitlers Machtergreifung eine öffentlichkeitswirksame Wende in Richtung nazistische Erziehung einleiteten. Geplant von NSDAP, Hitlerjugend, Körperschaften der SA und dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB). Als Schlüsselereignis gilt die vom NSDStB am 10. Mai 1933 organisierte Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz). In 22 deutschen Städten wurden zehntausende Bücher von jüdischen, marxistischen, pazifistischen oder sonst wie unliebsamen Schriftsteller*innen verbrannt. | Irmtraud Gutschke | »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.« Die Warnung von Heinrich Heine sollte sich in Nazideutschland grausamst bewahrheiten. | Literatur, Podcast | Feuilleton | Kultur 10. Mai | 2022-05-10T15:43:11+0200 | 2022-05-10T15:43:11+0200 | 2022-06-10T10:42:38+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1163651.dort-wo-man-buecher-verbrennt.html |
Halberstadt und dann die Welt | Der langjährige Generalmusikdirektor der Deutschen Staatsoper in Berlin, Heinz Fricke, ist tot. Fricke starb am Montag im Alter von 88 Jahren in Berlin-Buch. Der gebürtige Halberstädter war von 1961 bis 1992 künstlerische... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Heinz Fricke gestorben | Berlin, Mecklenburg-Vorpommern | Feuilleton | Kultur | https://www.nd-aktuell.de//artikel/994022.halberstadt-und-dann-die-welt.html |
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Fräulein Hirschberg und dos Kelbl | Deutschland 1938: Liselotte, Leon, Minna und Hildegard sind eng befreundet. Nichts kann die Verknöpften, die mit Freundschafts-Armbändern verbunden sind, trennen. Doch in der Zeit vor dem Krieg ist nichts, wie es war. Von Woche zu Woche verändert sich das Leben von Liselotte und den anderen immer mehr. Hildegard, die als Einzige nicht die jüdische Schule besucht, darf ihre beiden Freundinnen und ihren Freund nicht mehr treffen. Nach einer dunklen Novembernacht ist sogar die Schule geschlossen. Und Liselotte hört von einem Schiff, mit dem Minna und ihre Eltern wegfahren … Nur die beliebte und engagierte Lehrerin Fräulein Hirschberg ist ein Anker in diesen dunklen Zeiten. Was hält Freundschaft aus? Wie viel kann das Freundschafts-Armband mit dem schönen Knopf zusammenhalten? Eine berührende Geschichte aus der Vergangenheit. Mit zarten Illustrationen der israelischen Künstlerin Inbal Leitner, die die Geschichte einfühlsam begleiten. Inbal Leitner ist in Israel geboren und aufgewachsen und lebt heute mit ihrer Familie in Cambridge, Großbritannien. Sie hat an der Cambridge School of Art Kinderbuchillustration studiert und arbeitet als Illustratorin. Für ihre Werke, die auf der ganzen Welt veröffentlicht und ausgestellt werden, arbeitet sie mit traditionellen Materialien, Mixed Media und Drucktechniken.
Andrea Behnke hat Politikwissenschaft, Anglistik und Publizistik studiert und unter anderem als Journalistin und Redakteurin gearbeitet. Heute lebt sie als freie Autorin und Schriftstellerin in Bochum. Sie schreibt Geschichten - wahre und erfundene, besonders gerne für Kinder. Ihre Bilderbücher, Vorlesegeschichten und Romane sind in verschiedenen Verlagen erschienen. Etliche ihrer Geschichten wurden für den Hörfunk vertont. Ghetto Riga 1942 Ilse Hirschberg sucht Kräuter. Mit den Fingernägeln knipst sie Brennnesseln und Löwenzahn ab. Gleich wird sie Tee kochen und in das Krankenzimmer gehen. Sie wird den schwachen Menschen Tee geben. Kleine Schlückchen, mehr vertragen sie nicht. Das erste wärmende Getränk seit Tagen, das sie bekommen werden. Ein Tag hier ist länger als ein Leben, denkt Ilse Hirschberg. Länger als ihr früheres Leben als Lehrerin. Es wäre leichter, sich einfach hinzulegen und nichts zu tun. Doch Ilse Hirschberg will sich nicht hinlegen. Sie will nicht einschlafen. Bloß nicht einschlafen. Sie will helfen. Auch hier bringt sie Kindern etwas bei, wie früher in der Schule, ein wenig Rechnen, ein wenig Deutsch. Manchmal heimlich. Die Kinder sollen sich wie Kinder fühlen, in dieser neuen Stadt. Eine Stadt, die normal sein soll, und in der jeder spürt, dass hier gar nichts normal ist. Was sollte auch normal sein an kleinen Zweizimmerwohnungen, in denen sechzehn Menschen leben? Was sollte normal sein an einem Ort, an dem man eingesperrt ist? Immer wieder schreibt Ilse Hirschberg etwas auf. Eigentlich dürfte sie keinen Füller haben. Daher hat sie, als die Männer kamen, um ihnen die Stifte und den Schmuck abzunehmen, ihren Füller schnell in den Rockbund gesteckt. Dort haben die Männer nicht nachgeschaut, an dem Tag, an dem sie hier mit vielen, vielen Menschen ankam. Frauen, Männer und Kinder. Wenige Kinder kennt Ilse Hirschberg sogar noch aus ihrer kleinen Schule in Bochum. Wenn sie die Kinder sieht, bilden sich kleine Seen in ihren Augen. Aber Ilse Hirschberg verbietet es sich, zu weinen. In den letzten Jahren hat sie gelernt, die Tränen zurückzudrängen. Bei den ersten Anzeichen schließt sie die Augen und schluckt ein paar Mal kräftig. So verschwinden die kleinen Seen wieder. In ihrem Kopf sind ganz viele Tränen, die Ilse Hirschberg nicht rauslässt. Denn jede Träne würde Hoffnung wegspülen. Und sie möchte hoffen, für sich und vor allem für die Kinder. Ein leises Lächeln überzieht Ilse Hirschbergs Gesicht. Die Kinder. Sie weiß genau, dass die Schulkinder über sie gesagt haben, sie sei so klein, dass sie in den Ranzen passt. Natürlich haben sie das nur geflüstert, Liselotte, Minna, Leon und die anderen … Doch als Lehrerin hat man nicht nur zwei Ohren, sondern mindestens vier. In der Ferne erklingt ein Lied. Ohne es zu merken, summt Ilse Hirschberg mit. Dos Kelbl - ein Lied über ein Kälbchen. Ein Kälbchen, das mit einem Strick angebunden ist. Und am Himmel fliegt ein Vogel davon »Was hast du denn da?« Minna berührt mit einem Finger Leons Wange. Dort ist eine Kruste, die noch ganz frisch aussieht. »Au, lass das!« Leon hält sich die Backe und tritt Minna vors Schienbein. Die nimmt ihn daraufhin in den Schwitzkasten. »Na, na, na.« Fräulein Hirschberg, die gerade den Klassenraum betreten hat, schiebt sich zwischen die beiden. »Das kriegst du zurück«, zischt Minna. Fräulein Hirschberg packt Minna an der Schulter. Kraft hat sie, obwohl sie kaum größer ist als das Mädchen. »Jetzt wollen wir erst mal ein bisschen rechnen.« Sie schüttelt den Kopf. »Ihr seid schließlich keine Ringkämpfer.« Minna knurrt wie ein Hund und trottet zu ihrem Platz. »Was war denn?«, fragt Liselotte, die neben ihr sitzt. Obwohl sie flüstert, hört Fräulein Hirschberg sie. Sie nimmt ihren dünnen Stock und schlägt leicht gegen die Kante des Pultes. Liselotte zuckt zusammen. »Ich möchte endlich anfangen. Was ist denn heute nur los mit euch?« Sie fährt sich einmal durch die kurzen Haare, so dass sie an der Seite abstehen. Minna kichert. »Heute ist der Lockenzwerg gut gelaunt, was?« Fräulein Hirschberg wirft den beiden Mädchen einen strengen Blick zu. »Pscht«, macht Liselotte und guckt nach vorne. Sie kaut an ihrem Stift. In der Pause hält Fräulein Hirschberg Leon zurück, der von einem Bein aufs andere tritt. »Du Zappel.« Liselotte sieht, wie Fräulein Hirschbergs Augen hinter den runden dicken Brillengläsern lächeln. Betont langsam packt Liselotte ihre Sachen ein, um auf Leon zu warten. Und um ein wenig zu lauschen. »Was ist da passiert?« Fräulein Hirschberg zeigt auf Leons Wange. Ihre Stimme ist so weich wie ein Stück Butterkuchen. Leon fährt vorsichtig mit dem Zeigefinger über die blutige Kruste und verzieht sein Gesicht. »Tut das so weh?« Er schüttelt den Kopf. »Es ist alles gut«, brummt er. »Kann ich in den Pausenhof gehen?« Fräulein Hirschberg nickt. »Und wenn etwas ist, gibst du mir Bescheid, ja?« Sie versucht, Leons Blick zu erhaschen. »Du musst es mir versprechen.« »Ja, Fräulein Hirschberg.« Er schnappt sich seine Jacke. »Warte!« Liselotte huscht hinter Leon her. Vom Hof aus sieht sie, wie Fräulein Hirschberg am Fenster steht. Sie kommt ihr hinter der Scheibe noch kleiner vor. Und so nachdenklich. »He!« Minna pikst Liselotte in den Po. »Bist du festgewachsen?« Sie saust davon. Liselotte läuft ihr nach. »Ich krieg dich«, ruft sie. Leon stellt sich den beiden in den Weg. »Ich hab euch schon.« Er breitet seine Arme aus. Liselotte steht ganz nah vor ihm. »Jetzt sag mal, was du da gemacht hast, im Gesicht.« »Lasst mich endlich damit in Ruhe!« Leon lässt die Mädchen stehen und geht zu den anderen Jungs. *** Auf dem Heimweg hüpft Minna neben Liselotte und Leon her. Leon ist noch immer ein bisschen grummelig. »Tadaa!« Minna zieht ein Stück Kreide aus dem Lederranzen. Flink zeichnet sie Hüpfkästchen auf den Bürgersteig. Liselotte sucht einen Kieselstein zum Werfen. »Zur Steigerung der allgemeinen Laune.« »Och nöö«, nörgelt Leon. »Ich hab keine Lust.« »Jeder wenigstens einmal«, sagt Liselotte und reicht Leon einen Stein. »Kannst auch anfangen.« Lustlos wirft Leon den Stein in ein Kästchen und springt los. Als Leon mit beiden Füßen im Feld neun, direkt vor Himmel und Hölle, aufkommt, ruft Minna: »Na los! Einen großen Sprung noch!« Doch Leon setzt sich hin, mitten auf die Hüpfkästchen. »Mach weiter«, sagt Liselotte und stupst ihn mit dem Fuß an. »Ich darf mich hier ausruhen«, sagt Leon. »In die Hölle sollen andere.« Liselotte zieht die Augenbrauen hoch. Minna fängt an, Leon zu kitzeln. Leon windet sich und prustet los. Mit einem Ächzen steht er wieder auf, hüpft weiter und landet neben dem Feld. »Raus!« Minna sammelt den Stein wieder ein. »Ein Glück«, sagt Leon. »Ich gehe schon mal nach Hause. Oma wartet.« Leon wohnt bei seiner Oma, die schon ziemlich alt ist. Seine Eltern leben nicht mehr. Liselotte setzt ihren Ranzen ab und fängt an zu springen. Sie winkt Leon, der davonschlurft, nach. Kurz darauf sieht sie, dass Leon ein Stückchen weiter auf dem Bordstein sitzt. Dort wartet er so lange, bis Liselotte und Minna keine Lust mehr auf Hüpfkästchen haben und ihn einholen. Minna biegt als Erste ab. Liselotte und Leon gehen noch ein Stück gemeinsam weiter. Je näher Leon dem Mietshaus kommt, in dem seine Oma eine kleine Wohnung hat, desto stiller und langsamer wird er. »Irgendwie bist du merkwürdig«, sagt Liselotte und schaut ihren Freund von der Seite an. Leon bleibt stehen und holt tief Luft. »Würden Oma und ich nicht hier wohnen, würde ich diese Straße niemals lang laufen«, sagt er und macht eine kurze Pause. »Überall gibt es Häuser mit solchen Einfahrten, in die man nicht sofort reingucken kann.« Liselotte zieht die Stirn kraus. Ehe sie weiter nachbohren kann, greift Leon ihre Hand und rennt mit ihr los. An einem Haus vorbei, an dem nächsten. Die Ranzen schlackern auf ihren Rücken hin und her. Liselottes Schuhe sind inzwischen zu eng geworden, sie drücken bei jedem Schritt. Trotzdem rennt sie mit Leon weiter. Noch zwei Häuser, dann ist Leon zu Hause. Der Eingang mit den beiden Stufen ist schon zu sehen. Liselotte bildet sich ein, den Tscholent zu riechen. Der Tscholent-Eintopf für Schabbat muss einen ganzen Tag lang köcheln. Leons Magen knurrt laut. »Oma hat versprochen, heute Mittag Latkes zu machen«, sagt er, völlig außer Puste. Gerade als Liselotte sich den Geschmack der Kartoffelpuffer vorstellt, Latkes mit Zucker und saurer Sahne, schnellt aus den Büschen ein Hockeyschläger hervor und kracht gegen Leons Oberschenkel. Leon krümmt sich vornüber. Als er wieder hochguckt, blickt er in ein Paar stahlgraue Augen. Die Augen eines Jungen aus der Nachbarschaft. Hinter ihm taucht mit einem hämischen Grinsen ein weiterer Junge auf. »Da ist er ja wieder, der kleine Jude.« Die Jungs beachten Liselotte gar nicht, sie scheint Luft für sie zu sein. Der Größere der beiden fährt mit dem Hockeyschläger über Leons Wange, da, wo die Wunde von gestern ist. Leon wimmert. Er merkt, wie sich die Kruste löst. »Lass mich durch«, bittet er leise. Seine Knie schlottern. »Was will der kleine Jude?« Liselotte möchte laut schreien. Doch sie kann nicht. Beim Hüpfkästchen-Springen kitzelte das Lachen noch im Hals, jetzt ist ihr, als ob dort der Kieselstein steckt. Kein Wort bringt sie heraus. Sie steht da, als wären ihre engen Schuhe im Bürgersteig verwurzelt. Sie kann sich nicht mehr bewegen. »Der kleine Jude will durch. Alle kleinen Juden wollen immer irgendwas.« Der zweite Junge lacht, so dass man seine gelben Zähne sieht. »Wir werden euch schon zeigen, wer hier was wollen darf und wer nicht.« Er schubst Leon so heftig, dass Leon strauchelt und auf den Asphalt stürzt. Seine Hose reißt auf, langsam sickert Blut in den hellgrünen Stoff. Das Knie tut noch mehr weh als die Oberschenkel. Der größere Junge macht einen Schritt auf Liselotte zu: »Du sagst nichts, verstehst du. Nichts sagst du.« Er fuchtelt ihr mit dem erhobenen Zeigefinger vor dem Gesicht herum. »Und jetzt haut ab. Ich hab genug von euch.« Daraufhin verschwinden die beiden so schnell, wie sie gekommen sind. Langsam spürt Liselotte wieder Leben in ihren Füßen, sie kann sie wieder vom Boden heben. Sie hilft Leon hoch und stützt ihn. Ohne sich noch einmal umzudrehen, geht sie mit ihm zum Haus seiner Oma. Am liebsten würde sie rennen, aber Leon kann nur noch humpeln. An der Haustür klingelt Liselotte Sturm, aus Angst, die Jungen könnten immer noch hinter ihnen sein. Als könne Leon Gedanken lesen, flüstert er: »Die beiden sind immer hinter mir her, selbst wenn sie gar nicht da sind.« Nachdem die schwere Holztür ins Schloss gefallen ist, atmet Liselotte tief durch. Sie riecht die Latkes, aber sie hat keinen Appetit mehr. Ihr Bauch tut weh, als hätte sie selbst einen der Schläge abbekommen. Andrea Behnke
Die Verknöpften
Mit Illustrationen von Inbal Leitner
Ariella Verlag
160 S., geb., 14,95 €
Für Kinder ab 10 Jahren | Redaktion nd-aktuell.de | Deutschland 1938: Liselotte, Leon, Minna und Hildegard sind eng befreundet. Nichts kann die Verknöpften, die mit Freundschafts-Armbändern verbunden sind, trennen. Doch in der Zeit vor dem Krieg ist nichts, wie es war. Von Woche zu Woche verändert sich das Leben von Liselotte und den anderen immer mehr. Hildegard, die a... | BuchPlanB, Freundschaft, Kinder, Kinderbuch, Literatur, Zweiter Weltkrieg | Feuilleton | Kultur | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1153441.fraeulein-hirschberg-und-dos-kelbl.html |
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Weg mit den Wattebäuschchen | Die türkische Regierung zieht die Daumenschrauben weiter an. Türkische Sicherheitskräfte nahmen mindestens 150 Menschen fest, die meisten aktive Soldaten, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Dienstag. Sie sollen Verbindungen zu dem im US-Exil lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen unterhalten, den die Regierung für den Putschversuch von 2016 verantwortlich macht. Gegen den repressiven Kurs der türkischen Regierung haben am Dienstag mehrere Bundestagsabgeordnete und Menschenrechtsaktivisten die Stimme erhoben. Auf einer Veranstaltung des Kulturforums Türkei- Deutschland in Berlin verurteilten sie die Inhaftierung von Oppositionellen und Journalisten und das eingeleitete Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei HDP. Auch den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalt schützen soll, bezeichneten sie als Rückschlag für die Menschenrechte. Die Redner forderten deutliche Signale aus Brüssel und Berlin gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Beim EU-Gipfel am Donnerstag wird dies Thema sein. Für Sevim Dağdelen, Bundestagsabgeordnete der Linken, ist die Türkei auf »Kurs in Richtung islamistischer Unterdrückungsstaat«. Sie forderte einen sofortigen Stopp der Waffenexporte in die Türkei, ein Ende der privilegierten Partnerschaft und eine Aussetzung der Zollunion. Der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir sagte, die Bundesregierung dürfe in ihrem »Diplomatenkoffer künftig nicht mehr nur Wattebäuschchen« haben, sondern müsse gezielte Wirtschaftssanktionen gegen Funktionäre der türkischen Regierungsparteien verhängen. Er will auch den Ausschluss der Türkei aus dem Europarat, was der SPD-Abgeordnete Frank Schwabe hingegen derzeit für falsch hält. »Doppelstandards« im Umgang mit der Türkei warf der im deutschen Exil lebende türkische Journalist Can Dündar den EU-Staaten vor. Diese seien aus Dankbarkeit für die Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingspolitik bereit, ihre Prinzipien zu opfern. Besonders kritisch beurteilte der ehemalige HDP-Abgeordnete Ziya Pir die Türkei-Politik der Bundesregierung. Insbesondere die Äußerungen von Außenminister Heiko Maas (SPD) seien »eine Schande für die deutsche Sozialdemokratie«, da sie stets einen Nebensatz enthielten, »der von der Türkei hätte geschrieben werden können«. | Cyrus Salimi-Asl | Nach dem Verbotsverfahren gegen die Partei HDP wurden am Dienstag in der Türkei mutmaßliche Gülen-Anhänger festgenommen. In Berlin fordern Abgeordnete Konsequenzen vom EU-Gipfel. | Europäische Union, Menschenrechte, Türkei | Politik & Ökonomie | Politik Maßnahmen gegen die Türkei | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1149945.massnahmen-gegen-die-tuerkei-weg-mit-den-wattebaeuschchen.html |
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Der Spion, den ich tauschte | 26 Inhaftierte, sieben beteiligte Länder und über allem der Hauch von Spionagethrillern aus der Zeit des Kalten Krieges. Was sich am 1. August auf dem Flughafen in der türkischen Hauptstadt Ankara abspielte, war der größte Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit Jahrzehnten. Wie der Kreml bestätigte, hat Präsident Wladimir Putin 13 politische Häftlinge begnadigt, darunter die US-Journalisten Evan Gershkovich und Alsu Kurmasheva, den Ex-Marine Paul Whelan, den Menschenrechtler Oleg Orlow, die Politiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa, die Künstlerin Sascha Skotschilenko und mehrere ehemalige Mitarbeiter Alexej Nawalnys. Dazu ließ Belarus den Deutschen Rico Krieger frei, der wegen vermeintlicher Sabotage zum Tode verurteilt und anschließend von Staatschef Alexander Lukaschenko begnadigt wurde. Im Gegenzug erhielt Moskau mehrere der Spionage verdächtigten Russen aus Norwegen und Slowenien. Und den »Tiergartenmörder« Wadim Krasikow, den Putin (wie die anderen auch) persönlich am Moskauer Flughafen Wnukowo in Empfang nahm und umarmte. Hinweise darauf, dass Russland Gefangene mit dem Westen austauschen will, gab es bereits seit Mitte Juli. Nach Angaben des US-Fernsehsenders CBS wurde der Deal ein halbes Jahr lang unter strenger Geheimhaltung vorbereitet. Mit dabei: das Weiße Haus, das US-Außenministerium und die CIA. Auch wenn Politiker und Geheimdienstler dichthielten, waren es im Nachhinein die Prozesse von Gershkovich, Kurmasheva und Krieger, die nahelegten, dass ein Austausch bevorsteht. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Ende Juni, Anfang Juli sollen sich die Seiten auf einen Austausch geeinigt haben, berichtet das Onlinemedium »Wjorstka« mit Verweis auf eine Quelle im Sicherheitsapparat, die mit den Details der Verhandlungen vertraut ist. Dass schließlich alles sehr schnell ging, lag am Personalwechsel in der Führung des FSB. Ende Juni wurde Sergej Beseda, der als Leiter der 5. Abteilung (Internationale Verbindungen) mit den Verhandlungen beauftragt war, in den Ruhestand versetzt. Unter seinem Nachfolger Alexej Komkow sollen die Gespräche »bedeutend schneller« abgelaufen sein. So konnte man sich schließlich innerhalb weniger Wochen einigen. Eine weitere Vermutung, warum der Deal plötzlich an Fahrt aufnahm, ist die US-Präsidentschaftswahl im November, deren Ausgang und damit auch die weiteren Beziehungen zu Moskau unklar ist. Ursprünglich sei es nur um Krasikow gegangen, für den Russland bereit war, mehrere Häftlinge einzutauschen. Die Verhandlungen sollen bereits seit zwei Jahren laufen. Erst später habe der Westen sich entschlossen, mehrere Personen zu übergeben. Mitte Juni hatte der Mitbegründer der »Nowaja Gaseta« und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow ein Video veröffentlicht, in dem er den Westen um die Hilfe beim Austausch von elf russischen politischen Gefangenen bat. Das Bürgerrechtsmedium »Activatica« berichtete zudem von einem Brief des ebenfalls inhaftierten Andrej Trofimow. Demnach sollen Muratow, der Sänger Jurij Schewtschuk und der Geistliche Alexei Uminskij in einem Rundschreiben alle politischen Gefangenen aufgefordert haben, um Begnadigung zu bitten und diese auch anzunehmen, wenn sie bewilligt wird. Am Dienstag unterzeichnete Putin schließlich sieben geheime Anordnungen. Schon da wurde gemutmaßt, dass es sich um Begnadigungen handeln könnte. Allerdings, so lässt es die Erzählung Skotschilenkos vermuten, könnte nicht allen Beteiligten klar gewesen sein, dass sie wirklich ausgetauscht werden, wie ihre Freundin gegenüber dem Petersburger Onlinemedium »Bumaga« berichtet. »Zunächst war alles in Ordnung, sie haben die Begnadigungspapiere und ihre Pässe erhalten. Dann aber erschienen Männer mit Sturmhauben, verbanden ihnen die Hände und brachten sie zum Flughafen. Sie haben nicht verstanden, ob das wirklich ein Austausch ist, oder ob sie zum Erschießen gebracht werden. Sascha hat dann gefragt, wohin man sie bringt und der FSBler hat gesagt, dass er ihr einen Sack über den Kopf zieht, wenn sie nicht schweigt.« Eigentlich könnten alle zufrieden sein mit dem Deal, so scheint es. Schließlich hat jede Seite die Personen bekommen, die sie wollte. Doch insbesondere die Ausweisung des »Tiergartenmörders« Krasikow sorgt weiter für Gesprächsstoff. »Niemand hat sich diese Entscheidung einfach gemacht«, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sprach von bitteren Eingeständnissen, die man habe machen müssen. Die Bundesanwaltschaft sei hingegen enttäuscht und »ernüchtert« über die Entscheidung gewesen, Krasikow auszutauschen. Vorwürfe gegen die deutschen Behörden erhebt auch die Witwe des von Krasikow ermordeten Tschetschenenkommandeurs Selimchan Changoschwili, Manana. Sie wirft der Bundesregierung vor, sie nicht über den Austausch informiert zu haben. »Niemand hat uns wegen des Austauschs gefragt. Was geschehen ist, zeigt, dass sich die deutsche Regierung nicht für die Meinung der Opfer interessiert«, sagte sie dem US-Staatsmedium »Kawkas.Realii«. Unerwartet führt der Austausch auch zu neuen Konflikten innerhalb der russischen Opposition. Insbesondere die Nawalny-Leute deklarierten den Deal als ihren Erfolg und posierten mit Jaschin für Fotos. Zu Unrecht, meint Maxim Katz. »Liebe Oppositionelle. Hört bitte auf, den Gefangenenaustausch so zu kommentieren, als wenn ihr (wir) irgendetwas mit seiner Organisation zu tun gehabt hätten«, schrieb Katz auf Telegram. Unzufrieden zeigt sich auch die belarussische Opposition. Der ehemalige Kulturminister des Landes und heutige Oppositionelle Pavel Latuschko hatte wenig Verständnis für die Bundesregierung, die sich um Krieger bemühte, belarussische Gefangene aber ignorierte. »Ohne die Freilassung belarussischer politischer Gefangener, die Freilassung des Nobelpreisträgers Ales Bjalajazkij, von Nikolai Statkewitsch, Maria Kolesnikowa und vielen anderen, kann so ein Austausch gegenüber der belarussischen Gesellschaft nicht als gerecht gelten«, erklärte Latuschko. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Wjasna gibt es in Belarus über 1300 politische Gefangene. | Daniel Säwert | Ein Deutscher, drei Amerikaner, Politiker und ein Mörder – der größte ost-westliche Gefangenenaustausch wurde lange vorbereitet und stellt dennoch nicht alle zufrieden. | Belarus, Russland, USA, Wladimir Putin | Politik & Ökonomie | Politik Russland | 2024-08-02T15:37:35+0200 | 2024-08-02T15:37:35+0200 | 2024-08-04T18:21:29+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1184222.der-spion-den-ich-tauschte.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
»Danke Antifa!« | Berlin. Wegen eines Antifa-Ansteckers am Revers hat sich die LINKEN-Abgeordnete Martina Renner im Bundestag einen Ordnungsruf eingehandelt. Die Innenpolitikerin trug das Symbol mit einer roten und einer schwarzen Fahne am Donnerstag bei ihrer Rede zu einem AfD-Antrag, in dem die Ächtung von Antifaschisten gefordert wurde. Renner wieß in ihrer Rede auf die Tradition der Gleichsetzung von Neonazismus und Antifa-Aktivismus hin. Die sei »verheerend, geschichtsvergessen und falsch«, so die LINKE-Politikerin. »Es gibt Werte, für die es sich einzustehen lohnt«, erklärte die Sprecherin für antifaschistische Politik. Deutschlands Demokraten hätten es verpasst, den Anfängen zu wehren und viel deutlicher Widerspruch zu Positionen zu organisieren, bei denen es »nichts zu diskutieren« gebe. Holocaustleugner und Holocaustforscher könne man nicht zu zwei »extremen Positionen« erklären »zwischen denen die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt«, erklärte Renner. Doch solche Positionen seien für sich als Wahrheit nicht stark genug, sondern müssten immer wieder aktiv verteidigt werden. Renner appellierte auch an die Parlamentarier anderer Parteien. Die sollten sich nicht in falscher Sicherheit wiegen, denn die Geschichte zeige, dass die extreme Rechte nach einem Sieg über die Linke keineswegs moderate Kritiker gewähren lasse, sondern anschließend auch diese angreifen würde. Statt sich spalten zu lassen, sollten alle Demokraten »denen den Rücken stärken, die sich dem rechten Vormarsch jeden Tag an vielen Orten im Land entgegenstellen und sagen: Danke Antifa!« Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), der die Sitzung leitete, erteilte ihr dafür einen Ordnungsruf und kündigte an, dass er sich »weitergehende Ordnungsmaßnahmen« vorbehalte. Als sich daraufhin Protest aus der Linksfraktion erhob, kassierte Parteichefin Katja Kipping wegen einer »Zwischenbemerkung« ebenfalls einen Ordnungsruf. Nach der Geschäftsordnung des Bundestags kann der amtierende Präsident einzelne Abgeordnete zur Ordnung rufen, »wenn sie die Ordnung oder die Würde des Bundestages verletzen«. Weitergehende Maßnahmen wären ein Ordnungsgeld in Höhe von 1000 Euro sowie ein Sitzungsausschluss. In den sozialen Medien solidarisierten sich anschließend viele Menschen mit der LINKEN-Politikerin oder kritisierten FDP-Politiker Kubicki. »Alles regelt der Markt - Mieten, Löhne, Renten, Klima, diesdas - nur die Antifa, die regelt der FDPler höchstpersönlich«, schrieb der Nutzer C_Holler auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Ein anderer postete ein Bild des Grundgesetzes und erklärte: »Ich bin Antifa und habe noch ein paar Exemplare dieses antifaschistischen Werkes. Jemand bedürftig?«. Andere Nutzer erklärten schlicht »Ich bin Antifa« oder wiesen daraufhin, dass Kubicki die zahlreichen Zwischenrufe während Renners Rede von AfD-Abgeordneten nicht mit Ordnungsrufen belegt habe. Mehrere LINKEN-Abgeordnete verbreiteten Fotos, auf denen sie im Plenum mit einem Sticker zu sehen sind, auf dem »Bundestag Nazifrei« steht. »Antifaschismus ist die einzige Möglichkeit entschieden gegen Faschismus einzutreten«, twitterte der Grünen-Europapolitiker Erik Marquardt. Ricarda Lang, Sprecherin der Grünen Jugend, erklärte, dass die Abwertung antifaschistischer Politik »auch Teil des gesellschaftlichen Rechtsrucks« sei. mwi/dpa | Redaktion nd-aktuell.de | Eine Verwarnung für einen Antifa-Stecker? FDP-Politiker Wolfgang Kubicki hat im Bundestag einen Ordnungsruf gegen die LINKE-Politikerin Martina Renner verhängt. Die dankte der Antifa in ihrer Rede und wird dafür im Internet gelobt. | Bundestag, FDP, LINKE, Wolfgang Kubicki | Politik & Ökonomie | Politik Martina Renner | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1126402.martina-renner-danke-antifa.html |
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Drei weitere Brücken gesperrt | Ab diesem Montag könnte die Kreuzung der Märkischen Allee mit der Wuhletalstraße zur weiteren Staufalle auf der B158 werden. Denn »durch Rissbildung und bauartbedingte Mängel ist die Standsicherheit der Wuhletalbrücke in Marzahn nicht mehr gewährleistet«, teilt die Senatsverkehrsverwaltung mit. Bis zur voraussichtlichen Fertigstellung des Ersatzneubaus im Jahr 2023 regeln Ampeln den über die Verbindungsrampen zur Wuhletalstraße geführten Autoverkehr. Etwas glimpflicher kommen die Nutzer der Schöneberger Monumentenbrücke davon. Dort müssen beschädigte Abdichtungen ausgetau... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Nicolas Šustr | Die Wuhletalbrücke in Marzahn, die Monumentenbrücke in Schöneberg und die Sellheimbrücke in Pankow gehören ab Montag zur immer länger werdenden Liste gesperrter Überführungen. | Berlin, Treptow-Köpenick | Hauptstadtregion | Berlin | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1119989.drei-weitere-bruecken-gesperrt.html |
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Sport frei in Verona | Auch wer von Shakespeares Drama wenig Ahnung hat, kennt Romeo und Julia. Ein junger Mann, eine junge Frau aus verfeindeten Familien: das Liebespaar schlechthin – und ein absehbar tragisches Ende erspart die Mühen des Alltags. So kann die Liebe absolut bleiben. 38 Romeo-und-Julia-Opern seit dem späten 18. Jahrhundert zählt die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Schmierer im Programmheft der Staatsoper; offenkundig lädt der Stoff zur Vertonung ein. Eine der meistgespielten Versionen, neben der sinfonischen Dichtung von Pjotr Tschaikowski und dem Ballett von Sergej Prokofjew, ist die Oper von Charles Gounod. Die Handlung ist geschickt auf die emotional wirksamsten Szenen konzentriert, und besonders die beiden Titelpartien sind dankbare Rollen. Damit Roméo und Juliette auf vier Liebesduette kommen, wird sogar das Ende umgeschrieben. Bei Shakespeare will Julia einer Zwangsheirat entgehen und nimmt einen Trank, der sie in einen Scheintod versetzt. Romeo hält sie für wirklich tot, bringt sich um; Julia erwacht, sieht die Leiche des Geliebten und erdolcht sich. In der Oper hingegen kommt Juliette noch rechtzeitig zu sich, um mit dem sterbenden Roméo ausführlich Abschied zu singen. Dies alles geschieht mit einer gewissen Dezenz. Bei Gounods wie in Wagners kurz zuvor entstandenem Musikdrama »Tristan und Isolde« steht ein Liebespaar im Mittelpunkt, das sich auf den Tod hinbewegt. Doch wo Wagner mit ganz neuen Mitteln eine zuvor auf der Opernbühne ungekannte Intensität erreichte, zielte Gounod auf das Einverständnis mit dem Publikum, das er auch sofort fand. Die Gefühle auch der Jugendlichen, die sich bis in den Tod gegen ihre Familien auflehnen, blieben doch domestiziert, jedenfalls stets all den Eltern vermittelbar, die die Zuschauerräume füllten. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Eine Entwicklung von formelhafter Musik am Anfang des Werks zum Subjektiven an seinem Ende ist nur angedeutet. Für Ohren, die sich an kühnere und raffiniertere Harmonien gewöhnt haben, klingt das nach einer durch Vernunft kontrollierten Entfesselung; aber Vernunft muss ja nicht das Schlechteste sein. Die Regisseurin Mariame Clément hat Ideen genug, aber taugen sie? Ohne Erkenntniswert ist die abgegriffene Stück-im-Stück-Konzeption, die den Prolog und einen Abschnitt kurz vor Ende bestimmt: Der Chor sitzt als Publikum auf der Bühne und spiegelt das reale Publikum. Interessanter scheint es zunächst, die Diskussion über Klassismus aufzugreifen. Tatsächlich weist Gounods Oper durch notwendige Kürzungen des Dramas ein gewisses Ungleichgewicht auf. Juliettes Familie, die Capulets, tritt tatsächlich als Familienverband auf, während Roméos Montaigus nur noch als ungebundene Gruppe von Männern erscheinen. Bei Clément wird daraus ein Konflikt zwischen oben und unten. Dies aber trägt nicht. Die Auseinandersetzung zwischen den Capulets und den Montaigus im dritten Akt, der zwei Tote fordert und den Konflikt verschärft, verlegt die Inszenierung in eine Basketballhalle. Der Verlauf ist sehr gut choreografiert und zeigt nicht jene Unbeholfenheit, die Kämpfe auf der Bühne manchmal peinlich wirken lässt. Unpassend ist nur, dass es die Nachkommenschaft der Besserverdienenden gar nicht nötig hat, sich mit irgendwelchen Prolls um die Hegemonie in einer Sportstätte zu balgen. Es genügt, von einem Cousin jene Telefonnummer zu erhalten, die es für den Job anzurufen gilt, und dann beim Gespräch so plaudern zu können, wie man es weiter unten allenfalls mit sehr viel Glück gelernt hat. Es betrübt aus linker Sicht immer, Regie-Ideen kritisieren zu müssen, die, aufgrund von progressiven Überlegungen, Richtiges auf einen für diese ungeeigneten Stoff anwenden. In dieser Inszenierung passt kaum ein Gedanke zum anderen, und am besten ist es noch, wenn Clément gar nichts einfällt. In solchen Passagen entsteht ein Freiraum, in dem sich die musikalische Charakterisierung der Figuren entfalten kann. Dafür bietet die Bühne von Julia Hansen einen mal mehr, oft weniger geeigneten Rahmen. Modern und kühl wirkt der öffentliche Bereich der Capulet-Villa, so wie auch die Fenster, die in den anliegenden Garten hineinragen. Man kennt das aus vielen Inszenierungen: Die Kälte der Mächtigen entspricht ihrem Einrichtungsgeschmack, der aufs Unbehauste zielt. Kümmerlicher dagegen ist die Schule, in der der bei Clément zum Religionslehrer degradierte Pater Laurent – Vertrauter Roméos wie Juliettes – unterrichtet. Von abgestandenem Männerschweiß jahrelang durchtränkte Sportstätten sind ohnehin ein fast ebenso unwirtlicher Ort wie die Leichenhalle der Schlussszene. Unklar bleibt, weshalb Juliettes Schlafzimmer, immerhin im aseptischen Heim der Capulets gelegen, aussieht wie das Hinterzimmer einer in die Jahre gekommenen Bahnhofskneipe. Leidenschaft lässt sich in solchen Räumen nur schwer vermitteln; und wenn Roméo und Juliette sich vor der einzigen gemeinsamen Nacht gegenseitig die Kleidung ausziehen, wirkt das ebenso ungelenk wie zuweilen in der Lebenspraxis. Immerhin müssen die beiden sich dabei noch aufs Singen konzentrieren. Elsa Dreisig ist eine stimmstarke Juliette, mit beinahe zu kraftvollen Spitzentönen. Damit aber gibt sie der Figur, was die Regie verweigert, die ein etwas lasch rebellierendes Gör herzeigt. Dreisig macht so trotz aller Widerstände glaubhaft, was diese Juliette antreibt, für die Liebe alles zu geben und bis in den Tod zu gehen. Das lässt sich weniger von dem Roméo sagen, den Amitai Pati mit etwas enger, gepresster Stimme singt. Überzeugender sind manche Nebenfiguren besetzt, vor allem mit Marina Prudenskaya als Juliettes Amme und Ema Nikolovska als Stéphano, die zur Bande der Montaigus gehört; letztere – so viel Aktualität muss sein – laut Clément eine »nichtbinäre Person«. Das Orchester unter Stefano Montanari begleitete zurückhaltend, mit luxuriös sanften Klängen vor allem der Streicher, und gab sich brav auch da, wo etwas mehr Zugriff angemessen gewesen wäre. Gounods späte Idee, nach Juliettes Scheintod eine Ballettepisode einzufügen, war vermutlich keine gute. Hätte er die Gymnastik vorhergeahnt, die nun auf der Staatsopernbühne stattfindet, er hätte die Sache gelassen. Nächste Vorstellungen: 20., 22. und 24. November
www.staatsoper-berlin.de | Kai Köhler | Unentschlossen und milde: Mariame Cléments Inszenierung von Charles Gounods »Roméo et Juliette« an der Berliner Staatsoper Unter den Linden hatte am Sonntag Premiere. | Musik, Theater | Feuilleton | Kultur Staatsoper Unter den Linden | 2024-11-12T13:21:26+0100 | 2024-11-12T13:21:26+0100 | 2024-11-12T17:30:43+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1186698.sport-frei-in-verona.html |
Einfach mal wachsen lassen | Das Spiel war längst entschieden, mit 5:1 führte der 1. FC Köln zur Halbzeit gegen Werder Bremen und mancher Zuschauer richtete sich bereits auf eine entspannte zweite Halbzeit ein. Schließlich spielen die Kölner schon am Dienstagabend beim FC Bayern München, der Gedanke, ein paar Kräfte für dieses Spiel zu sparen, lag auf der Hand. Aber solche Überlegungen sind tabu unter Trainer Steffen Baumgart, der bei eisiger Winterkälte ein typisches Baumgart-Zeichen setzte. Nach der Pause kam der Trainer ohne seinen schwarzen Hoodie im T-Shirt aus der Kabine und führte weitere 45 Minuten einen besonders wilden Trainertanz an der Seitenlinie auf. Er trieb seine Spieler immer weiter an, gönnte niemandem auch nur einen Moment des Nachlassens, und am Ende hatte der FC mit 7:1 gewonnen. Es war der höchste Bundesligasieg des Klubs seit 40 Jahren. »Heute kann man das kurz genießen«, sagte der Trainer später, »aber man darf das nicht überbewerten«, sein Team habe eben »das Quäntchen gehabt«, das für solche Spiele nötig sei. Das war reichlich untertrieben, denn die Kölner kommen ja aus einer Art Herbstkrise mit nur einem Punkt aus den fünf Bundesligapartien vor der WM-Pause. Jetzt steht der Fuß aber wieder auf dem Gaspedal. Es geht weiter, immer weiter, das ist ein Hauptmotiv der Baumgart-Jahre, die schon jetzt eine kleine Ära sind. Weil mittlerweile jedem klar ist, dass hier nicht einfach der nächste Trainer in der Reihe der Gisdols, Anfangs und Beierlorzers unterwegs ist, sondern ein Mann, der wirklich etwas bewegen kann. In der Hinrunde war das noch schwierig, weil aufgrund der Teilnahme an der Conference League ständig Wettkämpfe absolviert werden mussten, kaum Zeit für Übungen blieb und viel Kraft verloren ging. Nach dem Spektakel gegen Bremen sagte Baumgart: »Wir wussten, wenn die Jungs den Akku wieder voll haben, dann kommen wir wieder in die Spur. Der große Unterschied zur Hinrunde ist, dass wir im Winter einfach trainieren konnten.« Denn der FC sei eine »Entwicklungsmannschaft«, die vielen günstigen Spieler, die meist aus unteren Ligen kommen, brauchen viele Stunden auf dem Trainingsplatz. In der langen Pause hatten sie diese Zeit, und das war gut zu sehen am Samstagabend. Der junge Mittelfeldspieler Eric Martel, 20, spielte genauso hervorragend wie der Innenverteidiger Julian Chabot, 24. Steffen Tigges, 24, leitete das 1:0 mit einem gewonnenen Zweikampf und zwei klugen Pässen ein, schoss das 2:0, wurde später aber vor allen Dingen wegen seines Treffers aus 45 Metern zum 3:0 gefeiert. »Heute hat in allen Bereichen alles funktioniert«, sagte Tigges, der im vergangenen Sommer von Borussia Dortmund zum FC gekommen war. Der Flügelspieler Linton Maina, 23, spielte schon in der Hinserie stark, vergab aber noch zu viele Chancen. Vor Weihnachten habe ihm »der Torabschluss noch gefehlt, daran arbeiten wir jeden Tag«, sagte er. Offensichtlich mit Erfolg – gegen Bremen traf Maina zum 1:0. Auch Denis Huseinbašić, der von Kickers Offenbach kam, wird mehr und mehr zu einer tragenden Figur in dieser Mannschaft, weil Baumgart einfach die Fähigkeit hat, Spieler wachsen zu lassen. Und die emotionale Wucht, die sowohl er selbst als auch das Kölner Publikum entwickeln können, hilft sehr bei diesem Prozess. Am Ende dieses Abends herrschte eine rührselig-stolze Karnevalsstimmung in Müngersdorf und die Menschen sangen in Anspielung auf die bevorstehende Reise zum Tabellenführer: »Zieht den Bayern die Lederhosen aus.« Das Duell in München könnte ein interessantes Spiel werden, denn die Kölner Intensität kann jeder Mannschaft Probleme bereiten. »Wir werden auch versuchen, gegen die Bayern zu gewinnen«, kündigte Baumgart an, der faszinierend gut zu diesem Fußballverein passt. Zuletzt deutete er sogar an, dass er bereit sei, seinen 2024 endenden Vertrag zu verlängern, ohne mehr Geld zu verlangen. Kurz vor Karneval ist der Euphorielevel im Kölner Fußball damit wieder einmal nahe am Maximum, wobei Baumgart immer wieder daran erinnert, dass seine Mannschaft eigentlich mitten im Abstiegskampf steckt. Dass die Entwicklungsarbeit jedoch weiterhin so gut funktioniert und das neue Fußballjahr derart überzeugend begann, ist ein sehr beruhigendes Zeichen für alle Freunde des FC. | Daniel Theweleit, Köln | Kurz vor Karneval zeigt der 1. FC Köln eine Glanzleistung und will es jetzt auch mit Bayern München aufnehmen. Maßgeblich für den Erfolg verantwortlich ist FC-Trainer Steffen Baumgart, der dabei ist, eine Ära zu prägen. | 1. Fußballbundesliga, Bayern, Bremen, Fußball, Köln, Nordrhein-Westfalen | Sport | Sport Fußball-Bundesliga | 2023-01-22T16:55:34+0100 | 2023-01-22T16:55:34+0100 | 2023-01-30T12:27:18+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1170349.fussball-bundesliga-einfach-mal-wachsen-lassen.html |
Spaß am Spiel in der Natur | Norbert Dickel war sofort begeistert. Nicht nur der Enthusiasmus von Oskar Krzykowski beeindruckte die Vereinslegende und den aktuellen Stadionsprecher von Borussia Dortmund. Von Berlin aus hatte sich Krzykowski auf den rund 500 Kilometer langen Weg gemacht, um die von ihm 2005 erfundene Sportart Solf vorzustellen. Mit dabei: das portable, zweidrittelrunde Tor. Als er das patentierte Musterstück schließlich auf Dickels Schreibtisch stellte, sagte der: »Ja, das machen wir!«, erinnert sich Krzykowski. Dickel war genau der richtige Ansprechpartner - als ehemaliger Fußballprofi und Vorstandsmitglied von Gofus, den golfspielenden Fußballern. Denn Solf, eine Verbindung aus Soccer und Golf, ist die Symbiose dieser Sportarten. »Ich wollte das Beste aus beiden zusammenbringen«, erklärt Krzykowski seinen Ansatz. Fußball sei niedrigschwellig, jeder könne gegen einen Ball treten. »Golf ist ein offener, kommunikativer, aggressionsloser und durch die Handicap-Regelung gleichmachender Sport in meist sehr schönen Landschaften«, schwärmt der 55-Jährige. »Solf soll ein entschleunigtes Naturerlebnis mit Elementen des Fußballs sein.« Heute: Solf. 2005 kam Oskar Krzykowski die Idee, seine Lieblingssportarten Fußball und Golf zu vereinen. Er ließ sich Marke und Logo europaweit schützen. Mit Fußballgolf ist Solf nicht zu verwechseln - schon die Zusammensetzung aus Soccer und Golf macht das deutlich. Vor allem aber der Gedanke, dass es in jeder Art von Landschaft gespielt werden kann, und nicht auf standardisierten Plätzen.
Das Spiel: Das Regelheft umfasst 41 Seiten. Viel ist jedoch frei umsetzbar, so die Zahl der Spielerinnen und Spieler pro Team oder Anzahl, Länge und Verlauf der Spielbahnen. Ziel ist es, den Ball mit möglichst wenigen Versuchen per Fuß durch ein zweidrittelrundes Tor am Ende jeder Bahn zu schießen. Aktive: Solf können alle, die gegen einen Ball treten können. Seit 2007 gibt es organisierte Turniere, jedoch keinen regelmäßigen Spielbetrieb. Interessierte melden sich über die Internetseite www.solf.cc. Beim Thema Fußballgolf schüttelt Krzykowski sofort den Kopf. In den 80er Jahren wurde es zuerst in Schweden gespielt, mittlerweile gibt es auch in Deutschland jede Menge Anlagen. »Das ist etwas anderes«, sagt er entschlossen. Weil: »Dabei wird meist auf einem geraden, standardisiertem Feld gespielt, und der Ball muss am Ende einer Bahn in ein Loch geschossen werden.« Da sei mehr Glück als Können nötig. Beim Solf muss der Ball durch ein am Boden 52 Zentimeter breites Tor. »Es darf im Spiel um 360 Grad gedreht werden und entspricht somit wieder einem kreisrunden Loch wie beim Golfen«, erklärt Krzykowski. Das Solftor sei vom Magazin für Fußballkultur »11 Freunde« sogar schon einmal zum Artikel des Monats gekürt worden. Auf eine gute Schusstechnik kommt es beim Solf aber auch auf den einzelnen Bahnen an, deren Anzahl, Länge und Verlauf nicht vorgeschrieben sind. Grundsätzlich geht Solfen überall. Krzykowskis Idee: »Man kann sich eine für etwas anderes gedachte Landschaft erspielen.« In Parks funktioniert das beispielsweise sehr gut. Da aber das Gelände meist komplex sei, gehe es nicht ums Rumbolzen. »Eine gute Flugbahn des Balles zwischen zwei Bäumen hindurch erfordert mehr als nur einen strammen Schuss«, sagt Krzykowski. Disziplinieren sollen auch die Regeln, bei denen sich der Solf-Erfinder stark am Golf orientiert hat. Wenn dort beispielsweise der Ball im Wasser landet, bekommt man einen Strafschlag angerechnet. Im kleinformatigen, aber 41 Seiten langen Solf-Regelwerk steht unter anderem: »0,5 Strafpunkte - der Ball berührt einen Baum, Blattwerk oder Unterholz.« Einen ganzen Strafpunkt gibt es für das Anschießen von Denkmälern oder sensiblen Anpflanzungen. Wenn der Ball auf der Straße oder einem Fahrradweg landet, bekommt man zwei Strafpunkte. Gleiches gilt, wenn Menschen oder Tiere angeschossen werden. Wer sich an die Regeln hält, etwas Gefühl im Fuß hat und letztlich die wenigsten Versuche benötigt, kann am Ende jubeln. Der Kontakt zu Dickel und den Gofus ist nach dem verheißungsvollen Beginn im Jahr 2009 nicht abgerissen. Dass Solf trotz weiterer prominenter Fans wie Sepp Maier, Fredi Bobic oder Dieter Hoeneß nur langsam gedeiht, hat verschiedene Gründe. Zeit und Geld sind die entscheidenden. Krzykowski, der 1988 aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin gekommen ist, Jura und Politik studiert hat und eigentlich Umweltpolitiker werden wollte, arbeitet seit 13 Jahren in Vollzeit als Abteilungsleiter Fußball beim SV Pfefferwerk in Prenzlauer Berg. Mittlerweile sei er in Sachen Solf ein Einzelkämpfer. Anfängliche Mitstreiter der gemeinsam gegründeten Agentur »Die Fussball-Agenten« haben sich aus verschiedenen Gründen zurückgezogen - meist, weil Aufwand und Ertrag in keinem guten Verhältnis standen. Ebenso wenig förderlich war, dass einige, denen Krzykowski seine Idee präsentierte, sie sofort als Konkurrenz empfanden. »Vollkommen unnötig«, wie er meint. Denn: »Ich will damit nicht reich und berühmt werden.« So entspannt, wie er in der Mittagssonne in einem Café in Prenzlauer Berg davon erzählt, glaubt man ihm das sofort. Ein neuer Start nach der Premiere im Jahr 2007 und zumindest bis 2014 regelmäßig folgenden Berliner Turnieren im Treptower Park, im Tiergarten oder im Friedrichshain sowie einer Veranstaltung im Englischen Garten in München »muss aber irgendwie finanziert werden«, weiß Krzykowski. Der Verein Gofus spielt in seinen Plänen eine doppelte Rolle: Einerseits will Krzykowski die guten Kontakte nutzen, andererseits gefällt ihm die Intention der golfspielenden Fußballer. Ihre Turniere sind Charity-Veranstaltungen. Spielen, um anderen zu helfen - so stellt er sich künftig auch Solf vor. Neue Kontakte sucht er im Golf, vor allem in Irland und Schottland. »Dort ist Golf Volkssport und kein negativ besetztes Klischee. Und fußballverrückt sind sie dort auch«, erzählt er. Als hilfreichen Türöffner hat er die Kunst entdeckt - seine abstrakten Bilder von Golfplätzen aus der Vogelperspektive kämen ganz gut an. Dass Krzykowski seine lang geplante, dreimonatige Reise auf die Britischen Inseln coronabedingt verschieben musste, nimmt er mittlerweile gelassen. Frei nach dem Motto: Eine gute Idee will Weile haben. | Alexander Ludewig | Teil 4 der nd-Serie »Verdienter Meister des Sports«: Oskar Krzykowski hat Solf erfunden - aus seiner Leidenschaft für den Fußball und der Liebe zum Golf. Es ist als entspanntes und kommunikatives Naturerlebnis gedacht, bei dem jeder mitspielen kann. | Berlin, Fußball | Sport | Sport Solf | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1139876.solf-spass-am-spiel-in-der-natur.html |
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»Marzahn Pride« für mehr Sichtbarkeit queeren Lebens | Am Samstagmittag bahnen sich gerade die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Regenwolken, als sich die »Marzahn Pride« am S-Bahnhof Poelchaustraße in Bewegung setzt. Zum fünften Jubiläum der Straßenparade sind 450 Menschen gekommen. Unter dem Motto »Queer wie Freiheit« ziehen sie mit wehenden Regenbogenfahnen und gutgelaunt durch den Plattenbaukiez. Die anschließende Festveranstaltung auf dem Victor-Klemperer-Platz lockt über 1500 Personen an. Die »Marzahn Pride« ist ein etabliertes Zeichen queerer Selbstermächtigung im Ortsteil. Darüber hinaus macht die Parade auf die Situation von LGBTIQ*-Rechten weltweit aufmerksam, will so die Interessen von Menschen einbeziehen, die sich als homo-, trans- oder intersexuell begreifen. Etliche Teilnehmende sind kostümiert oder geschminkt und halten die Progressive-Pride-Flagge in die Luft. Anders als die klassische Regenbogenfahne soll sie die besondere Situation von nicht-weißen Queers und Queers mit Migrationshintergrund hervorheben. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Aufgerufen zur Pride hat Quarteera e.V., ein Verein für russischsprachige LGBTIQ*. »Quarteera kümmert sich seit 2022 verstärkt um Flüchtlinge, die aus der Ukraine kommen sowie russische LGBTIQ*, die wegen der Gesetze, die in Russland verabschiedet wurden, fliehen mussten«, sagt Dmitrij Paramonov von Quarteera dem »nd«. Nach der Ankunft in Deutschland sei es nicht leicht für LGBTIQ*. Die Zustände im Ankunftszentrum Tegel und in vielen Unterkünften für Geflüchtete in der Stadt seien ein Problem. Es gebe Menschen, die sich sagen: »Lieber übernachte ich auf dem Hauptbahnhof oder fahre zurück in die Ukraine und werde von einer Rakete umgebracht, als dass ich weiter in Tegel bleibe.« Neben den globalen Zielen versucht die Parade auch unmittelbar in den Kiez zu wirken. »Wir wissen, dass in Marzahn viel AfD gewählt wird«, sagt Paramonov. Dies sei ein Grund, die Veranstaltung gezielt im Plattenbaugebiet und nicht in der Innenstadt zu organisieren. Ob Pöbeleien oder queerfeindliche Schmierereien an der Aufzugstrecke, immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Anfeindungen gegen die Marzahner Pride. Paramonov erinnert sich, dass 2023 Eier von Balkonen geworfen und Teilnehmer*innen in einem Supermarkt queerfeindlich angegangen worden seien. Auch Mitglieder der Neonazipartei Dritter Weg hätten im letzten Jahr auf der Pride provozieren wollen. Sie seien aber von Antifaschist*innen erkannt und mit einem Transparent eingewickelt worden. Anfeindungen gegen LGBTIQ* nehmen an vielen Orten der Stadt zu. Deshalb seien lokale Unterstützungsstrukturen wichtig. »Es ist nicht schlimmer als anderswo in Berlin«, sagt Paramonov über Marzahn. »Es gibt auch viel Unterstützung vor Ort.« Auch 2024 winken viele Menschen der Parade zu. Sie ist ein Ereignis im Kiez. An Straßenbahnstationen beginnen wartende Fahrgäste spontan zur Musik zu tanzen. Erstmals gibt es keine Anfeindungen auf der Wegstrecke. Am Vorabend jedoch, klebten hunderte Sticker vom Dritten Weg entlang der Route. Noch vor Beginn der Parade waren die Aufkleber sowie rechte Graffitis und ein queerfeindliches Transparent von Antifaschist*innen von vor Ort entfernt worden. Nach dem Ende der Pride kam es laut Polizeiangaben zu einem gewaltsamen Übergriff: Teilnehmenden sei am S-Bahnhof Marzahn eine Flagge gewaltsam entwendet worden. Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sorgen diverse Initiativen für mehr Sichtbarkeit queeren Lebens. Sie alle seien wichtig, betont Alfonso Pantisano, der Queer-Beauftragte des Landes Berlin auf der Abschlusskundgebung: »Ihr seid wunderschön, wie ihr seid. Ihr seid großartig, wie ihr seid. Und ihr seid richtig, so wie ihr seid.« Die »Marzahn Pride« wird als politisches Zeichen im Kiez auch in den kommenden Jahren nicht an Relevanz verlieren. | Robin Maxime Pohl | Auf der »Marzahn-Pride« fordern Queers mehr Schutz von LGBTIQ*. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich neben den Lebensbedingungen im Bezirk auch auf die Situation von Geflüchteten weltweit. | Berlin, Marzahn-Hellersdorf, Russland | Hauptstadtregion | Berlin Berlin-Marzahn | 2024-06-16T16:38:19+0200 | 2024-06-16T16:38:19+0200 | 2024-06-17T17:24:00+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182993.berlin-marzahn-marzahn-pride-fuer-mehr-sichtbarkeit-queeren-lebens.html |
Berlinale: Filmmakers say what the rest of the world is saying | The Berlinale film festival ended on Saturday evening with a gala, but if you read the German press, it was actually a »scandal«. The speeches were »alarming«, »shameful«, and »frightening«, full of »Israel hatred« and »antisemitism«. What had happened? Yuval Abraham and Basel Adra, an Israeli and a Palestinian, won an award for their documentary film »No Other Land«. Abraham spoke for just 36 seconds:»In two days, we will go back to a land where we are not equal. I am living under a civilian law, and Basel is under military law. We live 30 minutes from one another, but I have voting rights, and Basel is not having voting rights. I am free to move where I want in this land. Basel is, like millions of Palestinians, locked in the occupied West Bank. This situation of apartheid between us, this inequality, it has to end.« His co-producer Adra took just 21 seconds: »I'm here celebrating the award, but also very hard for me to celebrate when there are tens of thousands of my people being slaughtered and massacred by Israel in Gaza. Masafer Yatta, my community, is being also razed by Israeli bulldozers. I ask one thing from Germany, as I am in Berlin here, to respect the UN calls and stop sending weapons to Israel.« These are sober statements of liberal democratic principles. Who would dare to contradict? Should systematic inequality based on ethnicity (known in international law as »apartheid«) continue? Should Germany keep ignoring UN resolutions? An Israeli and a Palestinian stood together against the militaristic logic of both Likud and Hamas. It's an inspiring message – yet I have not found a single German publication that has quoted them in full. Rather than engaging in debate, German politicians are demanding censorship. Olaf Scholz and his top cultural bureaucrat Claudia Roth each called the speeches »shockingly one-sided«. Justice minister Marco Buschmann called for »criminal consequences«. Even Anne Helm of the Left Party declared that »a line has been crossed«. Red Flag is a column on Berlin politics by Nathaniel Flakin. It appeared in Exberliner magazine from 2020 to 2023 and found a new home at the Berlin newspaper nd – as their first content in English. If you like a regular dose of very local communist content, please share. Nathaniel is also the author of the anticapitalist guide book Revolutionary Berlin.Diese Kolumne auf Deutsch lesen. Berlin's mayor Kai Wegner called this an »unacceptable relativization« and declared that »there is no space for antisemitism in Berlin, and that also applies to the art scene.« This is the same Wegner who just two weeks ago said the AfD will be included in future editions of the Berlinale. The politicians of the in some federal states officially far right party had been disinvited following protests, but the mayor is demanding »equal treatment« for them. In other words, for Wegner, literal far right politicians are OK, but critical Israelis are not welcome. Over the years, Berlinale has hosted some spectacular Israeli documentaries. Good films need to be critical of the reality they are trying to portray. If all criticism of Israel is rejected as antisemitic, then no one will dare to invite Israeli directors for fear they might say something negative about their government. What will be left at Berlinale? Just Tatort episodes and Netanyahu campaign ads? Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. German politicians are claiming this will cause »damage to the Berlinale«. The opposite is the case: their demands for extreme censorship are a mortal threat to Berlin's art scene. Do they even realize how far outside the global mainstream they are? In calling for a ceasefire, Saturday's prizewinners were saying what the whole world except for Germany is saying – even Joe Biden has been mumbling about it. Once again, we see how this virulent solidarity with Israel comes at the expense of Jewish life in Germany. What do we call this ferocious desire to silence Jews who don't comply with the German Staatsräson? Last week, the Israeli director Udi Aloni said: »It seems like there is a new form of antisemitism in Germany, that no one calls antisemitism: the censorship of progressive intellectual Jewish voices.« He admitted that he was afraid to quote Walter Benjamin or Franz Rosenzweig in this country »because I might get canceled«. It seems German politicians don't want us to hear these speeches. They cannot defend the reality – so they try to avoid discussions about it. We must hear Israelis and Palestinians when they stand together to call for equality and peace. | Nathaniel Flakin | At the Berlinale film festival, Israeli and Palestinian filmmakers called for equality and peace. German politicians want to ban such hateful talk. Nathaniel Flakin says that this represents a new form of antisemitism. | Antisemitismus, Berlin, Berlinale, Film, Israel, Juden, Nahost, Redflag | Meinung | Kommentare Antisemitism | 2024-02-27T16:40:38+0100 | 2024-02-27T16:40:38+0100 | 2024-02-27T16:45:21+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180340.antisemitism-berlinale-filmmakers-say-what-the-rest-of-the-world-is-saying.html |
Trumps Sanktions-Tänzchen | Wer mit dem Rücken zur Wand steht, ist bekanntlich besonders gefährlich. Das gilt umso mehr für einen Choleriker wie Donald Trump, der dummerweise über einige politische Macht verfügt. Da die Wiederwahl als US-Präsident stark gefährdet ist und sich sein Haupttrumpf, der gut laufende Arbeitsmarkt, durch Corona in Luft aufgelöst hat, teilt er wieder mehr gegen das Ausland aus. Verschärfte Sanktionsdrohungen wegen der Ostseepipeline Nord Stream 2, Aluminium-Strafzölle gegen Kanada und nun das Vorgehen gegen die chinesischen Internetkonzerne Tencent und Bytedance - die nationalistischen Muskelspiele sollen ganz offensichtlich der gesunkenen Popularität entgegenwirken. Dabei spielt es natürlich keine Rolle, dass das per Dekret beschlossene Verbot für US-Bürger, mit diesen Unternehmen Geschäfte zu machen, jeder Rechtsgrundlage entbehrt. Dass das Bytedance-Produkt Tiktok in den USA nicht gleich verboten wird, wo es doch aus Datensicherheitsgründen angeblich so brandgefährlich ist, zeigt, dass der Präsident strategisch vorgeht. Die App, auf der Nutzer kurze Tanzvideos von sich zeigen, ist nun mal auch in den USA unter Jugendlichen sowie zunehmend unter Älteren extrem populär. Ein sofortiges Verbot würde Trump wohl mehr schaden als nützen. Er will Druck erzeugen, damit Bytedance das internationale Geschäft von Tiktok an Microsoft verkauft, was er dann als Stärkung der US-Wirtschaft verkaufen kann, diesmal nach dem Motto: »Make America dance again.« Aber vielleicht sind es die US-Bürger ja leid, wenn Trump die Welt mal wieder zum Sanktions-Tänzchen bittet. | Kurt Stenger | Kurt Stenger über die Tiktok-Verbotsdrohung | Donald Trump, USA | Meinung | Kommentare Tik Tok | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1140198.tik-tok-trumps-sanktions-taenzchen.html |
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Olympiasiegerin Brunckhorst: »Das ist jetzt der Startschuss« | Die Goldmedaille hat sie natürlich dabei. Sicher aufbewahrt in einer weißen Socke holt Svenja Brunckhorst das Edelmetall aus ihrer kleinen Bauchtasche. »Es ist für uns immer noch ein bisschen surreal. Es gibt immer mal wieder Momente, in denen man es realisiert, aber was das mit sich bringt für die Zukunft, habe ich noch nicht ganz verstanden«, gibt die Olympiasiegerin im 3x3-Basketball beim Medientermin in der Geschäftsstelle von Alba Berlin zu. Konkret bringt die Zukunft für die 32-Jährige einen wohlverdienten Urlaub. Zeit, um die historische Überraschung der 3x3-Frauen bei den Spielen von Paris sacken zu lassen. Gut eine Woche ist es her, dass die 1,79 Meter große Aufbauspielerin mit ihren Teamkolleginnen Sonja Greinacher, Elisa Mevius und Marie Reichert auf dem Place de la Concorde die erste olympische Medaille überhaupt für den deutschen Basketball geholt hat. Der 17:16-Erfolg im Finale gegen Spanien war gleichzeitig auch das goldene Karriereende für Brunckhorst: »Das ist jetzt ein gutes Ende. Wie soll es noch besser werden?«, lacht die langjährige Kapitänin der deutschen Nationalmannschaft. Schon vor Olympia war klar, dass es ihr letztes Turnier als aktive Spielerin sein wird. Weil die nächste Aufgabe schon auf sie wartet. Nach dem Urlaub beginnt ihr neuer Job als Managerin der Mädchen- und Frauenteams von Alba Berlin. Ab September geht es für die Olympiasiegerin darum, die aktuelle Erfolgswelle der deutschen Basketballerinnen am Laufen zu halten. »Wir wollen nicht, dass das nur ein einmaliges Ding ist«, sagt Brunckhorst auch mit Blick auf das gute Abschneiden der deutschen 5x5-Frauen, die bei ihrer Olympiapremiere das Viertelfinale erreichten, wo sie an den Gastgeberinnen aus Frankreich scheiterten. »Ich glaube, dass das jetzt der Startschuss ist und jetzt muss man diese Chance nutzen«, fordert die neue Alba-Managerin, denn trotz der jüngsten Erfolge sieht sie weiter großen Handlungsbedarf im deutschen Frauenbasketball. Das fängt für die sechsmalige deutsche Meisterin dabei an, dass es nicht genug Hallen- und Trainingszeiten für Mädchenteams gibt. Außerdem müssten mehr Trainer*innen für den Frauenbereich ausgebildet werden. Und auch die schwachen Strukturen der Frauenbundesliga bleiben ein großes Problem: »Es ist natürlich auch die Liga, wo wir schon seit Jahren sagen, dass da was gemacht werden muss, dass die Infrastruktur besser ist, dass es professioneller ist, dass auch für Jugendspielerinnen die deutsche Liga wieder ein Ziel ist.« Aktuell spielen fast alle deutschen Topspielerinnen im Ausland. Auch junge Talente versuchen eher in die College-Liga in den USA zu kommen, als den Sprung in die Bundesliga zu schaffen – so wie 3x3-Goldmedaillengewinnerin Elisa Mevius. Die 20-Jährige spielt seit zwei Jahren am College, genauso wie die 5x5-Nationalspielerinnen Lina Sontag und Emily Bessoir. Für Brunckhorst ist das keine gute Entwicklung: »Wir haben jetzt bei der Nationalmannschaft sowohl beim 3x3 als auch beim 5x5 wenige Spielerinnen, die wirklich aus der Bundesliga kommen, und ich glaube, da muss jetzt einfach der Unterbau geschaffen werden.« Der Erfolg der deutschen Basketballerinnen steht noch auf wackeligen Beinen. Vor der EM-Teilnahme des 5x5-Frauenteams im vergangenen Jahr schafften es die Basketballerinnen zwölf Jahre nicht zu einer internationalen Endrunde. »Wir hatten eine ganz lange Durststrecke, die ich auch selber aktiv mitgemacht habe, die nicht so schön war«, blickt die 83-fache Nationalspielerin zurück. Jetzt will sie mithelfen, dem Frauenbasketball ein stabileres Fundament zu geben. Als neue Managerin bei den Berliner Albatrossen sieht sich Brunckhorst dafür genau an der richtigen Stelle: »Ich habe schon öfter gesagt, dass Alba das Projekt mit dem größten Potenzial für mich ist. Was mich auch extrem abgeholt hat, ist die Basisarbeit, die in Berlin gemacht wird.« Seit Jahren fördert der Hauptstadtklub den Basketball auch in der Breite, unter anderem mit dem Programm »Alba macht Schule«, bei dem Grundschulkinder direkt nach dem Unterricht Basketball spielen können, angeleitet von Alba-Trainer*innen. Wie genau ihre Aufgaben beim amtierenden Meisterinnenteam aussehen werden, wird Svenja Brunckhorst mit Alba erst im September festlegen. Zuerst steht der Urlaub an und eine wichtige Einrichtungsfrage für die neue Berliner Wohnung: Die Goldmedaille braucht noch einen besonderen Platz – damit sie raus kann aus ihrer Sicherheitssocke. | Lennart Garbes | Die 32-Jährige tritt nach dem historischen Erfolg bei Olympia in Paris ihren neuen Job als Managerin bei Alba Berlin an – und steht gleich vor der nächsten großen Aufgabe. | Basketball, Berlin, IOC | Sport | Sport Basketball | 2024-08-13T17:29:16+0200 | 2024-08-13T17:29:16+0200 | 2024-08-16T12:15:27+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1184476.olympiasiegerin-brunckhorst-das-ist-jetzt-der-startschuss.html |
Zwei Prozesse gegen Nazis an einem Tag eingestellt | Weimar/Koblenz. Zwei Jahre nach dem Neonazi-Überfall auf eine DGB-Maikundgebung in Weimar ist das Verfahren gegen fünf junge Männer eingestellt worden. Die Angeklagten im Alter von jetzt 20 bis 22 Jahren aus Sachsen und Hessen müssen Geldauflagen in Höhe von 350 bis 650 Euro an das Kinderhospiz im thüringischen Tambach-Dietharz zahlen. Außerdem verfügte der Richter am Weimarer Amtsgericht am Dienstag die Zahlung von jeweils 100 Euro an den Nebenkläger, der durch Faustschläge verletzt worden war. Am 1. Mai 2015 hatten etwa 40 gewalttätige Rechte, überwiegend aus Sachsen und Brandenburg, die Mai-Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Weimar gestürmt und mehrere Menschen attackiert. Drei Menschen wurden dabei leicht verletzt. 17 Angeklagte, 34 Verteidiger, fast 1.000 Seiten Anklage, 337 Verhandlungstage und am Schluss ein Paukenschlag: Einer der umfangreichsten Neonazi-Prozesse Deutschlands ist geplatzt. Im Windschatten des später begonnenen Münchener Verfahrens um die NSU-Morde hat sich vor dem Landgericht Koblenz eine Hauptverhandlung mit weniger gravierenden Vorwürfen fünf Jahre lang hingeschleppt. Schuld am Prozessabbruch ist ein Ruhestand. Gerichtssprecherin Tanja Becher teilt am Dienstag mit, die Hauptverhandlung werde ausgesetzt, weil der Vorsitzende Richter Hans-Georg Göttgen mit Erreichen der Altersgrenze Ende Juni laut Gesetz aus dem Dienst scheiden müsse. Bis dahin sei aber ein Prozessende auszuschließen. Der ursprüngliche Ergänzungsrichter musste schon vor Längerem für einen anderen Pensionsfall der Staatsschutzkammer einspringen. Ob das Verfahren in irgendeiner Form weitergeführt wird, ist derzeit unklar. Prozessauftakt war im Sommer 2012. Die Vorwürfe der Anklage reichen von Gewalt gegen Linke etwa in Dresden über einen unangemeldeten Aufmarsch mit Fackeln in Düsseldorf und aufgesprühte Hakenkreuze bis hin zu versuchten Brandanschlägen auf Autos. Die »kriminelle Vereinigung« mutmaßlicher Neonazis des »Aktionsbüros Mittelrhein« sei in Bad Neuenahr-Ahrweiler in ihrem sogenannten Braunen Haus zusammengekommen. dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | In Weimar kommen die meisten Täter mit kleinen Geldbußen davon, in Koblenz platzt der Prozess, weil der Richter bald in den Ruhestand geht. Gleich zweimal kommen an diesem 2. Mai Neonazis vor Gericht glimpflich davon. | Gerichtsurteil, Gerichtsverfahren, Nazi-Gewalt, Rechtsextremismus | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1049705.zwei-prozesse-gegen-nazis-an-einem-tag-eingestellt.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Platz für 12.000 Menschen | Die 25 vom Senat geplanten neuen Standorte für Flüchtlingsunterkünfte in Schnellbauweise stehen fest. Auf der Liste stehen 20 Standorte, die bereits auf einer ersten veröffentlichten Liste vom Februar standen. Fünf Orte sind neu hinzugekommen. Das sind zwei in Charlottenburg-Wilmersdorf, der Bezirk hatte bis zum Stichtag im Februar noch keine Vorschläge eingereicht. Neu sind außerdem drei weitere Standorte in Marzahn-Hellersdorf, Pankow und Tempelhof-Schöneberg, die jeweils von den Bezirken neu vorgeschlagen worden waren. »Mit der zweiten Tranche tragen wir zur Gleichverteilung von Flüchtlingsunterkünften in der Stadt bei«, sagte Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) bei der Vorstellung der neuen Modularen Unterkünfte (MUF) am Dienstag. 12.000 Menschen sollen ihn ihnen untergebracht werden können. Mit dem Bau soll Ende 2018 sukzessive begonnen werden. Senatsbaudirektorin Regula Lüscher (parteilos, für LINKE) geht davon aus, dass pro Monat etwa ein Bauprojekt starten wird. Einziehen sollen in die neuen Unterkünfte zunächst die rund 1500 Geflüchteten, die noch immer in Berliner Notunterkünften leben. Auch die rund 2500 Menschen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen sollen in den MUFs einen besseren Lebensstandard erhalten. Darüber hinaus gehen die Senatsverwaltungen für Integration und für Finanzen davon aus, dass bis 2021 etwa 19 000 Geflüchtete neu nach Berlin kommen werden und untergebracht werden müssen. Die neuen Standorte decken zunächst nur einen Bedarf von 12.000 Plätzen ab. Deshalb kann auch noch eine dritte MUF-Tranche folgen. »Erst einmal bleibt es aber bei diesen Standorten«, sagte Kollatz-Ahnen. Diese aber würden auf jeden Fall gebraucht. Pro MUF rechnet der Finanzsenator mit Kosten von rund 16 Millionen Euro. Die Unterkünfte sollen so gebaut werden, dass sie eine Nutzungsdauer von 40 bis 45 Jahren haben und später beispielsweise auch als Studentenwohnheime genutzt werden können. Seit vergangenen Juni verhandelt der Senat mit den Bezirken über den Bau neuer Flüchtlingsheime. Insgesamt wurden 82 Standorte geprüft. Nach dem Vorlegen einer ersten öffentlichen Vorschlagsliste hatten sich die Bezirke bereits im Februar über mangelnde Kommunikation und Einbindung beschwert. Auch jetzt gibt es wieder Unmut. Zum einen sollen die Bezirke erst am Montagnachmittag, teils erst abends über den letzten Stand informiert worden sein. Zum anderen stehen noch immer einige strittige Standorte auf der am Dienstag beschlossenen Senatsliste. So sagte der Lichtenberger Bezirksbürgermeister Michael Grunst (LINKE) dem »nd«: »Unsere Bedenken wurden einfach so zur Seite gewischt.« In Karlshorst, wo beide Lichtenberger MUFs entstehen sollen, werden dringend Kita- und Schulplätze sowie Jugendfreizeiteinrichtungen benötigt, so Grunst. Am 20. März habe das Bezirksamt den Beschluss gefasst, diese an der Rheinpfalzallee zu verwirklichen. Lichtenberg hatte statt dieser die Zobtener Straße als MUF-Standort vorgeschlagen. Dort soll aber bereits eine solche Unterkunft aus der ersten Tranche entstehen. Für ein zweites MUF sei da kein Platz, sagte Integrationssenatorin Elke Breitenbach (LINKE) am Dienstag. Sie bestätigte einen »Dissenz« zwischen Bezirk und Senat bezüglich der Rheinpfalzallee. »Wenn es aber keinen anderen Standort gibt, dann nehmen wir diesen«, sagte sie. Andere Vorschläge seien aus dem Bezirk nicht gekommen. »Wir können das Thema Flüchtlingsunterbringung nicht auf den Sanktnimmerleinstag verschieben«, unterstützte sie Kollatz-Ahnen. Bisher ist auch noch unklar, ob die Rheinpfalzallee überhaupt bebaut werden kann. Das Gelände gehört - wie weitere fünf Standorte auf der Liste - dem Bund. Mit dem seien bereits Gespräche geführt worden, sagte der Finanzsenator. Er sei daher zuversichtlich, dass das Land die Grundstücke kaufen könne. Auch in Friedrichshain-Kreuzberg ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hier sind die Standorte Alte Jakobstraße und Ratiborstraße vorgesehen. In letzterer fürchten Kleingewerbetreibende, verdrängt zu werden (»nd« berichtete). Sie präferieren einen Vorschlag des Bezirks, nicht zwei große Gebäude mit 500 Plätzen zu bauen, sondern sieben kleinere, einer davon in der Ratiborstraße. | Johanna Treblin | Jeder Bezirk soll zwei neue Unterkünfte für die Unterbringungen von Geflüchteten erhalten, Neukölln sogar drei. Nach einen Dreivierteljahr Verhandlungen sind noch immer nicht alle zufrieden. | Asylpolitik, Berlin, Flüchtlinge, Geflüchtetenunterkunft | Hauptstadtregion | Berlin Flüchtlingsunterkünfte | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083743.platz-fuer-menschen.html |
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Tesla und IG Metall im Kampf um Vorherrschaft in der Autofabrik | Wenn sich im Kampfsport zwei Kontrahent*innen eng im Klammergriff halten, so spricht man vom Clinch. Im Boxsport ist die Umklammerung regelwidrig. Gleichwohl ist das Bild von eng umschlungenen Kämpfer*innen auch im Boxen ein gewohntes. Um der Schlagdistanz zu entkommen und einige Sekunden zu verschnaufen, treten die Boxer*innen die Flucht nach vorne an. Aus dieser Position heraus kann sich der Kampf jedoch nicht weiterentwickeln, weshalb der*die Ringrichter*in die Kontrahent*innen voneinander trennt und Wiederholungsfälle im Zweifel mit Punktabzug ahndet. Auf einem ganz anderen Feld scheint der Kampf ebenfalls festzustecken: Im brandenburgischen Grünheide, wo das Tesla-Management und die IG Metall um die Gunst der Belegschaft ringen, geht es für keine der beiden Seiten voran. Das ist, zumindest wenn man sich die Mehrheitsverhältnisse im Betriebsrat anschaut, gut für Tesla. Hier dominiert die managementnahe Fraktion. Die Gewerkschaft IG Metall stellt 16 der 39 Sitze. Ein Ergebnis, das Bezirksleiter Dirk Schulze zuletzt als »guten Erfolg«, aber auch als »nicht zufriedenstellend« beurteilte. Zumal die Minderheit der IG Metall im ersten Betriebsrat damit erklärt wurde, dass bei der Wahl im Jahr 2022 im Vergleich zu den Führungskräften nur wenige Produktionsarbeiter*innen in der Gigafactory angestellt waren. Das war 2024 anders. Doch erneut entschied sich nur eine Minderheit der nun knapp 13 000 Beschäftigten für eine Stimme für die Liste IG Metall – Workers GFBB. Die IG Metall hat bisher wenig Greifbares für die Mitarbeiter*innen erreichen können. Allerdings braucht es hierfür auch Mehrheiten. Ob Lohnerhöhungen, wie die Gewerkschaft behauptet, auf ihre Präsenz im Werk zurückzuführen sind, lässt sich nicht nachweisen. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Nach der Betriebsratswahl im Frühjahr 2024 hatte sich Werksleiter André Thierig bei der Belegschaft bedankt, dass sie sich »mehrheitlich gegen einen gewerkschaftlichen Betriebsrat« und »für eine unabhängige Zukunft der Gigafactory Berlin-Brandenburg« ausgesprochen habe. Immer wieder fiel auch die Betriebsratsvorsitzende Michaela Schmitz durch ihre ablehnende Haltung gegenüber der IG Metall auf. Bereits vor ihrer Wiederwahl hatte Schmitz laut »Handelsblatt«, das sich auf Mitschnitte von Belegschaftsversammlungen beruft, erklärt: »Was wir nicht brauchen, ist eine Gewerkschaft, eine Gewerkschaft, die versucht, uns auszubremsen, die versucht, uns eine Schablone drüberzulegen, nur damit wir allen anderen Autobauern gleicher werden.« Im Juli 2024 habe Schmitz diese Ansicht bestätigt. »Ich versuche mal, es charmant auszudrücken«, sagte Schmitz. »Wir haben hier leider Mitglieder im Betriebsrat, die sich eher instrumentalisieren lassen von der Gewerkschaft von außen.« Diese würden versuchen, »die Interessen der Gewerkschaft durchzusetzen«, und so »geile Ergebnisse für euch« verhindern. Das Agieren von Schmitz ist mittlerweile Verhandlungsgegenstand vor dem Arbeitsgericht in Frankfurt (Oder). Die IG Metall selbst hat nach dem Richter gerufen. Sie will feststellen lassen, ob sich das Verhalten der Betriebsratsvorsitzenden im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes bewegt. Am Ende könnte Schmitz aus dem Betriebsrat ausgeschlossen werden, sofern sich eine grobe Verletzung der gesetzlichen Pflichten herausstellt. An den Mehrheitsverhältnissen in dem Gremium würde das nichts ändern, für Schmitz würde ein*e weitere*r Kandidat*in ihrer Liste nachrücken. Der Versuch beim ersten Verhandlungstermin am Dienstag, eine gütliche Einigung zwischen IG Metall und Schmitz zu erreichen, scheiterte wenig überraschend. Die IG Metall hatte einen umfassenden Katalog an Vorwürfen vorgelegt, zu denen Schmitz und ihre Verteidigung bisher noch nicht im Detail Stellung genommen haben. Wie ein Sprecher der IG Metall »nd« mitteilte, sollen Newsletter, die Kritik an der IG Metall enthielten, ohne Abstimmung mit den IG-Metall-Mitgliedern des Betriebsrats verschickt worden sein. Weiterhin, erklärte der Sprecher, werte man als Gesetzesverstoß, dass Besprechungspunkte der Mitglieder nicht auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Der Hauptvorwurf, so kristallisierte es sich auch beim ersten Termin heraus, bezieht sich auf den mutmaßlich unrechtmäßigen Ausschluss eines Gewerkschaftsvertreters von einer Betriebsratssitzung. »Es soll hier eine Vielzahl von Pflichten verletzt worden sein, die wir allesamt entkräften können«, sagt Schmitz’ Anwalt Peter Krebühl am Dienstag. Der Termin wird auch von einigen Tesla-Vertretern verfolgt, darunter Werksleiter Thierig. Anwalt Krebühl gibt sich gelassen: »Von diesen Vorwürfen bleibt am Ende keiner übrig, der den Ausschluss rechtfertigen würde.« Er wertet das Verfahren als Wahlkampfmaßnahme der Gewerkschaft. Im Frühjahr 2026 wird gemäß dem gesetzlich vorgeschriebenen Turnus der Betriebsrat erneut gewählt. Die IG Metall wolle offenbar die Betriebsratschefin diskreditieren und eine Angriffsfläche suchen, führt Krebühl aus. Überhaupt sei der Frieden im Betriebsrat durch das Agieren der IG Metall verletzt. Die Mehrheitsfraktion, zu der auch »Mitglieder und ehemalige Mitglieder der IG Metall« zählten, seien gegen einen Ausschluss der Betriebsratsvorsitzenden. Der Anwalt bittet die IG Metall, den Antrag zurückzunehmen. Am Ende legt die Richterin Schmitz und ihrem Anwalt nahe, innerhalb von sechs Wochen substanziell und gegebenenfalls beweisfest zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, insbesondere dazu, »welche Art und Weise des Vortrages der Meinungsäußerung« des Gewerkschaftssekretärs den Gebrauch des Hausrechts notwendig machte. Er soll von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes abgeführt worden sein. »Das Gericht muss einschreiten und klarstellen, dass nicht das Recht des Stärkeren, des Reicheren gilt.« Schmitz’ Anwalt Krebühl behauptet zunächst, der Gewerkschaftssekretär habe seine Befugnisse als beratender Teilnehmer überschritten, indem er »stark politisch agitiert« habe. Der »Einfluss auf das Abstimmungsverhalten und die Meinungsbildung war für die Mehrheit nicht hinnehmbar«, sagt der Anwalt. Ob es denn nicht zur beratenden Tätigkeit des Sekretärs dazugehöre, mitzuteilen, »was er wovon hält und wie er es sieht«, wollte die Richterin von Krebühl wissen. Die Gegenseite habe umfassend vorgetragen, man müsse sich das im Detail anschauen, erwidert Krebühl. Es gehe um dauerhaftes wiederholtes Stören, er habe Diskussionen unterbunden. Anders als bei anderen Sitzungen mit Gewerkschaftsbeteiligung sei eine Rückkehr zum Sitzungsablauf nicht mehr möglich gewesen. Die Richterin befragt auch Schmitz selbst: »Wie hat er gestört?« Schmitz erklärt, dass der Sekretär als Teil des Betriebsrates aufgetreten sei. »Wir sind der Betriebsrat«, habe er gesagt. Sie habe ihn dann korrigiert und auf seine beratende Rolle verwiesen. Auch Schmitz sagt, der Fall sei zu umfangreich, um am Dienstag die Details auszuarbeiten. Sie stehe zu ihrem damaligen Verhalten noch heute. Benedikt Rüdersheim, der die IG Metall vertritt, verweist auf eine E-Mail der Betriebsratschefin an den Gewerkschaftssekretär. In der habe sie die Gesetzesüberschreitung mit den mehrmaligen wertenden Kommentaren begründet. »Eine Störung ist etwas Subjektives, und hier wurde die Störung offenbar durch eine Meinung wahrgenommen«, sagt Rüdersheim. Sein Anwaltskollege Damiano Valgolio holt noch weiter aus: »Offensichtlich kann die Gegenseite nicht benennen, welches Verhalten konkret den Gesetzesverstoß darstellen soll.« So liege nahe, dass der demokratische Prozess als solcher als störend empfunden und »mit administrativen, rechtswidrigen Mitteln unterbunden wird«. An diesem Punkt müsse das Gericht einschreiten und klarstellen, dass nicht das Recht des Stärkeren, des Reicheren, gilt. Auch die Vorsitzende Richterin wird am Ende noch mal grundsätzlich. Die Betriebsratsvorsitzende habe die Aufgabe, eine Fraktionenbildung zu verhindern. Sie habe jedoch den Eindruck, Schmitz habe sie stattdessen befeuert. Schmitz’ Anwalt Krebühl weist dagegen auf ihr integratives Wirken im ersten Betriebsrat hin. Zudem wundert er sich über die »Sitzungsführung«. Es sei es nicht üblich, dass die Richterin von den Parteien während eines Gütetermins detaillierte Stellungnahmen einfordere und so deutliche Einschätzungen vornehme. Die IG Metall erklärte »nd«, dass es ihr um einen arbeitsfähigen Betriebsrat so bald wie möglich gehe und nicht um Wahlkampf. Einen nächsten Gerichtstermin könnte es »wahrscheinlich im Sommer oder Herbst« geben, stellte die Richterin in Aussicht. Eine weitere Verhandlung eines ehemaligen IG-Metall-Betriebsrats gegen Tesla, die für Donnerstag angesetzt war, wurde verschoben. Hier wehrt sich der ehemalige Mitarbeiter gegen seine Kündigung. Tesla nennt als Kündigungsgrund die Androhung von Tätlichkeiten gegen Beschäftigte und Betriebsratsmitglieder. Das sagte Gerichtsdirektor Martin Guth dem »nd«. Es ist nicht der erste Fall, in dem Tesla Betriebsräte der IG Metall vor die Tür gesetzt hat. | Christian Lelek | An Elon Musks Gigafactory in Grünheide beißt sich die IG Metall noch immer die Zähne aus. Nun soll das Arbeitsgericht die Betriebsratsvorsitzende absägen. Zunächst gab es dort nur Einblicke in das Streitgeschehen. | Betriebsrat, IG Metall | Hauptstadtregion | Berlin Grünheide | 2025-02-14T17:47:29+0100 | 2025-02-14T17:47:29+0100 | 2025-02-20T12:57:19+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1189068.tesla-und-ig-metall-im-kampf-um-vorherrschaft-in-der-autofabrik.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Der Bock als Pförtner | Wer sich auch nur oberflächlich mit der NPD in Sachsen beschäftigt, der kennt Hartmut Krien. Der Dresdner Politiker saß von 2004 bis 2018 für die rechtsextreme Partei im Stadtrat der Landeshauptstadt. In den zehn Jahren nach 2004, in denen die NPD mit bis zu zwölf Abgeordneten im Landtag des Freistaats vertreten war, gehörte er zu den Mitarbeitern der Fraktion. Jenseits des Parlaments meldete Krien ausländerfeindliche Kundgebungen unter dem Slogan »Nein zum Heim« an und war nicht zuletzt Vorsitzender der Kommunalpolitischen Vereinigung (KPV) der NPD, deren Mission es war, dass die Nazipartei »über die Stadtparlamente und Kreistage in die Landtage und in den Bundestag« gelangt. Dort habe er eine »dominante Schlüsselrolle« gespielt, hieß es 2011 im »Antifaschistischen Infoblatt«. Das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) sollte sich eigentlich mit der NPD zumindest im Freistaat auskennen. Die Behörde gilt als »Frühwarnsystem der Demokratie« und soll ein besonderes Augenmerk auf den Rechtsextremismus legen, der »nicht nur in quantitativer Hinsicht die größte Herausforderung« darstelle, wie Sachsens neuer Innenminister Armin Schuster (CDU) erst am Dienstag bei der Vorstellung des Jahresberichtes 2021 betonte. Zweifel daran, wie gut das Amt für diesen Teil seiner Arbeit gewappnet ist, bestärkt ein Vorfall, der jetzt bekannt wurde. Demnach saß Krien rund zwei Monate lang an der Pforte des Gebäudekomplexes im Dresdner Norden, in dem neben dem Geheimdienst auch das Landeskriminalamt (LKA) untergebracht ist. Der NPD-Mann war bei einem privaten Sicherheitsdienst beschäftigt, der mit Wachdiensten in der Liegenschaft betraut worden war. Eine formale Überprüfung durch den Verfassungsschutz war in Kriens Fall nicht vorgesehen, weil es sich um eine externe Firma handelte. Erkannt worden sei er erst nach geraumer Zeit von Besuchern. Danach sei die Firma vom LKA aufgefordert worden, ihn nicht mehr an der Stelle einzusetzen. Der Innenminister will nach Angaben des MDR jetzt Vorsorge treffen, damit ähnliche Vorfälle künftig nicht mehr möglich sind. Betont wurde aber, es habe keine rechtlichen Versäumnisse gegeben. Die Posse sorgte für Kopfschütteln und spöttische Kommentare. In sozialen Netzwerken ist die Rede davon, man habe den »Bock zum Pförtner« gemacht. Kerstin Köditz, Abgeordnete der Linken im sächsischen Landtag, fragte sarkastisch, woher die Behörde auch einen Mann kennen solle, der 15 Jahre für die NPD im Stadtrat gesessen habe: »Schließlich muss man sich um den Linksextremismus kümmern.« Ihre Thüringer Kollegin Katharina König-Preuss merkte an, täglich seien Verfassungsschützer an Krien vorbeigelaufen, die »dafür bezahlt werden, Nazis zu erkennen«. Sie nannte es eine »Doppeldeutigkeit«, dass »Nazis beim VS die Türen öffnen«. Das Innenministerium betonte gegenüber dem MDR, Krien habe bei seiner Tätigkeit keinen Zugriff auf fachliche Datenbanken gehabt, sondern lediglich auf Telefonverzeichnisse. Kritiker merken an, dass etwa Opfer rechtsextremer Übergriffe die Pforte passieren. Pikant ist zudem, dass eine mögliche Überwachung durch den Verfassungsschutz stets ein brisantes Thema innerhalb der NPD war. Das »Antifaschistische Infoblatt« berichtete 2011, Krien habe im Jahr zuvor von allen Mitgliedern des KPV-Bundesvorstandes eine notariell beurkundete »Persönliche Erklärung zur Verschwiegenheit« verlangt. Sie sah eine Strafe von 15 000 Euro vor, falls vertrauliche Informationen aus der NPD weitergegeben würden – an Medien, politische Gegner oder die Sicherheitsbehörden. | Hendrik Lasch | Beim sächsischen Landesamt für Verfassungsschutz, das nicht zuletzt für die Beobachtung der rechtsextremen Szene zuständig ist, konnte ein NPD-Mann wochenlang an der Pforte sitzen, ohne erkannt zu werden. | NPD, Sachsen | Politik & Ökonomie | Politik Rechtsextremismus | 2022-06-01T15:56:48+0200 | 2022-06-01T15:56:48+0200 | 2023-01-20T18:21:06+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1133524.graue-boxen-gelbes-gras.html |
Überwachungslabor Südkreuz | Die Bundespolizei testet am Fernbahnhof Südkreuz den Einsatz von Technik zur Erkennung und dem Einschreiten bei auffälligem Verhalten. Hierfür werden Gefahrensituationen definiert, die dann mithilfe »intelligenter Videoanalysesysteme« automatisiert aufgespürt werden sollen. Auf eine schriftliche Nachfrage des Parlamentarischen Geschäftsführers der Linksfraktion im Bundestag, Alexander Ulrich, macht das Bundesministerium des Innern erstmals ausführlichere Angaben zu den sechs Szenarien, die dabei erkannt werden sollen. So soll die Technik Koffer, die längere Zeit unbeaufsichtigt herumstehen, als »verdächtige Gegenstände« einstufen. Auch Personen, die sich auffällig verhalten oder gesperrte Bahnhofsbereiche betreten, sollen gemeldet werden. Die Software soll außerdem Personen auf dem Bahnsteig zählen und erkennen, wenn eine »Menschenmasse« schnell auseinander läuft. Schließlich sollen die Kamerabediener auch über die Möglichkei... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Matthias Monroy | Die Tests zur automatisierten Überwachung am Südkreuz gehen weiter - künftig könnte der gesamte Bahnhof erfasst werden. | Bahnverkehr, Digitalisierung, Überwachung | Hauptstadtregion | Berlin Intelligente Kameras | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1095800.ueberwachungslabor-suedkreuz.html |
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Telekom will mit Sprint fusionieren | Düsseldorf. Die Deutsche Telekom arbeitet offenbar an einem radikalen Strategiewechsel für den US-Markt und das Tochterunternehmen T-Mobile US. Wie das »Handelsblatt« berichtete, will das DAX-Unternehmen seine US-Tochter nicht mehr verkaufen. Stattdessen bevorzuge die Telekom eine Fusion mit dem Wettbewerber Sprint, der US-Mobilfunktochter des japanischen Telekommunikationsriesen Softbank. Der Zusammenschluss war vor drei Jahren an US-Behörden gescheitert. Die Führung des neuen Konzerns solle bei der Telekom liegen. Ein offizieller Beschluss des Aufsichtsrats liege noch nicht vor. Die Telekom wollte sich nicht äußern. AFP/nd | Redaktion nd-aktuell.de | USA | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1054892.telekom-will-mit-sprint-fusionieren.html |
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Äthiopien bleibt in Zenawi-Hand | Zweifellos ist Äthiopien ein regionales Schwergewicht. Die Hauptstadt Addis Abeba ist offizieller Sitz der Afrikanischen Union. Nur wenige Staaten haben ein ähnlich hohes Wirtschaftswachstum vorzuweisen. Auch die Bevölkerungszahl von 83 Millionen, um 2,5 Prozent pro Jahr wachsend, macht die Äthiopier zu einer der größten Nationen Afrikas. Doch diese Beschreibung ist nicht ganz zutreffend, denn Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat mit rund 80 Ethnien, die teilweise heftig miteinander im Clinch liegen. Die Tigray, lediglich neun Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachend, haben fast alle Schlüsselpositionen inne – auch Premier Meles Zenawi gehört zu ihnen. Demgegenüber kämpfen vor allem die Oromo, mit 35 Prozent größte Gruppe, um mehr Rechte und reale Beteiligung an der Macht. Relativ frühzeitig haben sich die westlichen Wahlbeobachter zu der Aussage hinreißen lassen, es habe sich um einen Urnengang gehandelt, der im Wesentlichen nicht zu... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Thomas Berger | Bei den Parlamentswahlen in Äthiopien hat die regierende Revolutionäre Demokratische Volksfront (EPRDF) von Ministerpräsidenten Zenawi nach Teilergebnissen den erwarteten Sieg errungen. Die EPRDF liege klar in Führung, teilte die Nationale Wahlkommission am Montagabend in Addis Abeba mit. Das Endergebnis soll am 1. Juni mitgeteilt werden. Die Opposition protestiert. | Äthiopien, Wahl | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/171660.aethiopien-bleibt-in-zenawi-hand.html |
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Ein Potpourri an neuen Klimazielen und Initiativen | Klimakonferenzen waren schon immer groß, aber COP 26 in Glasgow übertrifft alles: Knapp 40 000 Menschen haben sich für die Konferenz in Schottland registriert, 10 000 mehr als für Paris, wo 2015 das Weltklimaabkommen ausgehandelt wurde. In den ersten Tagen waren Großbritannien und die Vereinten Nationen als Gastgeber denn auch mit der Logistik überfordert. Vor dem Eingang bildeten sich lange Schlangen. Seit der Abreise der Staatschefs am Mittwoch verbesserte sich die Lage jedoch Tag für Tag. Das Warten scheint sich gelohnt zu haben, denn es gibt zahlreiche neue Klimaziele und -initiativen. Die Internationale Energieagentur (IEA) hat in einer Blitzanalyse ausgerechnet: Wenn diese Ankündigungen eins zu eins umgesetzt werden, dann wird sich das Klima um 1,8 Grad Celsius erwärmen. Vor Glasgow lag dieser Wert noch bei 2,2 Grad. Damit rückt das Ziel des Paris-Abkommens näher, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Die IEA-Analyse ist allerdings mit Vorsicht zu genießen: In so kurzer Zeit ist es unmöglich, die tatsächliche Wirkung der oft vagen Ankündigungen genau zu analysieren. Bei den offiziellen Klimazielen der Länder kamen in Glasgow viele neue Netto-Null-Ziele hinzu. So gehören nun Indien, Nigeria, Brasilien und Vietnam zum Kreis der Staaten mit einer solchen Selbstverpflichtung. Zudem haben diverse Ländergruppen neue Initiativen lanciert: So wollen die Mitglieder des »Methan-Versprechens« ihre Emissionen dieses besonders klimaschädlichen Treibhausgases bis 2030 um 30 Prozent reduzieren. Ebenfalls bis 2030 soll die Entwaldung gestoppt werden. Viele Länder haben sich zum Ausstieg aus der Kohle bekannt, darunter Polen, Vietnam, Indonesien und die Ukraine. Dass die Kohleverstromung keine Zukunft mehr hat, war allerdings vor der UN-Konferenz schon klar. Neuerdings gilt das aber auch für Öl und Gas. 20 Länder und die Europäische Investitionsbank haben versprochen, keine Öl- und Gasprojekte im Ausland mehr zu fördern, darunter die USA, Kanada, Großbritannien und die Schweiz - nicht aber Deutschland. Pünktlich zur Konferenz kam dann auch die Nachricht, dass dieser Trend in der Realwirtschaft allmählich ankommt: Der US-Energiekonzern Exxon, einst verschrien als Förderer von Klimawandelleugnern, schrieb zum ersten Mal in einem Jahresbericht, dass für manche Investitionen in Öl und Gas »das Risiko einer Wertminderung« bestehe. Damit gesteht der Konzern ein, dass Teile der Öl- und Gasreserven wohl unverkäuflich sein werden. Auch bei den Klimahilfen gibt es Fortschritte: Die Industriestaaten robben sich langsam an die Erfüllung ihres 100-Milliarden-Dollar-Versprechens heran. Dank neuer Zusagen von Japan, Italien und Spanien könnte ab kommendem Jahr diese Summe jährlich für Entwicklungsländer bereitstehen. Das ist zwei Jahre später als versprochen, aber schneller, als zu Konferenzbeginn gedacht. Zudem haben Finanzmarktakteure, die zusammen 130 Billionen Dollar verwalten, zugesagt, ihre Anlageportfolios bis zum Jahr 2050 auf netto-null zu bringen. Das bedeutet, dass die Firmen, in die sie investieren, nicht mehr emittieren, als sie durch Reduktionsmaßnahmen wettmachen. »Das Geld ist jetzt da, wenn die Welt die Klimakrise wirklich aufhalten will«, meint Mark Carney, der frühere Chef der britischen Nationalbank und Mitinitiator dieser Initiative. Wie bei allen Vorhaben zählt letztlich aber nicht das Versprechen, sondern die Umsetzung. Aus diesem Grund hat UN-Generalsekretär António Guterres angekündigt, ein Expertengremium einzuberufen, das die Umsetzung der vielen Netto-Null-Ziele von Unternehmen überprüfen soll. In der ersten Woche in Glasgow feilten Klimadiplomaten zudem am noch fehlenden Kapitel der sogenannten Bedienungsanleitung des Paris-Abkommens. Durchbrüche wurden hier nicht erzielt. Teilnehmer sprachen aber von konstruktiven Verhandlungen und überraschend schnellen Fortschritten. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zentralen, politischen Fragen in Glasgow noch nicht gelöst sind. Bis Freitag kommender Woche ist dafür noch Zeit. | Christian Mihatsch, Glasgow | Nachdem die UN-Klimakonferenz wegen Corona um ein Jahr verschoben werden musste, waren die Erwartungen umso höher. Das zeigt sich in der Zahl der Teilnehmer, aber auch in der Zahl der neuen Initiativen. Was wirklich zählt, ist allerdings die Umsetzung. | Glasgow, Klimaschutz, UN-Klimagipfel | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Weltklimakonferenz in Glasgow | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158356.weltklimakonferenz-in-glasgow-ein-potpourri-an-neuen-klimazielen-und-initiativen.html?sstr=COP |
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Reste der Kampfzone | Roggow am Salzhaff verrät seine Spezialität auf den ersten Blick. Keine Pension gibt es in dem Weiler, die nicht mit einem Storch um Gäste würbe; schon am Ortseingang grüßt Meister Langbein von einem großen Schild. Erst in letzter Zeit hat »Klappi«, der landesweit bekannte Roggower Storch, symbolische Konkurrenz bekommen: Neonfarbene Holzkreuze stehen auf den Feldern und in den Gärten, ein paar sogar auf einer Fensterbank. Sie erinnern ein wenig an das X-Symbol der Kernkraftgegner im Wendland – und soll das Gleiche signalisieren: Hier geht nix! Zumindest nicht so, wie ihr das wollt. »Seit drei Jahren hat es hier keinen Bruterfolg gegeben«, sagt Andreas Schwienhorst, ein lokaler Aktivist des Umweltverbands BUND, und dieses Jahr sei der Storch dann ganz ausgeblieben. Schwienhorst zeigt über die Weide links vom Storchenschild, wo in wenigen hundert Metern Entfernung ein paar weiße Gebäude stehen, der alte A... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Velten Schäfer | Nach dem Vorbild des »Grünen Bands« an der alten DDR-Westgrenze wollen Umweltschützer nun frühere Sperrgebiete an der Küste der Natur überlassen. Doch die Konkurrenz durch Ferien-Investoren ist groß. | DDR, Grenzregion, Ostsee, Tourismus, Umweltschutz | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/179162.reste-der-kampfzone.html |
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Ciudadanos ruft PP und PSOE zu Dreier-Pakt auf | Berlin. In Spanien bleibt die sozialdemokratische PSOE bei ihrem Nein zu einer Fortsetzung der rechtskonservativen Regierung von Mariano Rajoy – und erneuerte die Forderung nach einer »Regierung des Wechsels«. Der Chef der größten Oppositionspartei, Pedro Sánchez, sagte am Mittwoch nach einem Gespräch mit Rajoy, »wir werden gegen ein Fortfahren mit der Volkspartei in der Regierung und Mariano Rajoy als Regierungschef stimmen«. Neuwahlen könnten für die PSOE nur der allerletzte Ausweg sein, so Sánchez. Eine Große Koalition von Konservativen und Sozialisten hätte im Parlament eine ausreichende Mehrheit, gilt aber als ausgeschlossen. »Bei der Wahl haben die Spanier sich für einen Wandel ausgesprochen«, so der PSOE-Chef. Die rechtskonservative Partido Popular (PP) erzielte bei der Wahl am Sonntag mit 28,7 Prozent der Stimmen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1993. Die Zahl ihrer Mandate nahm um 63 auf 123 ab. Rajoy schrieb im Anschluss an das Treffen mit Sánchez, das weniger als 45 Minuten dauerte, auf Twitter: »Ich setze auf den Dialog, um eine stabile Regierung bilden zu können, die den Spaniern Sicherheit gibt.« Die PSOE, die ihrerseits wiederholt die Regierung gestellt hatte, kam auf 22 Prozent und 90 Mandate. Die absolute Mehrheit liegt bei 176 Parlamentssitzen. Dies bedeutet, dass es auch für ein Mitte-Links-Bündnis aus PSOE, der linken Podemos, die mit 20,6 Prozent 69 Mandate holte, und der linken Izquierda Unida, die zwei Parlamentssitze innehat, nicht reicht. Die PSOE könnte allerdings durch Stimmenthaltung eine Wiederwahl von Rajoy ermöglichen. Zwar wäre rechnerisch ein Linksbündnis der Sozialisten mit Podemos und meheren kleineren Parteien möglich. Dies wurde aber von PSOE-Führern als »abenteuerlich« abgelehnt. Sánchez räumte ein, es liege in der Verantwortung der stärksten politischen Kraft, die Bildung einer Regierung »zu versuchen«. Wenn dies der Volkspartei aber nicht gelinge, würden die Sozialisten »alle Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Regierung des Wechsels zu erreichen«. Baldige Neuwahlen sollten verhindert werden. Sánchez warf Rajoy vor, in den Jahren seit 2011 »allein gegen alle« regiert zu haben. Der konservative Regierungschef habe »absolute Mehrheit mit Absolutismus verwechselt«. Der Wählerauftrag liege nun darin, für eine »fortschrittliche« Regierung zu sorgen, in der »der Dialog vorherrscht«. Podemos-Chef Pablo Iglesias hatte bereits am Tag nach der Wahl erklärt, seine Partei werde »in keinem Fall eine PP-Regierung zulassen«. Er bezeichnete zudem eine Verfassungsreform als »unerlässlich«, in der das Recht auf eine Wohnung, auf Gesundheit und auf Bildung festgeschrieben werden müsse. Derweil hat der liberalen Partei Ciudadanos (»Bürger«), Albert Rivera, ein Bündnis mit Konservativen und Sozialdemokraten gefordert. Seine Partei schlage einen Dreier-Pakt vor, »damit niemand aus der Schwäche, der Ungewissheit und der Instabilität einen Vorteil zieht, um das Land auseinanderzureißen«, sagte Rivera in Madrid unter Bezug auf regionale Unabhängigkeitsbestrebungen. Ciudadanos hatte bei der Wahl am Sonntag 13,9 Prozent und 40 Sitze erreicht - deutlich weniger, als kurz vor der Wahl angenommen und von manchen Medien angefeuert. Auch die liberale Madrider Zeitung »El Mundo« hatte sich für einen solchen Dreier-Pakt ausgesprochen. »Ministerpräsident Mariano Rajoy muss einen Pakt mit anderen Parteien schließen, um eine Mehrheit zu bekommen.« Ein Bündnis der sozialdemokratischen PSOE »mit anderen Linksparteien wäre für das Land ein Unheil«, kommentierte die Zeitung weiter. Eine Große Koalition der PSOE mit der rechtskonservativen Partido Popular, die eine Fortsetzung des umstrittenen Kürzungskurses in der Krisenpolitik anstrebt, wäre für die Sozialdemokratischen jedoch »selbstmörderisch«. Um Neuwahlen zu verhindern, sollte es nach Ansicht von »El Mundo« daher »einen Pakt der Regierbarkeit« zwischen Konservativem Sozialdemokraten und Ciudadanos geben. »Dies würde bedeuten, dass die PSOE und die Liberalen sich im Parlament der Stimme enthalten, um eine Wiederwahl Rajoys möglich zu machen. Im Gegenzug müsste Rajoy sich verpflichten, ein Reformprogramm auf den Weg zu bringen.« Agenturen/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Wie geht es weiter in Spanien? Die sozialdemokratische PSOE bleibt beim Nein zu einer Verlängerung für die Rajoy-Regierung. Die liberale Ciudadanos schlägt einen Dreier-Pakt mit den Rechtskonservativen vor. | Podemos, Regierungsbildung, Spanien, Wahlen 2015 | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/995831.ciudadanos-ruft-pp-und-psoe-zu-dreier-pakt-auf.html |
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Umweltkreuzzug nur »Show« | Der Anspruch der in Bolivien regierenden »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) in Sachen Naturschutz und alternativer Wirtschaftsentwicklung ist hoch. Der Kapitalismus bringe »Luxus, Bereicherungssucht und Verschwendung für einige Wenige, während Millionen in der Welt Hungers sterben. In den Händen des Kapitalismus verwandelt sich alles in Ware: das Wasser, der Boden, das menschliche Gen, die Jahrhundertkulturen, die Gerechtigkeit, die Ethik, der Tod, das Leben selbst«, klagte Boliviens Staatschef Evo Morales Ende 2008 in einem Brief an den UN-Klimagipfel im polnischen Poznan. »Wenn die Menschheit Solidarität, Zusammenleben und Harmonie mit der Natur« wiederentdeckt, könne der »Planet gerettet werden«, so Morales. Beim Klimagipfel 2009 in Kopenhagen zählte das südamerikanische Land zu den schärfsten Kritikern der Industriestaaten, die entgegen aller Erwartungen keine verbindliche Reduzierung des CO2-Ausstoßes vereinbarten. Als Reaktion lud ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Benjamin Beutler | Die Umweltpolitik von Boliviens Linksregierung hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Großprojekte bedrohen Reservate und Amazonas. | Bolivien | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/177466.umweltkreuzzug-nur-show.html |
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Londoner Klimarebellion startet planmäßig | Am Montagmorgen begann der Aufstand. Nach wenigen Minuten hatte die Umweltbewegung »Extinction Rebellion« (XR) zwei Brücken und zehn Kreuzungen in London besetzt - so wie zuvor geplant. Damit kontrolliert der »Aufstand gegen das Aussterben«, wie die Bewegung frei ins Deutsche übersetzt heißt, ein rund einen Quadratkilometer großes Gebiet im Regierungsviertel der britischen Hauptstadt London. Dieses beginnt im Süden bei der Lambeth Bridge und reicht bis zum Trafalgar Square gut zwei Kilometer weiter nördlich. In diesem Gebiet liegen 23 verschiedene Ministerien, das britische Parlament und der Amtssitz von Premierminister Boris Johnson in der Downing Street. Diese Fläche will die Bewegung nun zwei Wochen lang halten. Der Polizei war der XR-Plan natürlich bekannt, nicht zuletzt weil die Aktivisten diesen eng mit der Polizei abgestimmt hatten. Die Londoner Polizei hat Verstärkung aus ganz Großbritannien angefordert und arbeitet seit M... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Christian Mihatsch, London | Die Aktivisten von »Extinction Rebellion« wollen zwei Wochen lang im Londoner Regierungsviertel protestieren. In der Themsemetropole machte die junge Bewegung 2018 erstmals von sich reden. | Brexit, Großbritannien | Politik & Ökonomie | Politik Extinction Rebellion | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1126782.extinction-rebellion-londoner-klimarebellion-startet-planmaessig.html |
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Verhallte Schüsse | Es ist kein alltäglicher Prozess, der am Donnerstag im Landgericht Leipzig fortgeführt wird: Kenneth E. ist wegen versuchten Mordes angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, im Juli 2017 auf dem Torgauer Marktplatz gezielt zwei Schüsse aus nächster Nähe in den Oberkörper eines syrischen Geflüchteten abgefeuert zu haben. Der Angeschossene überlebte nur Dank einer Notoperation. Der Angriff füllte nur kurz lokale Schlagzeilen. Erst mit dem Prozessbeginn Ende März kam es zu erneuter Berichterstattung, in der nun auch die rechte Einstellung des Angeklagten thematisiert wurde. Für das vorherige Schweigen gibt es Gründe. Was genau in jener Donnerstagnacht in der sächsischen Kleinstadt geschah, ist schwer zu klären. Passant*innen oder andere unbeteiligte Beobachter*innen scheint es nicht zu geben. Die Aussagen der Zeug*innen, die bisher vernommen wurden, sind nicht immer deckungsgleich. Sicher ist, dass eine Gruppe syrischer Geflüchteter, die zu Besuch in der Elbstadt war, und Torgauer Jugendliche mehrfach aneinandergerieten. Zunächst kam es an einer Bushaltestelle zu einer Auseinandersetzung, ein paar Stunden später trafen die Gruppen in leicht veränderter Zusammensetzung auf dem Marktplatz der Stadt erneut aufeinander. Laut Staatsanwaltschaft wurde dann der zuvor unbeteiligte, mittlerweile 44-jährige Kenneth E. auf das Geschehen aufmerksam. Er soll die Wohnung eines Freundes mit einer geladenen Schusswaffe verlassen haben. Unvermittelt soll er aus einem Meter Entfernung zwei Mal gezielt in die Brust eines Syrers geschossen haben und daraufhin geflohen sein. Der angeschossene 21-Jährige überlebte nur dank einer Notoperation. Mehrere Indizien weisen auf eine rechte Gesinnung des mutmaßlichen Täters hin. Bei einer Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten wurden mehrere Gegenstände mit Abbildungen Adolf Hitlers gefunden. Personen aus Torgau wie auch das Opfer der Schüsse berichteten zudem von rassistischen Beleidigungen gegenüber den Geflüchteten, denen das Gericht bisher aber keine Beachtung schenkte. Nach der Verlesung einiger zwischen den Torgauern ausgetauschten SMS liegt weiterhin die Vermutung nahe, dass Kenneth E. durch einen Freund von der Auseinandersetzung mit den Geflüchteten erfuhr. In der Lokalberichterstattung wurde auf Vorstrafen des Angeklagten wegen Gewaltdelikte verwiesen. »nd«-Recherchen zufolge trat E. in den Neunziger Jahren bereits eine 15-jährige Haftstrafe wegen Mordes an. In den Polizeistatistiken ist die Tat bisher nicht als möglicherweise politisch motiviert registriert. In den Antworten auf die regelmäßigen kleinen Anfragen von Kerstin Köditz und Juliane Nagel (beide LINKE) fehlt der Angriff. Warum er auch nach dem Fund der Nazidevotionalien nicht entsprechend kategorisiert wurde, wird die Staatsregierung nun erklären müssen: Eine entsprechende Anfrage ist bereits gestellt worden. Dass die sächsische Polizei keine eigene Pressemitteilung über den Mordversuch veröffentlichte, sondern den Fall innerhalb einer Sammelmitteilung veröffentlichte, führte zu weiterer Kritik in den sozialen Medien. Zusätzliche Brisanz erhält die Causa aus Bayern: Letzte Woche berichtete die »Süddeutsche Zeitung« von acht Angriffen auf Geflüchtetenunterkünfte und ihre Bewohner*innen, die von der bayerischen Polizei verschwiegen wurden. Beachtung fanden sie ebenfalls erst durch eine kleine Anfrage der Münchner Landtagsabgeordneten Katharina Schulze (Grüne). »Rassismus zu vertuschen ist scheinbar wichtiger, als gegen Rassismus vorzugehen«, erklärte Sandra Merth vom antifaschistischen Bündnis »Irgendwo in Deutschland«. Die Initiative versucht Aufmerksamkeit auf die Verhandlung zu lenken. | Leo Forell | Ein Angriff in Torgau auf einen Geflüchteten fand bisher in den Medien kaum Beachtung. Ein Gericht will nun den Fall und auch die Motivation des Täters klären. Was genau in in der sächsischen Kleinstadt geschah, ist schwer zu klären. | Rassismus, Rechtsradikalismus, Sachsen | Politik & Ökonomie | Politik Rassismus in Sachsen | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1087095.rassismus-in-sachsen-verhallte-schuesse.html |
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Juncker will nichts gewusst haben | Fabio De Masi bleibt bei seiner Hilfsbereitschaft: »Mein Angebot, bei der Suche behilflich zu sein - ob auf dem Dachboden oder in ihrem Keller -, steht weiterhin«, schreibt der LINKE-EU-Parlamentarier in einem Brief an den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Dieser hatte De Masis erstes Angebot dankend abgelehnt: »Ich gehe nicht mit jedem in den Keller«, sagte der luxemburgische Spitzenpolitiker bei einer Anhörung des TAXE-Sonderausschusses des EU-Parlamentes kürzlich. Denn was De Masi da ans Tageslicht befördern könnte, will Juncker offenbar lieber im Dunklen lassen. Es geht um Junckers Zeit als Luxemburgs Finanz- und Premierminister sowie seine möglichen Verstrickungen in die dubiosen Steuerdeals des Großherzogtums mit Großkonzernen. Bei der Anhörung vor dem TAXE-Sonderausschuss, der diese Affaire aufklären soll, stellte sich Juncker als Unschuldslamm dar. Womöglich log er dabei jedoch d... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Simon Poelchau | Eine einzige Seite eines 18 Jahre alten Berichtes könnte Jean-Claude Juncker in Bedrängnis bringen. Offenbar so sehr, dass der Kommissionschef deswegen lügt. | EU, Luxemburg, Luxleaks | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/986032.juncker-will-nichts-gewusst-haben.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Allein gelassen | Über die Rolle der Tafeln, die Lebensmittelspenden an Bedürftige weitergeben, ist viel diskutiert worden. Linke Soziologen brandmarken die Verteilstationen für Almosen auch als »privatisierte Sozialindustrie«. Während der Staat seinen Aufgaben in der Daseinsvorsorge immer weniger nachkommt, füllen die rund 60 000 freiwilligen Helfer der Tafeln diese Lücken. Somit delegiert man ein... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Fabian Lambeck | Fabian Lambeck über Tafeln, die nun auch Flüchtlinge mitversorgen | Armut, Flüchtlinge, Tafel | Meinung | Kommentare | https://www.nd-aktuell.de//artikel/985358.allein-gelassen.html |
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Türkei: Erdoğan ist angezählt | Die Niederlage der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bei der Kommunalwahl hat die politische Landschaft in der Türkei durchgerüttelt. So mancher Beobachter sieht nun schon das politische Ende von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan aufziehen. In der Tat konnte man den Eindruck gewinnen, dass er von der Niederlage gezeichnet war: Mit langsamen Schritten schleppte er sich in Ankara auf die Bühne, wo er eigentlich den Sieg seiner Partei, der AKP, feiern wollte, und suchte sichtlich nach den passenden Worten, um seinen gespannt wartenden Anhängern die Niederlage beizubringen. Während sich die Opposition im Aufwind sieht, muss Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Debakel aufarbeiten, wie er selbst nach der Wahl einräumte. Er will jetzt die Niederlage analysieren lassen, um herauszufinden, woran es gelegen hat. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratisch orientierte CHP, gewann inoffiziellen Ergebnissen zufolge landesweit 35 der 81 Oberbürgermeisterposten und konnte damit ihren größten Erfolg seit Jahrzehnten einheimsen. Sie verteidigte zudem ihre Posten in der wichtigen Metropole Istanbul und der Hauptstadt Ankara – insgesamt gewann sie in den fünf größten Städten des Landes. Zudem weitete sie ihren Einfluss in Anatolien – eigentlich Kernland der AKP – aus. Das Ergebnis der Wahl kam überraschend. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr schien Erdoğan noch unbesiegbar – trotz der massiven Inflation und der Unzufriedenheit nach den schweren Erdbeben im Südosten des Landes. Politische Beobachter wie der Analyst Berk Esen gehen davon aus, dass viele AKP-Anhänger angesichts der schlechten Wirtschaftslage nicht zur Wahl gingen oder für kleinere konservative Parteien wie die islamistische Yeni Refah stimmten. Diese machte der AKP Konkurrenz und konnte zwei Provinzen von ihr erobern. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Unter der Inflation von rund 67 Prozent leiden vor allem Geringverdiener und Rentner, Lebensmittel und Mieten steigen stetig. Die ideologische Bindung ist bei Kommunalwahlen traditionell nicht so stark, was es konservativen Wählern leichter gemacht haben könnte, Erdoğan einen Denkzettel zu verpassen. Darauf deutet auch die geringere Wahlbeteiligung hin. Die lag nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur mit gut 78 Prozent etwa sechs Prozentpunkte unter der bei vergangenen Kommunalwahlen. Ob die CHP den Erfolg auf kommunaler Ebene auch landesweit ausschlachten kann, hängt teilweise auch von ihrem Hoffnungsträger ab – dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu. Er wurde in der 16-Millionen-Metropole wiedergewählt und bringt sich damit wieder als möglicher künftiger Präsidentschaftsanwärter ins Spiel. Als bevölkerungsreichste türkische Stadt gilt Istanbul als Sprungbrett für höhere Ambitionen. Auch Erdoğans politischer Aufstieg begann dort. İmamoğlu droht aber immer noch ein Politikverbot wegen eines Verfahrens gegen ihn, das Beobachter als politisch motiviert ansehen. Eine Entscheidung wird in den kommenden Wochen erwartet. İmamoğlu gewann laut vorläufigen Ergebnissen mit rund elf Prozent Vorsprung und ließ sich noch in der Nacht zu Montag vor jubelnden Anhängern feiern. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der 53-Jährige erneut Unterstützung von kurdischen Wählern erhielt, obwohl die prokurdische DEM eine eigene Kandidatin aufstellte. Der Bürgermeister hat zudem bewiesen, dass er die Sechser-Allianz, mit der die Opposition bei den Präsidentenwahlen angetreten war, nicht braucht. Die nationalkonservative Iyi-Partei, die als Konkurrentin von İmamoğlus CHP galt, versank in der Bedeutungslosigkeit. Derweil setzt der türkische Staat seine Repression in den Kurdengebieten der Türkei fort. Wahlsieger der prokurdischen Partei DEM seien offenbar abgesetzt worden, heißt es von verschiedener Seite. So berichtete die kurdische Nachrichtenagentur AFN News am Dienstagnachmittag, dass die türkische Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und teils auch Schlagstöcken Proteste in der kurdischen Großstadt Van gegen die unrechtmäßige Ernennung eines AKP-Politikers zum Oberbürgermeister niedergeschlagen habe. Tausende Menschen seien auf die Straße gegangen, um »Respekt vor dem Willen der Bevölkerung« einzufordern, viele Gewerbetreibende hätten ihre Geschäfte geschlossen. Auf der Hauptstraße im Zentrum Vans sowie in mehreren Seitenstraßen seien Mülltonnen und Pflanzkübel umgeworfen und Barrikaden errichtet worden. Mit Agenturen | Cyrus Salimi-Asl | Nach ihrer Niederlage bei der türkischen Kommunalwahl steht die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan einer gestärkten Opposition gegenüber. In den kurdischen Gebieten setzen die Behörden gewählte Kandidaten ab. | AKP, Türkei | Politik & Ökonomie | Politik Kommunalwahlen | 2024-04-02T18:06:13+0200 | 2024-04-02T18:06:13+0200 | 2024-04-03T18:38:01+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181173.kommunalwahlen-tuerkei-erdoğan-ist-angezaehlt.html?sstr=İmamoğlu |
Frankreichs Präsident gibt sich unbeirrt | In seinem einstündigen Fernsehinterview am Montagabend war sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy treu geblieben. Die Parteispenden- und Steueraffäre um die Milliardärin Liliane Bettencourt tat er als »Verschwörung« ab, seinem Minister Eric Woerth sprach er sein volles Vertrauen aus. Ansonsten will er unbeirrt seinen Kurs der Reformen – vor allem der einschneidenden und sehr umstrittenen Rentenreform, die die französische Regierung am Dienstag auf den Weg brachte – fortsetzen. Eine Regierungsumbildung werde es erst im Oktober geben, nach der Verabschiedung der Rentenreform im Parlament, kündigte er an. Zumindest als Minister wollte Sarkozy seinen ins Gerede gekommenen Arbeitsminister nicht aus dem Schussfeld nehmen. Indem er sich auf das Ergebnis einer – praktischerweise am Vorabend des Interviews fertiggestellten und veröffentlichten – Untersuchung der Finanz- und Steuerinspektion bezog, die keine Einflussna... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Ralf Klingsieck, Paris | Nach dem Vorwurf der illegalen Parteienfinanzierung gibt Frankreichs Arbeitsminister Eric Woerth seinen Posten als Schatzmeister der Regierungspartei UMP auf. Das kündigte Woerth am Dienstag in Paris nach einer Kabinettssitzung an. Präsident Nicolas Sarkozy hatte seinem Minister am Vorabend empfohlen, den Parteiposten niederzulegen. | Frankreich, Nicolas Sarkozy | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/175200.frankreichs-praesident-gibt-sich-unbeirrt.html |
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Bernd und die Kümmerer | Leicht ramponierte Schultaschen stehen in Reih und Glied neben kleinen Zuckertüten. In der Kleiderkammer des Mehrgenerationenhauses in Bergen auf Rügen kann man sich mit dem Nötigsten eindecken, wenn nichts und niemand sonst mehr hilft. »Ich ziehe doch keine gebrauchte Unterwäsche an!« Solche Sätze hören die Mitarbeiterinnen hier immer wieder. Ein letztes Aufbäumen des Stolzes ihrer Gäste, wenn sie das erste Mal kommen. Die Sachen, die sich hier fein säuberlich in Regalen stapeln, finden immer ihre Abnehmer. Etwas deplatziert steht der Trupp aus Berlin zwischen den Wäschestapeln. Bernd Riexinger, der Parteichef der LINKEN, fragt tapfer nach, erfährt Genaueres über die Kunden der Kleiderkammer. Bewohner eines Altenheims zum Beispiel, die sich neben den Kosten ihrer Unterkunft kaum etwas leisten können, kommen gern wieder. Frau Jüptner, die sich durch die Arbeit hier ihre schmale Rente aufbessert, spricht von rund 500 Kunden pro Woche. Stiller Zorn schwingt in ihren Auskünften mit. Auch darüber, dass ein wenig von der Geringschätzung, die die Entwürdigten immer wieder trifft, auch an ihnen, den hier Beschäftigten, kleben zu bleiben scheint. Riexinger zeigt sich berührt. Beeindruckt auch von Bibliothek, Frauenfrühstück, Kindertreff, dem Sportklub im Mehrgenerationenhaus. Die von Frauen für Frauen e.V. betriebene Einrichtung bietet eine Menge, nicht nur für Menschen, die allein sind oder arm oder beides. Aber sehr oft für solche. Bergen auf der gerade von Urlaubern dicht bevölkerten Ostseeinsel ist nur eine Station auf der Sommertour des Parteichefs in diesen Tagen. Am Freitag überlässt er die zweite Hälfte der Reise in Hannover symbolisch seiner Kovorsitzenden Katja Kipping. Immer wieder in den Gesprächen fragt Riexinger nach Verdiensten und den Umständen der sozialen Arbeit. Und immer endet es mit dem Satz, dass diese hierzulande eine Aufwertung brauche. Der Mann mit den schwäbelnden Nachfragen hinterlässt bei seinen Gesprächspartnern in Bergen einen ähnlich guten Eindruck wie die bei ihm. Darf man vermuten. Bernd Riexinger ist nicht chefig. Gregor Gysi benutzte diese Wortschöpfung einmal für sich selbst, um Eigenständigkeit gegenüber dem dominant auftretenden Oskar Lafontaine zu betonen. Wenn das Wort passt, um Koordinaten zu definieren in den Machtverhältnissen der LINKEN, dann ist Klaus Ernst, der letzte Vorsitzende, chefig. Bernd Riexinger, der neue, ist es nicht. Am Abend steht er im Kulturhaus von Grimmen vor 60 »interessierten Bürgern« und erläutert, wie er gemeinsam mit Katja Kipping den Aufbruch der Partei organisieren will. Die Bürger sind offenbar sämtlich Mitglieder der Linkspartei, in ihren anschließenden Fragen spiegelt sich die Sorge um deren Schicksal. Wie wollt ihr der Partei wieder auf die Beine helfen? Wie verhindern, dass sie sich wieder in Machtkämpfen zerlegt? Riexinger erläutert das 120-Tage-Programm der beiden Vorsitzenden, in dem das Zuhören eine so große Rolle spielt. »Es dauert lange, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen«, sagt er. Die Genossen stimmen seufzend zu. Ab heute hat er bei vielen Teilnehmern einen Stein im Brett. Eine Genossin zeigt sich nach der Veranstaltung erleichtert, dass sie mit dem Göttinger Wahlergebnis nunmehr ihren Frieden machen kann. Dietmar Bartsch, der Riexinger auf dem Parteitag in Göttingen bei der Wahl zum Vorsitzenden unterlag, ist in Mecklenburg-Vorpommern zu Hause. Ein Genosse bescheinigt der neuen Führung nach der Veranstaltung »geschicktes Agieren«. Und er verleiht seinen Worten Gewicht, indem er sich als stellvertretender Kreisvorsitzender in Stralsund zu erkennen gibt. Als Riexinger sich nach dem Göttinger Wahlparteitag den Mitarbeitern in der Parteizentrale in Berlin vorstellte, überwand er Misstrauen schon mit der beiläufigen Bemerkung, bei Ver.di herrsche ein anderer Umgangston als bei der IG Metall. Riexinger war bisher Ver.di-Geschäftsführer in Stuttgart. Bei uns sind die Hierarchien eher flach, hieß das. Die Mitarbeiter, die die Entscheidung in Göttingen zwischen dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer Bartsch und Riexinger um den Parteivorsitz mit klar verteilten Sympathien verfolgt hatten, registrierten dies dankbar. Mit seinem ruppigen Stil hatte sich Riexinger Amtsvorgänger, der kämpferische IG-Metall-Funktionär Ernst, im Karl-Liebknecht-Haus nicht nur Freunde gemacht. »Führung der Partei ist wichtig, aber die Basis ist wichtiger.« Die Genossen im Grimmener Kulturhaus klatschen. Den meisten scheinen die Probleme, die die Partei monatelang lähmten, sowieso wie aus einer anderen Welt. Sie haben auch ohne den Streit zwischen den Flügeln und ihren Wortführern genügend Probleme. Arbeitslosigkeit und Abwanderung, Gewerkschaftsfeindlichkeit in Betrieben oder die NPD, der das Totschweigen durch die Konkurrenz im Landesparlament bisher nicht geschadet hat. Und die Linkspartei verliert Genossen, leidet unter dem Handicap einer älter werdenden Mitgliedschaft. Nach der Kreisgebietsreform ist aus zwei Kreisverbänden der neue, größere Kreisverband Vorpommern-Rügen entstanden. Zunächst hat das die Wirkung einer Zerschlagung funktionierender Strukturen, stellt die Kreisvorsitzende Kerstin Kassner nüchtern fest. Größere Entfernungen erschweren den Mitgliedern zudem die Mitarbeit. Riexinger hat für die rund 70 Kilometer von Sagard nach Grimmen anderthalb Stunden im Autostrom der Rügen-Urlauber gebraucht. Kassner greift ein Wort aus Riexingers Rede auf: Kümmererpartei. Das ist die LINKE derzeit auch in einer Weise, in der sie es lieber nicht wäre. Kassner verschmitzt: »'Kümmerer' werden in der hiesigen Landwirtschaft Jungtiere genannt, die in ihrer Entwicklung nicht recht vorankommen.« Es ist ein gequältes Lachen, das der Bemerkung folgt. Riexinger versucht es behutsam: »Wenn ihr das alles hoffentlich mittragt, werden wir wieder zu einer anerkannten Kraft«, verspricht er nach seinen Erläuterungen zur Politik der neuen Führung. Und das Quentchen Unsicherheit, das da zu hören ist, lässt das Publikum umso eifriger nicken. Der Schwabe widmete den ersten großen Teil seiner Reise den Parteigliederungen in Mecklenburg-Vorpommern. Das hat seinen Grund wohl in den letzten Monaten des Streits, in dem sich innerparteiliche Kritiker der Führung gerade im Nordosten lautstark zu Wort gemeldet hatten. Am Vortag hat er mit dem Landesvorsitzenden Steffen Bockhahn eine Rundfahrt durch den Rostocker Hafen gemacht. Außer daran, wie Riexinger seinen Heimatort aussprach, hatte der an ihm nichts auszusetzen. »Roschtock«, Hilfe! Nach dem Parteitag hatte Dietmar Bartsch der neuen Parteispitze »eine glückliche Hand« gewünscht. Die zeigt Riexinger, wenn er Reden hält, gern geballt. Er könne nicht erkennen, wieso Engagement in der Kommunalpolitik ein Widerspruch sein solle zum Engagement der Partei in den sozialen Bewegungen. Parlamentarismus und Systemkritik - in Göttingen waren diese beiden Philosophien für den ultimativen Erfolg der LINKEN erneut aufeinandergeprallt. Die stärkeren Landesverbände im Osten pochen darauf, dass ihre kommunale Verankerung das Erfolgsrezept der Partei sei. Auch im Westen sein müsse, wo die systemkritischen Anhänger sozialer Bewegungen ihre scheinbar jederzeit regierungsbereiten Ost-Genossen kritisch beäugen. In dieser Woche haben Kipping und Riexinger der SPD und den Grünen eine Offerte gemacht, die man mit einigem guten Willen als »ausgestreckte Hand« interpretieren kann, auch wenn die prompt erfolgte Ablehnung durch SPD-Chef Sigmar Gabriel absehbar war. Die Option einer rot-rot-grünen Bundesregierung nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr werde nicht an der LINKEN scheitern, wenn mehrere Bedingungen erfüllt seien. Genannt sind das Verbot von Waffenexporten, die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, eine Reichensteuer und eine armutsfeste Rente. Kipping nannte dies am Montag eine offensive Umsetzung der im Parteiprogramm festgeschriebenen Mindestbedingungen für eine Regierungsbeteiligung der LINKEN. Ein Schachzug, der von Selbstbewusstsein zeugt. Der Schwabe beschwört die »80 Prozent Gemeinsamkeiten« in seiner Partei. Über den Rest dürfe man ruhig weiter streiten. »Wer will schon in einer Partei sein, in der alle einer Meinung sind!« Zuvor hat er beteuert, die Befindlichkeiten im Osten langsam besser zu verstehen. Auch dass es nicht Roschtock heißt, werde er sich noch merken. Er könne nicht erkennen, wo der trennende Unterschied von Ost und West in der Partei liege, so Riexinger. Er beschwört die Aufbruchstimmung, die er selbst offenbar schon deutlich spürt. Parlamentarismus und Systemkritik. »Wir brauchen beides!«, ruft der Parteichef in die Grimmener Halle, während es draußen langsam dunkel wird. | Uwe Kalbe | Auf seiner Sommertour erkundet LINKE-Chef Riexinger freundlich die Untiefen ostdeutscher Befindlichkeiten | Bernd Riexinger, LINKE, Ostdeutschland | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/235029.bernd-und-die-kuemmerer.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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