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Lina E. Wann agiert die radikale Linke weniger selbstbezogen? | Man muss nicht mehr viele Worte zum Prozess gegen Lina E. und Co. verlieren. Das Urteil ist in seiner Höhe absurd und handfester Antifaschismus eine traurige Notwendigkeit. Dass Proteste von Köln bis Berlin zusammengeknüppelt wurden, passt da, genauso wie die in Leipzig angekündigten Angriffe auf die Versammlungsfreiheit, nur allzu gut ins Bild. Dass der Feind links steht gehört immernoch zum ideologischen Kern der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem sollte die radikale Linke in Deutschland sich hinterfragen. Dass bundesweit mehrere tausend Menschen auf die Straße gehen, ist beeindruckend und zeigt eine prinzipielle Stärke. Aber wo sind die Menschen bei den alltäglichen Zwangsräumungen? Warum gehen so wenig Menschen gegen die völlige Aushöhlung des Asylrechts auf die Straße? Nach der Ankündigung, für jedes Jahr Haft, eine Million Euro Sachschaden zu verursachen, fragt man sich, wann eine Million Euro Sachschaden für jede Ersatzfreiheitsstrafe und jede Abschiebung angekündigt werden? Das würde die politische Relevanz der radikalen Linken stärken und sie weniger selbstbezogen wirken lassen. | Sebastian Weiermann | Frust und Wut über das Urteil gegen Lina E. sind berechtigt. Aber wann agiert die radikale Linke weniger selbstbezogen? | linke Bewegung | Meinung | Kommentare Kommentar | 2023-06-01T15:19:23+0200 | 2023-06-01T15:19:23+0200 | 2023-06-02T08:55:51+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1173656.kommentar-lina-e-wann-agiert-die-radikale-linke-weniger-selbstbezogen.html |
Linke will Gas- und Energiepreisdeckel | Die Spannung, die aus der Bundespartei herüberschwappt, deren Tage manche angesichts der nicht enden wollenden und massiven internen Konflikte als gezählt ansehen, ist der Berliner Linken am Samstag anzumerken. Auf ihrem Parteitag, der unter dem Motto »Niemanden zurücklassen« stand, gab es wohl auch deshalb gleich zu Beginn Applaus für die Landesvorsitzende Katina Schubert, die in ihrer Eröffnungsrede umgehend auf die innerparteiliche Debatte auf Bundesebene zu sprechen kommt, ob es sich bei den Sanktionen gegen Russland vor dem Hintergrund seines Angriffs auf die Ukraine um einen »Wirtschaftskrieg« handele, wie zuletzt die Abgeordnete Sahra Wagenknecht in einer Bundestagsrede behauptet hatte. Schon im Vorfeld hatte Schubert erklärt, die Forderungen nach einer Inbetriebnahme der Gaspipeline North Stream 2 sei schlicht falsch und auch eine »Milchmädchenrechnung«. Schließlich habe Russland den Hahn zugedreht: »Es gibt keine Sanktionen gegen russisches Gas«, so Schubert. Wer glaube, mit einer Aufhebung der Sanktionen werde »alles wieder wie früher«, der irre, so die Landesvorsitzende. »Putin und das russische Regime sind es, die glauben, mit Gas Gefügigkeit und eine Akzeptanz ihres Krieges erpressen zu können. Darauf darf sich niemand einlassen, schon gar keine Linke, die sich der internationalen Solidarität verpflichtet fühlt.« Stattdessen müsse die rot-grüne-gelbe Bundesregierung endlich zum Handeln kommen. Die Linke, die in Berlin als kleinste Fraktion der rot-grün-roten Koalition mitregiert, sieht sich gerade in Abgrenzung zu ihren Partnern SPD und Grünen in Berlin, aber auch bundesweit als die Interessenvertreterin derjenigen, die sich angesichts von doppelten bis dreifachen Energiepreisen in existenzielle Nöte gebracht sehen und das angesichts der gerade einsetzenden Heizperiode. »Wir brauchen einen Strom- und Gaspreisdeckel«, sagte Schubert. Nötig seien überdies eine echte Übergewinnsteuer, eine Reichensteuer und das Aussetzen der Schuldenbremse, forderte der Co-Vorsitzende der Linken im Bund, Martin Schirdewan, der ebenfalls auf dem Landesparteitag sprach. Damit hätte der Bund dann genügend Mittel, um die Menschen und die soziale Infrastruktur spürbar zu entlasten, sagte Katina Schubert. Zudem könne dann die »irre Gasumlage« wieder abgeschafft werden, die Verbraucher*innen ab Oktober zahlen müssen, um ins Trudeln gekommene Gasimporteure zu stützen. Die Linke fordert auch einen »Stromschutzschirm« für Kund*innen der Stadtwerke. In Berlin seien es rund 40 000 Menschen, die ihren Ökostrom von den Berliner Stadtwerken bezögen, erklärte dazu Linke-Fraktionsvorsitzende Anne Helm. »Normalerweise würden im Oktober wegen der explodierenden Strompreise die Erhöhungsschreiben rausgehen. Der Gewinn der Stadtwerke macht es möglich, dass die Preise nicht erhöht werden müssen.« Sehr wohl erhöht werden müssten allerdings die Regelsätze der Grundsicherung, forderte Katja Kipping, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, die das zuletzt für Berlin beschlossene Entlastungspaket, mit dem die Landesregierung Anfang der letzten Woche die Maßnahmen des Bundes sowohl ergänzen als auch kritisieren will, als »wirkliche Entlastung« bezeichnet hatte. Bei der Grundsicherung hingegen sei allein eine Anhebung um 250 Euro eine Summe, die eine armutsfeste Entlastung bieten würde, so Kipping. Die Erhöhung um 50 Euro hätte sowieso kommen müssen, da die Sätze entsprechend der Inflationsentwicklung angepasst werden müssen. Stattdessen würden diese nun als Entlastung verkauft, kritisierte Kipping. Die Preissteigerungen verschärften die Armut und Armut führe zu Vereinsamung, führte die Sozialsenatorin aus. Orte der Begegnung müssten jetzt gestärkt werden. Ein »Gipfel der Wärme« habe bereits stattgefunden, im Oktober werde überdies eine »Charta der Wärme« unterzeichnet. Land, Bezirke, Sozialträger und Zivilgesellschaft haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen und werden Angebote für von Energiearmut bedrohte Menschen machen – allerdings ganz klar ohne Beteiligung von rechts: »Nazis dürfen sich ausgeschlossen fühlen«, stellte Kipping klar. Soziale Proteste und Regierungsbeteiligung seien kein Gegensatz, ist sich Katja Kipping sicher. »Denn so selbstverständlich, wie wir beim heißen Herbst mitmischen, so selbstverständlich holen wir in der Landesregierung so viel wie möglich an sozialer Gerechtigkeit und Freiheit heraus«, erklärte sie. Weiterhin stimmten die Delegierten mit großer Mehrheit für eine beantragte Satzungsänderung, die es zukünftig erlaubt, dass die Berliner Linke von einer Doppelspitze geführt wird. | Claudia Krieg | Auf ihrem Parteitag beschließt die Berliner Linke ihren Leitantrag gegen Energiearmut und wendet sich klar gegen den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Vertreter von Sozialverbänden werden prominent gehört. | Die Linke, Energiepreise, Parteitag | Hauptstadtregion | Berlin Landesparteitag Berliner Linke | 2022-09-25T16:28:42+0200 | 2022-09-25T16:28:42+0200 | 2023-01-20T17:24:12+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1167200.linke-will-gas-und-energiepreisdeckel.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Miro Cerar verkauft das Tafelsilber | Manchmal ist ausgerechnet aller Anfang relativ leicht. Nach seinem erfolgreichen Dienstantritt sah Sloweniens hagerer Hoffnungsträger Miro Cerar dieser Tage guten Grund, die Sektgläser klirren zu lassen. Mit 54 zu 25 Stimmen hatte das Parlament in Ljubljana zuvor der Einsetzung der vierten Regierung in nur drei Jahren seinen Segen gegeben. Selbst zwei Abgeordnete der Opposition votierten am späten Donnerstagabend für die neue Mitte-links-Koalition aus Cerars erst in diesem Jahr gegründeten Partei SMC, der Rentnerpartei (DeSUS) und der sozialdemokratischen SD.
Diese »starke Koalition« habe sich verpflichtet, Slowenien aus der Krise zu führen und dem Land zu Stabilität und einer »höheren Politikkultur« zu verhelfen, so der politische Seiteneinsteiger. Ansonsten hielt sich der prominente Verfassungsjurist mit pflichtschuldigen Versprechen nicht lange auf. Bis nächstes Jahr müsse das Defizit von 4,2 auf drei Prozent reduziert werd... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Thomas Roser, Belgrad | Politikneuling Miro Cerar hat jetzt als vierter Premier in nur drei Jahren die Regierung Sloweniens übernommen. Mit 54 zu 25 Stimmen hatte das Parlament in Ljubljana der Einsetzung der vierten Regierung zugestimmt. | Privatisierung, Regierungsbildung, Slowenien, Sozialabbau | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/946724.miro-cerar-verkauft-das-tafelsilber.html |
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Streit unter Friedensfreunden | Soweit der Sternmarsch mit mehreren Kundgebungen, zu dem die Initiative »Nie wieder Krieg – die Waffen nieder« für den 3. Oktober nach Berlin mobilisiert, überhaupt in klassischen und »sozialen« Medien vorkommt, gibt es Stempel. Grundsätzlich wird das Wort Friedensdemo in Anführungszeichen gesetzt, die Veranstaltung wird als eine von »Putin-Knechten« tituliert. Der Grund: Im Veranstalteraufruf der Demo werden Verhandlungen und das Ende aller Waffenlieferungen an die Ukraine wie auch an Israel wegen seiner Kriegführung im Gazastreifen gefordert. Ignoriert wird bei solcher Kritik, dass die Zahl derer, die die Demo unterstützen, wie auch die Zahl der Aufrufe mit eigenen Positionierungen groß, das politische Spektrum der Gruppen, die zur Teilnahme aufrufen, so breit wie jenes der Redner ist. Mancher nimmt diese Breite wiederum als Beleg dafür, dass es sich um eine »Querfront«-Veranstaltung handelt. Also um eine, die »nach rechts offen« ist. So sieht es jedenfalls Toni Schmitz, Sprecherin des Berliner Verbandes der altehrwürdigen Antikriegsorganisation Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). Da beginnt wohl das Problem für das zehnköpfige Organisatorenteam: In den Chor derer, die sich zum Teil lautstark von der Veranstaltung distanzieren, stimmen neben der DFG-VK weitere wichtige linke und Friedensorganisationen ein: die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) und das globalisierungskritische Netzwerk Attac. Gleichzeitig mobilisieren aber einzelne Landesverbände und etliche Regionalgruppen der drei Organisationen zur Demo. Der DFG-VK-Bundesverband distanzierte sich schon Ende August in einer ausführlichen Erklärung von den Veranstaltern und ihrem Aufruf, die Berliner DFG-VK ruft sogar zu einer Gegenaktion auf. Sie will vor der russischen Botschaft in Berlin mit »Leichensäcken« gegen das Verheizen Hunderttausender im Krieg gegen die Ukraine durch die russische Regierung protestieren. Es spricht einiges dafür, gemeinsam gegen die wachsende Gefahr einer Ausweitung der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine wie auch im Gazastreifen, im Libanon und Israel auf das Zentrum Europas wie auch auf den Jemen und den Iran auf die Straße zu gehen. Und – das ist ein wesentliches Argument von Ralf Stegner – die Friedensfrage nicht Rechten und »Populisten« zu überlassen. Zu letzteren zählt der SPD-Bundestagsabgeordnete auch Sahra Wagenknecht, die wie er auf der Demo eine Rede halten will. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Das machte er am Donnerstag auch auf einer Pressekonferenz der Initiatoren der Demo deutlich. Stegner betonte auch, er sei kein Pazifist und für die Versorgung der Ukraine mit wirksamen Defensivwaffen. Er ist aber auch überzeugt, dass ein möglichst schnelles Ende von Tod, Traumatisierung, Verwundung und Zerstörung in der Ukraine nur mit mehr diplomatischen Initiativen auch Deutschlands möglich ist. Zugleich verwahrt sich Stegner immer wieder gegen den Vorwurf, er trete auf einer Veranstaltung des BSW auf, der Partei von Sahra Wagenknecht. Sie sei nur eine Rednerin, und die Veranstalter hätten sich klar gegen die Teilnahme von Rassisten, Rechten und Antisemiten verwahrt. Für Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der DFG-VK, ist die Distanzierung zumindest gegenüber Gruppierungen wie dem BSW und rechten Kräften nicht glaubwürdig. Er moniert wie Stephan Lindner von der Attac-Pressestelle, dass die Initiatoren der Demo eine Debatte über den Text des Aufrufs letztlich gar nicht zugelassen, sondern auf ihrem eigenen bestanden hätten. Schulze von Glaßer wie auch Lindner kritisieren, dass im Aufruf »an keiner Stelle erwähnt wird, wer den Krieg in der Ukraine begonnen hat«, so Schulze von Glaßer. Außerdem habe die Nie-wieder-Krieg-Gruppe sich geweigert, die Forderung nach »Schutz und Asyl für alle Menschen, die dem Krieg entfliehen wollen, insbesondere für Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine« in den Aufruf aufzunehmen. Das sei ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Aufruf auf Leute aus dem Wagenknecht-Lager und aus konservativen Kreisen zugeschnitten sei, meint Schulze von Glaßer. Das BSW positioniert sich mittlerweile generell vehement gegen die Aufnahme Geflüchteter. Innerhalb von DFG-VK wie auch Attac gibt es heftige interne Auseinandersetzungen darüber, mit wem man zusammen für Frieden demonstrieren darf und mit wem nicht. Das ist nicht erst seit dem Ukraine-Krieg so, sondern begann bereits im Zusammenhang mit der Coronakrise und sogar schon mit den Debatten um teils von Rechten vereinnahmte »Friedenswinter«-Demonstrationen im Jahr 2014. Seitdem gibt es auch Austritte und faktische Ausschlüsse. Wenige Tage vor der Demo haben Attac, DFG-VK und VVN auch eine Broschüre über »Versuche rechter und verschwörungsideologischer Einflussnahme auf die Friedensbewegung« veröffentlicht. Die Darstellungen des Autors Lucius Teidelbaum machen die Schwierigkeit deutlich, einerseits aktions- und bündnisfähig zu bleiben und sich andererseits von den »richtigen« Leuten abzugrenzen. Die erste Handlungsempfehlung darin lautet: »Grundkonsens Antifaschismus«. Dies beinhaltet laut Teidelbaum eine »nachhaltige Distanzierung von Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen, von allen Spielarten der extremen Rechten und ihrer Türöffner*innen«. Dem Anspruch müsse »eine konkrete Praxis folgen«. Wie die dann aussehen kann, lässt der Autor offen, und auch Michael Schulze von Glaßer hat keine ganz klare Antwort darauf. Als die DFG-VK als Teil des Bündnisses »Stoppt das Töten!« Ende 2022 zu einer Friedensdemo mobilisierte, hieß es im Aufruf dazu, für »Menschen aus dem nationalistischen und antidemokratischen Spektrum«, für Rassisten, Antisemiten und Sexisten sei dort ebenso »kein Platz« wie für Personen und Gruppen, die »wissenschaftsfeindlich« seien und »Verschwörungsmythen anhängen«. Solche sehr weitgehenden Ausschlüsse, so Schulze von Glaßer im Gespräch mit »nd«, seien natürlich innerhalb des Verbandes kontrovers diskutiert worden. In späteren Demo-Aufrufen seien sie auch bereits wieder viel weniger umfassend gewesen. Friedensaktivismus bleibt mithin eine Gratwanderung zwischen Forderungen, bei denen sich alle einig sind – aktuell dürfte das zumindest die Mobilisierung gegen die nur zwischen Kanzler Olaf Scholz und der US-Regierung vereinbarte Stationierung weitreichender US-Marschflugkörper in Deutschland sein – und jenen, bei denen es Differenzen gibt. Bei einigen Gruppen scheint das Bedürfnis nach Abgrenzung und einem »Sauber bleiben« größer zu sein als jenes, in wichtigen Fragen breite Bündnisse zu schmieden. Toni Schmitz glaubt zwar schon, dass man Bündnispartner braucht. Doch manche Dinge stören sie und andere in der DFG-VK zu sehr, als dass sie noch eine Möglichkeit der Kooperation mit der »klassischen« Friedensbewegung sieht. Zum Beispiel liefere die »bisher so gut wie keine Ideen, wie gewaltfrei Druck auf Russland zur Beendigung des Krieges ausgeübt werden kann«. Aktionen wie jene der Anti-Atomkraft-Initiative »ausgestrahlt« gegen den russischen Konzern Rosatom und Proteste gegen andere Unternehmen mit russischer Beteiligung würden von der Friedensbewegung bislang »nicht beachtet«. »Gewaltfreie Druckmittel gegen die russische Regierung sind für uns aber die Voraussetzung, um auch seriös den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordern zu können«, betont die Berliner DFG-VK-Sprecherin. Stephan Lindner stört auch, dass auf der Berliner Demo zwei Frauen auf der Abschlusskundgebung sprechen werden, die sich aus seiner Sicht »nicht von der Terrororganisation Hamas« distanziert haben. Gemeint sind die Jüdin und Israelin Iris Hefets von der »Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« und die deutsch-palästinensische Juristin Nadija Samour. Als Beleg für die fehlende Distanz zur Hamas bei beiden sieht Lindner ihre beabsichtigte Teilnahme am von der Polizei vor Beginn aufgelösten »Palästinakongress« Mitte April in Berlin, bei dem auch »Hamas-Sympathisanten« hätten auftreten sollen. Während Attac und die VVN sich nicht offiziell zu der Demonstration erklärt haben, lieferte die DFG-VK wiederum eine ausführliche Erklärung mit sachlich formulierter Kritik, die dem Demo-Orga-Team vielleicht doch die eine oder andere Überlegung wert sein müsste. Zumindest, was demokratische und offene Debatten über Aufrufe betrifft, die fundierte Positionen linker Antimilitaristen betrifft. Trotz Skepsis nach Erfahrungen mit vorangegangenen Demonstrationen sei man »für die neue Demonstrationsplanung offen« gewesen, schreibt die DFG-VK-Spitze. Notwendig sei gemeinsames Agieren allemal, denn: »Die Aufrüstung in Europa schreitet gefährlich voran, und die sicherheitspolitische Lage spitzt sich immer weiter zu.« Allerdings habe sich schnell gezeigt, dass »eine inhaltliche Mitwirkung« nicht gewünscht gewesen sei. Der Aufruf sei von »Nie wieder Krieg« sehr schnell und ohne weitere Debatten veröffentlicht worden. Zur Demo werde man die Mitglieder der DFG-VK nicht mobilisieren, weil sie trotz Möglichkeit zu eigenem Aufruf »später doch als Gesamtmasse unter dem mangelhaften Hauptaufruf subsumiert werden« würden. | Jana Frielinghaus | Die Friedensdemo, die am 3. Oktober in Berlin stattfinden soll, diffamieren viele als Veranstaltung von »Kremlpropagandisten«. Deutliche Kritik an den Veranstaltern kommt jedoch auch aus antimilitaristischen Gruppen. | Krieg und Frieden | Politik & Ökonomie | Politik Friedensbewegung | 2024-09-27T17:44:43+0200 | 2024-09-27T17:44:43+0200 | 2024-09-30T09:05:16+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185608.friedensbewegung-streit-unter-friedensfreunden.html |
Land unter in der Asse? | Zwar strömen schon seit Jahrzehnten täglich bis zu 12 000 Liter Salzwasser in die Schachtanlage Asse II, in der unter anderem Fässer mit radioaktiven Abfällen eingelagert sind. Und bislang konnte der Zulauf kontrolliert werden. Doch zuletzt nahm er an einigen Stellen bedrohlich zu. Kritiker warnen davor, dass die Anlage unkontrolliert mit Wasser volllaufen könnte – mit dramatischen Folgen für Umwelt und Bevölkerung. Die Schachtanlage Asse II im niedersächsischen Kreis Wolfenbüttel ist ein ehemaliges Salzbergwerk. Zwischen 1967 und 1978 wurden in die offiziell als »Versuchsendlager« firmierende Grube rund 126 000 Fässer mit schwach und mittelradioaktivem Atommüll sowie chemischen Abfällen gebracht, darunter auch rund 100 Tonnen radioaktives Uran, 87 Tonnen strahlendes Thorium, 28 Kilogramm Plutonium und 500 Kilogramm extrem giftiges Arsen. Unklar ist, ob entgegen offiziellen Beteuerungen nicht auch hochradioaktiver Müll verklappt wurde. Während die Nachbarschächte Asse I und Asse III schon früher vollgelaufen waren und aufgegeben wurden, rinnt seit 1988 Salzwasser auch in Asse II. Doch seit ein paar Monaten verändert sich der Salzwasserzufluss im Bergwerk: Die Betreiberin des Schachts, die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), hat den Großteil des Wassers über Jahre überwiegend in 658 Metern Tiefe in der sogenannten Hauptauffangstelle gesammelt, analysiert, nach radiologischer Freigabe nach oben abtransportiert. Dort ist allerdings ein Rückgang der zufließenden Wassermengen zu beobachten. Stattdessen verzeichnet die BGE an mehreren Stellen unterhalb von 658 Metern einen stärkeren Zulauf. Bei den etwas tiefer liegenden Sammelstellen – direkt vor den Einlagerungskammern des Atommülls auf der 750-Meter-Ebene – ist laut BGE noch kein Anstieg des Salzwasserpegels zu beobachten. Die Beobachtungsintervalle würden hier zur Sicherheit aber verkürzt. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. An ihren Plänen zur mittelfristigen Rückholung der Abfälle hält die BGE nach eigenem Bekunden vorerst weiter fest. 2010 hatte ein wissenschaftlicher Optionenvergleich ergeben, dass eine sichere Schließung von Asse II nur nach einer Bergung der giftigen Abfälle zu gewährleisten wäre. Bisherigen Planungen der BGE zufolge soll die Räumung 2033 beginnen und rund 4,5 Milliarden Euro kosten. Ob die Rückholung tatsächlich gelingt, war von Beginn an offen – nirgendwo auf der Welt wurde bislang ein unterirdisches Atommülllager geräumt. Eine sogenannte Gegenflutung des Bergwerks, die das Ende der Rückholpläne bedeutete, plant die BGE derzeit nicht. »Diese Notfallmaßnahme wird nur bei einem technisch nicht mehr beherrschbaren Lösungszutritt umgesetzt«, sagte BGE-Chefin Iris Graffunder der »Braunschweiger Zeitung«. Dennoch werden Vorsorgemaßnahmen zur Stabilisierung – etwa die Betonierung bestimmter unterirdischer Hohlräume – vorangetrieben. Derzeit versuchen Fachleute laut BGE, mögliche Schadstellen ausfindig zu machen und zu reparieren. Aus Kreisen des Bundesumweltministeriums heißt es, dass die Situation in der Asse ernst genommen wird. Die atomrechtlichen und bergrechtlichen Aufsichtsbehörden in Niedersachsen und im Bund beobachteten die Lage und den Wassereintritt permanent. Das Ministerium gab der BGE auf, fortlaufend und detailliert über die Vorgänge in der Asse zu berichten. Der Betreiber soll zudem Vorschläge vorlegen, wie eine unkontrollierte Ausbreitung von Salzlösung im Bergwerk verhindert und die Rückholung der radioaktiven Abfälle gesichert werden kann. Auch Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer (Grüne) zeigt sich besorgt. »Das Atomdesaster in der Asse schreibt ein neues Kapitel«, sagte er. Die Vorfälle zeigten, dass die Rückholung der radioaktiven Abfälle beschleunigt werden müsse. Die Anti-Atom-Organisation Ausgestrahlt wirft der BGE vor, die Situation in dem maroden Atomlager nicht im Griff zu haben und ungeachtet eigener Bekundungen eine absichtliche Flutung des Bergwerks vorzubereiten. Stattdessen müsse mit aller Kraft an der Bergung gearbeitet werden. Sonst drohen laut Helge Bauer von Ausgestrahlt »unkalkulierbare Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung und die Umwelt«. | Reimar Paul | In die Schachtanlage Asse II dringt verstärkt Wasser ein. Ob Pläne zur Bergung der radioaktiven Abfälle rechtzeitig umgesetzt werden können, ist ungewiss. Kritiker warnen vor unkalkulierbaren Folgen. | Atommüll, Bedingungsloses Grundeinkommen, Endlager, Niedersachsen | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Atommülllager | 2024-05-22T15:01:57+0200 | 2024-05-22T15:01:57+0200 | 2024-05-24T11:48:34+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1182354.land-unter-in-der-asse.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Kreuzkröte wird Chefsache | »Es müssen jetzt die Genehmigungen erfolgen für die nächste Legislatur«, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Ende der Neubautour der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Das, was die Unternehmen an sechs Stationen von Johannisthal bis zum Märkischen Viertel am Montag dem Pressetross und den Senatsvertretern vorgeführt haben, sei das Ergebnis von Baugenehmigungen von vor drei, vier, fünf oder gar sechs Jahren, sagt der Regierende. Der frisch gebackene Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel (Linke) ist derzeit nicht das Ziel von Müllers Kritik, sondern es ist nun Umweltsenatorin Regine Günther (Grüne), die aus Termingründen nicht mehr an der Endstation Märkisches Viertel dabei ist. Das aktuelle Reizthema des SPD-Politikers ist das Entwicklungsgebiet Pankower Tor, die riesige Fläche des ehemaligen Güterbahnhofs, die sich parallel der Eisenbahn zwischen den Bahnhöfen Pankow und Pankow-Heinersdorf erstreckt. »Aus dem Weg räumen« müsse man die Probleme dort, fordert Müller. Es handelt sich um Kreuzkröten, die sich auf der inzwischen seit über einem Jahrzehnt brach liegenden Fläche angesiedelt haben. Regine Günther ahnte schon, dass der Regierende Bürgermeister später auf diesen Punkt zu sprechen kommen würde, immerhin war am Nachmittag wieder ein Spitzengespräch zum Wohnungsbau mit ihr, Bausenator Scheel, Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) und eben Müller angesetzt. »Wir wissen, dass die Kröten wegmüssen«, sagt Günther zu »nd«. Denn der mögliche zur Verfügung stehende Platz reiche nicht für einen Lebensraum der streng geschützten Art auf dem Gelände, dafür müssten es zehn Hektar sein - es misst insgesamt 34 Hektar. Schon länger würden in ihrem Haus Überlegungen angestellt, wie die Umsiedlung vonstatten gehen könnte. Wegen des trockenen Hitzesommers habe es bereits eine Rettungsaktion gegeben, berichtet sie. »Angesichts des weltweiten Artensterbens kann aber nicht die Devise sein: Wir bauen und der Artenschutz stört«, so Günther. »Wir tun, was wir können, um eine Umsiedlung vor Ende 2021 zu ermöglichen«, sagt die Senatorin. Wenn die Kreuzkrötenpopulation schon seit vielen Jahren bekannt sei, frage sie sich, warum die Umsiedlung nicht schon viel früher angeleiert worden sei. In dem Thema ist noch viel Musik drin, denn immerhin sollen auf der Fläche 2000 Wohnungen gebaut werden. Zwar liegt die Fläche außerhalb des S-Bahnrings, doch die Nachfrage dürfte für die zentral in Pankow gelegenen Wohnungen, von denen ein Großteil zu bezahlbaren Mieten auf den Markt kommen soll, enorm sein. »Wir hatten 1300 Interessenten für 19 Wohnungen in einem Neubau in Wilmersdorf«, berichtet Gesobau-Vorstandschef Jörg Franzen. Für 52 neu gebauten Wohnungen der Degewo auf der Weddinger Seite des Mauerparks gab es rund 3000 Anfragen, ist auf der Tour zu erfahren. Mit solchen Zahlen kann WBM-Geschäftsführerin Christina Geib für 191 Wohnungen an der Friedenstraße 85-90 in Friedrichshain nicht aufwarten. Denn das Unternehmen schließt die Angebote spätestens, wenn 60 Interessenten zusammengekommen sind. Sieben Jahre hat das Projekt von der Idee bis zur Realisierung gebraucht, inklusive Einschaltung der Wohnungsbau-Leitstelle, um Unstimmigkeiten aus dem Weg zu räumen. Nach Ansicht der landeseigenen Unternehmen ein realistischer Zeitraum, der allerdings oft überschritten werde. Fast jungfräulich sind noch die Buckower Felder, auf denen die Stadt und Land 900 Wohnungen zusammen mit zwei gemeinwohlorientierten Partnern entwickeln will. Wie bei allen neuen Projekten liegt der Anteil geförderten Wohnraums bei 50 Prozent. Rund 20 Prozent der Wohnungen sollen von den Partnern errichtet werden, denen das Gelände im Erbbaurecht zur Verfügung gestellt werden. »Obwohl hier noch nicht viel Baugeschehen zu sehen ist, haben wir den internen Aufwand bereits zu 30 Prozent erfüllt«, sagt Geschäftsführer Ingo Malter bei der Visite auf dem Stoppelfeld am südlichen Neuköllner Stadtrand. Das Baugrundstück ist vom Land eingebracht worden und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat das Verfahren an sich gezogen. »Das hat die Genehmigungen für uns vereinfacht, weil wir weniger Ansprechpartner hatten«, so Malter. Corona, so die übereinstimmende Aussage aller Beteiligten, hatte bisher auf die Neubau-Fertigstellungen bis auf wenige Ausnahmen keinen Einfluss. Allerdings sind viele Baugenehmigungsverfahren über Monate praktisch zum Erliegen gekommen, berichtet einer der Unternehmenschefs. Er glaube daher nicht, dass die geplanten Baubeginne für 10 000 Wohnungen dieses Jahr zu halten seien. | Nicolas Šustr | Der landeseigene Neubau kann noch nicht mit den ambitionierten Plänen von Rot-Rot-Grün Schritt halten. Der neue Sündenbock ist die Umweltsenatorin. | Berlin, Pankow, Wohnen | Hauptstadtregion | Berlin Wohnungsbau | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1140847.kreuzkroete-wird-chefsache.html |
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Polnisch-ukrainische Fußballdiplomatie | Ursprünglich sollte es die Fußball-Weltmeisterschaft sein. Bereits im Jahre 2003 sprachen sich die damaligen Staatspräsidenten Polens und der Ukraine, Aleksander Kwasniewski und Leonid Kutschma, für ein gemeinsam ausgerichtetes großes Sportfest aus. Schließlich wurde 2007 beiden Ländern die Fußball-Europameisterschaft 2012 anvertraut. Neben allen sportpolitischen Motiven gab es dafür auch handfeste politische Gründe, die vor allem auf der polnischen Seite entscheidendes Gewicht hatten und haben. Das Land versteht sich nach wie vor als wichtiger Anwalt für die EU-Beitrittsperspektive der Ukraine. Die soll aufrechterhalten bleiben, auch wenn eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine mittlerweile in weite Ferne gerückt ist. Nachdem das ukrainische Parlament am 24. August 1991 noch innerhalb der Sowjetunion die Unabhängigkeit der Ukraine verkündet hatte, war Polen der erste Staat, der Kiew diplomatisch anerkannte. Im Oktober 1991 besuchte Polens damaliger Außenminister Krzysztof Skubiszewski die Sowjetunion. Nach seiner Rückkehr sprach er von einer Reise in vier Länder: in die Sowjetunion, nach Russland, in die Ukraine und nach Belarus. Kein führender Außenpolitiker eines anderen Staates hätte zu jener Zeit diese Aussage getroffen. Als der Staatssozialismus in Polen und wenig später die Sowjetunion zusammenbrachen, traten in der Ostpolitik des Landes Traditionen hervor, die im Feuersturm des Zweiten Weltkriegs untergegangen waren. Zwar stellte niemand die Grenzen zu den östlichen Nachbarländern infrage, doch erhielten die Beziehungen zu Kiew und Minsk im diplomatischen und politischen Kräftespiel mit Moskau strategische Bedeutung. Eine geopolitische Situation kehrte zurück, die viele an die Zeiten Józef Pilsudskis erinnerte, der nach dem Ersten Weltkrieg eine Föderation aus Polen, Belarus und der Ukraine als Bollwerk gegen Sowjetrussland zu schmieden suchte. Auch wenn das ein Traum blieb und Pilsudskis Polen sich mit bitteren Konsequenzen anschickte, ohne selbstständige Ukraine Teil des Cordon sanitaire zu werden, war die Vision eines möglichen Gegengewichtes zum übermächtigen Russland geboren. Neue Kraft erhielt dieser alte politische Gedanke durch Polens Beitritt zur EU. Einstimmig erklärten Spitzenpolitiker aller politischen Lager, die Osterweiterung der EU könne erst nach einem künftigen Beitritt von Belarus und der Ukraine als abgeschlossen gelten. Dabei störte wenig, dass andere EU-Partner - vor allem aus Gründen des sensiblen Verhältnisses zu Moskau - in dieser Frage sehr viel vorsichtiger agierten. Die Außenminister der polnischen Linksdemokraten (SLD), allen voran Wlodzimierz Cimoszewicz, stellten dabei stärker die tatsächliche politische Gewichtung im Osten Europas in Rechnung, nach den Wahlerfolgen der Kaczynski-Brüder kehrte im Herbst 2005 allerdings Pilsudskis Föderationsidee in neuer Gestalt zurück. Polens Außenpolitik sah sich insbesondere nach dem Erfolg der »orangefarbenen« Revolution für viele Jahre gefordert, die Westintegration der Ukraine nach besten Kräften zu fördern. Ab sofort gab es aus Sicht Warschaus am Dnepr nur noch »prowestliche« oder »prorussische« Politiker. Daran hat sich im Prinzip gar nicht so viel geändert, allerdings wurden die außenpolitischen Rechnungen Polens spätestens mit der Niederlage des mittlerweile tief zerstrittenen »orangefarbenen« Lagers in der Ukraine nüchterner. Am Prinzip der Vertiefung und Verbesserung der Beziehungen zur Ukraine gibt es keine Abstriche, doch soll das nicht mehr zu Lasten der ohnehin nicht einfachen Beziehungen zu Moskau gehen. Warschaus Außenpolitik ist in dieser Frage in die Reihen der EU-Diplomatie zurückgekehrt, nimmt den eigenen Anspruch, in der EU-Nachbarschaftspolitik gegenüber dem Osten Vorreiter zu sein, ausgewogener wahr. Die Europameisterschaft wird in den polnischen Medien vor allem als großes Sportereignis gesehen, das zugleich die gegenseitigen Beziehungen zwischen den beiden Ausrichterländern befruchten wird. Anders als zwischen den Niederlanden und Belgien oder zuletzt zwischen Österreich und der Schweiz bestehen zwischen Polen und der Ukraine auffallende politische Unterschiede. Polen versteht sich dabei als ein Partner, dessen Weg auch dem östlichen Nachbarn offen stehen sollte. | Krzysztof Pilawski, Warschau | Die gemeinsame Austragung der Fußball-EM 2012 durch Polen und die Ukraine hat eine lange politische Vorgeschichte. Polen betrachtete sich als eine Art politischer Pate des größeren Nachbarlandes. | Fußball-EM 2012, Polen, Ukraine | Sport | Sport | https://www.nd-aktuell.de//artikel/229097.polnisch-ukrainische-fussballdiplomatie.html |
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Altersarmut in Sachsen wächst | Dresden. Die Altersarmut in Sachen nimmt zu. Immer mehr Menschen müssen die 2003 eingeführte Sozialhilfe für Rentner in Anspruch nehmen, wie die Zwickauer Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Linkspartei) am Samstag mitteilte. Sie hat Zahlen zu dieser Leistung beim Statistischen Landesamt in Kamenz erfragt: »Es ist bitter, dass Menschen in ihrem Ruhestand nicht von ihrer Rente leben können und zum Sozialfall werden.« Demnach sei die Zahl Betroffener 2013 um 6,3 Prozent auf 10.966 gestiegen (2003: 6.132). Laut Statistik bezogen 2013 Frauen (6.916) diese Leistung wesentlich häufiger als Männer (4.050).
Für die ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Altersarmut ist vor allem in Ostdeutschland ein Thema. Hier sind viele Menschen nach der Wende immer wieder arbeitslos geworden - mit fatalen Folgen. Denn damit haben sie auch Rentenansprüche verloren. | Altersarmut, Grundsicherung, LINKE, Rentner, Sabine Zimmermann, Sachsen | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/941118.altersarmut-in-sachsen-waechst.html |
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Es betrifft alle | Es war im Juli, als es Altkanzler Schröder genug war. In einem Interview beklagte er, dass »fast die gesamte politische Debatte von der Klimafrage dominiert wird«. Fragen wie Wettbewerbsfähigkeit, Bildung oder Digitalisierung würden »überdeckt.« Schon klar: Der einstige »Auto-Kanzler« kann schlecht aus seiner Haut. Doch dürfte er hier ausnahmsweise Zustimmung auch von Leuten erhalten, die seine sonstige Agenda ablehnen. Niemand kommt derzeit daran vorbei, in Umfragen landet »das Klimathema« auf Platz 1 der drängendsten Probleme. Doch zugleich wächst bei einigen das Unbehagen über diesen »Hype«. Gemeint sind hier nicht Tatsachenleugner oder Parteistrategen in SPD, CDU oder Linkspartei, die meinen, man solle lieber andere Felder beackern, weil auf diesem nur die Grünen ernteten. Die Rede ist von engagierten Leuten in Gewerkschaften, sozialen Einrichtungen oder linken Organisationen, die Klimapolitik auch wichtig finden - aber trotzdem wie Schröder fragen: Gibt es nicht noch andere Themen? Was ist mit Bildung, Altersarmut, Flüchtlingen? Teils schwingen dabei auch Ressentiments mit. »Klima« sei nur etwas für Besserverdienende, Metropolenbewohner, »Lifestyle-Grüne«. Nun kann man nicht bestreiten, dass derzeit Klima mehr Welle macht als Missstände in Schulen. Doch was hat das mit »Fridays for Future« zu tun? Wurde denn mehr über Selektion, Leistungsdruck und Lehrermangel diskutiert, bevor eine junge Schwedin die jüngste Klimabewegung anstieß? Entscheidender noch aber ist: Die Hinwendung zum Klima ist überfällig. Sie holt nach, was seit 1972 versäumt wurde, als der Club of Rome auf das Thema aufmerksam machte. Klare Formulierungen findet im Gespräch der Soziologe Klaus Dörre: Das kapitalistische Wirtschaftssystem habe sich in eine »ökonomisch-ökologische Zangenkrise« manövriert: »Ressourcenintensives Wachstum - das wichtigste Mittel, um Wirtschaftskrisen und gesellschaftliche Spaltungen im Kapitalismus zu überwinden - funktioniert nicht mehr, denn es treibt zugleich die Zerstörung der Umwelt und unserer Lebensgrundlagen voran.« Gefragt sei eine »dramatische Veränderung« unserer Produktionssysteme und Lebensweisen, eine große Transformation. Die Bedeutung von Fridays for Future liegt schon jetzt darin, die Beharrungskräfte unter Zugzwang zu bringen. Bewegungen haben Konjunkturen, ewig wird die aktuelle Mobilisierungsintensität nicht währen. Schon deshalb kommt es darauf an, jetzt so viele Pflöcke einzuschlagen wie möglich. Genau besehen verdrängt oder überlagert der Klimawandel die soziale Frage nicht. Im Gegenteil zwingt er dazu, über die Ungleichheit zu reden, auf der der Energie- und Ressourcenverbrauch des globalen Nordens beruht. Die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wird mehr Menschen zwingen, die Heimat zu verlassen. Die soziale Frage zeigt sich aber auch hierzulande, wo von Lärm und Luftverschmutzung vor allem Einkommensarme betroffen sind, die kein Geld für ein Haus im Grünen haben, sondern an der zugestauten Hauptstraße wohnen. »Es kann keine ökologische Nachhaltigkeit geben ohne soziale Nachhaltigkeit«, sagt Dörre, der das Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Universität Jena mit leitet. Diese soziale Dimension lässt sich beziffern. Global verursacht die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung drei Prozent der Emissionen, die reichsten zehn Prozent jedoch 49. Auch hierzulande verbraucht mehr Energie und Ressourcen, wer mehr Geld hat - unabhängig von der Selbsteinschätzung. Das zeigt etwa eine Studie des Umweltbundesamts von 2016: Menschen aus einfacheren Milieus, die sich nicht für Ressourcensparer halten, belasten die Umwelt am wenigsten. Schwerere Autos, größere Wohnungen und häufigere Flugreisen bestimmen die individuelle Ökobilanz am stärksten, Bio-Essen oder Mülltrennung wiegen das nicht auf: »Seit der Jahrtausendwende geht die Steigerung klimaschädlicher Emissionen fast ausschließlich auf die Zunahme von Lebensstilen zurück, die Luxuskonsum beinhalten«, sagt Dörre. In der Debatte spiegelt sich das zu wenig. Zu oft sind die vorgeschlagenen Maßnahmen marktförmig - Fliegen, Benzin, Lebensmittel, all das soll teurer werden. Das mag eine Wirkung haben, aber gerecht ist es nicht. Denn wer gut verdient, muss für seinen Konsum nur etwas mehr berappen. Den Armen bleibt nur Verzicht. »Wo Luxus anfängt, darüber gibt es sicher unterschiedliche Ansichten«, sagt Dörre. Er versteht darunter nicht »die Mallorca-Reise der Putzfrau oder das Häuschen des Daimler-Arbeiters«, sondern »das zweite Auto oder die 160 Meter lange Raketenyacht eines Roman Abramowitsch«. Diese soziale Dimension ist nicht nur moralisches Beiwerk. Die nötigen radikalen Veränderungen sind auf gesellschaftliche Mehrheiten angewiesen, die ihre Basis auch weit außerhalb des Spektrums derjenigen suchen müssen, die sich selbst als umweltbewusst verstehen. Will man dabei nicht soziale Verwerfungen vertiefen, müssen auch Beschäftigte in klimaschädlichen Branchen oder Menschen, die auf ihr Auto angewiesen sind, Alternativen sehen können. Verlässlicher und günstiger öffentlicher Verkehr auch dort, wo sich das nicht »rechnet«, energieeffiziente Häuser, die nicht auf Kosten der Mieter gehen - sozialökologische Politik kann und muss an konkreten Bedürfnissen anknüpfen. Auf der anderen Seite darf das Räsonieren über den Mittelschichtbias der »Zivilgesellschaft« nicht in eine unproduktive Abwehrhaltung führen. Statt von außen auf die Unzulänglichkeiten der Klimabewegung zu zeigen, müssen in dieser Bewegung jene Positionen gestärkt werden, die nicht Halt machen bei einer Ökomodernisierung des Kapitalismus. Wem blinde Flecken auffallen, der mische sich ein - wie etwa jene Oldenburger Erwerbslosen, die mit gegen Agrarkonzerne demonstrieren und sagen, wer die Abkehr von Massentierhaltung fordert, müsse auch den Kampf gegen Hartz IV unterstützen. Denn der Hartz-Regelsatz sieht den Bioladen nicht vor. Noch lauter als die Kritik an Billigflügen müsste also der Ruf nach günstigen Preisen für Bus und Bahn werden, nach einem massiven Ausbau des Streckennetzes und besserer Taktung. Denn die Kräfte für eine sozial-ökologische Transformation führen die Meinungsumfragen noch lange nicht an. | Ines Wallrodt | Niemand kommt derzeit daran vorbei, in Umfragen landet »das Klimathema« auf Platz 1 der drängendsten Probleme. Doch zugleich wächst bei einigen das Unbehagen über diesen »Hype«. Warum Klimaschutz und soziale Frage nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. | Armut, Klimabewegung, Klimaschutz | Politik & Ökonomie | Politik Klima und Ungleichheit | 2019-09-19T15:27:29+0200 | 2019-09-19T15:27:29+0200 | 2023-01-21T13:40:40+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1126031.es-betrifft-alle.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Ultima Ratio Militär? | Sarkasmus ist nicht gut für die Seele, doch die Lage fördert ihn. Darum: Herzlichen Dank nach Moskau, besonders an jene, die den Ukraine-Krieg jetzt noch totaler ins Endlose treiben. Sie geben dem Westen jeden Anlass, um Militär zur Ultima Ratio zu erklären. Dabei sind Nato-Chef Stoltenberg und Deutschlands Verteidigungsminister Pistorius das treibende Gespann: An der Nato-Ostflanke wird die Bundeswehr in Litauen – nebst Kräften der bereits bestehenden Nato-Battle-Group – dauerhaft 4000 Soldaten stationieren. Kasernen und Wohnungen entstehen, man schafft Übungsplätze, lagert Munition und Material ein. Ein enormer Zuwachs an Kampfkraft – der jedoch ein trügerisches Gefühl von Sicherheit erzeugt. Gerade angesichts der höchst fragilen Verfassung in Putins Staat weiß niemand, wann beschworene Besonnenheit endet. Linkssein ist kompliziert. Wir behalten den Überblick!Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen. Jetzt abonnieren! Weder der aktuell tobende noch ein Krieg, gegen den die Nato rüstet, können Frieden schaffen. Wer öffnet Wege zu politischer Ratio? Die Uno? Kaum. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist tot. Afrikas Vermittler blitzten in Kiew wie Moskau ab. Und womit tun sich Kanzler- und Auswärtiges Amt hervor? Auch nur mit Kriegsrhetorik. | René Heilig | René Heilig sagt sarkastisch herzlichen Dank nach Moskau, das dem Westen jeden Anlass bietet, um das Militär zur Ultima Ratio zu machen – der nun die Nato-Battle-Group in Litauen deutlich aufstockt. | Russland, Ukraine | Meinung | Kommentare Kommentar | 2023-06-26T16:10:44+0200 | 2023-06-26T16:10:44+0200 | 2023-06-28T20:42:29+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1174280.kommentar-ultima-ratio-militaer.html |
Berlin erwartet weit über 20.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine | Berlins Integrationssenatorin Katja Kipping (Linke) rechnet inzwischen mit weitaus mehr Menschen aus der Ukraine, die in der Hauptstadt Zuflucht suchen werden. Zunächst ging der Senat von 20.000 Kriegsflüchtlingen aus, die Berlin nach dem Königsteiner Schlüssel aufnehmen könnte. »Wir werden uns auf deutlich mehr einstellen müssen«, sagte Kipping am Donnerstag im Sozial- und Integrationsausschuss des Abgeordnetenhauses. Und: »Das, was auf uns zukommt, wird enorm.« Nach vorläufigen Zahlen ihrer Verwaltung sind allein am Mittwoch mit 1700 Geflüchteten fast so viele eingetroffen wie am Montag und Dienstag zusammen. So viele Menschen wie am Mittwoch würden sich normalerweise in zwei bis drei Monaten an das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten wenden. Und selbst bei diesen Zahlen sei klar: »Alles, was wir bisher hier in Berlin haben, ist die oberste Eisbergspitze«, erklärte Kipping. Da die Einreise visafrei möglich ist, ist niemand gezwungen, sich im Ankunftszentrum in Reinickendorf registrieren zu lassen. Über Geflüchtete, die etwa mit dem Pkw in Berlin an- und direkt bei Verwandten oder Bekannten unterkommen, »haben wir null Zahlen«, sagte Kipping. »Wir sind ja kein Überwachungsstaat.« Was die aktuelle Unterbringungssituation der Geflüchteten betrifft, war die Senatorin bemüht, mit Blick auf die »in unglaublicher Geschwindigkeit« in Berlin bereitgestellten Unterkünfte Entwarnung zu geben: »Jeder hat eine Unterkunft bekommen.« Zumindest bis Donnerstagvormittag. Klar ist, dass es ohne die von Kipping angekündigte »großflächige Ankunftsstruktur« eng werden dürfte. Schon am Mittwoch mussten nach Angaben Kippings 1000 der 1700 Ankommenden in anderen Bundesländern untergebracht werden. Und das wäre ja auch nicht automatisch schlecht: »Die Unterkünfte, die in Brandenburg angeboten werden, sind toll.« Im benachbarten Bundesland stünde für geflüchtete Familien mit Kindern sogar ein Pferdehof bereit. Ob in Berlin oder Brandenburg: Für vor dem Krieg geflohene Kinder gelte dabei grundsätzlich die Schulpflicht, ergänzte Kipping. An der Einrichtung neuer Willkommensklassen arbeite die Verwaltung von Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) bereits. Busse selbst bestätigte am Donnerstag, dass die aktuelle Zahl der in Berlin speziell für geflüchtete Kinder und Jugendliche eingerichteten Willkommensklassen »bei Weitem« nicht ausreichen werde. »Aber das ist nicht in 24 Stunden zu regeln«, so die Senatorin im Bildungsausschuss zu der geforderten Erweiterung der Kapazitäten. Zudem sei »die aktuelle Lage so schwer einzuschätzen«. Wichtig sei daher zunächst, für jedes aus der Ukraine geflüchtete Kind in einem regulären Klassenverband »einen Platz zu schaffen, damit es abgelenkt ist«. | Rainer Rutz | Berlin muss sich nach Einschätzung von Integrationssenatorin Katja Kipping (Linke) auf weitaus mehr Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine einstellen als gedacht. Auch die Schulen der Hauptstadt sind gefordert, neu ankommende Kinder rasch zu integrieren. | Astrid-Sabine Busse, Berlin, Bildungspolitik, Die Linke, Katja Kipping, Ukraine | Hauptstadtregion | Berlin Krieg in der Ukraine | 2022-03-03T17:36:16+0100 | 2022-03-03T17:36:16+0100 | 2023-01-20T19:07:14+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1161842.berlin-erwartet-weit-ueber-kriegsfluechtlinge-aus-der-ukraine.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Justiz lässt sich Zeit bei Loveparade | Duisburg. Im Loveparade-Strafverfahren ist sechseinhalb Jahre nach dem Unglück weiterhin offen, ob es einen Gerichtsprozess geben wird. Das Oberlandesgericht Düsseldorf kann auch noch nicht sagen, wann es darüber entscheidet. Das Landgericht Duisburg hatte im Frühjahr 2016 die Anklage wegen starker Mängel nicht zur Hauptverhandlung zugelassen. Die Staatsanwaltschaft Duisburg legte Beschwerde ein. Derzeit liefen diverse Fristen zur Stellungnahme für die Verteidiger, teilte das O... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Ob es zum Gerichtsprozess kommt, ist weiterhin unklar | Duisburg, Justiz, Nordrhein-Westfalen | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1037908.justiz-laesst-sich-zeit-bei-loveparade.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Zwischen Ruhe und Aggression | Mit einem schwierigen Spagat will Alba Berlin den verpatzten Start in die Play-offs der Basketball-Bundesliga wettmachen. Nach der 71:76-Auftaktniederlage im Viertelfinale gegen die Frankfurt Skyliners forderte der Berliner Trainer Luka Pavicevic mehr Ruhe von seiner Mannschaft, Center Adam Chubb verlangte dagegen mehr Aggressivität. Bereits am Donnerstag muss der achtmalige Meister die Vorgaben beim zweiten Spiel in Frankfurt umsetzen, anderenfalls steht Alba am kommenden Sonntag in eigener Halle bereits im Viertelfinale mit dem Rücken zur Wand. »Wenn wir noch einmal so auftreten, ist es schnell vorbei«, warnte Nationalspieler Steffen Hamann. Erschöpfung beim Eurocup-Finalisten wollte Pavicevic nach ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Alba Berlin verlor Play-off-Auftaktspiel | Alba Berlin, Basketball | Sport | Sport | https://www.nd-aktuell.de//artikel/170804.zwischen-ruhe-und-aggression.html |
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Eine Verwandlung, die nicht nur Freiheit bedeutet | Die 29-Jährige Transgender Naomi hatte schon immer das Gefühl, das etwas mit ihr nicht stimme: »Mit 18 Jahren dachte ich, ich sei homosexuell. Ich war wütend, weil ich die von der Gesellschaft und von der Familie erwartete soziale Rolle nicht erfüllen konnte«, berichtet sie. Erst mit 25 Jahren und nach reichlich Recherche stellte sie fest, dass sie weder homosexuell noch ein Mann sei. »Die Situation hatte absolut nichts mit meinen sexuellen Präferenzen, sondern mit meiner sexuellen Identität zu tun.« Wie Naomi geht es vielen Transgendern. Und obwohl sie in Deutschland viele Rechte genießen, ist das Leben hierzulande keineswegs einfach. So steht es Transgendern seit 1980 gesetzlich zu, ihren Vornamen und die Geschlechtsangabe in ihrem Personalausweis zu ändern. Hinzu kommt, dass im Jahre 2011 das Gesetz abgeschafft wurde, das Unfruchtbarkeit zur Voraussetzung für die Änderung des Geschlechtseintrages machte. Für Naomi waren das aber nicht die drängendsten Fragen. Entscheidend war es für sie, den Unterschied zwischen Geschlechtsidentität, Präferenzen und sexueller Orientierung zu erkennen. Das erste gibt an, wer man ist – Mann, Frau oder ein drittes Geschlecht. Das Zweite zeigt, zu welchem Geschlecht man sich sexuell angezogen fühlt. Und die Orientierung beschreibt die Art der Beziehung. »Die Geschlechtsidentität zeigt lediglich, wie man sich fühlt und sich selbst kennen lernt«, so Naomi. Henry, der früher eine Frau war, erlebte es anders: »Ich wusste von klein auf, dass ich ein Junge bin. Ich spielte lieber mit Jungs, verstand sie besser als Mädchen. Aber ich konnte nichts tun. Ich spielte die Rolle, die von der Gesellschaft erwartet wurde«, sagt der 42-Jährige Transgender. »Ich lebte das Leben einer Frau, heiratete und bekam Kinder. Die ganze Zeit versuchte ich eine gute Frau, Ehefrau und Mutter zu sein. Doch ich litt in meiner Ehe. Ich versuchte das Gefühl, ein Mann zu sein, zu ignorieren, dachte ich sei paranoid. Erst mit 39 Jahren verstand ich, wer ich wirklich bin.« Naomis und Henrys Familien taten sich schwer mit dieser Erkenntnis. So brach Naomis konservativer Bruder jeglichen Kontakt zu ihr ab. Und ihre Mutter besteht noch heute darauf, sie mit ihrem alten Namen anzusprechen. Nur ihre Schwester und ihr Vater gewöhnten sich mit der Zeit langsam daran, sind verständnisvoller und akzeptieren es. Naomis Leiden begann schon, nachdem sie bekannt gab, homosexuell zu sein, da ihre Familie zu Beginn selbst das nicht akzeptierte. Henrys Sorge galt seiner Tochter, die erst 14 Jahre alt war, als er seine wahre Identität preisgab. Das Mädchen fürchtete damals, keine Mutter mehr zu haben. In Gesprächen mit Psychiatern erfuhr sie jedoch, dass diese Situation normal sei, öfters vorkomme und dass alles gut werden würde. So verteidigte Henrys Tochter schließlich sogar ihre Mutter, die zu einem Mann wurde, vor ihren Großeltern. In der Schulzeit war an solches Verständnis nicht zu denken. Ihre Mitschüler akzeptierten Naomis und Henrys Anderssein nicht. Oft wurde Naomi, damals noch ein schüchterner Junge, deswegen geächtet. Sie widmete sich dem Gedichteschreiben, machte Musik. Henry, damals noch ein Mädchen, wurde als Teenager sogar geschlagen – und das nicht nur einmal. »Heute widerspricht mir wegen meines maskulinen Aussehens keiner mehr«, sagt er. Doch Naomi leidet noch heute. Ihre Stimme ist tiefer, daher begleitet Henry sie stets. Sie trägt ausschließlich neutrale Kleidung, keine Schminke, um die Leute nicht zu verärgern. Zudem möchte sie nicht, dass sie die Verwandlung mitbekommen, damit sie sie nicht verletzen. In Naomis Beruf blieb nichts, wie es war: Sie ist Journalistin, alles lief gut, bis sie im Büro von ihrer Verwandlung erzählte. Naomi wurde gekündigt, allerdings mit einer anderen Begründung. Mitten in ihrer Transformation wechselte sie die Agentur. Zu Beginn lief alles gut. Alle dachten, sie sei ein homosexueller Mann. Nach ihrer Verwandlung änderte ihr Arbeitgeber sogar ihren Namen, ihre Email-Adresse, erlaubte ihr die Damentoilette zu benutzen – alles lief auf offizieller Ebene. Doch inoffiziell wurde ein Mangel an Wertschätzung von Seiten der Kollegen und des Vorgesetzten offensichtlich. »Sie nahmen mich nicht mehr Ernst und ignorierten meine Themenvorschläge für Artikel. Zum Schluss bekam ich nicht mal mein Geld«, sagt sie. Im neuen Job laufe dagegen alles besser, dort stellte sich Naomi als transformierte Frau vor. Henrys Arbeitgeber war von Anfang sehr direkt, sagte, dass er nicht bleiben könne, da er bei der Geschlechtsumwandlung viel Testosteron einnehmen und dadurch nervöser und aggressiver sein werde. Aus diesem Grund wurde er gekündigt. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon abgesehen hat, Homosexualität als physische Krankheit zu klassifizieren, stuft sie eine Geschlechtsumwandlung noch immer als Geisteskrankheit ein. Das sorgte dafür, dass viele Transgender die Transformationsprozedur verweigerten – sie erfordert die Erlaubnis zweier Psychiater. Henry und Naomi sagen, sie haben Verständnis für die Angst vieler Menschen vor der LGBTQ-Gemeinschaft (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queer). Sie verstünden die Ursachen dieser Phobie. So sehen Transgender anders aus als nicht transformierte Menschen, denn oft bleibt die Form des Gesichts oder das äußere Erscheinungsbild eine Mischung aus Männlich- und Weiblichkeit. »Die Leute erschrecken sich vor mir, wenn ich anfange zu sprechen und sie herausfinden, dass ich eine tiefe Stimme habe, die eher einer Männerstimme ähnelt«, sagt Naomi. Bei Angst und Unverständnis bleibt es jedoch auch in der freien Welt nicht immer. Laut Statistiken von Transgender Europe wurden zwischen dem 1. Oktober 2016 und dem 30. November 2017 insgesamt 325 Transpersonen getötet. Dabei steht Brasilien an oberster Stelle, gefolgt von Mexiko und den USA. Die Studie bestätigt auch, dass Transgender nicht nur unter Gewalt leiden, sondern auch unter unterschiedlichen Arten der Unterdrückung wie Rassismus, allgemeine Diskriminierung und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, Fremdenfeindlichkeit sowie Hass auf Sexarbeiter. In Frankreich, Italien, Portugal und Spanien waren 69 Prozent der Getöteten Migranten, kamen hauptsächlich aus Afrika, Zentral- und Südasien. In den USA sind unter den Opfern hauptsächlich Schwarze Menschen und Indigene. | Asmaa Yousuf | Naomi und Henry haben frühzeitig bemerkt, dass sie eine sexuelle Identität haben, die nicht zu ihrem Körper passt. Ihre Transformation war auch im liberalen Deutschland weder für sie noch ihr Umfeld eine Selbstverständlichkeit. | Diskriminierung, Geschlecht, LGBT, Transgender | Politik & Ökonomie | Politik Diskriminierung von Transgendern | 2018-04-04T15:28:21+0200 | 2018-04-04T15:28:21+0200 | 2023-01-21T22:20:54+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1084338.diskriminierung-von-transgendern-eine-verwandlung-die-nicht-nur-freiheit-bedeutet.html |
Ignoranter Außenminister | Die Äußerungen von Heiko Maas zum Krieg in Nordsyrien können nicht mehr ernst genommen werden. Im Rahmen seines Besuchs beim ägyptischen Potentaten Abdel Fattah al-Sisi forderte der SPD-Politiker, dass die sechstägige Waffenruhe verlängert wird. Maas ignoriert weiterhin, was tatsächlich im Norden Syriens vor sich geht und benennt nicht die Schuldigen für den Krieg. Vieles deutet darauf hin, dass türkische Streitkräfte und die mit ihnen verbündeten islamistischen Milizen die Waffenruhe gebrochen haben. Ihre Attacken richteten sich zunächst gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten. Nun kam es auch zu Gefechten zwischen türkischem Militär und Streitkräften des syrischen Staates. Die Region ist trotz aller Abkommen weit entfernt von friedlichen Verhältnissen. Doch anstatt Konsequenzen aus dem völkerrechtswidrigen Krieg der Türkei zu ziehen, hatte Maas sich kürzlich bei einer Visite in Ankara klar zur NATO-Mitgliedschaft seiner Gastgeber bekannt. Die Partnerschaft mit Staaten wie der Türkei und Ägypten liegt nicht nur im wirtschaftlichen und geostrategischen Interesse der Bundesregierung. Sie sind auch wichtige Partner bei der Flüchtlingsabwehr. Deswegen will Maas es sich mit den dortigen Autokraten nicht verscherzen. Sein kurzes Statement zur Menschenrechtslage in Ägypten wird schnell vergessen sein. | Aert van Riel | Aert van Riel über die Auftritte von Heiko Maas im Nahen Osten | Ägypten, Heiko Maas, SPD, Syrien, Türkei | Meinung | Kommentare Heiko Maas | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1127903.ignoranter-aussenminister.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Fragile Waffenruhe um Gaza | Gaza/Tel Aviv (Agenturen/nd). Erstmals seit Beginn der Waffenruhe hat es im Gaza-Streifen an der Grenze zu Israel am Freitag wieder einen tödlichen Vorfall gegeben. Nach palästinensischen Angaben wurde ein Mann von israelischen Grenzsoldaten erschossen, 19 weitere Palästinenser wurden verletzt. Palästinensischen Rettungsdiensten zufolge eröffneten Grenzsoldaten das Feuer auf eine Gruppe von Bauern, die... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Bericht über von Israel getöteten Palästinenser | Gaza-Streifen, Israel, Waffenstillstand | Politik & Ökonomie | Politik Gaza/Tel Aviv | https://www.nd-aktuell.de//artikel/805404.fragile-waffenruhe-um-gaza.html |
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Danke heißt Solidarität | »Tausend Jahre sind ein Tag«, sang einst Udo Jürgens. Man könnte auch sagen: Sechs Monate sind ein ganzes Zeitalter. Denn vor einem halben Jahr wurden die Busfahrer*innen, Pfleger*innen und Kita-Betreuer*innen, die während des Corona-Lockdowns »den Laden am Laufen« hielten, noch für ihren Einsatz beklatscht. Doch nun wagen es die Beschäftigten im öffentlichen Personennahverkehr und im öffentlichen Dienst, sich nicht mehr mit Applaus und warmen Worten zufriedenzugeben. Sie treten für ihre Forderungen sogar noch in den Warnstreik. Und schon wandelt sich die öffentliche Stimmung gegenüber den Held*innen des Alltags: Auf einer der größten Nachrichten-Websites des Landes beschimpft ein Kommentator die bei den Warnstreiks federführende Gewerkschaft Verdi als »Corona-Maulhelden«; eine Hamburger Wochenzeitung beschwerte sich am Dienstagmorgen über einen ihrer Twitterkanäle, dass der Streik zu überfüllten U-Bahn-Wagen führte. Das sind zwei Beispiele, dass den Beschäftigten Wut entgegenschlägt, nur weil sie ihr gutes Recht auf Warnstreiks bei Tarifverhandlungen in Anspruch nehmen. Doch so einen Dank haben die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und Personennahverkehr wirklich nicht verdient. Wer ihnen wirklich danken will, sollte zumindest nicht maulen, wenn er oder sie mal mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren oder das Kind ein, zwei Tage selbst betreuen muss, weil keine Busse unterwegs sind oder die Kita dicht ist. Denn wer eine Arbeit wertschätzt, muss auch die Person wertschätzen, die diese Arbeit verrichtet. Und dazu gehört es auch, diesen Personen nicht nur eine gute Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen zuzugestehen, sondern auch das Recht, dafür zu kämpfen. Insofern heißt Danke sagen auch Solidarität mit den Streikenden zeigen. | Simon Poelchau | Vor einem halben Jahr wurden die Busfahrer*innen, Pfleger*innen und Kita-Betreuer*innen noch für ihren Einsatz beklatscht. Sie jetzt wegen der Warnstreiks zu beschimpfen, ist höchst unsolidarisch. | Familienpolitik, Kindertagesstätte, Öffentlicher Dienst, Streik | Meinung | Kommentare Warnstreiks | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142491.warnstreiks-danke-heisst-solidaritaet.html |
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Maria Wersig: Im Einsatz für Frauenrechte | Wer immer sich mit Menschenrechten im Allgemeinen und denen von Frauen im Besonderen befasst und fachliche Informationen zu strittigen Themen suchte, ist dem Namen von Maria Wersig nicht nur einmal begegnet. Schließlich war sie wiederholt Ko-Autorin des Grundrechte-Reports, setzte sich dort insbesondere mit dem Paragraf 219a auseinander, der »Werbung«, also ärztliche Information über Schwangerschaftsabbrüche, kriminalisierte und 2022 endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde. Die in Weimar geborene Rechts- und Sozialwissenschaftlerin positioniert sich seit vielen Jahren klar für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und gegen rechtliche Rahmenbedingungen, die ihre ökonomische Abhängigkeit fördern. Das sogenannte Ehegattensplitting, das die klassische Rollenverteilung in der Ehe bei der Besteuerung bevorzugt und damit Altersarmut und Armut von Frauen im Scheidungsfall fördert, war Thema ihrer Promotion und ihres Buches »Der lange Schatten der Hausfrauenehe«. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Am Freitag wurde die 46-Jährige für ihr »herausragendes Engagement für Geschlechtergerechtigkeit und ihre Verdienste um die Gleichstellung von Frauen und Männern in Beruf, Gesellschaft und Familie« in Berlin mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt. Das teilte der Deutsche Juristinnenbund (DJB) mit, dessen Präsidentin Wersig von 2017 bis 2023 war. Den DJB habe die Juristin »über viele Jahre hinweg mit ihrer Expertise, Weitsicht und Leidenschaft für feministische Rechtspolitik geprägt«, erklärte die aktuelle DJB-Präsidentin Ursula Matthiessen-Kreuder. Aktuell hat Wersig eine Professur für rechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Fakultät Diakonie, Gesundheit und Soziales der Hochschule Hannover inne. Zuvor lehrte sie an der Fachhochschule Dortmund. Zuletzt war sie Mitglied der von der Ampel-Koalition berufenen Expert*innenkommission »zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin«, die ein Gutachten zum Paragraf 218 des Straftgesetzbuchs erstellte und Empfehlungen zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs erarbeitete. Für dessen Entkriminalisierung hatte sie sich zuvor viele Jahre lang eingesetzt. Der DJB setzte sich unter ihrer Leitung intensiv für die Umsetzung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt, für reproduktive Rechte und für ein modernes Familienrecht ein. Auch die internationale Solidarität war Maria Wersig immer wichtig. So initiierte sie 2022 ein Hilfsprojekt für afghanische Juristinnen. | Jana Frielinghaus | Für die Streichung des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch, die Abschaffung des Ehegattensplittings und vieles mehr kämpft Maria Wersig seit langem. Nun erhält sie für ihr Engagement einen Orden. | Feminismus | Politik & Ökonomie | Politik Orden für feministisches Engagement | 2025-05-16T15:40:46+0200 | 2025-05-16T15:40:46+0200 | 2025-05-18T16:28:13+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1191290.maria-wersig-im-einsatz-fuer-frauenrechte.html |
Vor Brandenburger Landtagswahlen: Grüne wählen Spitzenkandidatin | Der Vorplatz der Stadthalle Cottbus ist für die Brandenburger Grünen am Samstag weiträumig abgesperrt – nicht, dass hier am Ende auch noch protestierende Bauern Gülle abkippen, wie anderswo schon geschehen. Die Polizei kontrolliert die Personalausweise und lässt nur angemeldete Delegierte und Gäste passieren. Ist das nicht übervorsichtig und überrieben? »Heute haben wir Glück«, sagt Doris Tuchan. Es sei »niemand draußen, um gegen uns zu demonstrieren«. Die Stimmung in Cottbus sei sonst oft aufgeheizt, verrät die Kreisvorsitzende der Grünen in ihrem Grußwort in der Stadthalle. »Wir haben hier in Cottbus ein Rechtsextremismusproblem.« Und es sei nicht leicht, in dieser Kohlestadt grüne Positionen zu vertreten. In der Stadtverordnetenversammlung verfügen die Grünen derzeit über vier Sitze. Am 23. Mai will der Kreisverband seine Kandidaten für die Kommunalwahl am 9. Juni aufstellen. Doch jetzt am Samstag in der Stadthalle sind erst einmal die Kandidaten für die Landtagswahl am 22. September dran. Brandenburgs Grüne stellen hier ihre Landesliste auf. Mit 91,1 Prozent der Stimmen wählen die 125 Delegierten Antje Töpfer zur Spitzenkandidatin. Sie feiern diese Frau, die draußen im Land so gut wie völlig unbekannt ist. In der Landespolitk ist sie erst im Dezember 2022 als Staatssekretärin von Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) aufgetaucht. Aber Staatssekretäre werden anders als Minister von der Bevölkerung nicht wahrgenommen. Töpfer hält in der Stadthalle zwar keine besonders schlechte, aber keinesfalls eine auch nur ansatzweise mitreißende Rede. Ihre Zuhörer klatschen trotzdem artig und stehen am Ende dazu auf, weil man das so macht, um der Spitzenkandidatin Rückenwind zu geben. Schließlich könnte die Szene im Fernsehen gesendet werden – und dann soll das ja gut aussehen. Einmal lässt Töpfer während ihrer Rede auch eine kurze Kunstpause und die Delegierten begreifen, dass sie jetzt klatschen sollen. Von allein hätten sie das an dieser Stelle nicht getan. Ihre Spitzenkandidatin sei nicht charismatisch, müssen die Grünen zugeben. Sie könne aber vielleicht trotzdem gute Politk machen, heißt es. Inhaltlich sei die Rede richtig gewesen. »Ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen und ich liebe dieses Land«, sagt Töpfer, die ihre Heimat nicht den Rechten überlassen will. Immerhin das zeichnet sie aus: Eine von hier zu sein. Brandenburgs Grüne sind heute noch stark von zugezogenen Westdeutschen wie Sozialministerin Nonnemacher und Umweltminister Axel Vogel geprägt. Aber diese beiden erfahrenen Politiker treten bei der kommenden Wahl nicht wieder an. Auch auf das aus dem RBB-Fernsehen bekannte Gesicht der Landtagsabgeordneten Carla Kniestedt, die ihre journalistische Karriere in der DDR beim »nd« begann, müssen die Grünen verzichten. Sie kandidiert nicht wieder – so wie übrigens von den aktuell zehn Abgeordneten auch Sahra Damus, Ricarda Budke und Heiner Klemp nicht erneut ins Parlament streben. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. Antje Töpfer ist eine Notlösung, auch wenn das selbstverständlich nicht so gesagt wird. Selbstbewusst möchte sie in den Wahlkampf ziehen. »Wir stecken nicht den Kopf in den Sand. Wir verschließen nicht die Augen vor den Herausforderungen«, sagt die 55-Jährige. »Wir machen gute und erfolgreiche Politik«, behauptet sie. Von den nun viereinhalb Jahren in Regierungsverantwortung blieb allerdings nur die Prämie für Lastenfahrräder in Erinnerung. Erst in der nächsten Kabinettssitzung soll noch der Klimaplan für das Land kommen, den Ministerpräsident Woidke einige Monate blockierte, bevor ihn Umweltminister Vogel nun doch durchbringen kann. Den Grünen weht der Wind im Moment ziemlich ins Gesicht. Die Meinungsforschungsinstitute prognostizieren ihnen nur noch sieben bis acht Prozent. 10,8 Prozent waren es bei der Landtagswahl 2019, was allerdings für die Ökopartei in Brandenburg ein Rekordergebnis darstellte. Immerhin wächst die Mitgliederzahl weiter. Knapp 1500 Parteifreunde zählte der Landesverband vor fünf Jahren und nun sind es bereits rund 2850. Die Landesvorsitzende Hanna Große Holtrup erwartet jetzt, die Marke von 3000 bereits bis zur Kommunalwahl im Juni zu erreichen und nicht erst bis zur Landtagswahl im September. »Noch regieren wir und wir haben nicht vor, damit ab September aufzuhören«, macht sie den Delegierten Mut. Über die Koalitionspartner sagt sie, die SPD von Ministerpräsident Dietmar Woidke unterdrücke ihre soziale Ader und die CDU sei nicht christlich in ihrem Handeln. Die Listenplätze zwei und drei gehen an die beiden Fraktionschefs Benjamin Raschke (92,9 Prozent) und Petra Budke (89,5 Prozent), Platz vier an den zum linken Flügel seiner Partei gezählten Landtagsabgeordneten Clemens Rostock (96,8 Prozent). Platz fünf ist der erste, für den es in Cottbus mehr als einen Bewerber gibt. Die Landtagsabgeordnete Marie Schäffer, die 2019 in Potsdam das erste Mal einen Wahlkreis für die Grünen in Brandenburg gewann, kann sich den Delegierten nicht selbst vorstellen. Sie hat drei Tage zuvor ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Anstelle der jungen Mutter trägt die EU-Parlamentarierin Ska Keller die von Marie Schäffer ausgearbeitete Bewerbungsrede vor. Mitbewerberin Erdmute Scheufele hat dagegen keine Chance. Die Psychologin unterliegt Schäffer mit 48 zu 76 Stimmen. | Andreas Fritsche | Die Grünen haben am Wochenende in der Stadthalle Cottbus Kandidaten für die Landtagswahl nominiert. Die Polizei schirmte den Veranstaltungsort weiträumig gegen Proteste ab. | Brandenburg, Die Grünen, Landtagswahl | Hauptstadtregion | Berlin Ost-Wahlen | 2024-03-03T13:37:36+0100 | 2024-03-03T13:37:36+0100 | 2024-03-03T18:26:01+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180454.vor-brandenburger-landtagswahlen-gruene-waehlen-spitzenkandidatin.html |
Islamisten schänden Weltkulturerbe | Mit Spitzhacken haben Mitglieder der islamistischen Rebellengruppe Ansar Dine mehrere jahrhundertealte Grabstätten in der aus Lehm gebauten Wüstenstadt Timbuktu in Mali zerstört. Seit Samstag wurden bereits sieben muslimische Mausoleen eingerissen. Die Gruppe kündigte an, alle 16 Heiligengräber in der historischen Stadt am Rand der Sahara zu zerstören. Die im volkstümlichen Islam verbreitete Verehrung von Heiligen und ihren Grabmalen stellt für Ansar Dine (»Verteidiger des Glaubens«) einen Verstoß gegen den Islam dar, weil nur Allah angebetet werden dürfe. Erst am Donnerstag hatte die UNESCO beschlossen, Timbuktu wegen des bewaffneten Konflikts im Land auf die Rote Liste des bedrohten Welterbes zu setzen. Am gleichen Tag vertrieb Ansar Dine seine ehemaligen Verbündeten, die Tuareg-Rebellen, aus der Stadt. Noch im April hatten beide Gruppen gemeinsam Nordmali erobert und dort den... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Jenny Becker | Im Norden Malis zertrümmern islamistische Rebellen zahlreiche muslimische Mausoleen in Timbuktu, das Weltkulturerbestätte ist. Das Vorgehen löste weltweit Entsetzen aus, auch Forderungen nach einer UN-Intervention wurden laut. | UNESCO, UNESCO-Weltkulturerbe, UNO, Weltkulturerbe | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/231434.islamisten-schaenden-weltkulturerbe.html |
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Verkaufte Menschenrechte | Dass der Nato-Gipfel in Madrid historisch wird, wie es allenthalben heißt, ist nicht zu bezweifeln. Weil mit Finnland und Schweden zwei bislang blockfreie Staaten dem Militärbündnis beitreten, die mit diesem Status jahrzehntelang gut gefahren sind – und insbesondere in der Zeit des Kalten Kriegs ausgleichend wirken konnten. Und weil diese Staaten dem türkischen Autokraten Erdoğan quasi das Jagdrecht auf kurdische Aktivist*innen auf ihrem Boden einräumen. Denn nichts anderes bedeutet das Einknicken vor Ankaras Junktim »Zustimmung zur Nato-Aufnahme gegen Verfolgung von Terroristen«. Dieser tatsächlich historische Vorgang zeigt zweierlei: Zum einen, dass der türkische Präsident keinerlei Skrupel kennt, selbst den blutigen Krieg Putins gegen die Ukraine und die daraus resultierende Angst zu nutzen, um insbesondere kurdische Milizen – zur Erinnerung: es waren jene, die wesentlich zum Sturz der IS-Terrorherrschaft beitrugen – weltweit zu verfolgen. Mit solcherart Geschäften hat Erdoğan Erfahrung; auch bei der Flüchtlingsvereinbarung nutzte und nutzt er das Leid der Menschen als Faustpfand in den Verhandlungen. Zum anderen, dass der Nato rechtsstaatliche Prinzipien egal sind, wenn es um »übergeordnete« Interessen geht. Mehr noch: Die politischen Größen des Bündnisses rühmten sich, bei dem Handel kräftig mitgemischt zu haben. Wenn Finnland und Schweden vor dem Hintergrund des russischen Kurses in die Nato wollen, ist das ihre freie Entscheidung. Wenn sie dafür jedoch den liberalen Staat und Grundrechte zurückbauen, ist es – erfolgreiche – Erpressung. | Uwe Sattler | Der Nato-Gipfel in Madrid wird tatsächlich historisch: Weil Finnland und Schweden ihre Vermittlerrolle im internationalen Rahmen aufgeben und sich zugleich von der Türkei erpressen lassen. | Finnland, Kurden, Menschenrechte, Schweden, Türkei | Meinung | Kommentare Nato-Erweiterung | 2022-06-29T12:15:22+0200 | 2022-06-29T12:15:22+0200 | 2023-01-20T18:08:08+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1164913.verkaufte-menschenrechte.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Der Brexit hat nicht gezündet | Wie groß war doch der Enthusiasmus. Großbritannien werde sich »von den Fesseln Brüssels befreien«, es würden »Wachstum und neue Chancen« aufwarten, endlich könnten sich die Briten die »Kontrolle über unser Geld und unsere Grenzen« zurückholen. Es war der 11. März 2016, als Boris Johnson diese Worte sprach. Er stand in einer großen Lagerhalle eines Speditionsunternehmens in Dartford, einer kleineren Stadt südöstlich von London. Drei Monate später kam das Brexit-Votum der Briten, das Erdbeben, das zu Jahren der politischen Instabilität führte und dem Aufstieg des Rechtspopulismus Vorschub leistete. Am 31. Januar 2020 war es so weit: Großbritannien war nunmehr die »eigenständige Nation«, die die Brexit-Anhänger sich gewünscht hatten. Auch in Dartford, wo mehr als 63 Prozent für den EU-Austritt gestimmt hatten, feierte man, im Conservative Association Club gab es Schampus und Tombola. Das scheint alles lange her. An einem Montagmorgen Ende Januar sucht man in den Straßen von Dartford vergeblich nach Brexit-Begeisterung. Die Fußgängerzone ist mäßig belebt, nach einem Regenschauer treten die Leute zögerlich wieder ins Freie, manche schieben Kinderwagen, andere ziehen Einkaufstrolleys hinter sich her. Auf einem kleinen Plätzchen an einer Straßenkreuzung sind Mick Jagger und Keith Richards in zwei energiegeladenen Bronze-Statuen verewigt – die beiden Rolling Stones sind hier aufgewachsen. Miese Stimmung hingegen stellt sich umgehend ein, wenn man die Leute auf den Brexit anspricht. »Oh, my goodness«, sagt Kerry Hawkins. Die 82-Jährige, geschminkt und mit altmodischem Glockenhut, ist gerade auf dem Weg zum Verwandtenbesuch. »Den Brexit haben sie richtig vermasselt.« Ja, sie habe damals dafür gestimmt, aber sie erinnere sich jetzt gar nicht mehr richtig, warum eigentlich. »Ach ja«, sagt Hawkins dann: »Ich wollte, dass wir Briten unsere eigenen Entscheidungen machen.« Und dann sei da die Immigration: »Wir haben offene Grenzen und wissen gar nicht, wer eigentlich ins Land kommt.« Aber es habe sich in den vergangenen fünf Jahren überhaupt nichts verändert, eine wirkliche Verbesserung der Lebensumstände habe es auf jeden Fall nicht gegeben. Mit dieser Haltung ist sie in guter Gesellschaft. In den vergangenen Jahren sind immer mehr Briten zum Schluss gekommen, dass der Brexit nicht so richtig gezündet hat – laut Umfragen haben etwa 60 Prozent das Gefühl, er ist bislang schlecht verlaufen; nur zwölf Prozent sind der Meinung, er war ein Erfolg. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Wer die Gründe dafür finden will, muss nicht lange suchen. Am offensichtlichsten sind die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts. Es war nicht der große Crash, den manche Ökonomen prognostiziert hatten; vielmehr gleicht der Brexit-Schaden einem Loch im Pneu, der der Wirtschaft langsam die Luft ablässt, wie der Thinktank UK in a Changing Europe anmerkt. Der Rechnungshof Office for Budget Responsibility schätzt, dass Großbritanniens Wirtschaftsleistung auf lange Frist um vier Prozent kleiner wird, als wenn das Land Teil der EU geblieben wäre. In den Jahren nach dem Brexit klagten Unternehmen über einen Mangel an Arbeitskräften, weil viele EU-Migranten abgereist waren. Zudem kämpfen Import- und Exportfirmen mit zusätzlichem Papierkram. Wer konnte, hat Niederlassungen in der EU eröffnet, um die Handelsschranken zu umgehen. Aber vielen kleineren Unternehmen steht diese Möglichkeit nicht offen. Eine im Dezember publizierte Analyse des Centre for Economic Performance an der London School of Economics hat ergeben, dass der Brexit-Handelsvertrag vor allem kleine Exportfirmen getroffen hat: Der Wert ihrer Exporte hat sich seit Inkrafttreten des Vertrags um 30 Prozent verringert. Joe Sasko sitzt in seinem Lieferwagen hinter dem Shopping-Zentrum von Dartford und raucht eine. »Was für ein Ärger«, sagt er zum Brexit. Sasko führt zusammen mit seiner Frau einen Gemüsestand hier im Zentrum. Es dauere etwa fünf Tage, bis er manche Produkte aus der EU geliefert bekäme – früher sei es ruckzuck gegangen. Auch habe die Grenzbürokratie die Kosten in die Höhe getrieben. Sasko kam 2003 als 20-Jähriger von Ungarn nach Großbritannien. Zunächst arbeitete er in einem Zirkus als Rigger (Höhenarbeiter in der Veranstaltungstechnik, d. Red.), bereiste das ganze Land, von Kent bis zu den Shetland-Inseln. 2020, im Brexit-Jahr, eröffnete er seinen Gemüseladen. Der EU-Austritt hatte auch persönliche Folgen für ihn: Seine Frau ist Nepalesin, sie braucht jetzt für Reisen in die EU – etwa zum Familienbesuch in Ungarn – ein Visum. Trotz allem fühlt sich Sasko noch immer heimisch in Dartford. Anders als viele seiner Freunde aus der EU hat er nicht vor, zurück nach Ungarn zu gehen. Joe Sasko war schon immer gegen den Brexit. Aber in den Straßen von Dartford trifft man auf viele überzeugte EU-Gegner, die genauso ernüchtert sind. Kane Lewis ist einer von ihnen. Der 22-Jährige mit dem Stoppelbart war zwar zu jung, um 2016 im Referendum abzustimmen, aber er hätte den Brexit unterstützt. Er sah es als eine Möglichkeit, dem Land zum Aufschwung zu verhelfen, sagt er. Aber das genaue Gegenteil sei eingetreten. »Die Regierung hat beim Sozialstaat weitere Abstriche gemacht, und der EU-Austritt hat uns nicht davor bewahrt, dass die Inflation stark angestiegen ist«, sagt er. »Auch dem Gesundheitsdienst geht es schlecht.« Lewis hat eine Behinderung und beansprucht den NHS oft. »Aber jedes Mal, wenn ich Hilfe brauche, muss ich endlos lange rumtelefonieren, bis jemand verfügbar ist.« Dennoch findet er, dass der Brexit an sich richtig war: Das Problem sei vielmehr, dass er nicht mit der nötigen Entschlossenheit umgesetzt worden sei. Vor allem hätte die Migration gedrosselt werden sollen. Er denkt, wenn Boris Johnson noch immer Premierminister wäre, dann würde es dem Land besser gehen – ungeachtet der Tatsache, dass es gerade Johnson war, der den Brexit-Deal ausgehandelt hat. Lewis würde heute wohl für die Rechtsaußenpartei Reform UK stimmen, sagt er. Allerdings gibt es eine wachsende Zahl von ehemaligen Leave-Befürworter, die es sich angesichts der harschen Brexit-Realität anders überlegt haben. Umfragen sind in den vergangenen Monaten zum Schluss gekommen, dass mittlerweile eine deutliche Mehrheit von etwa 54 Prozent der Briten für die EU-Mitgliedschaft sind, während nur 44 Prozent am Brexit festhalten wollen. Großmutter Kelly Hawkins ist eine jener ehemaligen Leave-Wählerinnen, die vom »Bregret« geplagt werden – eine Wortkombination aus »Brexit« und »Regret«, Reue. Auf die Frage, ob sie heute noch mal für den EU-Austritt stimmen würde, meint sie nach einigem Zögern: »Wahrscheinlich nicht«. | Peter Stäuber, Dartford | Vor fünf Jahren vollzog Großbritannien den Brexit und kehrte der Europäischen Union den Rücken. Vom versprochenen Aufschwung ist nach wie vor nichts zu sehen. | Brexit, Europäische Union, Großbritannien | Politik & Ökonomie | Politik Fünf Jahre Brexit | 2025-01-30T14:48:34+0100 | 2025-01-30T14:48:34+0100 | 2025-02-03T17:25:12+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188662.fuenf-jahre-brexit-der-brexit-hat-nicht-gezuendet.html |
Pseudo-Klimakoalition | Dass weltweit Schüler Freitags für den Klimaschutz auf die Straße statt in die Schule gehen, ist offenbar auch den Finanzministern nicht entgangen, die sich auf der Frühjahrstagung von Weltbank und IWF trafen. Mit großen Worten kündigten sie an, dass 22 Staaten - darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien - nun eine Klimakoaltion bilden wollen. Irgendwie will man etwa die Subventionen auf klimaschädliche Energieträger herunterfahren. Doch wer nun fragt, wie, wann und in welchem Maße das alles passieren soll, der wird vergebens auf eine Antwort hoffen. Sonderlich konkret ist die angebliche Klimakoalition nicht geworden. Schaut man sich an, was die sogenannten Helsinki Prinzipien bedeuten, die so etwas wie das Fundament des gemeinsamen Handelns der Koalition sein sollen, findet man nur Aussagen, die eigentlich Selbstverständlichkeiten sein sollten. Etwa, dass die Finanzminister ihre Politik im Hinblick auf die Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommen ausrichten wollen. Insofern wird sich so mancher Schüler, der Freitags für’s Klima streikt, an den Kopf fassen vor lauter Unverständnis gegenüber dem Unwillen der Politik. Aber, hey, es geht noch schlechter: Die USA sind sogar so ignorant, dass sie selbst bei dieser Pseudo-Klimakoalition nicht mitmachen. | Simon Poelchau | Simon Poelchau über das auf der Frühjahrstagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) beschlossene Bündnis | IWF, Klimaschutz, Klimawandel, Weltbank | Meinung | Kommentare IWF-Tagung | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1116798.pseudo-klimakoalition.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Fehlendes Unrechtsbewusstsein | Eigentlich glaubte Volkswagen, den Dieselskandal so gut wie abgehakt zu haben. Nachdem man schon über 30 Milliarden Euro gezahlt, eine interne Aufarbeitung beendet hatte und Strafverfahren nur gegen Führungskräfte liefen, die dem Konzern längst nicht mehr angehören, wollte man ins Elektrozeitalter durchstarten. Da hat man sich verrechnet: Eine neue Anklage wegen Marktmanipulation betrifft auch den amtierenden Vorstandschef und Aufsichtsratsboss - und stürzt Europas größten Autokonzern in eine neue Führungskrise. Damit rächt sich, dass VW nie einen echten personellen Neuanfang begonnen hat, sondern an mutmaßlich in den Dieselskandal verstrickten Managern festhielt. Dies wirft ein ganz schlechtes Licht auf die Führung in Wolfsburg und bestätigt alle Vorwürfe von Konzernkritikern, dass das Unternehmen trotz der massiven Gesundheitsschädigungen und der Verunsicherung von Kunden keinerlei Unrechtsbewusstsein hat. Bis heute räumen die Chefs offiziell nicht ein, dass man betrogen hat. Das könnte den Konzern noch erheblich teurer zu stehen kommen. Am Montag beginnt die Verhandlung über die Massenklage von einer halben Million Dieselkunden auf Schadenersatz. Die jetzige Anklage ist ein weiterer Hinweis darauf, dass VW juristisch erneut Schiffbruch droht. | Kurt Stenger | Kurt Stenger über die Anklage gegen die Führungsriege von Volkswagen | Diesel, Verkehrspolitik | Meinung | Kommentare VW | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1126297.fehlendes-unrechtsbewusstsein.html |
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Schlauchboote gegen Walfänger | Als Marke wäre Greenpeace heute ein Vermögen wert, in
Deutschland jedenfalls. Ihr Bekanntheitsgrad und die zugebilligte
Vertrauenswürdigkeit übertrifft die vieler Weltkonzerne. Als sich vor 40
Jahren eine Gruppe von amerikanischen Atomwaffengegnern mit einem alten
Fischkutter von Kanada aus zu der Inselkette der Aleuten aufmachte, um
dort gegen Atomwaffentests der USA zu protestieren, war diese
Erfolgsgeschichte noch nicht abzusehen. Die erste Generation der
Greenpeace-Aktivisten war noch stark vom etwas anarchistischen Geist der
Antikriegsbewegung der 60er Jahre Jahre geprägt. Scheiterte die erste
Aktion gegen die US-Tests noch am stürmischen Wetter und der
Küstenwache, waren spätere Aktionen gegen die überirdischen
Atomwaffenversuche Frankreichs in Französisch Polynesien deutlich
erfolgreicher. Das bis heute erfolgreiche Rezept von damals: spektakuläre,
symbolträchtige Aktionen und ein guter Draht zu den Medien. Frankreich
reagierte gewalttätig. Das erste Greenpeace-Schiff vor Ort, die »Vega«,
wurde 1973 in internationalen Gewässern von Marinesoldaten geentert, die
Umweltaktivisten zusammengeschlagen und abtransportiert. David
McTaggart, von 1979 bis 1991 Vorsitzender von Greenpeace International,
litt als Folge einer dabei erlittenen Verletzung an Sehstörungen. 1985
verübten dann zwei französische Geheimdienstagenten im Hafen von
Auckland (Neuseeland) einen Bombenanschlag auf das Flaggschiff von
Greenpeace, die »Rainbow Warrior«. Ein portugiesischer Fotograf kam
dabei zu Tode. Das internationale Presseecho auf diesen Terrorakt
brachte der bis dahin recht kleinen Umweltschutzorganisation
international viele Sympathien und einen gewaltigen Aufschwung an
Spenden und Mitgliedern. Die Spendeneinnahmen von Greenpeace
International beliefen sich 2010 bereits auf 230,6 Millionen Euro. Der
finanzstärkste nationale Verband ist seit Jahren der deutsche. Die Aktionsfelder hatten sich längst erweitert: Greenpeace
setzt sich für den Schutz der Antarktis vor kommerzieller Ausbeutung
ein, bekämpft die Jagd auf Robben und Wale, prangert die Überfischung
der Meere oder die Abholzung von Urwäldern an. Aus dem Protest gegen
Atomwaffen wurde eine grundsätzliche Ablehnung der Atomkraft. Weitere
Schwerpunkte seit den 90er Jahren sind die Ablehnung des Anbaus
gentechnisch veränderter Pflanzen und der Patentierung von Gensequenzen
bzw. ganzen Lebewesen. 1986 legte sich Greenpeace auch mal mit der DDR an. Da
schleppten zehn Aktivisten einen Zentner Salz vor das
DDR-Umweltministerium und hängten auf dem Dach ein Transparent auf. Das
Ziel: Die DDR sollte die Einleitung von Abfallsalz in die Werra
einstellen. Diese Aktion war in doppelter Hinsicht ein Misserfolg. Das
Transparent wurde schnell wieder vom Dach geholt, und die heute vom
westdeutschen Konzern K+S betriebenen Kalibergwerke leiten noch immer
Salz in die Werra ein. Mit dem Wachstum kamen aber auch die Krisen. Nicht jedem aus
den Anfangstagen gefiel die weitere Entwicklung. Dem Kanadier Paul
Watson etwa war der friedliche Protest gegen den Walfang zu zahm. Bei
seinem Austritt 1977 bezeichnete Watson Greenpeace als »Haufen
tatenloser Bürokraten«. Das Greenpeace-Mitglied mit der Nummer 007 (so
die selbst verbreitete Legende) gründete die »Sea Shepherd Conservation
Society«, die seither gegen die Ausbeutung der Meereslebewesen kämpft.
In der Wahl der Mittel sind Watsons »Meereshirten« nicht allzu
zimperlich. Da werden schon mal Walfänger oder illegale Fischfangschiffe
gerammt oder Schiffe im Hafen auf Grund gesetzt. Und vom 1981 gegründeten deutschen Greenpeace-Ableger spaltete
sich schon ein Jahr später »Robin Wood« ab. Deren Gründer lehnten die
»starre Hierarchie« von Greenpeace ab. Dem Gründungsmitglied Patrick Moore wiederum scheint Greenpeace
zu radikal geworden zu sein. Er schied Mitte der 80er Jahre aus und
entwickelte sich seither zu einem aktiven Lobbyisten der Atomkraft als
»sauberer Alternative« zu Kohle und Öl. Auch bei der Gentechnik und der
Waldnutzung ist Moore heute meist Gegner der einst von ihm
mitgegründeten Organisation. Dabei sucht Greenpeace heute durchaus das Gespräch mit der
Wirtschaft. Blockierte man in den 80er Jahren schon mal Schiffe bei der
Ausfahrt, die Abfälle im Meer verklappen wollten, so reicht heute
oftmals die öffentliche Kritik. So etwa, wenn Sportartikelhersteller bei
ihren Lieferanten in China auf den Ersatz schädlicher Chemikalien
drängen sollen. Und der Einzelhandelskonzern Metro diskutierte mit der
Greenpeace-Spitze Nachhaltigkeitskonzepte. Anders allerdings als etwa
die ebenfalls global tätige Umweltstiftung WWF nimmt Greenpeace keine
Gelder aus der Industrie oder der Politik, wie die Geschäftsführerin der
deutschen Sektion, Brigitte Behrens, betont. Trotzdem pflegt die Organisation noch immer das Image des
Davids, der gegen Goliath kämpft: »Wir treten den ganz Großen dieser
Welt auf die Füße«, sagt Gerhard Wallmeyer, Gründungsmitglied von
Greenpeace Deutschland. Und das weltweit. »Für alle großen Themen haben
wir internationale Umweltziele bis 2020 festgeschrieben. Wenn mein
Kollege in Japan auftritt, hat er also die gleiche Forderung an die
Politik wie wir in Deutschland«, sagt Behrens. Seit 2009 ist mit Kumi
Naidoo erstmals ein Afrikaner Chef von Greenpeace
International. Greenpeace verweist stolz auf eine ganze Palette von Erfolgen
für den Umweltschutz. »Doch der größte politische Erfolg von Greenpeace
überhaupt ist der Antarktis-Vertrag«, sagt Wallmeyer. Das internationale
Abkommen zum Schutz der Antarktis trat 1998 in Kraft. Der Vertrag
verbietet für mindestens 50 Jahre die Ausbeutung der Bodenschätze in der
Antarktis und regelt Tourismus und Expeditionen auf dem »weißen
Kontinent«. Ein Schwerpunkt von Greenpeace International sind bis heute die
Ozeane geblieben. Zu den derzeit drei Schiffen »Beluga II«, Arctic
Sunrise« und »Esperanza« soll anlässlich des 40. Geburtstags im Oktober
die nunmehr dritte »Rainbow Warrior« kommen, deren Bau in Bremen kurz
vor dem Abschluss steht. Ihr Vorläufer, die »Rainbow Warrior II«, wurde
dieser Tage nach Bangladesh gebracht, wo das Schiff künftig als
schwimmendes Krankenhaus dienen soll. 15. September
1971: Eine Gruppe von Friedensaktivisten versucht, vor der
Küste Alaskas in einem kleinen Fischerboot einen Atomversuch zu
verhindern. Die Organisatoren nennen ihre Aktion »Greenpeace«.13. Oktober
1980: Erste Aktion von Greenpeace in Deutschland:
Aktivisten in einem Schlauchboot blockieren das Schiff »Kronos« im Hafen
von Nordenham. Sie wollen damit auf die Verklappung von Dünnsäure in
der Nordsee aufmerksam machen. Der Aktion folgen weitere Proteste, bis
Jahre später das Abpumpen von Dünnsäure in der Nordsee verboten
wird.10.
Juli 1985: Das Greenpeace-Schiff »Rainbow Warrior« wird vom
französischen Geheimdienst versenkt. Mit der »Rainbow Warrior« half
Greenpeace im Mai 1985 rund 300 Einwohnern der schwer
strahlenverseuchten kleinen Pazifikinsel Rongelap bei der Umsiedelung
auf eine andere Insel.30. April 1995: Die
Ölplattform »Brent Spar« von Shell soll in der Nordsee versenkt werden.
Um das zu verhindern, besetzen Greenpeace-Aktivisten die Plattform.
Einige Wochen später muss der Shell-Konzern schließlich einlenken und
beschließt, die Plattform an Land zu entsorgen.18. Januar
2006: Protestaktion gegen den Walfang: Greenpeace
transportiert einen 17 Meter langen und 20 Tonnen schweren toten Finnwal
bis vor die japanische Botschaft in Berlin. Die Umweltorganisation
überreicht dort einem Botschaftsmitarbeiter ein Schreiben, in dem das
Wissenschaftsministerium in Tokio kritisiert wird, das den japanischen
Walfang mit wissenschaftlicher Arbeit begründet.22. Juni 2009:
Aus Protest gegen längere AKW-Laufzeiten erklimmen
Greenpeace-Aktivisten die Reaktorkuppel des Kernkraftwerks Unterweser in
Esenshamm (Niedersachsen), entrollen das Transparent »Atomkraft schadet
Deutschland« und malen einen Totenkopf auf die Kuppel.2009:
Greenpeace hat nach eigenen Angaben weltweit rund drei
Millionen Fördermitglieder und beschäftigt rund 1200 Mitarbeiter. Es
gibt mehr als 40 Greenpeace-Büros weltweit.ND | Steffen Schmidt | Am 15. September 1971 verließ der Fischkutter »Phyllis Cormack« den Hafen des kanadischen Vancouver. An Bord elf Umweltschützer und der Kapitän. Ihr Ziel: die Aleuten im Nordpazifik. Aus der Protestaktion gegen die Atombombentests der USA vor 40 Jahren ist inzwischen die einflussreichste Umweltschutzorganisation der Welt geworden. Greenpeace hat heute 41 Mitgliedsverbände mit 2,8 Millionen Unterstützern. | Atomkraft, Energiewende, Greenpeace, Walfang | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/206735.schlauchboote-gegen-walfaenger.html |
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Studi-Deutschlandticket: Website für Upgrade am ersten Tag down | Seit 1. Juni können Berlins Studierende mit ihrem Semesterticket im Nahverkehr durch ganz Deutschland reisen. Mit einem Aufpreis von 13,95 Euro können sie das Semesterticket, das in diesem Sommersemester monatlich 19,80 Euro kostet, per App zu einem Deutschlandticket aufwerten. So liegt der Studierendenpreis dann etwa auf dem Niveau eines Jobtickets von rund 34 Euro. Eine ähnliche Lösung gibt es für Brandenburg. So zumindest die Theorie – in der Praxis funktioniert der Erwerb des Deutschlandtickets an einigen Universitäten am 1. Juni noch nicht. Die entsprechende Website der Technischen Universität (TU) sei zwar bereits online gewesen, aber schon wieder down, weil die Daten anderer Nutzer*innen einsehbar gewesen seien, sagt Gabriel Tiedje vom Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA). Technische Probleme müssten noch geklärt werden. An anderen Universitäten sei man noch gar nicht auf den Ticketverkauf vorbereitet. »Wir haben am Freitag um 14 Uhr einen Vertrag bekommen, den wir nicht unterzeichnen können«, erklärt Tiedje. Erstens sei die Frist von vier Tagen über ein verlängertes Wochenende einfach zu kurz. Zweitens stehe darin, dass bei Datenschutzverstößen – wie ja am ersten Tag bereits geschehen – gemeinsam gehaftet werde. »Aber warum sollen denn wir dafür haften?«, fragt der Studierendenvertreter. Und drittens sehe der Vertrag vor, dass der AStA die Daten aller Studierenden an die App weitergibt, damit diese die Berechtigung für den ermäßigten Deutschlandticketpreis prüfen kann. Diese Daten könne der AStA aber gar nicht herausgeben beziehungsweise nur dann, wenn er noch einen eigenen Vertrag mit der Universität abschlösse. Tiedje findet es daher unverständlich, dass die Verkehrsverbünde den Vertrag nicht direkt mit den Hochschulen schließen. Andere Studierende sind mit der App selbst unzufrieden, die von der Firma Digital H GmbH entwickelt wurde. »Mich interessiert, wie viel Geld die Digital H GmbH für die App, die schlecht funktioniert, bekommt und warum nicht ausgeschrieben wurde«, teilt Janik Besendorf von der Freien Universität (FU) auf Twitter mit. Über die Plattform »Frag den Staat« stellte er eine entsprechende Anfrage nach dem Berliner Informationsfreiheitsgesetz an die Senatsverkehrsverwaltung. Zugleich sind zwei weitere Verhandlungen gescheitert: einerseits in Berlin die um den Ticketgrundpreis. Da die Senatsverkehrsverwaltung diesen im Wintersemester nicht wie in den vergangenen Jahren bezuschusst, steigt er für die Studierenden auf 32,30 Euro im Monat. Das Deutschlandticket würde ab Oktober dann also 46,25 Euro kosten – wesentlich mehr als Berufstätige für ihr Jobticket bezahlen. Die Studierendenausschüsse der Hochschulen für Technik und Wirtschaft sowie für Wirtschaft und Recht haben dies bereits abgelehnt, sodass deren Studierende ab dem Wintersemester über kein Semesterticket mehr verfügen und somit auch kein Deutschlandticket-Upgrade für sie möglich ist. Der AStA der FU dagegen hat das teurere Ticket akzeptiert. Für die weiteren Hochschulen steht noch keine Entscheidung fest. Ebenfalls gescheitert sind die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über ein bundesweit einheitliches Deutschland-Semesterticket. »Unseren Informationen zufolge war es die Vertretung des bayerischen Verkehrsministeriums, die die Zustimmung zur Beschlussvorlage der Länder verweigert hat. Das politische Geschacher um die Mobilität von drei Millionen Studierenden findet damit seinen vorläufigen Höhepunkt«, sagt Pablo Fuest vom Freien Zusammenschluss von Student*innenschaften. Auf das bundeseinheitliche Ticket müssen Studierende voraussichtlich bis zum Sommersemester 2024 warten. | Louisa Theresa Braun | Die Aufwertung vom Semester- zum Deutschlandticket per App funktioniert noch nicht so wie geplant, unter anderem wegen Datenschutzproblemen. | Berlin, Brandenburg, Hochschulpolitik, Verkehrspolitik | Hauptstadtregion | Berlin Semesterticket | 2023-06-01T15:24:26+0200 | 2023-06-01T15:24:26+0200 | 2023-06-01T15:24:53+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1173658.semesterticket-studi-deutschlandticket-website-fuer-upgrade-am-ersten-tag-down.html |
Kleine Hoffnung im großen Chaos | Die libyschen Parallelregierungen haben angekündigt, bis zum Jahresende gemeinsame Wahlen abhalten zu wollen. Die Protagonisten der Ankündigung sind Fayez al-Sarraj, Premierminister der international anerkannten, jedoch schwachen Regierung im Westen des Landes und sein Konkurrent, General Khalifa Haftar. Der ließ 2014 das Parlament besetzen und errichtete eine eigene Regierung in der Stadt Tobruk. Damit kam es zum zweiten libyschen Bürgerkrieg, nur drei Jahre nach dem Sturz Ghaddafis 2011. Doch wer sind die beiden Machthaber eigentlich? Fayez al-Sarraj ist studierter Architekt und aus einer wohlhabenden Familie. Unter Ghaddafi arbeitete er im Wohnungsministerium. Vielen Libyern gilt er als ein »von außen eingesetzter Politiker«, da seine Regierung von den USA und der EU unterstützt wird. General Haftar hingegen machte unter Ghaddafi Karriere beim Militär; nach dem Verlust seiner Truppen im Libysch-Tschadischen Grenzkrieg 1978 kam ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Philip Malzahn | In Libyen sollen landesübergreifende Wahlen den zerrissenen Staat vereinen. Doch ob es dazu kommt, ist fraglich, denn das Chaos im Land ist für viele lukrativ – auch für Europa. | Libyen | Politik & Ökonomie | Politik Libyen | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1114131.libyen-kleine-hoffnung-im-grossen-chaos.html |
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Alles kommt irgendwann wieder | Alles kommt wieder, heißt es, die Mode betreffend. Sich damit abzufinden, ist jedoch nicht immer leicht, zumal wenn etwas besonders Schlimmes wiederkommt. Wer als Kind und Jugendliche beharrlich dagegen gekämpft hat, das T-Shirt nicht in die Hose stopfen zu müssen, um »ordentlich« auszusehen, muss nun manchmal sehr tapfer sein beim Anblick junger Menschen, insbesondere Frauen, die ihre Blusen in Hosen oder Röcke stecken, deren Bünde knapp unter den Brüsten sitzen und den Oberkörper optisch auf maximal ein Viertel der Körperlänge verkürzen. Aber gut. Das ist wohl die logische Konsequenz. Jahrelang hingen ja die Hosen so tief an den Hüften, dass wahlweise Arschgeweihe oder Calvin-Klein-Unterhosenränder in voller Schönheit zur Geltung kamen. Zeitweilig gab es gar kein Halten mehr und kam der Hosenboden bei lässigen Jungs den Kniekehlen so beängstigend nahe, dass man stets mit dem Schlimmsten rechnen musste. Mit der Politik ist es so ähnlich. Ständig kommt ziemlich viel wieder (Heimatdebatten, Schlussstrichforderungen, SPD-Erneuerungen), und doch muss man ständig mit dem Schlimmsten rechnen. So wurde einst der große Fortschritt, dass man hierzulande beim Arztbesuch im Regelfall kein Bargeld mit sich führen musste, mit einer Praxisgebühr zunichte gemacht, die aber nach nicht einmal zehn Jahren wieder abgeschafft wurde. Nun will die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) wieder eine Art Praxisgebühr einführen - ausgerechnet in in den Notaufnahmen. Das Problem FDP schien eine Zeit lang erledigt, aber dann kam sie zurück und das auch noch mit Lindner. Politiker werden immer wieder der Korruption überführt, aber heutzutage schafft ein einziger Konzern (Odebrecht) quasi einen ganzen Kontinent (Südamerika). Seehofer verschwindet endlich in München, aber kommt in Berlin wieder zum Vorschein und könnte täglich den allerschlimmsten Masterplan aus der Tasche ziehen. Putin ist seit gefühlten Ewigkeiten russischer Ministerpräsident, Präsident, Ministerpräsident und Präsident, aber jetzt ist ja auch noch Trump da. Der sagt täglich wieder dumme Sachen, doch waren seine Geheimdienste noch nie so schlimm verstimmt wie jetzt. Durch Trumps »America first«-Politik fühlen sich wiederum viele an die protektionistische Phase unter Roosevelt erinnert, so dass wiederum die Europäer nach dem Kalten Krieg, einer Zeit der Entspannung und einem neuen kalten Krieg nun sogar mit dem Schlimmsten rechnen, wenn Putin und Trump sich plötzlich gut verstehen. Mit dem Schlimmsten zu rechnen, ist geradezu Mode geworden. Aber es bleibt noch Hoffnung. Ritterrüstung, Reifröcke und Moonboots sind bisher nicht wiedergekommen. | Regina Stötzel | In der Mode kommt alles wieder, heißt es. Manchmal ist es schwer, sich damit abzufinden, zumal wenn etwas besonders Schlimmes wiederkommt. Mit der Politik ist es so ähnlich. Ständig kommt ziemlich viel wieder. | Horst Seehofer, Praxisgebühr | Meinung | Kommentare Mode und Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1094913.alles-kommt-irgendwann-wieder.html |
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Milliarden fürs Militär | Die Bundesregierung häuft in diesem Jahr so viele Schulden an wie noch nie. So beträgt die Nettokreditaufnahme aktuell 218,5 Milliarden Euro, das Haushaltsdefizit liegt bei 7,25 Prozent. Angesichts dessen ist es höchst zweifelhaft, ob das ohnehin lückenhafte soziale Netz weiter tragen wird. Laut Creditreform-Schuldneratlas kann bereits jetzt jeder Zehnte in Deutschland seine Rechnungen nicht mehr zahlen. Mit ihrem Konjunkturpaket will die Große Koalition ein Fundament für nachhaltige wirtschaftliche Erholung nach dem coronabedingten Einbruch legen. Umso mehr stellt sich die Frage, warum der Rüstungsetat unangetastet bleibt. Trotz vieler Klagen über eine angebliche Mangelwirtschaft, die auch Ende vergangener Woche im Bericht der Wehrbeauftragten erhoben wurden, geht es der Bundeswehr im Vergleich zu vorangegangenen Jahren nicht so schlecht. Schaut man sich den aktuellen Bericht über die materielle Einsatzbereitschaft aller 68 Hauptwaffensysteme an, so hat diese »in den vergangenen sechs Monaten leicht zugenommen und liegt bei knapp über 70 Prozent«. Damit sich der Trend fortsetzt, werden ohne Abstriche am Plan Waffensysteme und Geräte bestellt oder modernisiert. Vor der Sommerpause des Parlaments wurden im Juni noch zahlreiche Projekte durch die Ausschüsse gebracht. Allein in der vergangenen Woche wurden neun Rüstungsprojekte auf die Tagesordnung des Haushaltsausschusses des Bundestages gesetzt. Bestätigt wurden unter anderem Mittel für vier neue Mehrzweckkampfschiffe. Der Vertrag hat ein Volumen von rund 5,48 Milliarden Euro. Für Bewaffnung und Trainingssysteme gibt es weitere Verträge, so dass man bei (aktuellen) Kosten von knapp sechs Milliarden Euro landet. Gesichert hat man sich die Option auf zwei weitere Schiffe dieses Typs. Ein kräftiger Nachschlag aus dem Bundeshaushalt wird auch für die im Bau befindlichen fünf Korvetten des zweiten Loses nötig, sagt das Verteidigungsministerium und beantragte eine »überplanmäßige Verpflichtungsermächtigung« in Höhe von 73,3 Millionen Euro. Die werden in den Jahren 2021 bis 2026 fällig. Zur Inbetriebnahme der Schiffe sei das Geld zwingend erforderlich. Bekomme man die Gelder nicht, so wird gedroht, könne man die gegenüber der Nato eingegangenen Verpflichtungen insbesondere bei der Aufstellung der Very High Readiness Joint Task Force 2023 (VJTF), mit der man vor allem Russland schrecken will, nicht erfüllen. Verrechnet hat man sich auch bei der Modernisierung der in den Niederlanden gebraucht gekauften Seefernaufklärer P-3C Orion. Die Rede ist von »inakzeptablen Unwägbarkeiten«. Nun hat das Verteidigungsministerium die seit 2015 laufenden Arbeiten gestoppt. Bis zur Entwicklung eines neuen Systems 2035, so heißt es, soll ein anderes Flugzeug als Übergangslösung gesucht werden. Auch die Luftwaffe brachte im Juni eine Reihe von Projekten durch. »Zur Verbesserung der Lufttransportkapazität der Flugbereitschaft BMVg im Segment zwischen dem Großraumtransportflugzeug A400M und dem bereits im Zulauf befindlichen und ab 2021 verfügbaren neuen Luftfahrzeug A330 MRTT« beschafft man kurzfristig zwei fabrikneue Airbus-Maschinen vom Typ A321 LR. Veranschlagt werden rund 300 Millionen Euro. Beschlossen wurde auch die Umrüstung von 170 Patriot-Bestandslenkflugkörper, mit denen feindliche Raketen, Marschflugkörper sowie Luftfahrzeuge abgewehrt werden sollen. Auch das sei notwendig zur »Grundbefähigung für den deutschen Beitrag zur VJTF 2023«. Der Finanzbedarf liegt laut Ministerium bei gut 213 Millionen Euro. Neben der Luftwaffe freut sich insbesondere der Bundeswehr-Cyber-Bereich über die Bewilligung von Mitteln, mit denen beim Hersteller Bombardier drei Maschinen vom Typ Global 6000 reserviert werden können. Die kleinen Jets kosten - nach bisherigen Planungen - 158 Millionen Euro. Das pikante daran: Bombardier stellt die Produktion dieses Typs noch in diesem Jahr ein, doch mit Hilfe der Lufthansa konnte sich die Bundeswehr noch ein paar Maschinen von der Resterampe sichern. Sie sollen als fliegende Plattform für das geheime PEGASUS-Projekt dienen. Das brauche man, um eine bestehende »Fähigkeitslücke im Bereich der Signalerfassenden Luftgestützten Weiträumigen Überwachung und Aufklärung (SLWÜA)« zu schließen, heißt es. Was so weitschweifend beschrieben wird, ist die nunmehr bemannte Fortsetzung des 2011 endgültig gescheiterten EuroHawk-Drohnen-Debakels, bei dem Hunderte Millionen Euro verschwendet wurden. Der Neustart kommt insbesondere der Hensold Sensors GmbH in Ulm, die sich um die Ausstattung der Jets mit High-Tech-Spionagegeräten kümmert, zugute. Nicht alle Projekte sind so unübersehbar wie Schiffe, Flugzeuge oder Panzer. Beispiel: 405 sogenannte Fahrersichtsysteme für den »Boxer«. Kostenpunkt: 68,5 Millionen Euro. Doch diese Investition ist möglicherweise tatsächlich ein Zuwachs in Sachen Sicherheit, denn bislang dürfen die hochgelobten, von Rheinmetall und Krauss-Maffei-Wegmann gefertigten Transportpanzer nur dank einer Ausnahmegenehmigung am Straßenverkehr teilnehmen. | René Heilig | Der Verteidigungshaushalt steigt und steigt. 2020 werden trotz Pandemie-Neuverschuldung 45,2 Milliarden Euro und damit zwei Milliarden mehr als 2019 ausgegeben. | Bundeswehr, Militarisierung, Rüstungsindustrie | Politik & Ökonomie | Politik Bundeswehr | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1138199.milliarden-fuers-militaer.html |
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Ratten-Verwandlung | Lupinenverkäufer, Komponisten, Gewürzkrämer, Geschäftsmänner mit Goldzähnen in eleganten Ledersesseln, Bohnenverkäufer, Generalinspektoren für Beamtenfragen, Stadtviertel, in denen Armut und Reichtum gleichermaßen beheimatet sind, enge und baufällige Gassen oder Kaffeehäuser und Kneipen, wo Witze und Anekdoten ausgetauscht werden: Ja, wir sind in Kairo unterwegs und an unserer Seite ist Nagib Machfus. Der Band »Die himmlische Begegnung. Ausgewählte Erzählungen« versammelt 15 Kurzgeschichten, die zwischen 1963 und 1989 verfasst wurden. Einem roten Faden gleich durchziehen sie Großthemen wie etwa Angst, Gewalt, die (nicht selten obsessive) Suche nach einem besseren Leben oder die Rolle der Frau in der im Umbruch befindlichen modernen ägyptischen Gesellschaft. Immer kreisen sie um das (Klein-)Bürger- tum und dessen Tugenden, die für Machfus die arabischen spiegeln, wenn nicht sogar die der Menschheit überhaupt. Der 1911 in Kairo geborene ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Ute Evers | Erzählungen von Nagib Machfus | Ägypten, Buchrezension, Frauen, Gleichberechtigung, Revolution | Feuilleton | Kultur | https://www.nd-aktuell.de//artikel/186828.ratten-verwandlung.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Ohne schwarzen Klotz am Bein | Nicht nur im Bund sind die Sozialdemokraten im zu Ende gehenden Jahr die CDU als Partnerin losgeworden. Auch in Mecklenburg-Vorpommern entledigte sich die SPD der Konservativen, mit denen sie zuvor seit 2006 zusammen regiert hatte. Die CDU war bei der Landtagswahl am 26. September bei nur noch 13,3 Prozent der Stimmen gelandet. Das waren 5,7 Prozentpunkte weniger, als die Christdemokraten vor fünf Jahren für sich verbuchten. Die SPD dagegen konnte sich bei 39,6 Stimmenprozent über einen Zuwachs von neun Prozentpunkten freuen. Sie hatte freie Auswahl«bei der Entscheidung für einen Partner und erkor die Linkspartei. Für diese hatten 9,9 Prozent der Wählerinnen und Wähler gestimmt. Damit musste die Partei einen Verlust von 3,3 Prozentpunkten hinnehmen, ging aber trotzdem in die Regierung. Sonderparteitage von SPD und Linkspartei hatten dem rot-roten Bündnis zugestimmt. Seitens vieler Sozialdemokraten, das war aus dem Kreis der Delegierten zu hören, ist man froh, den Koalitionspartner CDU los zu sein. Er sei »ein schwarzer Klotz am Bein« gewesen, wurde resümiert. Auch die AfD musste bei der Landtagswahl Federn lassen. Das Wahlergebnis der Rechtspopulisten sank um 4,1 Prozentpunkte auf 16,7 Stimmenprozent. Grünen und FDP gelang knapp der Einzug in den Schweriner Landtag. Dass die Sozialdemokraten dort die meisten der 79 Abgeordneten-Plätze einnehmen, 34 an der Zahl, dürften sie wesentlich ihrer Genossin Manuela Schwesig verdanken. Zum einen ist ihr die Sympathie eines beachtlichen Teils der Bevölkerung sicher, zum anderen wird ihr und damit der SPD der Amtsbonus als Ministerpräsidentin zugutegekommen sein. Die Corona-Pandemie war womöglich ebenfalls eine, wenn auch unwillkommene Wahlhelferin der Sozialdemokraten. Die Pandemiebekämpfung fällt in weiten Bereichen in die Kompetenz der Länder. Deren Entscheidungen und Appelle im Zusammenhang mit dem Virus werden zumeist von den jeweiligen Regierungschefinnen oder -chefs verkündet. Im Nordosten eben von Schwesig, was ihr vor der Wahl eine entsprechende Medienpräsenz verschaffte. Diese Präsenz wiederum mag sich auf das Abstimmungsverhalten der Wählerinnen und Wähler ausgewirkt haben, die sich in diesem Jahr rege an der Entscheidung über ihr Landesparlament beteiligten. Exakt 70,8 Prozent der rund 1,3 Millionen Wahlberechtigten im Nordosten gaben ihre Stimmen ab. Der neue Landtag hat mittlerweile mehrere Sitzungen, auch speziell zur Corona-Lage, absolviert. Auf der ersten, der konstituierenden Sitzung, wurde die bis dahin amtierende Landtagspräsidentin Birgit Hesse (SPD) von 59 der 79 Abgeordneten in ihrer Funktion bestätigt. Auch die zweite Zusammenkunft des Plenums, dazu war im November eingeladen worden, war von einer Personalie geprägt. Die Regierungschefin des Landes wurde gewählt. Mit 41 von 79 abgegebenen Stimmen entschieden die Parlamentarier, dass Ministerpräsidentin Schwesig im Amt bleibt. Auf der Sitzung Mitte Dezember beschloss das Plenum die erneute Einsetzung eines Ausschusses zum Thema »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Nach wie vor sollen die Hintergründe des rechten Terrornetzwerks erörtert werden. Für den Ausschuss stimmten SPD, Linkspartei, FDP und Grüne. CDU und AfD enthielten sich. Zu Beginn der Sitzung hatte sich Schwesig mit ihrer Regierungserklärung an Plenum und Zuhörer gewandt. Die Ministerpräsidentin kündigte an, was in den kommenden Jahren auf Grundlage des Koalitionsvertrages verbessert werden solle. Im Bereich der Umwelt gibt es demnach viel zu tun. Sonne und Wind, im Nordosten reichlich vorhanden, sollten an die Stelle von Kohle, Erdöl und Atomkraft treten. Höhere Löhne müssten durch tarifgebundene Bezahlung bei Firmen erreicht werden, die sich um öffentliche Aufträge bemühen. Als die derzeit drängendste Aufgabe stellte die Regierungschefin aber den Kampf gegen die Corona-Pandemie heraus. »Der beste Schutz vor Corona ist die Impfung«, betonte die SPD-Politikerin. | Hagen Jung | Für die SPD geht nach vielen Rückschlägen in der Vergangenheit ein erfolgreiches Wahljahr zu Ende. In Mecklenburg-Vorpommern profitierte die Partei von der Beliebtheit ihrer Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. | CDU, Corona, Die Linke, linke Parteien, Manuela Schwesig, Mecklenburg-Vorpommern, NSU, SPD | Politik & Ökonomie | Politik Mecklenburg-Vorpommern | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1159776.ohne-schwarzen-klotz-am-bein.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Das BSW verbindet sonderbare Widersprüche | Am Montag ist etwas passiert, worauf viele Menschen gewartet haben – freudig, gespannt oder skeptisch: Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat sich als Partei gegründet. Ende Januar folgt der erste Parteitag. Dann und in der Folge wird es wohl ausführlichere inhaltliche Positionen geben; die bisherigen aus dem Gründungsmanifest vom Herbst sind einigermaßen vage. Wagenknechts Linkskonservatismus lässt erheblichen Spielraum für Interpretationen und Fragen. Und für Widersprüche. Im zentralen Feld der Sozialpolitik ist das deutlich ablesbar. Was erst recht dadurch brisant wird, dass ein Hauptvorwurf Wagenknechts an die Linkspartei ist, das Soziale vernachlässigt zu haben. Nicht nur dass im Gründungsmanifest mit keiner Silbe von Gewerkschaften und Tarifkämpfen die Rede ist, dafür vom unternehmerischen Mittelstand. Wagenknecht plädierte etwa in der Debatte über das Bürgergeld dafür, junge Menschen, die Qualifizierungsangebote ablehnen, zu sanktionieren – ihnen also das Bürgergeld, das das Existenzminimum sichern soll, zu kürzen. In die gleiche Kategorie fällt ihre Forderung, Leistung für Asylbewerber zu kürzen, um die ihrer Meinung nach ungeregelte Zuwanderung einzudämmen. Bei der Vorstellung der neuen Partei war auch Thomas Geisel, Ex-Oberbürgermeister von Düsseldorf, zugegen. Er ist BSW-Kandidat für die Europawahl. In einer ausführlichen Mail begründet er seinen Schritt, behauptet darin sogar, einer der Spitzenkandidaten werden zu wollen. Die SPD verlässt er, weil sie sich »in Zeiten eines gravierenden Fachkräftemangels vom Prinzip des Förderns und Forderns« aus der Kanzlerschaft Gerhard Schröders verabschiedet habe. Von der Hartz-IV-Praxis also, die allerdings in Form neuer Sanktionen beim Bürgergeld durch die Hintertür zurückkehrt. Das ist bemerkenswert: Ein Bis-eben-noch-Sozialdemokrat, der beim BSW für höhere Aufgaben vorgesehen ist, trauert Hartz IV nach. Das Hartz-System, eine drastische Verschärfung der Sozialpolitik, hatte maßgeblich zum Bruch zwischen Schröder und Oskar Lafontaine auf Jahrzehnte geführt. Lafontaine wiederum ist einer der Planer und Ratgeber des BSW. Warum glaubt ein Mann wie Thomas Geisel, beim BSW richtig zu sein, das doch die bessere Sozialpolitik machen will? Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Die neue Partei soll nicht ewig Bündnis Sahra Wagenknecht heißen. Nach der Bundestagswahl 2024, wenn sie sich etabliert hat – so die Hoffnung der Gründer –, könne der Name geändert werden. Vielleicht sieht man bis dahin auch klarer, wie die ziemlich verschiedenen Bausteine zusammenpassen sollen. Vorerst aber lässt sich BSW auch mit Bündnis sonderbarer Widersprüche übersetzen. | Wolfgang Hübner | Am heutigen Montag hat Sahra Wagenknecht ihre Partei gegründet. Politische Leitlinien sind bislang vage; was schon bekannt ist, passt längst nicht überall zusammen. | Die Linke, Hartz IV, Oskar Lafontaine | Meinung | Kommentare Sahra Wagenknecht | 2024-01-05T17:25:43+0100 | 2024-01-05T17:25:43+0100 | 2024-01-08T18:42:38+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1179004.sahra-wagenknecht-das-bsw-verbindet-sonderbare-widersprueche.html |
Welternährung in Gefahr | Berlin. Die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO hat anlässlich des Welternährungstages am Dienstag an die Staaten appelliert, Fluchtursachen wirksamer zu bekämpfen. »Das Ziel muss sein, Migration zu einer Alternative, nicht zu einer Notwendigkeit zu machen«, erklärte FAO-Generaldirektor José Graziano da Silva am Montag in Rom. Zwänge zur Migration könnten mit Hilfe von Entwicklungs- und Landwirtschaftspolitik bekämpft werden, heißt es in einem FAO-Bericht. Investitionen in ländliche Gebiete, aus denen 80 Prozent der Migranten in Entwicklungsländern stammen, könnten Migrationsdruck mindern. Die Folgen der Erderwärmung wie Dürre, Hitzewellen und Starkregen stellen eine wachsende Gefahr für die Welternährung und die Landbevölkerung in armen Ländern dar. Eine Stärkung der Landbevölkerung auch aus Klimaschutzgründen fordert dagegen die »Climate, Land, Ambition & Rights Alliance« in einer aktuellen Studie: »Agrarökologische Ansätze in der Landwirtschaft, die natürliche Ressourcen und genetische Vielfalt schützen, bäuerliche Selbstbestimmung stärken und auf den Einsatz von fossilen Rohstoffen weitestgehend verzichten, sind der Schlüssel für nachhaltige und gerechte Ernährungssysteme sowie ambitionierten Klimaschutz« sagt Eike Zaumseil von der Hilfsorganisation Brot für die Welt. Den seit 1979 jährlich begangenen Welternährungstag nutzen indes auch Konzerne, um für ihre Produkte zu werben. So veranstaltet der Düngemittelhersteller K&S eine Konferenz, an der unter anderem Entwicklungsminister Gerd Müller teilnimmt. Der kanadische Konzernkritiker Pat Mooney weist im nd-Interview auf die Gefahren der Digitalisierung der Landwirtschaft hin: »Durch Big Data ist unsere Ernährungssicherheit zunehmend von Datenplattformen abhängig.« | Kurt Stenger | Die Folgen der Erderwärmung wie Dürre, Hitzewellen und Starkregen stellen eine wachsende Gefahr für die Welternährung und die Landbevölkerung in armen Ländern dar, warnt die UN anlässlich des Welternährungstags. Die Folge? Wachsende Flüchtlingszahlen. | Digitalisierung, Einwanderung, Klimaschutz, Landwirtschaft, UNO | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Welternährungstag | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1103507.welternaehrung-in-gefahr.html |
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»Muss sich erst herumsprechen« | Mit vollen Einkaufstüten steigt Margarete Schulze in den Kleinbus. »Diesen Bus finde ich gut - der hält überall und man muss nicht so weit zu den Haltestellen laufen«, bringt die 80-Jährige die Vorteile von Sachsen-Anhalts erstem Bürgerbus auf den Punkt. Sie wohnt im 300-Seelen-Ort Walsleben. Ein eigenes Auto, um zum Einkaufen oder für einen Arzttermin nach Osterburg zu kommen, hat sie nicht. »Ich bin auf meine Kinder angewiesen.« Tagsüber müssen die jedoch arbeiten und das Angebot an regulären Buslinien ist dürftig. Mit dem Bürgerbus kommt sie unkompliziert ins Zentrum, zudem hält der Bus auch direkt vor dem Supermarkt. »Gerade für ältere Leute ist das schon schön.« Das Prinzip des Bürgerbusses: Ehrenamtliche Fahrer setzen sich in ihrer Freizeit hinters Lenkrad - Bürger fahren also Bürger. Das im Februar gestartete und mit EU-Geldern finanzierte Projekt ist das erste der Art in Sachsen-Anhalt. Demnächst soll ein Bus in Möser im Jerichower Land folgen. Andere Bundesländer haben mehr Erfahrung. In Sachsen rollen die Busse im Vogtland und in Nord- und Ostsachsen. In Nordrhein-Westfalen, wo die Idee entstand, gibt es Bürgerbusse seit mehr als 30 Jahren. Solche Projekte könnten dazu beitragen, dass kleine Orte auch in Zeiten des demografischen Wandels lebenswert bleiben, sagt Sachsen-Anhalts Verkehrsminister Thomas Webel (CDU). Gerade in ländlichen Regionen sind die Wege oft weit und Einkaufsmöglichkeiten oder Ärzte gibt es oft nur in größeren Orten. Osterburgs Bürgermeister Nico Schulz (CDU) betont, das Projekt stärke auch den nachbarschaftlichen Zusammenhalt. Acht ehrenamtliche Fahrer sitzen im Wechsel hinter dem Steuer des Osterburger Bürgerbusses. Im Rhythmus von zwei Wochen bedient er acht verschiedene Routen. Jeden Freitag in ungeraden Kalenderwochen ist die Tour Walsleben dran, bei der Lutz Klooß den Bus steuert. »Solange es mir gesundheitlich gut geht, mache ich das gern«, sagt der 69-Jährige, der im Berufsleben in ganz Deutschland auf Montage unterwegs war. Vor ihrem Einsatz wurden die Fahrer umfangreich geschult, berichtet Wolfgang Ball von der Nahverkehrsgesellschaft Nasa, die das Projekt unterstützt. Dazu gehörte neben einer Gesundheitsuntersuchung auch ein Reaktionstest, wie Fahrer Klooß berichtet. Gemeinsam mit den anderen Fahrern hätte sie zudem die Routen abgefahren, um sich mit Ablauf und Haltestellen vertraut zu machen. Auch wenn alle Beteiligten das Projekt loben - in den ersten Tagen sitzen nur wenige Fahrgäste im Bus. »Natürlich haben wir nicht erwartet, dass von Beginn an jeden Tag sieben Leute vor der Tür stehen«, sagt Verwaltungsamt-Leiterin Anke Müller. Sie ist zuversichtlich, dass die Nachfrage rasch wächst. »Das neue Angebot muss sich erst herumsprechen, die Leute müssen Vertrauen fassen.« Ein Blick nach Sachsen zeigt, dass das gelingen kann. Den Bürgerbus im Vogtland gibt es seit einem Jahr, mehr als 10 000 Fahrgäste haben das Angebot schon genutzt. Der Bus stoppt alle paar hundert Meter, damit die Fahrgäste möglichst kurze Wege haben. Das Interesse ist entsprechend groß, Leerfahrten eine Seltenheit. Auch der Bürgerbus in Osterburg ergänzt zunächst mit Fahrten am Vormittag den regulären Busverkehr - mit anderer Linienführung und Zusatzhaltestellen. An Nachmittagen und am Wochenende soll der Bus Vereinen zur Verfügung stehen. So könnten Kinder zum Sporttraining gebracht werden oder Seniorengruppen einen Theaterausflug machen, sagt Müller. dpa/nd | Simon Ribnitzky, Osterburg | Seit kurzem rollt Sachsen-Anhalts erster Bürgerbus durch die Altmark. Vor allem Senioren soll der Kleinbus mit ehrenamtlichen Fahrern den Alltag erleichtern. | Sachsen-Anhalt | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1081827.muss-sich-erst-herumsprechen.html |
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Massenprotest gegen Braunkohle | Eigentlich ist ein Erdwall, den RWE vor Jahren hinter dem Hambacher Forst aufgeschüttet hat, bei jedem Protest am Tagebau die Grenze. Wer den Erdwall überschreitet, der muss damit rechnen, vom Energiekonzern wegen Hausfriedensbruchs angezeigt zu werden, und landet schnell in Polizeigewahrsam. Wenn, wie bei »Ende Gelände« im letzten Jahr, der Wall überschritten wird, dann wird die Polizei nervös, jagt Demonstranten, Pfefferspray und Knüppel kommen zum Einsatz. Am Samstag war alles anders. Hinter dem Wall hatten sich zwar einige Polizeikräfte postiert, aber als immer mehr Menschen zur Abbruchkante des Tagebaus Hambach strömen, da beschränken sich die Beamten nur darauf zu sagen, dass es »lebensgefährlich« sei, zu nah an die Kante zu gehen, und man vorsichtig sein solle. Eine Lautsprecherdurchsage, die Aussicht an den offiziellen »Sightseeing-Punkten« sei »phänomenal«, erzielt auch nicht den gewünschten Erfolg. Tausende Menschen und einige Hunde strömen an die Abbruchkante, blicken in das bis zu 400 Meter tiefe Loch und schreien einem Braunkohlebagger immer wieder »Kohle stoppen!« und »Hambi bleibt!« entgegen. Einige besonders wagemutige Demonstranten steigen hinab auf die oberste Ebene des Tagebaus. Aus ihren Körpern formen sie die allgegenwärtige Botschaft »Hambi bleibt!«, ein beliebtes Fotomotiv für die Menschen, die oben an der Kante stehen. Allgemein wird viel fotografiert, Selfies an der Abbruchkante sind der Hit. Nach ein paar Fotos und vielleicht noch einem kurzen Picknick an der Kante gehen die Demonstranten auch wieder zurück in den Wald und zur Großkundgebung. RWE ist trotzdem gezwungen, aus Sicherheitsgründen drei Bagger abzuschalten. Ein weiterer Erfolg für die 50.000 Menschen, die für das Ende der Braunkohleverstromung demonstrieren. Die Großkundgebung ist, wie Großkundgebungen eben so sind. Von Wagenknechts Aufstehen, bis zum Stromanbieter von Greenpeace haben alle Organisationen, die irgendwas zum Thema zu sagen haben Stände aufgebaut. Fahnen werden verkauft, Broschüren zu den unterschiedlichsten Themen angeboten. Zwischen Rede- und Musikbeiträgen wird von der Bühne animiert, Parolen zu rufen und Schilder hochzuhalten. Dafür, dass Fotografen gute Bilder schießen können, ist gesorgt, gleich zwei Hubsteiger haben die Demo-Organisatoren aufgestellt. Die Bilder der Menschenmassen werden während die Kundgebung läuft, fleißig über Social-Media-Kanäle verteilt. BUND, Campact, Greenpeace und Naturfreunde wissen, wie man medienwirksame Großproteste organisiert. Auch zu den Organisatoren gehört die lokale Initiative »Buirer für Buir«. Seit Jahren setzt sich die Initiative für den Erhalt des Hambacher Forstes ein. Ihr bekanntestes Gesicht ist Antje Grothus, die auch in der sogenannten Kohlekommission sitzt. In ihrer Rede berichtet Grothus vom langen, einsamen Kampf gegen RWE, nennt die Menschen die immer schon dabei waren. Sie lobt die Waldbesetzer, ohne die der Hambacher Forst nie zu dem Thema geworden wäre, dass er heute ist. Antje Grothus hat auch eine klare Einschätzung der Vorgänge in den letzten Wochen: »Gerichte mussten durchsetzen, was eigentlich Aufgabe der Politik ist, nämlich wertvolle Natur zu schützen vor den rücksichtslosen und rechtswidrigen Plänen eines Energiekonzerns.« Den Rodungsstopp im Hambacher Forst müsse die Bundesregierung nutzen, um endlich den Kohleausstieg »ambitioniert« anzugehen. Gegenüber dem »nd« zieht Antje Grothus am Abend nach der Kundgebung ein durch und durch positives Fazit des Tages: »Dass Zehntausende am abgelegenen Hambacher Wald, unweit meines Zuhauses, für einen schnellen Kohleausstieg demonstrieren, hat mich sehr bewegt und berührt.« Der Tag habe sie »bestärkt und motiviert«, sich weiter für den Wald und die vom Tagebau Garzweiler gefährdeten Dörfer einzusetzen. Auch im Hambacher Wald passiert am Samstag viel. Während Waldwege wieder verbarrikadiert werden, hat das Bündnis »Ende Gelände« dazu aufgerufen, mit roten Hängematten im Wald Platz zu nehmen. Und während die einen, in den Hängematten entspannen, entsteht in den Baumwipfeln über ihnen das erste neue Baumhausdorf, das auf den Namen »Grüne Frieda« getauft wird. Bewohner des geräumten Baumhausdorfes Oaktown zeigen sich begeistert vom Tag. »Wunderschön, so viel Solidarität aus allen Ecken der Welt zu bekommen und mehr als fünfzigtausend Menschen zu sehen, die sich von überall her auf den Weg zum Wald gemacht haben, um die Bewegung vor Ort zu unterstützen.« Und auf noch etwas weisen die Menschen aus Oaktown hin: »Die Menschen lassen sich nicht mehr abschrecken und einschüchtern, sondern holen sich gemeinsam den Wald zurück.« Dabei haben die Demonstranten am Samstag allerdings auch verdammt leichtes Spiel. Die Motivation, irgendwelche Barrikaden zu räumen, geht bei vielen der eingesetzten Polizeikräfte gegen Null. Sie fragen sich, ob ihr wochenlanger Einsatz sinnlos war. Der Samstag hat gezeigt: die Anti-Kohle-Bewegung ist der Nachfolger der Anti-Atom-Bewegung. Sie kann zehntausende Menschen mobilisieren, und vom linksradikalen Autonomen bis zum Naturschützer kann in ihr jeder einen Platz finden. Gepaart mit der massenhaften Bereitschaft zum Regelverstoß könnte sie es schaffen, den Kohleausstieg zu beschleunigen. Allerdings rückt mit dem Hambacher Forst eines ihrer wichtigsten Symbole für die nächsten ein bis zwei Jahre in den Hintergrund. Ob es auch gelingt, Massen in die Dörfer zu mobilisieren, die abgebaggert werden sollen und in denen es viele widersprüchliche Interessen gibt, wird über den Erfolg der Bewegung entscheiden. | Sebastian Weiermann | Der Samstag im Hambacher Forst hat gezeigt: die Anti-Kohle-Bewegung ist der Nachfolger der Anti-Atom-Bewegung. Rund 50.000 Menschen demonstrierten für das Ende der Braunkohleverstromung. Doch es bleibt eine zentrale Herausforderung. | Braunkohle, Ende Gelände, Hambacher Forst, Klimabewegung, Klimaschutz, RWE | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Hambacher Forst | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1102625.massenprotest-gegen-braunkohle.html |
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AirBnB bekommt Probleme daheim | In San Francisco ist der Zimmer- und Wohnungsvermietdienst AirBnB entstanden und zum Milliardengeschäft geworden. Und eben dort sollen dem Unternehmen jetzt die Flügel gestutzt werden. So jedenfalls sieht es die »Proposition F« vor. Über den Vorschlag zur deutlichen Begrenzung des AirBnB-Angebots müssen an diesem Dienstag die Bewohner der kalifornischen Stadt abstimmen. Bislang ist die Vermietung auf 90 Nächte im Jahr begrenzt, wenn der Vermieter nicht im selben Haus wohnt, während die AirBnB-Gäste dort sind. Ansonsten darf er unbegrenzt vermieten. »Aber das kontrolliert doch niemand«, sagt Joseph Tobener erbost. Das Mitglied des Haus- und Wohnungsbesitzerverbandes von San Francisco gehört zu den 50 000 Unterstützern, die mit ihrer Unterschrift die Bürgerabstimmung über die »Proposition F« durchgesetzt haben. Diese will die Kurzzeitvermietung von Wohnungen über AirBnB und ähnliche Dienste auf 75 Nächte im Jahr beschränken. Den Unterstützern geht es zu weit, dass viele Vermieter mit ihren meist kurzfristigen Angeboten einen schnellen Dollar machen, während die Wohnungsknappheit in San Francisco immer mehr zunimmt und die Mieten derart steigen lässt, dass sich kaum noch jemand findet, der sie bezahlen kann. Vermittler wie AirBnB verzeichnen dagegen rund 10 000 Angebote für Kurzzeitvermietungen in San Francisco. Das im vergangenen Jahr zusammen mit der 90-Nächte-Regelung eingeführte Stadtbüro für Kurzzeitvermietung hat allerdings bisher lediglich 726 Registrierungen vorgenommen. Das Unternehmen AirBnB wurde 2008 gegründet - heute beträgt der Firmenwert 25 Milliarden Dollar. Ähnliche Probleme mit seinem Vermietangebot hat es auch in anderen großen Städten wie Berlin, Paris und New York. Der Kampf um »Proposition F« wirft ein Schlaglicht auf die Probleme am Wohnungsmarkt von San Francisco. Höchstbezahlte Angestellte von Unternehmen wie Apple, Facebook und Google im nahen Silicon Valley haben die Stadt quasi erobert und sowohl die Mieten als auch die Kaufpreise in die Höhe getrieben. Eine Wohnung in San Francisco kostet inzwischen durchschnittlich 3458 Dollar im Monat - eine Steigerung um 13,2 Prozent in nur einem Jahr, wie die kalifornische Immobilienfirma Real Answers ermittelt hat. Der Kaufpreis für eine Durchschnittswohnung liegt inzwischen bei 1,1 Millionen Dollar. Das ist ein Anstieg um 60 Prozent in fünf Jahren. Die Wohnkosten in San Francisco haben eine Krisenstimmung aufkommen lassen, stellt Scott Wiener von der Stadtverwaltung fest. Zur Abstimmung steht am Dienstag deshalb auch ein weiterer Vorschlag: Der Neubau von Luxuswohnungen im angesagten Mission-Distrikt der Stadt soll eingefroren werden. Wie aufgeheizt die Stimmung an manchen Tagen ist, zeigte sich zu Jahresbeginn. Damals wurden Busse, mit denen die Vielverdiener von ihren Luxusappartments zu ihren Arbeitsplätzen im Silicon Valley chauffiert werden, von einfachen Leuten aus San Francisco mit Steinen beworfen. AirBnB hat derweil eine Menge gegen die »Proposition F« aufgeboten. Rund acht Millionen Dollar soll die Nein-Kampagne mit Riesenplakaten in der ganzen Stadt und einer Menge Anzeigen gekostet haben. Das Unternehmen hat sich mit Chris Lehane ein Schwergewicht für die politische Werbung geholt. Der einstige Präsidentenberater von Bill Clinton stelle lakonisch fest: »›Proposition F‹ bringt nichts.« Umfragen scheinen zu bestätigen, dass die Kampagne gegen den Vorschlag gewirkt hat. 55 Prozent der San Franciscoer waren Ende Oktober gegen »F«. | John Dyer | In San Francisco ist Wohnraum knapp und zu teuer geworden. Die Lage wird verschärft durch die Nutzung vieler Wohnungen als Hotelersatz. Ein Referendum soll diese Praxis nun stoppen. | Hotels, Wohnen | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/989867.airbnb-bekommt-probleme-daheim.html |
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»Blaue Wende« gegen Mindestlohn | Berlin. Die ehemalige AfD-Chefin Frauke Petry sieht sich politisch immer noch da, wo sie in der Frühphase der AfD stand. Nicht sie habe sich verändert, vielmehr habe sich die AfD gewandelt, sagte Petry bei einer Veranstaltung des Forums »Blaue Wende« in Berlin. Das liberal-konservative Forum sei gegen den Mindestlohn und gegen eine Außenpolitik, die primär auf Russland fokussiert sei. Petry hatte nach der Bundestagswahl ihren Austritt aus der AfD erklärt und »Die blaue Partei« gegründet. Sie gehört dem Bundestag als Fraktionslose an. dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | AfD, Frauke Petry, Mindestlohn | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1072878.blaue-wende-gegen-mindestlohn.html |
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Analyse statt Nachahmung | Vor 25 Jahren wurde das Experiment einer zentralistischen Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der DDR und den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sowie der Sowjetunion abgebrochen. Es war der größte und am längsten dauernde Versuch der Neuzeit, eine nichtkapitalistische Wirtschaftsweise einzuführen. Konfuzius sagte: »Menschen können in drei Weisen lernen: Erstens durch Analyse, dies ist der ehrenhafteste Weg. Zweitens durch Nachahmung, das ist der einfachste Weg. Drittens durch Erfahrung und dies ist der bitterste Weg.«
Nachgeahmt wurde genug und bittere Erfahrung massenhaft angehäuft. Klaus Steinitz und Dieter Walter gehen den Weg der Analyse - mit dem Ziel, sie künftigen Generationen zur Verfügung zu stellen. Denn eins ist klar: Die ungeheuren sozialen und ökologischen Probleme, die Überwindung der krassen globalen Ungleichgewichte, der notwendige Umbau der gesamten stofflichen, energetischen, infrastrukturellen Systeme wird nicht weniger, sondern mehr Prognose und Planung erfordern, als heute geleistet wird. Die sogenannte Energiewende macht es deutlich: Märkte können bei Umwälzungen nur ihren Part leisten, wenn es klare Vorgaben, langfristige Preisgestaltung, massive öffentliche Investitionen und staatliche Förderung gibt.
Die Autoren entwickeln ein schlüssiges Gesamtkonzept des Verhältnisses von Plan und Markt, betonen die zentrale Rolle umfassender Demokratisierung und beziehen, wenn auch sehr knapp, Ansätze solidarischer Ökonomie und der neuen Diskussion zu den Commons ein. Besonders aufschlussreich sind die Darstellungen zu den DDR-Wirtschaftsreformen der 1960er, mit denen auf die Grundprobleme einer Zentralverwaltungswirtschaft reagiert wurde.
Neu ist vor allem aber die Analyse der Probleme langfristiger Wirtschaftsprognose und Perspektivplanung, die ab der zweiten Hälfte der 1960er in den Vordergrund trat. Gerade dies könnte von Bedeutung für heutige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ansätze sein. Wie die Autoren schreiben: »Die gesellschaftliche Regulierung der wirtschaftlichen Entwicklung kann auf der Grundlage eines starken öffentlichen Sektors sowie unter Nutzung des Markts und seiner Mechanismen wesentlich dazu beitragen, dass die langfristigen Prozesse und qualitativen Umschläge nicht nur erkannt, sondern auch die erforderlichen Potenziale für ihre Realisierung bereitgestellt und gezielt eingesetzt werden.«
Prognose, langfristige Entwicklungspläne, Planung und Bilanzierung der Schwerpunktaufgaben, ständiges Monitoring und Feedback seien Bedingungen, um die engen Verflechtungen ökonomischer, sozialer, ökologischer und kultureller Prozesse zu gestalten. Den Autoren gelingt es, die Komplexität der notwendigen Aufgaben zu verdeutlichen, die Bildung und Kultur sowie Wertvorstellungen, Arbeits- und Lebensbedingungen, Rohstoffsicherung und Energieversorgung, Territorialentwicklung und transnationale Integration einschließen - alles brandaktuell. Die Anlagen, nicht zuletzt Stellungnahmen von Fritz Behrens, Wlodzimierz Brus und Kazimierz Łaski, Jewsei Liberman, Radovan Richta und Ota Šik sind wichtige Ergänzungen.
Wer sich heute ernsthaft mit Fragen einer sozial-ökologischen Transformation kapitaldominierter Gesellschaften befasst, wird die Analyse von Steinitz und Walter weder links noch rechts liegen lassen. Hier wird nicht versucht, leichtfüßig über Probleme, Widersprüche und Ambivalenzen hinwegzuschreiben, sondern sich ihnen erfahrungsgesättigt zu nähern.
Steinitz, Klaus/Walter, Dieter: Plan - Markt - Demokratie, Prognose und langfristige Planung in der DDR - Schlussfolgerungen für morgen, VSA, Hamburg 2014, 224 Seiten, 16,80 Euro | Michael Brie | Vor 25 Jahren wurde das Experiment einer zentralistischen Planung und Leitung der Volkswirtschaft abgebrochen. Es war der am längsten dauernde Versuch der Neuzeit, eine nichtkapitalistische Wirtschaftsweise einzuführen. | Buchrezension, Planung, Sozialismus, Wirtschaft | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/930429.analyse-statt-nachahmung.html |
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Berliner Linke macht Weg für Rot-Grün-Rot frei | Die versammelten Delegierten des Berliner Linksparteitags drängen sich in den Willi-Münzenberg-Saal im nd-Gebäude. Insgesamt 143 Delegierte haben sich für den Sonderparteitag an diesem Dienstagabend eingefunden, auch 17 Gäste dürfen in dem angemieteten Saal bei der 3G-Veranstaltung dabei sein. Vor der Tür des Gebäudes demonstrieren zu Beginn unter anderem Aktivistinnen und Aktivisten der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen. Sie fordern von der Berliner Linken, dass sie sich für »konkrete Schritte« einer Vergesellschaftung von privaten Immobilienkonzernen in Berlin einsetzt. »Etliche Gutachten, nicht zuletzt solche des Senats haben die rechtssichere Ausgestaltung der Vergesellschaftung aufgezeigt, jetzt geht es um die Umsetzung«, erklärte im Vorfeld des Versammlung Ralf Hoffrogge, einer der Sprecher der Initiative. Die Debatte über die Umsetzung des Volksentscheides überschattet auch die Generaldebatte der Parteiversammlung, die sich eigentlich vor allem mit der Aufnahme von Koalitionsgesprächen mit der SPD und Grünen beschäftigen soll. Nach kontroverser Diskussion stimmt eine Mehrheit, bei einigen Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen, für die Aufnahme von Verhandlungen mit den Sozialdemokraten und Grünen. Das hatte auch der Landesvorstand dem Parteitag am Montagabend mit einer großen Mehrheit so empfohlen. »Ich glaube, wir haben die Chance, in dieser Stadt weiter mitzugestalten, wir haben auch eine Verpflichtung dazu«, erklärt die Landesvorsitzende Katina Schubert, auch mit Blick auf die Krankenhausbewegung, die bei dem Parteitag von ihren Arbeitskämpfen berichtet und die auf die Linke setzt. »Lasst uns diese Tür jetzt nutzen«, appelliert Schubert an die Delegierten, die Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Auch der Spitzenkandidat und Vizesenatschef Klaus Lederer spricht nach den Ende vergangener Woche abgeschlossenen Sondierungen von einer »Chance«, die es nun zu nutzen gelte. »Wir sind die einzigen verlässlichen Garanten dafür, dass an der Umsetzung eines Volksentscheides gearbeitet wird«, betonte Lederer. Es gehe dabei nicht darum, »ob« der Volksentscheid umgesetzt wird, sondern »wie«. Genau dafür soll die vereinbarte Expertinnenkommission die »alles andere als triviale« Umsetzung des Volksentscheides im kommenden Jahr prüfen, so Lederer. Der Vizesenatschef erklärt auch offen, dass er nicht an seinen Ämtern im Senat hänge. »Ich kann auch ohne.« Wie auf der Parteiversammlung vom Vize-Landesvorsitzenden Tobias Schulze berichtet wird, war mit der SPD und den Grünen nicht mehr zu holen, als die vier Sätze, die im Sondierungspapier zum Volksentscheid stehen. »Das ist das, was mit der SPD und den Grünen machbar war«, sagt Schulze. Bereits im Vorfeld war bekannt geworden, dass es einen Antrag gibt, mit der Forderung, dass die Umsetzung des Volksentscheids in den neuen Koalitionsvertrag geschrieben wird (»nd« berichtete). »Ich möchte für eine klare Verankerung des Volksentscheides im Koalitionsvertrag werben«, sagt die Abgeordnete Katalin Gennburg, die Stadtentwicklungsexpertin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, die den Antrag mit eingebracht hat. Auch andere Rednerinnen und Redner, darunter einige aus dem Bezirksverband Neukölln, fordern eine verbindliche Festschreibung der Umsetzung des Volksentscheids für eine mögliche künftige Regierung. Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform sagt: »Wenn wir mit Unverbindlichkeiten in die Verhandlung gehen, werden wir dafür teuer bezahlen wie damals bei den verscherbelten kommunalen Wohnungen.« Am Ende wird der Antrag A6, mit dem die Festschreibung im Koalitionsvertrag durchgesetzt werden soll, nicht vor der Abstimmung der Aufnahme zu Koalitionsverhandlungen behandelt. Der Antrag A1 des Landesvorstands für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit seinen Schwerpunkten, unter anderem für eine Fortsetzung der Investitionsoffensive in die öffentliche Infrastruktur und der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum und der Überwindung der Wohnungslosigkeit bis 2030, wird mehrheitlich angenommen. Damit wird am späten Dienstagabend der Weg für Koalitionsverhandlungen freigemacht. Die Gespräche über eine neue Koalition sollen noch in dieser Woche am Freitag beginnen. SPD und Grünen haben den Verhandlungen bereits zu Beginn der Woche zugestimmt. Ob am Ende der Verhandlungen eine Fortsetzung des Mitte-links-Bündnisses steht, wird auch allerdings davon abhängen, wie die Mitglieder der Linken in Berlin in einer Mitgliederbefragung über das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen befinden. Der Mitgliederentscheid wird für Anfang Dezember erwartet, kurz vor Weihnachten soll der neue Senat dann gegebenenfalls stehen. Möglicherweise trifft sich die Linke auch vorher zu einem »Ratschlag« mit den stadtpolitischen Bewegungen und der Zivilgesellschaft und den Basisorganisationen, um zu erörtern, was bei den Koalitionsverhandlungen herauskam. Diese Idee bringt der Vize-Landesvorsitzende Pascal Meiser in die Debatte ein. Der Bundestagsabgeordnete Meiser hat ebenfalls Kritik. »Dieses Sondierungspapier ist keine Grundlage für eine soziale und ökologische Koalition«, so Meiser, der selbstbewusst in die Verhandlungen gehen will. »Ja zu Koalitionsverhandlungen, aber kein Blankoscheck«, sagt er. | Martin Kröger | Mit einer Mehrheit haben die Delegierten der Berliner Linkspartei befürwortet, dass über die Fortsetzung der Mitte-links-Koalition verhandelt wird. Nach dem mäßigen Wahlergebnis bei der Wahl gibt es auch Kritik an einer Regierungsbeteiligung. | Berlin, Grünen, Katina Schubert, Klaus Lederer, Koalitionsverhandlungen, LINKE, Rot-Grün-Rot, Sondierungen, Sozialisten, SPD | Hauptstadtregion | Berlin Rot-grün-rote Koalitionsverhandlungen in Berlin | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1157820.berliner-linke-macht-weg-fuer-rot-gruen-rot-frei.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Ein Schrittchen, nicht mehr | Deutschland und Frankreich haben ihren Streit um die weitere Entwicklung des gemeinsamen Kampfflugzeugsystems (FCAS) beigelegt, teilte das deutsche Verteidigungsministerium kürzlich mit und tat so, als sei jetzt der Himmel klar und frei. »Auf dem Weg in Richtung Luftstreitkräfte der Zukunft in Europa zeigt sich erneut, dass wir die gewaltigen Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen können«, erklärte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Das französische Präsidialamt sah ein »wichtiges Signal der außergewöhnlichen Zusammenarbeit«. In Wirklichkeit geht es nur um die nächste Programmphase für das Luftkampfsystem der sechsten Generation. 2018 unterschrieben Dassault Aviation und Airbus Defence and Space eine entsprechende Übereinkunft. 2019 stieg Spanien ein. Bis die bemannten und unbemannten Jets dann – so geplant – ab 2040 in die Verteidigungssysteme eingepasst werden können, wird es gewiss noch mehr Gelegenheiten für Streit geben. Seit August 2021 verhandelten Dassault und Airbus, um das vergleichsweise kleine Problem zu überwinden. Auf deutscher Seite wurde immer wieder die »unterschiedliche Kultur« der Rüstungspolitik beider Staaten beklagt. Dassault, so hieß es auch, wolle den beteiligten Partnern nicht das notwendige Know-how offenlegen. In Paris dagegen moniert man, dass das deutsche Parlament – anders als das französische – allzu viele Rechte zur Mitwirkung hat. Zeitweise schien es, als wäre die Beendigung des Projekts nur noch eine Frage von Wochen. Nun setzte sich – so sagen Unterhändler – der politische Wille durch. Ab 2025 sollen zwei unterschiedliche FCAS-Demonstratoren in die Erprobung gehen. Was Lambrecht als »großartigen Schritt« verkaufen will, täuscht nur schwer über grundsätzliche politische Differenzen zwischen Berlin und Paris hinweg. Wer erinnert sich noch an die Visionen, die Emmanuel Macron 2017 in seiner berühmten Rede vor der Sorbonne verbreitete?! Damals wollte der französische Präsident die EU insgesamt stark machen. Er warb nicht nur für mehr militärische Zusammenarbeit und Rüstungskooperation, sondern sogar für einen gemeinsamen Haushalt in der Eurozone. Und heute? Die EU zerfasert, sogar das Berlin-Pariser Spitzenteam steckt in einer Beziehungskrise. Und das in einer Zeit, in der im Osten des Kontinents ein in seiner Bedeutung unwägbarer Krieg tobt, in der Energie- und Inflationsprobleme zu neuen Spannungen führen. Eigentlich stand im Oktober der für das Funktionieren der Gemeinschaft zumindest symbolische deutsch-französische Ministerrat an. Man hat das Treffen kurzfristig und mit fadenscheinigen Begründungen auf Januar 2023 verschoben. Die gemeinsamen Konsultationen gibt es seit 1963, abgesagt oder verschoben wurden sie zuvor noch nie. Auch der jüngste Besuch des Kanzlers Olaf Scholz bei Emmanuel Macron strahlte nicht gerade innige Verbundenheit aus. Im Moment scheinen beide Seiten auf Alleingang programmiert. Die Bundesregierung beschloss jüngst ein 200-Milliarden-Euro-Hilfspaket gegen steigende Gas- und Strompreise. Ohne vorher Paris zu informieren, was angesichts der erwartbaren Marktverzerrungen nur fair gewesen wäre. Mit Argwohn betrachtete man in Paris, dass Berlin zahlreiche neue Waffensysteme in Washington bestellt. Die deutsche Erklärung, dass solche Systeme in EU-Europa nicht zu haben sind, ignoriert man. Als Deutschland mit rund einem Dutzend anderer Ländern – zu denen Frankreich nicht gehört – die »European Sky Shield Initiative« unterzeichnete, war das Fass am Überlaufen. Verschiedene gemeinsame Rüstungsprojekte – wie beispielsweise ein neuer Seeaufklärer – stehen auf der Kippe. Dafür, so beschwichtigt man in Berlin, arbeite man gut zusammen bei der Entwicklung einer »Eurodrohne«. Gleiches kann man bei der weiter nur beschränkt möglichen Nutzung der »Tiger«-Kampfhubschrauber nicht sagen. Auch die Standardisierung und gemeinsame Neuentwicklung anderer Landsysteme kommt nicht voran. Kaum noch vorzeigbar ist die deutsch-französische Brigade. Als gemeinsame Truppe kam die seit 33 Jahren bestehende und 5000 Soldatinnen und Soldaten starke Brigade ohnehin noch nie zum Einsatz. Das einst in Deutschland stationierte französische Panzerregiment wurde längst wieder in die Heimat beordert. Was also bleibt, um die angebliche Größe der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu beschreiben? Ein paar deutsche Luftbetankungseinsätze für französische Jets im Rahmen von Anti-IS-Einsätzen. Im kommenden Jahr wird die gemeinsame Lufttransportstaffel mit ihren in den USA gekauften C-130H-Maschinen einsatzbereit sein. Wozu die aufgestellt wurde, weiß ohnehin kaum jemand. Jetzt über ein kosmisches Warnsystem zu reden, an dem Techniker beider Staaten arbeiten, erübrigt sich. Vor 2050 wird es vermutlich nicht einsatzbereit sein. | René Heilig | Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind mal wieder angespannt. Um Differenzen zu kaschieren, wird eine kleine Einigung beim Bau des gemeinsamen Kampfflugzeugsystems (FCAS) enorm wichtig. | Aufrüstung, Frankreich, Rüstungskonzern | Politik & Ökonomie | Politik Rüstungsprojekte | 2022-11-21T18:13:36+0100 | 2022-11-21T18:13:36+0100 | 2023-01-20T16:56:06+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1168709.ein-schrittchen-nicht-mehr.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
»Zu meinem Glück konnte ich schnell laufen« | Wenn an diesem Freitag die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Eugene beginnen, fehlen den Titelkämpfen die großen Stars: Jamaikas Laufikone Usain Bolt hat seine Karriere längst beendet. US-Jungstar Sha›Carri Richardson konnte sich bei den nationalen Ausscheidungen nicht qualifizieren. Und auch Rekordweltmeisterin Allyson Felix dürfte lediglich am Schlusswochenende in der 4×400-Meter-Staffel der USA eingesetzt werden. So kommt es, dass die Geschichte eines weiteren Weltstars derzeit das Topthema der Leichtathletik ist, obwohl auch er nicht in Eugene starten wird. Es ist die Geschichte von Mohamed »Mo« Farah – oder wie es nun vielleicht besser heißen muss: die Geschichte von Hussein Abdi Kahin. Der vierfache Olympiasieger hatte stets behauptet, mit seiner Mutter als Achtjähriger aus Somalia nach Großbritannien eingereist zu sein. Der Vater sei schon dort gewesen. In der Schule wurde dann sein Talent fürs Langstreckenlaufen erkannt, Farah wurde eingebürgert und 2012 zum Publikumsliebling, als er bei den Olympischen Spielen in seiner neuen Heimat London Doppelolympiasieger über 5000 und 10 000 Meter wurde. Das Kunststück wiederholte er vier Jahre später in Rio de Janeiro noch einmal. Dazu gewann er sechs WM-Titel, ebenso oft wurde er zum britischen Sportler des Jahres gewählt. Dass er auch mit dem unter Dopingverdacht stehenden und heute gesperrten US-Trainer Alberto Salazar zusammenarbeitete, änderte kaum etwas an seiner Popularität. Die Geschichte vom Geflüchteten aus Afrika, der in England aufblüht und 2017 sogar zum Ritter geschlagen wurde, war für Medien und Öffentlichkeit einfach zu schön. »Aber da gibt es etwas, das ihr nicht wisst. Ein Geheimnis, das ich seit meiner Kindheit mit mir herumtrage«, sagt der Spitzensportler in einer am Mittwoch erstmals ausgestrahlten BBC-Dokumentation. »Die meisten kennen mich als Mo Farah, aber das ist nicht mein Name. Das ist nicht die Realität. Ich wurde als Hussein Abdi Kahin geboren.« Es ist eine Nachricht, die große Wellen schlägt. Sein Vater, der angeblich in London auf ihn gewartet hatte, war zu diesem Zeitpunkt längst tot. Der Farmer war Opfer des Bürgerkriegs in der Heimat geworden. Nach seinem Tod hatte die Familie nichts mehr: kein Vieh, kein Land, stattdessen jeden Tag Todesangst. Also schickte die Mutter Hussein und seinen Zwillingsbruder Hassan zum Onkel nach Dschibuti. Dort wurden die Beiden getrennt und Hussein von einer ihm unbekannten Frau mit gefälschten Papieren nach Großbritannien eingeschleust. Er bekam den Namen eines anderen Kindes verpasst: Mohamed Farah. Er glaubte zunächst, er würde bei Verwandten unterkommen, doch die Frau nahm ihn in Hausknechtschaft, eine schwer zu erkennende Form moderner Sklaverei, weil sie hinter verschlossenen Türen geschieht. »Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, dass ich nach Europa komme. Doch drei Monate später war ich am Tiefpunkt meines Lebens«, erklärt Farah in der Dokumentation »The Real Mo Farah«. »Wenn ich Essen haben wollte, musste ich mich um ihre Kinder kümmern. Ich musste sie füttern, duschen, für sie sauber machen. Die Frau sagte immer wieder: Wenn du deine Familie je wiedersehen willst, sag nichts! Sonst schließen sie dich weg.« Also schwieg Farah, bis er es nicht mehr konnte: »Ich hatte Angst, doch ich brauchte Hilfe. Ich hab mich jeden Tag im Badezimmer eingeschlossen und geweint. Ich musste da raus«, erzählt er. Also öffnete er sich gegenüber seinem Sportlehrer. Der meldete den Fall dem Jugendamt, das also wusste, dass Mohamed Farah nicht so hieß. Zunächst aber brachten sie den Jungen lediglich in einer anderen somalischen Familie unter. Danach ging es ihm besser. Ansonsten befasste sich aber niemand mit dem, was dahinter steckte. Mohamed blieb »Mo« Farah und gewann bald nationale Jugendrennen mit mehr als 30 Sekunden Vorsprung. Ein paar Jahre später sollte er England bei internationalen Meisterschaften vertreten, also halfen ihm Lehrer und Behörden dabei, die britische Staatsbürgerschaft zu bekommen – immer noch als Mohamed Farah. Seinen richtigen Namen hatten alle außer dem Jungen längst wieder vergessen, und im Sommer 2000 wurde er offiziell Brite. Erst seine heutige Ehefrau Tania Nell erkannte, dass etwas nicht stimmte, dass Farah etwas verschwieg, und sie bohrte nach. Jetzt, mit 39, zum Ende seiner Karriere, in der Farah nur noch Marathons läuft, fasste er den Entschluss, an die Öffentlichkeit zu gehen: »Ich muss meine wahre Geschichte erzählen. Ich will mich endlich normal fühlen, was immer mich das kosten mag.« Der Schritt war tatsächlich nicht risikofrei, denn seine Einbürgerung basierte auf gefälschten Daten. Farah hätte seine Staatsbürgerschaft verlieren können. Das Innenministerium aber signalisierte sofort, dass es »keine Schritte gegen Sir Mo« unternehmen würde. Der öffentliche Aufschrei wäre wohl auch zu groß gewesen. Doch was, wenn Mo Farah kein Wunderläufer wäre, sondern nur ein einfacher Migrant? Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 10 000 potenzielle Opfer von Menschenhandel in Großbritannien identifiziert, wird er im Film von einer Menschrechtsaktivistin aufgeklärt. Die Dunkelziffer liege sogar beim Zehnfachen dessen. »Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Menschen genau das Gleiche durchgemacht haben wie ich. Das zeigt nur, wie viel Glück ich hatte. Was mich rettete, was mich von anderen unterschied, war, dass ich schnell laufen konnte«, sagt Farah. Die allermeisten anderen haben weniger Glück. Also schweigen sie, meist ihr Leben lang. Wer mit gefälschten Papieren erwischt wird und bei der Einreise volljährig war, verliert Asyl oder eine schon ausgestellte Staatsbürgerschaft. Die konservative Regierung vom nun zurückgetretenen Premierminister Boris Johnson plant sogar ein Gesetz, mit dem man Opfer von Menschenhandel und andere Einwanderer aus Asien und Afrika ins 6500 Kilometer entfernte Ruanda abschieben will, so dass sie dort einen Asylantrag stellen. Offiziell will die Regierung damit den Anreiz für lebensgefährliche Reisen über den Ärmelkanal verringern und Kosten für die Unterbringung von Asylsuchenden senken. Doch es ist offensichtlich ein Versuch, die eigenen Wähler von den Problemen in der Regierung Johnson abzulenken – auf dem Rücken von Menschen, die sich kaum wehren können. Für den fragwürdigen Deal, der die Asylpolitik vieler Staaten verändern könnte, hat Ruanda bereits 120 Millionen Pfund (etwa 142 Millionen Euro) eingesackt. Lediglich ein Erlass des Europäischen Menschengerichtshofs (EGMR) stoppte im Juni den ersten Flug. Innenministerin Priti Patel verschärfte erst in diesem Jahr das Asylrecht, auch wenn es die schlimmsten Auswüchse des Gesetzentwurfs nicht durchs Parlament schafften. So wollte die Regierung ursprünglich Opfern von moderner Sklaverei wie Farah Unterstützungsleistungen entziehen, wenn sie zu spät darüber berichten oder kriminell geworden sind. Es war auch im Gespräch, Asylanträge grundsätzlich nicht zuzulassen, wenn Immigranten auf »irregulären Wegen« ins Land kommen. An den Asylflügen nach Ruanda will Patel aber festhalten und lässt dafür rechtliche Schritte gegen das Urteil des EGMR prüfen. Mo Farah, der diesen Namen weiter tragen wird, will mit seiner Geschichte auch diese Debatte beeinflussen, den öffentlichen Blick auf die Einzelschicksale von Geflüchteten und Opfern von Menschenhändlern richten. Dafür bekam er dieser Tage über soziale Medien von Politikern, Journalisten, Sportlerkollegen, Künstlern und Flüchtlingsorganisationen viel Lob zugesprochen. »Es ist unglaublich, so viel Unterstützung von so vielen Leuten zu bekommen«, freute sich Farah, der im Oktober wieder beim London-Marathon antreten will. Er selbst hat mittlerweile wieder Kontakt zu seiner Mutter. Auch die Geschwister haben den Krieg in Somalia überlebt. Den Grund dafür, warum er nach England kam, hat er aber immer noch nicht gefunden. Die Frau, die ihn damals mitnahm, hat ein Interview mit der BBC abgelehnt. »Das Schwierigste ist, mir einzugestehen, dass jemand aus meiner Familie mit meinem Menschenhandel zu tun gehabt haben könnte«, sagt Farah, der auch seinen Onkel in Dschibuti nicht mehr wiederfand, um ihn zu befragen. Scotland Yard will Ermittlungen in seinem Fall einleiten, hieß es am Mittwoch. »Ich selbst habe keinen Kontakt mehr zu der Frau«, sagt Farah. »Und den will ich auch nicht.« Wer kann es ihm verdenken? | Oliver Kern | Leichtathlet Mo Farah behält nach seiner bewegenden Offenbarung die britische Staatsbürgerschaft. Doch Tausende, die sein Schicksal teilen, sollen das Land bald verlassen müssen. Denn sie sind keine beliebten Weltstars. | Großbritannien, Leichtathletik | Sport | Sport Mo Farah | 2022-07-14T14:40:23+0200 | 2022-07-14T14:40:23+0200 | 2023-01-20T17:59:56+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1165306.zu-meinem-glueck-konnte-ich-schnell-laufen.html |
Sahel-Region: Es fehlt an Wertschöpfung | Es ist lobenswert: Die Bundesregierung hat sich entschlossen, mehr Geld für den Ausbau sozialer Sicherungssysteme in den krisengeschüttelten Ländern der Sahelregion auszugeben. Ob es reicht, die Region zu stabilisieren, darf jedoch bezweifelt werden. Allein seit 2021 gab es im Sahel »gelungene« Putsche in Mali, Burkina Faso, Tschad und zuletzt Niger. Der Ausgangspunkt der Destabilisierung war die westliche Intervention in Libyen. Den Sahel zu stabilisieren, bedarf es mehr als mehr Engagement für soziale Sicherung. Aus entwicklungsökonomischer Sicht ist ein Fokus auf Beschäftigung der entscheidende Punkt. Solange aus der EU aufgrund des technologischen Vorsprungs Güter wie Mangosaft, Milchpulver oder Schokolade nach Afrika exportiert werden, darf es nicht verwundern, wenn Afrikaner hierher kommen, um ihre Rohstoffe hier zu verarbeiten und nicht bei sich zu Hause. Solange in Afrika die Wertschöpfung fast ausschließlich auf die Rohstoffförderung beschränkt bleibt und dort Beschäftigungsperspektiven fehlen, wird das so bleiben. Sinnvoll wäre es, hier anzusetzen. Ein Konzept dafür bleiben die Bundesregierung wie auch die Europäische Union schuldig. | Martin Ling | Solange aus der EU Güter wie Mangosaft oder Schokolade nach Afrika exportiert werden, darf es nicht verwundern, wenn Afrikaner hierher kommen, um ihre Rohstoffe hier zu verarbeiten. Es fehlt der Fokus auf Beschäftigung. | Europäische Union | Meinung | Kommentare Entwicklungshilfe | 2023-10-09T16:22:25+0200 | 2023-10-09T16:22:25+0200 | 2023-10-09T18:54:34+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1176864.entwicklungshilfe-sahel-region-es-fehlt-an-wertschoepfung.html |
Erstes Modul für Flüchtlinge genehmigt | Die erste modulare Unterkunft für Flüchtlinge könnte in Marzahn-Hellersdorf entstehen. Die Baugenehmigung für das Grundstück Märkische Allee, Ecke Martha-Arendsee-Straße liege bereits vor, teilte am Dienstag das Bezirksamt mit. Die Errichtung könne in Kürze starten. Zwischen Senat und Bezirk seien bisher acht Standorte für diese Modulbauten abgestimmt. Sie sollen, wie berichtet, aus vorgefertigten Elementen montiert werden, jeweils bis zu 500 Flüchtlinge aufnehmen und eine Lebensdauer von mehr als 50 Jahre haben. Nach der Nutzung durch Flüchtlinge sollen sie weiteren Wohnzwecken dienen. Insgesamt will der Senat an 60 Standorten diese Fertigteilhäuser für etwa 24 000 Flüchtlinge errichten. Auf weiteren 30 Flächen sollen Containerdörfer entstehen, die eine kurzfristige Unterbringung von bis zu 15 000 Flüchtlingen ermöglichen, sagte Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) am Dienstag. Rund 5530 Grundstücke, die u.a. von den Bezirken, landeseigenen Unternehmen und dem Bund angeboten wurden, seien überprüft, 100 als geeignet eingestuft worden. Wo genau sie sich befinden, wollte der Senator noch nicht sagen, da sich die Liste noch in Abstimmung mit den Bezirken befindet. Diese hatten kritisiert, dass sich die Standorte in den Randbezirken ballen. An dieser Verteilung dürfte sich nicht viel ändern, da es in zentralen Lagen schwierig sei, Grundstücke zu finden. So sind derzeit in Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Spandau jeweils 13 Standorte geplant, in Pankow acht, in Mitte dagegen keiner. Die Modulbauten sollen insgesamt 600 Millionen Euro kosten, die Wohn-Container an die 80 Millionen Euro. Sollte das Abgeordnetenhaus die Gelder für die Container bewilligen, könnten sie sofort bestellt werden und bereits ab Juli Flüchtlinge aufnehmen, um so die Turnhallen freizuziehen, so der Finanzsenator. Container-Dörfer kann er sich auch auf dem Vorfeld des einstigen Flughafens Tempelhof, aber auch als »Pioniermaßnahme« auf umstrittenen künftigen Wohnungsbaustandorten wie der Elisabethaue oder den Buckower Feldern vorstellen. Die ersten Modulbauten sollen im Herbst fertig sein. | Bernd Kammer | An 90 Standorten sollen Unterkünfte gebaut werden | Asylpolitik, Berlin, Flüchtlinge | Hauptstadtregion | Berlin | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1001215.erstes-modul-fuer-fluechtlinge-genehmigt.html |
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Wie auf dem Finanzamt | ND: Wie beurteilen Sie das neue Hamburger Wahlrecht?
Kliche: Es ist für einige Menschen abschreckend kompliziert, Demokratie muss aber für alle gleichermaßen offen sein. Teilweise ist schlicht die Darstellung unattraktiv. Man muss eine ganze Broschüre durchblättern, um die Listen zu finden, und die eigenen Stimmen zählen. Ich fühle mich nicht als Souverän, der eine klare Entscheidung trifft, sondern wie beim beflissenen Ausfüllen von Formularen im Finanzamt. Führen Sie darauf die niedrige Wahlbeteiligung zurück?
Die hatte auch andere Gründe: ... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Der Politikpsychologe am Institut für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) Thomas Kliche kritisiert das neue Wahlrecht. | Bürgerschaftswahl, Hamburg, Landtagswahl, Superwahljahr 2011, Wahlrecht | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/191788.wie-auf-dem-finanzamt.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Neue Bürgerzeitung im Nordosten | Wittenburg/Berlin (epd/nd). In Mecklenburg-Vorpommern erscheint am Mittwoch die erste Ausgabe einer neuen Bürgerzeitung. Die vier Seiten umfassende Ausgabe von »Die AUFmacher« hat eine Auflage von 4000 Exemplaren und wird kostenlos an Haushalte in Boizenburg, Hagenow, Neustadt-Glewe und Wittenburg verteilt, hieß es in einer am Dienstag in Berlin verbreiteten Information des Vereins »Jugendpresse Deutschland«. Die neue Bürgerzeitung ist Teil eines Modellprojekts, mit dem in zwei Bundesländern das Medienangebot in strukturschwachen Regionen gestärkt werden soll. Eine weitere derartige Publikation soll im Sommer im Vogtlandkreis (Sachsen) erscheinen. Finanziert wird das bis Mitte 2013 laufende Modellprojekt durch das Bundesinnenministerium. Ziel der von Bürgern gemachten Zeitungen sei es, Menschen eine Stimme zu geben, die bislang nicht zu Wort kamen, ihnen Teilhabe zu ermöglichen und so demokratische Strukturen zu stärken. | Redaktion nd-aktuell.de | Mecklenburg-Vorpommern | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/225133.neue-buergerzeitung-im-nordosten.html |
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Datenschützer will Polizisten sensibilisieren | Erfurt. Die Thüringer Polizei soll stärker für den Datenschutz sensibilisiert werden. Dazu werden Polizisten zum Landesdatenschutzbeauftragten Lutz Hasse abgeordnet, wie sein Büro am Mittwoch in Erfurt mitteilte. Die erste Beamtin habe sich bereits einen Überblick über die Behörde und den Datenschutz verschafft. Weitere Abordnungen sollen laut Hasse folgen. »Datenschutz ist ein hohes Gut, deshalb ist es auch eine wichtige Aufgabe, unsere Polizeibeamten über aktuelle Regelungen auf dem Laufenden zu halten«, erklärte Innenminister Holger Poppenhäger (SPD). Hasse verwies als Begründung für die Kooperation auf die Arbeit der Polizei, die täglich Daten erhebe, verwende und speichere. dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Aktion in Thüringen startet | Datenschutz, Polizei, Thüringen | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1006791.datenschuetzer-will-polizisten-sensibilisieren.html |
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Besuch bei kritischen Genossen | Für SPD-Chefin Andrea Nahles war die Reise nach Bayern am Donnerstag alles andere als angenehm. Viele Genossen sind derzeit nämlich nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen. Der Grund dafür ist, dass Nahles am Dienstagabend mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) entschieden hat, dass der bisherige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen zum Staatssekretär im Innenministerium aufsteigt, obwohl er in letzter Zeit unter anderem mit Funktionären der AfD gekungelt und die rassistischen Hetzjagden in Chemnitz verharmlost hatte. Der nicht gerade leichte Wahlkampf der bayerischen SPD dürfte deswegen noch schwieriger werden. Zumal der Vorsitzende der bislang allein in Bayern regierenden CSU, Horst Seehofer, bei der Auseinandersetzung in der Großen Koalition um Maaßen als Punktsieger hervorging. Natascha Kohnen, die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD und Spitzenkandidatin in Bayern ist, forderte die Bundesminister ihrer Partei dazu auf, gegen die Beförderung von Maaßen zu stimmen. Allerdings kann die SPD diesen Schritt mit ihren Kabinettsmitgliedern nicht mehr verhindern. Denn dort werden Mehrheitsentscheidungen getroffen. Die SPD stellt sechs der 16 Mitglieder des Bundeskabinetts. Am Donnerstag zeigte sich Nahles vor Journalisten nun an der Seite von Kohnen, nachdem sie die SPD-Landtagsfraktion in München besucht hatte. Die Parteivorsitzende kündigte an, dass der SPD-Vorstand am Montag über die Causa Maaßen beraten werde. Sie werde alle Debatten auch zulassen, versicherte Nahles mit Blick auf die Forderung von Kohnen. Doch zugleich übte die Parteivorsitzende indirekt Druck auf ihre Genossen in der SPD-Spitze aus. Sie sei »sehr zuversichtlich«, dass der Vorstand eine gemeinsame Linie finden werde. Einfach wird das sicherlich nicht. Denn neben Kohnen und der bayerischen SPD verlangen weitere Sozialdemokraten, dass sich ihre Kabinettsmitglieder und die Bundestagsfraktion gegen die Entscheidung zu Maaßen wehren. »Es gibt bei uns unterschiedliche Einschätzungen und unterschiedliche Haltungen«, betonte Kohnen. Ihre Parteikollegin Nahles übte auch Selbstkritik. Die gesamte Große Koalition sei wegen des Streits um Maaßen in einem »wirklich schwierigen Fahrwasser« und gebe »wieder kein gutes Bild ab«, räumte sie ein. Die von ihr mitgetragene Entscheidung zu Maaßen hatte Nahles als »schwer erträglich« und »falsch« kritisiert. Sie verstehe, »dass die Leute verärgert sind«. Doch ein Bruch der Koalition und Neuwahlen sind für Nahles keine Option. Sie wolle aber auch nicht verhehlen, dass es in der SPD nun neue Debatten über den Fortbestand der Großen Koalition gebe. Diese würden in der SPD-Vorstandssitzung am Montag sicher vorgetragen, sagte Nahles. Politiker vom linken Flügel der SPD hatten verlangt, das Bündnis mit der Union zu beenden. Am Donnerstag wurde diese Forderung auch von der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange erhoben, die vor wenigen Monaten bei der Wahl zur Parteivorsitzenden gegen Nahles angetreten war. Die schwarz-rote Koalition gilt für Lange und ihre Mitstreiter als Ursache für die Krise der SPD. Weniger heftig wird derweil in der CDU über Maaßens Beförderung diskutiert. Der bisherige Geheimdienstmann hat in konservativen Kreisen viele Unterstützer, aber auch hier sind nicht alle begeistert von der Personalentscheidung. CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer schrieb in einer E-Mail an die Parteimitglieder, dass wegen des Streits um Maaßen »die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Regierung konkret im Raum« gestanden habe. »Dies erschien aus Verantwortung für unser Land nicht vertretbar.« Zugleich räumte Kramp-Karrenbauer ein, sie finde es nachvollziehbar, dass die Koalitionsentscheidung »Fragen hervorruft - wenn nicht sogar auch Unverständnis, Kopfschütteln und Ablehnung«. | Aert van Riel | Weil sie die Beförderung des bisherigen Geheimdienstchefs Hans-Georg Maaßen mitträgt, wird SPD-Chefin Andrea Nahles intern kritisiert. Am Montag diskutiert der Parteivorstand über das Thema. | Andrea Nahles, Bayern, CDU, CSU, Horst Seehofer, SPD | Politik & Ökonomie | Politik Landtagswahl in Bayern | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1101075.besuch-bei-kritischen-genossen.html |
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Der späte Marx | Marcello Musto ist Dozent für Soziologische Theorie an der York University in Toronto/Kanada. In seinem neuen Buch interpretiert der 42-Jährige die bislang unterbelichteten letzten Lebensjahre und spätesten Schriften von Karl Marx. Seine Forschungsinteressen umfassen auch die Geschichte des sozialistischen Denkens, Entfremdungstheorien und Wirtschaftskrisen. Seine Texte sind in 16 Sprachen erschienen. Das Buch »Der späte Marx«, aus dem nebenstehende Auszüge stammen, erscheint in Kürze im VSA-Verlag. | Redaktion nd-aktuell.de | Karl Marx, Marxismus | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1086717.der-spaete-marx.html |
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AfD-Umfragewerte: Destruktiver Ersatz | Sie verweisen bei den Gründen für die angespannte politische Lage in Ostdeutschland auf die Rolle der politischen Ökonomie. Wodurch ist diese im Osten geprägt? Mit der Wiedervereinigung wurde das ehemalige Volkseigentum der DDR umverteilt. Etwa 85 Prozent des Wertes der Produktionsmittel gingen an westdeutsche Privateigentümer*innen, etwa 10 Prozent an ausländische und etwa 5 Prozent an ostdeutsche. Dieser Entwicklungspfad hat Ostdeutschland zu einer Region ohne lokale Bourgeoisie gemacht, die bis heute von westdeutschen Entscheidungen und Transferleistungen abhängig ist. Eine eigenständige Entwicklung wurde nahezu unmöglich gemacht. Worin zeigt sich das? Dies zeigt sich unter anderem darin, dass es in Ostdeutschland kaum Unternehmenssitze gibt, sondern vor allem abhängige Filialen von Großunternehmen, die ihren Sitz überwiegend in Westdeutschland haben. Diese lassen im Osten weniger produktive Produktionsschritte durchführen, die mehr auf handwerklichen und mechanischen Tätigkeiten und weniger auf Forschung und Entwicklung basieren. Mit dieser räumlichen Verteilung sind viele Phänomene verbunden: Löhne, Tarifbindung, Mitbestimmungsregelungen, gewerkschaftlicher Organisationsgrad, Gewerbesteuern für die Kommunen und Qualifizierungsmöglichkeiten der Beschäftigten sind im Osten vergleichsweise gering. Zudem erlaubt es diese Struktur den Konzernzentralen, ihre ostdeutschen Filialen einfach ins Ausland zu verlagern. Damit wurde bei Forderungen nach mehr Lohn lange Zeit gedroht. Wie aktuell sind diese Prozesse? In der derzeitigen Debatte um Ostdeutschland hat man häufig den Eindruck, es ginge lediglich um Kränkungen und Einschnitte der 1990er Jahre, die nun nur noch über Erzählungen kulturell an die nächste Generation weitergegeben werden. Die konkreten Erfahrungen, die mit diesen Eigentumsverhältnissen verbunden sind – Ohnmacht, fehlende Handlungsfähigkeit und Fremdbestimmung –, werden im Alltag jedoch immer wieder neu gemacht. Sie bestimmen die Chancen und prägen die Alltagserleben. Was sind die Folgen dieser Bedingungen? Dominik Intelmann promoviert an der Goethe-Universität Frankfurt am Mainam Institut für Humangeographie zu lokalen Entstehungsbedingungen politischer Einstellungsmuster am Beispiel von Chemnitz und Leipzig und beschäftigt sich mit der politischen Ökonomie Ostdeutschlands und ihren Folgen. Er ist in Chemnitz aufgewachsen und führt kritische Stadtrundgänge im Fritz-Heckert-Gebiet und Leipzig-Grünau durch. Im betrieblichen Bereich sprach man in den 1990er Jahren von den ostdeutschen »Arbeitsspartanern«. Die damit zum Ausdruck gebrachte Bescheidenheit und Angepasstheit war eine Reaktion der Beschäftigten auf eine Zwangssituation. Sie gingen davon aus, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden, wenn sie streiken oder mehr fordern würden. Diese Einstellung hat sich lange gehalten – aber auch die Bedingungen, unter denen sie entstanden ist. Demokratische Institutionen sind in Ostdeutschland zwar nominell vorhanden, aber sie sind alle durch eine strukturelle Schwäche gekennzeichnet – das gilt für die Arbeitgeberverbände ebenso wie für die Gewerkschaften. Das hat auch dazu geführt, dass die Ostdeutschen bis heute tendenziell weniger auf Partizipation vertrauen. In der Lebenswelt vieler Ostdeutsche gibt es nur wenige Bereiche, in denen sie sich wirksam einbringen können – und die Bereiche, in denen sie es können, wie etwa die Quartiersmanagements in den Plattenbaugebieten, haben sich als Orte der Symbolpolitik und der Farce erwiesen. Warum wählen so viele Ostdeutsche dann gerade die AfD? Die bereitgestellten Partizipationskanäle haben sich im Alltag der Ostdeutschen als eher wirkungslos erwiesen. Das Angebot der AfD und anderer extrem rechter Parteien verspricht Handlungsfähigkeit. Nach dem Psychologen Klaus Holzkamp kann man Handlungsfähigkeit auf zwei verschiedene Arten herstellen: als verallgemeinerte, solidarische Handlungsfähigkeit, die darauf abzielt, dass alle mehr Handlungsfähigkeit gewinnen – oder als restriktive Handlungsfähigkeit unter Akzeptanz von Konkurrenzverhältnissen, bei der es darum geht, auf Kosten anderer handlungsfähig zu werden. Solidarischem Handeln in diesem Sinne trauen viele im Osten keine Wirksamkeit mehr zu. Restriktive Handlungsfähigkeit erscheint hingegen als die einzig realistische. Und dieses Angebot macht unter anderem die AfD. Aber die AfD stellt eben doch die Eigentumsverhältnisse nicht infrage. Warum kann gerade sie davon profitieren? Handlungsfähigkeit ist in den gegebenen Verhältnissen maßgeblich mit der Kontrolle über Privateigentum verbunden. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Die Philosophin Eva von Redecker macht darauf mit dem Begriff des »Phantombesitzes« aufmerksam, den sie insbesondere für die Analyse des Patriarchats geprägt hat. Demnach suchen Menschen, die strukturell besitzlos sind, nach Ersatz für dieses Vorenthaltene: das Erleben von Kontrolle, wie es das Privateigentum verspricht. Übertragen heißt das: Wir sollten viel intensiver beobachten, was die strukturelle Eigentumslosigkeit für das Alltagserleben Ostdeutscher bedeutet. Ich finde es sehr naheliegend, dass die AfD, die Freien Sachsen und weitere Momente von Handlungsfähigkeit ermöglichen, die einen Ersatz darstellen. Das beginnt bereits, wenn Menschen darüber bestimmen wollen, wie sich vermeintliche Ausländer*innen bewegen oder wo sie sich aufhalten dürfen. Gibt dabei kein Bewusstsein für die reale ungerechte Eigentumsverteilung? Ja, ich höre in Gesprächen immer wieder: »Stimmt, der Reichtum ist ungerecht verteilt, aber an die Reichen kommt man nicht ran.« Der Zugriff auf den vorhandenen Reichtum wird als unmöglich angesehen. Worüber sie stattdessen vermeintlich verfügen können, sind dann proletarisierte Migrant*innen und Ausländer*innen, die in der Nähe leben – ein Ausdruck von Phantombesitz. Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost. Warum wird eine solidarische Antwort als unmöglich betrachtet? Da ist zum einen die historische Erfahrung der DDR, das Scheitern des Realsozialismus. Das Versprechen war ja, dass eine Gesellschaft der sozialen Gleichheit möglich ist. Durch das Scheitern glauben viele nicht mehr an die reale Möglichkeit einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Zum anderen spielt die bis heute erlebte Wirkungslosigkeit in den angebotenen demokratischen Kanälen eine Rolle. Konnte die PDS und später die Linke nicht etwas erlebte Solidarität im Osten ermöglichen? Auch die Linkspartei hatte lange Zeit die Funktion, den Ostdeutschen einen Ersatz zu bieten – zumindest eine ostdeutsche Identität konnte durch sie stabilisiert werden. Langfristig konnte unter der Bedingung ostdeutscher Abhängigkeit eine selbstgesteuerte solidarische Politik aber kaum gemacht werden. Ideen von Vergesellschaftung wurden zwar geäußert, konnten aber nie real erlebt werden. Was ist mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht, das zwar im Osten erfolgreich ist, aber ebenfalls die Eigentumsfrage nicht stellt? Es geht nicht mehr darum, wie bei der Wahl der PDS oder später der Linken, die Frage nach Systemalternativen zu stellen und die Gesellschaft verändern zu wollen. Die Wähler*innen wollen mittels des BSW eine Art Kraftprobe machen. Die gesamte Politik des BSW ist bisher hochsymbolisch – aber das ist auch das Maximum, an das viele Ostdeutsche noch glauben können. Eine Antwort auf ihre sozialen Probleme erwarten sie nicht mehr. Ohne das BSW direkt mit der AfD vergleichen zu wollen: Beide versprechen Macht, ohne die Eigentumsfrage zu stellen. Seit einiger Zeit gibt es politökonomische Veränderungen in Ostdeutschland: Große Unternehmen wie Intel und Tesla siedeln sich an, dazu nehmen auch gewerkschaftliche Kämpfe in einigen Branchen zu. Müsste das nicht demokratische Positionen stärken? Die Menschen verdienen vielleicht etwas mehr Geld als früher, aber der prägende Mangel an Mitbestimmung und die Abhängigkeiten bleiben tendenziell bestehen. Bei den Großansiedlungen wird klar, dass die ostdeutschen Peripherien als Orte genutzt werden, die allseitig ausbeutbar sind. Tesla-Chef Elon Musk lehnt Gewerkschaften in seinem Werk in Grünheide ab, es geht die Angst vor Wasserknappheit um. Die Aussicht auf eine lokale und demokratische Verfügung über Arbeits- und Lebensbedingungen vor Ort ist weiterhin schlecht. Und ja, die Zeiten des ostdeutschen »Arbeitsspartaners« sind aufgrund des Fachkräftemangels vorbei. Die Arbeitnehmer*innen können dadurch neue Kraft gewinnen – aber die Eigentumsverhältnisse und die schwachen Partizipationskanäle bleiben unverändert. Ostdeutsche stoßen bei allen erkämpften Verbesserungen immer wieder an die gläserne Decke des Eigentums. Wo wären theoretisch Stellschrauben für eine emanzipatorische Entwicklung? Früher haben alle Parteien versucht, die Entstehung einer ostdeutschen Eigentümerklasse zu befördern, die eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung ermöglicht. Damit sind sie gescheitert. Ostdeutschland ist auf unabsehbare Zeit von Transfers abhängig. Eine emanzipatorische Antwort hieße Vergesellschaftung. Die Forderung nach Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin durch die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« ist für die Berliner*innen einleuchtend, sie knüpft an ihr direktes Bedürfnis an. Doch etwa in Sachsen lässt sich mit der Forderung nach Vergesellschaftung keine Mehrheit begeistern. Angesichts eines globalen Rechtsrucks ist es keineswegs nur eine ostdeutsche Frage: Welcher Weg führt von der destruktiven Ersatzstruktur hin zu einem Alltagsleben, das die Menschen tatsächlich selber formen können? | Interview: Sebastian Bähr | Bei der Wiedervereinigung fielen 95 Prozent der Ost-Produktionsmittel in westdeutsche oder ausländische Hände. Die strukturelle Eigentumslosigkeit hat gesellschaftliche Auswirkungen bis heute, sagt Dominik Intelmann. | AfD, Ostdeutschland | Politik & Ökonomie | Politik Landtagswahlen | 2024-08-30T17:12:15+0200 | 2024-08-30T17:12:15+0200 | 2024-09-03T15:44:54+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1184913.landtagswahlen-afd-umfragewerte-destruktiver-ersatz.html |
Maulkorb für Berliner Tierschutzbeauftragte | Sie schauen kritisch auf die Themen, mit denen sie befasst sind: Beauftragte des Landes beraten Behörden und informieren unabhängig vom Senat zu Fragen der Gesundheit, Gleichstellung oder zum Tierschutz, so wie Kathrin Herrmann es tut. Doch die seit 2020 amtierende Veterinärmedizinerin ist als Tierschutzbeauftragte womöglich nicht mehr unabhängig. Der CDU-geführte Justizsenat hat sie offenbar in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eingeschränkt. Ihm zufolge ist sie »weder politisch unabhängig noch fachaufsichtlich weisungsfrei«, heißt es in einer Antwort des Justizsenats auf eine schriftliche Anfrage der SPD- und der Grünenfraktion. Dabei ist die Landestierschutzbeauftragte laut Webseite »fachaufsichtlich weisungsfrei und betreibt eine eigenständige Presse- und Öffentlichkeitsarbeit«. »Die bereits zum Teil umgesetzten Einschränkungen sowie die geplante Festigung dieser Tierschutz-Zensur ist überaus ärgerlich und nicht passend für eine Weltstadt wie Berlin«, sagt Stefan Taschner, Sprecher für Tierschutz der Grünenfraktion, zu »nd«. »Tierschutz feiert in Deutschland große Erfolge«, sagt der Tierarzt Karim Montasser, der einen Youtube-Kanal mit 37 000 Abonnent*innen betreibt. In seinem neuesten Video mit dem Titel »Berliner Senatorin schafft Tierschutz ab« meint Montasser, dass die Entmachtung Herrmanns den Anfang einer »bundesweiten Kampagne gegen Tierschutz« markiert. Er nennt drei Gründe, warum die Tierschutzbeauftragte die CDU ärgern könnte: ihr Kampf für tierfreie Forschung, ihre Kritik an der Staatsanwaltschaft und der Normenkontrollantrag für die Schweinehaltung. November 2023: Die Staatsanwaltschaft Berlin stellt ein Strafverfahren gegen einen Mann ein, der auf öffentlichen Plätzen Tauben lebendig und bei vollem Bewusstsein die Federn ausgerupft und mit einem Obstmesser den Hals durchtrennt haben soll, um sie anschließend zu essen. Laut Zeug*innenaussagen soll er einschreitende Anwesende mit einem Messer bedroht haben. Herrmann schrieb öffentlich, dass die Einstellung des Verfahrens für sie »nicht nachvollziehbar« sei. Die Handlungen stellten einen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz dar. Juli 2023: Eine Recherche der »Berliner Zeitung« legt nahe, dass die zuständige für Tierversuche Experimente genehmigte, obwohl die Anträge zu den Versuchen nicht klargemacht hätten, welche Substanzen den Tieren verabreicht würden. Herrmann forderte daraufhin eine Untersuchung durch den Senat und unterstrich ihr Ziel, Berlin zur »Hauptstadt der tierfreien Forschungsmethoden« zu machen. Der Justizsenat unter dem Grünen Dirk Behrendt war es, der 2019 Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichte: Die Schweinehaltung sei verfassungswidrig. Ein sogenannter Normenkontrollantrag sollte verhindern, dass man »ein 50 Kilogramm schweres Schwein auf einem halben Quadratmeter halten« oder Zuchtsauen so fixieren darf, dass sie sich nicht bewegen können, wie Tierarzt Montasser in seinem Video erklärt. Justizsenatorin Badenberg hatte vor einem Monat im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses davon gesprochen, die Rücknahme des Normenkontrollantrags zu erwägen. Kritik daran gab es unter anderem vom Landestierschutzbeirat. Hermanns Stabstelle ist die Geschäftsstelle des Beirates. nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss. In einem öffentlichen Brief des Vereins Menschen für Tierrechte nennt dieser Herrmanns mutmaßliche Entmachtung einen »Tierschutz-Kahlschlag«, mit der man der Landesbeauftragten einen »Maulkorb« anlege. Von einer Hauptstadt als »riesigem Absatzmarkt für Schweinefleisch und andere tierische Produkte« spricht der Verein. Für eine unabhängige Landesbeauftragte sprachen sich öffentlich auch die Grünen aus. Tierschutzsprecher Taschner sagt, dass man schon länger gespürt habe, dass Herrmann »keine große Begeisterung« bei der CDU auslöse. Laut Aussagen der Justizsenatsverwaltung gegenüber »nd« findet keine Beschränkung der Befugnisse der Tierschutzbeauftragten Kathrin Herrmann statt. Ihr selbst zufolge darf sie ohne Einwilligung der Verwaltung nicht mit »nd« sprechen. Eine solche Zustimmung hat es bis Redaktionsschluss nicht gegeben. | Jule Meier | Es gibt Hinweise darauf, dass der CDU-geführte Justizsenat die Tierschutzbeauftragte Kathrin Herrmann entmachten will. In der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist sie wohl bereits eingeschränkt. | Berlin, CDU, Tierschutz | Hauptstadtregion | Berlin Tierschutz | 2024-04-03T17:52:01+0200 | 2024-04-03T17:52:01+0200 | 2024-04-04T18:40:38+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1181205.tierschutz-maulkorb-fuer-berliner-tierschutzbeauftragte.html |
Schwerste Luftangriffe seit Tagen auf Aleppo | Aleppo. Nach Tagen relativer Ruhe sind bei neuen Luftangriffen auf das umkämpfte Aleppo mindestens 25 Menschen getötet worden. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seien die Bombardements auf die Rebellengebiete im Osten der geteilten Stadt von russischen Kampfjets ausgeführt worden. Unter den Toten in den Stadtteilen Bustan al-Kasr, Ferdus und Al-Katarigi seien auch mehrere Kinder. Nach Angaben des Aktivisten Mahmut Raslan haben die russischen Jets dabei erneut bunkerbrechende Bomben eingesetzt. Rettungskräfte und Bewohner der Stadt berichten, dass bis zu 50 Menschen im Osten Aleppos und den umliegenden Dörfern, die von Aufständischen gehalten werden, getötet wurden. Auch in der Innenstadt von Damaskus habe es Granateneinschläge gegeben, ber... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Redaktion nd-aktuell.de | Die UN warnten zuletzt, dass die Rebellengebiete Aleppos durch Luftangriffe bis Weihnachten komplett zerstört sein könnten. In den vergangenen Tagen blieb es in der Stadt aber vergleichsweise ruhig - bis jetzt. | Aleppo, Damaskus, Großbritannien, Luftangriff, Russland, Syrien, USA | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1028436.schwerste-luftangriffe-seit-tagen-auf-aleppo.html |
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Flüchtige Bauten | Am Anfang stehen die Katastrophen. Hunger, Krieg oder politische Verfolgung, aber auch Naturkatastrophen und wirtschaftliche Not treiben die Menschen in die Flucht. Angesichts solcher Gefahren verlassen sie ihre Heimat, ihre Freunde und Familien. Manchmal nur vorübergehend, allzu oft jedoch auf Dauer. Sie begeben sich auf Wege ins Ungewisse. Etliche der Flüchtlinge überleben ihre Flucht nicht, sterben an Krankheiten oder Hunger, zahlreiche werden Opfer von Gewalt. Viele stranden irgendwann und irgendwo in einem der über 1.000 Flüchtlingslager, die es derzeit weltweit gibt. Die Architektur, die dort entsteht, ist jedoch häufig alles andere als flüchtig. Vielfach wächst ihr eine unerwartete Dauer zu, sie nimmt nach und nach städtische Formen an. So auch in Kutupalong in Bangladesch, derzeit das größte Flüchtlingslager der Welt, das unweit der Grenze zu Myanmar liegt. Geschätzt bis zu 850.000 Rohingya, eine aus Myanmar vertriebene muslimische Minderheit, leben heute in Kutupalong. Andere Zahlen gehen von »lediglich« 600.000 Einwohnern aus. Gleichwohl würde Kutupalong nach seiner Einwohnerzahl immer noch zu den zehn größten Städten in Deutschland gehören. Fotos des Lagers zeigen provisorische Architekturen, zusammengeschustert aus Bambusstangen, Flechtwänden und Plastikfolien. Dicht an dicht stehen die Hütten, die lediglich einen notdürftigen Schutz gegen Hitze und Wetter bieten, an staubigen Straßen, die überfüllt sind mit Menschen. Kutupalong ist bei Weitem kein Einzelfall. Überall dort, wo politische oder religiöse Konflikte eskalieren, gehören Flüchtlingslager zum Alltag. Die Hauptlast der Versorgung von Flüchtlingen mit Raum, Nahrung und Bildung tragen zumeist die unmittelbaren Nachbarländer. Im Syrienkonflikt etwa sind dies der Libanon, Jordanien und die Türkei. Flüchtlingslager sind fragile Gebilde, denn stets besteht die Gefahr, dass sie selbst zum Konflikt- und Krisenherd werden, dass sie einer innen- oder außenpolitischen Instrumentalisierung anheimfallen. Die Geschichte der Migrationsbewegungen ist lang. Ja, sie ist selbst ein konstituierender Teil der europäischen Geschichte und hat sich von der spätantiken Völkerwanderung der »Barbarenhorden«, ihren Einfällen und Plünderungen, bis zur nachfolgenden Transformation von Gesellschaften in die Kulturgeschichte des Kontinents eingeschrieben. Vielfach spiegeln sich die durch Flucht und Vertreibung angestoßenen Veränderungen bis in die Gegenwart. So fanden mit dem Edikt von Potsdam (1685) rund 20.000 französische Hugenotten eine neue Heimat in Preußen. Nach und nach wuchsen sie in die Gesellschaft der Residenzstadt hinein, verdienten ihr Brot als Tagelöhner, Gastwirte, Unternehmer oder Dichter, wie der großartige Friedrich Baron de la Motte Fouqué, der mit seiner Novelle »Undine« zu den Mitbegründern der deutschen Romantik zählt. Worte, Geld und Waffen
Wie die EU-Südgrenze in die Sahelzone verschoben wird und wem das nützt Bis heute sind die einstigen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich architektonisch in Berlin greifbar, mit dem Französischen Dom auf dem Gendarmenmarkt. Ein Spaziergang über den 1780 angelegten Französischen Friedhof an der Chausseestraße erweist sich als ein Ausflug in dieses Kapitel der deutsch-französischen Kulturgeschichte, klassizistische Mausoleumsarchitektur inklusive. Auf französische Glaubensflüchtlinge geht auch der Name des trendigen Berliner Kiezes Moabit zurück. Für König Friedrich Wilhelm I. bauten sie hier Maulbeerbäume zur Seidenraupenzucht an. Zwar scheiterte das Experiment aufgrund des schlechten märkischen Bodens – die Moabiter Hugenotten blieben. Es gab keineswegs nur Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen. Angesichts der schlechten politischen und wirtschaftlichen Lage Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten allein über den Überseehafen Bremerhaven rund 7,2 Millionen Deutsche auf der Suche nach einem besseren Leben in die Neue Welt aus, um Not und Unfreiheit zu entkommen. Ihre Geschichten werden heute im Deutschen Auswandererhaus in Bremen erzählt. Nach 1945 wurden die Nissenhütten aus Wellblech zu den gebauten Symbolen für Flucht und Vertreibung. Ihren Namen verdanken sie dem kanadischen Ingenieur Peter Norman Nissen (1871-1930). Bereits im Ersten Weltkrieg für die britische Armee entwickelt, waren sie seriell vorfabriziert, damit leicht zu transportieren und schnell aufzustellen. Damit erfüllten sie die wichtigsten Anforderungen an flexibel einsetzbare Notunterkünfte. Im zerstörten Deutschland wurden die halbkreisförmigen Hütten nach 1945 häufig als Unterkünfte für Hunderttausende sogenannte »Displaced Persons« eingesetzt. Während diese provisorischen Nissenhütten nach und nach wieder verschwanden, mussten für die Millionen Flüchtlinge aus Ostpreußen oder Schlesien neue Unterkünfte entstehen. Vor allem in westdeutschen Städten wurden dafür neue Stadtteile mit einfachen Wohnbauten angelegt, neue Gotteshäuser inklusive, was den zuvor nie gekannten Kirchbauboom im Deutschland der 1950er Jahre erklärt. Deutlich spiegeln sich darin die beiden unterschiedlichen Aspekte der Architektur für Flüchtlinge. Einerseits sind dies tatsächlich »flüchtige« Bauten der schnellen Nothilfe und andererseits die Beispiele eines kostengünstigen Wohnungsbaus für den dauerhaften Aufenthalt. Beides Themen, die in den Überlegungen der Moderne der 1920er Jahr verwurzelt sind, mit den Fragen nach industrieller Vorfabrikation, dem wachsenden Haus sowie der Unterkunft für das Existenzminimum. Notunterkünfte sind ihrer Natur nach provisorisch, also temporär angelegt und damit Beispiele einer ephemeren, wieder verschwindenden Architektur. Einer Architektur, die schnell errichtet werden muss, um unverzüglich Obdach zu gewähren. Wer dort wohnt, der will und soll nicht auf Dauer bleiben müssen. Allzu oft entwickeln provisorisch entstandene Flüchtlingslager aufgrund der politischen Lage jedoch eine ganz eigene Dynamik. Temporär geplante Architekturen und Stadtstrukturen verstetigen sich. Ihre Bewohner sind ungewollt und unverschuldet in ihrer Situation gefangen, müssen die oft katastrophalen hygienischen und sozialen Verhältnisse erdulden.
Wo immer möglich und rechtlich überhaupt genehmigt, wandelt sich dann das Erscheinungsbild der Architektur. An die Stelle von einfachen Holz- oder Bambusgerüsten, von Wellblech und Plastikplanen tritt dauerhafteres und widerstandsfähigeres Baumaterial wie Ziegel oder Beton. Staubige Wege verwandeln sich in Straßen. Darüber spannen sich wirre Bündel aus gefährlichen elektrischen Leitungen. Diesem dauerhaft provisorischen »Wohnen auf der Flucht« sind Aly el Masry, Lore Mühlbauer und Wajiha Shihab im »Handbuch und Planungshilfe Flüchtlingsbauten« (DOM Publisher) unter anderem am Beispiel des Libanon nachgegangen. Flüchtlingslager wie Burj el-Barajneh und Shatila am Rande der libanesischen Hautstadt Beirut haben sich zu dichtesten urbanen Strukturen verfestigt. Die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge, darunter viele aus Syrien, sind erschreckend. Sie leben in Häusern mit »gefangenen« Räumen, die ohne Fenster angelegt wurden, ohne natürliche Belichtung und Lüftung. »Die Wohnungen sind mit einer als Toilette, Dusche, teilweise auch als Küche genutzten Wasserstelle mit Ablauf ausgestattet, die ausschließlich mit Salzwasser versorgt wird«, schreiben die Autoren über ihren Besuch in Beirut 2016. Mit der Frage der Rolle von Flüchtlingslagern und deren Konzeption, die durch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), streng normiert ist, hat sich der in Basel lehrende Architekt Manuel Herz am Beispiel Afrikas kritisch auseinandergesetzt. Flüchtlingslager sind für Herz »die vermutlich direkteste Umsetzung von Politik in Raum«. Die nach dem Konzept des UNHCR entwickelten Formen der weltweiten Flüchtlingslager kritisiert er deutlich: »Mit einem einzigen Modell in allen Krisengebieten operieren zu wollen spiegelt in fast entblößender Weise die Mechanismen und Muster der Kolonialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts wider, die Werte der Aufklärung in das >wilde Afrika< oder den Orient bringen sollten. Die schöne Ordnung, die auf westeuropäischen Wertevorstellungen beruht, wirkt jedoch in der staubigen Hitze der Wüste oder den Tropenwäldern, und häufig in nächster Nähe zu kriegerischen Auseinandersetzungen, wie eine Narrenplanung«, schreibt er auf seiner Website mit Blick auf die Flüchtlingslager im zentralafrikanischen Tschad, die er bei einer Ausstellung 2010 im Innsbrucker Architekturforum Tirol thematisiert hat. Für die Architekturbiennale 2016 in Venedig hat er an dem Zeltpavillon für die West-Sahara mitgewirkt. Darin wurden urbanistische und architektonische Konzepte der Sahrawi-Bevölkerung vorgestellt, die seit 40 Jahren als Flüchtlinge im Grenzgebiet zu Algerien leben und dort eine Architektur zwischen Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, zwischen Bescheidenheit und Dekoration, zwischen Tradition und Moderne entwickelt haben. Wenn es um Notunterkünfte und die Architektur von Flüchtlingslagern jenseits von Plastikplanen und Containern geht, dann fällt schnell der Name von Shigeru Ban. 2014 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet, dem »Nobelpreis« der Architektur, hat sich der japanische Architekt vielfach mit dem Thema der Notunterkünfte und Flüchtlingsarchitektur auseinandergesetzt. Sein Baumaterial Papier ist durch und durch japanisch. Doch im Gegensatz zu den traditionellen Sho¯ji, den haudünnen Papierwänden japanischer Häuser, verwendet Ban stabilere Papierrollen. Sie können als tragende Strukturen verwendet werden, wie nach dem Erdbeben in Haiti 2010, oder für die Gliederung einer Massenunterkunft in einer großen Halle nach Erdbeben und Tsunami in Japan, um wenigsten einen Hauch von Privatsphäre zu ermöglichen. Aus den Rollen können aber auch schnell Wände für Notunterkünfte errichtet werden wie 1995 nach einem schweren Erdbeben in Ko¯be. Im gleichen Jahr errichtete Ban 50 Flüchtlingsunterkünfte aus recycelten Papierröhren. Er wollte deren Beständigkeit gegenüber Feuchtigkeit und Termiten überprüfen, um sie für die Flüchtlinge des Genozids im afrikanischen Ruanda einzusetzen. Die Flüchtlingslager im Libanon, in Syrien oder im Norden Afrikas liegen nur wenige Flugstunden entfernt. Gedanklich sind sie im Alltag häufig viel weiter weg. Mit der gestiegenen Zahl von Flüchtlingen 2015 rückten die Themen der Flucht und die damit verbundene Frage der Unterkunft ins Zentrum des Diskurses in Deutschland. Wie sind Zehntausende, Hunderttausende Menschen aus unterschiedlichen Regionen der Welt und mit ebenso unterschiedlichen Kulturen jenseits von Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften angemessen unterzubringen? Mit seinem Beitrag »Making Heimat« eröffnete das Deutsche Architekturmuseum DAM auf der Biennale 2016 in Venedig einen Ansatz, der über Containerdörfer oder durch Vorhänge notdürftig untergliederte Massenunterkünfte in Hallen hinausging. In einer Datenbank wurden Lösungen vorgestellt, die mit architektonischem Anspruch konzipiert sind. Deutlich zeigen sich dort die unterschiedlichen Herausforderungen und Schnittstellen zwischen den Bauaufgaben. Sie reichen von der ersten Unterkunft wie bei einer schnell und günstig zu verwirklichenden Leichtbauhalle (günther & schabert Architekten, München) bis zu langfristigen kostengünstigen Wohnlösungen. Dazu zählt die großartige Parkplatzüberbauung am Dantebad in München von Florian Nagler. Dank ihrer Holzrahmenbauweise besitzt sie neben der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit auch eine Nachhaltigkeit, die durch ihre Materialität bestimmt wird. Das Thema der »Heimat« greift das Architekturbüro Graft mit der Vision »Heimat 2« auf. Mit der bisher nicht realisierten modularen Architekturidee zielen die Berliner Architekten darauf ab, nicht »nur Wohnplätze, sondern lebenswerte Wohndörfer mit Modellcharakter« zu verwirklichen. An der Schnittstelle zwischen Architektur und Gesellschaft entstehen Orte des persönlichen Austauschs im urbanen Raum wie mit dem Berliner »Kitchen-Hub«, das am Fachgebiet Habitat Unit der TU Berlin zusammen mit »CoCoon – contextual construction« entstand. Inzwischen ist das Jahr 2015 mit seinen Flüchtlingszahlen in Deutschland längst durch die Corona-Pandemie und ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen verdrängt. Doch gerade Covid-19 stellt für die Bewohner von Flüchtlingslagern, wie dem derzeit größten Flüchtlingslager Europas, Moria auf der griechischen Insel Lesbos, eine immense Gefahr dar. Ursprünglich für 3.000 Bewohner gedacht, leben dort rund 20.000 Menschen in Plastikverschlägen, einer Nicht-Architektur ohne die Chance, »soziale Distanz« einzuhalten. Angesichts des hochansteckenden Virus besteht dadurch eine immense Gefahr für die Bewohner des Lagers. Weitere Informationen:
https://dah-bremerhaven.de/museum/#173
http://www.makingheimat.de/fluechtlingsunterkuenfte/datenbank
https://graftlab.com/de/portfolio_page/heimat2 | Jürgen Tietz | Gibt es eine Architektur der Flucht? Vom Lager der Refugees zu Notunterkünften und kostengünstigem Wohnungsbau. | Architektur, Flüchtlinge, Flüchtlingslager, Notunterkunft | OXI Architektur der Flucht | 2020-07-13T17:47:58+0200 | 2020-07-13T17:47:58+0200 | 2023-01-21T10:47:56+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1139084.fluechtige-bauten.html |
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Hochhäuser sind öko | Berlins Bausenator Andreas Geisel (SPD) hält am städtebaulichen Vertrag für das Hochhausprojekt »Urbane Mitte« in Kreuzberg fest. Ein in dieser Woche veröffentlichter Prüfbericht kommt zu dem Ergebnis, dass der Vertrag, der dem Investor eine hohe bauliche Ausnutzung der Grundstücke am Gleisdreieckpark zusichert, den »klimapolitischen Aufgaben« Berlins gerecht werden würde. »Wenn wir nicht an solch einer Stelle in die Entwicklung gehen, wo sonst in Berlin?«, begründete Geisel diese Auffassung. Die Prüfung hatte Rot-Grün-Rot auf Landesebene im Koalitionsvertrag verabredet. Grüne und Linke wie auch der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Initiativen und Anwohner lehnen das Bauvorhaben indes vehement ab. Konkret geht es dabei um insgesamt sieben Türme, die zwischen dem westlichen und östlichen Park am Gleisdreieck gebaut werden sollen und von denen die beiden höchsten bis zu 90 Metern in den Himmel ragen würden. Vor allem Büros sollen in diese einziehen. Solch ein Bauprojekt sei nicht zuletzt angesichts des immensen CO2-Ausstoßes nicht mehr zeitgemäß, heißt es immer wieder. Das Problem ist allerdings, dass ein städtebaulicher Vertrag aus dem Jahr 2005 eine hohe bauliche Ausnutzung der Flächen zusichert. Die Vereinbarung ist Teil eines Deals, durch den auf ehemaligen Bahngrundstücken der Gleisdreieckpark erst entstehen konnte. Wenn nun die Baumasse reduziert werden würde, drohen hohe Entschädigungszahlungen. »Wir können doch nicht ernsthaft sagen: Danke für den schönen Gleisdreieckpark. Unseren Teil der vertraglichen Vereinbarung – im Gegenzug für die ehemals privaten Parkgrundstücke nun Baurecht auf ehemaligen Bahnflächen zu ermöglichen – erfüllen wir jetzt aber nicht mehr«, sagt Geisel. Zudem befürwortet er das Bauvorhaben grundsätzlich wegen der guten ÖPNV-Anbindung, womit weiterer Autoverkehr vermieden werden könnte. »Unversiegelte Flächen sollten dafür nicht in Anspruch genommen werden. Ich habe das Gefühl, dass die Gegner dieses Projekts den Klimaschutz vorschieben, um die ›Urbane Mitte‹ zu verhindern. Das ist scheinheilig«, sagt Geisel. Hier käme man jedenfalls »ohne neue Versiegelung« aus. Tatsächlich handelt es sich bei dem zu bebauenden Areal um eine »brachliegende ehemalige Eisenbahnfläche«, wie der Bericht richtig schreibt, mithin eine noch nicht versiegelte Fläche. Wohnraum zu bauen, ist aus Lärmschutzgründen wegen der S-Bahn-Trasse, die zwischen einzelnen Neubautürmen entlangführen soll, nicht möglich. Und überhaupt würden Büroflächen dringend gebraucht, behauptet Geisel. Zuletzt forderte Mitte Dezember die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg auf Antrag der Grünen das Bezirksamt auf, sich bei der Senatsbauverwaltung für eine »Prüfung mittels Gutachten von Expert*innen« einzusetzen. Der Bericht der Senatsverwaltung zeigt, dass in der ersten Jahreshälfte eine verwaltungsinterne Prüfung stattgefunden hat. Nachdem eine Aussprache mit dem zuständigen Bezirksstadtrat Florian Schmidt (Grüne), der das Projekt ebenfalls kritisch sieht, »kein Einvernehmen« erbracht habe, wurde die Prüfung abgeschlossen. Die BVV-Mehrheit hatte sich im Fall einer negativ ausgefallenen Prüfung dann auch dafür ausgesprochen, »alle Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um eine Bebauung einzuschränken beziehungsweise in der jetzt geplanten Form zu verhindern«. Dabei geht es zunächst um das südliche Baufeld, auf dem die zwei niedrigsten Gebäude entstehen sollen und für das der Bebauungsplan 2023 in die BVV eingebracht werden dürfte. Ob sich dort dann eine Mehrheit findet, ist fraglich. | Yannic Walther | Im Kreuzberger Gleisdreieckpark sollen sieben Bürotürme entstehen, der Bezirk wehrt sich dagegen. Ohne das Land lässt sich das Projekt aber nicht verhindern. Bausenator Geisel hält am Projekt »Urbane Mitte« fest. | Berlin, Friedrichshain-Kreuzberg, Klimaschutz | Hauptstadtregion | Berlin Urbane Mitte | 2022-12-28T15:32:32+0100 | 2022-12-28T15:32:32+0100 | 2023-01-20T16:38:20+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169680.urbane-mitte-hochhaeuser-sind-oeko.html?sstr=gleisdreieckpark |
Kommen endlich Ukraine-Verhandlungen in Gang? | Hören wir in der scheinbar end- und hoffnungslosen Konfrontation rund um den Ukraine-Krieg neue Töne? Seit zweieinhalb Jahren tobt dieser grausame Krieg, und bisher stellen beide Seiten Maximalforderungen und glauben, die Sache auf dem Schlachtfeld entscheiden zu können. Jeder will einen Frieden zu seinen Bedingungen. Russland besteht auf den praktisch okkupierten und zusätzlich theoretisch annektierten ukrainischen Gebieten; die Ukraine fordert den kompletten Abzug der russischen Aggressionstruppen, will ihr vollständiges Staatsterritorium behalten und verteidigen und strebt in die Nato. Doch nun lässt Präsident Wolodymyr Selenskyj aufhorchen: Wenn die Ukraine im Zuge einer möglichen Friedenslösung Gebiete abtritt, dann nur mit Zustimmung der Bevölkerung und des Parlaments, sagte er in einem Interview. Es wäre leicht, jetzt allerhand Einwände und Zweifel ins Feld zu führen: Warum soll ein überfallenes Land dem Aggressor nachgeben? Würde ein akzeptierter Gebietsverlust nicht dem Angreifer Recht geben? Könnte ein solcher Erfolg den russischen Staatschef nicht zu weiterer Expansion ermutigen? Solche Befürchtungen gibt es, vor allem in Nachbarstaaten Russlands. Man sollte sie nicht einfach vom Tisch wischen, aber: Was ist die Alternative? Dass das Bomben und Morden sich weitere Jahre fortsetzt? Mag sein, dass Selenskyjs dezenter, mit allerlei Vorbehalten verbundener Vorstoß auch mit der aktuell schwierigen Gefechtslage der ukrainischen Truppen zu tun hat. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass nicht nur auf einer Seiten, sondern auf beiden Seiten der Front die Einsicht wächst, dass dieser Krieg möglichst schnell beendet werden muss. Weil er grausam ist und weil ihm das Potenzial der Eskalation innewohnt. Es geht nicht darum, dass eine Seite gewinnt und die andere verliert. Es geht um eine Friedenslösung, mit der beide Seiten, die ja zwangsläufig Nachbarn bleiben werden, leben können. Das wird schwierig, es wird Rückschläge geben und es sollte bei Gesprächen auch um ein System der Sicherheit gehen, das über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hinausreicht. Aber es muss geredet und verhandelt werden, und dazu sollte jede noch so vage Möglichkeit genutzt werden. Selenskyjs jüngste Äußerungen könnten so ein Gesprächsfaden sein, den die verfeindeten Seiten und auch mögliche Vermittler unbedingt aufgreifen sollten. | Wolfgang Hübner | Selenskyjs jüngste Äußerungen könnten ein Gesprächsfaden sein, den die verfeindeten Seiten und auch mögliche Vermittler unbedingt aufgreifen sollten, meint Wolfgang Hübner. | Friedensbewegung, Russland, Ukraine | Meinung | Kommentare Wolodymyr Selenskyj | 2024-08-01T15:50:15+0200 | 2024-08-01T15:50:15+0200 | 2024-08-20T10:27:13+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184187.wolodymyr-selenskyj-kommen-endlich-ukraine-verhandlungen-in-gang.html?sstr=Wolfgang|Hübner |
Zwischen allen Stühlen | Zwischen Juli und Dezember sollen laut Fischereiministerium in Tokio 150 Brydewale, 52 Zwergwale und 25 Seiwale gefangen werden. Auf das Jahr gerechnet, bedeutet das gegenüber 2018, als das Land noch sein Forschungsprogramm durchführte, zunächst einen Rückgang. Das Ministerium begründet dies allerdings nicht damit, dass die Nachfrage ohnehin zu gering sei, um mehr Fleisch abzusetzen. Man wolle sich, trotz allem, an die Richtwerte der IWC halten, was ein langfristig nachhaltiges Fangvolumen angeht. Das Problem für die Fangbra... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Felix Lill | Japan laviert sich durch internationale Regelungen | Japan, UNO | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1123311.zwischen-allen-stuehlen.html |
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Wo liegt die Ukraine, Opa? | Seit vergangenem Donnerstag greift Russland die Ukraine an. Seitdem ist für mich als Historiker gerade nicht mehr daran zu denken, an Texten zu arbeiten, die sich mit der NS-Besatzung und dem Rückzug der deutschen Wehrmacht aus der Zentralukraine beschäftigen. Das waren die letzten Kriegshandlungen in diesem Gebiet zwischen Sommer 1943 und Frühjahr 1944 gewesen, bis am 24. Februar 2022 Bomben auch in der zentralukrainischen Region Winnyzja und Schytomyr niedergingen, abgeworfen von russischen Streitkräften. Seitdem richtet sich meine Aufmerksamkeit auf diese Gegenwart. Wie ergeht es den Freund*innen, Kolleg*innen, Interviewpartner*innen? Was kann man tun, um ihnen beizustehen und sie zu unterstützen? Obwohl er nun völlig neue Dimensionen annimmt, begann der Krieg für die Menschen in der Ukraine nicht 2022, sondern 2014. Auch in den zentralukrainischen Regionen hatte man tote Soldat*innen zu beklagen und spürte die vielfältigen Auswirkungen des Krieges in der Ostukraine, dessen Unterstützung durch die russische Führung dort niemals bezweifelt wurde. Als eine Interviewpartnerin 2015 am Ende eines langen Gespräches über die deutsche Besatzung weinte, weil sie Angst vor einem Einmarsch Putins hatte, hielt ich eine solche Option nicht für realistisch, doch bekam ich einen Eindruck von der tief sitzenden Furcht, die die Kriegshandlungen im Osten des Landes auslösten. Gleichzeitig vermittelten mir viele Einwohner*innen den Trotz, den man für die militärisch überlegene Großmacht Russland übrig hatte. Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
dasnd.de/hohmann Das Problem sei die russische Führung und nicht ihre Bevölkerung, daher gehe es auch nicht um die russische Sprache, gab man mir häufig zu verstehen. Man meint das in diesen Tagen in den vielen kommunikativen Szenen am Rande der Kämpfe ablesen zu können, in denen Einwohner*innen die Soldaten direkt ansprechen oder bewaffneten Einheiten und Panzern »Geht nach Hause« entgegenrufen. Solche Situationen der Nähe können jedoch das durch den massiven Beschuss der Großstädte ausgelöste Leid nicht überdecken, das die russischen Soldaten aus einer Distanz zu ihren Opfern verüben. Kollektive Erfahrungen mit Krieg und Terror haben bei vielen Einwohner*innen der Zentralukraine transgenerationale Spuren hinterlassen, die auch in der Gegenwart des russischen Angriffskrieges bedeutsam sind. Dazu gehören die stalinistischen Zwangskollektivierungen, die staatlich evozierte Hungersnot 1932/33 und der Große Terror 1936/37. Dazu gehören auch die Erfahrungen mit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges und die damit zusammenhängenden, schier unfassbaren Zerstörungen und Verluste. Auch viele Überlebende des deutschen Kalküls der »verbrannten Erde« und der über 600 zerstörten Ortschaften in der Ukraine sind nun mit einem neuen Krieg konfrontiert. Oftmals hat es sehr lange gedauert, bis die Ortschaften wieder vollständig hergestellt waren, in denen diese Menschen bis heute leben und um die sie nun fürchten. Die Jewish Claims Conference fürchtet eine Re-Traumatisierung der 10 000 Holocaust-Überlebenden, von denen etwa die Hälfte zu Hause gepflegt wird. Dies gehört zu den Absurditäten einer Situation, in der Wladimir Putin behauptet, eine »militärische Spezialoperation« gegen einen angeblichen Genozid und für die »Denazifizierung« des Landes zu führen. Dabei greift er auch einen Präsidenten an, der drei Familienmitglieder im Holocaust verloren hat. Der Vorstand des Vereins Kontakte-Kontakty e.V., der sich der Aufklärung über den NS-Vernichtungskrieg im östlichen Europa verschrieben hat und unter anderem Zuwendungen für die dortigen Opfer der NS-Zeit organisiert, kommentierte den Krieg: »Diese Umdeutung von Geschichte zur Legitimation eines illegitimen Kriegs ist verwerflich und zutiefst beleidigend für das Gedenken an Millionen von Opfern des Nationalsozialismus und an diejenigen, die gegen ihn gekämpft haben, darunter russische und ukrainische Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee.« Am 1. März schlugen Bomben in der Nähe von Babyn Jar ein, dem Ort, an dem das Sonderkommando 4a als Teil der deutschen Einsatzgruppe C mit der Unterstützung weiterer Einheiten im September 1941 mit über 33 000 Jüdinnen und Juden ermordeten. Zudem haben nicht wenige Männer, die heute um die 60 Jahre alt sind, im Afghanistankrieg (1979-1989) gekämpft und wurden durch diese gescheiterte imperialistisch-sowjetische Unternehmung schwer gezeichnet. Aus der gleichen Generation können viele noch von ihren militärischen Stationierungen in der DDR berichten. Die wenigsten allerdings hatten nach 1989 die Möglichkeit, erneut nach Deutschland zu reisen. »Mein Großvater brauchte kein Visum, um nach Deutschland zu reisen«, las ich in der Ukraine einmal auf einem T-Shirt. Das war noch vor 2017; seitdem können Ukrainer*innen für 90 Tage visumfrei nach Deutschland reisen - wenn sie es sich leisten können. Umgekehrt war die ukrainische Visumpflicht für EU-Bürger*innen bereits 2005 abgeschafft worden. Noch einen weiteren Bezug auf die Generation der Großeltern lese ich in diesen Tagen bei einer Demonstration gegen Putins Angriffskrieg in Berlin. Linke Diaspora-Ukrainer*innen, und auch »Russische Sozialisten gegen Russischen Imperialismus« forderten hier nicht nur den Schuldenerlass für die Ukraine, sondern verwiesen auch darauf, wie weit entfernt vielen hierzulande die Ukraine gerade noch erschien: »Hast du vergessen, wo die Ukraine liegt? Frag deinen Opa.« Diejenigen, die diese Transparente trugen, fürchten derzeit um ihre Angehörigen in Kyjiw, Charkiw und weiteren Städten, die unter heftigem Beschuss der russischen Armee stehen. Während einige, meist jüngere Menschen, nach Polen, Deutschland und in andere Länder fliehen konnten, harren andere in ihren Wohnungen oder Bunkern - häufig in Form der tiefen U-Bahn-Schächte - des Beschusses und eines drohenden Einmarschs der russischen Armee. Viele, auch ältere Zivilist*innen haben sich bewusst entschieden, zu bleiben und gegen eine drohende Besatzung Russlands zu kämpfen. Trockene Nüchternheit liegt in einigen Nachrichten aus Charkiv und anderen Orten, die in mir die Angst auslösen, es könnten die letzten gewesen sein, die ich von ihren Verfasser*innen erhalte. Besonders unübersichtlich ist die Situation in Städten wie Cherson, die bereits mehrfach gemeldet wurde als von ukrainischen und russischen Einheiten eingenommen und in denen auch Wohnhäuser unter Beschuss stehen. Für Anna* und Maxim* ist es nun zu spät, um die Stadt zu verlassen. Diese Option war allerdings auch vorher nicht denkbar, da die Ausreise für Männer zwischen 18 und 60 Jahren derzeit untersagt ist. Die beiden sind Binnenflüchtlinge aus den von den Separatisten kontrollierten Teilen der Ostukraine und bereits müde, weil sie in den vergangenen acht Jahren viele Male ihren Wohnort wechseln mussten. »Aber es hat uns auch widerstandsfähiger gemacht«, sagen sie. Und Anna berichtet: »Erst gestern wachte ich um 4.30 Uhr auf und hörte Drohnen, Kampfflugzeuge, Artillerie und explodierende Granaten.« Als russische Einheiten die Stadt Anfang März offenbar wirklich nach und nach einnehmen, versiegen die Nachrichten aus Cherson. Olha Martynyuk, Historikerin am Kyjiwer Polytechnischen Institut, war schon am 24. Februar von Detonationen geweckt worden: »Irgendwie dachte ich, die Explosionen würden in den großen Städten der Zentral- und Ostukraine auftreten. Jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt, aber zu diesem Zeitpunkt war es meine direkte Entscheidung, aus der Großstadt zu verschwinden.« Sie schaffte es, auszureisen und sich nach Basel durchzuschlagen. Martynyuk hinterließ viele Verwandte in der Ukraine, und wie viele Geflüchtete spricht sie davon, sich dafür schuldig zu fühlen. Sie leistet nun von Basel aus Unterstützung, auch durch Öffentlichkeitsarbeit. Die seit einer Woche herrschenden Realitäten haben viele Menschen weltweit überrascht und schockiert. Hierzulande bleibt abzuwarten, wie lange die akute Aufmerksamkeit für den Krieg und den seit Jahren andauernden Konflikt in der Ukraine andauern wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden. Bereits jetzt ist zu beobachten, wie sich parallel zur Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtenden auch in Deutschland antislawischer Rassismus auf verschiedene Weisen Ausdruck verschafft - sei es in Form von Hetze gegen Ukrainer*innen oder Angriffen auf russische Restaurants. Diverse Menschen berichteten zudem, aufgrund ihrer Hautfarbe am Übertritt der ukrainisch-polnischen Grenze gehindert worden zu sein. Politiker*innen mehrerer afrikanischer Staaten schalteten sich ein. Als ich höre, dass es immerhin den Einwohner*innen eines zentralukrainischen Dorfes gut geht, das die Wehrmacht auf ihrem Rückzug 1944 niederbrannte und dabei Dutzende Menschen ermordete, bin ich erleichtert. Eine der Nachfahr*innen derjenigen, die diese »Sühnemaßnahme« überlebt haben, konnte sich im letzten Moment vor dem Beschuss der Stadt aus Charkiv nach Polen retten. Ihre Hoffnung ist jedoch, bald nach Hause zurückkehren zu können. | Johannes Spohr | Den letzten Krieg auf ukrainischem Boden hat Deutschland geführt. Die Wehrmacht mit ihrer Rückzugspolitik der »Verbrannten Erde« verübte dort Gewaltverbrechen,
deren Fortwirken im jetzigen Krieg stärker sichtbar wird. | Nationalsozialismus, Russland, Ukraine, Wladimir Putin | Politik & Ökonomie | Politik Krieg in der Ukraine | 2022-03-04T17:32:11+0100 | 2022-03-04T17:32:11+0100 | 2023-01-20T19:06:24+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161893.krieg-in-der-ukraine-wo-liegt-die-ukraine-opa.html |
Airbus rüstet auf | Airbus wäre eigentlich für ein Jahrzehnt ausgelastet. Das galt zumindest vor Corona. Wegen der Pandemie hat der deutsch-französische Luft- und Raumfahrtkonzern seine Produktion um rund 40 Prozent gedrosselt - und will sie erst ab dem kommenden Sommer wieder etwas ausweiten. Aber Stornierungen und Abbestellungen durch Fluggesellschaften wecken Zweifel bei Branchenbeobachtern, ob sich die zivile Luftfahrt schnell erholen kann. Der Vorstandsvorsitzende der Airbus SE, der französische Ingenieur Guillaume Faury, reagierte auf die Coronakrise im vergangenen Juli mit der Ankündigung, weltweit 15 000 Stellen zu streichen, darunter 5100 der 50 000 Arbeitsplätze in Deutschland. Zu Entlassungen kam es bislang nicht: Staatlich geförderte Kurzarbeit und üppige Abfindungen durch den Konzern für »freiwillig« ausscheidende Mitarbeiter nahmen in Deutschland und Frankreich, Großbritannien und Spanien den Druck aus dem Kessel. Im März einigten sich dann nach monatelangen Verhandlungen und Warnstreiks Betriebsrat und Gewerkschaften mit dem Airbus-Management: Der Konzern gab eine Jobgarantie, darf aber im Gegenzug die Arbeitszeit in unterausgelasteten Abteilungen senken. Außerdem erklärten sich die Beschäftigten bereit, auf Teile ihres Lohnes zu verzichten. »Aus meiner Sicht ist das ein sehr starkes Ergebnis«, sagte Daniel Friedrich, der für Airbus zuständige Bezirksleiter der IG Metall Küste. Die meisten deutschen Airbus-Produktionsstätten liegen in Hamburg und Norddeutschland. Neu an Bord als Oberkontrolleur des Konzerns ging in der Krise der Deutsche René Obermann, der sich am Mittwoch den Aktionären erstmals zur Wiederwahl stellte. Das Ergebnis lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Doch die Wiederwahl des früheren Telekom-Bosses galt als sicher, schließlich werden die Spitzenpositionen bei Airbus nach politisch austarierten Proporz vergeben. Die Coronakrise traf vor allem den zivilen Flugzeugbau. Im vergangenen Jahr hatte der teilstaatliche Weltmarktführer 566 Maschinen an seine Kunden übergeben, nachdem es im Rekordjahr 2019 noch 863 gewesen waren. Noch schlechter lief die Entwicklung beim einzigen großen Konkurrenten, dem US-Flugzeugbauer Boeing. Doch ähnlich wie auch Boeing ist Airbus weit mehr als seine Sparte Airbus Operations, die Flugzeuge für die zivile Nutzung baut. In der Krise gewannen Airbus Defence and Space, Airbus Helicopters und der hauseigene Zulieferer Premium Aerotec an Gewicht. Auf sie entfällt annähernd die Hälfte des Gesamtumsatzes des Konzerns. Alle drei Unternehmenssparten sind auch stark im Rüstungsgeschäft aktiv. »In einem solch schwierigen Jahr bot das breite Portfolio von Airbus einen gewissen Schutz«, blickte der Verwaltungsratsvorsitzende René Obermann am Mittwoch in Amsterdam zur Eröffnung der Hauptversammlung von Airbus zurück. Während die zivilen Flugzeugaktivitäten durch die Pandemie erheblich beeinträchtigt worden seien, hätten Airbus Defence and Space und Airbus Helicopters umsatzmäßige »Unterstützung« geboten. Doch diese betriebswirtschaftliche Unterstützung stößt nicht überall auf Zustimmung. »Airbus profitiert von Kriegen, Menschenrechtsbruch und Abschottung«, heißt es in einem gemeinsamen neunseitigen Dossier der deutschen Umweltschutzorganisation Urgewald, von Stop Wapenhandel aus den Niederlanden sowie Terre des Hommes, das zur Hauptversammlung veröffentlicht wurde. So stehen beispielsweise viele Staaten im Mittleren Osten, immerhin die konfliktreichste Region der Erde, auf der Kundenliste. Der Oman erhielt in den vergangenen Jahren zwölf der von Airbus mitproduzierten Eurofighter, Kuwait bestellte 28 und Katar 24 Kampfflugzeuge. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) konnten mittels Airbus-Unterstützung einen Spionage-Satelliten starten. Zusammen mit einem Unternehmen aus den Emiraten will Airbus Kommunikationsausrüstung für Militär und Polizei im Mittleren Osten vermarkten. Saudi-Arabien zahlte rund zwei Milliarden Euro für ein »Grenzsicherungssystem«. Auch der Einsatz von Airbus-Rüstungsgütern in anderen Weltregionen stößt bei den Nichtregierungsorganisationen auf Kritik. Doch auch die zivile Zukunft von Airbus scheint gesichert. Der langjährige Emirates-Chef Tim Clark geht davon aus, dass die Folgen der aktuellen Luftfahrtkrise zwar schwerer sind und die Tiefphase länger als nach der Finanzkrise dauern wird. Aber die Erholung werde »wieder genauso ablaufen«. Clarks Fluglinie, die staatliche Fluggesellschaft des Emirats Dubai, unterhält die größte A380-Flotte der Welt und gehört zu den wichtigsten Kunden von Airbus. | Hermannus Pfeiffer | Airbus verdient an Kriegen, Menschenrechtsbruch und Abschottung. Kritik daran lässt den Verwaltungsratsvorsitzenden René Obermann kalt, solange der Konzern vom Rüstungsgeschäft profitiert. | EADS, Flugverkehr | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt René Obermann | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1150774.rene-obermann-airbus-ruestet-auf.html |
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Alternative mit einigen Tücken | Da das Erbbaurecht einige Tücken enthält, empfiehlt sich, eine unabhängige Rechtsberatung in Anspruch zu nehmen. Darauf verweisen die Notarkammern der neuen Bundesländer. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wird der Grundstückseigentümer prinzipiell Eigentümer sämtlicher auf dem Grundstück errichteter Gebäude. Eine Ausnahme davon bildet das Erbbaurecht. Dabei wird das Gebäude juristisch verselbstständigt, so dass das Eigentum am Gebäude und das Eigentum am Grundstück verschiedenen Personen zustehen. Erbbaurechtsverträge sind notariell zu beurkunden. Sie werden für lange Zeitspannen, häufig auf 75 oder sogar 99 Jahre abgeschlossen. Eigentümer der Grundstücke sind in der Regel Kommunen, Kirchen oder Unternehmen. Für die Überlassung des Grundstücks erhält der Eigentümer ein vertraglich festgelegtes wiederkehrendes Entgelt - den Erbbauzins. Im Vertrag über die Begründung des Erbbaurechts werden darüber hinaus häufig Regelungen zur Errichtung, Erhaltung und Nutzung des Gebäudes getroffen. Da während der Vertragslaufzeit sowohl das Erbbaurecht als auch das Grundstück ohne Zustimmung des anderen Vertragsteils veräußert werden können, werden oft Vorkaufsrechte oder Zustimmungserfordernisse vereinbart. Nach Ablauf der vereinbarten Laufzeit endet das Erbbaurecht. Ein Anspruch auf Verlängerung besteht grundsätzlich nicht, sie muss individuell vereinbart werden. Wer eine Verlängerung möchte, sollte frühzeitig mit dem Eigentümer des Grundstücks in Kontakt treten, denn die Verlängerung muss vor Ablauf der Vertragslaufzeit im Grundbuch eingetragen sein. Dabei sind die Bearbeitungszeiten bei den Grundbuchämtern zu berücksichtigen, die teilweise mehrere Monate betragen können. Der Erbbauberechtigte kann jedoch vertraglich verpflichtet werden, das Erbbaurecht auf den Grundstückseigentümer zu einem früheren Zeitpunkt zu übertragen, etwa wenn der Erbbauzins nicht entrichtet wird oder die Immobilie verwahrlost. Mit dem Ende des Erbbaurechts vereinigen sich Gebäude und Grundstück wieder zu einer rechtlichen Einheit, und der Grundstückseigentümer erlangt das Eigentum am Bauwerk. Der Erbbauberechtigte erhält eine Entschädigung. Der Grundstückseigentümer muss keine Entschädigung zahlen, wenn er dem Erbbauberechtigten vor Ablauf des Vertrages eine Verlängerung anbietet und das Angebot vom Erbbauberechtigten ausgeschlagen wird. Mit der Vereinbarung eines Erbbaurechts lassen sich beim Erwerb einer Immobilie Kosten sparen, da das Grundstück nicht gekauft werden muss. Es bietet daher eine Alternative zum klassischen »Hauskauf«. Jedoch sind mit dem Erbbauzins laufende Kosten über die gesamte Vertragszeit verbunden. Daher sollte man sich vor Abschluss entsprechender Vereinbarungen fachkundig beraten lassen. Als Fachmann für Immobilienrecht ist der Notar der richtige Ansprechpartner. Zudem spart dies Kosten, da der Erbbaurechtsvertrag ohnehin notariell beurkundet werden muss und die Gebühr für die individuelle Rechtsberatung bereits in der Beurkundungsgebühr enthalten ist. | Redaktion nd-aktuell.de | Oft wird das Erbbaurecht als Alternative für »den kleinen Geldbeutel« beim Hausbau angepriesen. Zwar lässt sich Geld sparen, da das Baugrundstück nicht gekauft werden muss, es bleiben jedoch über die gesamte Vertragslaufzeit wiederkehrende Zahlungsverpflichtungen. | Immobilie | Ratgeber | https://www.nd-aktuell.de//artikel/995619.alternative-mit-einigen-tuecken.html |
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Verbände wollen Ökobonus für sozialen Ausgleich bei Klimamaßnahmen | Berlin. Der Paritätische Gesamtverband und der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) haben einen Vorschlag für die Auszahlung eines Ökobonus gemacht. Der Bonus soll laut einem gemeinsamen Positionspapier, das dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt, die Folgen einer höheren CO2-Bepreisung für den Klimaschutz sozial abfedern. Die Verbände sehen in dem Ökobonus eine deutliche Entlastungaswirkung insbesondere für einkommensschwache Haushalte. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, setzt bei der Klimapolitik auf eine Kombination aus marktwirtschaftlichen Anreizen wie dem CO2-Preis, verlässlichen Regulierungen und staatlicher Unterstützung bei der technischen Entwicklung. Es brauche einen Ausgleich für ökonomische Belastungen durch die Transformation. Fratzscher forderte, dass die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung eins zu eins an jene zurückfließen sollten, die von der Verteuerung der Energie besonders betroffen sind. »Diese Klimaprämie sollte einkommensbezogen sein, damit die Schwächsten profitieren«, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Ökonom unterstrich, dass eine CO2-Abgabe die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen nicht schwäche, wie viele Industrieverbände behaupteten. Die Frage der Sozialverträglichkeit von Maßnahmen werde aktuell insbesondere im Zusammenhang mit der CO2-Bepreisung aufgeworfen, schreiben der BUND und der Paritätische in ihrem Vorschlag. »Die klimapolitischen Notwendigkeiten werden mit erheblichen Belastungen für die Volkswirtschaft und damit der Bevölkerung einhergehen. Für den Paritätischen Gesamtverband und den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland steht damit wie für viele andere fest, dass der ökologische Wandel nur als sozialökologischer Wandel funktionieren können wird«, heißt es weiter. Nur wenn die Menschen soziale Sicherheit verspürten und den Eindruck hätten, dass es bei der Lastenverteilung gerecht und solidarisch zugehe, würden sie bereit sein, einer Politik ihre Zustimmung zu geben, die mit der Bekämpfung des Klimawandels tatsächlich ernst mache. Der Ökobonus könnte nach dem Vorschlag der beiden Verbände einmal im Jahr über den Renten Service der Deutschen Post / DHL ausgezahlt werden. Zur möglichen Höhe des Bonus fehlen Angaben in dem Papier. Unklar bleibt auch, ob die Verbände eine einkommensunabhängige Prämie oder eine einheitliche Pro-Kopf-Pauschale als Bonus präferieren. Zuerst hatte das »RedaktionsNetzwerk Deutschland« am Samstag über das Positionspapier berichtet. DIW-Chef Fratzscher kritisierte gezielte Angstmacherei in der Diskussion um einen klimagerechten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. »Einigen Politikern ist es gelungen, den Menschen zu suggerieren, Klimaschutz werde ihnen extrem große Opfer abverlangen«, sagte er: »Es wird bewusst Angst geschürt.« Gleichwohl räumte er ein, dass es auf dem Weg zur gesetzlich beschlossenen Klimaneutralität im Jahr 2045 Verlierer geben werde. »Es werden Arbeitsplätze verschwinden.« Fratzscher betonte: »Wir müssen die Verlierer mitnehmen, sie entschädigen und ihnen Chancen eröffnen, ihr Leben neu zu gestalten.« epd/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Der BUND und der Paritätische Gesamtverband haben einen Vorschlag gemacht, wie die Folgen der CO2-Bepreisung sozial aufgefangen werden können. Der Ökonom Marcel Fratzscher fordert, die Einnahmen aus dem CO2-Preis gerecht zu verteilen. | CO2-Abgabe, Klimakrise, Sozialpolitik, Strukturwandel | Politik & Ökonomie | Politik CO2-Bepreisung | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1154328.verbaende-wollen-oekobonus-fuer-sozialen-ausgleich-bei-klimamassnahmen.html |
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Jan Ullrich gesteht Doping. Endlich! | Endlich hat er es zugegeben. Bei der Vorstellung der Amazon-Dokumentation »Jan Ullrich – Der Gejagte« in München ließ der ehemalige Radsportstar die Katze aus dem Sack, die längst schon über Straßen, Zeitungsspalten und Internetplattformen streunte. »Ja, ich habe gedopt«, sagte er bei diesem Anlass. Angefangen habe er damit 1996, also kurz nach seinem Start beim damaligen deutschen Modellrennstall Team Telekom. Spätestens nach Aussage von Bjarne Riis, Teamkollege und Vorgänger Ullrichs als Sieger der Tour de France im selben Jahr, dass er bei seinem Erfolg mit Blutdoping nachgeholfen habe, war es ziemlich wahrscheinlich, dass auch der Triumph des deutschen Jahrhunderttalents ein Jahr später auf ähnlicher Basis erfolgte. Ullrich hatte das bislang stets bestritten, trotz der Blutbeutel mit seinem Blut im Lager von Dopingarzt Eufemiano Fuentes, die die spanische Polizei im Rahmen der berüchtigten Operación Puerto sichergestellt hatte. Auch trotz all der Geständnisse und Teilbekenntnisse zahlreicher damaliger Teamkollegen blieb Ullrich über Jahrzehnte stur. »Ich wollte kein Verräter sein«, begründete er jetzt sein langes Schweigen. Das mag ihn ehren, es ist allerdings vor allem ein Ausdruck von Ganovenehre. Die Mithalunken verrät man eben nicht. Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Von der Halunkenhaftigkeit des Gros der damaligen Berufskollegen ist Ullrich offenbar weiter überzeugt. »Ich wollte mir keinen Vorsprung verschaffen. Damals hat der Radsport ein System gehabt, in das ich reingekommen bin. Für mich war das damals eine Art Chancengleichheit«, betonte er auch jetzt wieder. Doping war tatsächlich weitverbreitet. Und wer nicht dopte, war offenbar der Depp. Nun ja, ein paar solcher »Deppen« gab es. Den Franzosen Christophe Bassons etwa, der vom Peloton derart gemobbt wurde, dass er vorzeitig die Karriere beendete. Oder den Italiener Filippo Simeoni, nur ein »Halbdepp«, immerhin dopte er ja selbst; aber zumindest gab er es zu und wurde wegen seiner Offenheit vom damaligen Platzhirsch Lance Armstrong bei der Tour de France ganz offen gedemütigt. Insgesamt war der Dopingbetrug allseits bekannt in der Szene, wie Ullrich jetzt noch einmal bestätigte. »Ohne nachzuhelfen, so war damals die weitverbreitete Wahrnehmung, wäre das so, als würdest du nur mit einem Messer bewaffnet zu einer Schießerei gehen«, erklärte er den letzten Ungläubigen Anfang der Woche im Magazin »Stern«. Was bleibt nun als Neuigkeit? Immerhin ein Eingeständnis: »Ich habe mich schuldig gemacht, ich fühle mich auch schuldig.« Für das nicht immer einfache Ost-West-Verhältnis auch im Sport lässt sich konstatieren: Der Zögling des Kinder- und Jugendsportsystems der DDR begann das Dopen – zumindest, wenn sein jetziges Eingeständnis umfassend ist – erst im kapitalistischen Profisystem. Ob er seiner Meriten wie den ersten deutschen Gesamtsieg bei der Tour de France 1997 oder Olympiagold von 2000 verlustig geht, liegt an Regularien und Entscheidungen von Ausrichtern und Verbänden. Die offizielle Verjährungsfrist des IOC von zehn Jahren ist längst überschritten. Ob Ullrich, der ja mit seinem Erfolg den Radsport in Deutschland erst wirklich groß gemacht hat – vergleichbar mit dem Schub, den Tennislegende Boris Becker in diesem Land dem Filzkugelsport verliehen hat –, nach dem späten Eingeständnis nun auch wieder im hiesigen Sportsystem Fuß fassen darf, liegt ebenfalls an den Akteuren. Welcher Rennveranstalter setzt nun vielleicht wieder vermehrt auf Ullrich als Werbefigur und Sympathieträger, der bei Jedermann-Rennen immer noch ein Magnet ist? Welches Team verspricht sich etwas von seiner Expertise? Wie viel die Radsport-Erfahrungen der 90er und 2000er Jahre im heutigen, sehr verwissenschaftlichten Radsport Wert sind, ist allerdings fraglich. Zu begrüßen ist zumindest auf psychologischer und psychohygienischer Ebene, dass das sture Abblocken Ullrichs ein Ende hat. Damit gibt es Hoffnung, dass einer, der einst Millionen begeisterte, seinen eigenen Weg zurück zum Glück finden kann. | Tom Mustroph | Einst löste er einen Radsport-Boom in Deutschland aus. Dann stürzte »Jahrhunderttalent« Jan Ullrich ab. Sein Dopinggeständnis kommt nicht mehr überraschend. Und dann irgendwie doch, weil er der letzte Schweigende war. | Doping, Frankreich, Radsport | Sport | Sport Doping im Radsport | 2023-11-23T15:25:14+0100 | 2023-11-23T15:25:14+0100 | 2023-11-24T13:08:49+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177995.doping-im-radsport-jan-ullrich-gesteht-doping-endlich.html |
LINKE nervt wegen TLG-Verkauf | In einer von der Linksfraktion beantragten Aktuellen Stunde wurde zwischen Schwarz-Gelb und der Opposition heftigst über den Verkauf der 11 500 ehemaligen Treuhandwohnungen an den Hamburger Immobilienkonzern und internationalen Finanzinvestor TAG gestritten. Der Deal, den Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im November 2012 über die Bühne zog und bei dem die von Politikern der LINKEN gegründete Wohnungsgenossenschaft »FairWohnen« bekanntlich nicht zum Zuge kam, hat an mehreren Stellen ein gewisses »Geschmäckle«. Nicht nur, dass die TAG nur Wochen nach der Inbesitznahme der an 42 ostdeutschen Standorten gelegenen Wohnungen bei den sogenannten Neuvertragsmieten kräftig zulangte - den ostdeutschen Ländern gehen ob des speziellen Verkaufskonstrukts mehr als 23 Millionen Euro an Grunderwerbssteuer verloren. Und als sei dies nicht schon schlimm genug, konnte vermutlich auch die im Auftrag des Bundes wie des Käufers agierende Barclays Bank an beiden Enden des Verhandlungstisches absahnen, schlussfolgert die LINKE aus einer Antwort der Regierung auf ihre Anfrage.
Freilich geht das nicht erlahmende Interesse der Linksfraktion an den Details des Wohnungsverkaufes Union wie FDP mit näher rückendem Wahltermin zunehmend auf die Nerven. Vertreter ihrer Fraktionen haben auch gestern darin nur die Reaktion Zukurzgekommener sehen wollen oder flüchteten sich in Auflistungen linker Sündenfälle bei Regierungsbeteiligungen. Doch inzwischen belässt es die Linksfraktion nicht mehr bei Worten. Sie hat, so teilte die wohnungspolitische Sprecherin Heidrun Bluhm gestern mit, am Donnerstag das zuständige Finanzamt und die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Ob das jedoch zu der von Fraktionschef Gregor Gysi unlängst geforderten Rückabwicklung des Verkaufes führt, bleibt abzuwarten.
Dem Mieterbund (DMB) käme derlei Umkehrung bislang praktizierter Verscherbelung öffentlicher Wohnungsbestände, wie unlängst auch in Baden-Württemberg und Bayern, freilich gelegen. Der DMB legte kurz vor dem nächste Woche stattfindenden 65. Mietertag in München einen Zehn-Punkte-Katalog vor, der unter anderem eine Absage an Privatisierungen enthält. Ein nicht profitorientierter wohnungswirtschaftlicher Sektor sei durch Konzentration von Fördermitteln zu stärken, heißt es darin. Andere Forderungen des Dachverbandes von 320 Mietervereinen sind eine Verdoppelung des Mietwohnungsbaus auf 140 000 Wohnungen pro Jahr, jährlich 100 000 neue Preis- und Belegungsbindungen und eine Vervierfachung der bislang existierenden 550 000 altersgerechten Wohnungen bis 2020. Die Begrenzung der Neuvertragsmieten auf zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete, zehn Prozent Wohngelderhöhung, die Rücknahme der Verschlechterungen durch das Mietrechtsänderungsgesetz und die soziale Gestaltung bei energetischen Sanierungen stehen auch auf dem Wunschzettel.
So anspruchsvoll und teuer der auch ist - DMB-Präsident Rips zeigt sich optimistisch: 20 Jahre sei die Wohnungspolitik, unabhängig von der Regierungskonstellation, von Desinteresse und Passivität bestimmt gewesen. »Das ändert sich jetzt«. | Gabriele Oertel | Mieterbund-Präsident Franz-Georg Rips registriert ein gestiegenes Interesse an Wohnungspolitik. Das liegt daran, dass sich die Probleme für Mieter und Wohnungssuchende ob falscher regierungsamtlicher Weichenstellungen ballen - und daran, dass demnächst gewählt wird. | LINKE, Wohnraum, Wohnungsbau, Wohnungsmarkt | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/821881.linke-nervt-wegen-tlg-verkauf.html |
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Spannungen Israel–Hamas eskalieren | Tel Aviv/Gaza (dpa/ND). Nach dem schwersten Angriff der israelischen Armee seit dem Gaza-Krieg vor mehr als zwei Jahren eskalieren die Spannungen zwischen Israel und der Hamas weiter. Militante Palästinenser feuerten am Mittwoch zwei Raketen sowie sieben Mörsergranaten auf Israel ab. Auch die israelische Luftwaffe griff wieder Ziele im Gaza-Streifen an. Am Dienstag waren im Gaza-Streifen bei israelischen Angriffen acht Palästinenser getötet worden, darunter vier unbeteiligte Zivilisten. Drei der Toten waren Jugendliche, ein vierter Jugendlicher schwebt in Lebensgefahr. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bedauerte, dass »unschuldige Zivilisten bei einem Angriff der Armee ohne Absicht getroffen wurden«. In der rund 40 Kilometer von der Grenze entfernten israelischen Stadt Beerscheva wurde am Mittwoch ein Mensch bei der Explosion einer Rakete leicht verletzt. | Redaktion nd-aktuell.de | Hamas, Israel, Nahost, Palästina | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/193895.spannungen-israelnhamas-eskalieren.html |
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Leserwanderung in Potsdam | Die 97. nd-Leserwanderung findet am 23. April in Potsdam statt. Gestartet wird von 8 bis 11 Uhr am Potsdamer Hauptbahnhof. Ziel ist das Café »Daily Coffee« auf der Freundschaftsinsel. Dorthin führen zwei Strecken, die eine ist sieben Kilometer, die andere 14 Kilometer lang. Beim Testlauf mit Streckenplaner Gerhard Wagner am Donnerstag regnet es anfangs. Zunächst geht es links lang am Bildungsministerium vorbei, nach einer Rechtskurve um das Finanzministerium herum und an der Landeszentrale für politische Bildung vorüber. Der Weg führt hinauf auf den Telegrafenberg mit dem Institut für Klimafolgenforschung, dem Institut für Polarforschung und anderen naturwissenschaftlichen Einrichtungen. Wir gehen zum Einsteinturm, der Fotograf macht die ersten Aufnahmen des Tages. Dann weiter, hinein in den Wald, immer südlich, die lange Strecke bis zur Kehre um den Teufelssee herum. Ganz kurz sind wir im Landkreis Potsdam-Mittelmark, beim Rückweg aber bald wieder in einem Waldgebiet der Stadt Potsdam. Den Großen und den Kleinen Ravensberg lassen wir aus. Auch so gilt es auf der langen Strecke schon genug leichte Anstiege zu nehmen und auch einen schweren Anstieg zu bewältigen. Für Rollstuhlfahrer ist die Wanderung leider nicht geeignet. Etliche Wege führen hier entlang. Der eine oder andere Jogger kommt uns entgegen, auch ein paar Spaziergänger sind unterwegs. Nicht weit sind die Waldstadt I und II, Wohngebiete, die zu DDR-Zeiten mit einem speziell entwickelten Verfahren unter weitestmöglicher Schonung des Baumbestandes in den Wald hineingebaut worden sind. Aber die Wohnblöcke sehen wir nicht. Wir sind die ganze Zeit in der Natur, bis wir wieder den Telegrafenberg erreichen und den alten Landtag passieren, der inzwischen als Asylbewerberheim dient. Ganz kurz geht es durch dichten Verkehr auf die Lange Brücke, und dann sind wir schon wieder im Grünen, auf der Freundschaftsinsel, und nach wenigen Schritten am Ziel. Etwa fünf Stunden hat es gedauert, Pausen eingerechnet - und auch den Abstecher zum Einsteinturm, der nicht Teil der Wanderung ist, den aber besichtigen kann, wer das möchte. | Andreas Fritsche | Am 23. April hat »neues deutschland« Geburtstag. Wir spendieren unseren Leserinnen und Lesern an diesem Tag die nächste nd-Wanderung, die durch eine Großstadt führt, fast ohne Waldgebiete um die Stadt zu verlassen. | Brandenburg, nd-Wanderung, Potsdam | Hauptstadtregion | Brandenburg | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1045943.leserwanderung-in-potsdam.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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S-Bahn-Aufteilung ist »Blödsinn« | Der Betrieb der S-Bahn läuft alles andere als rund. Ist es frustrierend, für den Betrieb zu arbeiten? Es ist natürlich relativ schwierig, wenn man versucht, tagtäglich sein Bestes zu geben, und selber sieht, was für eine Leistung dabei herauskommt, wegen Umständen, für die man selbst nichts kann. Es gab auch eine Zeit, in der Kolleginnen und Kollegen extrem viele Überstunden gemacht haben. Damals wurde immer wieder versprochen, nächsten Monat wird es besser, nächsten Monat wird es besser, aber dieser nächste Monat kam irgendwie nie. Nach und nach wird tatsächlich alles ein bisschen frustrierender. Seit einem halben Jahr gilt eine neue Arbeitszeitregelung. Es heißt, diese sei verantwortlich für den aktuellen Fahrermangel. Es ist das Ergebnis von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, dass unsere Kollegen endlich einen konkreteren Dienstplan bekommen und nicht nur relativ große Zeitfenster wie vorher. Natürlich geht dem Arbeitgeber dadurch eine gewisse Flexibilität verloren. Aber eine Betriebsvereinbarung unterschreibt ja nicht ein Betriebsrat alleine, der Arbeitgeber hat das vorher wohl auch schon geprüft. Für die Kolleginnen und Kollegen sind diese Regelungen gut. Es gibt S-Bahnfahrer, die beklagen, dass sie nun nicht mehr so leicht Dienste tauschen können. Die S-Bahn Berlin GmbH hat schon Briefe an alle Triebfahrzeugführer und -führerinnen geschickt mit dem Hinweis, dass sie auf die Betriebsvereinbarung und alle Regelungen verzichten können. Es kann nicht unser Ziel sein, weder als Gewerkschaft noch als Betriebsrat, die erreichten Verbesserungen wieder aufzugeben. Es gibt Gespräche über neue Regelungen, um den Betriebsablauf zu verbessern. Das ist auch in unserem Interesse. Können Sie sagen, wie viele Lokführer fehlen? Der Arbeitgeber hat nachgerechnet und spricht von einer fehlenden Person (lacht). Im täglichen Leben sehen wir, dass es deutlich mehr sind. Weil auch extrem viele Leute mit Fahrberechtigungen in anderen Unternehmensbereichen gebraucht werden. Diese erstellen Dienstpläne, sind in irgendwelchen Projekten zu Optimierungen oder arbeiten als Lehrlokführer. Auch die Bereitschaftsdienste, die eigentlich jederzeit eingreifen können, sind schon seit Ewigkeiten kaum oder gar nicht besetzt. Es ist ein bundesweites Problem, Personal zu finden. Mit neuen Zügen und dem neuen Betreibervertrag für den S-Bahnring ab 2021 soll alles besser werden. Derzeit laufen die Vorbereitungen für die Ausschreibung für die Teilnetze Stadtbahn und Nord-Süd. Die Markterkundung läuft bis Ende dieses Monats, danach wird bewertet, und mein letzter Stand aus dem Abgeordnetenhaus ist, dass man noch vor der Sommerpause diese Ausschreibung fertig haben möchte. Es haben sich wohl schon relativ viele Unternehmen darauf beworben. Nicht nur Eisenbahnverkehrsunternehmen und Fahrzeughersteller, weil die Markterkundung auch sehr allgemein gehalten ist. Wir sind gespannt, was der Senat daraus macht. Was fordern Sie? Wir wollen, dass beide Teilnetze im Idealfall zusammen ausgeschrieben werden und dass es auf jeden Fall eine gesamtheitliche Ausschreibung von Betrieb und Instandhaltung geben muss, keine Trennung. Das ist der Mindestanspruch. Was halten Sie von der Markterkundung der Verkehrsverwaltung? Es gibt dort diverse Fantasien. Der perfekte Gau wäre, wenn ein Verkehrsunternehmen die Stadtbahn übernimmt und ein anderes das Nord-Süd-Netz, dazu wäre noch ein Fahrzeughersteller für die Instandhaltung zuständig. Und am Ende gibt es mit der S-Bahn Berlin GmbH für den Ring drei Eisenbahnunternehmen und zwei Instandhalter. Wie das im täglichen Betrieb koordiniert werden soll, will ich mir nicht vorstellen. Das hört sich an, als seien Sie mit Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) unzufrieden? Es ist ja absolut nachvollziehbar, dass die Grünen das Verkehrsressort haben wollten. Ich habe schon nicht verstanden, dass für das Amt eine Parteilose ausgewählt wurde. Aber dass diese Person dann auch noch ein überschaubares Fachwissen und kein Konzept für den ÖPNV hat, ist bitter. Welcher der drei Koalitionspartner steht Ihrer Ansicht am nächsten? Die SPD. Sie wollen die bisherige einheitliche Lösung, aber etwas billiger und besser. Die LINKE will im ersten Schritt den Fuhrpark und die Instandhaltung kommunalisieren, den Betrieb aber zunächst ausschreiben. Wir verstehen die Idee, können die Umsetzung aber nicht wirklich nachvollziehen. Der marktradikale Ansatz der Grünen würde für die Werkstattmitarbeiter zu deutlichen Einbußen führen und unserer Meinung nach auch den Betrieb destabilisieren. Ihre Forderungen unterstreichen Sie mit Postkarten, die Ihre Mitglieder verteilen. Sie machen sich also ernsthaft Sorgen? Eine Trennung der S-Bahn in Instandhaltung und mehrere Betreiber ist aus unserer Sicht wirklich absoluter Blödsinn. Einerseits für die Beschäftigten, mit der Mitbestimmung im Konzern. Aber es gibt auch andere Probleme: Bisher werden Lokführer, die untauglich werden, in andere Bereiche versetzt. Wenn es diese nicht mehr gibt, funktioniert das alles nicht mehr. Und aus Kundensicht natürlich die sich verschlechternde Betriebsstabilität durch die vielen Reibungsverluste zwischen verschiedenen Unternehmen. | Nicolas Šustr | Zu unpünktlich, zu voll, zu unzuverlässig: Kaum ein Berliner schipft nicht über die S-Bahn in der Hauptstadt. Doch was ist dran an der Meckerei? Ein Interview über die Lage und Zukunft des Unternehmens. | Bahnverkehr, S-Bahn, Verkehrspolitik | Hauptstadtregion | Berlin Gewerkschaft EVG | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1089639.s-bahn-aufteilung-ist-bloedsinn.html |
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Bloß nicht wieder mit der Union | Die sogenannten Jamaika-Parteien haben mit dem Abbruch der Sondierungsgespräche auch die Planungen der SPD durcheinandergewirbelt. Eigentlich wollte der Parteivorsitzende Martin Schulz bei einer Pressekonferenz am Montag im Willy-Brandt-Haus über programmatische Überlegungen und über die anstehenden Vorstandswahlen der Sozialdemokraten sprechen. Wegen des Scheiterns von Schwarz-Gelb-Grün stand aber auf einmal eine andere Frage im Zentrum der Beratungen der SPD-Spitze: Kann die Partei ihren kurz nach der Bundestagswahl getroffenen Beschluss, nicht erneut in eine Große Koalition einzutreten, auch unter den neuen Bedingungen aufrechterhalten? Im linken Flügel der Partei war man sich schnell einig. Der stellvertretende Parteichef Ralf Stegner verkündete am Morgen in diversen Medien, dass die SPD für eine schwarz-rote Bundesregierung nach wie vor nicht zur Verfügung stehe. Die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter, dass das Wahlergebnis von 20,5 Prozent, das die Sozialdemokraten im September eingefahren hatten, ein Warnsignal sei. »Die SPD muss sich erst erneuern«, schrieb Mattheis. Konservative Sozialdemokraten äußerten sich hingegen zurückhaltender und schlossen Gespräche nicht aus. »In der Ruhe liegt die Kraft«, meinte Johannes Kahrs, Chef des Seeheimer Kreises, gegenüber dem »Handelsblatt«. »Alle Parteien müssen sich nun neu sortieren und überlegen, wie es weitergeht.« Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels, verkündete: »Sprechen muss man natürlich immer.« In der SPD-Spitze setzten sich schließlich diejenigen durch, die eine klare Absage befürworteten. Der Vorstand beschloss mittags einstimmig, eine Große Koalition auszuschließen. »Wir scheuen Neuwahlen unverändert nicht«, heißt es in dem Beschluss. Wenn die Entscheidung anders ausgefallen wäre, hätte Martin Schulz bei den Mitgliedern an Vertrauen verloren. Er war in den vergangenen Wochen durch die Bundesrepublik getingelt, um sich bei Regionalkonferenzen Meinungen der SPD-Basis anzuhören. Diverse Genossen hatten ihm mitgeteilt, dass das Bündnis mit der Union nicht sonderlich beliebt sei und als eine Ursache für die Krise der Sozialdemokraten gesehen werde. Vor den Journalisten erklärte Schulz, dass sich an seiner Auffassung nichts geändert habe. Der Verlust von 14 Prozentpunkten, den Union und SPD bei der Bundestagswahl zusammen erlitten hätten, sei eine »rote Karte der Wähler für die Große Koalition« gewesen. Dagegen habe es ein »eindeutiges Mandat für die Jamaika-Parteien gegeben«. Schulz machte Union, FDP und Grünen schwere Vorwürfe. Sie hätten sich als unfähig erwiesen, eine Bundesregierung zu bilden und mit ihrem Verhalten das Land in eine schwierige Lage gebracht. »Nun sollen die Parteien und die Verfassungsorgane, der Bundespräsident und der Bundestag, die Situation erörtern«, sagte Schulz. Die SPD halte es für richtig, dass der Souverän die Lage neu bewertet. Eine mögliche Minderheitsregierung sah Schulz als »nicht praktikabel«. Um dem Vorwurf entgegenzutreten, dass seine Partei keine »staatspolitische Verantwortung« übernehmen wolle, verwies Schulz auf die aktuelle Arbeit der geschäftsführenden schwarz-roten Bundesregierung. »Die SPD regiert sorgfältig«, meinte Schulz. So halte sich Außenminister Sigmar Gabriel wegen der dortigen Krise zurzeit in Myanmar auf, Arbeitsministerin Katarina Barley diskutiere in Brüssel über die Ergebnisse des EU-Sozialgipfels in Göteborg und Umweltressortchefin Barbara Hendricks sei kürzlich beim Klimagipfel präsent gewesen. Auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel scheint sich auf Neuwahlen vorzubereiten. Sie würde ihre Partei in Neuwahlen führen, falls es dazu kommen sollte. Sie sei »eine Frau, die Verantwortung hat und auch bereit ist, weiter Verantwortung zu übernehmen«, sagte die geschäftsführende Bundeskanzlerin am Montag in einem ARD-»Brennpunkt«. Am Mittwoch will sich der Parteichef zu einem Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier treffen. Steinmeier hatte die Parteien am Montag ermahnt, gesprächsbereit zu sein, um eine Regierungsbildung in absehbarer Zeit möglich zu machen. Nach der erneuten Absage der SPD an die Union stehen die Chancen hierfür allerdings schlecht. Dabei stecken die Sozialdemokraten in einem Dilemma. Denn derzeit sieht es nicht danach aus, dass ihnen baldige Neuwahlen helfen würden. Bundesweite Umfragen sagen der Partei nicht mehr als 21 Prozent der Stimmen voraus. Die SPD befindet sich mitten in einer Selbstfindungsphase. Auch die Führungsfrage ist noch lange nicht geklärt. Schulz soll im Dezember auf einem Berliner Parteitag als Vorsitzender bestätigt werden. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass er erneut die Spitzenkandidatur seiner Partei übernehmen würde. Denn nicht wenige SPD-Politiker halten Schulz zumindest für mitschuldig an dem historisch schlechten Abschneiden der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl. Schulz wies darauf hin, dass er als Parteivorsitzender das Vorschlagsrecht für die Kanzlerkandidatur habe. »Von diesem Recht werde ich zu gegebenem Zeitpunkt auch Gebrauch machen«, kündigte er an. In der zweiten Reihe der SPD lauern seit einigen Jahren dieselben Personen. Der Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles sowie Olaf Scholz werden immer wieder große Ambitionen nachgesagt. Der Hamburger Bürgermeister stellt sich beim Parteitag erneut als stellvertretender Bundeschef zur Wahl. Hinzu kommen fünf weitere Vizevorsitzende. Am prominentesten sind neben Scholz die Ministerpräsidentinnen von Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz, Manuela Schwesig und Malu Dreyer. An der Programmatik seiner Partei will Schulz kurzfristig offenbar nichts ändern. Obwohl die SPD im Wahlkampf weitgehend auf Umverteilungsforderungen und eine offensive Lohnpolitik verzichtet hatte, meinte der Vorsitzende, dass man die »richtigen programmatischen Aussagen« gemacht habe. Es hätten lediglich die Zuspitzungen gefehlt. Diese wolle die SPD künftig bei den Themen Zukunft der Arbeit, Klimawandel, Pflege und Bekämpfung der Steueroasen liefern. Ihre programmatischen Fragen wollten die Sozialdemokraten eigentlich erst in den kommenden Monaten klären. Doch diese Pläne wird die SPD kaum aufrechterhalten können, wenn sie demnächst erneut mit einem Bundestagswahlkampf oder mit Koalitionsfragen beschäftigt sein sollte. Der geplante Leitantrag der SPD-Spitze für den Parteitag enthält mehr Fragen als Antworten. Der Erneuerungsprozess sollte bis Ende kommenden Jahres andauern und in Arbeiten an einem neuen Grundsatzprogramm münden. Das aktuelle Parteiprogramm stammt aus dem Jahr 2007. | Aert van Riel | Die Sozialdemokraten betonen, dass sie Neuwahlen im Bund nicht scheuen würden. Doch die Partei scheint auf dieses mögliche Szenario nicht sonderlich gut vorbereitet zu sein. Die Sozialdemokraten stecken in einem Dilemma. | Bundestagswahl, Jamaika-Koalition, SPD | Politik & Ökonomie | Politik SPD gegen Große Koalition | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1070721.spd-gegen-grosse-koalition-bloss-nicht-wieder-mit-der-union.html |
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»Wir müssen den Kampf offensiv führen« | Sie haben als Reaktion auf die Agenda 2010 von Gerhard Schröder im Jahr 2004 die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) mitgegründet, aus der später zusammen mit der PDS die Linkspartei hervorging. Können Sie sich noch an die Stimmung auf den Hartz-IV-Protesten und den damaligen Montagsdemos erinnern? Daran kann ich mich noch gut erinnern. Der Unmut war sehr groß. Viele Menschen empfanden die Einführung von Hartz IV durch die rot-grüne Bundesregierung als zutiefst ungerecht und demütigend. Menschen, die 20 oder 30 Jahre lang gearbeitet hatten, bevor sie erwerbslos wurden, mussten sich plötzlich vor dem Jobcenter nackig machen und einen Ein-Euro-Job annehmen. Das führte zu viel Verzweiflung, aber auch Mut. Viele Menschen gingen damals zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße. Das war ein sehr breiter und vielfältiger Protest. Janine Wissler ist seit Februar 2021 Co-Vorsitzende der Linkspartei. Bis April 2022 leitete sie die Partei zusammen mit Susanne Hennig-Wellsow, seit Juni zusammen mit Martin Schirdewan. Simon Poelchau sprach mit der aus Hessen stammenden Politikerin über die anstehenden Sozialproteste gegen die Politik der Bundesregierung in der Inflationskrise. Trotzdem blieben die Proteste erfolglos. Schröder führte die Agenda 2010 damals ohne Wenn und Aber ein. Ich würde nicht sagen, dass die Hartz-IV-Proteste damals gar nichts bewirkt haben. Warum? Ohne die Proteste hätte es womöglich noch ein Hartz V oder VI mit noch schärferen Einschnitten in den Sozialstaat gegeben. Noch weitergehende Pläne lagen damals ja in den Schubladen. Auch hätte sich ohne die Proteste vermutlich nicht einige Jahre später Die Linke gegründet. Ob es ohne unseren Druck heute einen Mindestlohn gäbe, kann man auch bezweifeln. Glauben Sie, dass die anstehenden Sozialproteste wegen der hohen Inflation das Potential haben, so groß zu werden wie die Anti-Hartz-IV-Proteste? Das hängt von der Politik der Bundesregierung ab. Sie hat alle Möglichkeiten, soziale Härten abzumildern, direkte Entlastungen zu schaffen, Preise zu deckeln sowie Zwangsräumungen und Gassperren zu verbieten. Doch momentan schaut es so aus, dass sie mit der Gasumlage lieber gutverdienenden Energiekonzernen Geld hinterherwerfen will auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher und es Druck von unten braucht, damit sich daran etwas ändert. Ihre Partei ruft für den 17. September zu einem dezentralen Aktionstag auf. Wer ist der Hauptgegner bei diesen Protesten: die FDP mit Bundesfinanzminister Christian Lindner, der weitere Entlastungen verhindern will, oder auch Grüne und SPD, die mit in der Koalition sind? Wir kritisieren die Bundesregierung und die besteht bekanntlich aus drei Parteien. Die FDP ist der deutlich kleinste Partner in der Koalition. Wenn die SPD nun Maßnahmen vorschlägt, die wir schon lange fordern, freut mich das zwar, aber man muss sie an ihren Taten und nicht ihren Worten messen. Die SPD stellt mit Olaf Scholz den Kanzler und die Grünen stellen mit Robert Habeck den Vizekanzler. Die beiden Parteien können sich also nicht hinter der FDP verstecken. Wenn die SPD jetzt wie Sie eine Übergewinnsteuer und einen Gaspreisdeckel fordert, müsste Ihre Partei die Forderungen dann nicht nachschärfen? Was die SPD aktuell vorschlägt, sind zum Teil Maßnahmen, die kurzfristig helfen würden. Sie bekämpfen aber nur die Symptome, nur die schlimmsten Auswirkungen einer verfehlten Energiepolitik und einer zunehmenden sozialen Spaltung. Bereits im vergangenen Jahr lebten hierzulande fast 14 Millionen Menschen in Armut. Das sind 16,6 Prozent der Bevölkerung. Die Inflation wird diese Spaltung weiter verschärfen. Deswegen braucht es nicht nur kurzfristige Maßnahmen, sondern grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen und eine Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zum Beispiel durch eine Vermögensteuer und eine einmalige Vermögensabgabe. Im Fall des angeschlagenen Energiekonzerns Uniper haben die Gewerkschaften Verdi und IG BCE gefordert, dass der Staat die Mehrheit übernehmen soll. Ist das eine Forderung, die Sie auch unterschreiben können? Ja. Wenn man einen Energiekonzern wie Uniper mit Milliarden rettet, muss es Arbeitsplatzgarantien und Mitspracherechte geben. Das haben wir auch schon während der Coronakrise bei der Rettung der Lufthansa gefordert. Energieversorgung gehört grundsätzlich in die öffentliche Hand und unter demokratische Kontrolle – im Sinne einer sozialen Preisgestaltung und einer ökologischen Energieerzeugung. Vor einigen Tagen gab es eine Demonstration, die die Enteignung von RWE forderte. Sie könnten sich also auch mit solch weitergehenden Forderungen anfreunden? Ja, die Energieversorgung gehört in die öffentliche Hand. Kommunen und Stadtwerke müssen gestärkt werden. Das wäre eine Riesenchance für die Energiewende. Die Probleme mit der Gasknappheit sind die Folge einer verfehlten Energiepolitik. Statt eine dezentrale Energiewende voranzutreiben, wurde zu lange auf große, fossile Kraftwerke gesetzt. Wenn es jetzt zu einer Renaissance der Kohle kommt, wird das den Klimawandel noch verschärfen. Dass die Energiepreise jetzt steigen, halten Ihre Genossen Klaus Ernst und Sahra Wagenknecht für eine Folge der Sanktionen gegen Russland infolge des Angriffs auf die Ukraine und fordern deshalb die Inbetriebnahme von Nord Stream 2. Zu Nord Stream 2 hat Die Linke eine klare Beschlusslage. Da erwarte ich, dass Abgeordnete, die zu diesem Thema für Die Linke sprechen, die demokratisch beschlossenen Positionen der Partei vertreten. Außerdem würde eine Inbetriebnahme von Nord Stream 2 nichts an der gegenwärtigen Lage ändern. Es gibt kein Gas-Embargo gegen Russland und es gibt auch keine Probleme bei der Gas-Infrastruktur. Es fließt derzeit kaum noch Gas, weil Russland die Lieferungen gedrosselt hat und das Gas zum Teil verfeuert. Ob zu wenig Gas durch eine Pipeline fließt oder durch zwei, ändert nichts an der Mangellage. Dass die Preise explodieren, liegt an der Verknappung und der Spekulation. Nicht nur Ernst und Wagenknecht fordern die Inbetriebnahme von Nord Stream 2, sondern auch die AfD. Ist es nicht ein Problem für die kommenden Proteste, wenn prominente Linke-Politiker dasselbe fordern wie Rechte? Die Bundesregierung könnte die Folgen der Preissteigerungen ausgleichen. Deutschland ist eine der reichsten Volkswirtschaften der Welt. Den Menschen, die unter hohen Preisen ächzen, würde nicht die Öffnung von Nord Stream 2 helfen, sondern dauerhafte Entlastungen wie 125 Euro im Monat für kleine und mittlere Einkommen und die Weiterführung des 9-Euro-Tickets. Auch die Einführung einer Übergewinnsteuer sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen wir einfordern. Das sind alles Forderungen, die die AfD nicht stellt, sondern ablehnt. Seitens des Verfassungsschutzes wird derzeit eher vor sozialen Protesten von rechts als vor Protesten von links gewarnt. Wie kann eine Abgrenzung gegen rechts gelingen? Die jetzige Debatte erinnert mich an jene von 2004. Damals waren bei den Hartz-IV-Protesten auch vereinzelt Nazis dabei. Das wurde auch von den Medien aufgegriffen. Hätten wir uns damals zurückgezogen und das Feld den Rechten überlassen, hätte sich 2004 nicht die WASG, sondern vielleicht schon die AfD gegründet. Stattdessen haben wir damals in den Bündnissen deutlich gemacht, dass unsere Solidarität sich nicht an der Nationalität ausrichtet und warum es wichtig ist, sich gegen rechts abzugrenzen. Und was ist, wenn doch Rechte zu Protesten kommen? Eine klare inhaltliche Ausrichtung im Vorfeld kann das verhindern oder zumindest erschweren. Wenn trotzdem Rechte kommen, muss es im Vorfeld Vorbereitungen geben, um sicherzustellen, dass rechte Kräfte und rassistische oder antisemitische Parolen nicht toleriert werden. Sie haben wiederholt gesagt, dass Sie den heißen Herbst zusammen mit den Gewerkschaften organisieren wollen. Doch diese sitzen derzeit mit Bundeskanzler Olaf Scholz und den Arbeitgeberverbänden im Rahmen der konzertierten Aktion an einem Tisch. Ist das nicht ein Problem? Auch die Gewerkschaften fordern Entlastungen wie einen Gaspreisdeckel und eine Übergewinnsteuer. In Erfurt ruft der DGB für den 11. September zu einer landesweiten Demonstration auf. Als ich am Dienstag in Frankfurt/Oder war, waren der DGB und Verdi mit dabei. Zudem stehen im Herbst wichtige Tarifrunden an. Angesichts der hohen Inflation sind deutliche Lohnerhöhungen nötig. Sozialproteste können gut mit den Arbeitskämpfen verbunden werden. Es geht ja nicht nur um Entlastungsmaßnahmen, sondern um ein dauerhaft höheres Lohnniveau. Der Linke-Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann ruft für kommende Woche in Leipzig zu einer Montagsdemo auf. In der Linken ist deswegen eine Debatte entbrannt, da viele Menschen Montagsdemos nicht mehr mit den Hartz-IV-Protesten, sondern vor allem mit rechten Aufmärschen von Pegida oder Corona-Leugner*innen verbinden. Wird die Abgrenzung gegen Rechts da nicht schwierig? Die Genoss*innen in Sachsen und Leipzig werden keine rechten Gruppen, Organisationen oder Transparente dulden. Das haben sie sehr deutlich gemacht. Beim Thema Montagsdemos darf man aber auch nicht vergessen, dass sie auch in der Nachwendezeit eine Tradition haben, die an den meisten Orten nicht rechts geprägt ist. In Stuttgart gibt es seit mehr als zehn Jahren Montagsdemos gegen S21, in Frankfurt am Main gab es sie jahrelang gegen den Flughafenausbau und eben die großen Proteste gegen Hartz IV. Einige in Ihrer Partei würden statt montags lieber freitags zusammen mit der Klimabewegung Fridays for Future auf die Straße gehen… Am Ende muss man vor Ort entscheiden, was am sinnvollsten ist. Da ist für mich der Wochentag weniger wichtig als die politische Ausrichtung. Eines dürfen wir aber nicht machen: in der jetzigen Situation, in der Eltern mit Tränen in den Augen ihren Kindern an der Supermarktkasse erklären müssen, dass ein Eis nicht drin ist, den Kopf in den Sand stecken und das Feld den Rechten überlassen. Das wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Wir sind die linke Opposition zur Ampel. Ich will es doch nicht der rassistischen AfD überlassen, den Unmut, den es zurecht gibt, in rechtes Fahrwasser zu lenken. Deswegen müssen wir den Kampf offensiv führen um die Ideen, die Köpfe, die Präsenz auf den Straßen. Nazis und Rechten die Straße zu überlassen, war noch nie eine gute Idee. | Simon Poelchau | Für Janine Wissler braucht es nicht nur kurzfristige Maßnahmen gegen die Inflation, sondern grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen. Die Sozialproteste dürfen nicht den Rechten überlassen werden. | Hartz IV, SPD | Politik & Ökonomie | Politik Janine Wissler im Interview | 2022-09-01T18:18:31+0200 | 2022-09-01T18:18:31+0200 | 2023-01-20T17:35:27+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166592.janine-wissler-im-interview-wir-muessen-den-kampf-offensiv-fuehren.html |
Vetos gegen Waffenruhe | Damaskus. Die syrische Regierung lehnt eine Waffenruhe für die heftig umkämpfte Stadt Aleppo ab, wenn nicht alle Rebellen abziehen. »Syrien betont, dass es seine Bürger in Ost-Aleppo nicht als Geisel der Terroristen im Stich lässt«, hieß es am Dienstag in einer Erklärung des Außenministeriums in Damaskus. Es würden alle Anstrengungen unternommen, die Bürger zu befreien. Russland als enger Verbündeter Syriens hatte am Montag eine Resolution des UN-Sicherheitsrats für eine einwöchige Feuerpause in Aleppo blockiert. Die VR China legte ebenfalls ihr Veto ein, auch Venezuela stimmte gegen die Resolution. Der von Spanien und anderen Ländern eingebrachte Text, den die westlichen Vetomächte USA, Frankreich und Großbritannien unterstützten, sah vor, dass alle Beteiligten die Kämpfe einstellen, damit dringend benötigte Hilfslieferungen in die Stadt gebracht werden können. Den Angriff auf das russische Militärlazarett in Aleppo vom Montag bezeichnete Russlands Außenminister Sergej Lawrow als eine »geplante Aktion«. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums stehen Kämpfer hinter dem Angriff, die vom Westen immer wieder als »moderate Opposition« bezeichnet würden. Zwei russische Ärzte getötet und ein weiterer verletzt worden. Moskau gibt den USA die Schuld am Scheitern geplanter Verhandlungen. Nach weniger als einer Woche hätten die USA ihre eigenen Vorschläge zur Regelung der Lage in Aleppo, die Außenminister Lawrow in Rom von seinem US-Kollegen John Kerry bekommen habe, aufgekündigt, berichteten Dienstag russische Medien. »Gestern erhielten wir von ihnen eine Mitteilung, dass sie sich morgen in Genf leider nicht mit uns treffen können, dass sie sich umentschieden haben und ihr Dokument nun abberufen«, so Lawrow in Moskau. Ein neues Dokument sehe nach dem Versuch aus, »sich mehr Zeit zu erkaufen, damit die Kämpfer Atem schöpfen und ihre Vorräte auffüllen können«. Moskau wollte eine verlängerbare Waffenpause von 24 Stunden, von der dschihadistische Gruppen ausgenommen sein sollten. Agenturen/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Laut Moskau war Angriff auf russisches Lazarett geplant | Russland, Syrien, USA, Waffen | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1034575.vetos-gegen-waffenruhe.html |
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Postkoloniale Liebeslasten | Wenn eine junge, traurige Irin aus ihrer Heimat nach Hongkong flieht, um dort unter prekären Bedingungen Englisch als Fremdsprache zu unterrichten, kann man das als heutzutage üblichen Umgang mit einer Lebenskrise auffassen. Man kann darin aber auch eine gebrochene Auseinandersetzung mit der komplizierten Kolonialgeschichte sehen (als Hongkong 1841 zur britischen Kolonie wurde, war auch Irland noch - selbst kolonisierter - Teil des Vereinigten Königreichs). Diese Lesart wird virulenter - und komplizierter -, wenn die 22-jährige, linke Feministin Ava in Hongkong eine Affäre mit dem nur wenig älteren britischen Investmentbanker Julian beginnt (immerhin waren es Banker wie er, die Irland 2008 in den Ruin stürzten). Schnell zieht Ava in Julians Luxushochhauswohnung ein und lässt sich von ihm aushalten - und dann tritt auch noch die gebürtige Hongkongerin Edith Mei Ling in ihr Leben. Die identitäts- und klassenpolitische Dimension in Naoise Dolans Debütroman »Aufregende Zeiten« hat schnell Vergleiche mit Dolans ehemaliger Uni-Kollegin Sally Rooney hervorgerufen. Doch mehr noch als an deren bekanntestes zweites Buch, »Normale Menschen« (2018), erinnert das von Dolan an Rooneys Debüt, »Gespräche mit Freunden« (2017), in dem es neben klassenübergreifenden Beziehungen und dem Unterschied zwischen unverbindlicher Affäre und echter Liebe auch um Queerness, sexuelle Identität und Polyamorie geht. Und ähnlich wie Rooneys Romane liest sich auch Dolans Buch nicht in erster Linie wie eine soziologische Abhandlung, sondern zugleich als spannende und äußerst unterhaltsame Geschichte über junge Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im Leben, auf der Welt - und vor allem in ihren eigenen Gefühlsmultiversen. So ist Julian für Ich-Erzählerin Ava zunächst einmal ein erster guter Freund in der fremden Umgebung. Sie trinken exquisiten Wein, feiern mit Julians fragwürdiger Expat-Gemeinde und führen nächtelang witzig-kluge Gespräche. Als er ihr später dann teure Klamotten kauft und sie ihm Blowjobs gibt, ist die pragmatische Unverbindlichkeit ihrer Liaison auch eine Möglichkeit, sich vor den eigenen Bindungsängsten zu verstecken. Für Ava, die Männer zwar »gut kann«, sich aber eigentlich mehr zu Frauen hingezogen fühlt (was sie sich freilich nicht ganz leicht einzugestehen vermag), ist die Übernahme unterwürfiger Routinen, wie Julians Schuhe zu putzen und seine Hemden zu bügeln, ein verqueres Machtexperiment: »Was ich wollte, war, dass Julian mehr für mich empfand als ich für ihn. (…) Ich wollte ein Machtgefälle, und zwar zu meinen Gunsten.« Zugleich lässt sich diese Konstellation aber auch auf einer überindividuellen Ebene lesen. Steht die prekäre Irin Ava zu dem britischen Banker Julian gewissermaßen selbst in einem postkolonialen Verhältnis, wird sie durch die Verbindung mit ihm zur Komplizin einer umfassenderen Kolonisierungsgeschichte. So wie die beiden Alteuropäer in Julians Edelapartment buchstäblich über dem ehemaligen Kolonialgebiet schweben, so existiert dort auch weiterhin eine »neokolonialistische« Struktur von alteuropäischer Dominanz, die an dem Sprachunterricht von Ava ebenso deutlich wird wie an Julians Freundeskreis und seinen Aktiengeschäften. Dass das Ganze allerdings auch auf der anderen Seite nicht so simpel ist, wird deutlich, als die Hongkonger Anwältin Edith auftaucht, während Julian für ein paar Monate nach London muss. Genau wie Ava erst 22 Jahre alt, spielt Edith beruflich aber eher in Julians Liga. Tatsächlich war sie auch wie er auf einer englischen Elite-Uni und spricht denselben gehobenen Akzent. Aber anders als Julian will sie mit Ava eine richtige Beziehung führen, und es entwickelt sich echte Liebe zwischen ihnen. Nur von ihrer Affäre mit Julian erzählt Ava Edith nichts. Als er schließlich zurückkommt, ist der Konflikt programmiert - wenn auch etwas anders, als man zunächst erwarten könnte. Den kolonialen Hintergrund von Dolans Roman hat auch Felix Stephan in der »Süddeutschen Zeitung« herausgearbeitet und das Buch folglich weniger mit der auf irische Verhältnisse fokussierten Sally Rooney verglichen, sondern mit George Orwells imperialismuskritischem Romanerstling »Tage in Burma« von 1934. Doch Stephan, ansonsten eher kein ungenauer Leser, scheint unter seiner Interpretationsfolie Dolans Romanende missverstanden zu haben. Aus meiner Sicht gibt es keinen Anlass zu der Auslegung, dass Ava sich schließlich für »das alte, weiße, reiche, patriarchale Europa« Julians und gegen die »neue, asiatische, queere Zukunft« Ediths entscheidet - ganz im Gegenteil. Und doch bleibt es bis zum Ende spannend - und anscheinend offen genug für divergierende Deutungen. Naoise Dolan ist mit »Aufregende Zeiten« ein aufregendes Debüt gelungen. Mit schnoddrig-schlauem Ton, sehr viel Humor und so großer Schärfe wie Empathie legt sie die Seelenzustände ihrer Held*innen und die tumbe Dekadenz von deren Expat-Gemeinschaft bloß. Auch Sprache und Kommunikationsmedien werden zu expliziten Reflexionsräumen der Beziehungswirren, und immer wieder findet Dolan suggestive Bilder: Entgegen der titelgebenden tropischen Taifunsaison textet etwa Ava an Edith, Julian wirke auf ihre Gefühlsüberschüsse »wie der golfstrom. (…) durch ihn bleibt irlands klima gemäßigt.« Eindrücklich klar auch Avas und Ediths Bekenntnisse über die gesellschaftlichen Hindernisse ihrer gleichgeschlechtlichen Sexualität. In der subtilen Meisterschaft, soziale in individuellen Verhältnissen zu spiegeln, steht Dolan ihrer berühmten Kollegin Sally Rooney in nichts nach. Dass Ava in ihrer scheinsouveränen Unnahbarkeit zunächst noch ein Stück unsicherer wirken (und am Ende auch etwas weniger experimentierfreudig sein) darf als Rooneys Ich-Erzählerin in »Gespräche mit Freunden«, ergibt dabei durchaus Sinn. Ava hat sich im postkolonialen Hongkong noch einmal eine Diskursebene mehr aufgeladen - die sie am Ende aber doch souverän zu schultern vermag. Naoise Dolan: Aufregende Zeiten. A. d. Engl v. Anne-Kristin Mittag. Rowohlt Verlag 2021, 320 S., geb., 20 €. | Tom Wohlfarth | Unter Expats in Hongkong: In ihrem Debütroman »Aufregende Zeiten« erzählt Naoise Dolan eine vertrackte queere Beziehungsgeschichte und entpuppt sich als Literatin, die der Erfolgsautorin Sally Rooney ebenbürtig ist. | Debütroman, Großbritannien, Hongkong, Kolonialismus, Literatur, Queer, Roman | Feuilleton | Kultur Naoise Dolan »Aufregende Zeiten« | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1158306.postkoloniale-liebeslasten.html |
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USA schröpfen Fannie Mae | Washington (dpa/nd). Bei diesen Geldgeschenken dürfte es US-Präsident Barack Obama schwerfallen, den von ihm kontrollierten Baufinanzierer Fannie Mae wie angekündigt abzuwickeln: Das Unternehmen überweist nach einem erfolgreichen zweiten Quartal weitere 10,2 Milliarden Dollar (7,6 Milliarden Euro) an die Staatskasse. Damit steige die insgesamt abgeführte Summe auf rund 105 Milliarden Dollar, erklärte das Unternehmen am Donnerstag.
Fannie Mae und die Schwestergesellschaft Freddie Mac sind Säulen des US-Immobilienmarkts. Sie kaufen Banken ganze Pakete an Hauskrediten ab, wodurch die privaten Institute frisches Geld erhalten und neue Kredite vergeben können. In den Turbulenzen des Krisenjahres 2008 gerieten die beiden Hausfinanzierer aber in Schieflage und der Staat musste sie mit einem mehr als 187 Milliarden Dollar schweren Rettungspaket stützen. Dank der Erholung an den US-Immobilienmärkten sprudeln die Gewinne wieder. Fannie Mae verdiente im zweiten Quartal unterm Strich 10,1 Milliarden Dollar. Das Geld muss die Firma wegen einer Klausel aus dem Rettungspaket an den Staat abgeben - ohne sich damit jedoch aus der Obhut von Washington »freikaufen« zu können.
Obama will den Staat nun aber möglichst aus der Immobilienfinanzierung herausziehen. Die beiden Finanzkonzerne seien zu groß geworden und sollten mit einem schlankeren System zur Garantie von Hypothekenkrediten ersetzt werden, hatte der Präsident erst am Mittwoch erklärt. | Redaktion nd-aktuell.de | Immobilienfinanzierer führt 10 Milliarden Dollar ab | Immobilie, USA | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/829837.usa-schroepfen-fannie-mae.html |
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Völkische Listen holen schwache Erfolge | »Diese Betriebsratswahl war einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik«, feiert sich das rechte »Zentrum Automobil« in einer Erklärung zum Ergebnis der Betriebsratswahl im Daimler-Stammwerk in Untertürkheim. An »eine schnelle Rückkehr zum Alltagsgeschäft« sei nun nicht zu denken. Übertrieben ist das dann aber doch: Zwar ist es der Gruppe um »Zentrum«-Chef Oliver Hilburger gelungen, ihr Ergebnis von vier auf sechs Mandate im Betriebsrat zu steigern, insgesamt gaben 13 Prozent der wählenden Kollegen den Rechten ihre Stimme. Doch auch die IG Metall konnte zulegen und sich mit 75,7 Prozent klar als stärkste Kraft behaupten. Ähnlich sieht am BMW-Standort in Leipzig aus. Dort errang das »Zentrum« aus dem Stand vier Mandate, während elf Prozent der wählenden Belegschaft die neue rechte Bewegung unterstützten. Auch bei Mercedes in Sindelfingen (zwei Sitze) und in Rastatt (drei Sitze) konnte die rechte Gewerkschaft erstmals Mandate holen, auch wenn die prozentualen Wahlergebnisse hier klar im einstelligen Bereich blieben. Ingesamt relativiert sich das Ergebnis jedoch, sobald es um die bundesweiten Zahlen geht. Hilburgers Gruppe holte an sechs Standorten 19 Betriebsratssitze, in ganz Deutschland werden in diesen Wochen aber etwa 180 000 Mandate neu gewählt. »Von einem Rechtsruck zu sprechen, halte ich für übertrieben«, beruhigt Klaus Dörre, Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena, gegenüber »nd«. Wer genauer in die Ergebnisse schaue, werde feststellen, dass auch die IG Metall zugelegt habe. Auch die mediale Aufmerksamkeit habe dazu beigetragen, dass etwa in Untertürkheim die Wahlbeteiligung um sechs Prozent gestiegen ist. »Dennoch ist es nicht gelungen, rechte Wahlerfolge zu verhindern. Das darf man nicht bagatellisieren«, warnt Dörre. Er hält die Gefahr für realistisch, dass in wichtigen Unternehmen künftig die Opposition zu den gewerkschaftlichen Betriebsräten von den äußersten Rechten organisiert werden könnte. Große Unterschiede zwischen den Ergebnissen im Osten und Westen sieht der Forscher nicht. Das Potenzial für die Rechten sei bundesweit gegeben. »Richtig ist aber, dass wir im Osten ein Ende der Bescheidenheit erleben. Viele wollen es nicht länger hinnehmen, als Arbeitnehmer zweiter Klasse behandelt zu werden«, so Dörre. Gründe für diese Unzufriedenheit gibt es viele: Leiharbeit, Niedriglöhne, Leistungsdruck, fehlende Mitbestimmung und längere Arbeitszeiten. Das alles suche »nach Adressaten. Das können dann auch rechte Betriebsratslisten sein.« Wie die Rechten versuchen Fuß zu fassen, erlebt man derzeit in Görlitz. Letzten Herbst wurde bekannt, dass das Görlitzer Turbinenwerk von Siemens mit fast 1000 Mitarbeitern wieder einmal vor dem Aus stehe. Zwar erklärte Konzernchef Joe Kaeser nach heftigen Protesten bereits im Februar, dass das Werk bis mindestens 2023 bestehen bleibe, doch da hatten sowohl die rechten Gewerkschafter als auch die AfD längst ihre Chance erkannt, die Abstiegsängste der Beschäftigten zu instrumentalisieren. Vor drei Wochen beteiligten sich knapp 1000 Menschen in Görlitz an einer von der Rechtsaußenpartei initierten Kundgebung, bei der es um die Zukunft der Arbeitsplätze in der Lausitz ging. Auch am Görlitzer Standort des Waggonbauers Bombardier sieht die Zukunft alles andere als rosig aus. Doch auch hier hat die IG Metall weiterhin klar die Oberhand: Vor wenigen Wochen organisierte die Gewerkschaft ebenfalls eine Demonstration. Es kamen 7000 Menschen. Bei der Betriebsratswahl hatten die Rechten keine Chance. Zwar behauptet das »Zentrum« auf sein Website, bei Siemens in Görlitz künftig über zwei Mandate zu verfügen, doch die IG Metall weist dies zurück. »Wir distanzieren uns ausdrücklich von jeglicher Vereinnahmung durch rechte oder nationalistische Kräfte«, so die Gewerkschaft in einer Mitteilung. Tatsächlich habe es zwei IG Metall-Listen bei der Wahl gegeben, doch beide hätten nach Angaben der Metaller nichts mit der rechten Bewegung zu tun. Sie bildeten »einen repräsentativen Querschnitt der Belegschaft ab«. Laut Jan Otto, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Ostsachsen, sei dieses Vorgehen mehrerer IG Metall Listen üblich und kein Zeichen der Spaltung. »Es ist eine gute und lange Tradition, dass Metallerinnen und Metaller unterschiedlicher Betriebsteile auf verschiedenen Listen zur Betriebsratswahl kandidieren«, so Otto. Am Ende war die Sache eindeutig: Alle Mitglieder der neu gewählten Interessenvertretung sind IG-Metall-Mitglieder. Hier können Gruppen ansetzen. »Die Rechten geben gerne die Globalisierungskritiker und Kämpfer. Den Gewerkschaften werfen sie vor, Teil des Establishments zu sein. Wo sie genug Personal haben, präsentieren sich die Rechten als Kümmerer«, erklärt Dörre. Doch anstatt um einen Klassenkampf gehe es ihnen um »die Ethnisierung der sozialen Frage«. Dörre warnt: »Das ist ein Sprengsatz für gewerkschaftliche Solidarität.« Den Gewerkschaften rät der Wissenschaftler, das Problem nicht kleinzureden. »An einer offensiven Auseinandersetzung mit der völkischen Rechten auch in den eigenen Reihen führt kein Weg vorbei«, mahnt Dörre. »Heiße Eisen« wie etwa die Migrationsfrage dürften nicht aus der gewerkschaftlichen Kommunikation ausgeklammert werden. »Vor allem aber gilt: Kämpferische Interessenpolitik entzieht dem Sozialpopulismus den Problemrohstoff.« Ansätze dazu hätten sich zuletzt beim Kampf der IG Metall für die verkürzte Vollzeit gezeigt. Hier müsse jetzt nachgelegt werden, etwa mit konkreten Schritten zur Einführung der 35-Stunden-Woche auch im Osten. Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels hatte es geheißen, das »Zentrum Automobil« sei in Görlitz mit einer eigenen Liste angetreten. | Robert D. Meyer | Bundesweit laufen die Betriebswahlen in tausenden Betrieben auf Hochtouren. Die Ergebnisse in der Automobilindustrie zeigen: Die IG Metall ist klar die stärkste Kraft. Doch die Gefahr von rechts bleibt. | Betriebsrat, IG Metall, Rassismus, Rechtsradikalismus | Politik & Ökonomie | Politik Betriebsratswahlen | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1083257.voelkische-listen-holen-schwache-erfolge.html |
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Das Geheimnis der israelischen Bombe | Auf dieser Zeitungsseite sollte ein Interview mit dem Ausgezeichneten stehen. Aber es hat keines stattgefunden. Der israelische Bürger Mordechai Vanunu darf nicht mit Ausländern reden, geschweige denn Journalisten. Er darf sich keiner ausländischen Botschaft nähern. Er darf nicht ins Ausland telefonieren und darf kein Internet benutzen. Seine persönliche Homepage ist nicht erreichbar. Praktisch ist das eine Kontaktsperre, eine doppelte. Offiziell steht Vanunu unter Hausarrest. Es ist eine Art Administrativhaft, denn es gibt kein neues Urteil gegen ihn. Die 18 Jahre, zu denen ihn einst der Oberste Gerichtshof Israels verurteilte, hat er abgesessen, bis zum letzten Tag. Das war am 24. April 2004. Auch wenn man von Vanunu noch nichts gehört hat, ahnt man spätestens jetzt, dass er kein gewöhnlicher Verbrecher sein kann. So sieht ihn übrigens in Israel fast niemand. Für die einen ist er kein Verbrecher, sondern ein Held, für die andere Seite, die Mehrheit, ist er viel schlimmer als ein Krimineller, nämlich ein Verräter. Was also ist Vanunu? Auf jeden Fall ein sogenannter »Whistleblower«, ein »Verpfeifer« – so nennt man im Englischen/Amerikanischen jemanden, der als »Insider« in seinem Unternehmen, seiner Behörde oder sogar der Regierung von Missständen oder Gesetzesverstößen weiß und diese an die Öffentlichkeit bringt. Das hat Vanunu getan, er hat als Erster die von Israel heimlich betriebene Produktion atomarer Waffen weltöffentlich gemacht. Dass Israel heimliche Kernwaffenprojekte betreibt, war zwar schon lange gemutmaßt worden. Aber erst als Vanunu, der neun Jahre lang in eben jenem israelischen Kernforschungszentrum Dimona gearbeitet hatte, 1986 in der Londoner Zeitung »Daily Mirror« detaillierte Dokumente dazu veröffentlichte, war dafür auch der Beweis erbracht. Seitdem ist sein Leben ein gänzlich anderes. Wann begann dieses »zweite Leben« Mordechai Vanunus? Wann reifte die Erkenntnis, dass das, was er in Dimona als Techniker tat, eine Staatsdoktrin unterstützen half, die nach seiner Überzeugung weit über verbrieftes Selbstverteidigungsrecht eines Landes hinausgeht? Die internationales Vertragswerk zu Rüstungsbegrenzung und Abrüstung missachtet? Dass die Bombe des eigenen Landes letztlich den Weltfrieden gefährdet – so wie jede andere Atomrakete auf der Welt auch? Es war, so sagten Menschen, die ihn kennen, wohl ein längerer Prozess. In die Wiege war ihm das gewiss nicht gelegt. Vanunu ist kein gebürtiger Israeli. Seine Heimatstadt war Marrakesch, doch noch als er Kind war, wanderten seine Eltern mit ihm von Marokko nach Israel aus. Sein Vater wurde Rabbi in Beerscheba, war alles andere als ein Dissident. Beerscheba liegt in der Negev-Wüste, nicht weit weg vom Kernforschungszentrum Dimona. Der junge Vanunu, weniger religiös, studierte Physik, solange sein Geld reichte, und begann dann in eben jenem Dimona zu arbeiten. 1986 wurde er dort entlassen. Vanunu ging auf Reisen, besuchte Australien und ostasiatische Länder, trat zum Christentum über. Irgendwann in dieser Zeit meldete er sich beim »Daily Mirror« und bot ihm Fotos von Dimona an. War das ein »Revanche-Foul« gegen die Entlassung? Er hat dies später stets verneint, auch seine Widersacher haben diese These kaum strapaziert. Sie haben ihn weniger als kurzschlüssig handelnden, geldgierigen Menschen hingestellt, sondern ihm wenigstens das politische Motiv seines Handelns nicht abgesprochen. Robert Maxwell, der Verleger des »Mirror«, war damals der Pressezar in Großbritannien. Der »Mirror« war zwar ein Boulevard-Blatt reinsten Wassers, aber nicht politikfern. In Abwägung zwischen Politik und Geschäft entschied sich Maxwell folgerichtig für beides. Er hielt Vanunu hin, leitete das von ihm erhaltene Material aber umgehend an den israelischen Geheimdienst Mossad weiter. Der Mossad handelte wie gewohnt: effektiv, routiniert und skrupellos. Ein weiblicher Lockvogel verleitete Vanunu zu einem Trip von London nach Rom. Was ein Kurzabstecher werden sollte, endete in den Fängen israelischer Agenten. Seit dem 3. September 1986 ist Vanunu nicht mehr frei. Wahrscheinlich hat er noch Glück gehabt. Wäre das Kidnapping in Rom nicht reibungslos verlaufen, die Agenten hätten ihn wohl liquidiert. Das wird nicht einmal verheimlicht. Man kann es nachlesen in Peter Hounams Buch »The Woman from Mossad: The Torment of Mordechai Vanunu«. So aber packte man Vanunu in eine Kiste und verschiffte ihn nach Ashdod, einen Hafen auf halber Strecke zwischen Gaza und Tel Aviv. Italiens Regierung hat von allem nichts gewusst – sagte jedenfalls damals Ministerpräsident Bettino Craxi. Der kann heute nicht mehr befragt werden, zum Beispiel danach, warum er gegen den unverfrorenen Entführungscoup durch einen fremden Geheimdienst auf italienischem Boden anschließend nur sehr geräuscharm protestiert hat. Vanunu war viel zu blauäugig, sagen seine Unterstützer heute. Wie konnte er glauben, dass Maxwell »nur« Verleger war? Und schlimmer noch: Seine Aktion war die größte Schlappe für den israelischen Geheimdienst seit dem Yom-Kippur-Krieg von 1973; denn Maxwell veröffentlichte das Material in seinem Blatt – fünf Tage nachdem er den Überbringer ans Messer geliefert hatte. * Mordechai Vanunu hat ungewöhnliche Zivilcourage bewiesen und beweist sie noch heute. Dafür ehrt ihn die Internationale Liga für Menschenrechte mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille. Bis zum Freitagnachmittag, so versicherte uns gestern die Präsidentin der Liga, Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin, hat das offizielle Israel es nicht einmal für nötig befunden, den Eingang des untenstehenden Offenen Briefes zu bestätigen. Aus der geplanten Auszeichnungsfeier am Sonntag um 11 Uhr im Berliner Grips-Theater soll deshalb nun eine Protestveranstaltung werden. | Roland Etzel | Am Sonntag sollte dem israelischen Nukleartechniker Mordechai Vanunu in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte überreicht werden. Dazu wird es nicht kommen, denn Vanunu wird nicht da sein. Das Land, dessen Bürger er ist, gestattet ihm die Ausreise nicht. | Atomwaffen, Benjamin Netanjahu, Israel | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/186253.das-geheimnis-der-israelischen-bombe.html |
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»Regieren heißt nicht, Grundsätze aufzugeben« | Wie geht es Ihnen mit dem Ergebnis der Linken bei der Bundestagswahl? Einerseits bin ich erleichtert, dass wir durch unsere drei Direktmandate in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen können. Das schlimmste Szenario ist also nicht eingetreten. Andererseits ist da bei mir natürlich große Enttäuschung, weil wir aus meiner Sicht die richtige Frage, nämlich die soziale, in den Mittelpunkt unseres Wahlkampfs gestellt haben. Wo sehen Sie jetzt Ihre wichtigste Aufgabe als Parteivorsitzende? In der jetzigen Situation müssen wir versuchen, die Partei weiter zu entwickeln. Wir müssen diskutieren, was unsere politischen Ziele sind und wen wir wie von uns überzeugen können und wollen. Und wir müssen uns fragen: Stellen wir uns nicht zu oft an den Gartenzaun und kommentieren statt einzugreifen? Als Vorsitzende müssen wir die Debatte so organisieren, dass wirklich jede Genossin und jeder Genosse eingebunden ist und dass wir die Chance haben, die Partei gemeinsam wieder stark zu machen. Sie sagen häufiger, man solle nicht am Gartenzaun oder am Spielfeldrand stehen, sondern Verantwortung übernehmen. Aber warum ist das Spielfeld denn vor allem das Mitregieren und nicht mindestens genauso das Sich-Einbringen in außerparlamentarische Bewegungen und der Aufbau der Parteibasis? So ist es ja nicht gemeint. Bewegungspolitik und Regierungsarbeit ergänzen sich und schließen sich nicht aus. Natürlich geht es darum, innerhalb der Bewegungen eine entscheidende Rolle zu spielen beziehungsweise zu verstehen, dass Bewegungen Politik tatsächlich unter Druck setzen und es unsere Aufgabe ist, diesen Druck in den Parlamenten, in den Regierungen in politisches Handeln zu übersetzen. Dabei sind die Erfahrungen aus dem Thüringer Weg wertvoll. Den beschreibe ich gern so: Am frühen Morgen besuchen wir die Streikversammlung bei Amazon, am Vormittag demonstrieren wir mit Fridays for Future, mittags machen wir die Gesetze, am Abend stimmen wir sie im Parlament ab, und die Regierung setzt sie um. Für die Menschen, die für Niedriglöhne arbeiten, die in Armut und gesundheitsgefährdenden Verhältnissen leben, müssen wir alle Hebel in Bewegung setzen. Das bedeutet auch, dass wir die Forderungen aus unseren Wahlprogrammen selbst umsetzen müssen. Wir können nicht nur von anderen fordern, das zu tun. Welche Chance sehen Sie nach dem Debakel, ein innerparteiliches Hauen und Stechen zu verhindern und für eine solidarische Erarbeitung von Schlussfolgerungen zu sorgen? Ich glaube, Auseinandersetzungen über den richtigen Weg sind notwendig. Dabei kommt es darauf an, sie fair zu führen. Unsere Aufgabe ist es, die Partei zusammenzuführen und einen starken Kern zu schaffen, um wieder Wähler*innen zu gewinnen, Parteimitglieder zu binden, und zwar nicht in der Konfrontation, sondern im zugewandten Streit. Es wird es immer Menschen in der Partei geben, die im Ton überziehen. Aber unser Wille ist es, eine Streitkultur zu etablieren, die uns nach vorne bringt und nicht weiter zerstört. Bei welchen Themen muss es aus Ihrer Sicht jetzt Richtungsentscheidungen geben, damit Die Linke in wesentlichen Fragen künftig mit einer Stimme spricht? Das betrifft aber genauso die Europa-Frage und die, ob wir ein bedingungsloses Grundeinkommen wollen oder nicht. Bei anderen Themen, etwa dem sozial-ökologischen Gesellschaftsumbau, sind wir uns bereits sehr einig, und diese Einigkeit müssen wir zukünftig stärker nach außen tragen. Wie erklären Sie sich, dass sich die Agenda-Partei SPD so erfolgreich als Hüterin der sozialen Gerechtigkeit darstellen konnte? Aber der Linken wird eben im Moment nicht zugetraut, diesen Zustand verändern zu können. Das hat etwas damit zu tun, dass wir seit langem gute Vorschläge machen, dass wir die aber im Bund nie umsetzen konnten. Künftig müssen wir in aller Klarheit ausstrahlen, dass wir eine moderne linke Partei sind, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Den Kurs auf das Mitregieren hat Sahra Wagenknecht nach der Wahl als »vehementes Andienen« an SPD und Grüne kritisiert … Aus meiner Sicht haben wir uns nicht angedient, sondern wir haben mit unserem Sofortprogramm Vorschläge gemacht, welche Maßnahmen man schnell ergreifen kann und muss, wenn es eine progressive Mehrheit im Land gibt. Sei es, Hartz IV zu überwinden, einen Mindestlohn von 13 Euro, die armutsfeste Mindestrente und einen Mietendeckel durchzusetzen. Das ist aus meiner Sicht kein Sich-Andienen. Sondern wir zeigen damit, dass es ein fortschrittliches Bündnis braucht, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Und hier etwa eine Erhöhung des Mindestlohns in mehreren Schritten zu erreichen, bedeutet nicht, dass wir unsere Grundsätze aufgeben. Im Gegenteil: Sie sind immer noch der Kompass. Aber wie will man Ziele erreichen, wenn man mit Abstand die schwächste Kraft in einem Dreierbündnis ist? In Thüringen haben wir gezeigt, dass ein Agieren auf Augenhöhe auch bei sehr unterschiedlichen Größen der Partner möglich ist. Dort ist aber Die Linke stärkste Partei, nicht SPD oder Grüne … Genau. Wir haben von vornherein gesagt, dass Entscheidungen im Konsens getroffen werden müssen, unabhängig der Zahl der Wählerstimmen der einzelnen Partner. Nach meiner Erfahrung in einer Dreierkoalition mit zwei kleinen Parteien, wie wir sie in Thüringen haben, ist, dass eine Zusammenarbeit möglich ist, bei der niemand sein Gesicht verliert. Deswegen hätte ich auch im Bund keinerlei Bedenken gehabt, mit einem Wahlergebnis der Linken von fünfeinhalb oder sechs Prozent in eine Regierung zu gehen, weil es darauf ankommt, dass wir die Politik mitbestimmen können. Und natürlich wären SPD und Grüne auch auf unsere Stimmen angewiesen. | Jana Frielinghaus | Die Linke-Ko-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow will in der Partei eine solidarische Streitkultur bei der Aufarbeitung des Debakels bei der Bundestagswahl entwickeln. Sie ist überzeugt, dass die Linke auch bei schlechten Wahlergebnissen zum Mitregieren bereit sein muss. | Bundestagswahl, Die Linke, Klimapolitik, Linke in der Krise, Migrationspolitik, R2G, Susanne Hennig-Wellsow | Politik & Ökonomie | Politik Die Linke nach der Wahl | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1157093.regieren-heisst-nicht-grundsaetze-aufzugeben.html |
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Grüne Jugend bricht auseinander | Die Austrittswelle bei der Nachwuchsorganisation der Grünen hält an: Nachdem der Bundesvorstand der Grünen Jugend (GJ) vergangene Woche geschlossen seinen Rücktritt angekündigt hatte, sind inzwischen sechs Landesvorstände dem Schritt der GJ-Spitze gefolgt. Unter denen, die in der GJ bleiben, macht sich großer Unmut breit. In einem Mitgliedermeeting erhoben Teilnehmende schwere Vorwürfe gegenüber dem GJ-Bundesvorstand. Seitdem die GJ-Spitze vergangenen Donnerstag bekanntgab, eine neue linke Jugendorganisation zu gründen, lässt sich der Zerfall der Grünen Jugend live auf Instagram verfolgen. Jeden Tag kommen auf dem Profil der neuen Gruppe, die bislang unter dem Namen »Zeit für was Neues« auftritt, neue Posts dazu, in denen weitere GJ-Mitglieder ihren Austritt aus der Grünen und Eintritt in die Neuorganisation verkündet. Den Anfang machte noch am Donnerstag der Vorstand des Landesverband Niedersachsens. »Gemeinsam mit zahlreichen weiteren Mitstreiter*innen aus der Grünen Jugend werden wir etwas neues beginnen« heißt es in ihrer Erklärung. »Immer mehr Menschen vereinsamen, unsere Freunde finden keine bezahlbare Wohnung, wir können uns oft nur nudeln mit Pesto ›gönnen‹« so der Vorstand. Es brauche eine starke Linke Partei, die für die Menschen da sei, statt Politiklogiken zu folgen. »Für uns ist diese Partei nicht B90/Die Grünen«. Danach folgten Austrittserklärungen der GJ-Landesvorstände in Bayern, Nordrheinwestfahlen, Schleswig-Holstein, dem Saarland und zuletzt Hamburg. Auch Teile des Vorstands der rheinland-pfälzischen GJ wollen ihr Amt niederlegen. Eine inhaltliche Erklärung gaben sie allerdings nicht ab und auch auf dem Instagram-Account von Zeit für was Neues tauchten sie bislang nicht auf. Die einzige Grüne-Mandatsträgerin, die bisher ihren Rücktritt erklärt hat, ist die Hamburger Abgeordnete Ivy May Müller. In einem recht aufwendig produzierten Video auf Instagram teilte sie mit: »Als ich 2020 für die Grünen in den Hamburger Landtag eingezogen bin, wollte ich die Hoffnung meiner Generation ins Parlament tragen,« so Müller. Diese Hoffnung habe ihre Generation verloren. Auch sie ist überzeugt, es brauche einen neuen linken Jugendverband, dem sie sich nach dem GJ-Bundeskongress anschließen möchte. Kurz darauf verkündete die Landepolitikerin ihren Wechsel in die Linksfraktion des Hamburger Abgeordnetenhauses. Ein Schritt, der in der Grünen für Kritik sorgte. »Das ist ein #Sahrawagenknecht Move« kritisierte der Grüne Bundestagsabgeordnete Kassen Taher Saleh unter dem Beitrag. Anständig wäre es gewesen, so Taher Saleh, das Mandat abzugeben. Was genau aus der neuen Jugendorganisation entstehen soll, wurde bisher nicht bekannt gegeben. Aus GJ-Mitglieder-Kreisen hat »nd« erfahren dass es Pläne für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei gibt. Demnach soll der neue Jugendverband zwar vorerst unabhängig bleiben, aber für Die Linke, etwa bei der kommenden Bundestagswahl, Wahlkampf machen. Einzelnen Mitgliedern des neuen Jugendverbandes stünde es dann offen, Mitglied bei der Linkspartei zu werden und direkt für sie zu kandidieren. Der Vorstand der Grünen Jugend wollte sich gegenüber »nd« nicht dazu äußern. Unter den Mitgliedern der Grünen Jugend, die in der Partei bleiben wollen, sorgte der Schritt des Vorstandes für Wut und Enttäuschung. In einem offenen Mitgliedertreffen, das der Bundesvorstand am vergangenen Donnerstagabend kurzfristig einberäumt hatte, erhoben Teilnehmer*innen schwere Vorwürfe gegenüber der Spitze. »nd« liegen Mitschnitte des Online-Meetings vor. »Ich bin wirklich extrem enttäuscht von euch« sagte ein Teilnehmer des Treffens, der sichtilich emotional aufgewühlt ist, zu Magdalena Schulz und Katharina Stolla, die den Vorstand in dem Meeting vertraten. Der Schritt, nach einem Jahr im Amt den Posten niederzulegen, sei »einfach nur unverantwortlich« so das GJ-Mitglied weiter. »Ihr hinterlasst uns einen Scherbenhaufen« sagt ein weiterer Teilnehmer. Andere äußerten zwar Verständnis für die Rücktrittsentscheidung an sich, gaben sich aber schockiert über die Art und Weise, wie der Vorstand den Schritt kommuniziert hatte. »Ich habe teilweise von Landesverbänden gehört, die über Twitter von dem Rücktritt erfahren haben«, kritisierte eine teilnehmende Person. Darüber hinaus stehen aber noch schwerere Vorwürfe im Raum. »Ich erwarte, dass wir diese ganze Sache aufarbeiten« forderte ein GJ-Mitlgied wütend. Eine Vermutung, die von ihm und anderen in dem Treffen geäußert wird: Der Bundesvorstand habe Zeit und Ressourcen der Organisation darauf verwendet, das neue Projekt zu gründen. Der Vorstand der GJ weist diese Vorwürfe gegenüber »nd« zurück. »Selbstverständlich wurden keine Verbandsgelder für das Projekt ›Zeit für was Neues 2024‹ verwendet«, so die GJ-Spitze. Die dafür erstellte Website sowie die Accounts in den sozialen Netzwerken seien in der Freizeit gemeinsam mit ehrenamtlichen Unterstützer:innen und deren technischem Equipment erstellt worden. »Die dafür angefallenen Kosten (etwa für das Hosting der Website sowie Transportkosten für den Videodreh) haben wir privat getragen.« Gegründet wurde die Grüne Jugend 1994, ein knappes Jahr nach der Vereinigung der Grünen mit dem Bündnis 90. Rund 16 000 Mitglieder sind aktuell in 16 Landesverbänden organisiert. Mitten im Abspaltungsprozess der linken GJler*innen sorgt Agrarminister und »Oberrealo« Cem Özdemir für Empörung innerhalb des linken Flügels der Grünen. In einem Beitrag für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« äußerte er sich kritisch gegenüber Migration. Seine Tochter werde häufiger »von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert«. Klare Grenzen müssten gezogen werden: »Wer einen wertvollen Teil zu unserem Land beitragen kann und will, ist willkommen. Wer nachweislich Schutz sucht, dem helfen wir. Für alle anderen haben wir keinen Platz.« Özdemir wird nachgesagt, Winfried Kretschmann als Ministerpräsident Baden-Württembergs nachfolgen zu wollen. Die Grünen-Außenministerin Anna-Lena Baerbock verteidigte Özdemirs Text als Beitrag dazu, vermeintliche Widersprüche offensiv zu thematisieren. Für diejenigen in der Grünen Jugend, die noch unentschlossen sind, dürfte dies ein weiterer Anlass sein, die Partei zu verlassen. Redaktionelle Anmerkungen:
- In einer vorherigen Version des Artikels hieß es, die GJ-Bundessprecherin Svenja Apphun habe den Vorstand der Grünen Jugend im offenen Mitgliedermeeting vertreten. Es war nicht Apphun, sondern die Bundessprecherin Katherina Stolla.
- Der Artikel wurde im Nachhinein um das Statement des GJ-Vortsandes ergänzt. | Pauline Jäckels | Immer mehr GJ-Landesspitzen verlassen nach dem Rücktritt des GJ-Vorstandes die Partei – bei denen, die bleiben, machen sich Unmut und Enttäuschung breit. | Die Grünen, Die Linke, Einwanderung, Grüne Jugend, Hamburg | Politik & Ökonomie | Politik Vorstands-Rücktritt | 2024-09-30T18:19:13+0200 | 2024-09-30T18:19:13+0200 | 2024-10-02T16:37:26+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1185665.vorstands-ruecktritt-gruene-jugend-bricht-auseinander.html |
Auch Laufzeit von über 24 Monaten möglich | Diese Auffassung vertrat des Oberlandesgericht Köln (Az. 6 U 160/20), wie am 28. Juni 2021 mitgeteilt wurde. In dem strittigen Verfahren ging es um einen Mann, der den Vertrag seines Vaters übernommen hatte und im September 2019 - fünf Monate vor Vertragsende - ein neues Papier unterschrieben hatte. Dafür bekam er ein neues Smartphone. Der Vertrag mit einem geänderten Tarif bei der Deutschen Telekom lief also ab Vertragsunterschrift nun sogar 29 Monate lang. Das war dem Kunden entschieden zu lang. Für ihn klagte der Verbraucherzentrale Bundesverband, aus dessen Sicht es sich um einen Neuvertrag handelte, der nicht länger als 24 Monate laufen dürfe. In der Verhandlung vor dem OLG Köln wertete das Gericht die nun erfolgte Vertragsunterschrift aber als Verlängerung des alten Vertrags, der noch fünf Monate lief. Der Kunde habe in den Unterlagen ausdrücklich einer Vertragsverlängerung zugestimmt und die Möglichkeit bekommen, ein Handy zu vergünstigten Konditionen zu erwerben, so das Gericht weiter. Laut Gesetz, das vor der Änderung durch Beschluss des Bundesrats gültig war, dürfen Handyverträge nur maximal 24 Monate laufen. Eine vorzeitige Verlängerung kann nach Auffassung des Gerichts aber eine längere Laufzeit nach sich ziehen, so dass zu den 24 Monaten noch die fünf Monate vor Ablauf des alten Vertrages hinzukommen. Da eine Revision gegen das Urteil nicht zugelassen wurde, ist damit das letzte Wort in dieser Sache gesprochen. Zuvor hatte der Kläger schon am Landgericht Bonn eine Abfuhr bekommen. Kerstin Hoppe vom Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) sprach von »einem schlechten Urteil für Verbraucher. Der neue Vertrag hatte andere Konditionen als der alte - es stand zwar Vertragsverlängerung drüber, dem Inhalt zufolge war es aus Sicht des VZBV aber ein Neuvertrag.« Die Telekommunikationsbranche sei häufig intransparent gegenüber den Kunden, denen die genauen Vertragsdetails mitunter nicht klar seien. Daher wäre eine klare Grenze von maximal 24 Monaten wichtig, argumentiert Hoppe. Sie rechnet damit, dass das Urteil Signalwirkung haben könnte für andere, ähnlich gelagerte Fälle. »Das ist bedauerlich, weil die Position des Verbrauchers dadurch geschwächt wird.« »Wir freuen uns, dass das OLG Köln unserer Rechtsauffassung zur Vertragsbindung bei Verlängerung mit neuem Smartphone über zwei Jahre hinaus gefolgt ist und das vorangegangene Urteil des Landgerichts Bonn bestätigt hat«, so ein Telekom-Sprecher. dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Nach aktueller Rechtslage gilt für Handy- oder Fitnessstudio-Verträge eine Laufzeit von maximal einem Jahr. Aber ein Handyvertrag kann unter Umständen länger als 24 Monate laufen, wie ein Gericht befand. | Köln, Nordrhein-Westfalen | Ratgeber | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1154916.auch-laufzeit-von-ueber-monaten-moeglich.html |
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Bedingt abwehrbereit | Man stelle sich kurz vor, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ruft im Kanzleramt an und bittet um eine sehr kurzfristige Schalte zwischen den Regierungschef*innen der Mitgliedsstaaten. Stoltenberg bekommt als Antwort: Die Schalte muss warten, Olaf Scholz muss mal eben rüber ins Verteidigungsministerium, weil es im Kanzleramt keine abhörsichere IT-Infrastruktur gibt. Dieses Szenario beschreibt pointiert, wie es um Deutschlands digitale Sicherheit steht. Kurz gesagt: nicht besonders gut. Wenn Innenministerin Nancy Faeser in den Bundesbehörden und Ministerien nun einheitliche Standards schaffen will, fragt man sich schon, was für naive, technikfremde Laien ihre Amtsvorgänger gewesen sind. Ob Horst Seehofer auch auf eine Mail eines kenianischen Prinzen reagiert hätte, der ihm zehn Millionen US-Dollar verspricht? Faeser sollte sich auf die Verteidigung gegen Cyberattacken konzentrieren. Eine Erlaubnis für staatliche Stellen, Angreifende zu attackieren, darf es dagegen nicht geben. Ist diese digitale Büchse der Pandora einmal geöffnet, dann lässt sie sich nicht mehr schließen. | Robert D. Meyer | Um die IT-Sicherheit in Deutschland steht es schlecht, Bundesinnenministerin Faeser will einige überfällige Projekte angehen. Doch beim Kommando digitale Gegenattacke sollte sie sich besser zurückhalten. | Digitalisierung, Horst Seehofer | Meinung | Kommentare Cybersicherheit | 2022-07-13T16:23:41+0200 | 2022-07-13T16:23:41+0200 | 2022-07-13T18:11:32+0200 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1165287.cybersicherheit-bedingt-abwehrbereit.html |
Kenia: Kliniken können Ärzte nicht bezahlen | Frau Mugalizi, Sie sind in Vollzeit in verschiedensten Umweltprojekten und -gruppen in Kenia aktiv. Aus welchem Antrieb? Das ist für mich zunächst ganz einfach: Ich komme aus einem Land, in dem viele Menschen die Auswirkungen der Klimakatastrophe am eigenen Leib erfahren und noch nicht einmal einen Platz an den Verhandlungstischen haben. Das habe ich als meine Aufgabe begriffen: für meine Gemeinschaften zu sprechen und ihre Stimmen zu erheben. Die Klimakatastrophe am eigenen Leib erfahren – was heißt das konkret? Erst hatten wir in Kenia drei unglaublich trockene Jahre, was für die Landwirtschaft und die Wasserversorgung ein ernsthaftes Problem ist – nur damit dann im vergangenen Jahr heftige Fluten ganze Dörfer wegspülten. Für mich war die wichtigste Erfahrung aber vielleicht, dass meine Urgroßmutter, meine Großmutter und meine Mutter alle mit drei Steinen und Feuerholz gekocht haben. Was dabei freigesetzt wird, wirkt sich auf die Gesundheit aus. Und es sind diese Frauen, die kochen, sich auf die Suche nach Feuerholz machen, Wasser holen und auf die Felder gehen. Ich dachte mir: Da muss ich was tun. Ich versuche, diesen Frauen Zugang zu sauberer Energie zu verschaffen. Neben lokalen Projekten sind Sie auch in der globalen Kampagne Debt for Climate tätig, die eine Schuldenstreichung für die Länder des globalen Südens fordert. Warum ist das so wichtig? Dianah Mugalizi ist in Umweltprojekten in Kenia tätig sowie nationale und Afrika-Koordinatorin bei der Graswurzelbewegung Debt for Climate. Nach dem Einsturz einer Goldmine in ihrem Dorf Chambiti sammelt sie mit einem ihrer Projekte Geld für Medikamente und Operationen. Wer helfen will, kann sich unter [email protected] melden. Auch das ist zunächst eine persönliche Sache: Kenia hat eine extrem hohe Schuldenlast. Und was tun unsere Regierungsbeamten? Sie erhöhen unsere Steuern rund um die Uhr. Sozialsysteme, Bildung, Gesundheit – alles wird gekürzt. Die Krankenhäuser können sich keine Medikamente leisten, sie können Ärzte nicht bezahlen. Die Schulden sind einer der Gründe dafür. Und wenn sie nun gestrichen werden? Dieses Geld muss in gut strukturierte Aufbaupläne – sei es im sozialen Bereich, im Gesundheitswesen, in Wirtschaft oder Bildung – fließen, die dem Klimawandel entgegenwirken und uns auf seine Folgen vorbereiten. Dabei sollten wir eine sehr strenge Rechenschaftspflicht entwickeln, wo das Geld hinfließt, wer es wie verwendet. Debt for Climate sieht einen Zusammenhang zwischen dem Schuldensystem und der Klimakatastrophe. Untergräbt es die Bereitstellung von Mitteln für Umweltschutz? Nicht nur. Es gibt auch einen ganz direkten Zusammenhang. Eines der größten Probleme in Kenia ist der Goldabbau. Die Chemikalien verseuchen unseren Boden, unser Trinkwasser, alles. In manchen Regionen schürfen bis zu 80 Prozent der Jugendlichen in den Goldminen. Die Bedingungen sind schrecklich. Erst vor wenigen Tagen ist einer der Schächte in meinem Dorf eingestürzt, mit fünf Jugendlichen darin. Ich habe mit vielen Jugendlichen zu tun und kann Ihnen sagen: Sie wollen da nicht sein. Viele haben eine gute Ausbildung, aber es gibt einfach keine Alternative, um wenigstens eine Mahlzeit am Tag auf den Tisch zu bringen. Und damit hat das Schuldensystem ganz direkt zu tun. Es ist aufs Engste mit der Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen verbunden. Ihr Fokus richtet sich auf den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, obwohl China und lokale Privatanleger mehr von den Staatsschulden halten. Warum? Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen. Diese beiden Institutionen hatten über Jahrzehnte einen riesigen Einfluss auf die Gesetzgebung sowie die Politik und sitzen letztendlich immer noch an wichtigen Hebeln. Wir wollen also an den Kern des Problems: Statt gegen die einzelnen Gesetze und Richtlinien zu kämpfen, fokussieren wir uns auf die Leute, die sie machen. Und darin sehe ich als Afrika-Koordinatorin von Debt for Climate die Verbindung zwischen unseren Ländern. Es geht um gerechtere globale Wirtschaftsstrukturen. Und die Schuldenstreichung ist eine Vorbedingung dafür, die wir wirklich erreichen können, wenn wir zusammenarbeiten. Es war ja für Deutschland nach dem Krieg auch möglich: Vor 71 Jahren wurden die Altschulden gestrichen (im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953, Anm. d. Red.). Warum soll das für uns nicht gehen? Wie wollen Sie das erreichen? Vor allem mit Druck auf die kenianische Regierung. Wir versuchen zudem, die Menschen an Ort und Stelle aufzuklären, in Veranstaltungen und über die Medien. Dabei planen wir auch eine Dokumentation der vielen ungehörten Geschichten dieser Menschen. Und außerhalb von Kenia? Die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in aller Welt ist natürlich zentral und das, was uns als Debt for Climate ausmacht. Erst als globale Bewegung können wir den nötigen Druck ausüben. Mein Aufruf an alle in Deutschland ist also: Schließen Sie sich uns an! Es geht um unser aller Planeten. Und es geht um das Leben unserer afrikanischen Kinder, die vielleicht auch einmal annähernd so wie Sie leben wollen. Wir haben alle Ressourcen, die dafür nötig sind. Wir haben die Ausbildung, wir haben die Menschen. Nur das Schuldensystem legt uns weiter Fesseln an. | Interview: Nico Graack | Im Gespräch mit »nd« berichtet Dianah Mugalizi von der Graswurzelbewegung Debt for Climate über die Auswirkungen der Klimakatastrophe und die Schuldenlast in Kenia – und darüber, was man dagegen machen kann. | Bildungspolitik, Kenia, Verschuldung | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt Klimakrise | 2024-02-27T16:30:48+0100 | 2024-02-27T16:30:48+0100 | 2024-02-28T19:54:14+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1180338.kenia-kliniken-koennen-aerzte-nicht-bezahlen.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Normal | Ein bisschen Mord ist immer! Das hat er zwar nicht gesagt, der Pegida-Demonstrant, aber tatsächlich dieses: »Im Vergleich zur linksextremen Gefahr ist ein Mord alle zwei bis drei Jahre aus irgendwelchen Hassgründen normal.« Das ungefiltert nationalsozialistische Gegeifer, dass der Demonstrant ohne jegliche Scheu ins Mikrofon von »Kontraste« sprühte, hat mit Recht für Empörung gesorgt. Allenthalben fragt man sich jetzt, wie sicher sich dieses Milieu fühlen muss, wenn die Verharmlosung politischer Morde nicht mehr unterm Deckmantel anonymer Internetaccounts stattfindet, sondern auf offener Straße. Aber warum sollte sich der Demonstrant auch nicht so äußern? Überall werden er und seinesgleichen doch belohnt für Aussagen wie diese. Die Reaktion auf einen nationalsozialistischen Mord an einem Politiker ist eine Einladung bei Plasberg - mit großzügig bemessener Bonus-Redezeit. Die Reaktion auf schwer bewaffnete nationalsozialistische Milizen quer durch den Sicherheitsapparat hindurch ist eine weitere Verschärfung der Asylgesetzgebung. Die Reaktion auf Waffenpakete an Politiker sind Kooperationen von CDU und AfD. Die Empörung über die Sätze auf der Pegida-Demo überspielt lediglich, dass in den großen Medienredaktionen, in den konservativen Thinktanks längst schon so gedacht wird: Wenn die jetzt schon Morde begehen, dann sollte man sich doch besser gut mit ihnen stellen, dann wird ja wohl irgendwas dran sein. Allein die Perfidie der Traueradressen zum Mordfall Lübcke sprach Bände: Niemand dürfe wegen seiner Meinung mit dem Tod bedroht werden, so der Tenor gerade von konservativer Seite - unausgesprochen die Ergänzung »egal, wie extrem sie auch sei«. Schon hat man die »Meinung« Lübckes, die bis vor kurzem parteienübergreifender Konsens war, nicht nur zu einer »bloßen Meinung« gemacht, sondern sie sogar schon in die Nähe des Extremismus gerückt. Und schon hat Lübcke im Stillen auch ein bisschen selbst Schuld gehabt, schon war er derjenige, der sich ohne Not in Gefahr brachte. Überall findet eine Naturalisierung des Mords statt, man erklärt ihn mit den Mitteln derjenigen, die ihn insgeheim schon befürworten: »Asylkritiker« fänden kein Gehör, man müsse ja verstehen, wenn Leute in die Kriminalität gingen, und was dergleichen kruden Gewäschs mehr ist. Überall da, wo der Mord als natürliche Reaktion eines irgendwie aufgewühlten Volkskörpers stehen gelassen wird, lädt man erneut zu ihm ein. Überall da gibt man dem Pegida-Demonstranten recht, von dem man sich nur im Habitus, nicht in der Sache unterscheidet. Über nichts wird intensiver nachgedacht als über die Befriedung eines Milieus, dem man, wenn man es wirklich ernst meinte mit der wehrhaften Demokratie, sofort den Krieg erklären müsste. Für jedes geworfene Stück Gemüse auf linken Demos gibt es inzwischen Haftstrafen - noch zwei Jahre nach G20 in Hamburg sitzen Demonstranten in Untersuchungshaft; ein bizarres Justizspektakel, das Millionen kostet. Einer Szene hingegen, die mittlerweile offen zum Bürgerkrieg rüstet, gilt die Sorge Frank Plasbergs, ob sie sich in seiner Sendung auch recht wohlfühlt. Überall handelt man schon so, als seien sie schon an der Macht; überall geht man mit ihnen um, als könnte man schon nicht mehr anders. Man überreicht der nationalen Sektion, die nach neuesten Hochrechnungen immer noch um die Zehn-Prozent-Marke herumkrebst, aber dank einer cleveren Medienstrategie auf allen Ebenen die Kommentarspalten flutet, die Schlüssel zur Stadt. Nicht aus Hilflosigkeit und noch nicht aus Furcht: Man kann schon gar nicht mehr anders denken als sie. Es ist, um mit dem Demonstranten zu sprechen, schon »normal«. | Leo Fischer | Der Mord an Walter Lübcke wird von Rechtsradikalen offen gebilligt. Überall da, wo dieser Mord als natürliche Reaktion eines irgendwie aufgewühlten Volkskörpers stehen gelassen wird, lädt man erneut zu ihm ein. | Mord, Nationalsozialismus, Rechtsextremismus, Walter Lübcke | Meinung | Kommentare Walter Lübcke | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1122477.normal.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Olympische Show mit Makel | Ende November prophezeite die »Global Times«, Chinas englischsprachiges Staatsblatt, dass der Weg zu den Olympischen Winterspielen von Peking kein Spaziergang werden würde: »Dieses Ereignis wird nicht nur ein klarer Stresstest für Chinas Fähigkeit, auf diverse Krisen zu reagieren, sondern auch ein Katalysator für Chinas mentales Wachstum als Großmacht.« Denn bald dürften sich, so die Tageszeitung, »anti-chinesische Kräfte« zusammentun, um China das Leben schwerzumachen. Gewissermaßen ist es genau so gekommen. Zwar würden sich die liberalen Industriestaaten der Welt kaum selbst als »anti-chinesisch« bezeichnen, aber den am 4. Februar startenden Winterspielen haben sie einen unübersehbaren Makel verpasst. Anfang Dezember erklärten die USA, wegen diverser Menschenrechtsverletzungen durch die chinesische Regierung keine politischen Vertreter zu den Winterspielen zu schicken. Dieser Entscheidung schlossen sich kurz darauf Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland, Belgien und Litauen an. Am Freitag verkündete dann auch noch Japan, dass kein Regierungsmitglied nach Peking reisen wird. »Wir finden, dass es wichtig ist, dass universelle Werte wie Freiheit, Respekt für Menschenrechte sowie Gewaltenteilung in China gesichert sind«, sagte Hirokazu Matsuno, Chefsekretär von Japans Regierung, in Tokio. »Wir haben die Entscheidung unter Erwägung all dieser Faktoren getroffen.« Nur Vertreter aus der Sportwelt werden anreisen. Die Formulierung »diplomatischer Boykott«, das seit Wochen international kursiert, wollte Matsuno dabei aber nicht verwenden. Gerade die Absage aus Japan markiert für die Organisatoren in Peking eine diplomatische Niederlage. Über die Boykottentscheidung aus den USA hatte die chinesische Regierung zunächst widersprüchlich und passiv-aggressiv reagiert: »Es interessiert niemanden, ob sie kommen oder nicht«, hatte Zhao Lijian behauptet, ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums. »Ob sie erscheinen, hat keinen Einfluss auf Pekings erfolgreiche Austragung der Winterspiele.« Außerdem seien sie sowieso nicht eingeladen gewesen. Kurz darauf kündigte China Konsequenzen an. Von Japan aber hatten sich die Gastgeber deutlich gewünscht, dass es die Winterspiele von Peking unterstütze. Die »Global Times« schrieb zuletzt: »Japan sollte Zutrauen bewahren, nachdem China den Spielen von Tokio seine volle Unterstützung gewährt hat und zudem 2022 das 50-jährige Jubiläum der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Japan markiert.« Auch nach dem Entschluss von Tokio wurde am Freitag die Forderung nach Kooperation erneut gestellt. Der Grund dafür ist eindeutig. China und Japan, die zweit- und drittgrößten Volkswirtschaften der Welt, haben trotz enger ökonomischer Verbindungen höchst komplizierte Beziehungen zueinander. Das liegt unter anderem an Kriegsverbrechen Japans gegen China im Zweiten Weltkrieg, einigen Territorialkonflikten und einer Rivalität um Einfluss im pazifischen Raum. Aber als mit dem Beginn der Pandemie die ursprünglich für den Sommer 2020 in Tokio geplanten Olympischen Spiele in der Coronakrise um ein Jahr verschoben werden mussten, hatte China seinem ungeliebten Nachbarn schnell und unüberhörbar Hilfe angeboten. Im vergangenen März – vier Monate vor dem verschobenen Start der Sommerspiele – wollte China sogar Impfstoffe für die ganze Welt bereitstellen, damit die Tokioter Spiele auch wirklichh stattfinden können. Schon der Stolz der nationalistisch eingestellten Regierung Japans hätte es wohl verhindert, so ein Angebot anzunehmen. Hinzu kam, dass die chinesischen Vakzine in vielen Ländern, Japan eingeschlossen, nicht zugelassen waren. All dies wusste man in China genau. So wirkte das Pekinger Hilfsangebot wie eines mit dem Hintergedanken, sich damit Japans Unterstützung für die folgenden Winterspiele im Februar zu sichern. Die Pekinger Spiele stehen unter dem Slogan »Together for a shared future«. Der Name »Zusammen für eine gemeinsame Zukunft« soll solcherart Programm werden: Wie jeder Staat, der Olympische Spiele ausrichtet, will sich auch China in einem positiven Licht präsentieren, seine kulturelle und diplomatische Einflusssphäre vergrößern und sein Image verbessern. Dabei hat die Regierung des Landes, die Menschen in Umerziehungslager steckt, Journalisten verhaftet und Proteste niederknüppeln lässt, dies besonders nötig. International hat der Ein-Parteien-Staat kaum Freunde. Olympia, die größte Sportveranstaltung der Welt, soll hierbei helfen. Das Fernbleiben japanischer Regierungsvertreter schmerzt nun auf dreifache Weise. Nicht nur werden hierdurch die komplizierten Nachbarschaftsbeziehungen noch schwieriger. Als Gastgeberland der letzten Olympischen Spiele vor nur einem halben Jahr ist die Absage aus Tokio, mit Pekings Vertretern gemeinsam den Sport zu feiern, besonders symbolhaft. Und zuletzt könnte der Beschluss des im pazifischen Raum einflussreichen Industriestaates Japan auch noch die Absagen weiterer Länder nach sich ziehen. Eine PR-Show kann »Beijing 2022« damit höchstens noch teilweise werden. | Felix Lill, Tokio | Olympiagastgeber Peking erlebt einen Dominoeffekt diplomatischer Boykott-Erklärungen. Nach der ersten Welle, angeführt von den USA, entschied sich nun auch Japan dafür, keine Regierungsvertreter nach China zu schicken. Die Abfuhr des Nachbarn schmerzt. | China, Diplomatie, Japan, Olympia 2022, Olympische Spiele, Peking, Sportpolitik | Sport | Sport Winterspiele in Peking | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159909.winterspiele-in-peking-olympische-show-mit-makel.html?sstr=China |
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Massenstreik gegen Macrons Pläne | Der erste große Streik- und Aktionstag nach der Sommerpause galt am Dienstag der Ablehnung der Arbeitsrechtsreform von Präsident Emmanuel Macron und seiner Regierung. Dazu hatte der Gewerkschaftsverband CGT aufgerufen, der rund 180 Kundgebungen im ganzen Land organisiert hat und allein in Paris 60 000 Menschen auf die Straße brachte. In der Hauptstadt wurde der Demonstrationszug von der CGT-Führung von Generalsekretär Philippe Martinez angeführt. Weiter hinten, um die Abgrenzung zwischen Gewerkschaften und Parteien zu wahren, beteiligten sich auch Mitglieder der von Jean-Luc Mélenchon angeführten Bewegung »La France insoumise« und Kommunisten unter ihrem Nationalsekretär Pierre Laurent. An der Demonstration nahmen auch Mitglieder der Sozialistischen Partei teil, darunter ihr Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon. Die seit der Wahlniederlage zerstrittene PS-Führung hatte zwar erklärt, sie unterstütze »alle Aktionen zur Abwehr von Macrons Arbeitsrechtsreform«, hatte aber nicht zur Teilnahme an den Streiks der CGT aufgerufen. Der Streikaufruf wurde am Dienstag fast ausschließlich im öffentlichen Dienst befolgt, wo es Arbeitsniederlegungen bei der Post, der Bahn, dem Personennahverkehr, in Schulen und Krankenhäusern gab. Die hatten jedoch nur begrenzte Auswirkungen, da dem Aufruf der CGT nur die kleine linksradikale Gewerkschaft Solidaires, die Lehrergewerkschaft und die Studentengewerkschaft gefolgt sind. Dagegen lehnten die beiden großen Gewerkschaftsverbände CFDT und FO die Teilnahme ab. Zwar haben auch sie Vorbehalte gegen einzelne Elemente der Arbeitsrechtsreform, halten sie aber grundsätzlich als sinnvoll und notwendig für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums. Sie akzeptieren die vor allem von kleinen und mittleren Unternehmen geforderte Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, verwahren sich allerdings gegen die Versuche, auch die Rolle der Gewerkschaften einzuschränken. In diesem Zusammenhang würdigen CFDT und FO ausdrücklich der Regierung, die in den Verhandlungen seit Juni zahlreiche Einwände und Änderungsvorschläge dieser beiden Gewerkschaftsverbände aufgegriffen und in die Regierungsdekrete zur Reform eingearbeitet haben. Während die CGT die Reform grundsätzlich ablehnt, die Annullierung der Regierungsdekrete verlangt und sich auf keinerlei Abstriche an sozialen Errungenschaften einlassen will, ist die CFDT traditionell für Reformen aufgeschlossen. FO hatte noch vor zwei Jahren zusammen mit der CGT die Änderungen des Arbeitsrechts durch das nach der Ministerin El Khomri benannte Gesetz bekämpft, das dann aber doch trotz großer Streiks und Demonstrationen durch die Sozialisten der Regierung Hollands durchgesetzt wurde. Aus dieser Niederlage hat FO die Schlussfolgerung gezogen, nicht wieder den Eindruck aufkommen zu lassen, sie habe keine eigenständige Position und folge im Schlepptau der CGT. Die fehlende gewerkschaftliche Einheitsfront bei diesem ersten großen Streik- und Aktionstag könnte allerdings mit der Zeit noch zustande kommen, wenn die Umsetzung der Arbeitsrechtsreform von den Betroffenen in den Betrieben als einschneidend und unerträglich empfunden wird. Darum sind am 5. September Vertreter der fünf repräsentativsten Gewerkschaftsverbände, darunter CGT, CFDT und FO, zu einem informellen Meinungsaustausch zusammengekommen und haben trotz weiter bestehender Differenzen vereinbart, im Kontakt zu bleiben. Die CGT hat für den 21. September zu einem weiteren Aktionstag aufgerufen - einen Tag vor der Ministerratssitzung, die die Regierungsdekrete zur Arbeitsrechtsreform verabschieden wird, und zwei Tage vor einem Aktionstag von »La France insoumise«. Die will sich als führende Kraft der linken Opposition gegen die Reform profilieren, die ihr Führer Mélenchon als »Sozialen Staatsstreich« bezeichnet. Kommentar Seite 4 | Ralf Klingsieck, Paris | 180 Kundgebungen im ganzen Land, 60.000 Teilnehmer allein in Paris: Viele Franzosen demonstrieren gegen die Arbeitsmarktpläne der Regierung von Emmanuel Macron. Aber nicht jede Gewerkschaft ist dagegen. | Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht, Frankreich, Macron, Streik | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1063603.massenstreik-gegen-macrons-plaene.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Vorwürfe gegen Fridays for Future, Angriff auf Journalisten | Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg hat sich überraschend an einer propalästinensischen Demonstration in Leipzig beteiligt. Bei der Kundgebung am Mittwochabend mit rund 200 Teilnehmenden hielt die Gründerin von Fridays for Future eine kurze Rede, in der sie von einem »fortlaufenden Genozid« sprach, ohne jedoch den Staat Israel zu nennen. Es gelte, aufzustehen gegen Imperialismus, Unterdrückung, Krieg und Rassismus. »An der Seite Palästinas zu stehen ist menschlich«, erklärte Thunberg, wie auf einem Video in den sozialen Medien zu sehen ist. Laut einem Polizeisprecher sei ihre Teilnahme an der Demo im Vorfeld nicht bekannt gewesen. Im Anschluss wurden ein freier Journalist, der die Demonstration im Auftrag von »Sachsen Fernsehen« filmte, sowie sein Begleiter von Demoteilnehmenden und Ordner*innen »erst verbal attackiert, anschließend brutal zusammengeschlagen«, wie der Sender mitteilt. Auch als der 22-jährige Reporter bereits am Boden lag, sei weiter auf ihn eingetreten worden. Beide seien verletzt ins Krankenhaus gekommen. Schon während der Kundgebung soll der Journalist von Demonstrierenden »massiv bedrängt« worden sein. Der Staatsschutz der Polizei ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung. »Gewalt gegen Journalisten ist absolut inakzeptabel und bedroht die Grundwerte der Pressefreiheit«, erklärt Benedict Bartsch, inhaltlicher Leiter bei »Sachsen Fernsehen«. Auch die Gewerkschaft Verdi verurteilt den Angriff: »Diese schockierende Attacke verdeutlicht erneut die ernsthafte Gefahr, der Journalist*innen bei der Ausübung ihrer Arbeit ausgesetzt sind«, so Gewerkschaftssekretär Lucas Munzke. Es gelte nun, die Täter zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen. Thunberg und weitere schwedische und internationale Fridays-for-Future-Aktivist*innen hatten Israel in den vergangenen Monaten immer wieder einen Völkermord im Gazastreifen vorgeworfen. Fridays for Future Deutschland und dessen bekannteste Sprecherin Luisa Neubauer haben sich von solchen Aussagen wiederholt distanziert, das Existenzrecht Israels betont und Antisemitismus verurteilt. Nun haben sich in einem »offenen Brief an die Klimabewegung in Deutschland« verschiedene politische Gruppen und Einzelpersonen wiederum von Fridays for Future Deutschland distanziert, darunter Palästina Spricht, die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, Revolution Germany und die Gruppe ArbeiterInnenmacht. Sie werfen der deutschen Sektion von Fridays for Future vor, den »gemeinsamen, globalen Kampf« zu verraten, »herzlos die Menschen Palästinas im Stich« zu lassen und damit auch diejenigen, die von der Klimakrise am meisten betroffen sind. Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Bezugnehmend auf Social-Media-Posts des internationalen Fridays-for-Future-Accounts, denen die deutsche Gruppe widersprochen hat, ist von palästinensischer »Befreiung und Selbstverteidigung« die Rede, »im Angesicht von Aggression, Genozid und Faschismus«. Der Überfall der Hamas auf Israels Bevölkerung am 7. Oktober wird nicht erwähnt. Westlichen Imperialmächten gehe es bei der Unterstützung Israels nicht um dessen Selbstverteidigung, sondern um geopolitische und wirtschaftliche Interessen. Deutschland sei für Klimaschäden in Ländern des Globalen Südens mitverantwortlich, weshalb »Klima-Aktivismus ohne Internationalismus nicht funktionieren kann«, so der Appell des Briefes, der auf der Plattform Instagram geteilt wurde. Abschließend wird Fridays for Future Deutschland noch vorgeworfen, linke und antikapitalistische Kräfte aus der Bewegung zu drängen, nutzlos an die Politik zu appellieren und sich an »Grüne & Co« anzubiedern – obwohl die Klimabewegung die Politik der Ampel-Parteien, unter anderem die Novelle des Klimaschutzgesetzes, in den vergangenen Monaten immer wieder vehement kritisiert hatte. Bei Instagram erntet der Beitrag viel Zustimmung, aber auch Bedauern darüber, »wie unfähig die linke Szene darin ist, sich zu vereinigen«, so ein Kommentar. Es gehe zunehmend um Distanzierung voneinander – davon würden am Ende nur die Rechten profitieren. Fridays for Future Deutschland möchte sich zu den Vorwürfen vorerst nicht äußern. | Louisa Theresa Braun | Bei einer propalästinensischen Demonstration in Leipzig, an der Greta Thunberg teilnahm, wurde ein Journalist attackiert. Der deutschen Fridays-for-Future-Sektion werfen andere Gruppen Verrat am globalen Kampf vor. | Genozid, Israel, Leipzig, linke Bewegung, Nahost, Palästina, Sachsen | Politik & Ökonomie | Politik Klimabewegung | 2024-01-25T15:16:20+0100 | 2024-01-25T15:16:20+0100 | 2024-01-26T17:23:18+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1179502.vorwuerfe-gegen-fridays-for-future-angriff-auf-journalisten.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
Grüne Sozialarbeiter | Klima-Kümmerer, dieses Image verkörpern die Grünen schon. Doch in letzter Zeit versuchen sie, sich als grüne Sozialarbeiter*innen zu bewerben. Auf ihrer Vorstandsklausur haben sie entsprechend das Thema Arbeitsmarktpolitik in den Fokus gestellt. Die Kalkulation ist einfach: Wer liebäugelt, sich dauerhaft zur Volkspartei zu mausern, darf nicht nur als »One Trick Pony«, als Partei mit nur einer Kompetenz wahrgenommen werden. Doch der Beweis, dass das nicht nur ein neuer »Trick« ist, steht noch aus. Während der Jamaika-Koalitionsverhandlungen haben sich die Grünen bei Sozialem, nett formuliert, nicht gerade hartnäckig gezeigt. Dort, wo sie mitregieren, fällt die Bilanz bei dem Thema gemischt aus. Dabei haben die Grünen recht damit, auf Soziales zu setzen. Die Fragen nach gerechter Verteilung, Absicherung und Teilhabe sind entscheidende Auseinandersetzungen unserer Zeit. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Deutschen das Gefühl hat, nicht in angemessenem Maß von der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre profitiert zu haben. Auch rein faktisch haben sich die Lebenswelten gut abgesicherter Standardbeschäftigter gegenüber denen von Niedrigverdienenden und Erwerbslosen entfernt. Das Ergebnis sind tief greifende gesellschaftliche Konflikte, Misstrauen, Wut und Abwendung. Die Grünen müssen das ernst nehmen. | Alina Leimbach | Soziales darf nicht zum Feigenblatt werden, sagt Alina Leimbach | Die Grünen, Klima, Umweltschutz | Meinung | Kommentare die Grünen | 2020-01-07T19:48:07+0100 | 2020-01-07T19:48:07+0100 | 2020-01-08T08:58:03+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1131102.die-gruenen-gruene-sozialarbeiter.html |
Regierung »simuliert« Klimaschutz | Fünf Wochen sind es noch, bis das Klimakabinett das seit Monaten Angekündigte beschließen will, damit Deutschland sein Klimaziel für 2030 erreicht: eine CO2-Reduktion von 55 Prozent gegenüber 1990. Unter den Umweltverbänden steigt jetzt die Unruhe, dass am 20. September erneut nur ein »Pillepalle-Programm« herauskommen könnte, wie Kai Niebert, Chef des Umwelt-Dachverbandes DNR, am Freitag in Berlin kritisierte. Dabei habe die Kanzlerin Anfang Juni selbst verlangt, beim Klimaschutz dürfe es »kein Pillepalle mehr« geben. Nach Nieberts Darstellung haben inzwischen mehrere Minister, die im Klimakabinett sitzen, ihre Vorschlagslisten eingereicht. Darin werde aber ein »großer Fokus« auf Anreizprogramme gelegt, und erst irgendwann solle es eine »irgendwie geartete CO2-Bepreisung geben«. Das sei alles »sehr teuer« und werde in dieser Legislatur nicht mehr greifen. Vor allem aber habe sich das Finanzministerium die Vorschläge aus den Ministerien angesehen und errechnet, dass sich damit nur 50 Prozent der bis 2030 nötigen Emissionsreduktion erzielen lasse. Die Bundesregierung lasse derzeit nur eine Art »Klima-Simulation« ablaufen, prangerte der DNR-Präsident an und verlangte einen »Businessplan Klimaschutz«. Dort hinein gehörten vor allem ein nach Sektoren und Jahren aufgeschlüsseltes Klimaschutzgesetz sowie ein CO2-Preis, der schon heute zu wirken beginnt. Der mehrseitige Forderungskatalog, den die Umweltverbände am Freitag vorlegten, geht an einigen Stellen über bisherige Positionen hinaus. So wird - zusätzlich zu den Maßnahmen der Kohlekommission - eine Drosselung von 2000 Megawatt Braunkohlekapazität schon in diesem Jahr verlangt. Man wolle dem Klimaziel für 2020 - minus 40 Prozent CO2 gegenüber 1990 - noch möglichst nahekommen, erläuterte Martin Kaiser von Greenpeace. Besonders hart ins Gericht ging Kaiser mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Dieser habe seit dem Endbericht der Kohlekommission »nicht ein Gramm CO2 zusätzlich« eingespart. Nach wie vor wolle Altmaier mit seinem Strukturstärkungsgesetz Milliarden an die Braunkohleregionen verteilen, ohne dass klar ist, welches Kohlekraftwerk wann abgeschaltet wird. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien attestierte Kaiser dem Minister ein »Komplettversagen«. Die Ausbaudeckel für Windkraft und Photovoltaik müssten sofort fallen, ebenso der Ausschreibungszwang bei Windkraft an Land. DNR-Chef Niebert betonte, es sei dringend notwendig, die Windkraft an Land weiter auszubauen. Man stehe aber bei der Akzeptanz vor Ort und in naturschutzrechtlichen Fragen vor »großen Herausforderungen«. Statt wie bisher die Windkraft in bestimmten Regionen zu konzentrieren, müsse diese gleichmäßiger verteilt werden. So könne er sehr gut verstehen, warum es zum Beispiel in Brandenburg massive Widerstände gegen die Windkraft gebe. Wenn dort ein Bürgermeister versuche, jemanden bei der Windkraftfirma zu erreichen, werde er nach London durchgestellt, weil die Windparks inzwischen in der Hand internationaler Investmentfonds sind. »Davon müssen wir wegkommen und die Leute auch an den Gewinnen beteiligen«, so Niebert. Für den Verkehr verlangte Antje von Broock vom Umweltverband BUND, dass emissionsarme Verkehrsteilnehmer mehr Platz bekommen und sich nicht auf einzelnen Fahrstreifen drängeln sollten - in Anspielung auf aktuelle Ideen aus dem Verkehrsministerium, Busspuren für Autofahrgemeinschaften freizugeben. Der Bundesverkehrswegeplan, in dem viel Geld stecke, müsse umgestaltet werden, so von Broock weiter. Beim Aus- und Neubau von Fernstraßen müsse es ein Moratorium geben. Von der deutschen Industrie erwartet WWF-Vorstand Christoph Heinrich einen »Quantensprung« in Richtung Hocheffizienz, Rohstoffsparen und Klimaneutralität. Dafür müsse die Regierung Rahmenbedingungen schaffen - aber auch selbst vorangehen. So werde ein Viertel des Zements in Deutschland für öffentliche Aufträge verbaut. Für die am 20. September geplanten Klimaaktionen mobilisieren die Umweltverbände ebenfalls. Luise Neumann-Cosel vom Netzwerk Campact kündigte an, die Umweltbewegung werde zusammen mit Fridays for Future »mit Hunderttausenden Menschen die Straßen fluten«. Sie forderte die Regierung auf, jetzt konsequent zu handeln oder abzutreten. | Jörg Staude | Mit den Maßnahmen, die das Klimakabinett beschließen will, werden wohl nur 50 Prozent der CO2-Einsparung erreicht. Das kritisieren Umweltverbände und legen ein eigenes Klimapaket vor. | CO2, erneuerbare Energie, fossile Energie, Klimaschutz, Umweltschutz, Verkehrspolitik, Windenergie | Politik & Ökonomie | Politik Klimakrise | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1124486.klimakrise-regierung-simuliert-klimaschutz.html |
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Bundesregierung drängt auf Freiwilligkeit | Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) lädt Vertreter von Textilindustrie, Handel, Gewerkschaften und Arbeitsrechtsinitiativen zu einem Runden Tisch zu Sozialstandards in der Textilindustrie ein. Die Beratungen sollen am 30. April stattfinden, wie am Dienstag aus Regierungskreisen verlautete.
Der Minister strebt freiwillige Selbstverpflichtungen von Industrie und Handel auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen an. In diesem Zusammenhang ist auch ein neues Gütesiegel im Gespräch, das noch in diesem Jahr eingeführt werden soll. Den Verbrauchern, die sich seit dem »Rana-Plaza«-Unglück in Bangladesch stärker für die Zustände in den Textilfabriken interessieren, sollen damit Orientierungshilfen beim Einkauf gegeben werden. Sollten freiwillige Vereinbarungen nicht greifen, erwägt Müller auch, gesetzl... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Kurt Stenger | Ein Siegel soll Verbrauchern helfen, Textilien zu finden, die unter Einhaltung sozialer Mindeststandards produziert wurden. | Textilindustrie | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/930940.bundesregierung-draengt-auf-freiwilligkeit.html |
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Wackelige Beweise für Brandstiftung | Verletzte und Tote hatte es glücklicherweise nicht gegeben bei dem Brand vor einem halben Jahr in der Hauptanlage des Flüchtlingslagers auf der griechischen Insel Lesbos. Vor einer Katastrophe war allerdings seit langem gewarnt worden: Zuletzt lebten in dem Lager, das für 2800 Bewohner ausgelegt war, unter unmenschlichen und widrigsten hygienischen Bedingungen etwa 12 600 Menschen. Spätestens mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie und den über die Insassen verhängten Quarantänen wurde Moria zu einer tickenden »Zeitbombe für die Gesundheit«, wie es Kostas Moutzouris, Gouverneur der Region Nordägäis, im Herbst 2020 formulierte. Direkt nachdem das Riesenlager niedergebrannt war, wurden sechs Tatverdächtige festgenommen. Ihnen wurde die Gründung einer kriminellen Organisation, Brandstiftung sowie illegaler Waffenbesitz vorgeworfen. Zwei Jugendliche - zum Zeitpunkt des Brandes 17 Jahre alt - wurden nun wegen Brandstiftung zu fünf Jahren Haft verurteilt. Über die Anklage gegen die vier anderen tatverdächtigen Volljährigen - drei von ihnen kommen ebenfalls aus Afghanistan - wird in einem getrennten Prozess verhandelt. Ihre Anwälte hatten Dokumente vorgelegt, die bezeugen sollen, dass sie in der Nacht des Brandes ebenfalls noch nicht volljährig waren. Doch die Bescheinigungen wurden von der Justiz nicht akzeptiert. Während des Prozesses in der vergangenen Woche behaupteten die Angeklagten ihre Unschuld: In der fraglichen Nacht hätten sie sich an anderen Orten aufgehalten. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurden 17 Zeugen der Staatsanwaltschaft und zwei Zeugen der Verteidigung gehört. Die Aussage eines Kronzeugen wurde verlesen: Der 42-jährige Afghane beschuldigte die fünf afghanischen Angeklagten, das Feuer in Moria gelegt zu haben. Laut Informationen des unabhängigen griechischen Nachrichtenportals »The Press Project« wurde der mehrfache Familienvater nach seiner Aussage als politischer Flüchtling anerkannt und befindet sich an einem unbekannten Ort. Die Anwältin Vicky Angelidou, die gegen das Urteil Berufung einlegte, erklärte gegenüber dem TV-Sender ERT Aegean: »Dem Zeugnis des Mannes fehlt es an Glaubwürdigkeit, weil er in Moria der Anführer einer rivalisierenden ethnischen Gruppe, der Paschtunen, war.« Die fünf afghanischen Tatverdächtigen gehören der Ethnie der Hasara an, wobei mutmaßliche Spannungen zwischen den Gruppen vor Gericht nicht näher thematisiert wurden. Das ausschließliche Vorlesen der Aussage des Kronzeugen ohne die Möglichkeit der Zeugenbefragung widerspricht nach Auffassung des Legal Centre Lesvos (AMKE) sowohl dem griechischen Recht als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die NGO, die Migranten auf Lesbos Rechtshilfe bietet, kritisiert auch das von der Anklage herangezogene Videomaterial: Darauf sei ein mutmaßlicher Täter von hinten, nicht aber sein Gesicht zu erkennen. Ein Polizist will den jungen Mann anhand von Körperbau und Kleidung wiedererkannt haben. Kleidung dieser Art war allerdings massenhaft an die Flüchtlinge verteilt worden. Die Kritik am Prozess betrifft nicht zuletzt den gewählten Zeitpunkt des Prozesses: Sechs Monate nach der Anklage müssen Minderjährige aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Daher seien kurz vor Ablauf dieser Frist Zeugen der Verteidigung nicht mehr angehört worden, beklagt AMKE. Doch: »Obwohl wir vom Ergebnis enttäuscht sind, hätte es für diese beiden jungen Männer viel schlimmer kommen können«, resümiert die NGO. Bei Schuldsprüchen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Waffenbesitzes hätten ihnen 15 Jahre Haft gedroht. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis wie auch der Minister für Bürgerschutz Michalis Chrysochoidis hatten schon im September die sechs Tatverdächtigen als die Schuldigen an der Brandstiftung in Moria präsentiert. In den Medien kursierten Meldungen über den Inhalt des besagten Videos, die die Unschuldsvermutung außer Kraft setzten. Dabei sind frappierende Ähnlichkeiten zur Berichterstattung über die zunächst friedlichen Proteste gegen Polizeigewalt im Athener Stadtteil Nea Smyrni zu erkennen: Bis auf die Zeitung »Efsyn« meldeten die griechischen Medien in der vergangenen Woche unisono, die Bewohner seien auf eine Gruppe von Polizisten losgegangen. Bis Bilder publik wurden, die zeigen, wie Polizisten zuvor auf einen jungen Mann einprügeln, der sie wegen eines gegen ihn verhängten Bußgelds lediglich ansprach. Mit den landesweiten, teils gewalttätigen Demonstrationen gegen die Bildungsreform der konservativen Regierung unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis ist die griechische Öffentlichkeit derzeit stärker befasst als mit den Migranten, die auf Lesbos festsitzen. Sei es wegen Corona, des EU-Türkei-Deals oder immer wieder gemeldeter illegaler Pushbacks von Schutzsuchenden: Es erreichen deutlich weniger Neuankömmlinge die ägäischen Inseln. Waren es laut der Uno 2016 noch etwa 175 000, kamen im vergangenen Jahr weniger als 10 000. Tragischerweise dürften die beiden nun in Lesbos verurteilten Minderjährigen im Jugendgefängnis Avlona bei Athen bessere Lebensbedingungen vorfinden als im Moria-Nachfolgelager auf Lesbos, Kara Tepe. In Avlona sind etwa 300 junge Männer inhaftiert. Die Einrichtung machte wegen ihres Online-Ausbildungsprogramms für Straftäter positive Schlagzeilen. | Elisabeth Heinze, Thessaloniki | Im September 2020 zerstörten Flammen das bis dato größte Flüchtlingslager der EU in Moria auf der Insel Lesbos. Nun soll die Justiz die Tragödie aufarbeiten. | Afghanistan, Bildungspolitik, Einwanderung, Griechenland, Homosexualität, Kriminalität | Politik & Ökonomie | Politik Moria | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1149575.wackelige-beweise-fuer-brandstiftung.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Lützerath ist ein Symbol mit Wirkung | Lützerath hat keine Zukunft. Das Dorf ist (weitestgehend) geräumt, die Mehrheit der Klimaaktivist*innen nach der Demonstration am Sonnabend abgereist. Eine Niederlage? War Lützerath sogar das falsche Symbol, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck behauptete? Was dieser Tagen in dem einstigen 100-Seelen-Nest passierte, interessierte sogar internationale Medien. Wenn CNN berichtet, wie »Polizisten in Kampfausrüstung ein Dorf überschwemmen« und »Menschen aus Häusern ziehen«, dann sind das dystopische Bilder, die nachwirken können. Motive wie jenes, dass die Polizei beim Energiekonzern RWE Transporter mietete, um Aktivist*innen abzutransportieren, die sie zuvor mit Knüppeln und Pfefferspray malträtierte. Deutlicher lässt sich die urlinke Kritik am Staat, der Kapitalinteressen schützt, kaum symbolisieren. Nachwirken können Bilder jener Grünen, die in Lützerath protestierten, während die Partei eine Mitverantwortung für die Räumung trägt. Es gärt an der Basis, wie mehr als 2600 Unterschriften unter einem Brief zeigen, der den Erhalt des Ortes fordert. Lützerath wird das nicht retten. Es zeigt aber, dass etwas in Bewegung ist. | Robert D. Meyer | Nach diesem Wochenende ist klar: Lützerath hat keine Zukunft. Doch der Kampf um das kleine Dorf sorgte international für Aufmerksamkeit. Es sind symbolische Bilder, die nachwirken werden. | Die Grünen | Meinung | Kommentare Klimabewegung | 2023-01-15T16:02:04+0100 | 2023-01-15T16:02:04+0100 | 2023-01-30T12:27:47+0100 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170154.klimabewegung-luetzerath-ist-ein-symbol-mit-wirkung.html |
Maritimer Größenwahn | »Wilhelmshaven blickt seewärts« - so lautet das plakative Motto des 34. Deutschen Seeschifffahrtstages, zu dem der Deutsche Nautische Verein alles, was in der Schifffahrtslogistik Rang und Namen hat, seit Donnerstag in der Hafenstadt an der Jade begrüßt. Allerdings ist den Teilnehmern und Gästen des wirtschaftlich bedeutenden Kongresses zu wünschen, dass sie das Motto nicht allzu wörtlich nehmen: Sie könnten bitter enttäuscht werden. Wenn sie nämlich am Sonntag, dem Abschlusstag, von Wilhelmshaven aus rund 25 Kilometer weit nach Nordwesten schauen könnten, würden sie sehen, was ihnen - wieder einmal - vorenthalten wird: Weit draußen in der Wesermündung wird die »Mærsk Mc-Kinney Møller« vorbeiziehen.
Das weltgrößte Containerschiff ist seit Mitte Juli auf Jungfernreise - vom südkoreanischen Busan aus fährt es über Schanghai und Rotterdam nach Bremerhaven. Laut Fahrplan geht es dann weiter nach Gdansk und auf dem Rückweg mit Zwis... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Burkhard Ilschner, Wilhelmshaven | »Wilhelmshaven blickt seewärts« - so lautet das plakative Motto des 34. Deutschen Seeschifffahrtstages. Das weltgrößte Containerschiff ist derzeit auf Jungfernfahrt. Um Deutschlands einzigen Tiefwasserhafen macht es einen großen Bogen. | Hafen, Schifffahrt | Politik & Ökonomie | Wirtschaft und Umwelt | https://www.nd-aktuell.de//artikel/830364.maritimer-groessenwahn.html |
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Einstieg in die Auslese? | Selbst der jetzt von einer Abgeordnetengruppe um René Röspel (SPD) und Priska Hinz (Grüne) vorgeschlagene, sehr restriktive Kompromiss zur sogenannten Präimplantationsdiagnostik (PID) geht manchen viel zu weit. Insbesondere Vertreter der katholischen Kirche und evangelikaler Gruppen, aber auch Behindertenverbände sehen in jeglicher noch so begrenzter Freigabe einer ge... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Steffen Schmidt | Gesetzentwurf, PID, Schwangerschaft | Meinung | Kommentare kommentiert | https://www.nd-aktuell.de//artikel/189660.einstieg-in-die-auslese.html |
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Nächste Vorstellung: Kulturabbau | Vor dem üppigen Dekolleté hängt ein rotes Schild. »Ich bin zu teuer«, ist darauf zu lesen. Die Dame, die an eine Figur der Muppetshow erinnert, ist Kulturschaffende in Sachsen-Anhalt; am Puppentheater Halle spielte sie im Shakespeare-Klassiker »Wie es euch gefällt«. Gestern schwebte sie auf dem Hallenser Markt an einer Stange hoch über den Köpfen vieler weiterer Kulturschaffender, die sich ähnliche Schilder umhängen könnten: Auch sie sind - zumindest nach Meinung der Landesregierung von Sachsen-Anhalt - zu teuer.
Allerdings gefällt diese Sicht den Orchestermusikern, Schauspielern und Beschäftigten in den Museen und Bibliotheken durchaus nicht, weshalb sie gestern zu einem ersten landesweiten Aktionstag gegen Kulturabbau bliesen. Es sei »5 vor 12«, ist auf den roten Karten zu lesen, die kurz vor Mittag demonstrativ emporgereckt werden. Die Kultur sei »akut in ihrer Substanz bedroht«, heißt es im Aufruf zur Aktion; von »kulturellem Kahlschlag« im Land ist die Rede.
Nicht, dass die Kultur nicht schon bisher zur Ader gelassen worden wäre. Vor 20 Jahren gab es noch 748 Orchestermusiker im Land, heute sind es 373, sagt der Landtagsabgeordnete Swen Knöchel von der LINKEN. Doch es drohen wohl weitere Einschnitte.
Zwar sollen offizielle Zahlen erst nach der Haushaltsklausur des in Sachsen-Anhalt regierenden CDU/SPD-Kabinetts kommende Woche genannt werden. Doch dem Vernehmen nach soll der Kulturetat von 85 auf 75 Millionen Euro eingedampft werden. Den Theatern droht ein Rückgang von 36 auf 29 Millionen. Dabei verzichten die Beschäftigten schon jetzt auf rund zehn Prozent ihres Einkommens, sagt Ulrich Katzer, Geschäftsführer des Landesverbands Ost im Deutschen Bühnenverein. Der Kulturkonvent, in dem Verbände, Interessengruppen und Kultureinrichtungen ein Jahr lang über die Zukunft der Kultur berieten, war zu anderen Schlüssen gekommen. Er erachtete eine Aufstockung des Kulturetats auf 100 Millionen Euro für notwendig. Doch die Regierung ignoriert die Forderung. Er habe das Gefühl, in einer »Alibiveranstaltung« gearbeitet zu haben, schimpft Katzer.
Die Regierung um Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) bezeichnet das Eindampfen des Landesetats als alternativlos - und bringt damit nach den Hochschulangehörigen nun auch die Kulturschaffenden gegen sich auf. Diese gingen gestern in Magdeburg und Halle, Dessau, Halberstadt und Naumburg zu Tausenden auf die Straße. Die Aktion sei der Beginn eines »demokratischen Kulturkampfs«, sagte Matthias Brenner, Intendant des »neuen theaters« in Halle.
Eine große Kundgebung samt Orchester gab es am Nachmittag vor der Leopoldina. In dieser Akademie der Wissenschaften waren gestern die Fraktionen des Landtags zu Gast. Sie stärken den Protestierenden teilweise den Rücken. So übt die Linksfraktion in einem gestern verabschiedeten Beschluss harsche Kritik am Kurs der Regierung, die den Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge betreibe und sich mit ihren Sparzielen an den »bundesweit schlechtesten Standards« orientiere. Die Genossen betonten, sie befänden sich »grundsätzlich in Opposition zu dieser Politik der Landesregierung«. Darüber hinaus sei »gesellschaftlicher Widerstand notwendig«, hieß es. Der fand vor der Leopoldina bereits statt - und zwar im Wortsinne mit Pauken und Trompeten. | Hendrik Lasch | Der Widerstand gegen die Sparpolitik in Sachsen-Anhalt erfasst nach den Hochschulen auch den Kulturbereich. Tausende beteiligten sich gestern an einem landesweiten Aktionstag. | Kommunalfinanzen, Kulturpolitik, Landeshaushalt, Sachsen-Anhalt | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/822065.naechste-vorstellung-kulturabbau.html?pk_campaign=similar-articles&pk_kwd=older-articles |
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Gladbacher Leichtigkeit | Felix Magath würde diese Art der Entscheidungsfindung bei den so wichtigen Standardsituationen sicher nicht gutheißen. Muss er ja auch nicht, denn er ist Trainer in Wolfsburg. Heute empfängt er mit seinem VfL die Borussia. In der vergangenen Saison war diese Partie ein Abstiegskrimi. Die Gladbacher mussten als Drittletzter in die Relegation und setzten sich gegen Bochum durch, Wolfsburg hatte sich einen Rang vor der Borussia platziert. Nun kommen die Gäste als Tabellenvierter an den Mittellandkanal und Magath wundert sich: »Ich habe nicht geglaubt, dass sie eine solche Rolle spielen können.« Diese hatte er mit der Investition von rund 50 Millionen Euro für 20 neue Spieler eher für sich und sein runderneuertes Wolfsburger Team vorgesehen. Gerade dass Mönchengladbach mit der fast identischen Mannschaft der Vorsaison in die neue Spielzeit ging, ist ein Schlüssel zum Erfolg. Der gewonnene Kampf gegen den Abstieg hat sie zusammengeschweißt, die Automatismen greifen, das Spielverständnis ist mehr und mehr gewachsen. Man soll es mit den Statistiken ja nicht übertreiben, aber der Vergleich dieser Zahlen ist schon sehr beeindruckend. Mit 9343 Pässen hat Gladbach in dieser Saison den zweithöchsten Ligawert - sie kennen ihre Laufwege und verstehen sich blind. Verständlicherweise ist das in Wolfsburg nicht der Fall: Nur 6668 Pässe zeugen von mangelnder Spielkultur, Problemen im Aufbau und vor allem noch zu wenig Miteinander. Ein Indiz, dass die großen personellen Änderungen irgendwann auch den gewünschten Effekt erzielen könnten, waren die verbesserten Wolfsburger Auftritte nach der Winterpause. Solang sie in Gladbach aber noch Schere-Stein-Papier spielen, lassen sie sich davon sicher nicht beeindrucken. | Alexander Ludewig | Wenn Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga einen Freistoß zugesprochen bekommt, kommt es schon mal vor, dass zwei Fußballer die Ausführung mit dem bekannten Schere-Stein-Papier-Spiel unter sich ausmachen. Mike Hanke und Marco Reus stehen damit exemplarisch für die neue Gladbacher Leichtigkeit. | Borussia Mönchengladbach, Fußball, VFL Wolfsburg | Sport | Sport | https://www.nd-aktuell.de//artikel/217537.gladbacher-leichtigkeit.html |
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Historischer Blackout in Spanien und Portugal | Es gebe einen wieder »normalisierten Betrieb des Stromsystems«, verkündete der spanische Netzbetreiber Red Eléctrica de España (REE) am Dienstagmittag zur Erleichterung von Millionen Bürgern. Alle Umspannwerke würden wieder mit Strom versorgt, twitterte das Unternehmen. In Portugal hätten inzwischen alle 6,5 Millionen Haushalte wieder Strom, ließ die Regierung in Lissabon wissen. Die Wasserversorgung funktioniere nahezu landesweit – und auch das gesamte Verkehrssystem sei nach dem Stromausfall wieder weitgehend in Betrieb, hieß es. Trotzdem verhängte die spanische Regierung den »Notstand« in allen Gebieten, in denen Regionalregierungen das wollten. Dies zeigt, dass das Land von einer Normalität noch weit entfernt ist. Am Montag gegen 12.30 Uhr war es zu einem historischen Stromausfall gekommen, der weite Teile der Iberischen Halbinsel lahmlegte. Das öffentliche Leben kam vielerorts nahezu zum Erliegen: Menschen steckten in Aufzügen, U-Bahnen und Zügen fest. Allein in der Hauptstadt Madrid mussten etwa 150 000 Menschen aus Metrozügen »evakuiert« werden. Meist traten die mit Gepäck einen kilometerlangen Marsch im Tunnelsystem an. Der Straßenverkehr kam unter anderem in der Hauptstadt in den hoffnungslos verstopften Straßen ohne Ampeln oft völlig zum Erliegen. In Kliniken mussten Notstromaggregate einspringen. Wer auf digitale Infrastruktur angewiesen war, konnte nicht arbeiten. Zahllose Menschen mussten die Nacht in Bahnhöfen, Flughäfen oder auf der Straße verbringen. Touristen waren oft verloren, da auch das Handynetz und das Internet in vielen Gegenden komplett ausfielen. Einige versuchten in stundenlangen Märschen durch die Städte eine Unterkunft zu finden. Bankautomaten gaben derweil kein Geld aus. Bezahlen konnte man weder mit der Kreditkarte noch mit dem Handy. In elf Zügen saßen auch fast zwölf Stunden nach dem Blackout noch viele Menschen fest, als der spanische Regierungschef Pedro Sánchez gegen 23 Uhr am Montag vor die Presse trat und erklärte: »So etwas ist noch nie passiert.« Am Dienstagnachmittag wurden immer noch nicht alle Haushalte wieder mit Strom versorgt, und auch der öffentliche Nah- und Fernverkehr rollte nicht normal. In Katalonien, wo im ausgezehrten Zugsystem ohnehin eher Ausfälle und Verspätungen an der Tagesordnung sind, wurde der Betrieb aufgrund der »Spannungsinstabilität im Stromnetz« wieder komplett ausgesetzt. Ähnlich in Galizien, wo das Eisenbahnunternehmen Renfe die Reisenden aufforderte, nicht zu den Bahnhöfen zu kommen. Schneller in Betrieb waren hingegen alle Flughäfen. Ultrarechte Kreise spekulierten in sozialen Medien schnell über eine Cyberattacke. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez kündigte eine Untersuchung der Gründe des massiven Blackouts an. Ähnliches verlautete aus Portugal und von der EU-Kommission, da beide Länder Teil des europäischen Stromnetzes sind. Sánchez sagte, es gelte herauszufinden, warum am Montagmittag »in knapp fünf Sekunden 15 Gigawatt Leistung verschwunden sind«. Das waren etwa 60 Prozent des zu diesem Zeitpunkt prognostizierten Bedarfs. Er wollte dabei noch keine »Hypothese oder irgendeine Möglichkeit auszuschließen«. Ultrarechte Kreise spekulierten in sozialen Medien schnell über eine Cyberattacke. Die Zeitung »La Razón« bemühte angebliche Quellen im Geheimdienst CNI. Doch der dementierte schnell und erklärte, keine Hinweise auf einen solchen Angriff zu haben. Auch der ehemalige portugiesische Regierungschef António Costa, nun EU-Ratspräsident, teilte mit, es gebe keine Hinweise darauf. Portugal war es, anders als Frankreich, nicht schnell genug gelungen, sich vom spanischen Stromnetz zu trennen, weshalb das Land mit in den Blackout gerissen wurde. Mittlerweile schließt auch der Netzbetreiber REE einen Cyberangriff aus: »Wir konnten feststellen, dass es kein Eindringen ins Kontrollsystem von Red Eléctrica gegeben hat«, hieß es in einer Mitteilung. Das privatisierte Unternehmen muss sich nun viele Fragen gefallen lassen. Erst am 9. April hatte REE angesichts von Warnungen erklärt: »Es besteht kein Risiko für einen Blackout.« Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen. Als Falschmeldung stellte sich auch heraus, dass ein »seltenes atmosphärisches Phänomen« für den Stromausfall verantwortlich gewesen sei. Das hatte die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf den portugiesischen Netzbetreiber REN in die Welt gesetzt. Doch dieser dementierte schnell. Behauptet worden war, dass extreme Temperaturschwankungen zu »ungewöhnlichen Schwingungen« in den Höchstspannungsleitungen (400 Kilovolt) gesorgt hätten. Dieses Phänomen wird als »induzierte atmosphärische Variation« beschrieben. Nach den Ursachen wird wohl noch länger zu forschen sein. Als im Januar 2021 Europa schon einmal vor einem Blackout stand, dauerte es lange bis zur definitiven Klärung. Damals führte eine Störung in einem Umspannwerk in Kroatien zu einer Kaskade von weiteren Leitungsausfällen. Diese führten dazu, dass Griechenland, Rumänien, Bulgarien und weitere Länder zeitweise vom europäischen Netz entkoppelt wurden. Und im Sommer 2021 führte ein Zwischenfall mit einem Löschflugzeug in Südfrankreich zu einem Ausfall von gut zwei Gigawatt Leistung in Spanien. Auch damals wurde die Iberische Halbinsel vom europäischen Stromnetz getrennt. Der Ausfall konnte aber mit einem sogenannten »Lastabwurf«, also der automatischen Abschaltung von Großverbrauchern, abgefangen werden. Kurz vor Redaktionsschluss meldete sich REE-Betriebsdirektor Eduardo Prieto noch einmal: Nach neuesten Erkenntnissen habe der Ausfall von zwei Kraftwerken im Südwesten Spaniens das gesamte Stromnetz zusammenbrechen lassen. Mit Agenturen | Ralf Streck, Donostia | Was den massiven Stromausfall auf der Iberischen Halbinsel verursacht hat, ist noch unklar. Möglicherweise führte der Ausfall von zwei Kraftwerken in Südwestspanien zum Blackout. | Portugal, Spanien | Politik & Ökonomie | Politik Energieversorgung | 2025-04-29T15:35:36+0200 | 2025-04-29T15:35:36+0200 | 2025-05-02T11:11:40+0200 | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190889.energieversorgung-historischer-blackout-in-spanien-und-portugal.html? |
Der perfekte Krieg für die US-Rüstungsindustrie | Washington. Die Luftangriffe der USA gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) im Irak und in Syrien erweisen sich als Goldgrube für die Rüstungsindustrie. Der Einsatz, vor wenigen Tagen »Operation Inherent Resolve« (etwa: »Operation natürliche Entschlossenheit«) getauft, beschert US-Rüstungsfirmen steigende Aktienkurse und potenzielle Milliardeneinnahmen. Gefragt sind Bomben, Raketen, Ersatzteile für Kampfflugzeuge. Auch die Entwicklung neuer Rüstungsprojekte dürfte einen Schub erhalten. »Aus der Sicht der Verteidigungsindustrie ist es der perfekte Krieg«, sagt Branchenkenner Richard Aboulafia von der Marktforschungsfirma Teal Group.
In den vergangenen drei Monaten legte der Aktienkurs des Rüstungs- und Technologieriesen Lockheed Martin um rund zehn Prozent zu. Der Konzern stellt unter anderem die Hellfire-Raketen her, die von US-Drohnen abgefeuert werden. Auch der Börsenwert der Rüstungsunternehmen Northrop Grumman... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Daniel De Lue | Im Irak und Syrien hält der Kampf gegen die Milizen des "Islamischen Staates" an. Wie dieser Krieg ausgehen wird, ist ungewiss. Doch ein Gewinner steht schon jetzt fest: amerikanische Rüstungsunternehmen. | Irak, IS, Rüstung, Syrien, USA | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/949628.der-perfekte-krieg-fuer-die-us-ruestungsindustrie.html |
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Hitlergruß im Schülerchat | Leonberg. Die Polizei in Leonberg (nahe Stuttgart) ermittelt wegen der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole und der Verbreitung von Pornografie im Chat einer Schulklasse. Fünf Schüler eines Gymnasiums stehen im Verdacht, sagte eine Sprecherin des Polizeipräsidiums Ludwigsburg am Freitag. Zuerst berichtete die »Bild«-Zeitung darüber. Nach einer ersten Einschätzung der Polizei handelt es sich um jugendliches Fehlverhalten in dem geschlossenen Klassenchat des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Die Mitteilungen seien nicht an Außenstehende gelangt. Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) reagierte mit der Forderung nach Aufklärung: »In besonders krassen Fällen wie in Leonberg selbstverständlich auch unter Einbeziehung der Strafverfolgungsbehörden«. Solche Vorfälle dürften nicht verschwiegen werden. Die »Bild«-Zeitung veröffentlichte einen Ausschnitt aus einem Schreiben des Schulleiters Klaus Nowotzin an die Eltern, in dem er von Hakenkreuzen, Hitlergruß, sexualisierten Karikaturen und Verunglimpfung von Menschen mit Down-Syndrom berichtete. Es habe auch ein Bild eines Maschinengewehres in dem Chat gegeben. Der Untertitel dazu: »Löst bis zu 1800 Asylanträge in der Minute«. Er habe zum ersten Mal in zehn Jahren als Leiter des Gymnasiums die Polizei eingeschaltet, schrieb Nowotzin dem Bericht zufolge. Die Klasse habe erst kürzlich eine KZ-Gedenkstätte besucht. In Baden-Württemberg besteht seit April 2018 an öffentlichen Schulen eine Meldepflicht für Vorfälle mit antisemitischem, anderweitig religiösem oder ethnischem Hintergrund. 31 Schulen hätten seitdem Vorfälle an die Kultusverwaltung gemeldet, teilte ein Sprecher des Ministeriums mit. Rechtsradikale und diskriminierende Parolen sowie verfassungsfeindliche Symbole hätten an Schulen nichts zu suchen, weder im Klassenzimmer noch im Klassenchat, teilte Eisenmann mit. »Wir alle sind aufgefordert, Antisemitismus entschieden entgegenzutreten und wachsam gegenüber antisemitischen Tendenzen zu sein.« dpa/nd | Redaktion nd-aktuell.de | Ein Klassenchat voller Hakenkreuze, rassistischer und pornografischer Inhalte: Einem Schulleiter in Baden-Württemberg reicht es. Er hat jetzt die Polizei eingeschaltet. | Antisemitismus, Rassismus, Schule | Politik & Ökonomie | Politik Rassismus | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1123448.rassismus-hitlergruss-im-schuelerchat.html |
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»Wir wählen aus Würde und Verantwortlichkeit« | »Wir wählen aus Würde, aus Verantwortlichkeit und mit der Hoffnung, unser Land und unsere Zukunft gestalten zu können.« Die Worte kommen aus dem Munde von Laura Borràs. Sie fielen gegenüber dem »nd« am Wahlsonntag. Borràs ist nicht irgendwer, sondern potenziell kommende Präsidentin Kataloniens zu diesem Zeitpunkt. Sie erklärt, dass es »an der Zeit ist«, dass eine Frau die Präsidentschaft übernimmt. »Wenn eine Frau voranschreitet, schreiten alle Frauen voran und damit die gesamte Gesellschaft.« Dass mit ihr erstmals eine Frau Aussicht auf einen Wahlsieg habe, sei auch ein Zeichen der »Normalisierung, sozialer Gerechtigkeit und Gleichberechtigung«. Gereicht hat es nicht ganz für die unabhängige Kandidatin von Gemeinsam für Katalonien (JxCat), die in Barcelona an zweiter Stelle hinter dem Symbolkandidaten Carles Puigdemont auf der Liste stand. Dass Puigdemont auch im Falle eines Wahlsieges nicht aus seinem sicheren Exil in Brüssel nach Katalonien zurückkehren würde, war ausgemachte Sache. So wäre Borràs am Zug gewesen, doch JxCat lief mit 32 Sitzen in einem engen Rennen nur an dritter Stelle ein - einen Sitz hinter den gleichauf liegenden pro-spanischen Sozialdemokraten (PSC) und der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC), die seit Langem für die Unabhängigkeit Kataloniens eintritt. Es ist ein Triumph für die rechtsradikale VOX und eine Schlappe für den triple derecha genannten spanischen Rechtsblock gleichermaßen. Kataloniens »Wahlsieger« 2017 hieß Ciutadans (Cs), die spanisch-nationalliberale Bürgerpartei. Damals kam sie mit ihrer Spitzenkandidatin Inés Arrimadas auf 25 Prozent. Arrimadas sitzt inzwischen längst im spanischen Parlament in Madrid. Die Cs stürzte 2021 ins Bodenlose, verlor 30 der bisherigen 36 Sitze und kam nur noch auf gut 5,5 Prozent.
Viele ihrer Wähler kehrten zu den prospanischen Sozialdemokraten der PSC zurück, weil die PSC sich im Gegensatz zur Bürgerpartei eindeutig von der ultranationalistischen VOX abgrenzt. Der andere Teil wählte die faschistoide VOX-Partei, die auf elf Sitze und knapp acht Prozent kam. Die außerhalb Kataloniens große spanische rechte Volkspartei (PP) stürzte weiter ab und kam in der Autonomen Gemeinschaft im Nordosten Spaniens nur noch auf knapp vier Prozent und drei Sitze. Erreichten Cs und PP 2017 gemeinsam noch knapp 30 Mandate, sind es nun gemeinsam mit VOX gerade noch die Hälfte der bisherigen 40 Sitze. Die Rechte, vor allem die spanisch-nationalistische, hat damit massiv an Kraft in Katalonien verloren. Auf der anderen Seite hat die Linke zugelegt. Zwar hat En Comú Podem (Gemeinsam können wir es), der Ableger der Linkspartei Podemos, in Katalonien Stimmen an die linksradikale CUP verloren, aber ihre acht Parlamentssitze gehalten. Die Republikanische Linke Kataloniens ERC legte um einen Sitz, die CUP gar um fünf Sitze zu. rast Der Wahlsonntag in Katalonien hatte einen Hauch des Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2017, mit dem die Region die Unabhängigkeit von Spanien einleiten wollte. Dafür sorgte schon das kühle und regnerische Wetter. Erneut mussten Wähler mit Regenschirmen in langen Schlangen vor Wahllokalen ausharren. Die Verzögerungen waren nun aber strengen Sicherheitsvorkehrungen geschuldet, da mitten in der dritten Welle der Covid-Pandemie gewählt werden musste. Wahlhelfer mit Masken in weißen Schutzanzügen waren kein einladender Anblick beim Gang zur Wahlurne. Dafür gab es dieses Mal keine spanischen Sicherheitskräfte, die auf friedliche Menschen einprügelnd, Wahllokale stürmten und Urnen beschlagnahmten. Erneut ging es um viel bei den Wahlen. Zuletzt musste im Dezember 2017 gewählt werden, nachdem Katalonien nach der Ausrufung der Republik unter spanische Zwangsverwaltung gestellt und die Regierung von Carles Puigdemont ins Exil getrieben oder ins Gefängnis geworfen wurde. Nun musste erneut vorfristig gewählt werden, da der Oberste Gerichtshof in Madrid den bisherigen Präsidenten Quim Torra zum Amtsverbot verurteilt hatte. Er hatte ein Transparent am Amtssitz nicht abgenommen, auf dem die »Freiheit der politischen Gefangenen« gefordert worden war. Bis zu 13 Jahre Haft haben ehemalige Regierungsmitglieder wegen »Aufruhr« für die Durchführung des Referendums erhalten. Kein Gericht in Europa - nicht in der Schweiz, nicht in Belgien, nicht in Großbritannien und nicht in Deutschland - folgte bisher dieser Rechtsauslegung, weshalb Exilanten wie Puigdemont nicht an Spanien ausgeliefert werden. Das Ziel der Unabhängigkeitsbewegung für den Wahltag war klar: Es sollte gezeigt werden, dass die Repression ihre Bestrebungen nicht schwächt, sondern stärkt. Und erstmals wollte die Bewegung nicht nur die absolute Mehrheit der Sitze wie seit 2015 üblich, sondern erstmals auch die absolute Stimmenmehrheit bei Parlamentswahlen erobern: Das gelang bei einer von 79 Prozent im Jahr 2017 auf 53,5 Prozent gesunkenen Wahlbeteiligung. Wegen dieser Zielsetzung zog auch die Präsidentschaftskandidatin Laura Borràs Parallelen zum Referendum, als sie im gediegenen Stadtteil Sarrià am Mittag zur Wahl ging. »Erneut wählen wir mit Mut an einem Tag, der dem 1. Oktober ähnelt«, erklärt die Puigdemont-Kandidatin. Sie animierte alle noch einmal, »für die Demokratie« zur Wahl zu gehen. Die Wahlen seien sicher. Anders als befürchtet, dass Wahllokale wegen fehlender Wahlhelfer nicht geöffnet werden könnten, werde überall normal gewählt, sagte sie. Eine Frau hätte die Anarchistin Roser Pineda auch gerne als Präsidentin gesehen. Sie wählte in der Altstadt in Drassanes in der Schule, in der sie am Referendumstag Präsidentin eines Wahllokals war. Die pensionierte Lehrerin und Aktivistin der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT geht eher selten wählen. »Was am 1. Oktober 2017 geschah, war viel bedeutender als jede Wahl«, meint sie. Das Referendum sei von unten, aus der Gesellschaft und gegen alle staatliche Repression organisiert und durchgesetzt worden. Ein historisches Ereignis, an dem sich fast so viele Menschen beteiligt haben, wie die 2,9 Millionen Wahlteilnehmer am Sonntag. Unabhängigkeitslager in Katalonien siegt weiter. Martin Ling über die Wahlen in Katalonien. Da auch sie ein unabhängiges Katalonien will, das besser für einen Wandel in Spanien sei, haderte die Feministin, ob es nicht besser wäre, Borràs eine »nützliche Stimme« zu geben. Denn hinter der steht Puigdemont mit einer klaren Linie. »Doch mein Herz schlägt für die CUP.« Sie könne ihre Stimme keiner Frau aus der Oberschicht geben. Die Antikapitalisten von der CUP seien »die Einzigen, auch wenn ich mit ihrer Politik oft hadere, die ein Projekt haben, um die Gesellschaft umzukrempeln«. Es sei die einzige Formation mit Basisorientierung sowie einer feministischen und ökologischen Ausrichtung. »Wenn wir uns nicht in diese Richtung bewegen, haben wir als Gesellschaft keine Chance mehr.« Ihre 82-jährige Tante wollte dagegen, wie seit Jahrzehnten, erneut die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) zu wählen. Die hatte einen Wahlsieg »erhofft und erwartet«, wie der politische Gefangene und ehemalige Außenminister Raül Romeva im Gespräch mit dem »nd« erklärt hatte. Dabei traut Montse Casademont auch der ERC nicht mehr. »Wenn sie regieren, vergessen sie uns oft wieder«, sagte sie mit Blick auf die nicht eingelösten Versprechen nach dem Referendum. Sie hoffte trotzdem darauf, dass die ERC gewinnen würde und »es besser macht als bisher«. Tatsächlich geht die Unabhängigkeitsbewegung, die sich in den vergangenen Monaten sehr gespalten gezeigt hat, als Sieger aus den Wahlen hervor. Die bisher im Parlament in Barcelona vertretenen Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten, haben nun mit 51 Prozent mehr als die Hälfte der Wähler hinter sich gebracht. Erneut waren die über Repression erzwungenen Wahlen, mit denen das Scheitern der Bewegung gezeigt werden sollte, ein Rohrkrepierer für Spanien. Mit jeder Wahl nimmt der Anteil derer zu, die Unabhängigkeitsparteien wählen. Vor allem durch die Tatsache, dass die CUP ihren Stimmenanteil von zuletzt 4,5 auf knapp sieben Prozent ausgebaut hat, konnte die Sitzmehrheit der Bewegung vergrößert werden, da sie nun neun statt vier Parlamentarier stellt. »Die Wahlurnen haben uns Kraft gegeben und unsere Einschätzung bestätigt, dass der Kampf für die Unabhängigkeit nicht vom Kampf für soziale und wirtschaftliche Veränderungen getrennt werden kann«, erklärte die CUP-Kandidatin Dolors Sabater stolz ihr Ergebnis. Die junge Clara Tur hofft, dass das Ergebnis der CUP ihr nicht zu Kopf steigt. »Mit einer Klammer auf der Nase« habe sie die Truppe aus »linker Tradition« gewählt. Die habe sich zuletzt nicht mit Ruhm bekleckert. Ihr Programm sei »miserabel«, analysiert die Aktivistin. Das beste Programm habe Borràs und JxCat, meint sie. Dass sie eher die Puigdemont-Formation als die linkere ERC gewählt hat, liegt daran, dass sie nicht versteht, warum die Republikaner trotz der Repression, fehlender Verhandlungen zur Konfliktlösung und mangelnder Sozialpolitik die sozialdemokratische Regierung unter Pedro Sánchez in Madrid stützen. »Gibt es eine geheime Strategie, die wir noch nicht sehen können?«, fragt sich die 30-Jährige. Solche Zweifel haben verhindert, dass die ERC ihr größtes Wahlziel erreicht hat. »Wahlsieger« wurde der spanische Sozialdemokrat Salvador Illa, der gleichzeitig der große »Wahlverlierer« ist. Denn er hat keine realen Chancen, zum Präsidenten gewählt zu werden, auch wenn er diesen Anspruch als Wahlsieger bereits erhoben hat. Ihm fehlen die Partner. Der bisherige Gesundheitsminister der spanischen Regierung erhielt mit der PSC und 23 Prozent die meisten Stimmen. Die ERC blieb knapp 50 000 Stimmen hinter Illa zurück, erreichte aber mit 33 die gleiche Sitzanzahl. Da Illa keine Regierung bilden kann, die ERC einen Sitz mehr als Puigdemonts JxCat erhielt, reklamiert der ERC-Kandidat die Präsidentschaft. »Erstmals nach 80 Jahren wird die ERC sie übernehmen«, kündigte Pere Aragonès an. An einer Mehrheit im Unabhängigkeitslager fehlt es bei 74 von 135 Sitzen dafür nicht. Doch ganz einfach wird eine Einigung mit der liberalkonservativen JxCat und der CUP nicht. | Ralf Streck, Barcelona | Der spanische Rechtsblock verliert in Katalonien deutlich, und die Unabhängigkeitsbewegung baut ihre Mehrheit aus. Erstmals kommen ihre drei Parteien bei Parlamentswahlen auf mehr als 50 Prozent der Wähler. | Katalonien, Spanien | Politik & Ökonomie | Politik Katalonien | https://www.nd-aktuell.de/artikel/1148359.katalonien-wir-waehlen-aus-wuerde-und-verantwortlichkeit.html |
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Zwischen Chaos und missglückter Utopie | Pierre Nora, einer der bedeutendsten Historiker Frankreichs, hat in einem Rundfunkinterview auf die Frage, ob beide Ereignisse es wert seien, dass man sie würdigt, geantwortet: »Napoleon ja, die Kommune nein.« Napoleon habe den Fortschritt der Französischen Revolution nach ganz Europa getragen, während die Kommune keine positive Spur in der Geschichte hinterlassen habe. Das entspricht der Sichtweise des französischen Bürgertums und dem Tenor an den Universitäten und Schulen sowie in den Medien - wenn denn die Kommune überhaupt behandelt und nicht eher als peinliche »Fußnote der Geschichte« unter den Teppich gekehrt wird. Und diese Sicht hat in der breiten Volksmeinung Spuren hinterlassen. Besonders zugespitzt kam diese feindselige Einschätzung auf einer Sitzung des Pariser Stadtrates Anfang Februar zum Ausdruck, als das Ratsmitglied Rudolphe Granier von der rechten Oppositionspartei der Republikaner der sozialistischen Bürgermeisterin Annie Hidalgo vorwarf, sie unterstütze die Vereinigung der Freunde der Kommune mit Geld aus der Stadtkasse. Mit den von der Stadtverwaltung zum 150-jährigen Jubiläum geplanten Veranstaltungen wolle sie die Kommune »feiern und glorifizieren«, dabei sei die »brutal und gewalttätig« gewesen und habe »durch Brandstiftung ganze Teile der Stadt verwüstet«. Der rechtsbürgerliche Politiker vergaß nicht darauf hinzuweisen, dass einer der Co-Präsidenten der Vereinigung der Freunde der Kommune ein »ehemaliger Kommunistenführer« ist. Damit glaubte er wohl deutlich gemacht zu haben, was man von denen zu halten hat, die sich auf das Erbe der Kommune berufen und ihr Andenken hochhalten. Der solcherart polemisch vereinnahmte Co-Präsident, der Historiker Roger Martelli, zeigt sich darüber nicht verwundert. Hasserfüllte Attacken ist er gewohnt. Er steht dazu, dass er zwischen 1982 und 2008 erst Mitglied des Zentralkomitees und dann des Exekutivkomitees der Kommunistischen Partei war, doch er gehörte zum Flügel der »Erneuerer« und hat die FKP 2010 ernüchtert und enttäuscht verlassen. »Solche verbalen Angriffe sind ein Rückfall in finsterste Zeiten der Konfrontation zwischen Rechts und Links«, sagt er. »Das ist der Ton der Versailler.« Damit meint er die bürgerliche Regierung unter Adolphe Thiers, die sich Anfang 1871 aus Furcht vor den revolutionär gesinnten Parisern in den Vorort der Hauptstadt zurückgezogen hat, wo sich die prachtvolle Sommerresidenz der französischen Könige befand, um von dort aus die Kommune mit allen Mitteln zu bekämpfen. In der sogenannten Blutwoche vom 21. bis 28. Mai 1871 waren 20 000 bis 30 000 Kommunarden auf den Barrikaden oder bei Massenexekutionen niedergemetzelt worden. »Diese Zahlen werden kaum einmal erwähnt, umso öfter die der rund 100 Geiseln, die von den Kommunarden erschossen wurden«, beklagt Martelli. Für ihn gibt es eine Kontinuität von der Revolution von 1789, die zwar eine bürgerliche Revolution war, aber weitgehend von den Volksmassen getragen wurde, über die Pariser Kommune 1871 und die Volksfront 1936 bis zu den Hoffnungen, die viele Franzosen in die Linksregierung 1981 gesetzt haben. Die fortschrittlichen Anliegen der Kommune versucht das offizielle Frankreich herunterzuspielen oder totzuschweigen. Dabei handelte es sich um einen Versuch, die von der Revolution von 1848 angekündigte »demokratische und soziale Republik« zu verwirklichen. Mit vielem von dem, was sie in den nur 72 Tagen beschlossen und oft auch schon auf den Weg gebracht hatten, waren die Kommunarden der historischen Entwicklung um Jahrzehnte voraus. Die von ihnen angestrebten progressiven Veränderungen wurden meist erst viel später realisiert, so die Trennung von Kirche und Staat, kostenlose Schul- und Berufsausbildung, Zugang zur Justiz für alle, die Anerkennung von Paaren ohne Trauschein. Manche blieben auf Papier, etwa gleicher Lohn für Frauen und Männer. Um andere Ziele, die von der Kommune schon in Angriff genommen wurden, muss noch heute gekämpft werden, etwa die vorbehaltlose Einbürgerung von Ausländern, die Requirierung leerstehender Wohnungen für Obdachlose oder die Konfiskation von nicht genutzten Produktionsmitteln. All das kommt in den Geschichtsbüchern kaum oder nur oberflächlich vor. Meist beschränkt sich die Behandlung der Kommune auf Ereignisse oder Randerscheinungen, die Vorurteile bedienen. Das trifft ganz besonders auf die Schullehrbücher zu, von denen manche die Kommune ganz und gar übergehen. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich heute immer öfter junge Franzosen aus eigenem Antrieb für die Pariser Kommune interessieren und aus ihr Anregungen schöpfen, vor allem was die Elemente direkter Demokratie betrifft, beispielsweise Volksabstimmung, Mitbestimmung, Selbstverwaltung oder Rechenschaftspflicht von Abgeordneten ihren Wählern gegenüber. Auch die spontane Protestbewegung der »Gelbwesten« 2018/19 hat sich auf die Ideen der Kommune berufen. Feministinnen schöpfen aus den Quellen der Kommune für ihren Kampf und auch die Ökologen können sich auf sie und die von ihr erhobene Forderung berufen, die Natur verantwortungsvoll und mit Respekt zu behandeln. Für Touristen in Paris gehört der Vendôme-Platz zum Pflichtprogramm und kein Fremdenführer versäumt es zu schildern, wie die Kommunarden die in der Mitte des Platzes stehende Säule mit der Napoleon-Figur an ihrer Spitze umgestürzt haben, um so das Ende der reaktionären Vergangenheit zu demonstrieren. Entsprechend wichtig war es für die Regierung nach der Niederschlagung der Kommune, die Säule wieder aufzubauen, um zu zeigen, dass sich alles wieder an seinem Platz befindet. Leider ist das oft das einzige, was Ausländer über die Pariser Kommune erfahren und nach Hause mitnehmen. Im Stadtbild fehlt die Kommune fast völlig. Erst seit dem Jahr 2000 heißt im Stadtviertel Butte-aux-Cailles ein Platz, wo Ende Mai 1871 eine der letzten Barrikaden verteidigt wurde, »Place de la Commune de Paris«. Martelli verweist darauf, dass seit der Kommunalwahl 2001, als die Sozialisten, unterstützt durch Kommunisten und Grüne, die Stadtregierung übernommen haben, auf Anregung der Freunde der Pariser Kommune auch einige Straßen nach herausragenden Kommunarden benannt wurden. Es wurde auch Zeit, zumal viele Pariser Avenuen und Boulevards schon lange die Namen von Generälen und Marschällen Napoleons tragen. Der Vorschlag, eine Metrostation nach der Pariser Kommune zu benennen, wird jedoch von den städtischen Verkehrsbetrieben RATP seit Jahren auf die lange Bank geschoben - und die sozialistische Bürgermeisterin lässt es geschehen. Umso empörter sind die Freunde der Pariser Kommune, dass demnächst die Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre-Hügel, wo das blutige Gemetzel unter den Kommunarden seinen Anfang nahm, unter Denkmalschutz gestellt werden soll. Sie wurde nach der Niederschlagung der Kommune mit den Spendengeldern einer landesweiten Sammlung der Katholischen Kirche errichtet und sollte die »Versündigung« und die »Schmach« tilgen, die die Kommune für das Land bedeutet habe. Bis heute hält sich in der französischen Gesellschaft die Überzeugung, dass die Pariser Kommune und die Pflege ihres Erbes vor allem ein Anliegen der FKP ist. Doch diese ist erst 1920 gegründet worden, während das Andenken an die Kommune seit 1880 öffentlich gepflegt wird, als eine Amnestie für die zur Verbannung verurteilten Kommunarden erlassen wurde und sie sowie ihre Kameraden zurückkehren konnten, die sich 1871 durch Flucht ins Ausland retten mussten. Seitdem fand jedes Jahr am letzten Maiwochenende eine »Wallfahrt« zur »Mauer der Föderierten« auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise statt, wo am 28. Mai 1871 die letzten Kommunarden zusammengetrieben, erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden sind. Während der von Kommunisten und Sozialisten gemeinsam getragenen Volksfront 1935/36 gab es zum Gedenken an den »Blutmai« die größten Demonstrationen an der »Mauer der Föderierten« mit jeweils 500 000 Teilnehmern. Nach dem Krieg und unter dem Einfluss des Kalten Krieges und Antikommunismus versammelten sich hier Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und später auch Maoisten und andere extrem linke Organisationen - getrennt und möglichst noch an verschiedenen Tagen. »Zur 100-Jahr-Feier 1971 gab es noch einmal eine große Demonstration, die von den Kommunisten organisiert worden war und an der auch Sozialisten teilnahmen«, erinnert sich Martelli. Seitdem hat das die Vereinigung der Freunde der Kommune übernommen und sie legt Wert darauf, dass das Gedenken an die Pariser Kommune parteienübergreifend und frei von Konkurrenzdenken gehalten wird, so wie einst bei der Kommune selbst. Aber obwohl sich jetzt Linke unterschiedlichster Herkunft gemeinsam an der Mauer versammeln können, sind es seit Jahren bestenfalls Tausend, räumt Martelli ein. Doch er ist optimistisch und erinnert an die Resolution der Nationalversammlung vom November 2016, mit der eine Mehrheit von - nicht nur linken - Abgeordneten dazu aufgerufen hat, »die Opfer der Blutwoche vom Mai 1871 zu rehabilitieren« und »die republikanischen Werte der Pariser Kommune besser bekannt zu machen«. Es sei an der Zeit, dass »die Republik die Männer und Frauen ehrt und würdigt, die für die Freiheit gekämpft haben«. Diese Resolution gilt es endlich mit Leben zu erfüllen, so Martelli. Dagegen seien Töne von rechts wie Anfang Februar im Pariser Stadtrat nur geeignet, »wieder eine bürgerkriegsähnliche Stimmung heraufzubeschwören«. 1971 hatte anlässlich des 100. Jahrestages der konservative Präsident Georges Pompidou die »Mauer der Föderierten« besucht und sich vor der Gedenktafel mit der schlichten Inschrift: »Den Toten der Kommune, 21. - 28. Mai 1871« verneigte. Ob sich dazu in diesem Jahr auch Präsident Emmanuel Macron durchringen wird, bleibt abzuwarten. In seinem Umfeld ist man eher skeptisch: Er halte es mehr mit Napoleon. | Ralf Klingsieck, Paris | In Frankreich stehen in diesem Jahr zwei Jubiläen an: Vor 200 Jahren, am 5. Mai 1821, ist Napoleon auf seiner Gefängnisinsel Sankt Helena gestorben. Und vor 150 Jahren, am 18. März 1871, trat die Pariser Kommune ins Leben. | Bildungspolitik, Frankreich, KommunistInnen | Politik & Ökonomie | Politik Pariser Kommune | 2021-03-17T16:04:14+0100 | 2021-03-17T16:04:14+0100 | 2023-01-20T23:30:49+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1149658.pariser-kommune-zwischen-chaos-und-missglueckter-utopie.html |
Alt geworden, aufgedunsen, schwach und faul | Sie kennen sicher das Gefühl, dass das Zimmer auf einmal so viel größer erscheint, nachdem man es aufgeräumt hat. Oder der Mund so leer nach dem Runterschlucken von Essensbrocken. Ungefähr so ist das mit dem vergangenen Jahr und überhaupt mit den jetzt zu Ende gegangenen Zehnerjahren. Obwohl das letzte Worcht dazu noch nicht gesprochen ist. Wie sollte es auch. Raum und Zeit sind miteinander verschaltet, vor allem über diese Kolumne - und Ihr Gehirn ist dreckig. Daher nimmt es auch nicht Wunder, dass in der Zeit das vergangene Jahrzehnt als das von Beschleunigung und Stillstand zugleich beschrieben wird; dass es, zumal, auf Tagesaktualitätsproduktionsebene mit einer Debatte über das Tempolimit endete. Begrenzt werden sollen bei diesem Limit die Autobahnautos, also die Beschleunigung. Dass im Gegenzug ein Mindesttempo Abhilfe schaffen könnte gegen den wochenendlichen Bummel-Stillstand in den Fußgängerzonen, meist verursacht von eben... 4 Wochen nd online lesen + E-paper + App Alle nd-Artikel online lesen + E-paper + App Benutzername* Passwort* Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990. | Adrian Schulz | Sowieso | Sowieso, Verkehrspolitik | Feuilleton | Kultur | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1130786.alt-geworden-aufgedunsen-schwach-und-faul.html |
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Solidarpakt für Saarland gefordert | Saarbrücken (dpa/nd). Städte und Gemeinden im klammen Saarland haben einen »saarländischen Solidarpakt« gefordert. Der neue Präsident des Saarländischen Städte- und Gemeindetags (SSGT), der Ottweiler Bürgermeister Hans-Heinrich Rödle (SPD), verwies am Montag darauf, dass die Kommunen im Land Ende 2011 auf Schulden von insgesamt knapp 2,9 Milliarden Euro kamen. Er forderte Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und SPD-Landeschef Heiko Maas dazu auf, bei den laufenden Verhandlungen über eine große Koalition ein »Maßnahmenpaket zur Sicherung einer angemessenen kommunalen Finanzausstattung« zu schnüren. Dazu müsse ein kommunaler Entschuldungsfonds gehören. Rödle verwies auf die stetig wachsenden Ausgaben, etwa für Sozialleistungen und Kinderbetreuung. Von Bund und Ländern seien keine nachhaltigen Maßnahmen zur Eindämmung der Probleme für die Kommunen getroffen worden. Auch seien durch die Schuldenbremse weitere Eingriffe in die kommunale Finanzausstattung zu erwarten. Rödles Stellvertreter, der Völklinger Oberbürgermeister Klaus Lorig (CDU), erklärte, die geplante Mitfinanzierung von 35 Prozent der Plätze für die Betreuung von Ein- bis Dreijährigen reiche nicht aus, um deren vom 1. August 2013 an geltenden Rechtsanspruch zu erfüllen. Das Land müsse sich zusätzlich an den Investitionen beteiligen. Rödle, bisher Vize-Präsident des SSGT, hat zum 1. April das Amt mit Lorig getauscht und steht jetzt an der Spitze des Zusammenschlusses der 52 Städte und Gemeinden im Saarland. | Redaktion nd-aktuell.de | Entschuldungsfonds für Kommunen soll helfen | Annegret Kramp-Karrenbauer, Heiko Maas, Kommunalfinanzen, Saarland | Politik & Ökonomie | Politik | https://www.nd-aktuell.de//artikel/223149.solidarpakt-fuer-saarland-gefordert.html |
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Wenn Klassentrennung en woke ist | Es ist eine grausame Kurzgeschichte. Und dass sie möglich, ja, wahr zu sein scheint, macht die Sache noch schlimmer. Es geht darin um einen Achtjährigen, der seinen Alltag beschreibt. Aus Sicht von außen ist das ein deprimierendes Leben. Der Vater: als Lkw-Fahrer ständig auf Tour. Die Mutter: Man ahnt, dass sie Alkoholikerin ist und sich zu Hause prostituiert. Wenn sie »Besuch« hatte, gibt sie ihren Kindern Geld fürs Mittagessen. Schnürsenkel für die Schuhe, warme Kleidung im Winter? Fehlanzeige. »Die anderen Kinder dürfen nicht mir spielen. Ich weiß nicht, warum. Sie wissen es auch nicht.« Aber die Leser wissen es: »Jürgen Körner, 8 Jahre, 2. Schuljahr« (so der Titel von Susanne Kilians Story) wird der soziale Aufstieg verwehrt bleiben. Diese bedrückende Geschichte findet sich in »Geh und spiel mit dem Riesen«, dem ersten »Jahrbuch der Kinderliteratur«, das von dem damals neu gegründeten Verlag Beltz & Gelberg veröffentlicht wurde. Dieser Sammelband gewann den »Deutschen Jugendbuchpreis ’72«, steht vorne drauf. Das waren andere Zeiten. Mit der Reformpädagogik der späten 60er und frühen 70er entstand auch eine neue Kinderliteratur. Grausamkeit hatte es schon vorher in Kinderbüchern gegeben. Viele Märchen der Gebrüder Grimm möchte man sich nicht originalgetreu verfilmt vorstellen – Quentin Tarantino hätte bestimmt seinen Spaß. Aber diese neue deutsche Grausamkeit war anderer Natur. Sie speiste sich aus der Wirklichkeit. Behütet aufgewachsene Mittelschichtkinder erhielten mit einem Mal Einblicke in eine Welt, die mit Reihenhausidylle nichts zu tun hatte. Die orangefarbenen Bücher von Beltz & Gelberg, aber auch Kinderserien wie die »Rappelkiste« oder »Denkste« zeigten, was hinter den Türen von Sozialwohnungen geschah, unter welchen Bedingungen »Gastarbeiter« (wie man Migranten damals nannte) lebten und was es bedeutete, in einem reichen Land arm zu sein. Das war oft verdammt harte Kost. Doch es schärfte das soziale Bewusstsein. Man wurde sensibilisiert für die bisweilen brutalen gesellschaftlichen Unterschiede, die es in der Wirtschaftswunder-Bundesrepublik auch in Zeiten der Vollbeschäftigung gab. So wirkte Kinderliteratur aufklärend. Aus und vorbei! Das Gros der heutigen Kinder- und Jugendbücher geht nicht mehr dorthin, wo die sogenannten Schmuddelkinder spielen. Das überrascht zunächst, scheint doch die Woke-Bewegung gerade in Kinderbuchverlagen über eine starke Basis zu verfügen. Zum Beispiel im Carlsen-Verlag. Dort wird seit 1992 die als pädagogisch wertvoll geltende Buch- und Büchleinreihe »Conni« veröffentlicht. Sie schildert das Leben eines Mädchens vom Kindergarten bis zur Pubertät. Vordergründig ist die Reihe auf der Höhe der Zeit. Stolz betont der Verlag, Conni habe »ein sehr diverses Freundschaftsumfeld«. In ihrer Kita gibt es Kinder unterschiedlicher Herkunft. Der Vater von Laura stammt aus Ghana, die Eltern von Son sind aus Vietnam. Semire hat wie Emir türkische Wurzeln. International geht es auch beim Kita-Sommerfest zu. Da werden im »1001-Nacht-Zelt« orientalische Speisen wie Couscous serviert – Multikulti funktionierte kulinarisch schon immer am besten. Doch bei genauerem Hinsehen bekommt das schöne bunte Bild schmutzige Risse. Die Mutter eines muslimischen Kindes trägt natürlich Kopftuch. Ein Klischee, das in deutschen Kinderbüchern konsequent durchexerziert wird. Das ist zum einen rassistisch (weil es suggeriert, dass alle muslimischen Frauen per se Kopftuch tragen) und zum anderen frauenfeindlich und reaktionär. Deutschen Kinderbuchautorinnen scheint entgangen zu sein, dass ihre Geschlechtsgenossinnen im Nahen Osten teilweise unter Gefährdung ihres Lebens (wie im Iran) das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung bekämpfen. Die diverse Welt ist nur Fassadenmalerei. Da gibt es ein Kitakind namens Alena, das im Rollstuhl sitzt. Damit ist dem Inklusionsgedanken Genüge getan. Ein eigenständiger Handlungsstrang entwickelt sich daraus nicht. Emir und Co. sind nur Staffage. Sie dienen als ethnische Deko, die Toleranz und Offenheit signalisieren soll. Dass Vielfalt nur Kulisse ist, wird deutlich, sobald Conni die Räumlichkeiten von Kindergarten und Schule verlässt. Dann offenbart sich eine Welt, die biodeutscher kaum sein könnte. Hier sind Geldnöte ein Fremdwort. Wenn eingekauft wird, sind die Taschen danach proppenvoll. Denn Connis Mutter ist Kinderärztin, der Vater Ingenieur. Konflikte entstehen allenfalls dadurch, dass Mama zu oft in ihr Handy vertieft ist, anstatt ihrer Tochter zu lauschen. Die Familie zählt zur oberen Mittelschicht. Eine Geschichte heißt »Conni fährt Ski«. Damit gehört sie zu jenen zehn Prozent der Deutschen, die sich Ferien auf der Piste noch leisten können. Der regelmäßige Urlaub im Schnee gilt als Selbstverständlichkeit (»sie will im nächsten Winter unbedingt wieder Ski fahren«). Die Autorinnen setzen voraus, dass auch die Leserschaft über die nötigen Scheine für den immer teurer werdenden Wintersport verfügt. Ja, das Geld reicht sogar noch für ein eigenes Pony – nachzulesen in »Das große Conni-Pferdebuch«. Wem man nicht auf der Koppel oder der Piste begegnet, ist Semire. Und den ersten Kuss bekommt Conni natürlich nicht von Emir, sondern von Phillip. Dessen Vater plant, mit ihm in die Schweiz zu ziehen. Vermutlich besitzt er dort bereits ein Chalet. Wohlhabende Menschen bleiben unter sich. Über die weniger Begüterten werden in deutschen Kinderbüchern nicht allzu viele Worte verloren. Gehen die Verlage davon aus, dass in den Familien von Niedriglohnbeschäftigten und Bürgergeldempfängern ohnehin nicht viel gelesen wird? Lieber beschäftigt man sich – wie in »Bobo Siebenschläfer«, einem weiteren Renner im Kinderbuchsektor – mit einer Welt, in der Oma und Opa auf dem Biobauernhof einkaufen und die Eltern ökologisch korrekt Bus fahren. Vermutlich, um die zahlreichen Urlaubsflugreisen zu kompensieren. Daher ist die Behauptung auf der Website des Carlsen-Verlags »Das Besondere an Conni? Sie ist ein Kind wie jedes andere!« eine dreiste Lüge. Das wohlstandsverwahrloste Milieu, das sich in heutigen Kinderbüchern entlarvt, hat Interesse an Ponys, aber nicht am Leben der anderen. Pech für Jürgen Körner und Semire! | Frank Jöricke | Über die weniger Begüterten werden in deutschen Kinderbüchern nicht viele Worte verloren. Gehen die Verlage davon aus, dass in diesen Familien nicht viel gelesen wird? Weder »Conni« noch »Bobo Siebenschläfer«? | Kindertagesstätte | Feuilleton | Kultur Kinderliteratur | 2025-02-07T16:28:49+0100 | 2025-02-07T16:28:49+0100 | 2025-02-10T09:49:05+0100 | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1188880.kinderliteratur-wenn-klassentrennung-en-woke-ist.html |
Lernen, aufrecht zu gehen | Rosa Ryczko sieht so ähnlich aus und spricht auch so mitreißend wie ihr US-amerikanisches Spiegelbild Marjory Stoneman von jener High School in Florida, wo bei dem Amoklauf im Februar 17 ihrer Mitschüler erschossen wurden. Wie Marjory steht auch Rosa im studentischen Kampf. Ihr Anliegen ist gerechte Bezahlung für studentische Hilfskräfte, ohne die an deutschen Universitäten nichts läuft. »Unser Tarifvertrag wurde vor 32 Jahren erstreikt. Und so kämpfen wir jetzt wieder dafür, dass Studis, die an der Uni arbeiten, fair entlohnt werden. Studentische Hilfskräfte sind doppelt und dreifach belastet«, erklärt sie. »Von den 11 Euro pro Stunde können sie nicht leben und brauchen oft noch einen zweiten Job neben dem Studium! Sie sind überall und nirgends an der Uni, haben keine Büros, keine geregelten Arbeitszeiten, keinerlei Streikerfahrung; dazu kommen Karriereängste, denn oft jobben sie bei denselben Professoren, bei denen sie später auf eine Stelle hoffen.« Viele studentischen Proteste und politischen Aktionen gehen von der organisierten Studentenschaft aus, von den ASten, Studierendenräten und -parlamenten und vom fzs. Dem fzs, dem Freien Zusammenschluss Studierender in Deutschland, gehören gut ein Viertel der Studentenvertretungen von landesweit 400 Universitäten an, hinzu kommen die ungezählten unabhängigen Gruppierungen in den Universitäten, die sich gegen Sexismus am Campus, für bezahlbares Wohnen, gegen Studiengebühren für Ausländer usw. engagieren. Studieren - das ist nicht nur Wissenserwerb, Vorbereitung auf den Beruf, ein neuer Lebensabschnitt. Es ist auch ein großer Crashtest, denn alles muss neu sortiert werden. Wie finden Studierende eine bezahlbare Wohnung? Wer finanziert ihre Ausbildung? Wie machen ihnen Stress und Leistungsdruck zu schaffen? Was bedeutet es, zu studieren und gleichzeitig ein Kind großzuziehen? Wie geht es dem universitären Prekariat, das einen erheblichen Teil der Hochschulausbildung trägt? Wie sind die Jobaussichten nach dem Abschluss? Diesen und anderen Fragen gehen wir in einer nd-Serie nach - jeden Mittwoch. Im letzten Studienjahr wurde viel auf die Beine gestellt. Der große Protest und die Besetzung der Hamburger HafenCity-Universität im April und Mai etwa. Es ging um die Kanzlerin Stephanie Egerland, die radikal Stellen abgebaut, immer mehr Macht auf die Hochschulleitung konzentriert und absurde Regeln aufstellt hatte, die zu prekären Arbeitsbedingungen führten. »Schikane und Mobbing« habe »Angst und Stillschweigen« an der Universität zur Folge, erklärten die Studierenden und forderten die Abwahl Egerlands. Der Bund Deutscher Architekten beschwerte sich sogar in einem offenen Brief über die »desolate Situation« an der Uni, die schlechte Ausbildung, die fehlenden Stellen. Viele Professorinnen und Professoren hätten die Causa mit Lippenbekenntnissen unterstützt, am Ende versagte die Professorenschaft jedoch und wählte die Bildungsmanagerin wieder ins Amt. Die Zweite Bürgermeisterin der Stadt Katharina Fegebank (Grüne) hielt den Mund dazu. Wichtig angesichts des heutigen Klimas der Fremdenfeindlichkeit sind auch die Proteste gegen den rechtsradikalen Juraprofessor Thomas Rauscher an der Universität Leipzig. Der Mann ist, wie Donald Trump, sehr aktiv auf Twitter und tritt für ein »weißes Europa« und gegen die »ungehemmte Vermehrung von Afrikanern und Arabern« ein. Hunderte Studierende sprengten seine Vorlesungen und verlasen seine rassistischen und homophoben Tweets. Die Hochschulleitung distanzierte sich zwar von dem »menschenfeindlichen Weltbild« ihres Angestellten, ließ ihn aber im Amt, von wo aus er weiter agitieren kann. Zur Zeit bemühen sich nordrhein-westfälische Studenten, die Studiengebühren von 1500 Euro für Ausländer abzuwenden. Ihre Petition gegen diese Form des institutionellen Rassismus fand 7500 Unterstützer und wurde vergangene Woche an Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen übergeben. Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag nämlich auf die Einführung von Gebühren für Studierende aus Drittstaaten geeinigt. Man möchte es Baden-Württemberg nachtun, wo die Grünen solche Gebühren bereits eingeführt und dafür gesorgt haben, dass die Einschreibungen von Studenten ohne EU-Pass um ein Fünftel zurückgegangen sind. Die Gebühren seien so unnötig wie ein Kropf, sagte die SPD-Abgeordnete Gabi Rolland dazu: »Viel Aufwand, wenig Ertrag - und viel verbrannte Erde.« Doch es werden mehr studentische Aktionen folgen: eine Demonstration in Münster und ein Aktionstag gegen das Hochschulgesetz in Köln sind angesagt. Anfang Juni trafen sich mehr als hundert Hochschulangestellte und Studierende in Berlin. Ihr Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) diskutierte die Frage »Wie streikfähig werden?«, Zu Gast war unter anderem Nicole Wolf, die in England lehrt und von den dortigen seit Monaten anhaltenden Streiks berichtete. Viele Studierende solidarisierten sich mit den Streiks an über 60 Universitäten, die durch Rentenkürzungen für Dozenten ausgelöst worden waren. Bald aber ging es um die fortschreitende Neoliberalisierung der Hochschulen überhaupt, um Studiengebühren und Verschuldung, um die Kluft zwischen den Geschlechtern und den Generationen: Frauen, Ausländer und jüngere Dozenten erhalten oft weniger Gehalt und schlechtere Verträge, während der Uni-Präsident Patrick Loughrey - »Fat Cat Pat« wie Studenten ihn nennen - ein Jahresgehalt von 400 000 Pfund einfährt. »Wir haben gesehen, wie engagiert Studierende sind: Jeden Morgen haben sie um 7 Uhr eine Teeküche für die Streikposten aufgestellt und sich an den Aktionen beteiligt. Der Streik ging weiter, er solidarisierte sich mit dem Streik der Sexarbeiterinnen, mit dem Streik der Reinigungskräfte, es gab Konzerte, um uns in der eisigen Kälte warmzuhalten. Die Streikposten wurden zu einem pädagogischen Möglichkeitsraum, denn gerade Studenten wissen oft viel zu wenig, wie viel sie mit Streiks bewirken können.« Professor a. D. Peter Grottian, das Urgestein studentischer Revolte, der vom politikwissenschaftlichen Instituts der FU Berlin aus den Bildungsstreik 2008/2009 mitorganisiert hatte, unterstützt die Initiative der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er hat unter Kollegen 5000 Euro für die Streikkasse gesammelt, warnt aber ansonsten davor, der Professorenschaft zu vertrauen. Er ist auch dagegen, sich zu sehr auf die Gewerkschaften GEW und ver.di zu verlassen: »Sie treten in Tarifverhandlungen fast gar nicht gegen die Ausbeutung an den Hochschulen ein. Viel wichtiger ist, dass sich die Beschäftigten der Hochschulen mit den Studierenden solidarisieren. Da liegt das Potenzial eines neuen Bildungsstreiks im Mai 2019!« Auf dem Netzwerktreffen war auch Kolja Lindner, der in Frankreich lehrt und an den dortigen Studentenprotesten gegen das neue selektive Bewerbungsverfahren »Parcoursup« teilgenommen hat. Er sagt: »Es muss mehr Konfliktbewusstsein in die Hochschulen gebracht werden. Wir müssen beginnen, uns als Wissensarbeiter und Lohnabhängige zu begreifen und den Idealismus der Selbstverwirklichung abstreifen. Die Professoren sind nicht unsere Freunde, sondern unsere Arbeitgeber. Auch müssen wir Betriebsanalysen machen: Wer ist verantwortlich, wo liegt die Entscheidungsfähigkeit? Bei Professoren, in Institutsräten, im Präsidialamt? - Damit sie sich nicht auf höhere Ebenen rausreden können! Auch das Zurückhalten von Noten ist eine sehr gute Methode, um die Universität unter Druck zu setzen, dann sieht sie auch, wie abhängig sie vom Mittelbau und den studentischen Beschäftigten tatsächlich ist.« Bei den Protesten in Frankreich wurden über die Hälfte aller Universitäten bestreikt und besetzt - und die Examen verhindert. Der Studierendenverband UNEF organisierte Konzerte, um die Demonstrationen zu finanzieren, und hilft jetzt noch vielen Studienanfängern, die wegen des neuen Systems ohne Studienplatz blieben, einen zu finden. »Es fehlen 240 000 Studienplätze«, berichtet Cleménce Dollé vom UNEF. »Die liberale Regierung Macron hat sogar angedroht, die zweiten Termine der Jahresabschlussprüfungen (per Gesetz müssen französische Studenten eine zweite Chance bekommen, wenn sie die Prüfung beim ersten Mal nicht bestehen) abzuschaffen, um Mittel einzusparen.« Emmanuel Macron, berichtet Dollé, der seine große Europarede im Herbst vor Studenten der Sorbonne hielt, »hat sich vor uns versteckt. Er sagte im April lediglich, es werde keine Examen mit Schokolade geben, wir sollten uns lieber zum Lernen hinsetzen. Der Innenminister hat die Polizei in über 20 Hochschulen geschickt.« Die Studentenvertreterin erzählt noch, dass die Studentenproteste sich auch mit den Bahnarbeitern im Streik und anderen solidarisieren. Wann wird so etwas in Deutschland passieren? Sandro Filippi ist in dem nationalen Kollektiv »Lernfabriken meutern« organisiert. »Der Streik in Hamburg hat immerhin erreicht, dass die angekündigten Kürzungen nicht so hoch ausgefallen sind. Es stimmt aber, das Protestpotenzial unter deutschen Studierenden ist noch nicht besonders hoch. Sie lernen es aber auch nicht anders an der Schule, wo sie zwar irgendwas abstimmen, doch dann erfahren dürfen, dass es doch nichts ändert. Auf jeden Fall wäre ein neuer Bildungsstreik nötig. Allein aufgrund der hochschulpolitischen Lage: die schlechte Bezahlung der Arbeiter im Bildungssektor und die miserablen Lernbedingungen.« | Isidor Grim | Die Universitäten sind ein politischer Raum. Wie bei keinem anderen verdichten sich hier gesellschaftliche Probleme, Arbeitskämpfe, Ausgrenzung im politischen Bewusstsein. | Bildungspolitik, Hochschulpolitik, Streik, Studium2018 | Politik & Ökonomie | Politik Studierende und Protest | https://www.nd-aktuell.de//artikel/1090991.lernen-aufrecht-zu-gehen.html |
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Schule ohne Rassismus | Über 1 200 Schulen haben sich dem Netzwerk »Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage« angeschlossen, mehr als die Hälfte davon in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen. Voraussetzung ist, dass mindestens 70 Prozent der Schüler(innen) und Lehrer(innen) sich mit ihrer Unterschrift verpflichten, aktiv gegen Diskriminierungen, insbesondere gegen rassistische Verletzungen einzutreten. Die Gebrüder-Montgolfier-Schule, ein Gymnasium in Berlin-Johannisthal, gehört dem Netzwerk seit 2007 an. Im Schuljahr 2010/11 produzierten die Montgolfier-SchülerInnen zum Beispiel eine Rundfunksendung zum Thema »Ausgrenzung durch Kleidung«. Dabei diskutierten sie eigene Mobbing-Erfahrungen wegen vermeintlich falscher Kleidungsmarken. Sie recherchierten auch zum gesellschaftlich umstrittenen Thema Kopftuch und Islam.
Viele Schulen, die sich an dem Netzwerk beteiligen, haben einen Projektpaten. Für das Montgolfier-Gymnasium ist dies der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Gregor Gysi. Er selbst drückte am Ellernweg die Schulbank, als die Schule noch POS »Herta Geffke« hieß. Im Gespräch mit ihm aus der Klasse 10B: Louisa Klemke, Frieda Knapschinsky, Beatrice Knötrich und Naike Pestka. | Redaktion nd-aktuell.de | Gregor Gysi diskutiert mit Schülerinnen des Montgolfier-Gymnasiums, Sonnabend um 13 Uhr | Fest der Linken, nd-Pressefest, Rassismus, Schule | Hauptstadtregion | Brandenburg | https://www.nd-aktuell.de//artikel/822353.schule-ohne-rassismus.html |
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Asyl-Camp vorerst sicher | (epd/nd). Nach der gewaltsamen Räumung des Münchner Flüchtlingscamps durch die Polizei sieht der Jesuiten-Flüchtlingsdienst keinen Anlass für ein derartiges Vorgehen beim Berliner Flüchtlingscamp. »In München sah sich der Staat gezwungen, einzuschreiten, um das Leben der Hungerstreikenden zu retten. Eine solche Situation besteht in Berlin derzeit nicht«, sagte Heiko Habbe, Jurist beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst, am Dienstag epd in Berlin.
»Wir sind erleichtert, dass in Gesprächen mit dem Bezirksbürgermeister die nächste Zukunft des Camps einvernehmlich geklärt werden konnte.« Solche Gespräche mit der Politik seien »ein sinnvoller Weg, was die grundlegenden Forderungen der Flüchtlinge angeht«. Ein »Schritt in die richtige Richtung« sei die Verkürzung des Arbeitsverbot für Asylbewerber von zwölf auf neun Monate.
Seit rund neun Monaten leben im Stadtteil Kreuzberg etwa 100 Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern in mehreren Großraumzelten auf dem Oranienplatz. Der Bezirk duldet das Camp bislang. Die Flüchtlinge erhalten von zahlreichen Unterstützern Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. | Redaktion nd-aktuell.de | Protest in Kreuzberg bekommt Unterstützung | Asylpolitik, Flüchtlinge | Hauptstadtregion | Brandenburg | https://www.nd-aktuell.de//artikel/826305.asyl-camp-vorerst-sicher.html |
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