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0 | Das heißt: Wer ein starkes Selbst ist, der muß zunächst alles hassen, was
nicht dies Selbst ist und durch sein Dasein dies Selbst einschränken will.
Wer aber ein starkes Selbst ist, kann auch etwas Großes und Göttliches
werden, sowie er erkennt, daß sein Selbst nichts Vereinzeltes, sondern in
Gott, in der Hingabe an Menschen ist. Welche Kühnheit aber, dies zu sagen,
und welche Weisheit, es in Bildern zu sagen, wodurch das Selbst von sich
selbst befreit und entlastet wird. | 234,800 |
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Übersicht
Zu den Termindetails gelangen Sie, indem Sie auf den Titel der Veranstaltung klicken.
August
Interner Link: Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Interner Link: Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung14. August 2023, Berlin & online Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?24. August 2023, online Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS)
September
Interner Link: Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten4. September 2023, Düsseldorf CoRE NRW Interner Link: BarCamp Islamismusprävention 4. bis 6. September 2023, Leipzig Bundeszentrale für politische Bildung Interner Link: Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media12. September 2023, online Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Interner Link: Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit13. September 2023, Berlin ufuq.de Interner Link: Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Interner Link: Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention28. bis 29. September 2023, Berlin cultures interactive e. V.
Oktober
Interner Link: Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus04. und 18. Oktober 2023, Berlin cultures interactive e. V. Interner Link: Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur19. Oktober 2023, Berlin Violence Prevention Network (VPN)
November
Interner Link: Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus9. bis 10. November 2023, Berlin Hochschule Fresenius Interner Link: Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und AbsolventenNovember 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online Bundeszentrale für politische Bildung
Dezember
Interner Link: Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online Pädagogische Hochschule Heidelberg
Februar 2024
Interner Link: Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 202428. und 29. Februar 2024, Wiesbaden Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung)
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
August
Online-Fortbildung: Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz begegnen
31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023, online
In der Online-Fortbildung des Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) geht es darum, Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit extremistischer Ansprache in den sozialen Medien zu schulen. In den Lehrgängen wird zudem die Funktionslogik von sozialen Medien thematisiert und die allgemeine Medienkompetenz der Teilnehmenden verbessert. Mögliche Abläufe von Radikalisierungsprozessen sowie Grundlagen des Online Streetwork bekommen ebenfalls einen Raum in den Seminaren. Ziel ist es, eigene digitale Angebote der Demokratieförderung zu entwickeln und menschenfeindlichen Inhalten im Netz selbstbewusst entgegenzutreten.
Die Online-Fortbildung gibt es in drei Durchgängen:
31. Juli 2023 bis 16. Oktober 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr 12. September 2023 bis 21. November 2023, immer dienstags & donnerstags von 11:00-12:30 Uhr 9. Oktober 2023 bis 18. Dezember 2023, immer montags & mittwochs von 16:00-17:30 Uhr
Termin: 31. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 Ort: online Veranstalter: Center for Education on Online Prevention in Social Networks (CEOPS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von CEOPS
Politik- und Pressegespräch: Strukturelle Faktoren von Radikalisierung
14. August 2023, Berlin & online
Was brauchen wir als Gesellschaft, um zunehmenden Polarisierungstendenzen zu begegnen? Was braucht es auf individueller und struktureller Ebene, um Menschen zu stärken, die anfällig sind für extremistische Ansprachen? Das diesjährige Politik- und Pressegespräch der BAG RelEx widmet sich den strukturellen Faktoren von Radikalisierung. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Lösungsstrategien im politischen Handeln wie auch auf Ebene der zivilgesellschaftlichen Träger. Diese werden im Rahmen eines Impulsvortrags und einer Podiumsdiskussion erörtert. Im Anschluss bietet die Veranstaltung Raum für Rückfragen.
Das hybride Politik- und Pressegespräch richtet sich an Vertreter:innen aus Medien und Politik, an Fachkräfte sowie die breite Öffentlichkeit. Journalist:innen können sowohl vor Ort als auch online teilnehmen. Weitere Interessierte können der Veranstaltung online beiwohnen.
Termin: 14. August 2023, 18:00-19:30 Uhr Ort: Berlin-Wedding & online Veranstalter: BAG RelEx Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der BAG RelEx
Online-Seminar: Plan P.-Digital – Wie kann Jugendhilfe und Radikalisierungsprävention im Online-Bereich aussehen?
24. August 2023, online
Das Online-Seminar beschäftigt sich mit islamistischer Ansprache in den sozialen Medien. Dabei geht es vor allem darum, wie Staat und Zivilgesellschaft auf die damit einhergehenden Herausforderungen in der Radikalisierungsprävention reagieren können. Das Seminar liefert eine Einordnung zu Ansätzen der Präventionsarbeit und vermittelt Überblick über Projekte der digitalen Jugendarbeit. Im Anschluss werden mögliche Bedarfe in der Jugend- und Präventionsarbeit skizziert. Das Online-Seminar richtet sich an Teilnehmende des Plan P.-Netzwerks sowie Fachkräfte der Jugendhilfe, insbesondere aus den Bereichen des Erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, der Jugendarbeit und der Sozialarbeit.
Termin: 24. August 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. (AJS) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. August möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der AJS
September
Netzwerktreffen: Extremistische Einstellungen staatlich Handelnder – Analyse und Präventionsmöglichkeiten
4. September 2023, Düsseldorf
In einer wehrhaften Demokratie stehen staatliche Institutionen vor der Aufgabe, immer wieder zu überprüfen, inwieweit sie selbst gegen antidemokratische und extremistische Einstellungen gefeit sind. Staatsbedienstete sind gegen die Verbreitung von extremistischen Einstellungs- und Vorurteilsmustern nicht immun. Aufmerksamkeit verdienen hier nicht nur Justiz, Polizei und Nachrichtendienste, sondern auch der Schul- und Erziehungssektor.
Die Frage für Forschung und Praxis ist, woher solche Einstellungen kommen, wie Gruppendynamiken entstehen, wie wir sie in Polizeien in mehreren Bundesländern gesehen haben, und wie diesen Entwicklungen präventiv begegnet werden kann. Darüber soll auf dem Netzwerktreffen intensiv diskutiert werden. Neben Vorträgen und Diskussionen gibt es ausreichend Zeit für Gespräche zur Vernetzung.
Termin: 4. September 2023, 9:30-17:00 Uhr Ort: Townhouse Düsseldorf, Bilker Straße 36, 40213 Düsseldorf Veranstalter: CoRE NRW Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail bis zum 25. August unter Angabe des vollen Namens sowie der institutionellen Anbindung
Weitere Informationen in Kürze auf den Externer Link: Seiten von CoRE NRW
BarCamp Islamismusprävention
4. bis 6. September, Leipzig
Im September 2023 findet in Leipzig ein interaktives BarCamp der Bundeszentrale für politische Bildung zum Themenfeld Islamismus statt. Die Fachtagung bietet einen Raum für Akteurinnen und Akteure, die in der Radikalisierungsprävention und der politischen Bildung tätig sind, einmal innezuhalten, gemeinsam über die Entwicklungen zu reflektieren, sich über aktuelle Themen, Debatten aber auch die Belastung in der täglichen Arbeit auszutauschen und gleichzeitig Ideen, multiprofessionelle Perspektiven und neue Energie aufzutanken.
Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte aus dem Bereich der Präventionsarbeit und der politischen Bildung, Wissenschaftler/-innen und Multiplikator/-innen, die sich bereits intensiver mit dem Phänomen Islamismus und dem Feld der Islamismusprävention auseinandergesetzt haben oder in diesem arbeiten.
Auch das Team des Infodienst Radikalisierungsprävention wird auf der Tagung vertreten sein und freut sich, Sie dort zu begrüßen.
Termin: 4. bis 6. September 2023 Ort: Hyperion Hotel, Sachsenseite 7, 04109 Leipzig Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: Teilnahmegebühr ohne Übernachtung 50 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 21. August 2023 möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung
Online-Workshop: Wie argumentieren extremistische Online-"Prediger"? Themen, Thesen und Formate auf Social Media
12. September 2023, online
Mit welchen Argumenten verbreiten extremistische "Prediger" online ihre Botschaften? Welche Themen und vermeintliche Belege führen sie an? Welche Plattformen und Formate nutzen sie? Und wie gewinnen sie das Vertrauen von Jugendlichen?
Der Workshop beginnt mit einer Auswahl gängiger Phrasen, Aussagen und Argumente extremistischer Online-"Prediger". Im Anschluss diskutieren die Teilnehmenden gemeinsam über folgende Fragen: Welche Formate und Argumente sind bei Jugendlichen besonders wirksam? Welche Themen stehen in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen im Vordergrund? Welche Fragestellungen scheinen für Jugendliche zentral zu sein, werden von extremistischen Online-Akteuren jedoch bewusst ausgeklammert?
Fachkräfte können vorab Beispiele und konkrete (anonymisierte) Fälle aus der eigenen Arbeit einreichen. Diese werden dann im Rahmen der Veranstaltung aufgegriffen.
Termin: 12. September 2023, 10:00-13:00 Uhr Ort: online Veranstalter: Kompetenznetzwerk "Islamistischer Extremismus" (KN:IX) & Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 1. September 2023
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der IU Internationalen Hochschule
Fortbildung: Umgang mit antimuslimischem Rassismus in der pädagogischen Arbeit
13. September 2023, Berlin
Wie können Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit auf antimuslimischem Rassismus reagieren und diesem entgegenwirken? Welche Rolle spielt die persönliche Haltung zu Religion? Wie können Betroffene von diskriminierenden oder rassistischen Äußerungen unterstützt und gestärkt werden? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt der Fortbildung. Pädagogische Mitarbeitende aus Schule, Sozialarbeit und außerschulischer Bildungsarbeit sind eingeladen, daran teilzunehmen und Anregungen zum Umgang mit Religion, Resilienz und Rassismus für ihre Arbeit mitzunehmen.
Termin: 13. September 2023, 9:00-16:00 Uhr Ort: Räume der Landeszentrale für politische Bildung, Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin Veranstalter: ufuq.de Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per E-Mail möglich bis zum 11. September
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten von ufuq
Radikalisierung als Bewältigungsstrategie. Prävention zwischen struktureller und individueller Ebene
20. bis 21. September 2023, Frankfurt am Main
Inwiefern kann Radikalisierung beziehungsweise die Hinwendung zu extremistischen Ideologien und Gruppierungen auch als mögliche Bewältigungsstrategie angesichts struktureller gesamtgesellschaftlicher Problemlagen verstanden werden? Welche Implikationen ergeben sich hieraus für die Ausrichtung von Präventionsstrategien und -ansätzen? Welche stigmatisierenden Effekte birgt die Arbeit der Islamismusprävention? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Fachtag. Die Veranstaltung richtet sich an Fachkräfte und Interessierte.
Termin: 20. bis 21. September 2023 Ort: Frankfurt am Main Veranstalter: Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) Anmeldung: Externer Link: online bis 1. September möglich
Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von BAG RelEx
Fortbildung: Gaming als Chance für die Prävention
28. bis 29. September 2023, Berlin
Wie lässt sich Gaming für die Präventionsarbeit nutzen und wie können Jugendliche darüber erreicht werden? Die Fortbildung beschäftigt sich mit diesen Fragen und zeigt auf, wie Menschenrechte, demokratische Haltungen und Medienkompetenz in diesem Bereich vermittelt werden können. Mit Hilfe des Spiels „Adamara“, das cultures interactive e. V. entwickelt hat, sollen die Teilnehmenden lernen, wie Jugendliche eigene Handlungsoptionen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Lebenserfahrungen im Spiel verarbeiten können. Ziel ist es, ein Verständnis für die Gaming-spezifischen Anforderungen in der Präventionspraxis zu gewinnen. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte aus der Jugend- und Sozialarbeit sowie der politischen Bildung.
Termin: 28. bis 29. September 2023 Ort: Tagen am Ufer, Ratiborstraße 14, 10999 Berlin-Kreuzberg Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen zum Projekt auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V.
Oktober
Fortbildung: Mädchen*spezifische Prävention im islamisch begründeten Extremismus
4. und 18. Oktober 2023, Berlin
Wie prägen Gendervorstellungen den islamisch begründeten Extremismus? Welche Chancen bieten mädchen*spezifische Präventionsansätze? Und wie sehen erfolgreiche Strategien aus für den Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen*? Diese Fragen stehen im Fokus der zweitägigen Fortbildung für Fachkräfte der Jugendarbeit in Berlin. Neben interaktiven Elementen werden auf der Veranstlatung aktuelle Forschungsergebnisse zu Mädchen* im Salafismus vorgestellt. Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden, welche erfolgreichen Strategien es im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Mädchen gibt.
Termin: 4. und 18. Oktober 2023, jeweils von 17:00 – 20:00 Uhr Ort: Berlin Veranstalter: cultures interactive e. V. Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von cultures interactive e. V.
Fachtag: Jugendlich, digital, radikal? Islamismus im Netz zwischen Subkultur und Popkultur
19. Oktober 2023, Berlin
Bei diesem Fachtag im Rahmen des Projekts „Islam-ist“ geht es um die Frage, wie islamistische Akteur:innen digitale Räume nutzen, um junge Menschen zu beeinflussen und zu mobilisieren. Thematisch wird das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Anpassung sowie radikaler Narrative und Verharmlosung ideologisierter Weltbilder bearbeitet. Ziel ist es, konkrete Konsequenzen für die Arbeit von Fachkräften herauszuarbeiten, um unterschiedlichen Ansprachestrategien zu begegnen, ohne dass junge Muslim:innen stigmatisiert werden. Der Fachtag teilt sich in Impulsvorträge, Workshops und Panels auf und lädt zum gemeinsamen Austausch ein.
Termin: 19. Oktober 2023, 9:30 – 17:30 Uhr Ort: Berlin, Alt-Reinickendorf Veranstalter: Violence Prevention Network (VPN) Kosten: kostenfrei Anmeldung: Externer Link: online möglich
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten von VPN
November
Workshop: Extremistinnen und Terroristinnen. Rollen, Funktion und Bedeutung von Frauen in Extremismus und Terrorismus
9. bis 10. November 2023, Berlin
Welche Faktoren motivieren Frauen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen? Welche Funktionen und Rollen nehmen Frauen in den verschiedenen Phänomenbereichen ein? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der zweitägige Workshop der Hochschule Fresenius. Die Veranstaltung richtet sich an Nachwuchswissenschaftler:innen des Themenfelds Extremismus und soll einen Rahmen schaffen, um eigene Forschungsprojekte mit Expert:innen zu besprechen. Hierfür sind die Teilnehmenden dazu eingeladen, eigene Abstracts einzureichen und bei Interesse einen Vortrag zu halten.
Termin: 9. bis 10. November 2023 Ort: Berlin Veranstalter: Hochschule Fresenius Kosten: kostenfrei Anmeldung: E-Mail Link: per Mail möglich
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung auf den Externer Link: Seiten der Hochschule Fresenius
Weiterbildung: MasterClass "Präventionsfeld Islamismus" für Masterstudierende, Absolventinnen und Absolventen
November 2023 bis November 2024, Berlin/Köln/Erfurt und online
Wie bedingen gesellschaftliche Konflikte Veränderungen innerhalb der islamistischen Szene? Welche Strategien, Inhalte und islamistischen Gruppierungen sind für die Präventionsarbeit in Deutschland relevant? Und wie gelingt der Berufseinstieg in dieses Arbeitsfeld? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die MasterClass der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Veranstaltung richtet sich an Masterstudierende sowie Absolventinnen und Absolventen mit Interesse an einer beruflichen Tätigkeit in der Islamismusprävention. In fünf Modulen erhalten sie einen Einblick in Theorien, Methoden und Praxis der Präventionsarbeit. Die Umsetzung der Module findet in Präsenz an verschiedenen Orten in Deutschland und online statt.
Termin: 17. November 2023 bis 8. November 2024, insgesamt fünf Module Ort: Berlin/Köln/Erfurt und online Veranstalter: Bundeszentrale für politische Bildung Kosten: 150 Euro Teilnahmegebühr. Reisekosten, Hotelkosten und Verpflegung werden übernommen. Bewerbung: Externer Link: online möglich bis zum 7. August. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist findet eine Auswahl der Teilnehmenden durch die bpb statt. Die Teilnehmendenzahl ist auf 25 Personen begrenzt.
Weitere Informationen zur MasterClass auf den Interner Link: Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung
Dezember
Hochschulzertifikat: Extremismus und Radikalisierung. Handlungskompetenz für die Bildungsarbeit mit jungen Menschen
1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024, online
Wie können pädagogische Fachkräfte souverän reagieren, wenn sich junge Menschen demokratiefeindlich äußern? Wie kann man erkennen, ob jemand nur provozieren möchte oder tatsächlich eine extremistische Haltung entwickelt hat? Die sechstägige Online-Weiterbildung soll Pädagog:innen dazu befähigen, eine Radikalisierung zu erkennen und präventive Maßnahmen einzuleiten. Das Kontaktstudium besteht aus einer Verknüpfung von Theorie und Praxisbeispielen und bietet die Möglichkeit, sich mit Expert:innen aus verschiedenen Fachbereichen auszutauschen.
Die Weiterbildung richtet sich an Pädagog:innen, die mit jungen Menschen arbeiten. Sie findet an folgenden Terminen statt:
Freitag, 1. Dezember 2023, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 2. Dezember 2023, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 19. Januar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 20. Januar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr Freitag, 23. Februar 2024, 16:30 – 20:00 Uhr Samstag, 24. Februar 2024, 10:00 – 17:00 Uhr
Termin: 1. Dezember 2023 bis 24. Februar 2024 Ort: online Veranstalter: Pädagogische Hochschule Heidelberg Kosten: 490 Euro Anmeldung: Externer Link: online bis zum 15. Oktober möglich
Weitere Informationen auf den Externer Link: Seiten der pädagogischen Hochschule Heidelberg
Februar 2024
Save the Date: MOTRA-K Jahreskonferenz 2024
28. und 29. Februar 2024, Wiesbaden
Auch im nächsten Jahr veranstaltet MOTRA wieder eine Jahreskonferenz. MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungsverbund im Kontext der zivilen Sicherheitsforschung.
Im Mittelpunkt der Konferenz steht der disziplinübergreifende Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis zum aktuellen Radikalisierungsgeschehen in Deutschland. Dazu bietet die Veranstaltung ein vielfältiges Programm aus Beiträgen der Radikalisierungsforschung und Präventionspraxis zu einem jährlich wechselnden Schwerpunktthema. Fachkräfte sind dazu eingeladen, Forschungs- und Praxisprojekte zu diesem Thema einzureichen und auf der Konferenz zu präsentieren.
Der entsprechende Call for Papers sowie Informationen zum Schwerpunktthema und den Bewerbungs-, Teilnahme- und Anmeldemöglichkeiten werden in Kürze veröffentlicht.
Termin: 28. und 29. Februar 2024 Ort: Wiesbaden Veranstalter: Verbundprojekt MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung)
Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung werden auf den Externer Link: Seiten von MOTRA bekannt gegeben.
Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite
Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail. Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement
Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.
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1 | Reform des Straßenverkehrsgesetzes: Runter von der Autospur
Das Bundeskabinett will eine Reform des Straßenverkehrsgesetzes beschließen. Umweltverbände vermissen aber noch konkrete Schritte.
Mehr Platz für Radler:innen, weniger für Autofahrende: Das könnte die Reform des StVG bewirken Foto: Karsten Thielker
Freiburg will eine soziale Verkehrswende: Wie viel Geld Bürger:innen für ihren Anwohnerparkausweis zahlen, soll von deren Einkommen abhängen. Das ist ein neuer Ansatz. Doch innovativ dürfen Kommunen bei ihrer Verkehrspolitik nach derzeitiger Rechtslage nicht sein. Die Richter:innen des Bundesverwaltungsgerichts kassierten die Idee. „Eine Bemessung der Gebühren nach sozialen Zwecken hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen“, urteilten sie.
Ob neue Rad- oder Fußgänger:innenwege, verkehrsberuhigte Zonen, Tempo 30 oder Parkgebühren – bislang haben die Kommunen kaum einen Spielraum, ihre öffentlichen Räume umzugestalten und Autos zurückzudrängen. Die derzeitige Gesetzeslage sichert die Privilegien der Autofahrenden in den Kommunen. „Im Zweifel fahren Autos überall 50 und parken, wo sie wollen“, fasst der Jurist Roman Ringwald die Rechtslage zusammen.
Er berät Kommunen in Fragen der Verkehrswende. Wollen Städte und Gemeinden Tempo-30-Zonen einrichten oder Parkgebühren erheben, müssen sie nachweisen, dass das wirklich nötig ist. Das kostet Zeit und Geld. Verzichten sie darauf, riskieren sie eine Klage, etwa von Anwohner:innen.
Das soll sich ändern. Am Mittwoch will das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) verabschieden, der die Möglichkeit eröffnet, dass Kommunen sehr viel größere Spielräume bekommen. Die vorgesehene Änderung wirkt unscheinbar, hat aber weitreichende Folgen. Im Straßengesetz soll es eine Veränderung geben: Derzeit wird dort allein die Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs als Ziel bezeichnet – wobei damit im allgemeinen Autoverkehr gemeint ist. Neu hinzukommen als weitere Ziele sind der Klima- und Umweltschutz, die Gesundheit und die städtebauliche Entwicklung.
Entscheidend ist die StVO
Die Änderung des Straßengesetzes ist im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP vereinbart worden. Am vergangenen Donnerstag verschickte das Bundesverkehrsministerium den Gesetzentwurf an Verbände zur Stellungnahme. Am Mittwoch soll das Gesetz ins Bundeskabinett.
Hat der Bundestag das Gesetz verabschiedet, kann aber noch nicht von einem Ende die Rede sein: Entscheidend ist, dass im Anschluss die Straßenverkehrsordnung (StVO) angepasst wird. Denn die Privilegien für den Autoverkehr sind hier verankert. Besonders Paragraf 45 ist reformbedürftig. Dort ist festgeschrieben, dass Beschränkungen und Verbote für den Autoverkehr nur erlaubt sind, „wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht“.
Gerade die Anforderung, diese Gefahrenlage nachzuweisen, macht Änderungen für Kommunen so schwer, dass sie es oft lieber lassen. Teilweise ist es ihnen auch kaum möglich, die bislang geforderten Nachweise zu erbringen. Bevor etwa eine Bus- oder Radspur eingerichtet werden darf, muss eine bestimmte Nutzung nachgewiesen werden – aber die Nachfrage kommt erst in Gang, wenn die Spur da ist.
Kommunen können heute auch keine speziellen Regeln für E-Autos oder Carsharing erlassen, um Anreize für ihre Nutzung zu schaffen. „Wir warten auf die Novelle“, sagt Thomas Kiel d’Aragon, Verkehrsreferent des Deutschen Städtetags. Allerdings sehen die Kommunen auch Nachbesserungsbedarf. Sie wollen eine Erprobungsklausel. „Unser Wunsch ist, dass wir in die Innovation kommen, damit wir in Änderungsprozesse kommen, die uns voranbringen“, sagt er.
Deutsche Umwelthilfe spricht von Nebelkerze
Für die Denkfabrik Agora Verkehrswende ist die Novelle ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. „Sie wird das Beste sein, was wir in dieser Legislaturperiode bekommen“, ist Christian Hochfeld überzeugt, Direktor von Agora Verkehrswende. Mit der Reform der Straßenverkehrsordnung könne ein Paradigmenwechsel eingeleitet und ein Modernisierungsschub im städtischen Verkehr ausgelöst werden.
Nicht alle teilen diese Einschätzung. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) sieht in der Novellierung den „Versuch der Festschreibung des Primats einer autofreundlichen Stadt“ und spricht von einer „Nebelkerze“. „Eine wirkliche Reform des Straßenverkehrsgesetzes ist nicht vorgesehen“, sagt Geschäftsführer Jürgen Resch. Die Organisation kritisiert, dass das Gesetz selbst keine konkreten Schritte und eben keine Änderung der Straßenverkehrsordnung vorsieht – obwohl das nach Auffassung der DUH durch eine kleine Änderung in der Novelle möglich wäre. „Wir brauchen auch für die kostendeckende und den ÖPNV mitfinanzierende Parkraumbewirtschaftung mehr Rechte für die Stadt“, fordert Resch. „Und auch die Umwidmung von Straßenflächen in geschützte Radwege und Busspuren muss bereits im Straßenverkehrsgesetz geregelt werden.“
Die Verband Changing Cities ist gnädiger. Er sieht „viel Gutes, aber wenig Konkretes“ in dem Entwurf. Die Radaktivist:innen ärgert, dass das Ministerium den Verbänden nur 24 Stunden Zeit für eine Stellungnahme gegeben hat. „Zivilgesellschaftliche Beteiligung nur über ein so kurzes Zeitfenster zu ermöglichen, lässt mutmaßen, dass eine wirkliche demokratische Beteiligung vom Ministerium gar nicht erwünscht ist oder nicht priorisiert wird“, heißt es in einer Stellungnahme.
Allerdings müssen Kommunen Handlungsspielräume auch nutzen wollen. Das ist keineswegs überall der Fall. In Berlin etwa will die neue Regierung aus CDU und SPD zurückdrehen, was die rot-rot-grüne Koalition an Verbesserungen für Radler:innen auf den Weg gebracht hat. Die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) hat geplante Radwegprojekte auf Eis gelegt. Sie will Projekte kippen, wenn nur ein einziger Parkplatz dafür weichen muss. | 234,802 |
1 | Der erste Fall in Italien wurde in Codogno in der Lombardei am 21. Februar positiv getestet. Allerdings konnte ein Forscherteam in Abwasserproben den Erreger Sars-CoV-2 bereits im Dezember in Mailand und Turin nachweisen, so dass das Virus schon viel eher in Italien angekommen sein muss.
Die italienische Regierung hat Anfang März den Notstand ausgerufen und am 9. März einen Lockdown verordnet. Zwei Monate später, am 4. Mai, begannen die ersten Lockerungen, heute sind die Maßnahmen weitgehend aufgehoben. Es gilt weiterhin Maskenpflicht in geschlossenen Räumen, Sicherheitsabstand und das Verbot von Massenveranstaltungen. Seit Anfang Juni sind die Grenzen wieder geöffnet, während die Schulen weiterhin geschlossen bleiben und erst nach der Sommerpause im September öffnen sollen.
Zur Bekämpfung neuer Infektionswellen hat Italien Anfang Juni eine Corona-Tracing-App namens Immuni verfügbar gemacht. Doch bisher haben nach Angaben von Innovationsministerin Paola Pisano nur acht Prozent der Smartphone-Nutzer die App auf ihren Handys installiert. Von Datenschützern wird Immuni als vorbildlich eingestuft, aber in den sozialen Medien wurde Kritik laut an Klischees im Design der App, die Frauen als Kinderbetreuerinnen mit Pflanze zeigte, während Männer am Computer arbeiteten. Nachdem sich auch einzelne Abgeordnete der Kritik anschlossen wurde dies zwar korrigiert, aber die App bleibt wenig beliebt. Die Italiener fürchten auch, dass ihnen eine App wenig nützt, solange das Gesundheitssystem weiterhin schlecht gerüstet ist.
Italiens Wirtschaft hatte schon geschwächelt, bevor die Corona-Krise das Land traf. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ist mit 135 Prozent des eigenen Bruttoinlandsprodukts (BIP) verschuldet. Italiens Statistikamt Istat geht im Jahr 2020 von einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 8,3 Prozent aus. Am meisten betroffen ist die Tourismusbranche. Im vergangenen Jahr beschäftigte der Tourismus laut der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore 4,2 Millionen Menschen und erwirtschaftete 13,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nun bleiben Italiens meist besuchte Städte wie Rom, Florenz und Venedig aber trotz der Aufhebung der Einreisebeschränkungen leer.
Italien hat sich von Beginn der Krise an zusammen mit anderen stark betroffenen Ländern dafür eingesetzt, dass die EU ihre Mitglieder nicht nur mit Krediten wie bisher, sondern durch eine echte, zumindest partielle, Vergemeinschaftung der Schulden unterstützt. Die Bedenken der wirtschaftlich bessergestellten Länder wie Deutschland, Dänemark und die Niederlande vor allem am Anfang der Krise machte viele Menschen in Italien wütend, was sich im Zuge der Pläne für den Wiederaufbaufonds inzwischen jedoch gelegt hat. Allerdings besteht die Sorge, dass die angekündigten Hilfen, sowie auch der nationale Wiederaufbauplan zu spät kommen, um die italienische Wirtschaft zu retten. In jedem Fall will Italien es vermeiden, Geld aus dem Rettungsschirm ESM anzunehmen. | 234,803 |
0 | Backofen auf 60 Grad vorheizen. Teller und Platte vorwärmen.Das Olivenöl in der Bratpfanne erhitzen, Fleisch darin unter Wenden 2-3 Min. anbraten, dann mit Salz und Pfeffer würzen 1 TL Mehl darüber stäuben, aus der Pfanne nehmen und zugedeckt warmstellen.Die Pfanne mit Haushaltspapier ein wenig abtupfen. Die Speckwürfeli darin leicht anbraten, die gehackte Zwiebel und den Knoblauch beigeben und alles kurz anbraten. Die geschälte und gewürfelte Tomate und den Portwein beigeben, zugedeckt alles leicht einkochen lassen. Die Kräuter beigeben und mit der Bratensauce ablöschen, mit Salz, Pfeffer und etwas Paprika abschmecken. Kurz aufkochen und nachher das Fleisch in die Sauce geben, etwa 5 Minuten darin erwärmen und sofort servieren.Dazu passen Wildreis oder Risotto und ein gemischter Salat. | 234,804 |
0 | Colourbox.de/Facebook/StudiVZ/TOMORROW FOCUS AG
FOCUS-online-Autor Torsten Kleinz
Mittwoch, 09.09.2015, 17:39
Kampf der sozialen Netzwerke: Das Kölner Landgericht hat eine Klage von Facebook gegen das deutsche Netzwerk StudiVZ abgelehnt – trotz erheblicher Ähnlichkeit der Seiten.
Am Dienstag hat das Landgericht Köln die mit Spannung erwartete Entscheidung im Streit zwischen Facebook und StudiVZ verkündet: Zwar sehen die Richter erhebliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Angeboten. Einen wettbewerbsrechtlichen Anspruch gegen den deutschen Konkurrenten konnte der US-Marktführer Facebook jedoch nicht durchsetzen. Das kalifornische Unternehmen ist seit vergangenem Jahr selbst in Deutschland tätig und geht seitdem gegen den Platzhirsch unter den deutschen Netzwerken vor.
Aus Blau wurde Rot
Grund der Klage: Als StudiVZ in Deutschland startete, glich das Angebot dem großen US-Vorbild wie ein Ei dem anderen. Lediglich Details waren anders: Das Facebook-Blau wurde durch Rot ersetzt, die bei Facebook beliebte Funktion „Poke“ hieß bei den Deutschen „Gruscheln“.
Nicht nur Layout und Funktionsumfang der Angebote war fast identisch, im Quelltext und in Fehlermeldungen der StudiVZ-Seite fanden sich mehrere Bezeichnungen. Sie legten nahe, dass sich die Deutschen von dem US-Angebot nicht nur inspirieren ließen.
Facebook noch völlig unbekannt
Die Richter der 33. Zivilkammer des Landgerichts Köln lehnten dennoch die im November angestrengte Unterlassungsklage der Kalifornier ab. Facebook wollte StudiVZ eine weitere Verwendung der Oberfläche untersagen. Grund der Ablehnung: Als StudiVZ im November 2005 in Deutschland startete, war das US-Angebot hierzulande noch völlig unbekannt. Nur US-Studenten durften sich damals bei Facebook registrieren.
Damit falle der Tatbestand der „Herkunftstäuschung“ weg. Da deutsche Studenten Facebook nicht kannten, könne StudiVZ auch nicht auf die Verwechslung der beiden Angebote spekuliert haben.
Seite nachprogrammiert?
Auch den Diebstahl von Quelltexten konnte Facebook nicht beweisen: Die Klägerin habe „lediglich Vermutungen angestellt, die nicht ausreichend seien, um der Beklagten unredliche Kenntniserlangung vorzuwerfen“, entschied das Landgericht. Obwohl die zuständigen Richter „nicht zu übersehende Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten der beiden Internetseiten“ feststellten, lehnten sie es ab, den Quelltext beider Seiten von einem Sachverständigen auf unerlaubte Plagiate prüfen zu lassen.
Die Übereinstimmungen könnten auch darauf beruhen, dass die Gründer von StudiVZ Facebook kannten. Die Webseite könnte dann mithilfe der im Internet für jedermann sichtbaren Informationen in Anlehnung an die Seite nachprogrammiert worden sein.
StudiVZ-Geschäftsführer Markus Berger-de León zeigt sich im Gespräch mit FOCUS Online durch die Kölner Entscheidung sehr erfreut. „Die Richter haben durch die vollumfängliche Ablehnung der Facebook-Klage ein deutliches Zeichen gegeben“, erklärt der Manager gegenüber FOCUS Online. Eine eigene Feststellungsklage, die das Unternehmen gegen den US-Konkurrenten beim Landgericht Stuttgart eingereicht habe, sei dadurch fast nichtig geworden.
Die Ähnlichkeit der beiden Angebote im Jahr 2005 erklärt Berger-de León, der seit Anfang diesen Jahres StudiVZ leitet, durch die allgemeine technische Entwicklung im Internet: „Bei der Gestaltung von Webseiten haben sich an ganz vielen Stellen Standards entwickelt: Wie man die Navigation einer Webseite gestaltet und welche Funktionen zu einem sozialen Netzwerk gehören, ist heute schon fast ein Industriestandard.“
Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Facebook kann noch einen Monat lang Berufung gegen das Urteil einlegen. Das Kölner Verfahren ist nicht der einzige Prozess, den das US-Unternehmen führt – auch in Kalifornien hatte das Unternehmen StudiVZ verklagt. Eine Entscheidung hier steht noch aus. | 234,805 |
1 | Kommunal-Stichwahlen in NRW: Keine echten Verlierer
Bei den OB-Stichwahlen in NRW gab es für SPD und CDU zwar Erfolge, beide müssen auch Niederlagen einstecken. Mögliche Gewinner sind am ehesten die Grünen.
Die Industriestadt wird grün: Uwe Schneidewind hat die OB-Stichwahl in Wuppertal gewonnen Foto: dpa
DÜSSELDORF dpa | Nach den Oberbürgermeister-Stichwahlen am Sonntag wollen die Parteien am Montag über die Ergebnisse beraten. Achim Post, Chef der NRW-Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion, empfahl der NRW-SPD, die richtigen Lehren zu ziehen. „Klar ist: Mit Blick auf die Bundestagswahl in 2021 und die Landtagswahl in 2022 müssen und können wir uns noch deutlich steigern“, teilte er mit. „Meine feste Überzeugung ist: Wenn die SPD in Nordrhein-Westfalen klar und geschlossen auftritt, haben wir unverändert das Potenzial und die politische Durchschlagskraft, um auch landesweit Wahlen zu gewinnen.“
Der SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans sagte der Rheinischen Post: „Wir freuen uns riesig mit Thomas Westphal, der Dortmund gegen einen CDU-Kandidaten verteidigt hat. Bitter sind dagegen zweifellos die Wahlausgänge in Düsseldorf und Wuppertal.“
Bestätigt fühlen können sich die Grünen. Sie eroberten erstmals die Spitzenposten in den Rathäusern von Bonn, Aachen und Wuppertal. Die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock twitterte: „Was für grandiose Ergebnisse aus NRW!“
Nach Ansicht von Norbert Röttgen, Kandidat für den CDU-Vorsitz, ist erkennbar, dass der Kampf um die Mitte gerade in den großen Städten entscheidend für Siege und Verluste ist. „Dieser Kampf wird mittlerweile zwischen der CDU und den Grünen ausgetragen“, sagte Röttgen der Rheinischen Post. „Wir müssen daraus für die Bundestagswahl lernen, weil wir die größten Überschneidungen der Wählerschaft mit den Grünen haben.“ Für die Bundestagswahl müsse die CDU „nicht grüner als die Grünen werden, aber besser“.
Die Ergebnisse im Überblick
CDU und SPD haben bei den Oberbürgermeister-Stichwahlen in Nordrhein-Westfalen sowohl Siege als auch Niederlagen verbucht – die großen Gewinner sind jedoch die Grünen. Sie eroberten erstmals die Spitzenposten in den Rathäusern von Bonn, Aachen und Wuppertal. In Köln behauptete sich die von Grünen und CDU unterstützte parteilose Politikerin Henriette Reker. Nach Auszählung aller Stimmen stand die 63-Jährige bei 59,3 Prozent, ihr SPD-Herausforderer Andreas Kossiski kam auf 40,7 Prozent.
Die CDU eroberte das Rathaus in Düsseldorf zurück und stellt nun erstmals wieder in der Landeshauptstadt eines großen deutschen Flächenlandes den Oberbürgermeister. Neuer Oberbürgermeister von Düsseldorf wird der bisherige Stadtdirektor von Köln, Stephan Keller. Er gewann die Stichwahl gegen Amtsinhaber Thomas Geisel von der SPD. Geisel gestand seine Niederlage ein und beglückwünschte seinen Herausforderer.
Sechs Jahre nach der Übernahme durch die SPD kommt das Oberbürgermeister-Amt in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt damit wieder in CDU-Hand. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte, die Düsseldorfer und Stephan Keller hätten die „Ehre der CDU“ gerettet: „Wir können auch in großen Städten gewinnen.“ CDU-Kandidaten gewannen auch in Münster, Oberhausen und Mülheim an der Ruhr.
Während die SPD in Düsseldorf, aber auch in Mülheim an der Ruhr den Spitzenposten an die CDU verlor, konnte sie andernorts Erfolge verbuchen. In Hamm löste der SPD-Politiker Marc Herter (46) den langjährigen CDU-Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann (CDU) ab. In der aktuell besonders vom Coronavirus betroffenen Stadt kam der 67 Jahre alte Amtsinhaber nur auf 36,4 Prozent der Stimmen.
Dortmund bleibt rot
Auch in der einstigen CDU-Hochburg Mönchengladbach am Niederrhein gelang der SPD ein Überraschungserfolg: Es siegte der erst 31 Jahre alte Felix Heinrichs mit 74 Prozent gegen seinen CDU-Konkurrenten Frank Boss. In Krefeld und Bielefeld verteidigte die SPD das Spitzenamt im Rathaus.
Am wichtigsten für die Sozialdemokraten war aber die Verteidigung der größten Ruhrgebietsstadt Dortmund: Thomas Westphal gewann dort mit 52 Prozent der Stimmen das symbolträchtige Duell um den Chefposten gegen seinen CDU-Kontrahenten Andreas Hollstein, bisher Bürgermeister von Altena. Seit 1946 hat die SPD in Dortmund ununterbrochen den Oberbürgermeister gestellt. SPD-Landeschef Sebastian Hartmann sagte, die Ergebnisse seien insgesamt „durchmischt“.
Die Grünen hatten am meisten Grund zum Feiern. So setzte sich in Bonn die grüne Bundestagsabgeordnete Katja Dörner überraschend mit 56,3 Prozent gegen den bisherigen Amtsinhaber Ashok-Alexander Sridharan (CDU) durch, der auf 43,7 Prozent kam. In Aachen – der Heimatstadt von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) – ließ die Kandidatin der Grünen, Sibylle Keupen, mit 67,4 Prozent der Stimmen ihren CDU-Konkurrenten Harald Baal weit hinter sich.
Die Geschicke der Industriestadt Wuppertal werden künftig von einem grünen Wirtschaftsprofessor gelenkt. Uwe Schneidewind (54), langjähriger Chef des renommierten Wuppertaler Instituts für Klima, Energie und Umwelt, gewann in einem spannenden Kopf-an-Kopf-Rennen gegen Amtsinhaber Andreas Mucke (SPD).
Stichwahlen der beiden Bestplatzierten gab es am Sonntag in Nordrhein-Westfalen überall dort, wo im ersten Durchgang am 13. September keiner der Kandidaten mehr als die Hälfte der Stimmen holte. Im bevölkerungsreichsten Bundesland hatte die CDU den ersten Wahlgang vor zwei Wochen klar gewonnen. Die SPD blieb trotz hoher Verluste zweitstärkste Kraft. Die Grünen verzeichneten im ersten Durchgang ihr bestes Ergebnis bei einer NRW-Kommunalwahl. | 234,806 |
1 | EU-Austritt Großbritanniens: So geht es mit dem Brexit weiter
Noch immer gibt es keine klare Richtung, wie der Brexit ablaufen soll. Ein Knackpunkt ist Nordirland, mit dem Zollkontrollen verhindert werden sollen.
Steht im Spannungsfeld vieler Interessen was den Brexit angeht: Theresa May Foto: dpa
BERLIN taz | Nach dem konservativen Parteitag gehen die Brexit-Gespräche zwischen Großbritannien und der EU weiter. Bis zum nächsten EU-Gipfel am 18./19. Oktober soll zumindest klar sein, ob eine Einigung in Sicht ist. Die war in weite Ferne gerückt, nachdem der informelle EU-Gipfel von Salzburg am 13. September dem Brexit-Konzept der britischen Premierministerin Theresa May eine Abfuhr erteilt hatte.
Das Dilemma: Mays Konzept, den „Chequers Plan“, gibt es nur, um der EU bei der zukünftigen EU-Außengrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland entgegenzukommen. Da Großbritannien mit dem Brexit auch den Binnenmarkt und die EU-Zollunion verlässt, wird diese Grenze zur Zollgrenze – neue Grenzkontrollen wollen aber alle vermeiden.
Die EU will Nordirland deswegen in der EU-Zollunion behalten können. Zollkontrollen gäbe es dann zwischen Nordirland und Großbritannien. Eine innerbritische Zollgrenze aber ist für London inakzeptabel.
Mays „Chequers Plan“ von Juli sah daher vor, dass Großbritannien weiterhin den Regelwerken des europäischen Binnenmarkts für den Güterverkehr folgt. Das würde neue Kontrollen auf der irischen Insel überflüssig machen – an der Personenfreizügigkeit wird dort ohnehin nicht gerüttelt. Großbritannien würde für Importe aus Drittländern, die in die EU weiterfließen, EU-Zölle erheben und diese weiterleiten.
Unfairer Wettbewerbsvorteil für Großbritannien?
Die EU hält das für nicht pratikabel und sieht in einem selektiven Verbleib im Binnenmarkt einen unfairen Wettbewerbsvorteil für Großbritannien. Auch May-Kritiker um Boris Johnson lehnen den „Chequers Plan“ ab, da sich Großbritannien damit weiter Teilen des EU-Regelwerks beugen müsste. Sie wünschen ein Freihandelsabkommen mit der EU nach dem Ceta-Vorbild mit Kanada – „Canada plus“, wie sie das nennen: zollfreier Warenverkehr, dazu gegenseitige Anerkennung von Regeln im Dienstleistungsbereich. Die innerirische Grenze bliebe in Abwesenheit von Zöllen kontrollfrei.
Eine Brexit-Vereinbarung, die weder auf der irischen Insel noch zwischen Nordirland und Großbritannien neue Zollgrenzen errichtet – das ist jetzt die große Herausforderung. Großbritannien könnte komplett in der EU-Zollunion verbleiben – oder die Gespräche platzen lassen und einseitig Freihandel ausrufen. Beide Optionen aber würden die Konservativen zerreißen.
In Mays Rede fiel das Reizwort „Chequers“ kein einziges Mal, stattdessen bekannte sie sich zu einem „Freihandelsabkommen“ – ob das ein Kurswechel ist, wird man sehen. Nordirland steht im Zentrum der kommenden Gespräche.
Fortschritte könnten im November auf einem Sondergipfel festgezurrt werden. Erwartet wird dann noch kein endgültiges Abkommen über die zukünftigen Beziehungen, sondern eine Absichtserklärung als Teil der Austrittsvereinbarung. Diese würde eine Übergangsfrist bis Ende 2020 festlegen, in der die Details geklärt werden. Ohne Austrittsvereinbarung käme der Brexit am 29. März 2019 trotzdem – ein „No Deal“-Brexit. Das wäre „hart“, sagte May, aber „wir fürchten uns davor nicht“. | 234,807 |
0 | »Und -- das macht mich traurig, unendlich traurig. Ich weiß, daß ich Sie
nicht heiraten kann, ich weiß, es würde mich meine Kunst kosten. Das
kann kein Fremder verstehen -- Sie werden es verstehen, meine liebe,
liebe Erika. Nur ein Künstler kann das verstehen, und Sie haben eine
reiche, unendlich reiche Künstlerseele. Und Sie sind auch klug. Wir
können nicht mehr weiter so zusammen verkehren .... es muß ein Ende
gemacht werden...« | 234,808 |
1 | Proteste in Jordanien: Es riecht nach Revolution
Seit zwei Tagen gehen in Jordanien Tausende auf die Straße. „Brot, Freiheit, Gleichheit“ rufen sie wütend und tanzen gegen den König.
Viele Jordanier fürchten den Winter – die Preise für Heizstoffe stiegen über Nacht um bis zu 50 Prozent. Bild: dpa
AMMAN taz | Nirgendwo in Jordanien wird die Lücke zwischen Politik und Volk deutlicher als auf der Königin-Alia-Straße. Während die ersten Demonstranten auf den Dakhlieh-Platz strömen, dem Verkehrsknotenpunkt der Hauptstadt Amman, steigen einige hundert Meter weiter Irhal Khareibe und Mohammed Daoudieh in ihre Staatskarossen.
Zwei Stunden lang haben der Vordenker der jordanischen Muslimbrüder und der Exminister über das Für und Wider der anstehenden Wahlen sinniert, ohne mit einem Wort die ökonomische Krise zu erwähnen.
Am frühen Dienstagabend hatte die Regierung angekündigt, die Subventionen auf Benzin, Kerosin, Diesel und Gas abzuschaffen. Die Entscheidung soll den finanziellen Druck von dem Königreich nehmen, das durch steigende Gaszahlungen an Ägypten und ausbleibende Fördergelder aus Saudi-Arabien in Bedrängnis geraten ist. Der Subventionsschnitt war in Jordanien mit Schrecken erwartet worden, geht er doch zu Lasten der Bevölkerung. Und das kurz vor Winterbeginn.
„Ich verdiene 350 Dinare im Monat. Wie soll ich mir noch ein Leben leisten?“, fragt Mu’ed Khauadr aufgebracht. Der 30-jährige Lehrer ist aus dem nördlichen Jerash nach Amman gekommen, als er die ersten Fernsehbilder der Demonstration gesehen hat. Al-Dschasira sendet die Nacht live aus der Hauptstadt, es riecht nach Revolution. Mit seinen knapp 390 Euro Gehalt im Monat muss Khauadr nun bei Gaskartuschen für den Haushalt Preissteigerungen von bis zu 55 Prozent hinnehmen. Diesel- und Kerosinpreise stiegen über Nacht um 33 Prozent, Normalbenzin um 15 Prozent.
„Brot, Freiheit, Gleichheit!“ und „Freiheit kommt von Allah, nicht von dir, Abdallah“, skandieren die etwa 3.000 Demonstranten in Ammans Stadtmitte. Landesweit gehen in der Nacht zum Mittwoch in mehr als 100 Orten Menschen auf die Straße. Nicht überall bleibt es so friedlich wie in der Hauptstadt. In den südlichen Provinzen Ma’an und Karak brennen Autos. Im Ammaner Vorort Salt versuchen mehrere hundert Menschen zum Haus von Premierminister Abdullah Ensour vorzudringen. Und das soll erst der Anfang sein: Am Mittwoch treten mehrere Berufsgruppen in Streik, Schulen bleiben geschlossen, weitere Proteste sind für die Abendstunden angekündigt.
Spontan auf der Straße
„Niemand hat zu den Protesten aufgerufen. Die Menschen sind spontan auf die Straße gegangen – das ist das Besondere“, sagt Politikprofessor Hassan Barari. „Das zeigt, wie gering das Vertrauen in den König ist.“ Abdullah II. verkaufe seinen Reformprozess und die anstehenden Wahlen als Jordaniens Erlösung, aber von 150 Sitzen im Parlament sollen Ende Januar nur 27 über Parteilisten gewählt werden. Der Rest sind Direktkandidaten, die darauf aus sind, die Bedürfnisse ihres Stammes zu sichern. Politische Parteien, palästinensische Jordanier – die Mehrheit der Bevölkerung – und Frauen haben das Nachsehen.
Um den Unmut niedrig zu halten, hat das Regime Drohkulissen aufgebaut – ähnlich wie in anderen Krisenstaaten wie Syrien. Im säkularenWesten fürchtet man die Islamisten, während die Ostjordanier den Einfluss der Palästinenser geringhalten wollen. Die Konsequenz ist ein heillos zerstrittenes Parteiensystem, das die Nöte der Bevölkerung aus den Augen verloren hat. „Ich schätze, dass die Muslimbrüder die Mehrheit bekommen würden, gäbe es eine demokratische Wahl“, sagt Barari.
Lehrer Khauadr hat sich nicht für die Wahlen registrieren lassen – wie der Rest seiner Familie. „Es werden doch sowieso nur wieder die gleichen Leute gewählt“, sagt der 30-Jährige. Seine Hoffnung liegt auf Jordaniens Straßen, die langsam aus ihrer Trägheit erwachen. Bis spät in die Nacht tanzen die Menschen in Amman ihre Protest-Dabke, einen traditionellen Kreistanz. Der Text ist eingängig: „Ali Baba“, singen sie und meinen damit natürlich den König, „du bestiehlst uns mit deinen 40 Räubern.“ | 234,809 |
0 | »Stellen Sie mir keine ähnlichen Fragen mehr,« sagte sie. »Vier Jahre
ist's her, da starb an einem ähnlichen Tage der, der mich liebte, der
einzige Mann, für dessen Glück ich alles, ja die Achtung vor mir selbst
geopfert hätte -- er starb, um mir die Ehre zu retten. Diese Liebe
endete jung, rein und in der Fülle ihrer Illusionen. Ehe ich mich einer
Leidenschaft hingab, zu der ein beispielloses Verhängnis mich trieb,
ließ ich mich verführen durch das, was so viele junge Mädchen zugrunde
richtet, durch einen Mann, der eine Null ist, aber ein liebenswürdiges
Auftreten hat. Die Ehe entblätterte meine Hoffnungen eine nach der
andern. Heute habe ich das legitime Glück und auch das Glück, das man
das strafbare nennt, verloren, und das Glück an sich überhaupt nicht
kennen gelernt. Es bleibt nichts mehr für mich übrig. Wenn ich nicht zu
sterben verstanden habe, so muß ich zum mindesten meinen Erinnerungen
treu bleiben.« | 234,810 |
1 | Corona und Protestbewegungen: Von der Straße ins Netz
Auch Demos fallen der Corona-Krise zum Opfer. Aktivisten wie die „Fridays for Future“-Bewegung müssen deshalb improvisieren.
Seebrücke und andere demonstrieren in Berlin im Juli 2019 Foto: Klaus Martin Höfer/imago images
BERLIN taz | Wie demonstrieren, wenn größere Menschenansammlungen wegen der Corona-Krise zu vermeiden sind? Diese Frage stellen sich derzeit viele Protestgruppen und Initiativen, die sonst ihren Widerstand auf die Straße tragen. Deshalb fallen der Epidemie auch viele geplante Demonstrationen zum Opfer – oder sie werden in den digitalen Raum verlegt.
Letzteres haben die Klimaaktivisten von „Fridays for Future“ (FFF) getan. Wegen der Epidemie hat die Gruppe bundesweit ihre Protestaktionen für Freitag abgesagt. Um aber auch in der Viruskrise auf die Klimakrise aufmerksam zu machen, haben die Klimaaktivisten ihren Protest kurzerhand ins Netz verlagert. Unter dem Hashtag #NetzstreikfürsKlima sind die FFF-Anhänger zum digitalen Demonstrieren aufgerufen.
„Heute streiken wir online, ohne Ansteckungsgefahr. Weil eben jede Krise ernst genommen werden muss“, schrieb FFF-Aktivistin Luisa Neubauer auf Twitter. Der digitale Protest funktioniert so: Jeder bastelt sich ein Protestplakat, hängt es gut sichtbar ins Fenster oder an eine Straßenecke und postet sein Werk schließlich in den sozialen Netzwerken.
„Treat every Crisis like a Crisis“, war etwa im Post eines Aktivisten zu lesen – eine Anspielung auf die aktuelle Krisenreaktionen, die sich die Schüler in ähnlicher Weise auch für den Klimaschutz wünschen. Ganz auf den digitalen Protest will die Gruppe aber nicht setzen. Am globalen Klimastreik, der (noch) für den 24. April angesetzt ist, hoffen sie wieder auf die Straße zu können.
Aufrütteln, ohne auf die Straße zu gehen
Auf ihre Straßenaktion verzichten muss auch der Osnabrücker Ableger der Bewegung Seebrücke. Das breite Bündnis zur Flüchtlingsnotrettung hatte für Samstag eine Menschenkette geplant, um auf die humanitäre Notsituation der Flüchtlinge in Griechenland aufmerksam zu machen und gegen die EU-Flüchtlingspolitik zu protestieren. 500 bis 600 Teilnehmer wurden erwartet.
Doch wegen Corona hat das Bündnis die Aktion vorsichtshalber abgesagt. „Das schmerzt, weil die Situation in Griechenland wirklich gravierend ist“, sagt Michael Bünte von der Seebrücke der taz. Anstelle der Menschenkette soll es nun nur eine kleine Mahnwache geben. Bünte befürchtet, dass die desaströse Lage der Flüchtlinge im aktuellen Nachrichtenfluss untergehen könnte.
Um das zu verhindern, setzen er und seine Mitstreiter auch auf andere Mittel. Durch eine Petition zur Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen etwa: „Unsere letzte große Petition war mit 70.000 Unterschriften wirklich erfolgreich.“ Aufrütteln, auch ohne in Scharen auf die Straße zu gehen – für Bünte geht das durchaus.
Auch die Rechten planen wegen der Corona-Krise um. Der nationalistische und flüchtlingsfeindliche Brandenburger Verein „Zukunft Heimat“ etwa hat eine für Samstag geplante Demonstration in Cottbus abgesagt. Dort sollte auch AfD-Rechtaußen Björn Höcke sprechen – Wortführer des frisch vom Verfassungsschutz beobachteten rechtsextremen „Flügels“. | 234,811 |
1 | Einleitung
Das Verhältnis zwischen dem politischen Zentrum und den einzelnen Regionen des Landes ist in Spanien seit der Frühen Neuzeit konfliktbeladen. In der jüngsten Geschichte hat der Wandel von der franquistischen Diktatur (1939-1975) zu einer parlamentarischen Demokratie zuerst zu einer Verschärfung des Problems, dann jedoch zu einer Entspannung geführt; das Ende des Ost-West-Konfliktes und das Wiederaufleben der nationalen Frage in Europa haben allerdings sehr rasch deutlich werden lassen, dass Spanien noch lange mit dem Problem des peripheren Nationalismus wird leben müssen. Heute ist die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen dem (spanischen) Staat, den (verschiedenen) Nationalitäten und den (autonomen) Regionen weiterentwickeln werden, völlig offen.
Ausbruchsversuche aus dem staatlichen Gehäuse Spanien oder zumindest mehr oder minder ausgeprägte Autonomisierungstendenzen hat es in der Geschichte etliche gegeben. Träger derartiger Bewegungen waren vor allem Regionen und ethnische Minderheiten, denen im zentralistisch verwalteten Staat keine oder nicht ausreichende Entfaltungsmöglichkeiten gegeben wurden. In den vergangenen Jahrzehnten haben diese substaatlichen Einheiten dem Nationalstaat klassischer Prägung erhebliche Schwierigkeiten bereitet; sie reklamierten (und reklamieren) für sich das Recht auf eigene Institutionen und Verwaltungskompetenzen. In einigen Fällen bestreiten sie auch den Anspruch des Zentralstaates, ein "Nationalstaat" zu sein: Spanien sei nicht als Willens- oder Kulturnation entstanden, so das Argument, sondern aus der dynastischen Verbindung der beiden Königshäuser Kastilien und Aragonien hervorgegangen. Katalanen und Basken etwa behaupten vielmehr selbstbewusst von sich selbst, eine Nation zu sein, die allerdings (noch) über keinen eigenen Staat verfüge.
Im spanischen Fall gelang es von den peripheren Regionalismen nur den Katalanen und den Basken, den Durchbruch zur politischen Massenbewegung und den Kampf um "nationale" Rechte zu erreichen. Vier Aspekte erklären die (im Vergleich zu anderen Regionen wie Galicien oder Andalusien) unterschiedliche Entwicklung Kataloniens und des Baskenlandes: Erstens ist auf die Diskrepanz zwischen relativer ökonomischer Überentwicklung dieser peripheren Regionen und ihrer politischen Entrechtung hinzuweisen; zweitens verfügen Katalanen und Basken über eigene Sprachen; drittens gab es in diesen Regionen weit in die Geschichte zurückreichende administrativ-politische Strukturen und Institutionen; viertens waren hier die Repressions- und Frustrationsraten besonders, allerdings unterschiedlich intensiv ausgeprägt.
Der Zentralismus des Franco-Regimes traf nicht nur Katalonien und das Baskenland, sondern alle Regionen gleichermaßen, wenn auch die übrigen Landesteile ihre politische Unterordnung deshalb als nicht so gravierend empfanden, weil sie ohnehin über keine Tradition lokaler oder regionaler Selbstverwaltung verfügten. Für das gesamte spanische Staatsterritorium gilt jedoch: Die bürokratische Zentralisierung nahm nach dem Bürgerkrieg (1936-1939) bisher ungekannte Ausmaße an. Diese rigide Verwaltungsstruktur sollte bis zum Tode Francos (1975) im Wesentlichen beibehalten werden. Die Reaktion der Regionen auf den extremen Zentralismus war unterschiedlich: Während sich der größte Teil der Regionen im bürokratischen Verwaltungsautoritarismus des Franquismus einrichtete, gingen Katalonien und das Baskenland Sonderwege. Regionalistischer Widerstand
Im Zuge der politischen und ökonomischen Bestrafung Kataloniens und des Baskenlandes wurde nach dem Bürgerkrieg der wirtschaftliche Einfluss beider Regionen so weit wie möglich eingedämmt, beide Landesteile mussten in Form hoher Steuerabflüsse erhebliche finanzielle Opfer für die Entwicklung des restlichen, weit weniger industrialisierten Spanien erbringen. Trotz massiver Behinderungen entwickelten sich beide Regionen ökonomisch erfolgreich. In der baskischen Provinz Guipúzcoa erfolgte die eigentliche Industrialisierung sogar erst jetzt, in den 1950er und 1960er Jahren. Dabei handelte es sich hauptsächlich um kleine und mittlere Betriebe, die sich zum größten Teil im Hinterland der Provinz ansiedelten, somit in einer Region, die mit Einzelgehöften, dörflichen Gemeinschaften und stark verwurzeltem Katholizismus noch stark traditionell geprägt war. Auch die Provinzen Alava und Navarra wurden industrialisiert. Die Industrialisierung löste einen gewaltigen strukturellen Wandel aus: Viele neue Industriebetriebe siedelten sich im Hinterland Guipúzcoas, vor allem in der Goierri-Gegend, an.
Eine ähnliche Entwicklung wie das Baskenland durchlief Katalonien nach dem Bürgerkrieg; auch hier kann von einer erneuten Phase beschleunigter Industrialisierung gesprochen werden. Die Zahl der im landwirtschaftlichen Sektor Beschäftigten schrumpfte, der schnell expandierende tertiäre Sektor nahm laufend neue Arbeitskräfte auf. Die 1950er und 1960er Jahre waren eine Periode wachsenden Wohlstands; das Durchschnittseinkommen gehörte im spanischen Vergleich zu den höchsten, und hinsichtlich anderer Modernisierungsindikatoren war Katalonien nach wie vor an der Spitze. Auch die mediterrane Region zog als wirtschaftlicher Wachstumspol einen breiten Strom von Zuwanderern aus anderen Teilen Spaniens an.
Auf ihre systematische Diskriminierung und auf die Negierung ihrer kulturellen Eigenständigkeit reagierte die Bevölkerung beider Regionen zunächst in ähnlicher Weise. Sie verweigerte etwa dem Regime die politische Anerkennung, indem sie sich bei Volksabstimmungen weit mehr der Stimme enthielt, als dies in anderen Regionen geschah; dies war vorerst die einzige politische Möglichkeit, eine Protesthaltung zu artikulieren. Oft gerieten auch religiöse Feste zu politischen Ausbrüchen kollektiven Unmuts. Eine andere Form der kulturell-ethnischen Selbstbehauptung war der Rückzug in die "zivile" Gesellschaft, das Engagement in Vereinen, Clubs, Gesellschaften und Verbänden, die scheinbar unpolitisch waren, deren Aktivitäten und Dynamik aber Ausdruck eines lebendig gebliebenen und konsequent gepflegten Bewusstseins regionaler Eigenart waren. Viele dieser Organisationen entwickelten sich zu Durchgangsstationen und politischen Sozialisationsinstanzen oppositioneller Nationalisten.
Im Gegensatz zu diesen Formen des eher passiven Ungehorsams, unterschieden sich das Baskenland und Katalonien wesentlich in den Artikulationsformen des aktiven, auf die Wiederherstellung der Autonomie hin orientierten Widerstandes. Während sich in Katalonien nämlich der Kampf im Wesentlichen auf die Bewahrung und Verteidigung der Regionalsprache und -kultur konzentrierte, war es im Baskenland die Geheimorganisation ETA (Euskadi Ta Askatasuna, "Baskenland und Freiheit"), die durch Gewaltaktionen und zunehmende Terroraktionen die Zentralregierung in erhebliche Bedrängnis brachte, schließlich sogar klar in die Defensive verwies. Der kollektive politische Protest nahm im Baskenland heftigere und dauerhaftere Formen an als in jedem anderen Landesteil.
Bis Mitte der 1960er Jahre hatte die ETA ziemlich klare Vorstellungen von den politischen und gesellschaftlichen Zielen ihres Kampfes sowie von der einzuschlagenden Taktik entwickelt. Ihr wichtigstes Ziel war ein nach innen wie nach außen souveräner baskischer Staat, in dem die französischen und die spanischen Baskenprovinzen zu einem Staatsgebilde vereinigt sein sollten; dessen künftige Gesellschaftsordnung sollte sozialistisch sein. Die ETA verfolgte somit sowohl ein nationalistisches als auch ein sozialistisches Ziel. Diskussionen darüber, welchem dieser beiden Fernziele die Priorität zukomme, führten zu mehreren Spaltungen der Organisation. Durch Attentate auf Amtsträger und Sicherheitskräfte sollte der Staat zu repressiven Maßnahmen provoziert werden, um dadurch der aufständischen Bewegung immer mehr Anhänger zuzutreiben. Das Kalkül war, dass die Situation im Baskenland für die Masse der Bevölkerung schließlich so unerträglich werden würde, dass sich das Volk irgendwann gegen seine "Unterdrücker" erheben würde, um die Spirale von Aggression und Repression, von Terror und Gegenterror zu beenden. Vom Zentralstaat zum Staat der Autonomen Gemeinschaften
Schon bald nach Francos Tod, als die Autonomieforderungen der einzelnen Regionen unüberhörbar wurden, sah sich die Regierung zur Erwägung der Frage gezwungen, ob es nicht angebracht sei, anstelle individueller Lösungen für einzelne Regionen eine konstitutionelle Formel mit allgemeiner Gültigkeit zu finden. Derartige Überlegungen drängten sich auf, da es nach 1975 zu einem rapiden Anwachsen regionalistischen Eigenwillens und föderalistisch-autonomistischer Bestrebungen auch in Landesteilen kam, in denen ihnen früher kein großes politisches Gewicht zugekommen war. Die Lösung konzentrierte sich schon bald auf eine integrale Regionalisierung des Landes, also auf eine regionalpolitische Neuordnung Gesamtspaniens. Die politische Dezentralisierung führte schließlich zu einem tiefgreifenden Wandel der politischen, administrativ-institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen von Spaniens Demokratie. Heute gliedert sich das Land in 17 politisch autonome Regionen, die "Autonomen Gemeinschaften" (Comunidades Autonomas).
Die Verfassung von 1978 sah eine regionalistische, keine föderalistische Lösung der Autonomiefrage vor. Jede "Nationalität" und "Region" hat das Recht auf Selbstverwaltung. Dabei sollte der Begriff "Nationalität" ursprünglich den Basken, Katalanen und Galiciern vorbehalten bleiben, die sich von den übrigen Spaniern nicht nur historisch, sondern auch sprachlich-kulturell und zum Teil ethnisch unterscheiden.
Seit ihrem Beginn wurden die Autonomieverhandlungen von den unterschiedlichsten Reaktionen begleitet, die von überwiegender Ablehnung und Warnung vor weitergehender Dezentralisierung (durch einen Teil der Streitkräfte) über die Forderung nach umfassender Autonomie oder Errichtung eines Bundesstaates (zeitweilig etwa durch die Sozialistische Arbeitspartei PSOE) bis hin zu offen separatistischen Bestrebungen (etwa durch die ETA) reichten. Wer in den 1980er Jahren auf die bis dahin zurückgelegten Etappen der Autonomieregelung zurückblickte, konnte zum einen die wenig konsequente, oft widersprüchliche Haltung der Zentralregierung, zum anderen die von Region zu Region unterschiedliche Problemlage feststellen, die jede Prognose auf diesem überaus vielschichtigen und komplexen Gebiet unmöglich machte. Rechtsnatur und Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften
Artikel 2 der spanischen Verfassung von 1978 enthält sowohl das Prinzip der "unauflöslichen" Einheit der Nation als auch das Recht auf Autonomie: Diese Norm geht über eine reine Dezentralisierung hinaus; allerdings definiert die Verfassung weder "Nationalität" noch "Region". Auch nach der Verfassung bleibt Spanien, trotz der Verankerung des Regionalismus, ein Einheitsstaat. Auch wenn die Unabhängigkeit der Autonomen Gemeinschaften verfassungsrechtlich gesichert ist, verfügen diese über keine eigenen Staatsqualitäten, sondern besitzen lediglich abgeleitete Staatsgewalt.
Gemäß Artikel 147 der Verfassung sind die Autonomiestatute die Grundordnungen der Autonomen Gemeinschaften. Da diese aber keine Verfassungshoheit besitzen, muss bei jeder Statutänderung der Zentralstaat mitwirken. Es gibt auch kein allgemeines Homogenitätskriterium für die Autonomiestatute, die Aufteilung der Staatsaufgaben zwischen dem Zentralstaat und den Autonomen Gemeinschaften ist daher ausgesprochen komplex. Von Anfang an wiesen die Gemeinschaften unterschiedliche Zuständigkeitsniveaus auf ("dispositives Prinzip"), was wiederum zu einer außerordentlich hohen Zahl an Kompetenzkonflikten vor dem Verfassungsgericht führte. In Bezug auf die Ungleichheit der Autonomen Gemeinschaften wird deshalb im Fall Spaniens auch von einem "asymmetrischen Staat" gesprochen.
In den Jahren nach 1978 gelang es den Autonomen Gemeinschaften immer wieder, ihre Kompetenzen zu erweitern. Die Zweideutigkeiten und der Streit um Zuständigkeiten resultierten aus der wenig eindeutigen spanischen Verfassung, die zwar andeutet, dass Spanien eine "Nation von Nationen" sei, die aber nicht zu einer deutlichen Anerkennung des plurinationalen Charakters des Staates gelangt. Radikalisierungstendenzen
Wenige Jahre nach den Autonomiepakten von 1992, die eine Homogenisierung der Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften erreichen sollten, begannen 1998 die peripheren Nationalismen, das gesamte System der territorialen Staatsorganisation in Frage zu stellen. Sie traten nunmehr für eine neue Interpretation der Selbstregierung ein, die sie als Souveränität oder zumindest als mit dem Zentralstaat zu teilende Souveränität deuteten. Vorreiter waren abermals das Baskenland und Katalonien. Die baskische Regierung ging dabei am weitesten: Sie schlug vor, das Baskenland in einen "mit Spanien assoziierten Freistaat" umzuwandeln. Auch die Katalanen strebten ein neues Autonomiestatut an, das nach vielen politischen Auseinandersetzungen 2006 schließlich verabschiedet wurde.
Seit Beginn dieses Jahrhunderts mehrten sich in verschiedenen Autonomen Gemeinschaften die Forderungen nach einer Reform der Autonomiestatute. Größere Steuerkompetenzen, eine eigene Vertretung bei den europäischen Gremien und eine Stärkung der Kooperations- und Ausgleichsmechanismen zwischen den Autonomen Gemeinschaften waren unter anderem die Ziele.
Der sozialistische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero (Regierungschef seit 2004) machte die Frage der Reform der Autonomiestatute zu einem Kernstück seiner Regierungstätigkeit. So schuf er zur intensiveren Zusammenarbeit die "Konferenz der Präsidenten" (Conferencia de Presidentes), ein regelmäßiges Konsultationstreffen der regionalen Regierungschefs mit dem spanischen Ministerpräsidenten. Inzwischen sind zwar noch längst nicht alle Fragen geklärt, die Überarbeitung der Autonomiestatute ist allerdings ein gutes Stück vorangekommen. So erhielt zum Beispiel Andalusien in seinem neuen Statut die Bezeichnung "Nationalität" zugesprochen; auch die Balearen wurden als "historische Nationalität" anerkannt. Die Kanarischen Inseln erstreben wegen ihrer "ultraperipheren Lage" weitere Sonderrechte. Die Überarbeitung des baskischen Statuts ruht, da der Vorstoß der baskischen Regierung für eine "freie Assoziierung" vom Parlament in Madrid abgelehnt wurde. Entwicklungen im Baskenland
In den Jahren der transicion (Übergang vom Franquismus zur Demokratie, 1975 bis 1982) hatte die ETA eine Doppelstrategie entwickelt, um ihr politisches Ziel, die Unabhängigkeit des Baskenlandes, zu erreichen: Neben den Terrorismus trat der Versuch der politischen Durchsetzung der Institutionen. Der zu diesem Zweck gegründeten "Patriotischen Sozialistischen Koordinationsgruppe" (Koordinadora Albertzale Sozialista, KAS) gehörten auch (neben der ETA selbst) die Jugendorganisation Jarrai, die nationalistische Gewerkschaft LAB und einige weitere Gruppierungen an. In den folgenden Jahren vertrat die KAS zumeist die von der ETA propagierten Maximalforderungen, kämpfte aber auch für (von großen Teilen der baskischen Bevölkerung unterstützte) kurzfristige Ziele wie Zusammenlegung der baskischen Gefangenen, Amnestie oder Rückzug zentralstaatlicher Polizeikräfte aus dem Baskenland.
Seit die Autonome Region Baskenland über eine eigene Polizei verfügt (Ertzaintza, seit 1982), ist diese immer wieder Opfer von Attentaten geworden. Was früher ein Konflikt zwischen dem Baskenland und der Zentralregierung war, wurde nunmehr auch eine innerbaskische Auseinandersetzung. Lange Zeit war zum ETA-Terror geschwiegen worden, teils aus angeblichem Verständnis, teils aus Angst. In den vergangenen Jahren hat sich allerdings eine immer breitere Widerstandsfront gegen das radikal-nationalistische Lager und dessen Gewalttaten gebildet.
Als ein Großteil der baskischen Bevölkerung die ETA-Terrorakte sichtbar verurteilte und sich vom politischen Arm der ETA, der Partei Herri Batasuna (baskisch: "Volksunion"), abzuwenden schien, andererseits die polizeilichen Maßnahmen zur Zerschlagung mehrerer ETA-Kommandos geführt hatten, änderten die separatistischen Linksnationalisten ihre Taktik. So wurden immer wieder Nachfolgeorganisationen der illegalisierten radikal-nationalistischen Parteien gegründet, die das Recht auf Selbstbestimmung des baskischen Volkes, eine demokratische Lösung des Gewaltproblems, mehr soziale Gerechtigkeit und die Vereinigung aller Basken forderten (einschließlich derer in der nur teilweise baskischen Provinz Navarra und in Frankreich).
Im Herbst 1999 sollte das Baskenproblem eine dramatische Wendung nehmen: Zum 20. Jahrestag des Erlasses des Autonomiestatuts von 1979 erklärten die nationalistischen Parteien das Statut von Gernika für beendet; die Autonomieregelung für das Baskenland wurde als oktroyierte Regelung abgelehnt, da sie "Unterordnung" bedeute; angekündigt wurde ein "Souveränitätsprojekt", das dem Baskenland eine gleichberechtigte Verhandlungsbasis einräumen sollte. Im Januar 2000 sprach sich der Parteitag der regierenden Baskischen Nationalistischen Partei (PNV) für eine Souveränitätspolitik neuer Art aus. Damit ließ sie 20 Jahre Politik auf der Grundlage des Autonomiestatuts hinter sich.
Im September 2002 verkündete der baskische Ministerpräsident Juan José Ibarretxe schließlich seinen Plan, den er eine "Initiative für das Zusammenleben" nannte. Für das Baskenland sah der Plan den Status "freier Assoziierung" an Spanien vor. Der verfassungsrechtlich bedenklichste Teil des Ibarretxe-Plans bestand im baskischen Selbstbestimmungsanspruch. Das baskische Volk - so hieß es im Plan - "ist kein untergeordneter Teil des Staates"; es verfüge vielmehr über eine "originäre Souveränität" und das "Recht, befragt zu werden, um über seine eigene Zukunft in Übereinstimmung mit dem Selbstbestimmungsrecht zu entscheiden". Die Verfassung von 1978 übertrug die Souveränität aber "dem spanischen Volk"; außerdem proklamierte sie die "unauflösliche Einheit der spanischen Nation", so dass Verfassungsrechtler den Ibarretxe-Plan als unvereinbar mit der spanischen Verfassung werteten. Entsprechend wurde der Plan von der überwältigenden Mehrheit der Sozialisten und Konservativen im gesamtspanischen Parlament abgelehnt.
Zwischen 2006 und 2010 änderte sich das politische Klima grundlegend: Zum einen war die Polizei mit ihren Aktionen gegen die ETA wiederholt erfolgreich und die Untergrundorganisation durch interne Spaltungen derart geschwächt, dass 2010 kein Zweifel mehr daran bestand, dass die ETA so kraftlos war wie noch nie zuvor. Zum anderen erlebte das Baskenland im Frühjahr 2009 einen historischen Politikwechsel. Die aus den Regionalwahlen geschwächt hervorgegangene PNV musste - zum ersten Mal überhaupt im Baskenland - die Regierungsgewalt an die Sozialisten abtreten, die eine von den Konservativen tolerierte Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Patxi Lopez bildeten. Seither ist an der baskischen Nationalismusfront Ruhe eingekehrt, das politische Leben hat sich "normalisiert". Inzwischen sind sogar wieder spanische Flaggen an institutionellen Gebäuden zu sehen, und die Freistaats- und Referendumspläne sind von der politischen Agenda verschwunden. Entwicklungen in Katalonien
Während das Baskenland einen allmählichen Normalisierungsprozess durchlebte und die ständige Nationalismusanspannung nachließ, verschärfte sich die Situation in Katalonien. Von den zahlreichen Statutenreformen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Angriff genommen wurden, erregte der katalanische Fall 2005 die leidenschaftlichsten Diskussionen. Nach vielen Debatten verabschiedete das katalanische Parlament schließlich am 30. September 2005 den Entwurf des neuen Autonomiestatuts mit einer Mehrheit von fast 90 Prozent. Als dieser Entwurf der Verfassungskommission des spanischen Parlaments vorgelegt wurde, stellte diese fest, dass eine ganze Reihe von Reformformulierungen nicht mit der spanischen Verfassung in Einklang zu bringen war. Es folgte eine intensive Überarbeitung des Entwurfs, die im Frühjahr 2006 abgeschlossen wurde. In den Grundfragen konnten die in Madrid regierenden Sozialisten überraschenderweise mit dem katalanischen Parteienbündnis CiU (Convergència i Unio, "Konvergenz und Union") Übereinstimmung herstellen, was andererseits jedoch zur Entfremdung des katalanischen Koalitionspartners ERC (Esquerra Republicana de Catalunya, "Republikanische Linke Kataloniens") von den Sozialisten führte.
Die Hauptauseinandersetzungen drehten sich um Fragen der Kompetenzzuweisung und der Finanzierung sowie um die politisch äußerst kontrovers debattierte Frage, ob Katalonien eine "Nation" oder nur eine "Nationalität" sei. Während die Katalanen - und zwar alle Parteien - auf der Definition als Nation bestanden, lehnten die Vertreter der Zentralregierung unter Hinweis auf die Verfassung, die diese Bezeichnung nur der spanischen Nation vorbehält, eine derartige Terminologie ab - auch in der Befürchtung, dass die Katalanen daraufhin einen eigenen Staat für ihre Nation fordern könnten. Katalanen weisen zwar darauf hin, dass sie den Begriff "Nation" nicht primär staatspolitisch, sondern vor allem historisch-kulturell auffassen. Andererseits benutzen sie ihn aber zur Rechtfertigung weitreichender Selbstbestimmungsansprüche.
Ende März 2006 verabschiedete das spanische Parlament den Entwurf des neuen katalanischen Autonomiestatuts. Ein Vergleich der ursprünglichen Bestimmungen, wie sie im September 2005 vom katalanischen Parlament verabschiedet worden waren, mit der schließlich erzielten Endfassung lässt die Hauptdivergenzen zwischen den nationalistischen Parteien Kataloniens und den gesamtstaatlich orientierten Sozialisten erkennen: Im Bereich des Symbolischen hatte der ursprüngliche katalanische Statutentwurf formuliert: "Katalonien ist eine Nation." Die Endfassung des Textes lautete demgegenüber: "Katalonien als Nationalität übt seine Selbstregierung in der Form einer Autonomen Gemeinschaft in Übereinstimmung mit der Verfassung und mit dem vorliegenden Statut aus, das seine grundlegende Identitätsnorm darstellt." Der Begriff "Nation" kommt nur noch in der Präambel vor, in der es heißt: "Das Parlament Kataloniens hat sich das Fühlen und Wollen der Bürger Kataloniens zu eigen gemacht und mit großer Mehrheit Katalonien als Nation definiert. Die spanische Verfassung erkennt in ihrem zweiten Artikel die nationale Realität Kataloniens als eine Nationalität an." Gestrichen wurde auch die Formulierung: "Katalonien hält Spanien für einen plurinationalen Staat." Nach langen Debatten akzeptierte die PSOE schließlich, dass die Symbole Kataloniens als "national" bezeichnet werden. Artikel 8 heißt daher: "Katalonien, das in Artikel 1 als Nationalität definiert wird, hat als nationale Symbole die Flagge, den Feiertag und die Hymne."
Ein weiterer Stein des Anstoßes war (und ist) immer wieder die Sprachpolitik. Gerade auf diesem Gebiet reklamiert Katalonien Souveränität, was dazu führt, dass die nordöstliche Region katalanische Sprachnormen in der Verwaltung und im öffentlichen Leben rigide durchsetzt und außerdem versucht, das Katalanische in den Rang einer offiziellen EU-Sprache erheben zu lassen. In der Praxis stoßen die katalanische Sprachpolitik und der Anspruch zum Beispiel der kastilisch-andalusischen Zuwanderer, ihre Kinder auf Kastilisch unterrichten zu lassen, aufeinander und führen zu erheblichen Konflikten. Vor diesem Hintergrund wurde die Debatte über die Regelung der Sprachenfrage im neuen Statut mit besonderem Interesse verfolgt. Im katalanischen Entwurf hatte es geheißen: "Alle Personen in Katalonien haben das Recht, die beiden offiziellen Sprachen Katalanisch und Spanisch zu benutzen sowie das Recht und die Pflicht, sie zu kennen." In der überarbeiteten Endfassung hieß es: "Alle Personen haben das Recht, die beiden offiziellen Sprachen zu benutzen", und die Bürger "haben das Recht und die Pflicht, sie zu kennen." Allerdings dürfe es "wegen des Gebrauchs der einen oder der anderen Sprache" zu keiner Diskriminierung kommen. Zur Gleichrangigkeit der Sprachen heißt es: "Das Katalanische ist die offizielle Sprache Kataloniens"; "auch das Kastilische ist offizielle Sprache."
Die Diskussion über die Reform des katalanischen Autonomiestatuts hielt die spanische Politik viele Monate lang in Atem. Dass schließlich ein Kompromiss gefunden werden konnte, der eine klare parlamentarische Mehrheit erlangte, wurde von (fast) allen politischen Lagern als Erfolg bezeichnet. Lange konnten sich die Katalanen allerdings nicht an ihrem neuen Autonomiestatut erfreuen. Die oppositionelle Volkspartei stellte nämlich vor dem Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von nicht weniger als 114 (der insgesamt 223) Artikel des neuen Statuts in Frage. Das von Flügelkämpfen geschwächte Verfassungsgericht benötigte ganze vier Jahre, bis es schließlich Mitte 2010 ein Urteil fällte: Der weitaus größte Teil des neuen Autonomiestatuts wurde für verfassungsgemäß erklärt, aber an einigen ganz empfindlichen Stellen wurden die Grenzen aufgezeigt, die Autonomiestatute nicht überschreiten dürfen: So wurde der Begriff "Nation" in der Präambel fr "rechtlich bedeutungslos" erklärt, und bei der "bevorzugten Stellung" des Katalanischen als offizielle Sprache sowie der Justiz- und Steuerhoheit der Region wurden Einschränkungen verfügt.
Alle in Katalonien vertretenen Parteien - auch die dort regierenden Sozialisten - reagierten empört auf den Richterspruch. Am 10. Juli 2010 demonstrierten über eine Million Menschen in Barcelona gegen das Urteil. Besorgt wiesen politische Beobachter darauf hin, dass durch diese Entwicklung die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien zunehmen würden. Das Urteil des Verfassungsgerichts hat somit das Problem des katalanischen Nationalismus einer Lösung nicht näher gebracht; es hat vielmehr die Spannungen verschärft. Schlussbemerkung
Die Einrichtung einer mittleren Koordinations- und Politikebene in Form der Autonomen Gemeinschaftsregierungen hat einen wichtigen Beitrag zum friedlichen Übergang Spaniens in die Demokratie geleistet, entspricht darüber hinaus dem Bedürfnis einer entwickelten Gesellschaft nach Dezentralisierung oder Regionalisierung (unabhängig von den Forderungen regionalistischer oder nationalistischer Bewegungen). Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes schien - trotz aller fortbestehenden Probleme - ein friedlicher und ausgehandelter Ausgleich zwischen Zentralstaat und Regionen möglich zu sein. An eine Abschaffung des erreichten Autonomiemodells denkt in Spanien heute niemand; die große Mehrheit der Bevölkerung ist auch - sieht man von den konfliktiven Regionen Baskenland und Katalonien ab - mit dem Grad an erreichter Selbstverwaltung im Wesentlichen einverstanden. Der Hauptzweck der nationalistischen Bewegungen, das Überleben der jeweiligen Identität zu sichern, dürfte erreicht sein. Das Fortbestehen der baskischen, katalanischen oder galicischen Nationalität ist durch die Existenz von Regierungen und Institutionen sichergestellt, die über weit mehr Kompetenzen verfügen, als je eine nicht-zentralstaatliche Exekutive hatte. Wenn das Ziel von Nationalismus darin besteht, die Selbstregierung der eigenen Ethnie zu erlangen, um das Überleben der kollektiven Identität sicherzustellen, dann waren die verschiedenen nationalistischen Bewegungen im spanischen Staat zweifellos erfolgreich.
Der spanische "Staat der Autonomien" hat in den vergangenen drei Jahrzehnten trotz vieler offener Fragen erkennen lassen, dass auch in einem Europa der alten, neuen Nationalismen multikulturelle und multinationale demokratische Staaten eine Chance haben können. Damit es aber unter derartigen Umständen zu einem friedlichen Miteinander kommt, müssen die Staaten ihr Bestreben aufgeben, "Nationalstaaten" im klassischen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Sinne des Wortes zu sein; die substaatlichen Nationalbewegungen wiederum sollten ihre sämtlichen Energien nicht unbedingt auf die Erreichung eines eigenstaatlichen Gehäuses verlegen.
Zu der sehr umfangreichen Literatur zum katalanischen und baskischen Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Gerhard Brunn, Die Organisationen der katalanischen Bewegung 1859-1959, in: Theodor Schieder/Otto Dann (Hrsg.), Nationale Bewegung und soziale Organisation, Bd. 1, München 1978, S. 281-571; Jordi Solé-Tura, Nacionalidades y nacionalismos en España: autonomía, federalismo, autodeterminacion, Madrid 1985; Rafael Acosta España et al., La España de las Autonomías, 2 Bde., Madrid 1981.
Vgl. Salvador Giner, La estructura social de España, Madrid 1980, S. 58ff.
Zum Vergleich der Widerstandsformen Kataloniens und des Baskenlandes vgl. Peter Waldmann, Katalonien und Baskenland. Historische Entwicklung der nationalistischen Bewegungen und Formen des Widerstands in der Franco-Zeit, in: ders./Walther L. Bernecker/Francisco Lopez-Casero (Hrsg.), Sozialer Wandel und Herrschaft im Spanien Francos, Paderborn 1984, S. 155-192.
Vgl. Fernando Fernández Rodríguez (Hrsg.), La España de las Autonomías, Madrid 1985; Peter Thiery, Der spanische Autonomiestaat. Die Veränderung der Zentrum-Peripherie-Beziehungen im postfrankistischen Spanien, Saarbrücken 1989; José Juan González Encinar/Dieter Nohlen (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, Opladen 1991.
Vgl. Diputacion Provincial de Cordoba (Hrsg.), Nacionalismo y regionalismo en España, Cordoba 1985.
Zum Separatismus-Problem im Baskenland und zu ETA vgl. Robert S. Clark, The Basque Insurgents. ETA 1952-1980, Madison 1984; Peter Waldmann, Militanter Nationalismus im Baskenland, Frankfurt/M. 1990.
Vgl. Juan J. Linz, Spanish Democracy and the Estado de las Autonomías, in: Robert A. Goldwin et al. (eds.), Forging Unity out of Diversity. The Approaches of Eight Nations, Washington 1989, S. 260-303.
Die Entwicklung der Nationalismusproblematik im vergangenen Jahrzehnt ist zusammengefasst bei Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 320-330.
Vgl. Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983.
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1 | Brasilien dementiert Snowden-Statement: Kein Asylantrag eingegangen
Nach Angaben des brasilianischen Außenministeriums hat Edward Snowden noch keinen Antrag auf Asyl gestellt. Er hatte das zuvor in einem Interview behauptet.
Teilnehmer einer Netzkonferenz in Sao Paulo halten Snowden-Ausdrucke in die Höhe. Bild: ap
RIO DE JANEIRO afp/dpa | Brasilien hat nach Worten von Außenminister Luiz Alberto Figueiredo Machado keinen Antrag des Whistleblowers Edward Snowden auf Asyl vorliegen. Damit widersprach er am Montag der Darstellung Snowdens, der sich seit vorigem Jahr mit Asylstatus in Russland aufhält. „Wenn der Antrag kommt, dann wird er analysiert, aber er ist nicht “, sagte Figueiredo am Montag vor Journalisten in Brasília.
Snowden hatte in einem von der Zeitung Globo verbreiteten Interview seinen Wunsch bekräftigt, nach Ablauf seines Asyls in Russland nach Brasilien zu gehen. Demnach sagte der Ex-NSA-Mitarbeiter: „Ich würde gern in Brasilien leben. Tatsächlich habe ich bei der Regierung schon Asyl beantragt.“
Schon beim Aufenthalt am Moskauer Flughafen habe er an mehrere Länder Anträge geschickt. „Brasilien war eines der Länder. Es war ein formeller Antrag“, betonte Snowden. Das Interview gab der IT-Spezialist zusammen mit dem Journalisten Glenn Greenwald.
Die geheimen Dokumente, die der einstige Techniker des US-Geheimdienstes NSA ans Licht brachte, hatten ein zuvor unvorstellbares Ausmaß an Überwachung bei nahezu jeder Art elektronischer Daten und Kommunikation enthüllt.
Asylanträge hat Snowden nach eigenem Bekunden nicht nur in Brasilien, sondern in mehreren anderen Ländern gestellt. | 234,813 |
1 | Der Krieg war kurz, der Frieden währte für damalige Verhältnisse lang. In Adrianopel einigten sich 1568 das Heilige Römische Reich und das Osmanische Reich, ihre Feindseligkeiten auf Jahrzehnte hin einzustellen. Heute heißt Adrianopel Edirne und ist die westlichste Großstadt der Türkei. Doch ob diese und die Europäische Union Partner sind oder Gegner, entscheidet sich ein Stück weit auch jetzt noch an dieser Stelle.
Hunderte Kilometer weit schwemmt der Fluss, der in Bulgarien Maritsa heißt, in Griechenland Evros und in der Türkei Meriç, Kalium aus dem bulgarischen Rila-Gebirge in die thrakische Tiefebene. Seit Jahrhunderten düngt er so die Felder für Wassermelonen, Sonnenblumen und Sesam rund um Edirne. Den Menschen, die heute aus Syrien und Afghanistan, aus Iran und Irak, aus Pakistan und Eritrea hierherkommen, muss das Europa, in das sie wollen, als fruchtbarer, wirtlicher Ort erscheinen.
Auf einer Länge von 180 Kilometern trennt der Fluss die Türkei und Griechenland. Für die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist die Region vor allem als "östliche Mittelmeerroute" für illegale Migration von Interesse. Diese besteht aus zwei Teilen: Die Landgrenze am Evros und die Seegrenze an den Ägäischen Inseln weiter südlich. Vor dem Anstieg der Flüchtlingszahlen 2015 kamen hier die meisten Menschen unerlaubt in die EU: Ab 2008 waren es zwischen 40.000 und 60.000 im Jahr.
Drei Umstände kamen ihnen dabei zugute: Erstens liegen viele Länder, aus denen Menschen fliehen, im Nahen und Mittleren Osten und damit in direkter Nachbarschaft zur Türkei. Diese gewährt, zweitens, Visa-Freiheit für Angehörige mehrheitlich muslimischer Länder. Drittens war das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU lange Zeit überaus ambivalent und dynamisch. Und der Grad der Durchlässigkeit der Grenze zu Griechenland und der EU war ein überaus zuverlässiges Barometer für die politischen Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel.
Ankara und Brüssel
Schon vor dem Flüchtlingsabkommen zwischen Ankara und Brüssel 2016 war die Türkei als NATO-Mitglied und – zumindest lange Zeit – EU-Beitrittskandidat ein willkommener Partner für das Migrationsmanagement der EU. Und schon damals nutzte sie – wie die Länder Nordafrikas – die Zusammenarbeit bei der Migrationskontrolle als politische Verhandlungsmasse: für den EU-Beitritt als lang- und die Visa-Freiheit für Türkinnen und Türken in der EU als kurzfristiges Ziel. Zugeständnisse aus Europa wurden mit Zugeständnissen bei der Grenzsicherung honoriert. Ging es der Türkei nicht schnell genug voran, ließ ihre Motivation, als Außenposten der EU-Grenzsicherung herzuhalten, meist spürbar nach.
Ankara hatte in diesem Spiel vor allem zweierlei zu bieten: Zum einen hatte es die Möglichkeit, den Weg zur Grenze, also die Strände in Sichtweite der Ägäis-Inseln und den Weg zum Evros-Fluss zu kontrollieren und Migranten mit Polizeigewalt an der Ausreise in Richtung Türkei zu hindern. Das war rechtlich allerdings nicht unproblematisch. Die meisten Menschen, die nach Europa wollen, halten sich legal in der Türkei auf. Die Syrien-Krise hat diesen Umstand allerdings teilweise geändert: Die rund zwei Millionen Syrerinnen und Syrer in der Türkei dürfen sich dort nicht frei bewegen. Sie auf dem Weg nach Europa aufzuhalten, ist deshalb rechtlich theoretisch gedeckt. Gleichzeitig ist freilich das Interesse der Türkei an einer Abwanderung der Syrerinnen und Syrer erheblich gestiegen.
Der zweite Beitrag, den die Türkei bei der Abwehr unerwünschter Migranten zu leisten vermochte, war die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber, die über die Türkei in die EU gekommen sind – einer der Kernpunkte des späteren EU-Türkei-Abkommens vom März 2016. Die Vorteile für die EU liegen auf der Hand: Statt die Menschen mühselig und teuer in ihre teils weit entfernten Herkunftsländer zurückschieben zu müssen, kann sie sie bequem an der türkischen Grenze abgeben. Doch beide Formen der Kooperation setzt die Türkei – aus naheliegenden Gründen – überaus strategisch ein. Für die Lage am Evros hatte dies teils dramatische Folgen.
Das Dilemma der Flüchtlinge
Ein Teil der Migranten aus Asien und Afrika beantragten in der Türkei Asyl. Das Land hat die UN-Flüchtlingskonvention unterschrieben. Anträge aber prüft es absurderweise nur, wenn diese von Europäern oder Menschen aus dem Kaukasus gestellt werden. Alle anderen können in der Türkei nur versuchen, vom UNHCR als Flüchtlinge anerkannt und in einen Drittstaat umgesiedelt zu werden – das so genannte Resettlement. Eine dauerhafte Niederlassung gestattet die Türkei nicht. Die vom UNHCR anerkannten Flüchtlinge unterliegen strengen Auflagen. Ihnen bleibt nur das Warten auf Resettlement. Anderen bleibt die Illegalität. Die meisten wollen deshalb weiter. Auf der griechischen Seite sieht es für sie allerdings nicht besser aus. Im Land gibt es kein funktionierendes Asylsystem, fast kein Migrant, der hier ankommt, will bleiben. Das EU-Recht aber bestimmt, dass jeder Flüchtling in dem Land, in dem sie oder er in die EU einreist, einen Asylantrag stellen muss. Wer weiterreist, handelt illegal und kann theoretisch zurückgeschickt werden. Schon vor der Krise hatte Griechenland größte Schwierigkeiten, mit der großen Zahl an Flüchtlingen zurechtzukommen. Die Antwort war: Abschreckung durch möglichst schlechte Behandlung. Meist bedeutete dies Internierung.
In der Evros-Region geschah dies in Fylakio. Das Lager wurde 2010 vom Anti-Folter-Komitee des Europarats besucht. Die Menschen seien "wie Käfig-Tiere" untergebracht, erklärten die Expertinnen und Experten, viele müssten mehrere Monate in Haft bleiben. In Filakyo seien zum Zeitpunkt der Visite 146 Männer in einem 110 Quadratmeter großen Bereich eingepfercht gewesen. Für alle Häftlinge habe es nur eine Dusche und eine Toilette gegeben. Gleichzeitig mit dem Bau der Internierungslager erhöhte Griechenland die Strafen für Schlepper auf 15 Jahre für die erste Person und zwei weitere Jahre für jede weitere Person. Die Zahl der Flüchtlinge aber nahm nicht ab. Nach dem EU-Türkei-Abkommen wurde das Lager in ein so genanntes "Pre-Removal-Center" umgewandelt: dies bedeutete Internierung vor der Abschiebung.
Der große Graben
Die türkisch-griechische Grenze bei Edirne (Inka Schwand) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
Im Sommer 2010 berichteten Presseagenturen, Griechenland werde einen Graben entlang der Landgrenze am Evros bauen: Sieben Meter tief, 30 Meter breit und 120 Kilometer lang sollte er sein. Der türkische EU-Minister Egemen Bagis sagte, er hoffe, Griechenland habe nicht vor, eine außenpolitische Krise zu provozieren, um von den eigenen Problemen bei der Bewältigung der Finanzkrise abzulenken. Bagis forderte Athen zu Gesprächen über die Flüchtlingsproblematik auf. Die Türkei verfolge die Entwicklungen im Nachbarland mit "Sorge und Erstaunen", sein Land strebe "konstruktive Lösungen in der Flüchtlingsfrage" an. Ein Graben aber sei "eine Falle" so Bagis: "Es besteht immer das Risiko, das der in den Graben hineinfällt, der ihn gegraben hat." Die Türkei hingegen wolle "keine neuen Gräben aufreißen, sondern bestehende Gräben überwinden".
Was Bagis nicht sagte, aber sicherlich wusste: Der Graben war gar nicht gegen Flüchtlinge gedacht, vielmehr existierte die Idee dafür schon viel länger. Die Griechen wollten damit eine mögliche Invasion türkischer Panzer aufhalten. Denn die Türkei hatte offenbar neue Brückenpanzer mit größerer Spannbreite als die alten Modelle angeschafft. Deshalb wollte Griechenland den Graben verbreitern.
Gleichzeitig hatte die Türkei einen Großteil ihrer Minenfelder nahe der griechischen Grenze abgebaut und für einige afrikanische Staaten Visa-Erleichterungen eingeführt. Die Flüchtlingszahlen in Griechenland stiegen deshalb weiter.
Eskalation der Lage
Kurz darauf erklärte Griechenland ganz offiziell, nicht mehr in der Lage zu sein, seine Grenzen zu sichern. Am 25. Oktober 2010 ging bei Ilkka Laitinen, dem Direktor der Europäischen Grenzsicherungsbehörde Frontex in Warschau, ein Schreiben des damaligen griechischen Bürgerschutzministers Christos Papoutsis ein. Darin bat der Minister um die Entsendung von so genannten Rabit-Einheiten (Rapid Border Intervention Teams) nach Griechenland, einer Art schneller Eingreiftruppe von Grenzschützern. Seit einigen Jahren hatte die Agentur einen Pool von Einsatzkräften und technischem Material aufgebaut, um Mitgliedstaaten in Ausnahmesituationen Hilfe zu leisten: "Die Situation ist sehr ernst, deshalb habe ich entschieden, dass wir Griechenland in dieser drängenden Ausnahmesituation unterstützen werden", erklärte der Finne am Tag darauf.
Nur wenige Tage später trafen die ersten Rabits in der Evros-Region ein. Was genau sie dort tun sollten, blieb unklar. Die Ankommenden daran zu hindern, den Evros-Fluss zu überqueren und in das Schengen-Gebiet einzureisen, war zumindest rechtlich ausgeschlossen. Solche "Refoulement" genannten Zurückweisungen verstoßen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Solange die Türkei kaum jemandem Asyl gewährt, haben die von dort kommenden Flüchtlinge einen Rechtsanspruch, nach Griechenland eingelassen zu werden.
Am 1. Januar 2011 erklärte Minister Papoutsis, die griechische Gesellschaft "hat bei der Aufnahme illegaler Einwanderer ihre Grenzen erreicht. Griechenland kann nicht mehr." Das Land werde einen elf Kilometer langen Zaun an dem Teil der Grenze zur Türkei errichten, der nicht mit dem Evros zusammenfällt. Die EU wies die Bitte um Hilfe dabei zurück: "Die Kommission wird dem griechischen Wunsch nach Mitfinanzierung nicht entsprechen, weil sie den Zaun für sinnlos hält", sagte ein Sprecher. Papoutsis reagierte wütend: Es sei Zeit, dass die "Heuchlerei und die Doppelzüngigkeit" der für die Bekämpfung der illegalen Migration Zuständigen in Brüssel aufhöre, sagte er. Sie drohten Griechenland mit Strafen, weil es die äußeren Grenzen Europas nicht ausreichend schütze. "Und wenn Maßnahmen getroffen werden, dann distanzieren sie sich und beschimpfen uns."
Neue Migrationsrouten
Dabei wurde die EU durchaus selbst tätig. Brüssel übte zunehmend Druck auf die Türkei aus. Und tatsächlich hielt die türkische Polizei damals im Durchschnitt 60.000 Menschen pro Jahr davon ab, die Türkei Richtung Griechenland zu verlassen. Dadurch veränderten sich die Migrationsrouten: Die Hauptroute verschob sich von der Seeroute von Izmir oder Ayvalık an der türkischen Westküste auf die Inseln Lesbos und Samos auf die Landgrenze im Norden der Türkei. 2011 übertraten 55.000 Menschen unerlaubt den Evros. Die Lage in den griechischen Internierungslagern wurde so dramatisch, dass europäische Gerichte reihenweise Zurückschiebungen nach Griechenland verboten. Deutschland musste das Dublin-System für Griechenland auf Druck aus Karlsruhe aussetzen. Im August 2017 entschied die Bundesregierung das Moratorium auszusetzen und bestimmte Gruppen von Flüchtlingen wieder nach Griechenland abzuschieben.
Die Grenze stehe "offen wie ein Scheunentor", sagte die damalige österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner nach einem Treffen mit ihrem damaligen Kollegen Hans-Peter Friedrich (CSU) im März 2012 in Brüssel. Wenn Griechenland seiner Verantwortung nicht gerecht werde, dann müssten die Reisefreiheit im Schengenraum eingeschränkt und die Schlagbäume an der innereuropäischen Grenze zu Griechenland wieder heruntergelassen werden. Friedrich lobte den geplanten Zaun: "Jede Möglichkeit, die Grenze sicherer zu machen, muss man begrüßen."
Einige Monate später schickte Athen 2.000 zusätzliche Polizisten an den Evros. Mit Schlauchbooten, Nachtsichtgeräten und Spürhunden patrouillierten sie rund um die Uhr entlang des Ufers. Der damalige Minister für Öffentliche Ordnung, der Konservative Nikos Dendias, sagte, die illegale Einwanderung sei eine "Bombe für das Fundament von Staat und Gesellschaft". Im Dezember 2012 stellte Griechenland den vier Meter hohen Zaun am Evros fertig. Er sei "ohne Ausrüstung unüberwindbar", sagte der Bauunternehmer Petros Darges. Griechenland setzte damit die Genfer Flüchtlingskonvention außer Kraft. Frontex, die verstärkte Polizeipräsenz und der Zaun drückten die Zahl der illegalen Grenzübertritte 2012 auf 37.000. Das reichte Griechenland nicht. Es verschärfte die Migrationskontrolle weiter.
Und das oft nicht legal. Vor einiger Zeit veröffentlichten Amnesty International, Human Rights Watch und Pro Asyl unabhängig voneinander Berichte über Zurückschiebungen aus Griechenland. Die Menschenrechtsorganisationen hatten dafür Hunderte Flüchtlinge in der Türkei interviewt. Deren Schilderungen glichen sich. Der 19-jährige Syrer G. etwa berichtete, wie er in einer Nacht im November 2013 von der griechischen Polizei aufgegriffen wurde: "Sie brachte uns in eine Zelle, dort waren bereits 35 Personen eingesperrt. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen Männer mit schwarzen Kapuzen, ohne Abzeichen auf ihren Uniformen. Sie luden uns alle in einen großen Van und brachten uns zum Ufer des Flusses. Mit einem kleinen Holzboot fuhren sie uns hinüber in die Türkei. Sie schlugen jeden, der langsam war." Ein Asylverfahren hatte Griechenland vorher nicht eingeleitet. Die Berichte legen nahe, dass solche völkerrechtswidrigen Zurückschiebungen in jener Zeit im großen Stil abliefen.
Es ist kaum vorstellbar, dass die Türkei dies nicht stillschweigend toleriert hat. Das ist aus zwei Gründen erstaunlich. Zum einen sind seit Beginn des Krieges 3,26 Millionen Syrerinnen und Syrer in das Nachbarland gekommen. Das Bedürfnis, zumindest einen Teil der Flüchtlinge Richtung Europa weiterziehen zu lassen, ist daher auf türkischer Seite enorm. Zum anderen hat sich das Land unter Führung der AKP von der EU entfernt, insbesondere nach dem vereitelten Putschversuch im Juli 2016 und dem dramatischen Abbau der Demokratie unter Präsident Recep Tayyip Erdogan. Ein Beitritt ist de facto vom Tisch. Trotzdem widerstand das Land, wie die Abschiebungen aus Griechenland zeigen, lange der Versuchung, die Grenze einfach zu öffnen.
Das EU-Türkei-Abkommen
Eine mögliche Erklärung dafür bietet der 4. Dezember 2013. An jenem Tag wurde ein Vorläufer des EU-Türkei-Abkommens vereinbart: Der damalige türkische Außenminister Ahmet Davutoglu hatte in Brüssel ein Abkommen ausgehandelt, dass Ankara dazu verpflichtete, abgelehnte Asylbewerber wieder aufzunehmen, die über ihr Territorium in die EU kommen. Flankierend hatte die türkische Polizei die Zügel angezogen: In dem Jahr gelangten nur 24.000 Flüchtlinge nach Griechenland. Zum Dank begann Brüssel mit Ankara Gespräche über Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger bei der Einreise in die EU.
Doch die Realität machte den diplomatischen Arrangements einen Strich durch die Rechnung. Die Lage in den Aufnahmelagern für syrische Flüchtlinge in der Türkei verschärfte sich in den darauffolgenden zwei Jahren immer weiter– auch durch die zweifelhafte Haltung der türkischen Regierung gegenüber der Dschihadistenmiliz des so genannten Islamischen Staats (IS) und durch Kämpfe mit den Kurden. Immer mehr Flüchtlinge versuchten das Land Richtung Europa zu verlassen. Wegen des Zauns war die Evros-Route zunächst nicht die erste Wahl. In den ersten Monaten 2015 verzehnfachten sich dafür die Ankünfte auf den griechischen Inseln. Die Türkei hinderte syrische Flüchtlinge nicht mehr an der Ausreise über die Westküste. Die Lage auf griechischen Inseln wie Kos und Lesbos geriet dann ab dem Frühsommer vollkommen außer Kontrolle. Und je unzumutbarer die Situation dort wurde, desto stärker wuchs der Druck auf die nördliche Landgrenze. Im September 2015 marschierten immer wieder Gruppen hunderter Syrerinnen und Syrer in Richtung Evros und forderten die Türkei auf, sie ziehen zu lassen. Teils hielt die Polizei sie auf, teils ließ sie sie ziehen.
Wenige Monate später wurden die EU und Türkei sich einig: Das Land verpflichtete sich, "alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um […] illegale Einwanderung von der Türkei in die EU zu verhindern", steht unter Punkt drei des als "EU-Türkei-Deal" berühmt gewordenen Abkommens vom 20. März 2016. Griechenland darf alle Migranten, die ab diesem Tag in Griechenland ankommen und die kein Asyl beantragen oder deren Antrag abgelehnt wird, auf Kosten der EU in die Türkei zurückschicken. Für jeden dieser Flüchtlinge darf wiederum ein anderer aus der Türkei in die EU ausreisen. Was wie ein absurder Kreislauf erscheint, ist das strategische Herzstück der Abmachung: Einerseits kann die EU reklamieren, Flüchtlingen den Weg aus der Türkei offenzuhalten. Gleichzeitig setzt sie – ebenso wie die Türkei – darauf, dass sich unter den Flüchtlingen herumspricht, dass sich die Fahrt über die Ägäis nicht lohnt: Wer ins Boot steigt, hat schließlich selbst nichts davon.
Auch am Evros erschwerte die Türkei die Ausreise. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte an der türkisch-griechischen Landgrenze sank von 3.770 im vierten Quartal 2015 auf 1.130 im ersten Quartal 2017.
Was bekam die Türkei dafür? Zwar erfüllte die EU erneut nicht das Versprechen auf Visafreiheit für türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, und sagte lediglich zu, diese bis Juni 2016 "anzustreben". Anders sah es jedoch bei Punkt sechs der Abmachung aus, die Zahlungen für Flüchtlinge in der Türkei FRT (Facility for Refugees in Turkey): Zwei Milliarden aus Brüssel, eine Milliarde von den Mitgliedstaaten, auszugeben bis Ende 2017; ab 2018 vielleicht noch einmal so viel – Europas Beitrag zur Versorgung der Flüchtlinge im Reich Erdogans.
Und so entscheidet sich heute, 447 Jahre nach dem Frieden von Adrianopel, erneut am Evros, ob die Türkei und die Mächte des Westens Partner sind oder Gegner.
Die türkisch-griechische Grenze bei Edirne (Inka Schwand) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de
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0 | Tokra, wie die heutigen Bewohner es nennen, was offenbar von Tauchira
herkommt, ist heute fast ganz unbewohnt. Der Name Taucheira wurde von den
Schriftstellern, die später als Ptolemaeus und Scylax darüber berichteten
in Teucheira umgewandelt. Unter Ptolemaeus Philadelphus erhielt die Stadt
den Namen Arsinoë, und unter Marcus Antonius endlich wurde sie Cleopatris
genannt. Gegründet zur Zeit des Königs Arkesilaos von Cyrene, und im
Anfange abhängig von dieser Stadt, wurde Teucheira bald darauf Barke
unterthan. Wir wissen jedoch wenig von der Geschichte dieser Stadt;
Herodot sagt, sie habe gleiche Gesetze mit der Stadt Cyrene gehabt; man
rechnete sie zu den fünf Hauptstädten des Landes Pentapolitanien, und von
den Römern wurde sie zur Colonie erhoben. Procop theilt uns mit, dass sie
von Justinian ebenfalls aufs Neue mit Mauern umgeben wurde, und Edrisi
beschreibt sie uns als eine mit Berbern bevölkerte Stadt. Jetzt ist die
Stadt gänzlich verödet, Araber, vom Stamme der Braghta haben jedoch ihre
Ackergründe in der Stadt und Umgegend, und halten sich bis zur Ernte hier
auf, später ziehen sie dann mit ihren Heerden auf die Hochebene. Auch eine
Sauya der Snussi befindet sich hier, in allerneuester Zeit angelegt. | 234,815 |
1 | Podium zur „Ästhetik des Widerstands“: Kuratierte Subversion
Gegen die Rechten wächst in Südeuropa eine neue Linke. In Berlin diskutieren Intellektuelle aus Ex-Jugoslawien. Das Publikum macht daraus ein Happening.
Europas Bilder des Schreckens heute: Ein untergegangenes Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer. Bild: ap
„Die Ästhetik des Widerstands“: ein 1.000-Seiten-Roman, fast 40 Jahre alt, behandelt den Horror des historischen Faschismus und die Utopien und Fehler der Linken und stellt die Frage, wie durch die Betrachtung von Kunst der Widerstand zu organisieren ist – wen sollte das heute noch interessieren?
Dass sich ein paar Deutschlehrer, Ex-Hausbesetzer, Gewerkschaftslinke oder Restautonome zu einer Veranstaltung über Peter Weiss und sein Werk einfinden, hätte man erwarten können. Aber dann drängen sich die Besucher am Samstagabend vor dem Berliner Hebbeltheater, vor allem junge Menschen zwischen Anfang 20 und Anfang 30, die so aussehen, als würden sie irgendwas mit Kultur machen und die serbo-kroatisch, griechisch, englisch und deutsch miteinander sprechen. Wegen großer Nachfrage in einen größeren Saal verlegt, ist die Diskussionsveranstaltung restlos ausverkauft.
Auf dem Podium: vier Intellektuelle aus dem ehemaligen Jugoslawien. Allein für das außergewöhnliche Setting, ausschließlich Jugos über einen deutschen Roman und dessen Aktualität in der Gegenwart diskutieren zu lassen, verdient der Veranstalter großes Lob. Werden Jugos doch ansonsten eher zu ihrer Heimat, Krieg und dem EU-Beitritt gefragt. Es ist aber kein Zufall, dass es ausgerechnet Jugos sind.
Avantgarde-Kunst und Subversion spielten in der jugoslawischen Linken, sowohl für die regierenden Kommunisten als auch für linke Dissidenten immer eine große Rolle. Moderator Boris Buden, kroatischer Philosoph, Marxist und Freud-Übersetzer, verweist darauf, dass selbst Gruppen wie die aus Slowenien kommenden Laibach, die den kommunistischen Staat in den 80er Jahren offen attackierten, in offiziellen Medien interviewt wurden. Und auch, dass heute Europas größte marxistisches Theorie-Konferenz, das „Subversiv-Festival“, in Kroatien stattfindet und dort ein Ereignis ist, das für die politische Elite des Landes schon fast zum Pflichttermin gehört, steht in dieser Tradition.
Der Mittelfinger
Das könnte der Grund sein, warum so viele junge Leute gekommen sind. Widerstand ist ein Begriff, der hierzlande gar nicht mehr im Gebrauch ist. An den Rändern Europas, darauf verweist Buden mehrfach, ist Widerstand angesichts von konkreter rechter Bedrohung, notwendig. Inspiration und Erkenntnis darüber, wie man die Verhältnisse ändern kann, erhoffen sich die jungen Leute also offenbar vor allem aus diesem Teil Europas.
Neben Buden diskutieren im HAU der bosnisch-kroatische Theaterregisseur Oliver Frjlic, für seine Inszenierungen und öffentlichen Interventionen als scharfer Provokateur gegen den kroatischen Nationalismus bekannt, die Belgrader Dramaturgin Borka Pavicevic, Institution, Legende und unkorrumbierbares Zentrum der Linken in Serbien und der kroatische Pilosoph Srecko Horvath, Autor zahlreicher Essays unter anderem mit Slavoj Žižek und Gründer des „Subversiv-Festivals“, auf dem das Video mit dem Mittelfinger des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis entstand.
Buden stellt am Anfang die schöne Frage, ob die Anwesenden als Linke unterschiedlicher Generation längst zum Inventar eines Museums gehören wie die Gemälde und Kunstwerke, die Weiss in seinem Roman beschreibt. Das sieht natürlich keiner der Teilnehmer so. Einig sind sich die Diskutanten, dass Europa es mit einem Faschismus zu tun hat, der Linke wie sie notwendig mache. Buden und Pavicevic, die beiden ältesten in der Runde, streiten als Verteidiger des Jugo-Kommunismus und des traditionellen Antifaschismus vor allem dafür, in der Realität der Gegenwart schon immer am Werk seiende Kräfte zu benennen.
Die wacheren Beobachtungen kommen von den Jungen. Sie diskutieren über die Frage des Romans, wie Kunst, Literatur und Philosophie den Widerstand außerhalb des Museums kuratieren kann. Ob Gewalt oder Diskurs der richtige Weg des Widerstands ist, über Sprache als Kampfmittel und ob die Linke kultureller Hegemonie im Sinne Gramscis braucht.
Die Herrschaft der Zeichen
Horvath versucht, die Bilder von Weiss in die Gegenwart zu übersetzen. Die Bedeutung, die bei Weiss das Gemälde Géricaults „Das Floß der Medusa“ hat, symbolisiere heute das Bild der untergegangen Costa Concordia, deren Decks und Bars nach europäischen Ländern und Städten benannt gewesen waren. Europas Bilder des Schreckens würden heute nicht mit Kriegs- sondern in einem untergegangenen Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer symbolisiert.
Horvath spricht von „Semio-Kapitalismus“, der Herrschaft der Zeichen und beschreibt, dass Zeichen wie der Mittelfinger von Varoufakis subversiver sein können als Gewalt. Frljic hingegen fordert eine neue Sprache, um das Prolatariat wie in Weiss' Roman für die Subversion zu gewinnen. Im Publikum wie hier in Berlin säße doch immer nur die Mittelklasse, für die bräuchte man das gar nicht zu diskutieren. Das Publikum applaudiert tosend, als Srecko Horvath widerspricht. „Das Proletariat gibt es nicht mehr. Hier im Publikum sitzt das neue Proletariat: das Prekariat.“
Entstanden ist Weiss' Roman in drei Bänden zwischen 1975 und 1981. Wurden sie seinerzeit in den Feuilletons als kommunistisch ideologisch und als handwerkliche Scharlatanerie verrissen, gelten sie heute als Jahrhundertwerk. 1000-seitige Jahrhundertwerke werden selten gelesen, in diesem Fall aber auch, weil es sich gar nicht lesen lässt, jedenfalls nicht alleine. An der „Ästhetik des Widerstands muss man arbeiten. Das haben seinerzeit zuerst jene begriffen, um die es in dem Buch geht: die Linken. Ihre Rezeption war eine kollektive, in und außerhalb der Universitäten entstanden zahlreiche legendäre Lesekreise zu dem Roman.
Theaterprojekt geplant
Aus dem im Hebbeltheater in großen Bögen mäandernden Gespräch wird am Ende dank des Publikums tatsächlich so etwas wie ein Weiss-Lesezirkel. Leute, die sich zu Wort melden, kennen den Roman kaum, sind vor allem daran interessiert, Begriffe wie Faschismus oder Arbeit zu diskutieren. Es ist ein bisschen wie bei den im gleichen Theater in den vergangenen Jahren stattgefundenen Auftritten der französischen Philosophen Jacques Rancière und Alain Badiou. Das Interesse an linker Theorie ist riesig. Aber ein Interesse, das offenbar mehr im kollektiven Zuhören und Kommentieren besteht, das ohne Ehrfurcht vor den großen Begriffen und Ideen geschieht.
Die Veranstaltung war Auftakt für ein Theaterprojekt. Das Gespräch soll als Grundlage dienen, um im nächsten Jahr, zum 100. Geburtstag von Peter Weiss, die Aktualität seiner Widerstandsästhetik auf die Bühne zu bringen. Niemand weiß, ob Syriza dann noch in Griechenland regiert und in Spanien und Kroatien linke, in Frankreich und Italien rechte Parteien an der Macht sind. Ob also eine Ästhetik des Widerstands die Bühnen zurückerobert und Politik geworden ist. | 234,816 |
0 | Livemusik im Berliner Lockdown: Kultur flüchtet ins Digitale
Der Lockdowns erfordert erneut Flexibilität bei Musik-Events. Die taz.plan-Kolumne „Sound der Stadt“ bietet einen Überblick über streambare Konzerte.
Bietet neben Streaming eine Alternative für Livemusik: Straßenmusiker in Mailänder U-Bahn-Station Foto: Claudio Furlan dpa LaPresse via ZUMA Press
Über den November schimpfen – das ist ja schon Berliner Folklore. Aus Perspektive dieses Herbst gesehen, war das bislang natürlich Jammern auf hohem Niveau. Schließlich konnte man sich immer über die zunehmend dunkle Tristesse mit tollen Konzerten trösten.
Dass dem dieses Jahr nicht so sein würde, ist ja schon lange klar. Aber dass es jetzt doch einen Lockdown gibt, der alles, was irgendwie mit Kultur zu tun hat, auf doch recht undifferenzierte Weise plättet – egal, wie ausgefeilt das Hygienekonzept – macht es härter als erwartet. Warum Leute weiter durch die traurigen Gänge von Einkaufszentren schleichen, aber nicht mit gebührend Abstand ins Kino dürfen oder auf ein bestuhltes Konzert dürfen? Kultur gilt offenbar nicht als wirklich systemrelevant.
Da hat Sophie Hunger ihre Konzerte gerade noch richtig getimt. Am Sonntag (1. 11.) tritt sie zweimal in der Volksbühne (19 & 21 Uhr, Rosa-Luxemburg-Platz, ausverkauft) auf, um ihr neues Album „Halluzinationen“ vorzustellen. Auch wenn sie wieder, wie auf dem recht elektronischen Vorgänger, mit Dan Carey arbeitet, dem englischen Produzenten, der in den letzten Jahren bei allerhand tollen Sachen mitmischte, war der Ansatz ein anderer: Komponiert hat die Schweizer Musikerin die Stücke in ihrem Kreuzberger Zuhause, eingespielt als Live-Session in den Abbey Road Studios; Song und Sound entstanden parallel.
Herausgekommen ist ein vielseitiges Album. Im schwelend-brütenden Chanson „Rote Beeten aus Arsen“ heißt es: „Deutsche Frau, du bist ganz genau, wenn du deinen Käfig misst. Deutsche Frau, du, du bleibst dir treu, selbst wenn es deine Seele frisst.“ Aber es gibt auch leichtere Momente. Kann man brauchen.
tazplanDer taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz.
Musik zwischen St Petersburg und Berlin.
Wer sich aufs nicht mehr herausgehen einschwingen will, bekommt Freitag (30. 10.) und Samstag (31. 10.) bei den Rainy Jazz Days eine sicher unterhaltsame Achse Berlin – St Peterburg präsentiert. Im Online-Stream werden Musiker von der Bühne der Kreuzberger Emmauskirche mit Musikern des russischen Gegenwartsjazz-Labels Rainy Days zusammengeschaltet, die in St. Petersburg live spielen, darunter sind unter anderem das Makar Novikow Quintet (Freitag) und das Alina Engibaryan Trio (Samstag, jeweils 18 Uhr).
Am Freitag wird in Berlin die Sängerin Lucia Cadotsch mit ihrem Trip Speak Low auftreten – unter anderem dabei: der großartige Saxofonisten Otis Sandsjö; am Samstag dann die Neo-Soul Beatboxerin Kid Be Kid. Dazu gibt es Tanzperformances und Jam Sessions, stets interaktiv zwischen St Petersburg und Berlin.
Ab Freitag (6. 11.) wollte eigentlich die Klangwerkstatt Berlin, das 1990 an der Musikschule Kreuzberg in Leben gerufene Festival für Neue Musik, im Kunstquartier Bethanien zehn Tage lang 30. Geburtstag feiern. Optimistisch kündigte man an „Das Festival wird in diesem Jahr trotz Corona stattfinden. So oder so. Live oder im Internet. Oder beides.“
Doch jetzt, wo nicht einmal kleine Talkrunden und Konzerte möglich sind, hat man sich dazu entschlossen, das nicht live zu streamen, sondern zu filmen – und nach der Postproduktion im Rahmen eines Videofestivals in vernünftiger Qualität der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen; vermutlich Anfang 2021. Damit das nicht untergeht – am besten gleich den Newsletter abonnieren. | 234,817 |
0 | Vom Schweinefilet die weiße Haut entfernen. Das Öl mit der Butter erhitzen, nicht zu heiß werden lassen. Das Fleisch mit Salz und Pfeffer würzen und in ca. 10 Minuten von allen Seiten braten. Es soll innen rosa sein. Dann herausnehmen und auf einem Teller (damit der Fleischsaft aufgefangen wird) erkalten lassen.Im Bratfett Zwiebeln, Knoblauch und Schinken gut bräunen.Die Champignons putzen und in Scheiben schneiden. Wenn es sehr kleine Champignons aus dem Glas sind, können sie ganz bleiben. Champignons mitbraten. Dann mit Brühe ablöschen und Sahne und Crème fraîche oder Schmand und den ausgetretenen Fleischsaft zugeben. Die Soße mit Salz, Pfeffer, Tomatenmark und Senf kräftig abschmecken. Sollte sie zu flüssig sein, etwas Speisestärke in wenig kaltem Wasser anrühren und unter Rühren zur kochenden Soße geben, bis zur gewünschten Konsistenz. Soße abkühlen lassen.Das kalte Fleisch in 1 cm breite Scheiben schneiden und dann in Streifen. Dann in die Soße geben, die Petersilie dazu und durchrühren, kühl stellen.Am nächsten Tag das Gericht auf kleiner Flamme erwärmen, nicht mehr kochen. So bleibt das Fleisch rosa.Die Soße nochmals abschmecken.Dazu schmeckt Baguette, aber auch Spätzle und Salat.Tipp:Sollte am Vortag zubereitet werden. Deshalb auch gut geeignet für Feste mit größerer Personenzahl. | 234,818 |
0 | Als sie sich umwandte, erschrak sie nicht wenig, denn ihr holdes Kind
hatte das blühende Gesichtchen in die Hände verborgen und weinte.
Sie konnte nicht begreifen, was dem Mädchen begegnet sein könne, sie
faßte ihre Hand, zog sie herab von den Augen sie weinte bitterlich.
"Was hoscht denn, Bärbele", fragte sie unmutig, doch nicht ohne
Teilnahme, "was heulscht denn? Hoscht's denn et g'seha? Gang', 's
ist jo a Schand! Wenn's jo ebber sieht; so sag' no, worum Du
heulscht?" | 234,819 |
0 | Westmorland.
An euch, Milord, soll dann vornehmlich der Inhalt meiner Rede
gerichtet seyn. Käme die Empörung in ihrer eignen Gestalt, in
verächtlichen, pöbelhaften Rotten, von blutigen Jünglingen
angeführt, von wilder Raubsucht gespornt, und von Lotterbuben und
Bettlern unterstüzt; wenn der Aufruhr, sage ich, in dieser seiner
wahren, natürlichen und eigenthümlichen Gestalt erschiene, so
würdet ihr, ehrwürdiger Vater, und diese edeln Lords nicht hier
seyn, seine verabscheute Häßlichkeit mit euerm ehrenvollen Ansehn
aufzuschmüken. Ihr, Milord Erzbischoff, dessen Siz durch
einheimischen Frieden beschüzt wird, dessen Bart die Silber-Hand
des Friedens berührt, dessen Gelahrtheit und Wissenschaft der
Friede begünstiget hat, und dessen weisser Priester-Schmuk die
Unschuld, die Sanftmuth und jede gesegnete Eigenschaft des Friedens
abbildet; warum übersezt ihr euch selbst aus der Sprache des
Friedens, die so viel Anmuth hat, in die harte und rauhtönende
Sprache des Kriegs? Warum, warum verwandelt ihr eure Bücher in
Hellebarden, eure Dinte in Blut, eure Federn in Lanzen, und eure
göttliche Zunge in eine kriegrische Trompete? | 234,820 |
1 | Das Transkript der Episode gibt es Interner Link: hier zum Download.
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Nadja und Hermann Poppen betreiben in Aurich den Hof Sonnenschein. Es ist die erste größere Bio-Schweinezucht in der Region Ostfriesland überhaupt. Mit rund 130 Sauen, vielen Ferkeln und drei Ebern. Einer dieser Eber ist Bobby – ein Angler Sattelschwein, das einen eigenen Externer Link: Instagram-Kanal hat. Mit Fotos und Geschichten zu Bobby bewirbt Familie Poppen ihren Hof und will ihre Art der Tierhaltung transparent machen.
Podcast "Wir im Wandel"Über die Hosts
Sonja Ernst und Monika Ahrens. (© Privat)
Sonja Ernst ist freie Journalistin. Sie berichtet über Themen aus Politik und Gesellschaft, vor allem für den Hörfunk, u.a. Deutschlandradio oder SWR. 2022 gewann sie den Peter Scholl-Latour Preis für ihre Reportage "Kinder aus Kriegsvergewaltigungen – Trauma und Schweigen überwinden".
Monika Ahrens ist freie Radiojournalistin und arbeitet im Redaktionsteam des Update-Podcasts von Deutschlandfunk Nova. Sie kommt aus Niedersachsen, hat in Leipzig und Berlin studiert und lebt in Köln.
Andere Tierhaltung – ohne Spaltenböden
Als Hermann Poppen 2016 in den Hof des Vaters mit einstieg, war ihm und seiner Frau Nadja klar, dass sie was ändern wollen. 2018 übernahm Hermann Poppen den Hof komplett und die Umstellung von konventioneller auf Bio-Schweinezucht ging los. Damit sind beide ein großes Wagnis eingegangen: Sie haben knapp zwei Millionen Euro in den Hof und die Umstellung investiert.
Dazu gehört zum Beispiel, dass die Schweine in den Ställen nicht mehr auf Spaltenboden stehen. In Deutschland ist letzteres bislang in der Schweinezucht der Standard, wie aktuelle Externer Link: Zahlen vom Statistischen Bundesamt zeigen. Insgesamt stehen 96 Prozent der Schweine auf Spaltenboden. Ein durchlässiger Boden, durch den Kot und Urin der Tiere abfließen können. 17 Prozent stehen auf Teilspaltenboden. Das heißt, für die Tiere gibt es einen Bereich im Stall ohne Spalten, in dem sie fressen und liegen können. 79 Prozent der Schweine stehen auf Vollspalten.
In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats „Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft heißt es, dass solche Böden, die überall Spalten haben, das Tierwohl bedeutend beeinträchtigen. Das Gutachten (Externer Link: als PDF hier zugänglich) ist aus dem Jahr 2015.
Auf dem Hof Sonnenschein wurde aber noch mehr umgestellt und angepasst. Familie Poppen baute einen neuen Stall zum Abferkeln, in dem die Sauen ihre Ferkel zur Welt bringen. Ein Platz pro Sau kostet rund 10.000 Euro: Insgesamt investierten sie dafür 500.000 Euro. Im neuen Stall hat jede Sau einen Bereich, in dem sie sich frei bewegen kann. Der Boden ist ohne Spalten und es gibt Stroh.
Kastenstände in der Schweinehaltung
Das Abferkeln und anschließende Säugen unterscheidet sich zwischen konventioneller und Bio-Haltung deutlich. In der konventionellen Schweinezucht ist die Sau vor und nach der Geburt in einem Kastenstand fixiert. Dafür sind Anfang 2021 neue Regeln als Teil der Externer Link: Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung in Kraft getreten. Dabei gilt bei den Kastenständen für das Abferkeln eine Übergangsfrist von 15 Jahren. Nach der Übergangsfrist dürfen die Sauen nur noch fünf statt wie aktuell 35 Tage rund um die Geburt fixiert werden. Der dafür notwendige Stallumbau wird von der Bundesregierung finanziell gefördert.
Ein Argument für die Kastenstände ist, dass die Sauen unter Umständen die Ferkel verletzen können, weil sie sich auf die Ferkel drauflegen und sie erdrücken. Auch im Bio-Bereich ist das Fixieren der Sauen kurzfristig rund um die Geburt erlaubt. Hier unterscheiden sich je nach Bioverband die Vorgaben. Bei Familie Poppen ferkeln die Sauen komplett frei ab. Das heißt, ganz ohne Fixierung.
Mehr Tierwohl bedeutet einen höheren Preis
Über die Haltung von Nutztieren wird mittlerweile mehr und intensiver nachgedacht. Fragen des Tierwohls sind Teil der öffentlichen Diskussion. Dabei ist Tierwohl ein wissenschaftlicher Begriff, der klar definiert ist und sich auch messen lässt.
Solveig March vom Thünen Institut, dem Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, arbeitet zum Thema Tierwohl. Dazu zähle die Gesundheit der Tiere. Aber eben auch der Aspekt, ob sie ein natürliches Leben führen und sich normal verhalten können. Ebenso sei entscheidend, ob die Tiere positive Emotionen empfinden können. Das heißt im Umkehrschluss, dass sie keine Schmerzen und kein Leid erfahren. Bei Schweinen gehört zum normalen Verhalten, dass sie zum Beispiel gerne wühlen. Auf Vollspaltenböden ohne Stroh ist das nicht möglich. Ebenso sind Schweine sehr soziale Tiere.
Familie Poppen hat die Umstellung für mehr Tierwohl gewagt. Doch sie gehören zu einer kleinen Zahl von Bio-Schweinezuchten in Deutschland. Nur ein Prozent des Schweinefleischs insgesamt ist Bio-Schweinefleisch. Denn der Preis für Bio-Fleisch ist deutlich teurer als für Fleisch aus konventioneller Tierhaltung. Die effiziente und optimierte Tierhaltung macht es möglich, dass Fleisch günstig und damit erschwinglich ist.
Zugleich hat eine breite Diskussion über mehr Tierwohl begonnen. Und am Ende sind auch die Verbraucherinnen und Verbraucher – also die Fleischesser – gefragt, ob sie bereit sind, für eine andere Tierhaltung mehr Geld auszugeben.
Sonja Ernst und Monika Ahrens. (© Privat)
Sonja Ernst ist freie Journalistin. Sie berichtet über Themen aus Politik und Gesellschaft, vor allem für den Hörfunk, u.a. Deutschlandradio oder SWR. 2022 gewann sie den Peter Scholl-Latour Preis für ihre Reportage "Kinder aus Kriegsvergewaltigungen – Trauma und Schweigen überwinden".
Monika Ahrens ist freie Radiojournalistin und arbeitet im Redaktionsteam des Update-Podcasts von Deutschlandfunk Nova. Sie kommt aus Niedersachsen, hat in Leipzig und Berlin studiert und lebt in Köln.
Sonja Ernst und Monika Ahrens. (© Privat)
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0 | Mehl in eine Schüssel sieben, mit 120 g Butterwürfel, Salz, 1 Ei und 1 – 2 EL Wasser mit den Knethaken eines Handrührgerätes zügig verkneten. In Folie gewickelt mindestens 1 Std. im Kühlschrank Ruhen lassen.Kohlrabi schälen, vierteln und in ½ cm dicke Scheiben schneiden. Mit 300 ml Wasser, 50 g Butter, Salz und Muskat zugedeckt 6 – 8 Min. weich kochen. Abgießen und dabei 100 ml Kohlrabiwasser auffangen. Kohlrabi gut abtropfen und abkühlen lassen.Kohlrabiwasser mit Crème fraîche, Sahne, restlichem Ei, Eigelb, Salz Pfeffer, Muskat und Petersilie mit einem Schneidstab gut durchmixen.Den Boden einer Tarteform (26cm) gut einfetten oder mit Backpapier belegen. Den Teig auf einer bemehlten Arbeitsfläche rund ausrollen er sollte etwas größer als die Form sein. Form mit dem Teig auslegen, gut andrücken, überstehenden Rand nur leicht abschneiden. Boden mit einer Gabel mehrmals einstechen, 30 Min. kalt stellen.Sonnenblumenkerne in einer Pfanne ohne Fett hellbraun rösten, mit dem Kohlrabi in der Form verteilen.Eier – Sahne angießen. Im vorgeheizten Ofen bei 200°C auf der untersten Schiene 45 Min. backen.Senfsorten mit Zitronensaft und Öl mit einem Schneidstab gut durchmixen. Dill und Schnittlauch unterrühren, eventuell noch mit Salz, Pfeffer und etwas Zucker abschmecken. Sauce zur Quiche servieren. | 234,822 |
0 | In der ersten Strophe hört die fürstliche Frau, die gegen Abend an der
Zinne ihrer Burg steht, einen Ritter aus der davor versammelten Menge
ein Lied singen in der Weise Kürnbergs. Diese mag damals sehr bekannt
gewesen sein, jetzt weiß Niemand mehr von ihr. Die Stimme des Ritters,
ja der Ritter selbst, gefällt aber der Fürstin so sehr, daß sie auf ihn
zu fahnden beschließt: ihm soll nur die Wahl bleiben, ihr Geliebter zu
werden oder ihr das Land zu räumen. | 234,823 |
1 | Berlusconis Kampf um Machterhalt: Hasstiraden vor dem zweiten Wahlgang
Hetzkampagnen gegen Homosexuelle, Ausländer und "Rote": Damit versucht die Koalition von Premier Berlusconi, die Kommunalwahlen in Mailand und Neapel noch zu gewinnen.
Wenn es um Wählerstimmen geht, ist ihm kein Mittel zu schmutzig: Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi. Bild: reuters
ROM taz | Schwulenhass, Ausländerhetze, Aufputschung der eigenen Anhänger gegen angeblich heranstürmende "rote Horden": Der Koalition von Italiens Premier Silvio Berlusconi ist jedes Mittel recht, um im Endspurt den Kampf um die Rathäuser von Mailand und Neapel noch zu den eigenen Gunsten zu drehen. Am nächsten Sonntag und Montag stehen dort ebenso wie in zahlreichen weiteren Kommunen die Stichwahlen um den Posten des Bürgermeisters an - und die Favoriten kommen von links.
Im ersten Wahlgang vor zehn Tagen hatte in Mailand der Linkskandidat Giuliano Pisapia mit gut 48 Prozent die bisherige, zu Berlusconis Truppen gehörende Bürgermeisterin Letizia Moratti (41,5 Prozent) abgehängt. Es war eine mittlere Sensation: Mailand galt bisher als Hauptstadt des Berlusconismus. Eine Niederlage könnte daher eine schnelle Regierungskrise in Rom einläuten.
Und dagegen stemmt sich Berlusconi nach Kräften. Pisapias Linksbündnis wolle Mailand "in eine Zigeunermetropole" verwandeln, tönte er. Mailands Vizebürgermeister Riccardo De Corato rechnet vor, "zwei Millionen Zigeuner" in Rumänien warteten auf das Signal des linken Wahlsiegs, um gen Mailand aufzubrechen. Fortan werde gelten: "Auch wenn du stiehlst, stellen sie dir eine Gratiswohnung."
Derweil verkündet die Berlusconi-nahe Tageszeitung Libero, Mailand drohe "zum Schwulen-Mekka" zu werden, und die katholische Postille Tempo hat in Pisapia gleich den "Antichristen" ausgemacht, der angeblich in Mailand die "größte Moschee Europas" errichten wolle. Berlusconi selbst meint, die Linke sei dabei, "Mailand zum Stalingrad Italiens" zu machen, und: "Mailand darf jetzt nicht zur islamischen Stadt werden, zu einer Zigeunermetropole voller Roma-Lager, die von Ausländern belagert wird, denen die Linke auch noch das Wahlrecht einräumen will", verkündete er am Montag in einer Videobotschaft.
Mit Horrormeldungen Stimmung machen
Ob dieser Wahlkampf Berlusconi am Ende den Sieg einbringt, steht dahin. Der Rechtsanwalt Pisapia eignet sich kaum als Projektionsfläche für die angebliche Verschwörung von schwulen, drogensüchtigen, islamistischen Zigeunerkommunisten, die in der norditalienischen Wirtschaftsmetropole den Sturm aufs Rathaus antreten.
Vorsichtshalber macht die Rechte deshalb auch mit Horrormeldungen von "linken Gewaltakten" Stimmung. So berichtete die Mutter des Sportdezernenten von Mailand, sie sei von einem linken Wahlkämpfer "geschlagen und getreten" worden - Berlusconi besuchte sie gleich in der Klinik. Zeugen erklärten dagegen, die Frau habe sich einfach vor einem Wahlkampfstand auf die Erde gesetzt und losgezetert, sie sei geschlagen worden.
Zu einem weiteren bald anstehenden Votum will es Italiens Rechte angesichts der Stimmung im Land gleich gar nicht kommen lassen: zum Referendum über die Nutzung der Kernkraft, das am 12. und 13. Juni angesetzt ist. Das Parlament soll noch in dieser Woche ein Moratorium für den von Berlusconis Parlamentsmehrheit schon beschlossenen Wiedereinstieg in die Nuklearenergie verfügen. Damit, so meint die Regierung, werde das Referendum überflüssig.
Auch wenn er im Parlament eine Mehrheit für das als Referendumskiller konzipierte Moratorium bekommt, liegt die endgültige Entscheidung über die Abhaltung der Volksabstimmung beim Kassationsgerichtshof: Juristen erwarten, das er das Referendum trotz Moratoriums stattfinden lässt. | 234,824 |
1 | Jeder hätte es wissen können, und doch taten alle überrascht, als ab Anfang Juni 2013 über die Sammelwut des amerikanischen Militärgeheimdienstes National Security Agency (NSA) berichtet wurde. Es liegt in der Natur der Sache, dass in diesem Fall nur ein Bruchteil der Wahrheit aufgedeckt werden wird. Dennoch ergibt sich bereits ein klar konturiertes Bild. Die NSA will auf alle Kommunikationsdaten Zugriff haben – und sie verfügt über die technischen Mittel, um im In- und Ausland herauszufinden, wer mit wem wie lange von wo aus telefoniert oder E-Mails ausgetauscht hat, wie und in welchem Umfang online Bankgeschäfte getätigt, Urlaube gebucht oder Informationen zu diesem und jenem abgerufen wurden. Kurz: Es geht um das Speichern aller elektronischen Daten, die im Alltag anfallen – um Informationen zur Aufklärung von Verbrechen, die noch nicht geschehen, ja noch nicht einmal geplant sind, und um Bewegungsprofile von Verdächtigen zu Zeiten, als diese sich noch gar nicht verdächtig gemacht hatten. In den Worten eines ehemaligen Mitarbeiters des US-Justizministeriums: "Nicht alle Daten sind relevant, aber die Datenbank ist relevant. Sie muss alles beinhalten, sonst ist sie wertlos."
Weil kein Geheimdienst dieser Welt Derartiges alleine bewerkstelligen kann, kooperiert die NSA mit Privatunternehmen wie dem Telefonanbieter Verizon, mit Internet-Größen wie Google, Facebook, Microsoft, Yahoo und Apple. Und nicht zuletzt mit einer Vielzahl vergleichsweise unbekannter IT-Firmen, deren Hauptgeschäft in der Beschaffung und Bearbeitung einschlägiger Informationen besteht. Auf diese Weise ist seit Herbst 2001 ein privater Spionagemarkt riesigen Ausmaßes entstanden. Ungefähr 500000 Beschäftigte privater Anbieter erhielten staatlicherseits die höchste Sicherheitsfreigabe und haben damit Zugriff auf alle Daten. Und die Profitmargen sind astronomisch: Der Technologiedienstleister Booz Allen Hamilton beispielsweise soll 2012 allein mit Regierungsaufträgen fast sechs Milliarden Dollar Umsatz gemacht haben. Wie alle Unternehmer haben auch diese ein doppeltes Interesse: dass mit ihrem Produkt ein Bedürfnis befriedigt wird und dass dieses Bedürfnis nicht versiegt. In anderen Worten: Wer Vorsorge gegen die Angst trifft, muss den Ängsten ständig neue Nahrung geben, um nicht bankrott zu gehen.
US-Präsident Barack Obama ging derweil zur Tagesordnung über. Bürgerrechte? Überwachungsstaat? Verfassungsbruch? Von wegen. Der Präsident war noch nicht einmal um Schadensbegrenzung bemüht, sondern verteidigte die Politik der NSA als notwendigen Beitrag zur "nationalen Sicherheit" und zur Rettung von Menschenleben. Und das in einem Tenor, der amerikanische Journalisten fast spöttisch über die dritte und vierte Amtszeit von George W. Bush schreiben ließ. In der Tat: Sobald national security auf der Agenda steht, gelten eigene Regeln. Auf diesem Terrain treten Parteien, Kongress und Wähler in eine Art Überbietungswettbewerb ein: Je mehr Geld investiert wird, je größer die Behörden und Institutionen und je schärfer das Vokabular, desto besser. Selbst für eingefleischte Republikaner, die ansonsten mit ihrer Staatsskepsis kokettieren, kann der national security state gar nicht stark und abwehrbereit genug sein. Wer als Meinungsforscher nach dem Vertrauen in Geheimdienste und Militär oder nach der Legitimität geheimdienstlicher Praktiken fragt, notiert regelmäßig Zustimmungsquoten von weit über fünfzig Prozent. Politiker, die auf diesem Terrain auch nur den Eindruck von Schwäche erwecken, haben gemeinhin verspielt.
Dass die Gewährleistung von Sicherheit zur raison d’être eines jeden Staates gehört, ist ein naheliegender, aber gleichwohl an der Pointe vorbei zielender Einwand. Denn im amerikanischen Fall steht national security für eine Art kollektiver Obsession. Für ein Denken und Fühlen nämlich, das keinen Unterschied zwischen Innen und Außen macht, das äußere und innere Feinde in einem überdimensionierten Tableau der Bedrohung wie Gleich und Gleich nebeneinanderstellt – genauer gesagt: amalgamiert. In dieser Vorstellungswelt sind ausländische Feinde von Haus aus viel zu schwach, um dem starken Amerika etwas anhaben zu können; bedrohlich werden sie erst, wenn Amerika im Inneren Schwäche zeigt, wenn es unentschlossen auftritt, wenn Unzuverlässige Verwirrung stiften, sich dem Feind als Helfershelfer anbieten oder gar zu ihm überlaufen. 1798 in den "Alien and Sedition Acts"erstmals aktenkundig, gehört die Phobie vor dem Feind im Inneren seither zum festen Bestandteil des politischen Lebens in den USA. Mitunter verdichtete sich das Misstrauen gegen die eigene Bevölkerung zu regelrechten Hysterien, die in den 1920er Jahren als "Red Scare" oder im frühen Kalten Krieg als "McCarthyismus" bekannt geworden sind. Die Exzesse dauerten nur wenige Jahre, das Grundrauschen indes blieb. Es konserviert verlässlich die vorauseilende Legitimation eines Staates, der den Schutz des Einzelnen vom Generalverdacht gegen alle abhängig macht. Verängstigte Nation
Woher rühren diese Angstfantasien, die stets präsenten und oft ins Maßlose übersteigerten Diskurse über Bedrohung und Verletzlichkeit? Unter dem Eindruck von "9/11" beschäftigen sich Historiker und Sozialwissenschaftler mehr denn je mit dieser klassischen Frage an die amerikanische Geschichte. So unterschiedlich ihre Ansätze und Ergebnisse auch sind, in einer Beobachtung sind sie sich offenkundig einig: Wer einen Schlüssel zum Verständnis des Problems sucht, sollte als Erstes einen genauen Blick auf die nationale Meistererzählung der Vereinigten Staaten werfen.
Ein derartiges Herangehen überrascht und irritiert zugleich. Denn Liberalismus und Exzeptionalismus – die beiden Grundpfeiler des amerikanischen Welt- und Selbstbildes – signalisieren im landläufigen Verständnis alles Mögliche. Nur mit Selbstzweifel, Verunsicherung oder Angst werden sie nicht in Verbindung gebracht, eher mit Selbstbewusstsein und Vertrauen. Liberalismus oder die Vision von der größtmöglichen Freiheit des Individuums ist untrennbar mit der Zuversicht verbunden, Menschen unterschiedlichster Herkunft, Religion und Ethnie zu souveränen Bürgern einer Nation machen zu können. E pluribus unum ("Aus Vielen, Eins"), so wie es im Siegel der Vereinigten Staaten steht, steht zugleich für die staatsbürgerliche Neutralisierung sozialer Unterschiede: Gleichberechtigung wiegt auf Dauer schwerer als soziale Differenz, das Angebot zur Inklusion entschärft die Gefahren gesellschaftlicher Exklusion. Auf diesen Prämissen fußt auch die Idee von der Einzigartigkeit Amerikas. Sie kann bekanntlich mit religiösen wie mit säkularen Gedanken begründet werden: mit dem Auftrag Gottes an sein auserwähltes Volk, ein "neues Jerusalem" aufzubauen und dafür Sorge zu tragen, dass die Freiheit nicht vom Erdboden verschwindet. Oder mit der Gründungsakte der Republik, in der erstmalig in der Weltgeschichte Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung als leitende Maximen staatlichen Handelns festgeschrieben wurden. Wenn der Historiker William E. Leuchtenburg von einem "quasi religiösen Glauben an Amerikas demokratische Mission" als einem überzeitlichen Phänomen spricht, so bezieht er sich auf das gemeinsame Dritte von Liberalismus und Exzeptionalismus – auf die unbedingte Überzeugung vom Gelingen des Experiments Amerika. Umgangssprachlich ausgedrückt: Failure is not an option.
Trotz alledem gehört eine angstbesetzte Schattenseite zu dieser Meistererzählung: die Dystopie vom ewigen Fremden oder unversöhnlichen Feind. Im Exzeptionalismus ist dieses Narrativ von vornherein ausbuchstabiert. Wer zum Vorbild berufen ist, so die Unterstellung, weckt den bösen Willen Anderer und wird umso verwundbarer, je erfolgreicher er ist. Und weil ausländische Neider und Hasser auf dem offenen Marktplatz der Ideen nicht bestehen können, verlegen sie sich auf die besonders hinterhältige Politik innerer Unterwanderung. Seit dem späten 19. Jahrhundert kommen derlei Ängste zunehmend als Zweifel an der Integrationskraft der Vereinigten Staaten zur Sprache. Wiewohl im liberalen Diskurs über "Rassenintegration" und Einwanderung die Vorstellung freiwilliger oder paternalistisch gesteuerter Assimilation stets präsent bleibt, kann von einem ungetrübt selbstbewussten Auftreten keine Rede sein. Im Gegenteil: "Nationale Sicherheit" gilt zunehmend als prekäres Gut, weil sich mit jeder Einwanderungswelle die Frage nach der Zuverlässigkeit der Fremden, nach ihrer Bereitschaft zur Anpassung, neu stellt – und weil auch dem Liberalismus die stereotype Zuschreibung innewohnt, dass bestimmte Ethnien zu diesen Anpassungsleistungen überhaupt nicht fähig sind. Das Selbstgespräch ist mithin ein Klagelied über unabänderliche Webfehler des liberalen Modells: Gerade wegen seiner Toleranz und Weltoffenheit setzt sich Amerika einem Belastungstest voller Unwägbarkeiten aus. Der Nährboden für hypertrophe Fantasien über Anfälligkeiten jedweder Art, über den Feind im Inneren zumal, könnte kaum fruchtbarer sein.
Posse Comitatus
Das Bemühen, reale Bedrohungen oder imaginierte Ängste zu bändigen, hat im Laufe der amerikanischen Geschichte einen besonderen Typus des Staatsbürgers hervorgebracht: den "Angstunternehmer". Gemeint sind Individuen, die sich alleine oder in Gruppen für die Belange "nationaler Sicherheit" engagieren – stets auf eigene Rechnung und jenseits etablierter Parteien, mit fließenden Übergängen von Selbstmobilisierung zur Selbstermächtigung. In den staatsfernen Räumen des jungen Amerika – von den schutzlosen Siedlungen in Neuengland bis zur frontier im Westen – war das Engagement des Einzelnen ein für das Überleben notwendiger Dienst an der Gemeinschaft. Dass mit dieser Pflicht zur Selbstverpflichtung auch die gegenseitige Kontrolle und Überwachung der Bürger untereinander gemeint war, nahm man anstandslos hin. Daraus bezogen die "Vigilanten", Sicherheitswächter im eigenen Auftrag, Legitimation und Renommee – obwohl sie Gefahren nicht nur eindämmten, sondern zum Erhalt ihrer Deutungsmacht die Angst vor der Gefahr auch am Köcheln hielten.
Der zur Gefahrenabwehr sich selbst ermächtigende Staatsbürger war seinem Selbstverständnis nach aber kein staatsferner Bürger. Er sprang in die Bresche, wenn die Umstände es erforderten; und er stellte sich in den Dienst des Staates, sobald dieser danach verlangte. Damit genügte er dem von England in die Neue Welt mitgeführten common law, das bekanntlich zweierlei verlangt: dass sich jeder Einzelne in Zeiten der Gefahr den lokalen Sicherheitskräften für Hilfsdienste zur Verfügung stellt und dass dergleichen Dienste vom Staat jederzeit in Anspruch genommen werden können. Das von Juristen sogenannte Prinzip des posse comitatus oder der possible force konnte sich auf Dauer behaupten und wurde 1791 in der amerikanischen Verfassung in Gestalt des zweiten Zusatzartikels verankert, welcher es der US-Regierung untersagt, das Recht auf privaten Waffenbesitz einzuschränken. Genau genommen benennt "the right to bear arms" nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zum Tragen von Waffen. An die Unerlässlichkeit eines wehrhaften Bürgerschutzes appellierten beispielsweise die ehemals konföderierten Staaten in den Chaosjahren 1874 bis 1876, als die reconstruction beendet war und eine Restauration der alten Ordnung begonnen hatte. Letztmals berief sich 1977 ein Sheriff in Aspen, Colorado auf posse comitatus und ernannte mit eigenen Waffen ausgestattete Bürger bei der Fahndung nach einem Massenmörder zu Stellvertretern. Beispiele dieser Art illustrieren den Kern der Geschichte: die auf zwei Schultern verteilte Wahrnehmung des Gewaltmonopols, die zum Prinzip erhobene Arbeitsteilung zwischen Staat und Bürgern bei der Herstellung innerer Sicherheit.
Das 20. Jahrhundert wurde zur großen Bühne von "Angstunternehmern" jeder Couleur. Sie traten als Wehrbürger und Nachbarschaftskontrolleure in Erscheinung, als Privatagenten und Denunzianten, als Rüstungslobbyisten und Militärexperten. So unterschiedlich ihr Auftreten auch war, gemeinsam teilten sie eine ins Maßlose übersteigerte Angst vor einem hausgemachten Scheitern Amerikas und das brennende Bedürfnis, den Feind im Inneren mit allen Mitteln zu bekämpfen. Mitte Juni 1916 fanden sie in Präsident Woodrow Wilson einen ihrer prominentesten Fürsprecher: "Illoyalität grassiert in den Vereinigten Staaten. Sie muss vollständig zerschlagen werden." Von Wehrbürgern, Privatagenten und Denunzianten
Zwischen 1914 und 1941, vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum japanischen Überfall auf Pearl Harbor, galt Einwanderung mehr denn je als Synonym für die Bedrohung "nationaler Sicherheit". Den politischen Anlass hatten aus Europa eingeschleuste beziehungsweise eingewanderte Terroristen geliefert: Agenten im Auftrag der deutschen Regierung, die am 30. Juli 1916 auf Black Tom Island vor New York City ein mit 2000 Tonnen Sprengstoff gefülltes Munitionsdepot der US-Streitkräfte in die Luft jagten; Anarchisten, die auf die Repression gegen die International Workers of the World und anderer Gewerkschafter mit einem Mordkomplott reagierten und von April bis Juli 1919 36 Paketbomben an führende Vertreter aus Politik und Wirtschaft verschickten sowie in sieben Städten insgesamt neun Bomben zündeten – glücklicherweise ohne Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen; und vermutlich wiederum Anarchisten oder Sozialisten, die am 16. September 1920 den schwersten Terroranschlag in den USA vor "9/11" verübten, als sie an der Wall Street einen Pferdewagen voller Dynamit in Brand steckten und 38 Passanten töteten sowie 400 verletzten.
Damit kehrte eine Urangst ins öffentliche Leben zurück, die bereits im 19. Jahrhundert für erbitterte Kontroversen gesorgt hatte: das Szenario politisch und sozial nicht integrierbarer Immigranten, illegal im Land lebender Unruhestifter und radikalisierter Bürger, die unter sozial entwurzelten Neuankömmlingen angeblich leichte Beute machten. National security wurde folgerichtig als Dreiklang buchstabiert: Soziale Disziplinierung, politische Homogenität, kulturelle Amerikanisierung. Unter diesem Schlachtruf versammelten sich seit 1914 diverse Bürgerorganisationen in ihrem Kampf für einen wehrhaften Staat: Die Army League, die Navy League, das Plattsburgh Movement, die National Security League, die American Protective League und nicht zuletzt der im November 1919 auf Schlachtfeldern in Frankreich gegründete Veteranenverband American Legion. Dass es um die Existenz der Nation ging, war aus ihrer Sicht keine propagandistische Taktik, sondern eine realitätsnahe Beschreibung zeitgenössischer Zustände.
Während des Ersten Weltkrieges verwandelte sich die weit verbreitete Unsicherheit in eine kollektive Hysterie. Hatten die staatsbürgerlichen Sicherheitsaktivisten anfänglich noch darauf gesetzt, die Heimatfront durch militärische Ausbildungslager für Freiwillige, sodann durch eine militärische Ausbildung aller Männer im wehrfähigen Alter unter Kontrolle halten zu können, so verschärfte man unter Führung der American Protective League alsbald die Gangart. "Verteidigungsräte" und "Patriotische Gesellschaften" übernahmen vielerorts die Aufgaben von Stadt- oder Regionalparlamenten und erließen Verordnungen mit Gesetzeskraft. "Feindliche Ausländer" oder alle, die man dafür hielt, mussten landesweit mit allem rechnen: Sie wurden in ungekannter Zahl denunziert, registriert, eingesperrt und deportiert, in aller Öffentlichkeit verprügelt, geteert, gefedert und bisweilen auch gelyncht. Als Justizminister Alexander Mitchell Palmer zur Reinigung des Landes "von diesem ausländischen Abschaum" aufrief und lautstark seine Hoffnung äußerte, "dass die amerikanischen Bürger für uns in einer riesigen Organisation als freiwillige Agenten tätig werden", waren diese Agenten längst unterwegs – nämlich in den Reihen der 300000 Mitglieder starken American Protective League, die regelrechte Suchtrupps losschickte, um Mitbürger auszuspionieren, Razzien gegen Sozialisten, Anarchisten und andere Verdächtige zu organisieren und Informationen an das Justizministerium sowie den im Aufbau befindlichen Inlandsgeheimdienst, das spätere FBI, weiterzugeben.
Dass sich das Phantasma "totaler Sicherheit" am Ende des Ersten Weltkrieges nicht erschöpft hatte, sondern auf Dauer konserviert wurde, geht auf die dauerhafte Kooperation zivilgesellschaftlicher Akteure mit staatlichen Funktionsträgern und Eliten zurück. Der Veteranenverband American Legion spielte dabei eine Schlüsselrolle und begründete seinen jahrzehntelang zutreffenden Ruf als einflussreichster "Angstunternehmer" der Vereinigten Staaten. Vernetzt mit einer Vielzahl von Clubs, Verbänden und Vereinigungen – von Handelskammern bis zu kirchlichen Organisationen –, sah die "Legion" die "Subversion im Inneren" als hauptsächliche Bedrohung "nationaler Sicherheit". Im Zuge ihrer Kampagne für "100 Prozent Amerikanismus" forderte sie einen kompletten Einwanderungsstopp für die Dauer von zehn Jahren, die Deportation illegaler Immigranten sowie die Säuberung aller Schulen und Universitäten von unzuverlässigem Lehrpersonal und anstößigem Schrifttum – und zwar mit Erfolg, wie zahlreiche Entlassungen und die von vielen Lehrern seither geforderten Loyalitätserklärungen belegen. Auch bei der Einrichtung eines auf staatsfeindliche Umtriebe spezialisierten Kongressausschusses im Jahr 1938, dem später legendären House Committee on Unamerican Activities, zählte die "Legion" zu den treibenden Kräften. Diese überbordende Energie bewog das FBI zu einer verstärkten Rekrutierung informeller Informanten aus den Reihen des Veteranenverbandes. 33000 waren es in den frühen 1940er Jahren, weit über 40000 im darauffolgenden Jahrzehnt.
So gesehen stand die Paranoia des Kalten Krieges schon auf Abruf bereit, ehe die Konfrontation mit dem neuen Feind überhaupt begonnen hatte. Der taktgebende Impuls war und blieb derselbe: Der Kommunismus ist im Grunde schwach, erst die Immunschwäche liberaler Demokratien macht ihn stark. Geändert hatte sich indes die Identität des Feindes im Inneren. Fortan ging es nicht mehr in erster Linie um ideologisch verseuchte Einwanderer, sondern um unzuverlässige Eliten. Gemeint waren fellow travelers aus Kultur und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft – Gelegenheitskommunisten also oder hinterlistige Verräter, die auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen waren. Als nicht minder verdächtig galten entscheidungsschwache, zögerliche und zu Kompromissen geneigte Diplomaten – ein Vorwand, der zehn Jahre lang für die Entlassung Hunderter Mitarbeiter des Außenministeriums herhalten musste, denen man homosexuelle Neigungen, Alkoholismus oder hedonistische Vorlieben andichtete. Dass die staatliche Überwachung seit den frühen 1950er Jahren auf die Spitze getrieben wurde, ist das Eine. Dass sie aber ohne die tätige Mithilfe "von unten" in dem heute dokumentierten Umfang kaum möglich gewesen wäre, ist das Andere. Der Informant konnte sich in diesem gesellschaftlichen Umfeld sicher sein, dass Bespitzelung und vorauseilende Weitergabe von Informationen jedweder Art den Status eines vorbildlichen Staatsbürgers beglaubigten. Ob bestimmte Hinweise tatsächlich von Wert waren oder nicht, blieb im Grunde zweitrangig. Was zählte, war der als staatsbürgerliche Pflicht geadelte Akt des Ausspionierens – und das damit verknüpfte Versprechen sozialer Aufwertung.
Eben darin liegt das Vermächtnis der "Angstunternehmer" aus der Zeit des Kalten Krieges – in der unhinterfragten Bereitschaft, den national security state grundsätzlich anzuerkennen und ihm zuzuarbeiten. Hatten wortmächtige Kritiker in den 1930er Jahren, unter ihnen auffallend viele Konservative, noch vor einer Aushöhlung demokratischer Fundamente durch wuchernde Sicherheitsapparate gewarnt, so verloren sich diese Einwände unter dem Eindruck jahrzehntelang wirkmächtiger Droh- und Angstkulissen. Womit nicht gesagt sein soll, dass es keine realen Bedrohungen gegeben hätte. Aber in erster Linie zahlt Amerika bis heute den Preis einer inflationären Angst, die in seiner kollektiven Imagination entstanden ist und noch immer mit Hingabe gepflegt wird. Unablässig auf der Suche nach Monstern, die es zu zerstören gilt, sind der politischen Klasse wie auch der Öffentlichkeit offenkundig die Maßstäbe abhandengekommen, zwischen Risiko, Bedrohung und Gefahr zu unterscheiden. Das aber ist die politische Lebensversicherung für den "nationalen Sicherheitsstaat" und eine carte blanche für seine Zuarbeiter. Transatlantische Gemeinsamkeiten
Die jüngsten Erkenntnisse über das flächendeckende Abzapfen von Kommunikationsdaten jeder Art zeigt einmal mehr, dass Europa wenig Grund hat, die Sicherheitsobsession in den USA als nationalen Sonderweg zu stigmatisieren. Gewiss gibt es amerikanische Spezifika, die besonderen historischen Umständen geschuldet sind und folglich einzigartig bleiben werden. Und dennoch befindet man sich diesseits des Atlantiks längst im Modus der Annäherung, wenn nicht der Nachahmung. Allein ein Blick in die Tagespresse zeugt von der Dynamik. Britische Geheimdienste stehen mit ihrem "Tempora"-Programm der NSA in nichts nach, der Bundesnachrichtendienst raunt von der Notwendigkeit eines "Technikaufwuchsprogramms", der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft erklärt den Schutz vor Terror zum "wertvollsten Bürgerrecht" und das von der NSA generierte Projekt "Prism" zum "Modell für Deutschland" und Europa. Und die Bundesregierung spielt das Problem nach Kräften herunter: "Wir müssen aktionsfähig bleiben" (Angela Merkel) – "Es (gibt) größere Bedrohungen für unsere Sicherheit als den amerikanischen Nachrichtendienst" (Wolfgang Schäuble).
Offenkundig hat das Denken in den Kategorien der Prävention auch in Europa seinen Siegeszug angetreten. Gemeint ist eine normative Zeitenwende, die traditionelle Maximen von Rechtsstaatlichkeit ebenso zur Disposition stellt wie konventionelle Vorstellungen über Aktion und Reaktion. Sobald man sich mit der Vision umfassender Sicherheit angefreundet hat, klingt der Grundsatz, erst im Nachgang einer Straftat die Ermittlungen aufzunehmen, in der Tat antiquiert. Wer nämlich danach strebt, dass Verbrechen – Terrorakte zumal – erst gar nicht begangen werden, plädiert für die Aufdeckung und Ahndung im Vorwege. Soll heißen: Ermittler nehmen auch ohne konkreten Verdacht ihre Tätigkeit auf, sie benötigen weder schlüssige Vermutungen noch tatsächliche Anhaltspunkte für eine Bedrohung. Die Frage ist nicht, ob oder wie wahrscheinlich ein Szenario ist; dass es potenziell vorstellbar ist und im Lichte vergangener Ereignisse nicht völlig abwegig erscheint, gibt den Ausschlag. Unter diesen Voraussetzungen wiegen die Risiken des Nichthandelns allemal schwerer als die Folgekosten einer vorzeitigen Intervention. In den Worten des amerikanischen Soziologen Cass Sunstein: "Nur oder vor allem dem schlimmstmöglichen Fall wird Beachtung geschenkt, selbst wenn dieser höchst unwahrscheinlich ist. (…) Das Vorsorgeprinzip (scheint) nur deswegen Orientierung zu bieten, weil die Frage der Wahrscheinlichkeit vernachlässigt wird." Darum dreht sich die politische Mobilisierung wider die Angst, die immer auch eine Selbstmobilisierung verängstigter Subjekte ist.
Im Zeichen eines vorbeugenden Bekämpfungsrechts sind die Fahndungsräume für imaginierte, fantasierte und konstruierte Gefahren jeder Art per definitionem unbegrenzt, im Prinzip kann und muss jederzeit gegen jedermann ermittelt werden. Wer aber die Unschuldsvermutung gegenüber einzelnen durch einen Generalverdacht gegen alle ersetzt, wer Personen nach Überzeugungen und Gesinnungen statt nach ihren Taten beurteilt und von Beschuldigten den Beweis ihrer Unschuld erwartet, verabschiedet sich von einer konstitutiven Prämisse des Rechtsstaates: dass der Staat fehlerhaft handeln kann und daher das Risiko eingehen muss, eher zehn Schuldige aus Mangel an Beweisen freizusprechen als einen Unschuldigen einzusperren. Ob der uralte Menschheitstraum von einer Welt ohne Gewalt dabei den Ausschlag gibt oder ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Funktionstüchtigkeit des Rechtsstaates in Zeiten des Notstandes, sei dahingestellt. In jedem Fall ebnet die antagonistische Entgegensetzung von Freiheit und Sicherheit einem maßlosen Streben nach Prävention die Bahn.
Mission Creep
Nicht zuletzt klingt auch die politische Selbstnarkotisierung vieler Europäer vertraut amerikanisch: "Wir haben nichts zu verbergen." Dass sich die Suchkriterien staatlicher Fahnder jederzeit ändern können und darum morgen verdächtigt wird, wer heute noch unauffällig lebt, ist ein naheliegender, aber kein hinreichender Einwand. Zu kritisieren ist vielmehr die selbst verordnete Ignoranz gegenüber der Eigendynamik eines "nationalen Sicherheitsstaates". Was auf dem Terrain der Terrorbekämpfung ins Werk gesetzt wird, so eine weitere transatlantische Erfahrung, ist in der Regel nicht nur irreversibel; es neigt auch zu unkontrollierter Ausdehnung. Mission creep heißt dieses Phänomen im Amerikanischen. Man könnte von einer infektiösen Eigendynamik sprechen, von einer schwer zu kontrollierenden Übertragung auf alle möglichen Problemfelder. Vorbeugende Überwachungen bieten sich auch zur Bekämpfung von Bandenkriminalität und organisiertem Verbrechen an, verschärfte Ausweisvorschriften können problemlos auf Ausländergesetze und Einwanderungsbestimmungen übertragen werden. Wer als Politiker dennoch auf Korrekturen besteht, setzt sich im Falle eines neuerlichen Anschlags dem Vorwurf unterlassener Vorsorge aus und riskiert die politische Karriere.
Davon abgesehen sind die Interessen von Geheimdiensten und anderen Sicherheitsapparaten erfahrungsgemäß nur mit hohem Aufwand zu bändigen. Aus Furcht um die eigene Legitimität, wenn nicht Existenz neigen derlei Institutionen strukturell zu einer Konservierung des Ausnahmezustands – oder, anders gesagt: zu einer überdehnten Interpretation der ihnen gewährten Kompetenzen und zur Schaffung weiträumiger Grauzonen. Mit dem Ergebnis, dass Vorschriften zur ministeriellen oder parlamentarischen Kontrolle selten den Praxistest bestehen. Von diesen "strukturell unstillbaren Sicherheitsbedürfnissen" handelt die Klage über den schrittweisen Ausbau des Präventionsstaates, darauf bezieht sich die Kritik an der Mentalität und am Auftreten von "Angstunternehmern" – nicht nur in den USA.
Steven Bradbury, zit. nach: Nicolas Richter, Das neue Gold des US-Geheimdienstes, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 22./23.6.2013, S. 8; vgl. Bernd Greiner, 9/11: Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011, S. 228ff.
Vgl. Matthias Rüb, Eine Truppe von mehr als 850000 Mann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 11.6.2013, S. 2.
Vier Bundesgesetze, mit denen dem Präsidenten unter anderem weitreichende Befugnisse zum Vorgehen (Verhaften, Abschieben) gegen Ausländer eingeräumt wurden (Anm. d. Red.).
Vgl. Peter N. Stearns, American Fear. The Causes and Consequences of High Anxiety, Hoboken, NJ 2006.
Vgl. William E. Leuchtenburg, Progressivism and Imperialism: The Progressive Movement and American Foreign Policy, 1898–1916, in: The Mississippi Valley Historical Review, 39 (1952) 3, S. 483–504, hier: S. 500.
Vgl. Lane Crothers, The Cultural Roots of Isolationism and Internationalism in American Foreign Policy, in: Journal of Transatlantic Studies, 9 (2011) 1, S. 21–34, hier S. 24; Stuart Creighton Miller, Benevolent Assimilation. The American Conquest of the Philippines, 1899–1903, New Haven 1982, S. 123–126, S. 137; Michael Patrick Cullinane, Liberty and American Anti-Imperialism, 1898–1909, New York 2012, S. 115–150.
Vgl. Christopher Capozzola, Uncle Sam Wants You. World War I and the Making of the Modern American Citizen, Oxford 2008, S. 119.
Vgl. ebd., S. 117–143, S. 207–214.
Woodrow Wilson, Rede bei einer Parade am 14.6.1916 in Washington, DC, zit. nach: Justus D. Doenecke, Nothing Less Than War. A New History of America’s Entry into World War I, Lexington 2011.
Vgl. W.E. Leuchtenburg (Anm. 5), S. 496.
Alexander Mitchell Palmer, zit. nach: Tim Weiner, FBI. Die wahre Geschichte einer legendären Organisation, Frankfurt/M. 2012, S. 61.
Vgl. ebd., S. 36. Zur Repression "feindlicher Ausländer" vgl. auch Jörg Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg. "Feindliche Ausländer" und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkriegs, Hamburg 2000, S. 354ff., S. 365, S. 392, S. 405, S. 413, S. 427ff.
Vgl. William Pencak, For God and Country. The American Legion, 1919–1941, Boston 1989, S. 265, S. 277.
Vgl. Eric Paul Roorda, McCarthyite in Camelot: The ‚Loss‘ of Cuba, Homophobia, and the Otto Otepka Scandal in the Kennedy State Department, in: Diplomatic History, 31 (2007) 4, S. 723–754, hier: S. 728, S. 751.
Vgl. Olaf Stieglitz, Undercover. Die Kultur der Denunziation in den USA, Frankfurt/M. 2013.
Vgl. Ira Chernus, Monsters to Destroy: The Neoconservative War on Terror and Sin, Boulder, CO 2006; sowie P. Stearns (Anm. 4), S. 188–191.
Rainer Wendt zit. nach: Sascha Lobo, Das Recht, vor dem die anderen verblassen, 11.6.2013, Externer Link: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/-a-904982.html (1.7.2013); Angela Merkel zit. nach: Merkel verteidigt Überwachungspläne, 17.6.2013, Externer Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/-a-906212.html (1.7.2013); Wolfgang Schäuble zit. nach: Der Tagesspiegel vom 7.7.2013, S. 3.
Cass Sunstein, Gesetze der Angst: Jenseits des Vorsorgeprinzips, Frankfurt/M. 2007, S. 56 und S. 63. Vgl. ebd., S. 14, S. 62, S. 98 und S. 103ff.
Vgl. Heribert Prantl, Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht, München 2008, S. 118, S. 143–147; Stephan Büsching, Rechtsstaat und Terrorismus. Untersuchung der sicherheitspolitischen Reaktionen der USA, Deutschlands und Großbritanniens auf den internationalen Terrorismus, Frankfurt/M. 2010, S. 135ff.; Anna Oehmichen, Terrorism and Anti-Terror Legislation: The Terrorized Legislator? A Comparison of Counter-Terror Legislation and Its Implications on Human Rights in the Legal Systems of the United Kingdom, Spain, Germany and France, Antwerpen 2009, S. 347–352; Winfried Hassemer, Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer, Berlin 2009.
W. Hassemer (Anm. 19), S. 8. Vgl. B. Greiner (Anm. 1), S. 234ff.; Jörg Häntzschel, Süchtig nach Angst, in: SZ vom 22./23.6.2013, S. 15.
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1 | Sexuelle Gewalt in Polens Kirche: „Das Böse ist in uns selbst“
Erstmals befasst sich die katholische Kirche Polens mit Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen. Die Opfer fordern Entschädigung.
Messe für Missbrauchsopfer in Krakau. Bild: dpa
WARSCHAU taz | In der Krakauer Herz-Jesu-Basilika hielten die zahlreichen Geistlichen und Gläubigen den Atem an, als Bischof Piotr Libera aus der Diözese Plock aus dem Brief eines Mädchens vorlas, das von einem Priester missbraucht worden war: „Ohne von mir abzulassen, antwortete er auf meinen Widerstand. ’Es geschieht dir nichts Schlimmes, schließlich bin ich Priester.‘ Er fummelte an mir herum und machte Fotos von meinen intimsten Stellen. Ich wusste nicht, was ich dagegen tun konnte.“ Am nächsten Tag hätten die gleichen Finger ihr die heilige Hostie auf die Zunge gelegt und dann wieder zum Gebetbuch gegriffen.
Zum ersten Mal befassten sich an diesem Wochenende Polens Geistliche offiziell mit dem Thema: „Wie verhindern und wie reagieren wir auf Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche?“ Eingeladen zur zweitägigen Konferenz in Krakau waren auch Missbrauchsopfer. „Beschämt und voller Reue bitten wir um Vergebung. Wir bitten Gott und wir bitten die Menschen, die durch Priester Leid erfahren haben,“ sagte Bischof Libera in seiner Bußpredigt.
Allzu oft hätten Polens Bischöfe pädophile Verbrechen in den Reihen der Kirche verneint, hätten beschwichtigt und bagatellisiert. Allzu lange hätten die polnischen Kirchenführer so getan, als seien Missbrauchsfälle in den klerikalen Reihen ein Problem anderer Länder. „Voller Scham sehen wir, dass das Böse in uns selbst ist“, so Libera. Das Schweigen solle nun ein Ende haben.
Nicht teilgenommen an dem Bußgottesdienst hatte allerdings Erzbischof Jozef Michalik, der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, wie auch die meisten anderen polnischen Bischöfe. Noch 2013 hatte Michalik behauptete, dass die Kinder selbst daran schuld seien, wenn sie von Geistlichen sexuell missbraucht würden: „Wir hören oft, dass dieses unangemessene Verhalten vorkommt, wenn ein Kind nach Liebe sucht“, sagte er laut polnischer Nachrichtenagentur PAP. Viele Missbrauchsfälle könnten „bei einer gesunden Beziehung zwischen den Eltern vermieden werden“. Zwar entschuldigte sich der Erzbischof kurz darauf für diese Aussage, doch die Empörung der polnischen Katholiken über die Selbstgerechtigkeit der Kleriker ebbte nur langsam ab.
Opferverband nicht eingeladen
Auch wenn die meisten Missbrauchsopfer das Schuldeingeständnis der katholischen Kirche gutheißen, erwarten sie doch mehr: eine strafrechtliche Verfolgung aller Täter und eine finanzielle Entschädigung. Dies jedoch lehnt die Kirche vehement ab. So wurde der Opferverband „Fürchtet euch nicht“, der Marcin K. und dessen Klage auf insgesamt 400.000 Zloty (umgerechnet rund 100.000 Euro) Entschädigung unterstützt, erst gar nicht eingeladen. Marcin K. war als zwölfjähriger Junge mehrfach im Pfarrhaus missbraucht worden. Da er fürchtete, der Priester könnte von der Kanzel herab etwas Schlechtes über ihn sagen, schwieg er jahrelang.
Polens Episkopat ist der Ansicht, dass die Kirche als Institution zwar die moralische Schuld mittragen könne, die finanzielle Entschädigung jedoch allein vom Täter zu leisten sei. | 234,826 |
1 | bpb.de: Die Digitalisierung verändert den Arbeitsmarkt. Es entstehen neue Jobs, andere werden wegfallen. Wie viele Arbeitsplätze bedroht sind, dazu gehen die Schätzungen auseinander: Jeder zehnte Job in Deutschland könnte gefährdet sein. Das hängt auch stark von der jeweiligen Branche ab. Aber wie wirkt sich die Digitalisierung auf die verschiedenen Altersgruppen aus? Sind vom Jobverlust vor allem ältere Arbeitnehmer betroffen?
Martin Krzywdzinski, Arbeits- und Industriesoziologe, Wissenschaftszentrum Berlin (© WZB, David Ausserhofer)
Martin Krzywdzinski: Das lässt sich nicht eindeutig beantworten, denn hier wirken unterschiedliche Trends. Erstens haben wir Branchen, in denen die Belegschaft schon heute stark überaltert ist. Dazu gehört zum Beispiel die öffentliche Verwaltung: Laut Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind dort 35 Prozent der Belegschaft über 55 Jahre alt. Zugleich gibt es in diesem Bereich einen großen Nachholbedarf bei der Digitalisierung von Prozessen. Deshalb könnte die Digitalisierung einen erheblichen Arbeitsplatzverlust in der Verwaltung bedeuten, der vor allem ältere Arbeitnehmer trifft.
Zweitens wissen wir aus verschiedenen Studien, dass gerade ältere Beschäftigte viel weniger von betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen erfasst werden als jüngere. Ebenso fehlen passende Maßnahmen, die gezielt auf die Bedarfe älterer Beschäftigter abgestimmt sind. Doch wenn die Älteren weniger stark an betrieblicher Weiterbildung partizipieren, sind sie dementsprechend auch stärker von Arbeitsplatzverlust durch Digitalisierung betroffen.
Neben dem Alter gibt es noch weitere Faktoren: Zum Beispiel ist in einem kleineren Betrieb generell die Gefahr größer, nicht an Weiterbildung zu partizipieren als in einem größeren; Geringqualifizierte werden weniger in Weiterbildungsmaßnahmen integriert als höher Qualifizierte. Zugleich ist es wichtig, auch die positiven Dynamiken der Digitalisierung zu sehen.
Wo zeigen sich diese positiven Entwicklungen – gerade mit Blick auf ältere Arbeitnehmer?
Es gibt eine Reihe technologischer Entwicklungen, die nicht darauf hinauslaufen Arbeitsplätze zu vernichten. Vielmehr können diese helfen, altersgerechte Arbeitsplätze zu schaffen. Aus der Forschung wissen wir, dass nicht allein das Alter die Leistungsfähigkeit beeinflusst. Entscheidend ist auch, ob der Arbeitsplatz an das Alter angepasst ist.
Viele Entwicklungen in der Robotik sind im Moment weniger darauf ausgerichtet, im großen Stil Prozesse zu automatisieren. Es geht eher darum, bei körperlich belastender Arbeit und/oder monotoner Tätigkeit die Arbeitskräfte zu unterstützen und zu entlasten. Dazu gehört zum Beispiel die Entwicklung von Exoskeletten. [Solche äußeren Skelette werden für die Industrie entwickelt. Es sind Roboter oder Maschinen, die am Körper tragbar sind und Arbeitskräfte bei Bewegungen unterstützen; Anm. d. Red.] Diese werden zum Beispiel von Ford für ergonomisch besonders belastende Arbeitsplätze eingesetzt, an denen Personen über Kopf heben oder montieren müssen. Solche Entwicklungen können Arbeitsplätze auch für ältere Beschäftigte erhalten.
Bleiben wir bei den älteren Arbeitskräften. Sie sagen, dass diese Gruppe nicht stark genug von Weiterbildung profitiert. Das heißt, man könnte älteren Beschäftigten durch mehr Weiterbildung die Angst und Unsicherheit vor der Digitalisierung nehmen?
Auf jeden Fall. Aber Betriebe haben Angst in jemanden zu investieren, der vielleicht nur noch fünf Jahre im Unternehmen bleibt. Und wie gesagt, es fehlt an gezielten Weiterbildungsangeboten. Ältere haben meist einen großen Erfahrungsschatz, aber vielleicht brauchen sie andere Lernformen oder andere Lernumgebungen, in denen sie nicht mit Jüngeren konkurrieren müssen. Hier gibt es einen großen Bedarf in den Betrieben, aber auch in der Bildungspolitik.
Was in den Betrieben auch generell fehlt, ist eine längerfristige Personalentwicklung. Für Manager und Top-Talente ist das Standard. Aber Betriebe müssen auch bei angelernten Kräften schauen, welche Entwicklungswege sie ihnen im Laufe des Arbeitslebens bieten – zum Beispiel in Richtung Fachtätigkeit. Das müsste noch viel stärker Thema sein.
Neben der Digitalisierung des Arbeitsmarktes, verändert sich eben auch die Bevölkerung: Wir werden immer älter und auf lange Sicht wird die Bevölkerung vermutlich schrumpfen. Wie bewerten Sie – mit Blick auf den Arbeitsmarkt – das Verhältnis dieser beiden Trends zueinander? Erleben wir eine besondere Situation? Oder ist das letztlich nichts Neues?
Ich bin gegen alarmistische Szenarien. Die Digitalisierung ist ein Prozess, der sich viel langsamer entwickelt als das oftmals – gerade auch in der Mediendebatte – dargestellt wird. Es ist keine Revolution, die morgen alle Fabriken umkrempelt. Digitalisierung ist ein gradueller Prozess, der sowohl auf Grund von Kompetenzwandel Beschäftigung für Ältere in Frage stellt als auch neue Beschäftigung von Älteren ermöglicht, indem Arbeitsplätze altersgerechter werden können.
Es ist schwierig, langfristige Trends zu bestimmen. Entscheidend ist auch die Frage, was im Zuge der Digitalisierung wichtiger wird: Die Entwertung von Kompetenzen, die vor allem die Beschäftigung von Älteren gefährdet oder eben die Unterstützung durch neue Technologien, die die Beschäftigung von Älteren möglich macht.
Eine Sache wird sicherlich eintreten: Ab 2025 werden die Babyboomer nach und nach in Rente gehen. Das sind die geburtenstarken Jahrgänge 1954 bis 1969. Das wird in den darauffolgenden Jahren die Erwerbsbevölkerung schrumpfen lassen. Ist das der Moment, wenn sich jüngere Arbeitnehmer ihre Jobs sehr viel einfacher aussuchen können?
Teils erleben wir das schon jetzt, eben weil am Arbeitsmarkt neue Kompetenzen benötigt werden. Zum Beispiel merken wir im Bereich Informatik, wie sich existierende Berufsbilder verändern. Zugleich entstehen neue Berufszweige mit Fokus auf Datenanalyse.
Der Arbeitsmarkt verändert sich und das könnte, wenn es insgesamt weniger Arbeitskräfte gibt, zu einem großen Problem werden. Zugleich ist Demografie etwas, das flexibel ist. Vielleicht werden wir endlich die offene Einwanderungsgesellschaft, die wir sein sollten. Wir müssen uns für Zuwanderung in unsere Arbeitsmärkte öffnen und zugleich in die Modernisierung unseres Ausbildungssystems investieren. Das könnte etwa bedeuten, die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt stärker zu integrieren. Und im Hinblick auf unsere Ausbildungssysteme ist der riesige Investitionsstau allgemein bekannt: Das fängt bei der Modernisierung der Ausstattung von Schulen an und geht bis zu einer Anpassung der Berufsausbildung an die Herausforderungen der Digitalisierung.
Das Interview führte Sonja Ernst.
Martin Krzywdzinski, Arbeits- und Industriesoziologe, Wissenschaftszentrum Berlin (© WZB, David Ausserhofer)
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1 | Polizei-Videos zu Silvester in Köln: Riskante Räumung
Neu aufgetauchte Polizei-Videos zeigen, dass der Einsatz chaotischer war als bisher angenommen. Teilweise standen wenige Polizisten einer dichten Menge gegenüber.
Alles ruhig: Polizisten stehen Anfang Januar vor dem Kölner Hauptbahnhof Foto: dpa
KÖLN epd | Der Polizeieinsatz in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof verlief einem WDR-Bericht dramatischer als bisher bekannt. Bislang unter Verschluss gehaltene Polizei-Videos offenbarten, wie riskant die Räumung des Bahnhofsvorplatzes mit nur rund 80 Bereitschaftspolizisten war, berichtet das WDR-Magazin „Westpol“ in seiner Sendung vom Sonntag (19:30 Uhr). So zeigten die Filme, die dem WDR vorliegen, wie der Polizeieinsatz am 31. Dezember 2015 kurz vor Mitternacht mehrfach ins Stocken geraten sei. Am entscheidenden oberen Ende der Domtreppe habe letztlich nur eine Handvoll Beamte einer dicht gedrängten Masse von Leuten gegenübergestanden.
In den Polizei-Videos ist laut „Westpol“ weiter zu sehen, wie es zu Schlägereien und Tumulten kommt. Eine junge Frau beschwert sich laut darüber, von Männern „angefasst“ zu werden. Immer wieder durchbrechen Personen problemlos die Polizeisperre und laufen auf den Bahnhofsvorplatz. Anders als bislang bekannt, blieb demnach eine der Haupteingangs-Türen des Bahnhofes während der Räumung offen. Das hatte zur Folge, dass bereits kurz nach Ende der Räumung gegen 00.15 Uhr der Platz wieder dicht gefüllt gewesen war, wie es hieß.
Der ehemalige Hagener Polizeidirektor und Dozent für Einsatzlehre, Bernd Liedtke, kritisiere den Einsatz scharf. „Aus meiner Sicht ist die Lage vollkommen falsch beurteilt worden“, sagte er dem WDR-Magazin. Das betreffe sowohl die Planung als auch die Entscheidungen der leitenden Einsatzkräfte vor Ort. „Die Kollegen vor Ort waren überfordert und in großen Teilen sogar persönlich gefährdet“, beurteilte Liedtke die Situation.
„Westpol“ verwies hier auf eines der internen Polizei-Videos, in dem sich Einsatzkräfte selbst verärgert äußern, dass die Räumung nicht reibungslos funktioniert. Auch der Einsatzleiter lässt durchgeben, die notwendige Polizeisperre am linken Ende der Domtreppe könne man einfach „mit zwei Mann nicht halten.“ Dagegen hatte er laut Magazin vor dem Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag ausgesagt, die Räumung sei mit den vorhandenen Kräften machbar gewesen.
In der Silvesternacht hatten am Kölner Hauptbahnhof Gruppen junger Männer vor allem aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum zahlreiche Frauen sexuell belästigt und bestohlen. Bei der Staatsanwaltschaft Köln gingen über tausend Anzeigen ein. Bislang wurde keiner der Täter verurteilt. Die erste Anklage wegen versuchter sexueller Nötigung blieb am Freitag vor dem Amtsgericht Köln erfolglos, weil das Opfer den Angeklagten nicht als Täter wiedererkannte. | 234,828 |
0 | Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
»O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht,
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muß der Freund mir erbleichen.« | 234,829 |
0 | Sie hatten beschlossen, statt des Rittes zu wandern. Nun streunten sie
durch den Wald. Hilde führte. Warf sich mit dem ganzen Körper in die jungen
Pflanzungen. Verhalten in Wollust fing sie in geschmeidigen Biegungen die
zurückpeitschenden Zweige auf. Oft sah es, hob sie den Fuß auf, aus, als
schösse sie damit aus der Erde, und das gleiche Zucken war in den Haken wie
im Halse. Robert folgte mühsamer, des verletzten Fußes Widerstand in
hingerissenem Zusammenbeißen überwindend. Manchmal klatschten ihm die
Büsche über der Stirn zusammen, und es striemte blendend auf, aber wie
angeseilt trat er fast genau in Hildes Spur. Sie sprach kein Wort. Als ob
sie flüchte, schien es zuletzt, denn rief er sie an, streckte sie wie in
ängstlicher Abwehr die Hände vor, und scheu prallte ein Blick an ihm vorbei
in den Boden. Allmählich wurde das Laufen zur Jagd. Über welliges Terrain
stürzten sie, strauchelten, verfingen sich in einer Schonung, Heere von
Brennesseln warfen sich ihnen entgegen, gefällte Baumstämme glotzten
höhnisch, und ab und zu flog in ihres Atems sommerliches Keuchen scharf und
schneidend ein Vogelruf und sauste annagelnd wie ein Pfeil durch die Hirne.
Plötzlich sprang der Wald vor einem glatten, breiten See in sich zurück und
umlief ihn buhlerisch mit den tastenden Fingern heller Sanddünen. Erst als
ihre Schuhe in feuchtem Boden versanken, blickte Hilde auf. Die Wasserweite
rauschte hoch gegen sie und erschlug ihre Augen, so daß sie sich umdrehte
und dunkel und rot aufflammte vor Roberts staunendem Erstarren. Er blieb
von ihr fünf Schritte. Eine Zärtlichkeit überwältigte ihn. Ohne Maßen
schaute er auf Hilde, und die verborgenen Bekenntnisse blühten ihm in die
Lippen, daß sein Gesicht vor deren Blut die Farbe verlor und klein wurde,
spitz und demütig. Der See sank und hob sich hinter Hilde. Die fernen
Küsten unterliefen silbern ihre Achseln. Sie sah den Mann, die Bäume, die
Luft, die schwang und sie umwirbelte. Breit schlug sie die Arme auseinander
und nagelte sich rückwärts gegen die Sonne. Von ihren Fingern zuckten die
Strahlen. Von allen Seiten schoß das Begehren nach Sein in sie. Qualvoll
reifte gewaltig in ihr eine Welt und stieg vom Schoß zum Herzen. Ihr Mund
begann zu tönen: | 234,830 |
0 | -- Ich weiß, daß dieser Mensch an einer Verschwörung gegen meinen Vater
teilgenommen hat. Doch da er gleich mir die Einnahme unserer Stadt
überlebte, kann ich ihm nicht zürnen. Ich werde tatsächlich für ihn eine
Barke ausrüsten lassen, werde aber bitten, daß man ihm verbiete, sich in
Neapel zu zeigen. Mag er seine Geschäfte irgendwo um Tarent weiterführen. | 234,831 |
1 | Literatur
Alvaro, Alexander/Zorn Steffen, Die Situation der Grund- und Menschenrechte innerhalb der EU, Hamburg 2007, 290 S.
Amnesty International (Hg.), Jahresbericht 2007, Frankfurt/M. 2007, 512 S.
Bielefeldt, Heiner, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, Bielefeld 2007, 216 S.
Bogner, Daniel, Ausverkauf der Menschenrechte?, Freiburg 2007, 142 S.
Bundeszentrale für politische Bildung/Deutsches Institut für Menschenrechte/Europarat (Hg.), Kompass. Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit, Berlin/Bonn 2005, 424 S.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen (Schriftenreihe der bpb Bd. 397), 4. Auflage, Bonn 2004, 616 S.
Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Jahrbuch Menschenrechte 2007, Frankfurt/M. 2006, 369 S.
Deutsches Komitee für UNICEF (Hg.), Zur Situation der Kinder in der Welt 2007, Frankfurt/M. 2007, 255 S.
Engelmann, Reiner/Fiechtner, Urs M., Kinder ohne Kindheit. Ein Lesebuch über Kinderrechte, Düsseldorf 2006, 211 S.
Fritzsche, Klaus Peter, Menschenrechte. Eine Einführung mit Dokumenten, Paderborn 2004, 422 S.
Gareis, Sven/Varwick, Johannes, Die Vereinten Nationen, 3. Auflage, Bonn 2003, 411 S.
Greenpeace (Hg.), Das NGO Handbuch, Hamburg 2007, 475 S.
Hutter , Franz J. u.a. (Hg.), Jahrbuch Menschenrechte 2008. Themenschwerpunkt: Sklaverei heute, Frankfurt/M. 2007, 341 S.
Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Der Internationale Strafgerichtshof. Eine Einführung, 2. überarb. u. erg. Aufl., Frankfurt/M. 2005, 125 S.
Janz, Nicole/Risse, Thomas (Hg.), Menschenrechte - Globale Dimensionen eines universellen Anspruchs, Baden-Baden 2007, 188 S.
Menke, Christoph/Pollmann, Arnd, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg 2007, 256 S.
Mihr, Anja/Rosemann, Nils, Bildungsziel: Menschenrechte. Standards und Perspektiven für Deutschland, Schwalbach/Ts. 2003, 96 S.
Müller-Heidelberg, Till, Grundrechte-Report 2007, Frankfurt/M. 2007, 256 S.
Nitschke, Peter (Hg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Eine Verortung, Bochum 2005
Politkovskaja, Anna, In Putins Russland (Schriftenreihe der bpb Bd. 602), Bonn 2006, 314 S.
Pro Asyl (Hg.), Vom Fliehen und Ankommen. Flüchtlinge erzählen, Karlsruhe 2006, 142 S.
Richter, Ingo (Hg), Transnationale Menschenrechte. Schritte zu einer weltweiten Verwirklichung der Menschenrechte, 2007, 322 S.
Schmidt, Burghart (Hg.), Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart, Hamburg 2006, 335 S.
Toivanen, Reeta/Mahler, Claudia, Menschenrechte im Vergleich der Kulturen, Nordhausen 2005, 110 S.
Schirrmacher, Christine/Spuler-Stegemann, Ursula, Frauen und die Scharia. Die Menschenrechte im Islam, München 2006, 314 S.
Internetadressen
Externer Link: Netzwerk von 48 NGOs
Externer Link: Amnesty International
Externer Link: Europarat
Externer Link: European Center for Constitutional Rights
Externer Link: Human Rights Watch
Externer Link: Internationale Gesellschaft für Menschenrechte
Externer Link: Internationale Liga für Menschenrechte
Externer Link: Deutsches Institut für Menschenrechte
Externer Link: Pro Asyl
Externer Link: www.oxfam.de
Externer Link: www.reporter-ohne-grenzen.de
Externer Link: www.terre-des-femmes.de
Externer Link: terre des hommes
Externer Link: Deutsches Komitee für UNICEF
Externer Link: Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
Externer Link: Vereinte Nationen
Externer Link: Deutsche Welthungerhilfe
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1 | Steudtner-Prozess beginnt in der Türkei: „Die Chancen stehen schlecht“
Den Angeklagten drohen in der Türkei bis zu 15 Jahre Haft. Ein faires Verfahren gegen Peter Steudtner und weitere Menschenrechtler ist unwahrscheinlich.
Peter Steudtner: Fotograf und Menschenrechtler Foto: dpa
ISTANBUL dpa | Nach 100 Tagen Untersuchungshaft in der Türkei beginnt an diesem Mittwoch in Istanbul der Prozess gegen den Deutschen Peter Steudtner und weitere Menschenrechtler. Die Staatsanwaltschaft wirft Steudtner und den zehn anderen Angeklagten „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ beziehungsweise „Unterstützung von bewaffneten Terrororganisationen“ vor. In Deutschland wurden vor Prozessbeginn Stimmen laut, die ein faires Verfahren für Steudtner in der Türkei anzweifelten.
Unter den elf Angeklagten sind auch Steudtners schwedischer Kollege Ali Gharavi, der Vorsitzende von Amnesty International in der Türkei, Taner Kilic, und Amnesty-Landesdirektorin Idil Eser. Amnesty teilte mit, den Beschuldigten drohe wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bis zu 15 Jahre Haft. Die Anwälte von Steudtner und Gharavi gehen allerdings davon aus, dass ihre Mandanten lediglich der Terrorunterstützung bezichtigt werden, was mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann.
Die Anklageschrift – die Amnesty als „absurd“ bezeichnet hat – lässt keinen klaren Schluss darauf zu, welcher Terrororganisation Steudtner und Gharavi angehören sollten. Steudtner gehört zu mindestens elf Deutschen, die in der Türkei aus politischen Gründen inhaftiert sind und deren Freilassung die Bundesregierung fordert.
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth äußerte starke Zweifel daran, dass Steudtner in der Türkei mit einem fairen Verfahren rechnen kann. „Es ist ein Skandal, dass das Gericht die Anklage mit den völlig aus der Luft gegriffenen Vorwürfen überhaupt zugelassen hat“, sagte die Grünen-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur. „Alleine das lässt befürchten, dass kein faires Verfahren zu erwarten ist.“ Der Fall zeige, „in was für einem dramatischen Ausmaß der Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei abgebaut wurden“.
Deutsche Staatsbürger als Geiseln
Auch nach Überzeugung des Deutschen Richterbundes kann Steudtner nicht auf ein faires Gerichtsverfahren bauen. „Die Chancen auf einen fairen, rechtsstaatlichen Prozess stehen für Peter Steudtner und andere in der Türkei inhaftierte Deutsche denkbar schlecht“, sagte der Bundesgeschäftsführer des Richterbundes, Sven Rebehn, der Neuen Osnabrücker Zeitung (Mittwoch).
Der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt sagte der Heilbronner Stimme (Mittwoch): „Die Türkei sollte jetzt die Chance nutzen und durch einen fairen Prozess gegen Peter Steudtner vor aller Welt zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren. In diesem Fall hätte ich an seinem Freispruch keinen Zweifel.“ Die stellvertretende Linke-Fraktionschefin Sevim Dagdelen forderte eine weitere Verschärfung der deutschen Türkei-Politik. „Wer wie die Türkei meint, unbescholtene deutsche Staatsbürger als Geiseln halten zu müssen, der darf kein Partner der Bundesregierung sein“, erklärte sie.
Steudtner, Gharavi und acht türkische Menschenrechtler waren am 5. Juli bei einem Workshop auf einer Insel bei Istanbul unter Terrorverdacht festgenommen worden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte die Menschenrechtler dann beim G20-Gipfel in Hamburg in die Nähe von Putschisten gerückt. Am 18. Juli verhängte ein Gericht in Istanbul daraufhin Untersuchungshaft gegen die beiden Ausländer und mehrere andere Beschuldigte. Danach erhob Erdogan im Zusammenhang mit Steudtner Spionagevorwürfe gegen die Bundesregierung.
Angebliches Gülen-Mitglied
Kilic war bereits im Juni in U-Haft genommen worden, sein Fall wurde der Anklageschrift überraschend hinzugefügt. Ihm wird Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung vorgeworfen, die die Regierung für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht. Amnesty weist die Vorwürfe gegen ihren Türkei-Vorsitzenden zurück. Der Generalsekretär von Amnesty Deutschland, Markus Beeko, nannte die Vorwürfe gegen die elf Menschenrechtler „falsch und diffamierend“.
Mit Blick auf den Workshop, den die Polizei gestürmt hatte, fügte Beeko hinzu: „Eine reguläre Fortbildung für Menschenrechtler wird in den Anklageschriften in ein konspiratives Geheimtreffen umgedeutet.“ Steudtner und Gharavi waren als Referenten zu dem Seminar eingeladen gewesen, bei dem es laut Amnesty um digitale Sicherheit und die Bewältigung von Stresssituationen ging. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin hieß es, der deutsche Generalkonsul in Istanbul, Georg Birgelen, wolle den Prozess gegen Steudtner am Mittwoch beobachten. | 234,833 |
0 | Geschenkeparadies der Uefa: Die lieben blauen Wichtel
Bei der Männer-EM lässt der Verband richtig was springen: Essen, Rucksäcke, außergewöhnliche Ventilatoren. Doch auch diese Gaben haben ihren Preis.
Mildtätige Organisation: die Uefa kann auch reichlich beschenken Foto: Agencia EFE/imago-images
In Budapest bin ich unversehens ins Geschenkparadies der Uefa geraten. Denn der Verband straft nicht nur SportjournalistInnen, die Akkreditierungen vergessen, er beschenkt sie auch sehr großzügig, wenn sie das nicht tun. Mit gutem Grund war ich die ganze Vorrunde über nicht in diesen Medienraum im Stadion gegangen. Die Texte schreibe ich lieber zu Hause auf dem Bett, in Budapest war das bei einem sehr netten, coronaleugnenden Eso-Paar, begleitet vom Soundtrack der überhitzten Wohnung: „Schwanensee“ oder Anthroposophie-Konferenzen im Radio.
Zum Achtelfinale war ich tatsächlich im Medienraum, eher versehentlich, ich fühlte mich fremd. Und dann prasselte sie auf mich ein, die Bescherung. Es gab, zunächst mal: Esspakete. Ein bisschen wie beim Schulausflug, mit Sandwich, Banane, Joghurt, Kartoffelsalat. Das wusste ich nicht. Ich hatte immer treuherzig an der Stadionbude gekauft. Ist das wirklich alles für mich? Und dieses Grundschultütchen war ehrlich gut. Kein Vergleich zur Frauen-WM, wo es mit Glück mal eine Stulle gab. Ich stellte fest, dass die Auswahl sogar ziemlich vegetarisch war, mit Kresse-Tofu-Sandwich. Bei den Männern lässt der Verband richtig was springen. Ich mag sie doch, die Uefa.
Dann umschwirren mich schon die blauen Volunteers. Ob ich schon mal hier war. Wie, nicht? Ob ich dann noch nicht dies hätte und das. Den Rucksack zum Beispiel. Ich verneine, und bekomme prompt einen grauen Rucksack mit Uefa-Logo ausgehändigt. Auch der ist sehr schick. Die Beziehung zwischen der Uefa und mir erreicht einen zwischenzeitlichen Höhepunkt. Zurück in der Wohnung stelle ich fest, dass die fleißigen blauen Männchen mir auch noch heimlich noch mehr Geschenke in den Rucksack gepackt haben.
Fünf Adapter für ausländische Steckdosen zum Beispiel. Ich bin fassungslos, fast demütig beschämt. Vielleicht sollte ich auch mal anders über die Uefa schreiben, großzügiger. Großzügig wie die Uefa. Immerhin, ein völlig bekloppter Mini-Ventilator eines Sponsors mit stierendem, einäugigem blauem Monsterl ist auch dabei. Die Welt ist noch nicht verloren.
Doch alles, was man im Leben bekommt, hat bekanntlich seinen Preis. Meinen erfahre ich am Flughafen. Denn ich habe bei der Billig-Airline nur das Handgepäck bezahlt. Der Aufpreis für den Uefa-Rucksack würde ausreichen, einen neuen zu kaufen. Ich zögere kurz. Nein, das ist nicht wahr, ich zögere keine Sekunde. Ich will dieses schmeichelhafte Ding, wo Baku, Budapest und so draufsteht, und ich will mein Monsterl. Ich zahle.
Auf Zwischenstopp in Köln stellt mein viel pragmatischerer Freund dann fest, dass die Steckdosen-Adapter der Uefa mir gar nichts nützen, weil nur ausländische Ladekabel darauf passen. Den Rucksack kann ich auch nicht mit mir rumschleppen, zu viel Gepäck. Der Wert der Geschenke schrumpft von Minute zu Minute dramatisch. Aber die Katzen meiner Eltern lieben den blinkenden Ventilator mit dem Monsterl. | 234,834 |
1 | Die Website und App von HanisauLand.de, dem Online-Angebot für Kinder der bpb, hat in der Kategorie „Angebote für Kinder“ den Pädagogischen Medienpreis 2019 am 29. November 2019 gewonnen. Die Preisverleihung fand im Münchner Kulturzentrum statt. Jeweils sechs Angebote für Kinder und Jugendliche durften sich mit einem Preis schmücken, zwei Sonderpreise wurden an Angebote vergeben, die in der pädagogischen Arbeit genutzt werden können.
„Unter den diesjährigen Gewinnern finden sich erfreulich viele Angebote, die gesellschaftspolitisch relevante Inhalte aufgreifen. Der Instagram-Kanal „Ozon“ widmet sich dem Umweltschutz, die App „Konterbunt“ wappnet gegen Vorurteile und im „Hanisauland“ wird Kindern Politik nähergebracht. Hier werden wichtige pädagogische Herausforderungen aufgenommen und in unterhaltsamer, multimedialer Form dargeboten.“, so Medienpädagoge und Jury-Mitglied Björn Friedrich.
HanisauLand ist ein Onlineangebot der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, das Kindern im Alter zwischen 8 und 14 Jahren auf anschauliche und unterhaltsame Art und Weise Grundlagen zum Verständnis von Politik zu erklären und ihnen eine Vorstellung davon zu geben, wie demokratisches Zusammenleben in unserer Gesellschaft funktioniert. Kern des Projektes ist die Internetseite Externer Link: www.hanisauland.de. Pünktlich zur EU-Wahl am 26. Mai 2019 wurde auf der Seite ein Externer Link: virtueller Rundgang durch die Institutionen der EU veröffentlicht.
Der Pädagogische Medienpreis wird seit 1998 von der medienpädagogischen Facheinrichtung „SIN – Studio im Netz“ vergeben.
Unter www.pädagogischer-medienpreis.de sind die Kurzbegründungen der Jury, eine Video-Präsentation aller Preisträger sowie ausführliche Informationen zur Konzeption des Preises zu finden.
Pressemitteilung als Interner Link: PDF
Pressekontakt
Bundeszentrale für politische Bildung Stabsstelle Kommunikation Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: [email protected]
Pressemitteilungen der bpb abonnieren/abbestellen: Interner Link: www.bpb.de/presseverteiler | 234,835 |
0 | Eine der ältesten Heiligen ist St. Afra. Ihre Mutter hielt ein Bordell
in Augsburg, und sie war darin eine der fungierenden Priesterinnen. Der
Zufall, natürlich, führte einst den spanischen Bischof Narzissus in dies
Haus. Er bekehrte die Priesterinnen der Venus zum Christentum, und Afra,
mit der er sich am meisten beschäftigte, machte er zur Heiligen. Sie
wurde später als Märtyrerin verbrannt. | 234,836 |
0 | Petition der Woche: Alle Tore des BFC Dynamo umsonst?
Das Sportforum Hohenschönhausen soll saniert werden. Der Bauplan des Berliner Senats könnte dem Ostberliner Fußballverein das Stadion kosten.
Fußballstadion des BFC Dynamo im Sportforum Berlin Foto: Joko/imago
„Berlin hat ein Stadionproblem“ – sagt Rudi K. und klingt ruhig und bedacht dabei. Obwohl er bei dem Thema gute Gründe hätte, unruhig zu werden. K.s Verein droht, sein Stadion zu verlieren und damit den Mittelpunkt des Vereinslebens, „seine Heimat“, wie Rudi K. es nennt.
Vor knapp vier Wochen startete der Mann, der seinen Nachnamen lieber nicht in einer Zeitung gedruckt sehen will, eine Petition auf change.org. Fast 8.000 Unterschriften sind dabei mittlerweile eingegangen, viel mehr als erwartet. Denn K.s Verein ist ein „spezieller Verein“, wie er sagt, einer, „der nicht bei jedem Menschen gut ankommt“: der BFC Dynamo Berlin, ein ehemaliger DDR-Rekordmeister, der sich in den Tagen des „realexistierenden Sozialismus“ mit Stasi-Chef Erich Mielke als Ehrenvorsitzendem schmückte.
Gegründet wurde der BFC 1966 im Sportforum Hohenschönhausen in Berlin-Lichtenberg. Hier steht auch das Stadion, in dem der BFC seine Heimspiele austrägt. Doch das ändert sich wohl bald: Der Berliner Senat will das Sportforum sanieren und zu einem „nachhaltigen nationalen Spitzensportzentrum“ umbauen lassen, wie es im planerischen Jargon heißt. Einfacher gesagt: Das jetzige Stadion soll abgerissen und durch ein neues ersetzt werden, und zwar am Seitenrand des neuen Sportparks – mit dann deutlich weniger Zuschauerplätzen: nur noch 1.500 statt rund 12.000 wie bisher. Völlig realitätsfern, finden die Fans.
Zumal aktuell alles darauf hindeutet, dass der BFC in dieser Saison die Regionalliga Nordost gewinnen wird und somit die Chance auf den Aufstieg in die 3. Liga – also in den Profifußball – hat. Immerhin: Vor Kurzem erhielt der BFC die Genehmigung, im Fall des Aufstiegs erst einmal im Jahn-Sportpark am Prenzlauer Berg spielen zu dürfen, einem weiteren Berliner Stadion, das allerdings bald abgerissen werden soll.
Der Berliner Senat verkennt die Bedeutung des BFC
Viele Kinder und Jugendliche aus den umliegenden Vierteln trainieren bislang im Sportforum. „Manche wollen vielleicht mal Fußballprofi werden“, mutmaßt Rudi K. Auch er ist in Lichtenberg aufgewachsen, kickte selbst Mitte der 90er im Sportforum, bis heute ist er passives Mitglied beim BFC. Er war lange Sozialarbeiter, mittlerweile arbeitet er als Gärtner. „Hooligan bin ich keiner“, betont er im Gespräch mit der taz am wochenende und bemängelt, dass der BFC von vielen zuallererst mit gewaltbereiten, zum Teil rechtsextremen Teilen der Hooliganszene in Verbindung gebracht werde. Beim 1:0-Sieg gegen Hertha BSC II vergangenen Freitag habe sich jedoch wieder einmal gezeigt: Die eine oder andere Bomberjacke sei vielleicht zugegen gewesen – vor allem aber „treue Fans, Bratwurst, Bier und Torjubel.“
Die Senatsverwaltung äußerte sich trotz mehrmaliger taz-Nachfrage nicht zur Petition. Unterstützung bekommt der BFC von der Partei „Die Linke“ in Lichtenberg. Ich habe das Gefühl, dass der Senat die Bedeutung des BFC für Hohenschönhausen verkennt“, sagt Antonio Leonhardt, stellvertretender Vorsitzender der Linken im Bezirk. Man wolle sich nicht eingestehen, dass das bisherige städtebauliche Konzept die Interessen des BFC nicht berücksichtigt, und argumentiere mit der Fanszene und politischen Einstellungen. „Die Notwendigkeit eines Stadions sollte nach den objektiven Gegebenheiten beurteilt werden“, findet Leonhardt. Rudi K. hofft, genau dies mit seiner Petition zu erreichen. | 234,837 |
0 | Arne selbst hatte seinen festen Plan. Er hatte früh mit der Säge
umgehen gelernt; denn er hatte manches bei sich zu Hause gezimmert. Nun
wollte er dies Handwerk betreiben; denn er hatte das Gefühl, es sei gut,
eine bestimmte Arbeit zu haben. Es war auch gut für ihn, daß er unter
Leute kam, und er veränderte sich allmählich so, daß ihn Sehnsucht
danach faßte, wenn er einmal eine Stunde allein war. Es machte sich, daß
er den Winter über in der Pfarre zu tischlern bekam, und dort waren die
beiden Mädchen oft zusammen. Wenn er sie sah, überlegte Arne, wer es
wohl sein möge, der um Eli Böen warb. | 234,838 |
1 | Kenia schiebt Taiwanesen nach China ab: Taiwan protestiert
Anstatt in ihre Heimat sind acht Taiwanesen von kenianischen Behörden nach China abgeschoben worden – angeblich auf Druck von Peking.
Taiwans nächste Präsidentin Tsai Ing-wen während einer Gedenkveranstaltung Foto: dpa
TAIPEH dpa | Die Abschiebung von acht Taiwanesen aus Kenia nach China belastet die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Peking und Taipeh. Statt in ihre Heimat wurden die Taiwanesen nach amtlichen Angaben aus Taipeh auf chinesischen Druck in die Volksrepublik geflogen. Das Außenministerium in Taipeh protestierte am Montag entschieden gegen diese „Entführung“ und forderte die sofortige Rückführung der Betroffenen durch China.
Die acht hätten zu 23 Taiwanesen gehört, die mit 14 Chinesen in Nairobi wegen Telefonbetruges und illegaler Einreise angeklagt, aber freigesprochen worden seien, berichtete Taiwans Nachrichtenagentur CNA. Sie seien angewiesen worden, innerhalb von drei Wochen das Land zu verlassen.
Als sie ihre Pässe bei der Polizei abholen wollten, seien sie allerdings festgehalten und drei Tage später am Freitag in ein Flugzeug nach China gesetzt worden.
Taiwan, das keine diplomatische Beziehungen zu Kenia hat, konnte die Abschiebung nicht verhindern. Chinas Diplomaten wurde vorgeworfen, die Bemühungen gezielt behindert zu haben.
Der Vorgang ist ein früher Test für Taiwans chinakritische neue Präsidentin Tsai Ing-wen, die im Mai ihr Amt antritt. China, das die demokratische Inselrepublik nur als abtrünnige Provinz betrachtet, verlangt von ihr vergeblich ein Bekenntnis, das Taiwan zumindest grundsätzlich zu China gehört. | 234,839 |
1 | Kanzleramt gegen Gesetzentwurf: Doch kein Recht auf Homeoffice
Es gibt Widerstand gegen den Vorstoß von Arbeitsminister Hubertus Heil für ein Recht auf Homeoffice. Das Kanzleramt stellt sich offenbar dagegen.
Also doch wieder zurück ins Büro Foto: Robert Schlesinger/dpa
BERLIN taz | Der Widerstand gegen den Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für ein Recht auf Homeoffice reicht offenbar bis in die höchsten Ebenen der Regierung. Das Bundeskanzleramt sehe den Entwurf des Bundesarbeitsminister „als nicht geeignet für die weitere Abstimmung zwischen den Bundesministerien“ an, wie die Nachrichtenagentur dpa am Dienstagnachmittag meldete. Die Begründung lautete: Im Koalitionsvertrag stehe explizit ein Auskunftsrecht, jedoch kein Rechtsanspruch auf Homeoffice. Ohne die Ressortabstimmung wäre Heils Gesetzesinitiative gescheitert. Denn die Abstimmung steht bei der Einbringung eines Gesetzentwurfs vor dem formalen Beschluss des Bundeskabinetts.
Hubertus Heil (SPD) hatte am vergangenen Wochenende für Aufsehen gesorgt, als er mit der Bild am Sonntag über seinen fertigen Gesetzentwurf für das „Mobile-Arbeit-Gesetz“ gesprochen hatte. Geplant war, dass Arbeitnehmer:innen bei einer Vollzeitstelle künftig einen Rechtsanspruch auf 24 Tage Homeoffice im Jahr haben – sofern keine betrieblichen Gründe dagegen sprechen und die Tätigkeit dafür geeignet ist.
Nach Heils Ankündigung hagelte es Kritik aus Teilen der Union und der Wirtschaft. Der Vorsitzende der Unions-Mittelstandsvereinigung MIT, Carsten Linnemann (CDU), lehnte den Vorstoß mit der Begründung ab, dass viele Mittelständler:innen derzeit ums Überleben kämpften. „Neue Auflagen sind das Letzte, was sie gebrauchen können“, warnte er. Auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) wandten sich gegen einen Rechtsanspruch auf Homeoffice.
Noch viel zu beraten
Wie es nun weitergeht, ist unklar. Regierungssprecher Steffen Seibert äußerte sich am Mittwoch in der Bundespressekonferenz nur vage: „Fest steht, dass es im Koalitionsvertrag eine Verabredung der Koalitionspartner gibt, das Thema Mobiles Arbeiten zu fördern und zu erleichtern und dass dafür ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden soll. Über die konkrete Umsetzung dieses Vorhabens wird noch viel zu beraten sein.“
Auch das Bundesarbeitsministerium hielt sich bedeckt. Auf Anfrage bestätigte es zwar, dass ihnen eine Stellungnahme des Kanzleramts vorliegt, gab aber keine Auskunft zum Inhalt. „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bleibt bei der Auffassung, dass ein moderner Arbeitsmarkt einen modernen Ordnungsrahmen braucht“, sagte eine Sprecherin. Das Ministerium setze „auf konstruktive Gespräche auf Regierungsebene“.
SPD-Fraktionsvize Katja Mast gab sich trotz allem gelassen. „Ich gehe davon aus, dass das Recht auf mobiles Arbeiten kommt. Wir sind es seit Jahren gewohnt, dass die CDU erst mal auf die Bremse tritt, wenn es um mehr Rechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. Das haben wir auch bei der Brückenteilzeit erlebt. Heute ist sie Gesetz“, sagte sie der taz. | 234,840 |
0 | »Graf?« lachte der Pole aber spöttisch auf -- »den Grafen müssen Sie
hier weglassen, Fräulein von Seebald; sieht das hier aus wie in einer
gräflichen Wohnung? -- da, das ist der Rest meiner Vergangenheit,« rief
er, während er dort an der Wand hängende baumwollene Frauenkleider
zurückschob, und einen alten mit Rost überlaufenen Cavalleriesäbel an
Tageslicht brachte -- »auch ein prächtiges Symbol,« setzte er mit
höhnischer Bitterkeit hinzu, »denn die Lumpen hängen darüber hin, und
_verstecken_ die letzten Überbleibsel des _Grafen_. Wie gefällt es
Ihnen bei uns, heh? -- hübsch nicht wahr? -- romantisch genug, nur ein
Bischen zu viel davon. Ja,« setzte er dumpf brütend dazu, während er auf
das Bett zurücksank und den Kopf in die Hand stützte, »früher war's
Anders -- besser vielleicht -- vielleicht auch nicht, und ein freies,
fröhliches Leben führen wir doch. Aber komm, komm Dony, sieh nur nach
dem Leib, der verdammte Bär hat mir doch weh gethan, und ich glaube, ich
habe viel Blut verloren, es wird mir so schwach und schwindlich auf
einmal.« | 234,841 |
1 | Die Klasse wird in Kleingruppen aufgeteilt. Alle Gruppen arbeiten mit Computern sowie einer Präsentationssoftware und recherchieren weitere Informationen im Internet. Material für die Gruppenarbeit
Interner Link: Montagsdemonstrationen Gruppenarbeit (PPT)Diese Präsentation erhalten die Lernenden für die Phase der Arbeit in Kleingruppen. Sie begleitet die Lernenden bei der Recherche-, der Dokumentations- und Präsentationsarbeit. Vorbereitung der Gruppenarbeit
Arbeit in Kleingruppen an Einzelrechnern Die im vorhergehenden Schritt erarbeiteten Problemstellungen werden nun in Kleingruppen weitergehend bearbeitet. Arbeitsgrundlagen sind die von der gesamten Lerngruppe zuvor selbst formulierten und nun in Kleingruppen weiter zu entwickelnden Frage- und Aufgabenstellungen.
Fragestellungen zur Orientierung Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich in Gruppenarbeit mit den Montagsdemonstrationen. Dazu nutzen sie den im Unterricht entwickelten Problemhorizont mit den Fragestellungen und den aufgeworfenen Problemfeldern. Falls dort die folgenden Aspekte der Fragensammlung nicht enthalten sind, sollten sie ergänzt werden. Alternativ können die folgenden Leitfragen auch in den Gruppen verteilt werden. Fragensammlung
Leitfrage: Was sagen uns die zur Verfügung stehenden Quellen?
Wer handelte?Gibt es Zeitzeugen?Was waren die Ziele der Teilnehmenden der Montagsdemonstrationen (Tipp: "Transparente" beachten)?Welche konkreten "Auslöser" für die Demonstrationen werden benannt?
Hintergründe: Welche "Entwicklungen" gingen voraus?
Ein Blick auf die Verfassung der DDR: Auf welche Rechte konnten sich die Demonstranten berufen? Menschenrechte?Welche Rolle spielten die Kirchen ("Friedensgebete")?
Folgen: Welche "Konsequenzen" gab es?
Welche Bedeutung hatten die Montagsdemonstrationen für die Menschen in Berlin und in den beiden Teilen Deutschlands?Welche Folgen hatten sie für die Politik in Europa?Was bedeuten die Montagsdemonstrationen für euch heute?
Quellen
Der Arbeitsauftrag und die Materialliste können für die Frontalpräsentation am Whiteboard bearbeitet oder den Schülerinnen und Schülern mit den Folien 3 bis 5 der Datei für die Gruppenarbeit übergeben werden. Es bietet sich an, die vorgestellten Internetquellen am Whiteboard kurz zu zeigen und dann den Gruppen zu überlassen. Startpunkt für alle Arbeitsgruppen Externer Link: arte.tv Das Wunder von Leipzig: Die Website ist gemeinsamer und motivierender Startpunkt der Arbeit für alle Gruppen. Von Leipzig aus kann in andere Städte gesprungen werden. Gruppenarbeit
Präsentation als Vorlage Über die zum Download angebotene Präsentation für die Gruppenarbeit erhalten die Schülerinnen und Schüler Informationen zur Erstellung einer eigenen Präsentation und die entsprechende Vorlage für einen Kernbeitrag zum von ihnen gewählten Schwerpunktthema. Arbeitsauftrag 1: Präsentationen erstellen Die Schülerinnen und Schüler sollen in den Arbeitsgruppen eine Präsentation erstellen, die später am Whiteboard gezeigt werden soll. Die Form ist frei wählbar, möglich sind beispielsweise eine PowerPoint-Präsentation, eine kommentierte Linkseite, eine Bildergalerie mit weiteren Elementen oder ein Zeitstrahl. Die Präsentation soll:
den Namen der Stadt nennen, zu der recherchiert wurde. ein Bild zeigen. Antworten auf die Leitfrage finden: Worum ging es? mehr zu den Hintergründen sagen. Infos zu den Folgen der Montagsdemonstrationen liefern: Reaktionen von Behörden und Polizei auf die Montagsdemonstrationen nennen.
Materialien und Quellen Für die Erstellung der Präsentation sollen die in der zur Verfügung gestellten Linkliste vorgegebenen Materialien und Quellen genutzt werden. Erst danach sollten andere selbst recherchierte Quellen herangezogen werden. Arbeitsauftrag 2: Kernbeitrag zu einem Schwerpunktthema Abschließend soll zusätzlich ein kurzer Beitrag entwickelt werden, der einen von der Gruppe ausgewählten Aspekt der Präsentation besonders hervorhebt und erklärt. Vorlage dafür ist Folie 6 der Präsentationsvorlage für die Gruppenarbeit. Dieser Beitrag, der später am Whiteboard allen Schülerinnen und Schülern gezeigt wird, sollte enthalten:
ein ausgewähltes Bild eine erklärende Bildunterschrift ein zusammenfassendes Statement zur Frage: Was bedeutet der Begriff "Montagsdemonstrationen" für uns heute?
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0 | In aller Frühe sah man den Zehnuhrmesser eilfertig von Schloß Goyen
heruntersteigen, die Rosine mit ihm, die der Tante Anna über das
blutige Abenteuer der Nacht nähere Nachrichten und der Moidi den
letzten Gruß des Entflohenen bringen sollte. Sie fanden unten in
Meran keine geringe Aufregung, das Landvolk stand auf der Straße
beisammen und wechselte feindselige Reden gegen die Soldaten, und
Andrees Name war auf aller Lippen. Wo sich eine Uniform blicken ließ,
wurde das Gespräch leiser, aber die Blicke wilder und die Fäuste
drohend geballt. | 234,843 |
1 | Corona-Impfungen beim Hausarzt: Das Glück beim Doktor
Ein besonderer Tag für Anita Drews: Endlich wird sie geimpft – und das um die Ecke. Die Nachfrage beim Hausarzt übersteigt das Angebot mehrfach.
Die Ärztin Wiebke Bergner zeigt eine Spritze mit dem Impfstoff von Biontech in ihrer Praxis Foto: Stefanie Loos
BERLIN taz | Heute nur Impftermine“ steht auf einem kleinen weißen Schild vor der Praxis am Maybachufer in Berlin-Neukölln. Es ist ein sonniger Tag, die Menschen flanieren am Landwehrkanal, der Frühling liegt in der Luft – und damit auch die Hoffnung auf bessere Zeiten. Ein besonders guter Tag ist es für Anita Drews: Die 57-Jährige erhält heute ihre lang ersehnte Covid-19-Impfung. „Ich bin sehr froh darüber“, sagt Drews. Auch, weil sie hier bei ihrer Hausärztin geimpft werden kann und nicht ins Impfzentrum fahren muss: „Hier ist es familiärer. Ich kenne die Praxis schon lange und sie kennen mich.“
So wie Anita Drews geht es an diesem Freitag noch 23 weiteren Berliner*innen, die in der Praxis ihre Erstimpfung erhalten, darunter vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen, die ein hohes Risiko für eine Covid-19-Erkrankung tragen. Lange haben sie auf die begehrte Spritze gewartet. Umso größer war die Freude, als sie von ihrer Hausarztpraxis angerufen wurden.
Verimpft wird die Biontech-Vakzine „Comirnaty“. Drei Feindosierspritzen liegen fertig abgefüllt in einer Nierenschale im Behandlungszimmer bereit. Sie sind am Morgen von den Mitarbeiterinnen der Praxis vorbereitet worden. Dabei muss der Impfstoff, der in kleinen Glasampullen geliefert wird, mehrmals geschwenkt und mit einer Kochsalzlösung verdünnt werden, bevor er in die feinen Spritzen aufgezogen wird. Das alles geschieht unter größter Vorsicht. „Der Impfstoff ist super empfindlich, den darf man nicht erschüttern“, sagt Allgemeinmedizinerin Dr. Wiebke Bergner, die heute mehreren Patient*innen die erste Impfdosis verabreicht.
Eine der Spritzen ist für Anita Drews vorgesehen. Um halb zwölf sitzt sie gut gelaunt im Behandlungsraum. Ärztin Bergner kontrolliert zunächst die Unterlagen, dann folgt die Impfaufklärung. Bergner erklärt, welche typischen Impfreaktionen zu erwarten sind und ab wann der volle Impfschutz besteht. Nur noch ein kurzer Piks, und schon ist alles erledigt: der Impfstoff im Arm, die Patientin glücklich. Nach weniger als zehn Minuten verlässt Drews das Behandlungszimmer, eine halbe Stunde soll sie aber noch zur Nachbeobachtung in der Praxis bleiben. „Dann können wir einfach besser auf Sie aufpassen“, sagt Bergner.
„Mehr Patienten als Impfstoff“
Am Empfang der Praxis herrscht derweil reger Betrieb. Immer wieder klingelt das Telefon, immer wieder kommen Menschen herein und möchten sich auf die Liste für die Impfungen setzen lassen. Nicht alle sind damit erfolgreich, auch hier geht es nach dem Priorisierungsplan. „Es gibt mehr Patienten, die geimpft werden möchten, als wir Impfstoff haben“, sagt Michelle Reitz, medizinische Fachangestellte in der Praxis. 48 Dosen haben sie in der ersten Woche erhalten, in der darauf folgenden sind es nur 30. Es stehen aber rund 300 Menschen, die vorrangig geimpft werden sollen, auf ihrer Liste.
Bundesweit wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in der Woche nach Ostern insgesamt 941.850 Biontech-Impfdosen an 35.000 Arztpraxen ausgeliefert. In der zweiten Woche sollen es rund eine Million Dosen sein. Allerdings haben auch mehr Praxen Bedarf angemeldet, insgesamt 45.000, wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung meldet.
Trotz leicht angestiegener Menge der Impfdosen dürften die Lieferungen also für einige Praxen geringer ausfallen als in der Vorwoche. Und auch die Woche ab dem 19. April verspricht noch keine nennenswerten Besserungen. Jüngst kursierten zudem Medienberichte über eine Kürzung der Impfstofflieferungen an die Praxen. Zwar beschwichtigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU): Die Liefermenge bleibe gleich, sie setze sich lediglich ab Ende April anteilig aus der Biontech- und der AstraZeneca-Vakzine zusammen.
AstraZeneca hat einen schlechten Ruf
Doch hat letztere inzwischen auch in den Praxen einen schlechten Ruf. „Die Patienten sind immer erleichtert, wenn sie hören, dass ich mit Biontech impfe“, erzählt Monika Buchalik, Allgemeinmedizinerin in Maintal und Vizepräsidentin der Landesärztekammer Hessen. Auch andere Praxen berichten von Akzeptanzproblemen mit AstraZeneca.
Zudem wünschen sie sich mehr Planungssicherheit. Immer Donnerstags erfahren die Praxen, wie viel Impfstoff sie jeweils in der folgenden Woche erhalten. Ob wirklich alle zugesagten Dosen ankommen, wisse sie aber letztlich erst im Moment der Lieferung, sagt Dr. Irmgard Landgraf, internistische Hausärztin in Berlin-Steglitz und Vorstandsmitglied des Hausärzteverbands Berlin-Brandenburg. „An dieser Impfung hängt ganz viel für die Menschen. Da fließen Tränen der Entlastung, Tränen der Dankbarkeit.“ Wenn Impftermine wieder abgesagt werden müssten, weil Lieferungen ausfallen, verunsichere das die Menschen.
Es lebe die Bürokratie: Die 57-jährige Anita Drews kurz nach ihrer ersten Impfung Foto: Stefanie Loos
Was die Impfung bedeutet, das spürt man an diesem Tag auch in der Praxis am Maybachufer. Die Patient*innen, die hier heute ein- und ausgehen, wirken hoffnungsvoll, optimistisch und vor allem: erleichtert. Impfling Christoph Lange, der seine Spritze bereits am Tag zuvor bekommen hat, erzählt: „Ich war wahnsinnig glücklich, ich war den Tränen nah vor Freude.“
Zweifel oder Sorgen vor den Nebenwirkungen habe er keine gehabt, sagt Lange, der seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte: „Ich bin ohnehin ein Nerd und hab mich total informiert über alles.“ Damit scheint er nicht der Einzige zu sein: Viele seien schon vor dem Termin sehr gut aufgeklärt, sagt Wiebke Bergner. „Ich bin erstaunt, wie wenig Nachfragen kommen. Einigen ist nicht klar, wann der Impfschutz einsetzt, ansonsten sind die meisten Patient*innen sehr gut informiert.“
Sie sagt aber auch:„Viele hoffen natürlich, dass es das jetzt war. Dass wir aber vermutlich noch längere Zeit mit Corona zu tun haben, das ist noch nicht allen klar.“ Zugleich ärgert sich die Ärztin über die Fehler, die die Politik in dieser Pandemie gemacht habe. „Es ist schlimm, was die Menschen ausbaden müssen in diesem Jahr. Fast 80.000 Coronatote bei uns, das ist sehr, sehr viel“, sagt Bergner. „Man darf auch nicht vergessen, dass hinter diesen ganzen Zahlen Menschen, Angehörige und Familien stehen. Das ist ein großes Drama.“
Mit den Hausärzten bekommt die Impfkampagne Tempo
Viel Kritik gab es in den vergangenen Monaten daher auch am schleppenden Impffortschritt in Deutschland. Doch hier könnte sich nun etwas tun: Mit dem Start der Impfungen in den Hausarztpraxen hat die Impfkampagne an Fahrt aufgenommen, an den Statistiken kann man deutlich erkennen, wie die Zahlen nach oben schießen. Am 7. April haben die Impfungen in den Praxen begonnen, für den gleichen Tag meldet das Robert Koch-Institut insgesamt 670.697 verabreichte Impfdosen – mehr als jemals zuvor an einem Tag verimpft wurde. Über 300.000 dieser Dosen wurden in den Hausarztpraxen verimpft.
Die Allgemeinmedizinier*innen sehen darin ein eindeutiges Signal: Die Menschen gingen eben doch lieber in ihre Hausarztpraxis als ins Impfzentrum. „Viele haben gesagt, sie würden sich nur bei uns impfen lassen“, erzählt Irmgard Landgraf. „Ich kenne die Patienten, ich kann ihnen die Ängste besser nehmen.“ Auch Monika Buchalik ist überzeugt: „Das Vertrauensverhältnis fördert die Impfakzeptanz.“
Die niedergelassenen Ärzt*innen sind stolz darauf, ihren Beitrag zum Impffortschritt leisten zu können, sagen aber auch: Da wäre noch viel mehr drin. Wiebke Bergner schätzt, dass bei ihnen in der Praxis bis zu 100 Impfungen pro Woche möglich wären. Aus anderen Praxen sind ähnliche Zahlen zu hören. Um die Impfkapazität der Hausarztpraxen auszuschöpfen, seien daher rund vier bis fünf Millionen Dosen pro Woche erforderlich, schätzt der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt.
Mit mehr Impfstoff könnte auch bald die strikte Priorisierung aufgelöst werden, so die Hoffnung vieler Hausärzt*innen.
Lästige Bürokratie
Und noch ein Wunsch an die Politik ist aus vielen Arztpraxen zu hören: weniger Bürokratie. Sechs Seiten umfassen Aufklärungs- und Einwilligungsbögen für die Impfung, zahlreiche Fragen müssen beantwortet und Unterschriften gesetzt werden, bevor der Impfling den Ärmel hochkrempeln kann. Und mit dem Piks ist es noch nicht erledigt. Für die Hausärzt*innen und Mitarbeiter*innen folgt dann eine aufwendige Nachbereitung: Dokumentation, Abrechnung, Meldung ans Robert Koch-Institut. Auch deshalb hat die Praxis am Maybachufer an den ersten beiden Impftagen den normalen Praxisbetrieb vollständig eingestellt.
„Das ist auf jeden Fall sehr viel mehr Aufwand als jede andere Impfung“, sagt Mitarbeiterin Michelle Reitz, während sie Unterlagen sortiert und Papiere stempelt. „Das alles in den normalen Praxisalltag zu integrieren, das wird auf jeden Fall schwierig.“ Als medizinische Fachangestellte übernehmen sie und ihre Kolleginnen viele der Aufgaben, die durch die Impfungen anfallen „Das ist schon eine enorme Zusatzbelastung“, sagt Reitz. Auch Hausärztin Monika Buchalik erzählt von der hohen Stressbelastung ihrer Mitarbeiter*innen. Anstrengend seien vor allem die vielen Telefonate. „Meine Mitarbeiterinnen können nicht mehr, die sind mittags fix und fertig“, sagt Buchalik. Die Allgemeinmedizinerin fordert daher einen Coronabonus für medizinische Fachangestellte – auch als Anerkennung für deren wertvolle Arbeit.
An Tagen, an denen geimpft wird, bleibt die Praxis für andere Patient*innen geschlossen Foto: Stefanie Loos
In der Praxis am Maybachufer haben die Mitarbeiter*innen es für diesen Tag geschafft. Um kurz nach zwölf kehrt langsam Ruhe ein, das Wartezimmer ist leer, nur vereinzelt kommen noch Patient*innen zur Impfung. Auch Anita Drews kann nun gehen, am Empfang vereinbart sie noch schnell ihren zweiten Impftermin – im Mai wird sie endlich vollständig geimpft sein. „Das ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, aus dieser Isolation herauszukommen“, sagt sie. „Das gibt mir Kraft für den Endspurt – noch durchzuhalten.“ | 234,844 |
1 | Kämpfe in Nordlibanon: Tausende fliehen vor Islamisten
In der libanesischen Stadt Tripoli halten die Gefechte zwischen Armee und Islamisten an. Eine humanitäre Feuerpause ermöglicht Bewohnern nun die Flucht.
Soldat im umkämpften Viertel Bab al-Tebbaneh in Tripoli. Bild: reuters
TRIPOLI afp | Die seit Tagen andauernden Kämpfe zwischen Soldaten und bewaffneten Islamisten in der nordlibanesischen Großstadt Tripoli haben am Sonntag tausende Menschen in die Flucht getrieben. Die Armee stimmte einer humanitären Feuerpause zu, um den Bewohnern des umkämpften Viertels die Flucht zu ermöglichen.
Zuvor hatte die Armee den Stadtteil Bab al-Tebbaneh, in dem sich die Islamisten nach ihrer Vertreibung aus dem Stadtzentrum am Samstag verschanzten, mit Mörsergranaten beschossen. Dutzende Häuser gerieten in Brand, wie Anwohner der Nachrichtenagentur AFP berichteten. In dem Stadtteil leben etwa 100.000 Menschen, davon 15.000 in dem besonders umkämpften Viertel.
Die Kämpfe zwischen der Armee und den Islamisten, denen Verbindungen zur Al-Nusra-Front nachgesagt werden, hatten am Freitagabend in Tripoli begonnen. Seitdem wurden mindestens fünf Zivilisten getötet, davon allein drei am Sonntag.
Auf Drängen der Anwohner sowie nach einer Vermittlung durch religiöse Führer erlaubte die Armee den Bewohnern am Sonntagabend das Verlassen des Stadtteils. Ein AFP-Reporter beobachtete chaotische Szenen, als Menschen aller Altersgruppen ihr durch die Kämpfe verwüstetes Viertel verließen. Frauen in Schlafanzügen rannten weinend durch die Straßen, viele Menschen trugen Kinder im Arm. Das Rote Kreuz brachte fünf verletzte Zivilisten und zahlreiche Kranke in Sicherheit.
In Tripoli gibt es seit dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien immer wieder Gefechte zwischen sunnitischen Extremisten und Alawiten, die dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad nahe stehen. Außerdem kämpfen die sunnitischen Extremisten gegen die libanesische Armee, der sie Verbindungen zur schiitischen Hisbollah-Miliz nachsagen.
Die Al-Nusra-Front, der syrische Ableger des Terrornetzwerks Al-Qaida, bekräftigte am Sonntag zudem ihre Drohung, einen bei Kämpfen in der nahe der syrischen Grenze gelegenen ostlibanesischen Stadt Aarsal gefangen genommenen libanesischen Soldaten hinzurichten. | 234,845 |
0 | »Ja, ja, Klara, meinst du, es gehe dann nur so?« eiferte jetzt das
Heidi. »Alle Tage muß man zum lieben Gott beten und um alles, alles,
denn er muß doch hören, daß wir es nicht vergessen, daß wir alles
von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergessen wollen, so
vergißt er uns auch, das hat die Großmama gesagt. Aber weißt du, wenn
wir dann nicht bekommen, was wir gern hätten, dann müssen wir nicht
denken, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ganz aufhören zu beten,
sondern dann müssen wir so beten: Jetzt weiß ich schon, lieber Gott,
daß du etwas Besseres im Sinn hast, und jetzt will ich nur froh sein,
daß du es so gut machen willst.« | 234,846 |
1 | Gastkommentar Zukunft der SPD: Nö, die Sozis braucht keiner
Was wäre eigentlich, wenn sich die SPD auflösen würde? Im Gedankenspiel unseres Gastkommentators gäbe es keine dramatischen Erschütterungen.
Was wäre, wenn sich die SPD verdünnisieren würde? Foto: dpa
Eine altehrwürdige Partei kann sich eigentlich nicht auflösen. Schon das Interesse an sich selbst gebietet es, das Parteileben erneuernd zu verlängern. Aber lassen wir uns dennoch auf das Gedankenexperiment ein: Ein mutiger Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert und zwei stellvertretende Vorsitzende stellen im Parteivorstand den Antrag, eine Mitgliederbefragung darüber herbeizuführen, ob und wie die SPD mit ihrer Zukunft umgehen soll. Sie stellen den Antrag, weil sie unter Andrea Nahles keine wirkliche Parteierneuerung erblicken. Die eine Variante wäre die Auflösung. Die andere ein substanzielles Reformprogramm.
Der Vorschlag führt zur Zerreißprobe in der SPD. Nostalgische Verklärung folgt: Die mutige Wels-Rede gegen die Nazis 1933, Ernst Reuters Aufruf an die „Völker der Welt“ im bedrängten Berlin, die Ostpolitik Brandts, die Globalisierungspolitik Schmidts. Aber das kann den aktuellen Blick auf eine desolate SPD nicht verstellen, die praktisch nichts zu sagen hat zu aktuellen Problemen.
Die SPD beschließt also das Unwahrscheinliche: die Auflösung. Der Parteiapparat ist geschockt, die Gewerkschaften sind sprachlos. Es setzt eine Debatte um eine USPD neuen Typs ein. Die Sammlungsbewegung der Linken um Lafontaine und Wagenknecht taucht als „Partei der Gerechtigkeit“ (PDG), als linke „En marche“-Bewegung auf. Einige prominente Sozialdemokraten heuern bei den sozialen Bewegungen an.
Einige treten zur Linken über, die meisten SPD-Mitglieder aber ziehen sich ins Private zurück. Eine Demokratiedebatte wird in der Öffentlichkeit geführt. Sie flaut nach wenigen Wochen ab. Die Auflösung der SPD führt zu keiner dramatischen Erschütterung der Gesellschaft. Aber auch die Zivilgesellschaft aus Greenpeace, Campact und Co scheint dadurch nicht gestärkt.
Seien Sie beruhigt. Die SPD wird sich nicht auflösen, sondern sich als 12-Prozent-Partei mit einer großen Tradition etablieren. Glut unter der Asche. Nach der Bayern- und der Hessenwahl ist zu befürchten, dass selbst die Glut erlischt. | 234,847 |
0 | _Rom_, den 18. Dezember 1556. | 234,848 |
1 | Opposition in China: Essayist zu Rekordstrafe verurteilt
Die chinesische Justiz geht hart gegen den Menschenrechtler Chen Wei vor. Er erhält neun Jahre Gefängnis für das Veröffentlichen eines Essays im Internet. Der Vorwurf: "Umsturzversuch".
Trotz der Gefahr von hohen Strafen: Immer mehr Menschen wagen es, ihren Unmut auf die Straße zu tragen - hier wehren sich Protestierende gegen den Ausbau des Kraftwerks in Haimen. Bild: ap
PEKING rtr | Nach der Veröffentlichung kritischer Texte im Internet ist ein chinesischer Menschenrechtler zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden. Chen Wei erhält damit die längste Haftstrafe unter dem Vorwurf des Umsturzversuchs, die die chinesische Justiz in diesem von einem besonders harten Vorgehen gegen Dissidenten geprägten Jahr verhängte. Ein Gericht im Südwesten des Landes verurteilte den 42-Jährigen am Freitag nach einer kurzen Anhörung, in der Chen nach Angaben seines Anwaltes seine Unschuld beteuerte. Chens Ehefrau Wang Xiaoyan sagte, ihre Mann sei für neun Essays verurteilt worden, die er auf Internetseiten im Ausland veröffentlicht habe. Sie seien von China aus nicht erreichbar gewesen.
Die Behörden beschuldigten Chen dennoch, dass die Artikel einen extrem schädlichen Einfluss auf China hätten, sagte Wang in einem Telefoninterview. Ob ihr Mann in Berufung gehe, sei unklar. Nach der Urteilsverkündung zeigte sich Chen seinem Anwalt zufolge aber weiter kämpferisch: "Die Diktatur wird fallen, die konstitutionelle Demokratie wird sich durchsetzen."
Amnesty International forderte die umgehende Freilassung Chens. Bei ihm handele es sich um einen politischen Häftling, so die Menschenrechtsorganisation. Chen musste bereits nach der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 für ein Jahr ins Gefängnis. Der mit Chen befreundete Menschenrechtler Huang Qi sagte, auch wegen dieser Vorverurteilung habe Chen ein besonders hartes Urteil bekommen. Die Justiz suche sich einzelne Personen aus, um ein Exempel zu statuieren und Nachahmer abzuschrecken.
Drittlängste Haftstrafe für subversive Tätigkeit
Chens Haftstrafe ist die drittlängste, die in China unter dem Vorwurf subversiver Tätigkeit verhängt wurde. Der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo verbüßt seit 2009 seine elfjährige Gefängnisstrafe.
Chen gehört zu Hunderten von Dissidenten, gegen die die chinesischen Behörden in diesem Jahr mit besonderer Härte vorgegangen sind. Nach den Volksaufständen gegen autokratische Regime in der arabischen Welt versucht die kommunistische Führung in Peking Proteste im eigenen Land schon im Keim zu ersticken. Experten gehen zwar davon aus, dass eine Wende im Stil des "Arabischen Frühlings" in China sehr unwahrscheinlich ist. Dafür müsste sich eine organisierte Opposition in den Städten wie auf dem Land formieren, die Wirtschaft kollabieren, und das Parteiensystem zusammenbrechen, so die Analysten.
Mit Tränengas und Handschellen gegen Demonstranten
Doch in der wirtschaftlich rasant wachsenden Volksrepublik wagen immer mehr Menschen, ihren Unmut über Missstände wie niedrige Löhne, Landenteignungen, Korruption und auch Umweltverschmutzung auf die Straße zu tragen. Auch wenn diese Proteste die Führung nicht direkt infrage stellen, gehen die Behörden energisch dagegen vor.
So löste die Polizei am Freitag in der südchinesischen Boom-Provinz Guangdong eine Kundgebung gegen den Bau eines Kohlekraftwerks auf. Mit Tränengas gingen die Sicherheitskräfte gegen Demonstranten vor. Lokale Fernsehsender zeigten anschließend Protestteilnehmer in Handschellen, die hinter Gittern Geständnisse ablegten. Die Bewohner protestieren nach eigenen Angaben gegen das Kraftwerk, weil sie schon seit Jahren unter der Luft- und Wasserverschmutzung bereits bestehender Kraftwerke leiden würden. | 234,849 |
1 | dpa / US-Botschaft Peking/Archiv
Plötzlich ging es ganz schnell: Nach wochenlangem Tauziehen reist Chen Guangcheng und seine Familie in einem Flugzeug in die USA aus.
Aktualisiert am Freitag, 30.08.2013, 11:09
Der blinde chinesische Bürgerrechtler Chen Guangcheng und seine Familie sind von China in die USA ausgereist. Vier Wochen nach seiner Flucht aus 19 Monaten Hausarrest in die US-Botschaft in Peking endet damit das diplomatische Tauziehen zwischen den USA und China um den Aktivisten.
Die Ausreise kam am Ende schneller als erwartet. „Ich habe das Gefühl, dass alles sehr plötzlich ist“, sagte Chen Guangcheng einem Freund am Telefon, kurz bevor er das Flugzeug der United Airlines nach New York bestieg.Das US-Außenministerium bestätigte, dass Chen Guangcheng mit seiner Familie China verlassen habe, um in den USA ein Studium aufzunehmen. „Wir sprechen unseren Dank aus für die Art, wie wir diese Angelegenheit lösen konnten“, sagte die Sprecherin Victoria Nuland nach Angaben der US-Botschaft.
„Nach sieben Jahren Verfolgung und Brutalität ist es heute ein guter Tag für Chen Guangcheng und seine Familie“, sagte Bob Fu von der in den USA ansässigen Menschenrechtsgruppe ChinaAid der Nachrichtenagentur dpa.
Der Bürgerrechtler wolle sich zunächst an der Universität von New York (NYU) für ein Jurastudium einschreiben, berichtete Bob Fu, der sich maßgeblich für den Aktivisten eingesetzt und allein vor dem Start von Flug UA88 sechsmal mit ihm telefoniert hatte. „Dann will Chen Guangcheng mit seiner Familie Urlaub machen und sich ausruhen.“ Vor dem Abflug sei der Akivist „in guter Stimmung“ und „begeistert“ gewesen. Doch sei Chen Guangcheng weiter besorgt über das Schicksal seiner zurückbleibenden Angehörigen.
Die Ausreise war frühestens nächste Woche erwartet worden. Obwohl Chen Guangcheng erst am Mittwoch die Reisepässe beantragt hatte, tauchten plötzlich Behördenvertreter im Chaoyang Hospital auf und forderten ihn auf, seine Sachen zu packen und sich auf die Ausreise vorzubereiten. Seit er die US-Botschaft verlassen hatte, lebte Chen Guangcheng mit Frau und Kindern von der Außenwelt weitgehend abgeschirmt in dem Hospital. Er wurde dort wegen einer Fußverletzung behandelt, die er sich bei seiner Flucht zugezogen hatte.
Erst am Flughafen erhielten Chen Guangcheng und seine Familie ihre Reisepässe. „Es waren keine Sicherheitsleute mehr da, nur Ärzte und Schwestern“, berichtete er telefonisch seinem Freund, dem Bürgerrechtsanwalt Jiang Tianyong, bevor er das Flugzeug bestieg.
Am 22. April war Chen Guangcheng aus dem Hausarrest in seinem Heimatdorf Dongshigu in der ostchinesischen Provinz Shandong mit Hilfe von Freunden in die US-Botschaft in Peking geflüchtet. Damit hatte er eine diplomatische Krise ausgelöst, die auch den Besuch von US-Außenministerin Hillary Clinton in Peking überschattet hatte. Er verließ die US-Vertretung am 2. Mai zunächst unter Zusagen, mit seiner Familie vereint zu werden und in China studieren zu dürfen.
Ihn überkamen aber Zweifel an den chinesischen Versprechen, als er von massiven Drohungen gegen seine Familie erfuhr. Aus Angst um seine Sicherheit entschied er sich dann doch für die Ausreise, die jetzt mit Hilfe der USA möglich wurde. Der Bürgerrechtler hatte sich seit Ende der 1990er Jahre mit seinem Einsatz für Opfer von Machtwillkür einen Namen gemacht. Trotz Erblindung hatte er sich die Juristerei autodidaktisch mit Hilfe seiner Frau beigebracht.
In Anlehnung an die „Barfußärzte“, die im revolutionären China mit einfachen medizinischen Kenntnissen übers Land gezogen waren, wurde Chen Guangcheng „Barfußanwalt“ genannt. Er half auch Opfern von Zwangsabtreibungen in der Stadt Linyi und war den Behörden deswegen ein Dorn im Auge. 2005 wurde Chen Guangcheng zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Seit Ablauf einer Haftstrafe im September 2010 waren er und seine Frau in seinem Haus festgehalten und von ihren Wächtern schwer misshandelt worden.
dpa | 234,850 |
1 | Syrische Flüchtlinge im Libanon: Als Arzt im Grenzgebiet
Viele Flüchtlinge aus dem Nachbarland brauchen eine medizinische Versorgung. Ein kleines Krankenhaus nimmt sich der Mammutaufgabe an.
Ein verletzter syrischer Flüchtling im Krankenhaus von Arsal. Bild: reuters
ARSAL taz | Doktor Bilal* wartet vor dem Eingang des Krankenhauses, das von außen wie ein einfaches Wohngebäude aussieht. Ein junger Mann, gestützt von zwei Freunden, humpelt dem Arzt entgegen. Die drei halten die Köpfe gesenkt, um ihre Gesichter vor dem Sand zu schützen, den der heiße Wind aufwirbelt. Bilal führt die Gruppe ins Innere. Er ist Kieferorthopäde, aber im Krankenhaus kümmert sich jeder um jeden.
Im Wartezimmer drängen sich Patienten und deren Angehörige. Die Wände sind kahl. Glänzende Rohren und nackte Glühbirnen hängen von der Decke. Die Arbeiten in dem Krankenhaus von Arsal sind noch nicht ganz abgeschlossen, aber der Betrieb läuft bereits auf Hochtouren.
Es ist kein gewöhnliches Krankenhaus, sondern das letzte vor der syrischen Grenze im Nordosten des Libanon und das einzige in Arsal. Die sunnitische Kleinstadt liegt im Herzen des Anti-Libanon-Gebirges. Über 100.000 syrische Flüchtlinge flohen seit dem Ausbruch des Krieges dorthin. Täglich werden es mehr. Viele brauchen medizinische Versorgung, um die Wunden des Krieges zu heilen, gegen die es Mittel gibt.
Jeden Tag werden bis zu 200 Patienten behandelt
Bilal und sein 30-köpfiges Team versorgen täglich bis zu 200 Patienten – eine große Belastung. Das Personal verfügt nur über die nötigsten Instrumente. Durch Gelder der Hilfsorganisation Relief and Development Association wurden im Februar ein Operationssaal, eine Notfallstation und eine kleine Röntgenstation fertiggestellt. Die Bauarbeiten an der Kinder- und Entbindungsstation sollen bald beginnen.
Fast alle Ärzte und Assistenten kommen aus Syrien. Den meisten fehlen die offiziellen Papiere, um über die Stadtgrenze in den Libanon zu reisen.
An den Checkpoints innerhalb und außerhalb Arsals kontrolliert die libanesische Armee Personen und durchsucht Autos nach Waffen und Sprengstoff. Bilal unterstützt die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen. Doch auch er kann weder vor noch zurück, seit das Regime Assad die syrische Grenzregion Kalamun eingenommen hat.
Syrische Kampfflugzeuge kreisen über dem Ort
„Ein Arzt ist für das syrische Regime gefährlicher als ein Rebell. Denn er rettet auch das Leben jener, die die Soldaten töten wollen“, behauptet der Arzt und fügt hinzu: „In Syrien bombardiert das Regime Krankenhäuser wie dieses.“
Das Krankenhaus in Arsal ist wie viele in Syrien für den Luftraum nicht als solches gekennzeichnet. Fast täglich kreisen syrische Kampfjets über Arsal. Nach der Niederlage in Kalamun flüchteten viele Rebellen der Freien Syrischen Armee in die umliegenden Berge. Die Angst der Bewohner ist deshalb groß, dass Arsal bald angegriffen wird.
Jedem wird geholfen, egal, ob es Zivilisten oder Kämpfer sind
Die Ärzte behandeln jeden, der Hilfe braucht. „Wir fragen die Patienten nicht, ob sie Zivilisten, Rebellen, Sunniten, Schiiten oder Christen sind. Es ist unsere Pflicht zu helfen“, betont Bilal. Sein Blick schweift ab zu dem jungen Mann auf der Trage – einem syrischen Rebellen, der am Bein verletzt wurde.
In Syrien hat Bilal einst einen Kämpfer der Schabiha, einer der Assad-Milizen, verarztet. „Natürlich musste ich mich um ihn kümmern. Das ist ein Akt der Menschlichkeit.“ Nach einer Pause sagt er: „Meine politische Einstellung ist eine ganz andere.“
Auch im Libanon verfolgt den Arzt der Schrecken des Krieges. Er erinnert sich an einen Vorfall, es fällt ihm schwer, darüber zu reden. Nach einer Explosion an einem Checkpoint schossen die verunsicherten Soldaten auf ein herannahendes Auto. Doch darin saß nur eine syrische Familie auf der Flucht. Die Kugeln trafen einen kleinen Jungen in den Kopf. Bilal versuchte, das Kind wiederzubeleben – es war vergeblich.
*Name geändert | 234,851 |
0 | Freundschaftsspiel England-Deutschland: Per Kopf
Einem gänzlich umgekrämpeltem deutschen Team gelingt in London ein ungefährdeter 1:0-Sieg. Das Tor des Abends erzielte der Dienstälteste, Per Mertesacker.
Per Mertesacker sieht das Glück schon kommen Bild: dpa
LONDON dpa | Angeführt vom Wahl-Engländer Per Mertesacker hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft auch mit einer Zweitbesetzung wieder einen Sieg im Wembleystadion eingefahren. Der Ersatz-Kapitän sorgte am Dienstagabend vor 85 934 Zuschauern mit einem platzierten Kopfball in der 39. Minute für den 1:0 (1:0)-Erfolg des DFB-Teams, gegen England, der aber kein Glanzlicht in der langen Geschichte des Länderspiel-Klassikers war.
„Wir haben eine enorm hohe Zahl an guten Spielern. Es wird interessant, wen der Bundestrainer aufbietet. Wir wollen bei der WM auf einem Top-Level sein, nicht jetzt. Das war heute nur ein Warmwerden, mehr nicht“, sagte Mertesacker.
Für Bundestrainer Joachim Löw, der viel mit seinen WM-Kandidaten experimentierte, war es auf dem Weg zur Titelmission in Brasilien dennoch ein erfreulicher Abschluss des Länderspieljahres mit insgesamt neun Siegen, zwei Unentschieden und nur einer Niederlage im Mai beim 3:4 gegen die USA. Und dennoch war der DFB-Chefcoach nicht ganz zufrieden. „Wir hätten das zweite Tor machen müssen. Sonst läuft man Gefahr, bei einem Standard den Ausgleich zu bekommen“, begründete Löw, warum er in der zweiten Halbzeit oft energisch an der Seitenlinie gestikulierte.
Zum sechsten Mal in Serie verließ Deutschland gegen die Three Lions in Wembley als Sieger den Platz. England konnte daheim gegen Deutschland zuletzt vor 38 Jahren gewinnen. Glück hatte Torwart-Debütant Roman Weidenfeller, das ein Distanzschuss des besten Engländers, Andros Townsend, in der 57. Minute an den Pfosten klatschte. Ansonsten hatte der Dortmunder praktisch keine Gelegenheit, sich auszeichnen zu können. „Torwartspezifisch gab es nicht all zu viel“, sagte der BVB-Schlussmann. Aber: „Es kann so weiter gehen.“
Ohne geschonte Stammkräfte wie Kapitän Philipp Lahm, Torwart Manuel Neuer, Mesut Özil oder den nach seinem Kreuzbandriss lange fehlenden Sami Khedira setzte Löw auf eine extrem unerfahrene Mannschaft. Arsenal-Verteidiger Mertesacker war im 95. Länderspiel der mit Abstand Erfahrenste und zudem der Einzige im DFB-Team, der schon beim letzten Sieg in Wembley im August 2007 (2:1) dabei gewesen war. Bei nur noch einem Test vor der WM-Nominierung am 5. März in Stuttgart gegen Chile machte der Bundestrainer den Klassiker bewusst zum Experimentierfeld.
Sorgen um Hummels
Trotz der Rotation setzte Löw fast paritätisch auf Kräfte aus München und vom BVB. Vier Tage vor dem Topduell in der Bundesliga standen drei Bayern- und vier Dortmund-Spieler in der Startelf – da konnte sich niemand beschweren.
Für Dortmunder Sorgenfalten sorgte aber Mats Hummels, der nur 20 Minuten nach seiner Einwechslung in der zweiten Halbzeit verletzt wieder ausgewechselt werden musste. „Er hat sich den Fuß vertreten“, berichtete Löw, ohne eine genaue Diagnose liefern zu können. Auch Marcel Schmelzer (Wade) Jèrôme Boateng (Ferse) und Heiko Westermann (Knie) mussten angeschlagen ausgewechselt werden.
Auch wenn Löw nicht von einem B-Team sprechen wollte, wurde zunächst deutlich, dass da eine zweite Besetzung auf dem Wembley-Rasen stand. In der Offensive konnte Mario Götze und Marco Reus ihre technische Überlegenheit zu selten nutzen. Vieles wirkte anfangs zaghaft. Immerhin die Defensive um Mertesacker stand gut, gerade auch Boateng agierte routiniert.
Die Verantwortung war grundsätzlich neu verteilt im DFB-Ensemble. Toni Kroos war in der zentralen Mittelfeldfunktion eher zurückhaltend, drehte aber in der zweiten Halbzeit auf. Die Zwillinge Lars und Sven Bender agierten erstmals gemeinsam von Anpfiff an als Doppelsechs mit viel Kampfkraft.
Das Spiel lief dennoch lange jenseits des Anspruchs eines Top-Duells zweier Teams mit großen WM-Ambitionen dahin – und dann kam Mertesacker und sorgte für den großen Glücksmoment. Nach einer Flanke von Kroos traf der Arsenal-Verteidiger zu seinem vierten Länderspieltreffer – dem ersten per Kopfball – wuchtig ins Netz. Wie schon bei Hummels' Führungstor in Italien (1:1) sorgte die Kopfarbeit eines Defensivmannes für deutschen Jubel.
Die Engländer bemühten sich, nicht mit konservativem Kick and Rush zu agieren und machten besonders über Townsend Druck. Mehr als einen Kopfball von Wayne Rooney aufs obere Tornetz hatten sie vor der deutschen Führung aber auch nicht produziert. Kurz vor dem Pausenpfiff versuchte sich Steven Gerrard (44.) mit einem wuchtigen Distanzschuss – auch der Ball flog über Weidenfellers Kasten hinweg.
Hummels zeigte bis zu seiner Verletzung wie Boateng eine starke Leistung. Und auch bei Götze lief es nach dem Wechsel deutlich besser. Mit einem guten Dribbling spielte er Reus (49.) für eine Chance frei. In der 65. Minute scheiterte Reus per Flachschuss am gut aufgelegten Hart. Löw setzte nun mit Sidney Sam, Julian Draxler und André Schürrle auf schnelle Konterspieler. Gefährliche Angriffe wurden aber kaum noch gesetzt. Das fiel nicht ins Gewicht, denn die Engländer fanden gegen die gute deutsche Defensive kein Mittel. | 234,852 |
1 | Bombenanschläge im Irak: Alte Konfliklinien brechen auf
Die Opferzahlen im Zusammenhang mit der Anschlagserie im Irak steigen weiter. Bei den Detonationen starben mindestens 65 Menschen – Beobachter gehen von religiösen Tatmotiven aus.
In Kirkuk stehen Irakis ungläubig vor einem von drei explodierten Autos. Bild: dpa
BAGDAD dapd | Bei einem der größten Anschläge seit dem US-Truppenabzug vor einem halben Jahr sind im Irak mindestens 65 Menschen ums Leben gekommen und mehr als 200 verletzt worden. Die offenbar koordinierten Autobombenanschläge am Mittwoch in mehreren Städten waren bereits die dritte Anschlagsserie gegen Schiiten in dieser Woche. Bundesaußenminister Guido Westerwelle verurteilte die Gewalt auf das Schärfste. Niemand bekannte sich zunächst zu den Taten.
Ziel von 14 der 16 Explosionen waren schiitische Pilger, die auf dem Weg zum Grabmal des schiitischen Imams Mussa al Kadhim aus dem achten Jahrhundert waren. Er gehört zu den zwölf wichtigsten Heiligen der Schiiten und ist in einem Schrein in Bagdad beigesetzt. Zwei Autobomben gingen vor Büros politischer Parteien mit Verbindungen zur kurdischen Minderheit im Irak hoch. Die Behörden hatten vor der Pilgerreise die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt, unter anderem wurde der mehrheitlich von Sunniten bewohnte Bagdader Stadtteil Asamija in der Nähe des Schreins gesperrt.
Die Welle der Gewalt im Irak ist seit den Unruhejahren 2006 und 2007 stark abgeflaut, damals war die Lage ansgespannt, da der ethnisch-religiöse Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten in einen Bürgerkrieg abzugleiten drohte. Doch seit dem Abzug der US-Truppen Mitte Dezember haben die Spannungen wieder deutlich zugenommen.
Westerwelle erklärte, der Weg des nationalen Ausgleichs und des Dialogs sei für die weitere Entwicklung Iraks unverzichtbar. Die Bundesregierung appelliere deshalb an die politisch Verantwortlichen im Irak, die schwelende Regierungskrise zu beenden und gemeinsam für eine friedliche und demokratische Entwicklung zu arbeiten.
Täter wollen religiöse Spannungen schüren
Dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki wird der Aufbau eines Machtmonopols vorgeworfen. Die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten erreichten einen neuen Höhepunkt, als Vizepräsident Tarik al Haschemi, der Sunnit mit dem höchsten Amt in der irakischen Führung, beschuldigt wurde, Todesschwadronen zu beschäftigen. Die Regierung begann mit einem Prozess in Abwesenheit gegen den flüchtigen Vizepräsidenten, womit sie wiederum Kritik auf sich zog, eine Vendetta zu führen.
Ein Sprecher der Militärführung in Bagdad sagte am Mittwoch, die Anschläge hätten zum Ziel, die Gewalt zwischen Anhängern der beiden Glaubensrichtungen wieder aufflammen zu lassen, doch „die Iraker durchschauen die terroristische Agenda und werden nicht in einen religiös motivierten Konflikt abgleiten“.
Die einzelnen Anschläge fanden stark verteilt, jedoch in kurzen Abständen zueinander statt. In den frühen Morgenstunden explodierte Polizeiangaben zufolge in der Stadt Tadschi nördlich von Bagdad nahe einer religiösen Prozession eine Autobombe. Dabei seien sieben Menschen getötet und 22 verletzt worden, hieß es. Bei vier weiteren Detonationen in verschiedenen Teilen der Hauptstadt seien mindestens 25 Menschen ums Leben gekommen und 53 verletzt worden.
Bei der Explosion von zwei Autobomben in der Stadt Hilla südlich von Bagdad kamen laut Polizei 21 Menschen ums Leben, 53 wurden verletzt. In der Stadt Kerbela, 90 Kilometer südlich von Bagdad, detonierte eine Autobombe in der Nähe einer Gruppe schiitischer Pilger und tötete zwei Menschen. Weitere 22 seien bei dem Anschlag verletzt worden, teilten Vertreter der Polizei und der Krankenhäuser mit.
Schlimmste Anschlagsserie seit Januar
Bei der nahezu zeitgleichen Explosion zweier in Fahrzeugen versteckter Sprengsätze in der Ortschaft Balad nördlich von Bagdad wurden den Behörden zufolge sieben Pilger getötet und 34 verletzt.
Ein Mensch kam in der Stadt Kirkuk ums Leben, als drei weitere Sprengsätze detonierten, einer davon vor dem Büro eines bekannten Führers der Kurden. In der Stadt Mossul ebenfalls im Norden des Landes wurden zwei Menschen bei einem Autobombenanschlag auf das Büro von Präsident Dschalal Talabanis Partei Patriotische Union Kurdistans getötet und vier verletzt. Bei zwei weiteren Explosionen in Mossul, etwa 360 Kilometer nordwestlich von Bagdad, wurden fünf Menschen verletzt.
Die Anschlagsserie am Mittwoch forderte die meisten Todesopfer im Irak seit dem 5. Januar, als bei einer Reihe von ebenfalls gegen Schiiten gerichteten Bombenanschlägen in Bagdad und am Rande der Stadt Nasirija im Süden des Landes 78 Menschen ums Leben kamen. | 234,853 |
1 | 1. Background information: Brief History of Citizenship Education
In the early 20th century, when in Austria the general right to vote was introduced for men, a formal introduction to political studies for citizens, called Bürgerkunde, was established. The goal was to create a positive attitude towards the existing social and political system. Primarily, information about the political system and related institutions was imparted. Citizenship Education for adults was first organised by associations that were dedicated to workers‘ and general adult education (Arbeiter- und Volksbildungsvereine) as well as by middle-class reading and literature clubs (Lese- und Literaturgesellschaften). The driving force behind these efforts was the emancipative goal of empowerment.
The time between the wars – and, of course, the two World Wars themselves – were not conducive to the development of a system of democratic education. On the contrary, a lack of identification with the Austrian state as well as authoritarian developments and the dictatorship made schools the procurers of legitimation for whomever was in power.
A radical re-orientation in Citizenship Education after World War II was short-lived and the 1928 curriculum was reinstated basically unchanged. A Decree on Civic Education in 1949 focused on an education that promoted conscious ‘Austrianness’.
A quarter of a century later, in 1974, the Austrian Education Ministry considered introducing a new compulsory school subject in the final years of secondary schools: Citizenship Education; but the bill failed in parliament. As a compromise, Citizenship Education was established as a cross-curricular theme. After long negotiations between the various stakeholders, a Decree on Citizenship Education in Schools was finally signed in 1978.
An important stimulus for Citizenship Education was the reduction of the active voting age to 16 in 2007. A broad coalition demanded more Citizenship Education from an earlier age. All pupils and students were to be prepared for responsible political participation during their compulsory schooling. In the school year 2008/09, the reformed subject History and Social Studies/Citizenship Education for the 8th grade entered into force. The new curriculum also introduced competence orientation. And in 2016, a curriculum reform resulted in further strengthening the part of Citizenship Education in the subject History and Social Sciences/Citizenship Education.
Since 2018, the implementation of the 2017 Council of Europe’s Reference Framework of Competencies for Democratic Culture (RFCDC) has been in progress through various means. In February 2019, the NECE (Networking European Citizenship Education Conference) focus group on the RFCDC started its work. The group is led by ‘polis’ – the Austrian Centre for Citizenship Education in Schools – in cooperation with the DARE Network (Democracy and Human Rights Education in Europe).
2. Definitions of Citizenship Education
The Decree on Citizenship Education in Schools specifies a framework for the content and didactics of formal education. It starts from a very wide definition of politics. According to the Austrian Ministry of Education, Citizenship Education comprises human rights education and is closely related to similar educational principles and cross-curricular themes such as media education.
'Citizenship Education is a precondition for individual development as well as the development of society as a whole. It actively contributes to shaping society and to putting democracy into practice; it addresses the problem of what makes society recognize government and authority as legitimate. In a democracy, free appointment, control and impeachability of the governing by the governed serve to legitimate government and authority. Citizenship Education is committed to this conception of democracy. The more this notion of democracy is embedded at all levels of society, the more successfully democratic government systems will work and the better society will be able to organise itself according to the concept of democracy.'
Important reference points for Citizenship Education are international documents such as the UN Convention on the Rights of the Child, the Council of Europe’s Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education and the above mentioned RFCDC as well as the Key Competencies for Lifelong Learning of the EU. One of ‘key competencies’, civic competence, has an obvious reference to Citizenship Education.
In non-formal education, definitions and particularly the degree of importance given to sub-areas vary from one organisation to another. An example is the definition applied by the Austrian Society for Citizenship Education (Österreichische Gesellschaft für Politische Bildung, ÖGPB) founded in 1977: it defines Citizenship Education as the imparting of knowledge, skills and insights in socio-political, economic, ecological and international correlations and contexts. Awareness is built in accordance with the principles of the Austrian Constitution and the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms. The motivation for a responsible participation in society takes the different viewpoints of a pluralistic society and the aims of gender mainstreaming into consideration.
In the German language, the term Politische Bildung is used, which literally translates as ‘political education’.
3. Non-formal Citizenship Education
The landscape of non-formal education is very diverse. It comprises areas like the extra-curricular education of young people in youth centres, traditional institutions of adult education (e.g. community colleges) and the umbrella organisation for Citizenship Education mentioned above as well as party academies and various NPOs. Some providers of Citizenship Education are also international organisations (some having their seat in Austria) . Civil society players are mostly non-profit organisations financed partly or mostly through public funds.
The Advocacy Group for Citizenship Education (Interessensgemeinschaft Politische Bildung, IGPB, founded in 2009) sees itself as a nonpartisan platform for linking institutions and people active in Citizenship Education and advocates the improvement and deepening of Citizenship Education measures – in schools and outside schools.
4. Legal Environment
Curricula for schools are decreed centrally by the Austrian Ministry of Education. If the occasion arises, additional guidelines or circulars provide a framework for instruction.
A special initiative has made it possible to provide text books free of charge since 1972. The text books (and audio-visual teaching materials) have to be approved by the Ministry of Education and the aim is to contribute to equal opportunities for all children and young people. On the whole, however, teachers have a lot of freedom as to what teaching and learning materials they use in their classes, provided these materials contribute to fulfilling the curriculum and have been carefully chosen and reviewed.
There also is a federal law on the promotion of Citizenship Education and publishing which lays down rules on how political parties are to promote Citizenship education. On the one hand, their party academies are to provide citizens with insights into political and social conditions and motivate them to participate, while on the other hand they are to qualify people to take active part in politics.
When coming into office, every government issues a programme detailing its current and future plans. In its programme for 2020 to 2024, the Austrian Federal Government, for example, stated its intention to ‘Making the EU come alive’: the aim is for all 15- to 20-year olds to travel to Brussels for a few days and get to know the EU institutions.
5. Stakeholders
In the Austrian Federal Ministry of Education, a department responsible for some cross-curricular themes is supporting schools and teacher-training institutes in implementing Citizenship Education. To this end, it uses an external service provider called ‘Zentrum polis’ – Politik Lernen in der Schule (Learning about politics in school).
The Austrian parliament also regards conveying a basic knowledge about politics as one of its basic responsibilities: the aim is to allow children and young people to experience democracy. Similar offerings can also be found on the regional level.
All activities by the Ministry of Education are carried out in cooperation with civil society organisations in Austria and abroad. This cooperation can either be directly with the target groups or in collaboration with third organizations. Important umbrella organisations are the Austrian Federal Youth Representation and the IGPB.
The biggest target group for formal Citizenship Education are pupils and students. They are represented by their statutory pupil/student representations. Their federal umbrella organisation advocates strengthening Citizenship Education.
Teachers in Austria are trained at university colleges of teacher education and universities, which are also responsible for their further training. A few didactics centres for Citizenship Education have been established at universities in recent years.
6. Challenges
As education increasingly is subject to economic considerations, as disenchantment with politics rises and resources generally become scarcer, a negative impact on the successful development of Citizenship Education becomes more probable.
The players in Citizenship Education work hard to improve its general conditions. What mainly needs to be done is to bridge the gap between the theory of the generally posited importance of Citizenship Education and the realities of its implementation.
A big challenge is the professionalization of teachers since Austrian teacher-training lacks study programmes for teaching Citizenship Education in its own right. It is no coincidence that the IGPB, in 2010, chose this issue as the subject of its first annual conference and has addressed it repeatedly in its position papers.
In the future, the particularities of Citizenship Education in the digital age probably should be given more consideration as well: the range of fields to be tackled includes aspects of media literacy and distance learning. In this regard, the comprehensive Digital Citizenship Education concept of the Council of Europe offers guidance for the acquisition of competences for actively participating in digital society.
Citizenship Education has a European and a global dimension. In order to meet the goals of European and Global Citizenship Education, more international cooperation – as for example under the NECE umbrella – is imperative.
7. References
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Kühberger C. 2009. Kompetenzorientiertes historisches und politisches Lernen. Methodische und didaktische Annäherungen für Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. Innsbruck: Studienverlag.
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Sander W. 2020. Aufgaben und Probleme politischer Bildung in Österreich. In: Ludger Helms L. et al. (Ed.): Die österreichische Demokratie im Vergleich, 2nd ed. Baden-Baden: Nom 2017, pp. 503-526, [Externer Link: https://doi.org/10.5771/9783845274935-503] Accessed: June 2, 2021.
Interner Link: Arabic Version
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Stakeholders working in Citizenship Education and related areas in Austria see [Externer Link: www.politik-lernen.at/akteurinnen] Accessed: June 2, 2021.
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Aus Verantwortung für Österreich. Regierungsprogramm 2020-2024, p. 127, [Externer Link: www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:7b9e6755-2115-440c-b2ec-cbf64a931aa8/RegProgramm-lang.pdf] Accessed: June 2, 2021.
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0 | 100. Geburtstag von Artur Brauner: Erinnerer und Unterhalter
Der jüdische Filmemacher Artur Brauner blieb in Deutschland, obwohl er von den Nazis verfolgt wurde. Später produzierte er fast 300 Filme.
Brauner produzierte sogenannten „Mainstream“ mit gleich großer Leidenschaft wie seine Herzensprojekte Foto: dpa
„Vielleicht hat er nur Marschieren gelernt und Singen und Schießen, vielleicht hat man ihm jedes Gefühl aus dem Herzen wegkommandiert …“ Was der von Josef Almas gespielte jüdische Arzt da über einen deutschen Wehrmachtsoldaten sagt, der von KZ-Flüchtlingen in ihrem Waldversteck gefangen gehalten wird, das war 1948 unerhört. Unerhört, weil es einer Einladung zur gedanklichen Vergebung gleichkam, weil es von Verständnis zeugte und damit von der Weigerung, den Deutschen eine Kollektivschuld zu attestieren.
„Morituri“, die Todgeweihten, hieß das Werk, das eigentlich Artur Brauners erster Film als Produzent werden sollte, aber wegen Finanzierungsschwierigkeiten zu seinem zweiten wurde: Keiner wollte die Geschichte bezuschussen, die auf Brauners eigenen Erinnerungen beruht und in der eine Gruppe aus Deutschen, Polen, Franzosen, Russen und Kanadiern, darunter auch Juden, sich gemeinsam vor den Nazis versteckt. Denn diese Art der Auseinandersetzung war in der Besatzungszeit und noch lange danach unerwünscht.
Brauner, der erst im September 1946 seine Produktionsgesellschaft CCC gegründet hatte, musste das visuell beeindruckend expressionistische Versöhnungswerk hintanstellen und das nötige Kapital durch eine weichgespülte Operetten-Komödie namens „Herzkönig“ auftreiben. Erst ein Jahr später wurde „Moritori“ unter abenteuerlichen Bedingungen mit Strom- und Versorgungsmangel im kalten brandenburgischen Winter vom Regisseur Eugen York inszeniert; die Uraufführung erfolgte 1948 im Wettbewerb des Filmfestivals von Venedig.
An den Kinokassen des Landes war dieser erste deutsche Film, der von Holocaust und Flucht erzählt und die Zuschauer mit selbstverständlicher, nicht untertitelter Mehrsprachigkeit und Vielschichtigkeit der Motive forderte, nicht nur ein absoluter Flop – etliche Kinos hatten sich sogar geweigert, ihn überhaupt zu zeigen.
Fast 300 Produktionen
Brauner hat das nie angefochten. Es scheint ihn eher angefeuert haben, weiterzumachen. Bis heute: Fast 300 Produktionen hat der rührige Neu-Centenarian verantwortet, seine Tochter Alice, eines seiner vier Kinder, führt eine der ältesten deutschen Produktionsgesellschaften weiter – momentan werden in den CCC Studios unter anderem Netflix-Serien gedreht.
1990 hatte das Frankfurter Filmmuseum dem aus Lodz stammenden Möglichmacher eine umfassende Ausstellung samt Werkschau gewidmet. Im dazugehörigen Katalog schreibt deren ehemalige Direktorin, die Filmwissenschaftlerin Claudia Dillmann: „Die Anekdoten, deren Gegenstand Artur Brauner seit Beginn der fünfziger Jahre war, zielten auf seine extreme Sparsamkeit, seine Cleverness, seine Wendigkeit, Zielstrebigkeit oder Härte – alles Tugenden auf der Werteskala der Ellenbogen-Gesellschaft der fünfziger Jahre.
Zehn Jahre früher hätte der offizielle wie der gesellschaftliche Sprachgebrauch dieselben Eigenschaften eines jüdischen Geschäftsmannes Geiz, Verschlagenheit, Habgier und Tierhaftigkeit genannt. Ungeschützt redete in den fünfziger Jahren keiner mehr so, das Zerrbild aber darf mitgedacht werden …“.
Doch Brauner, der in Interviews immer wieder sagt, er empfände „keinen Hass“ gegen die Deutschen, hatte sich längst entschieden, im Land der Täter zu bleiben, und nicht, wie die restlichen Überlebenden seiner Familie, nach Israel zu gehen. Wie er auf dem Weg aus Polen nach Berlin kurz nach dem Krieg einen Leichenberg im Wald entdeckte, der ihn, den Filmfan, darin bestärkte, die Geschichte von Deutschland und den Nazis weiterzuerzählen, zu fiktionalisieren, um die Opfer nicht vergessen zu machen, ist ein weiteres, oft von ihm kolportiertes und erschütterndes Ereignis.
Schlüpfrig-verklemmte Filmreihe
Und die Fluchterlebnisse seiner Frau Maria, die 2017 nach siebzig Jahren Ehe starb, werden ihn ebenfalls bestärkt haben, auch Themen durchzusetzen, die damals (und heute) nur wenige auf der Leinwand sehen wollten.
1990 ehrte man Brauners Drama „Hitlerjunge Salomon“ mit einem Golden Globe
Brauner produzierte sogenannten „Mainstream“ mit gleich großem Interesse und Leidenschaft wie jene kompromisslosen Herzensprojekte, die er „meine jüdischen Filme“ nennt. Politische Werke wie „Die Flucht“ von 1963, in dem Edwin Zbonek Götz George als KZ-Insassen inszenierte, „Zeugin aus der Hölle“ von 1966 über eine durch den Prozess gegen einen Lagerarzt retraumatisierte Jüdin.
„Sie sind frei, Dr. Korczak“ von 1973 über Kinder des Warschauer Ghettos ging er genauso energetisch an wie Abenteuer-Monumentalfilme, Karl-May-Adaptionen oder die schlüpfrig-verklemmte Filmreihe „Erotik auf der Schulbank“, die den durch den Zeitgeist verkleideten Sexismus der 60er Jahre atmete.
1955 produzierte er das mutige Drama „Die Ratten“, in dem „Seelchen“ Maria Schell eine schwangere, mittellose Frau spielt, eine Verfilmung eines Gerhart-Hauptmann-Dramas. Regie-Legende Fritz Lang, dessen Brauner-Film „Der Tiger von Eschnapur“ aus allen finanziellen Rahmen zu kippen drohte, setzt er in einem geharnischten Brief per Luftpost/Eilboten unter Druck: „Der Film muss am 9. Januar 1959 herauskommen – und daran ist nicht zu rütteln!“
Markenzeichen: Bärtchen
Lang gehorchte, und der Prunk-und-Kitsch-Schinken wurde ein Hit. 1990 ehrte man Brauners Drama „Hitlerjunge Salomon“ mit einem Golden Globe – ins Oscar-Rennen hatte das deutsche Auswahlgremium ihn allerdings nicht schicken wollen.
Auf einem Spiegel-Cover von 1957 sieht man einen damals noch Halbglatzenträger mit dichten Augenbrauen und amüsiertem Lächeln unter dem Signature-Bärtchen. Die Unterzeile lautet, in Anspielung auf sein eigenhändig geschaffenes Imperium, „Der Allein-Unterhalter“. Dabei arbeitet Brauner, dem Curd Jürgens einst den Spitznamen „Atze“ verpasste, vor allem für die Gemeinschaft. Für eine vielfältige Gemeinschaft, die – mithilfe von Filmen – vielleicht verzeiht. Aber nie vergisst. | 234,855 |
1 | Pakistans Ex-Regierungschef: Khan wegen Korruption verhaftet
Mit Slogans gegen die Korruption in Pakistan wurde Imran Khan Premierminister. Nun stand er wegen Korruption vor Gericht – und wurde festgesetzt.
Imran Khan am Dienstag auf dem Weg zum Gericht in Islamabad Foto: Ghulam Farid/ap
ISLAMABAD afp/ap | Der frühere pakistanische Premierminister Imran Khan ist verhaftet worden. Die Antikorruptionsbehörde habe den 70-Jährigen am Dienstag bei einem Gerichtstermin in Pakistans Hauptstadt Islamabad festgesetzt, teilte ein führender Vertreter seiner Partei Tehreek-e-Insaf am Dienstag mit. Die Polizei schrieb zudem auf dem Online-Dienst Twitter: „Imran Khan wurde im Qadir-Trust-Fall festgenommen.“
Lokale TV-Sender zeigten chaotische Szenen außerhalb des Gerichts, wo es zu Zusammenstößen zwischen Hunderten Anhängern der Partei Tehreek-e-Insaf und Sicherheitsbeamten kam. Es gebe mehrere Verletzte auf beiden Seiten, berichten Mitglieder der Partei.
Beim Fernsehsender Geo-TV ist zu sehen, wie Khan in ein gepanzertes Fahrzeug gebracht wird, welches dann mit ihm davonfährt. Führende Tehreek-e-Insaf-Mitglieder sprachen von einer Entführung. Später wurde Khan der Polizei zufolge nach Rawalpindi gebracht, wo er untersucht und befragt werden sollte.
Die Antikorruptionsbehörde erklärte, sie habe vergangene Woche in seinem separaten Korruptionsfall Haftbefehle gegen Khan erlassen, für die keine Kautionen festgelegt worden seien.
Anhaltender Machtkampf in Pakistan
Khan wird vorgeworfen, Staatsgeschenke verkauft zu haben, die er als Premierminister erhalten hat. Die Einnahmen habe er vor dem Wahltribunal verborgen. Gerichtsterminen blieb er immer wieder fern. Khan bezeichnet die Strafverfolgung als politisch motiviert, bei seinen öffentlichen Auftritten kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen seinen Anhänger, politischen Gegnern und Sicherheitskräften.
Khan war 2018 in Pakistan mit dem Versprechen an die Macht gelangt, Korruption und Vetternwirtschaft zu bekämpfen. In seiner Regierungszeit verschlechterte sich die Beziehung zum mächtigen Militär, das seinen Aufstieg zur Macht gestützt hatte, jedoch zunehmend.
Das Parlament hatte Khan vor einem Jahr durch ein Misstrauensvotum abgesetzt. Seitdem behauptet der ehemalige Kricketstar, seine Absetzung sei illegal gewesen und Folge einer Verschwörung der Regierung seines Nachfolgers Shehbaz Sharif und der US-Regierung. Er fordert vorgezogene Neuwahlen. Sharif und die USA haben die Vorwürfe bestritten. | 234,856 |
0 | »>Verehrte Frau<, sagte ich nach einer Weile, >es ist nicht nötig,
daß ich euch morgen oder in diesen Tagen antworte; ich kann es jetzt
sogleich. Was ihr mir an Gründen gesagt habt, wird sehr richtig sein,
ich glaube, daß es wirklich so ist, wie ihr sagt; allein mein ganzes
Innere kämpft dagegen, und wenn das Gesagte noch so wahr ist, so
vermag ich es nicht zu fassen. Erlaubt, daß eine Zeit hierüber vergehe
und daß ich dann noch einmal durchdenke, was ich jetzt nicht denken
kann. Aber eins ist es, was ich fasse. Ein Kind darf seinen Eltern
nicht ungehorsam sein, wenn es nicht auf ewig mit ihnen brechen, wenn
es nicht die Eltern oder sich selbst verwerfen soll. Mathilde kann
ihre guten Eltern nicht verwerfen, und sie ist selber so gut, daß sie
auch sich nicht verwerfen kann. Ihre Eltern verlangen, daß sie jetzt
das geschlossene Band auflösen möge, und sie wird folgen. Ich will es
nicht versuchen, durch Bitten das Gebot der Eltern wenden zu wollen.
Die Gründe, welche ihr mir gesagt habt und welche in mein Wesen nicht
eindringen wollen, werden in dem eurigen fest haften, sonst hättet
ihr mir sie nicht so nachdrücklich gesagt, hättet sie mir nicht mit
solcher Güte und zuletzt nicht mit Tränen gesagt. Ihr werdet davon
nicht lassen können. Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß
das, was für uns ein so hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil
sein wird. Ihr habt es mir mit eurer tiefsten Überzeugung gesagt.
Selbst wenn ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten euch zu erweichen
vermöchten, so würde euer freudiger Wille, euer Herz und euer Segen
mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern,
ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund
der Trauer sein, er wäre ein ewiger Stachel, und euer ernstes oder
bekümmertes Antlitz würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist
der Bund, und wäre er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so
lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame
Tochter würde ich nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie
jetzt liebe, eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele,
wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden
daher das Band lösen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. - O
Mutter, Mutter! - laßt euch diesen Namen zum ersten und vielleicht
auch zum letzten Male geben -, der Schmerz ist so groß, daß ihn keine
Zunge aussprechen kann und daß ich mir seine Größe nie vorzustellen
vermocht habe!<« | 234,857 |
1 | Koalitionsverhandlungen in Stuttgart: Die viel zu lang verbotene Frucht
Zweimal schon hätte die CDU in Baden-Württemberg schon mit den Grünen verhandeln können. Traumatisiert geht die Partei in die Koalitionsgespräche.
Winfried Kretschmann auf der Trauerfeier für seinen Vorgänger Lothar Späth Foto: dpa
STUTTGART taz | Manches ist ja doch noch wie früher. Zum Beispiel der quälende Streit zwischen Fundis und Realos: geprägt von Eifersüchteleien, ideologischen Grabenkämpfen und alten persönlichen Verletzungen. Soll man sich an die Macht wagen oder lieber aus der Opposition heraus die reine Lehre vertreten? Mühsam abgemildert werden die Zankereien durch eine Doppelspitze, die sich alles andere als grün ist.
Die Rede ist nicht von den Grünen. Es geht um die Union.
Da drängeln sich Thomas Strobl und Guido Wolf vergangene Woche bei den Sondierungsgesprächen mit Kretschmanns Partei gleichzeitig durch die Tür zum Konferenzsaal, weil weder der Parteivorsitzende (Realo) noch der frisch gewählte Fraktionschef und Wahlverlierer (Fundi) dem jeweils anderen den Vortritt lassen will. Da reden die Verlierer der städtischen Wahlkreise von der neuen, konservativ geprägten „Landeier-Fraktion“, die jetzt im Stuttgarter Landtag Platz nehme und Modernisierung verhindere.
Die anderen warnen vor massenhaften Austritten, falls die Union tatsächlich als Juniorpartner in eine Koalition mit den Grünen eintritt. Sie fordern vorher einen Mitgliederentscheid. Gleichzeitig empfehlen 20 CDU-Oberbürgermeister in einem offenen Brief geradezu leidenschaftlich eine solche Koalition. Ein Hühnerhof ist eine geschlossene Formation gegen das Bild, das die CDU in Baden-Württemberg in den Tagen nach der Wahl bietet.
Am Grab von Lothar Späth
„Eigentlich ist die Südwest-CDU eine gespaltene Partei. Und das nicht erst seit gestern“, sagt einer, der sich gut auskennt mit Flügelkämpfen. Oswald Metzger war lange Hyperrealo bei den Grünen, 2008 trat er dann genervt und gekränkt zur CDU über. Ganz unerwartet fand er sich erneut in einer zerstrittenen Partei wieder; die Wunden, die der Mitgliederentscheid für die Nachfolge von Erwin Teufel gerissen hatte, waren noch frisch. Seitdem ist die Partei in zwei Lager geteilt, die Teufel-Traditionalisten und die Oettinger-Reformer.
Würde Regisseur Francis Ford Coppola diesen Stoff verfilmen, dann wäre die Beerdigung in der Stuttgarter Stiftskirche eine gute Einstiegsszene. Am Mittwoch wurde Lothar Späth bei grauem Regenwetter und zu Klängen der Stargeigerin Anne-Sophie Mutter zu Grabe getragen. „Das Cleverle“, wie sie ihn hier respektvoll nannten, hat Baden-Württemberg mit viel Steuergeld und großem Geschick politisch, wirtschaftlich und kulturell geprägt wie kein anderer. Späth war sicher eine Ausnahmefigur.
Für seine Partei muss der Tote so kurz nach diesem historischen Wahldebakel aber geradezu wie ein Gigant aus einer anderen Zeit erscheinen. Er war der letzte CDU-Ministerpräsident, der mit einer absoluten Mehrheit regierte. Ihm ist es gelungen, Reformer und Konservative bei Laune zu halten. Was sicher beides miteinander zu tun hat.
Schwache Nachfolger
Ganz vorne in den Kirchenbänken sitzen die drei Nachfolger Späths. Erwin Teufel, weder Visionär noch Erneuerer, aber dafür der letzte echte Landesvater, den die CDU zu bieten hatte. Gleich daneben Stephan Mappus, ebenfalls ein Konservativer. In 15 Monaten als Ministerpräsident machte er fast vollständig zunichte, was die CDU sich die Jahrzehnte zuvor an Regierungsbonus aufgebaut hatte, es blieben Milliardenschulden durch den Kauf der EnBW, damit verbunden diverse Prozesse und Untersuchungsausschüsse.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs, in maximaler Entfernung zu den beiden, sitzt der Vertreter des liberalen Parteiflügels, Günther Oettinger, heute EU-Kommissar. Er wollte als Ministerpräsident in Späths Fußstapfen treten und die Partei modernisieren. Deshalb hätte Oettinger gern schon 2006 mit den Grünen koaliert. Politisch hat er nur wenige Spuren hinterlassen.
Orgie an Konjunktiven
Der vierte Nachfolger, der Grüne Winfried Kretschmann, nennt Späth in seiner Trauerrede dann tatsächlich einen „Lehrmeister der Grünen“. In den Ohren der versammelten Unions-Elite muss das wie Hohn klingen. Aber so meint das Kretschmann wohl nicht. Die CDU kann sich über schlechten Stil wahrlich nicht beklagen. Kein Triumphgeheul war nach dem Wahlerfolg von den Grünen zu hören. Sie zeigten stattdessen erstaunlich viel Geduld mit dem potenziellen Koalitionspartner. Drei weitgehend inhaltsfreie Sondierungsgespräche ließen sie über sich ergehen, so als hätten sich die Akteure nicht jahrelang im Landtag gegenübergesessen.
taz.am wochenendeVor zehn Jahren haben sich sechs Studierende für ein Erasmus-Jahr in Breslau getroffen. Hat sie das zu Europäern gemacht? Wie sie auf das Europa von damals und heute blicken, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 2./3. April. Außerdem: Wenn Gesetze nur Schall und Rauch sind: Der Kosovo hat eine menschenrechtlich sehr fortschrittliche Verfassung. Aber die Realität sieht für Homosexuelle ganz anders aus. Und: Anke Dübler ist erblindet. Jetzt stickt sie filigrane Botschaften in Blindenschrift auf Kissenbezüge. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die Statements nach diesen Treffen waren aus Angst vor der CDU-Basis jedes Mal eine Orgie an Konjunktiven: Falls man koalieren würde oder müsste, wäre das aber keine Fortsetzung von Grün-Rot, sagte Thomas Strobl und dass man – wenn man dann tatsächlich einer Koalition näherträte – gewiss keine Liebesheirat einginge.
Die Grünen wissen, dass sie es mit einem traumatisierten Verhandlungspartner zu tun haben, der nur schwer berechenbar ist. Belastet mit einem ehemaligen Spitzenkandidaten, der gar nicht daran denkt, die Verantwortung für die historische Wahlniederlage zu übernehmen, sondern zeitweilig sogar glaubte, er könne entgegen dem Wählerwillen eine Koalition der Verlierer bilden. Und getrieben von einer Basis, die tief verunsichert ist. So mancher sieht in Neuwahlen oder gar einem Flirt mit der AfD angenehmere Alternativen, als Juniorpartner der Grünen zu werden. Mit solch einer labilen Partei kann man nur schwer tragfähige Bündnisse schließen.
Die weitere bittere Wahrheit für die CDU ist: Die drei Altministerpräsidenten in der ersten Reihe der Trauergemeinde sind bis heute die markantesten Köpfe ihrer Partei. Es fehlt an überzeugendem Personal, das ein grün-schwarzes Bündnis mit Leben füllen könnte. Liberale wie Andreas Renner, der als Sozialminister unter Oettinger schon mal einen kessen Spruch gegenüber den mächtigen Kirchen riskierte, haben sich längst in die Wirtschaft verabschiedet.
Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten. Nur so ist zum Beispiel zu erklären, warum Guido Wolf noch immer eine Rolle spielt.
Schwarz-Grün ist keine Revolution mehr
Eine Erneuerung ist noch am ehesten Thomas Strobl zuzutrauen, der die Landespartei als Vorsitzender von Berlin aus lenkt. Strobl diente sowohl dem Modernisierer Oettinger wie auch dem Traditionalisten Mappus. Sogar die Niederlage gegen Guido Wolf beim Mitgliederentscheid über die Spitzenkandidatur hat er tapfer weggelächelt und dann im Wahlkampf Geschlossenheit mit seinem Kontrahenten gezeigt, dem er sich sichtlich überlegen fühlt, zumindest simuliert. Doch Strobl laviert, bisher will er sich nicht festlegen, ob er aus Berlin nach Stuttgart zurückkehrt.
Und so ist von dieser Koalition – mal ganz ohne Konjunktiv – leider wenig zu erwarten. 1992, als Teufel und Kretschmann das erste Mal flirteten, wäre Schwarz-Grün eine kleine Revolution für beide Parteien und das Land gewesen. 2006, als der Fraktionschef Mappus die schwarz-grünen Pläne von Oettinger durchkreuzte, hätte sie zumindest die Union erneuert und manche Weichen in Naturschutz und Energiewende ein paar Jahre früher stellen können. Jetzt ist sie allenfalls ein Pflichtbündnis, in Hintergrundgesprächen wird bereits der Hang zu Formelkompromissen deutlich.
Liegt die CDU mit ihren 27 Prozent also unwiederbringlich am Boden? Ist die schwarze Vormacht gebrochen? Man sollte sich da nicht täuschen. Programmatisch hat die Union kaum etwas zu bieten, wie der Wahlkampf gezeigt hat. Aber die CDU hat etwas viel Effizienteres: eine nach wie vor mächtige Basis. In den Rathäusern und Landratsämtern, in den Ministerien, den einflussreichen Industrie- und Handelskammern, beim Blasmusikverband und bei den Landfrauen wird man noch lange Zeit nur dann etwas werden, wenn man ein schwarzes Parteibuch hat.
Oswald Metzger, der grüne Schwarze, jedenfalls gibt Stadt und Land für die Union noch nicht verloren. Es gebe in Baden-Württemberg eine riesige Bandbreite von Konservativen. Viele haben diesmal Kretschmann gewählt. Trete der nicht mehr an, werden sie wieder die Union wählen, hofft Metzger. Als Regierungspartei stünden die Chancen dafür gut, glaubt er. Stimmt. Das Spiel des Machterhalts lag der Südwest-CDU schon immer mehr als echte Programmarbeit. | 234,858 |
0 | Die Neger kamen. Sie halfen pflücken und luden ihre Baumwolle auf dem
Farmhof ab. Denn ein großer Teil der Muchowschen Farm war an Neger
verpachtet, die Land und Werkzeug geliefert bekamen und dafür die Hälfte
der Ernte abliefern mußten. Sechs Familien waren es, Männer in
zerfetzten Hosen, Weiber in roten und blauen Röcken und grellkarierten
Kopftüchern, splitternackte Kinder, die alle zusammen schwatzend und
schreiend in die Baumwollenfelder zogen und gefüllte Säcke
herbeischleppten, bis sich weiße Berge auf dem Farmhof türmten. | 234,859 |
0 | Trupial (Icterus Briss.), Gattung aus der Ordnung der
Sperlingsvögel, der Familie der Stärlinge (Icteridae) und
der Unterfamilie der Beutelstare (Icterinae), Vögel mit
schlankem, fein zugespitztem, auf der Firste gerundetem,
schneppenartig in das Stirngefieder eingreifendem, durch hohen
Mundwinkel ausgezeichnetem Schnabel, ziemlich kräftigen,
langzehigen Füßen mit hohen, stark gekrümmten
Nägeln, ziemlich langen Flügeln, unter deren Schwingen
die zweite die längste ist, langem, abgerundetem, seitlich
stufig verkürztem Schwanz. Der Baltimorevogel (I. Baltimore
L.), 20 cm lang, 30 cm breit, an Kopf, Hals, Kehle, Mantel,
Schultern, Flügeln und den beiden mittelsten Schwanzfedern
schwarz, an den Oberflügeldecken, dem Bürzel und den
Oberschwanzdeckfedern und den übrigen Unterteilen feurig
orange, auf den Flügeln mit breiten, weißen Querbinden,
die äußern Schwanzfedern halb orange, halb schwarz; das
Auge ist braun, Schnabel und Fuß grau. Er bewohnt die
Oststaaten Nordamerikas, geht im Winter bis Westindien und
Mittelamerika, lebt besonders an Flußufern, baut ein an
Baumzweigen hängendes, sehr künstlich geflochtenes Nest
und legt 4-6 blaßgraue, dunkler gefleckte und gestrichelte
Eier. Ernährt sich im Frühjahr fast ausschließlich
von Kerbtieren, aber im Sommer richtet er an Feigen und Maulbeeren
oft großen Schaden an. Wegen seines angenehmen Gesangs
hält man ihn viel im Käfig. | 234,860 |
0 | Taubmann, Friedrich, Gelehrter, geb. 1565 zu Wonsees bei
Baireuth, ward 1595 Professor der Dichtkunst in Wittenberg und
starb daselbst 24. März 1613. Er that viel für Belebung
der humanistischen Studien und bekämpfte mit den Waffen des
Ernstes und Spottes die Verirrungen seiner Zeit. Bekannt ist die
Sammlung seiner witzigen Einfälle und Aussprüche unter
dem Titel: "Taubmanniana" (Frankf. 1713, Münch. 1831), die
manche fremde Zuthaten enthält. Vgl. Genthe, Friedrich T.
(Leipz. 1859); Ebeling, F. T. (3. Aufl., das. 1884). | 234,861 |
1 | Großeinsatz in Rios Favelas: Die Macht der Banden brechen
Die Polizei rückt in die von Drogenhändlern besetzten Siedlungen ein. Bei schweren Schießereien gab es bisher mindestens 38 Tote. 200 Personen wurden bei Razzien festgenommen.
Mit Panzern rückt die Polizei in die Favelas von Rio vor. Bild: dapd
BUENOS AIRES taz | Brasiliens Polizei und Militär sind am Samstagmorgen in die Favelasiedlungen des Complexo do Alemão von Rio de Janeiro eingerückt. Unterstützt von Panzerfahrzeugen und Hubschraubern besetzen sie das Gelände und durchsuchten Häuser, Hütten und Straßen nach Mitgliedern von Drogen- und Waffenhändlerbanden. Nach ersten Berichten stießen die Einheiten auf wenig Widerstand. In der Nacht zuvor war es zu einigen schweren Schießereien gekommen.
Seit einer Woche gehen Brasiliens Polizei und Militär gegen die Banden in den Armenviertel von Rio vor. "Das ist nicht der Augenblick, um Risiken zu vermeiden, sondern sich ihnen zu stellen", rechtfertigte Verteidigungsminister Nelson Jobim den Einsatz seiner Soldaten. Dieser war von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva genehmigt worden. Am Donnertag hatten Polizeieinheiten mit Panzerfahrzeugen und Hubschraubern in einer fünfstündigen Operation die Favela Vila Cruzeiro gestürmt.
"Vila Cruzeiro gehört wieder zum Staat" gab sich Rios Vizepolizeichef Rodrigo de Oliveira nach der Erstürmung der Favela erfolgsbewusst. Vila Cruzeiro galt als eine Hochburg der schwer bewaffneten Banden, darunter ist mit dem Comando Vermelho (Kommando Rot) auch Rios größte und mächtigste Gruppe. Fernsehbilder zeigten, wie über 200 mutmaßlich bewaffnete Bandenmitglieder aus der als undurchdringlich geltenden Favela mit ihren mehr als 30.000 Einwohnern flüchteten.
Der Gouverneur des Bundesstaates Rio, Sérgio Cabral, feierte die Einnahme der Favela Vila Cruzeiro als einen historischen Moment. "Kein Teil Rios steht außerhalb der Reichweite des Gesetzes", so der Gouverneur. Am vorherigen Wochenende hatten Drogen- und Waffenhändlerbanden damit begonnen, Autofahrer zu überfallen sowie Busse und Autos in Brand zu stecken. Zuvor sollen Mitglieder verschiedener Banden ein vorübergehendes Bündnis geschlossen haben. Die Gewalttätigkeiten seien eine Reaktion darauf, dass diese Banden aus 13 Favelas erfolgreich vertrieben worden seien, kommentierte der Gouverneur die Vorfälle.
Letzten Montag hatte die Polizei mit Razzien und Festnahmen reagiert. Seither eskaliert die Auseinandersetzung. Die bisherige Bilanz: mindestens 38 Tote und über 200 Festnahmen. Über 100 Busse und Autos brannten aus.
Zumindest vorübergehend versuchten die Flüchtenden in den benachbarten Favelasiedlungen von Alemão Unterschlupf zu finden. Bis Freitagabend hatten Polizei und Militär mit der Unterstützung von 800 Fallschirmjägern und etlichen Panzern die gut 15 Favelasiedlungen des Complexo do Alemão abgeriegelt. Am Samstag wurde den Bandenmitgliedern ein Ultimatum gestellt. Knapp über 30 sollen sich gestellt haben.
2014 findet in Brasilien die Fußballweltmeisterschaft statt, zwei Jahre später werden in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele ausgetragen. Als Nagelprobe gelten jedoch 2013 die Fußballspiele um den Confederations Cup. Bis dahin wollen sich Brasilien und vor allem Rio herausputzen. Im Mittelpunkt der "Reinigungsaktionen" steht die Sicherheitsfrage. Nach Auffassung der Regierung des Bundesstaates Rio geht die Unsicherheit in erster Linie von der Macht der Drogenbanden in den Elendsvierteln aus. Zentrale Aufgabe ist es, diese Macht zu brechen.
Die Strategie der Regierung ist, durch neue Polizeiposten in den Favelas die Banden aus den Elendsquartieren zu drängen - kein leichtes Unterfangen angesichts der zwischen 700 und 900 existierenden Favelas im Großraum von Rio. Seit gut zwei Jahren läuft der Aufbau der Unidades de Polícia Pacificadoras, die die Armenviertel befrieden sollen. In den von Gouverneur Cabral genannten 13 Favelas sollen sie erfolgreich arbeiten, in vier Jahren sollen es 40 sein.
Für Marcelo Freixo, Abgeordneter im Parlament des Bundesstaates Rio, werden die Aktionen von Polizei und Militär jedoch wirkungslos verpuffen. "Die Polizei kann in Vila Cruzeiro einmarschieren und weitere hundert Menschen töten. Das wird das Problem in Rio de Janeiro nicht lösen." Die Aktion richte sich gegen Straßenkriminelle. Für die mächtigen Hintermänner des Drogen- und Waffenhandels bestehe keine Gefahr. | 234,862 |
0 | »Ihr habt mich zwar weidlich beim Barte gezaust, als Ihr mich gefangen
nahmt,« begann er, »und mein Leib ist immer noch rot und blau, so
schlugt Ihr mich wider die Türpfosten. Aber Ihr habt doch mich und die
Meinen aus der Sklaverei des greulichen Fafner errettet und ritterlich
behandelt und gehalten, so daß es mir leid um Euch wäre, Euch in ein
todbringendes Abenteuer verwickelt zu sehen.« | 234,863 |
0 | Der Mann mit dem krummen Eisen näherte sich Gisgo. Er ergriff den Kopf
des Greises, legte ihn auf sein Knie und hackte ihn mit raschen
Schnitten ab. Gisgos Haupt fiel zu Boden. Zwei große Blutströme
bohrten ein Loch in den Staub. Zarzas stürzte sich auf den
abgeschnittenen Kopf und sprang damit leichtfüßiger als ein Leopard
auf das Lager der Karthager zu. | 234,864 |
0 | Als aber die Wagen langsam fortgefahren und nicht mehr zu sehen waren, fiel
Christel ihrem Johannes um den Hals und weinte. Und er sprach: Ja, meine
Christel, das ist eine schreckliche Zeit, die die Menschen am Leben
hindert, an Arbeit und redlicher Sorge für die Seinen. Aber sie sind in
guten Händen; die Stadt ist nicht weit -- und wir haben ja noch ein Kind --
das auch in guten Händen ist! Komm hinein! | 234,865 |
1 | In der jüngeren Vergangenheit, besonders in den 1990er Jahren, wurde der demographische Wandel in Deutschland überwiegend mit dem Blick auf „ausblutende“ ländliche Regionen und schrumpfende Städte diskutiert. Zudem wurden Prozesse der Suburbanisierung, das heißt der Abwanderung der Bevölkerung aus den Kernstädten und einer verstärkten Zuwanderung in das Umland, thematisiert. Seit Beginn des neuen Jahrtausends mehren sich jedoch die Berichte über (wieder) wachsende Städte und Metropolregionen. Darin wird von einer „Reurbanisierung“ bzw. von einer „Renaissance der Städte“ gesprochen sowie von „Schwarmstädten“, in die die Bevölkerung vorzugsweise zieht.
Doch wie kommen diese neuen Entwicklungen zustande? Handelt es sich dabei eher um einen kurzfristigen oder nachhaltigen Trend? Und welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen sowohl für die Städte selbst als auch für das übrige Deutschland?
Denn es sind offensichtlich nur einige, vor allem größere Städte, die dieses Wachstum vermelden können. Dagegen gibt es weiterhin viele Städte und vor allem auch ländliche Gemeinden, die von einem andauernden, zum Teil drastischen Bevölkerungsrückgang betroffen sind.
Komponenten der Bevölkerungsentwicklung
Natürliche Bevölkerungsentwicklung
Die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung ist grundlegend von zwei zentralen Einflussgrößen abhängig. Die erste Komponente ist die sogenannte natürliche Bevölkerungsentwicklung, die sich aus dem Saldo, also aus der Differenz der Anzahl der Geburten und der Anzahl der Gestorbenen ergibt. Derzeit liegt die Zahl der Geburten mit 8,5 Neugeborenen deutlich unter der von 11,1 Todesfällen pro tausend Einwohner_innen und Jahr. Dieses Verhältnis spiegelt einen Trend wider, der seit den 1970er Jahren zu beobachten ist. Lediglich zu Beginn der 1990er Jahre, zur Zeit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, war der Saldo vorübergehend nahezu ausgeglichen. Seitdem ist die natürliche Bevölkerungsentwicklung wieder schrumpfend.
Außenwanderung
Die zweite Einflussgröße setzt sich aus den Zu- und Abwanderungen zusammen und ergibt als Differenz den Wanderungssaldo. Dabei ist noch zu unterscheiden zwischen der Außen- und der Binnenwanderung. Der Saldo der Außenwanderung, das heißt die Anzahl der Zuzüge nach Deutschland abzüglich der Wegzüge aus Deutschland in das Ausland, ist seit den 1970er Jahren – mit wenigen Ausnahmen – überwiegend positiv. Zu einem teilräumlich deutlichen Zuwachs der Bevölkerungszahl führten die hohen Flüchtlingszahlen vor allem im Jahr 2015. Wie sich diese Entwicklungen zukünftig vollziehen werden, ist jedoch nicht seriös zu prognostizieren.
Binnenwanderung
Die zweite wichtige Teilkomponente des Gesamtwanderungssaldos ist die Binnenwanderung. Hierzu zählt die amtliche Statistik die Wohnortswechsel innerhalb Deutschlands, die über eine Gemeindegrenze hinweg erfolgen. Abbildung 1 unten zeigt das Binnenwanderungsvolumen, das heißt die Summe, die sich aus Fort- und Zuzügen innerhalb Deutschlands für den Zeitraum von 1995 bis 2014 ergibt.
Entscheidende Gründe für solche Umzüge stehen meist im Zusammenhang mit persönlichen Veränderungen (z.B. Partnerschaft, Familiengründung), den Bedingungen auf den Wohnungsmärkten und den Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Wird die großräumige Binnenwanderung über Bundesländergrenzen hinweg betrachtet, zeigen sich in den vergangenen Jahrzehnten zwei wesentliche Trends.
Das Binnenwanderungsvolumen
Einerseits fand eine deutliche Migration zwischen Nord- und Süddeutschland und andererseits zwischen Ost- und Westdeutschland statt. Seit 2014 ist die Wanderungsbilanz zwischen Ost- und Westdeutschland allerdings nahezu ausgeglichen.
Und auch bei der Nord-Süd-Wanderung gibt es sowohl im Süden (Bayern, Rheinland-Pfalz) als auch im Norden (Hamburg, Schleswig-Holstein) Gewinner aus den innerdeutschen Umzügen. Innerhalb Deutschlands finden jedoch die meisten Binnenwanderungen (knapp 2/3) kleinräumig innerhalb eines Bundeslandes statt.
Prognosen
Bis etwa 2020 wird prognostiziert, dass die Zahl der Menschen in Deutschland noch zunehmen wird. In den Folgejahren bis 2060 ist jedoch, je nach Szenario, mit einem erheblichen Rückgang der Bevölkerungszahl zu rechnen (zwischen etwa 10 und 15 Millionen Einwohner_innen). Abhängig ist die Entwicklung – wie bereits erwähnt – vor allem von der Zuwanderung nach Deutschland sowie von der sinkenden Anzahl an potenziellen Müttern und der damit verbundenen niedrigen Geburtenrate.
Bevölkerungsabnahme, Alterung, Internationalisierung und Heterogenisierung der Bevölkerung werden daher langfristig die demographische Entwicklung in Deutschland prägen. Dabei vollziehen sich die Prozesse des demographischen Wandels in den Regionen Deutschlands mit unterschiedlicher Intensität und Ausrichtung, zudem treten die Entwicklungen auch zeitlich versetzt auf. Es ist insgesamt eine Parallelität von Wachstum, Stagnation und Schrumpfung zu beobachten.
Wachstumskerne und Schrumpfungsräume
Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hat im Jahr 2015 eine Typisierung von wachsenden und schrumpfenden Städten und Gemeinden vorgestellt. Wachstum und Schrumpfung von Kommunen und Regionen werden in dieser Studie als komplexe Prozesse mit mehreren Dimensionen betrachtet und nicht ausschließlich auf die Entwicklung der Bevölkerungszahl reduziert. Insbesondere werden Schrumpfung bzw. Wachstum als ein Zusammenspiel von Bevölkerungsentwicklungen und ökonomischen Entwicklungen gesehen, die zusammen zu einer sich verstärkenden Kausalkette der Bevölkerungsdynamik führen. Hieraus wurden ein Konzept zur Messung von Schrumpfung sowie Herausforderungen und Handlungserfordernisse in den einzelnen Kommunen abgeleitet.
Die Ergebnisse dieser Typisierung zeigen, dass sich die unterschiedlichen Dynamiken in Deutschland wie ein „Flickenteppich“ darstellen: Es gibt einerseits Wachstumskerne, also Städte, die besonders stark wachsen und deren Umland von dieser Entwicklung ebenfalls profitiert. Andererseits gibt es auch große Gebiete, die nahezu ausnahmslos schrumpfen oder stagnieren. Dies betrifft insbesondere die ostdeutschen Bundesländer, die im gesamtdeutschen Vergleich nur wenige wachsende Städte und Gemeinden aufweisen können. Über die gesamte Bundesrepublik verteilt lässt sich der Trend erkennen, dass die als peripher eingeordneten Gemeinden eher schrumpfen als wachsen.
Viele Städte und Gemeinden vor allem im ländlichen Raum haben mit langanhaltender Schrumpfung zu kämpfen. Dabei geraten sie unter anderem aufgrund der an der Bevölkerungszahl orientierten Steuer- und Ausgleichsysteme und der zum Teil trotz rückläufiger Bevölkerungszahl konstanten oder sogar ansteigenden Kosten für die Aufrechterhaltung von Versorgungssystemen unter finanziellen Druck.
Probleme entstehen unter anderem bei der Infrastrukturauslastung bei abnehmender Bevölkerung. Diese Belastungen sind umso größer, je schwieriger und kostenintensiver es ist, ein effizientes und leistungsfähiges Angebot aufgrund der abnehmenden Bevölkerungsdichte bereitzustellen. Gleichzeitig sinken die öffentlichen Einnahmen etwa durch Steuern und den kommunalen Finanzausgleich. Dadurch müssen verschiedene kommunale Angebote reduziert oder ganz aufgegeben werden. Dies betrifft vor allem Angebote im Bereich Freizeit, Kultur und soziale Infrastruktur. Solche Entwicklungen können wiederum in eine Abwärtsspirale führen, durch die diese Städte und Gemeinden immer unattraktiver werden.
Eine Folge dessen ist die Wanderungsbewegung vieler junger Erwachsener, die auf der Suche nach einer Ausbildung oder einem Studium in Großstädte ziehen, weil sie sich dort bessere Chancen für den weiteren Bildungs- und Arbeitsweg erhoffen. So lässt sich auch erklären, dass sie zurzeit die die Reurbanisierungstendenzen maßgeblich prägende Bevölkerungsgruppe sind. Durch ihre große Anzahl verstärkt sich in den sowieso wachsenden Städten jedoch der Druck auf den Wohnungsmarkt stetig.
„Echte“ und „unechte“ Schwarmstädte
Der Trend, dass junge Menschen in die Großstädte ziehen und diese Städte dann wachsen, ist nahezu flächendeckend erkennbar. Verschiedene Autoren sehen hier Ähnlichkeiten mit dem Verhalten eines Schwarms. Aufgrund dieser Ballung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe werden die betroffenen Städte als „Schwarmstädte“ bezeichnet. Schwarmstädte sind aber nicht alle gleich, sondern unterscheiden sich, insbesondere bei der Betrachtung der langfristigen Entwicklung. Sie werden in „echte“ und „unechte“ Schwarmstädte unterschieden. Echte Schwarmstädte (z.B. Hamburg, München) üben eine besonders hohe Attraktivität auf Menschen bis etwa Mitte 30 aus, es ziehen also auch viele Arbeitnehmer_innen dorthin.
Gleichzeitig verstärkt sich durch den hohen Druck, der auf dem Wohnungsmarkt liegt, aber auch die Suburbanisierung. Hingegen bleiben Bewohner_innen der Umlandkreise aufgrund der Wohnungsmarktsituation dort wohnen. Unechte Schwarmstädte (z.B. Kaiserslautern, Osnabrück, Rostock) wachsen primär durch Zuwanderung aus den Nachbarkreisen. Auch andere Bevölkerungsgruppen als die jungen Erwachsenen ziehen aufgrund des entspannteren Wohnungsmarktes in diese Städte. Insofern bewirken gerade diese Städte die Schrumpfung der Umlandgemeinden, verlieren mittel- bis langfristig jedoch selbst überregional Einwohner_innen an die echten Schwarmstädte.
Ausschlaggebend für die Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten sind die gestiegene Lebenserwartung und das Sinken der Geburtenzahlen. Während ältere Menschen tendenziell eher immobiler werden, sorgt auch die abnehmende Zahl der jungen Erwachsenen für einen Mengenrückgang der Wandernden. Folglich werden die Wanderungsbewegungen – egal wohin – wahrscheinlich weniger werden.
Besonders die unechten Schwarmstädte werden in einen härteren Wettbewerb um diejenigen Personen treten, die aus Gründen der Ausbildung umziehen, was zu einer stärkeren Ausdifferenzierung von gewinnenden und verlierenden Städten führt. Ausschlaggebend werden unter anderem die Perspektiven für junge Erwachsene nach ihrer Ausbildung bzw. ihrem Studium sein. In die echten Schwarmstädte wandern hingegen auch viele internationale Zuwander_innen, weil zum Beispiel der Arbeitsmarkt besonders attraktiv ist und auch Geringqualifizierten die Möglichkeit gibt zu arbeiten. Aber auch bereits bestehende Netzwerke der Migrant_innen sind ein wichtiger Faktor für die Zuziehenden.
Doch welche Auswirkungen hat ein starkes und langanhaltendes Bevölkerungswachstum, wie es etwa für Hamburg seit Mitte der 1980er Jahre verdeutlicht werden kann (vgl. hierzu Abbildung Bevölkerungsentwicklung Hamburgs von 1965 bis 2015 links), auf die betreffenden Städte?
Das Wachstum von Städten – Fluch oder Segen?
Die Entwicklung der Einwohnerzahl Hamburgs, 1965–2015
Die prägende Vorstellung in der heutigen Zeit ist noch immer, dass Wachstum grundsätzlich (positiv) mit Entwicklung gleichgesetzt wird. Diese Annahme basiert auf der meinungsführenden Ideologie verschiedener neoklassischer Ökonomen, die in den 1950er Jahren postulierten, dass „sämtliche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme […] mit Wirtschaftswachstum zu lösen sind“.
Demnach verlieren Kommunen, Regionen, und Staaten ohne wirtschaftliches Wachstum ihre Fähigkeiten, Probleme zu lösen. Selbst Stagnation wird als Rückschritt oder Problem betrachtet. Steurer zeigt in seinem Rückblick auf die Debatte seit den 1960er Jahren auf, dass sich trotz einer schon früh einsetzenden Kritik an dem „Quantitativen Wachstumsparadigma“ nichts änderte. Als soziale Belastung dieses Wachstums wird beispielsweise der „Abfall des Lebensstandards“ gesehen. Dieser Abfall zeigt sich in der Abnahme der Lebensdauer von Produkten, der geringen Wertschätzung ihnen gegenüber oder auch darin, dass Produkte entwickelt werden, die vorher als nicht nötig angesehen wurden.
Als eine bedeutende negative ökologische Auswirkung des Paradigmas wird zum Beispiel der stetig steigende Ölverbrauch in Industrieländern gesehen. Dahinter „[…] steht die Annahme, dass technischer Fortschritt und dadurch erzielte Effizienzsteigerungen nie ausreichen würden, um Wirtschaftswachstum von Ressourcenverbrauch absolut abzukoppeln […].“ Das Aufzeigen und Benennen dieser gesellschaftlichen Belastungen änderte jedoch nichts an der Dominanz des „Quantitativen Wachstumsparadigmas“.
In diesem Zusammenhang wird auch der Einfluss der Bevölkerungsentwicklung auf das Wirtschaftswachstum überwiegend als eindeutig positiv beschrieben. Vereinfacht gesagt, „[…] bestimmt die (Zunahme der) Bevölkerung einerseits das (zukünftige) Arbeitskräftepotenzial und andererseits das (zukünftige) Nachfragepotenzial für den regionalen Markt. Kleinräumig wirkt dabei die Wirtschaftsentwicklung als Push- oder Pullfaktor für Bevölkerungsbewegungen. Regionen mit Wirtschaftswachstum ziehen neue Bevölkerung an, Regionen mit wirtschaftlicher Schrumpfung verleiten zur Abwanderung von Bevölkerung, die sich anderswo bessere Arbeitschancen erhofft.“
Doch bestätigen empirische Untersuchungen nur selten diese theoretischen Annahmen:
QuellentextDemographie und Ökonomie
Empirische Ergebnisse legen vielmehr nahe, dass Wirkungszusammenhänge zwischen Demographie und Ökonomie hinsichtlich des allgemeinen ökonomischen Entwicklungsstandes, hinsichtlich des Verdichtungs- bzw. Verstädterungsgrades und hinsichtlich der Produktivitätsentwicklungen differenziert werden müssen. Negative wirtschaftliche Folgen aufgrund von Bevölkerungsrückgang seien nicht zwangsläufig.
Quelle: Bartl/Rademacher 2011, BBSR-Analysen 12/15
Die aktuellen Entwicklungen in Deutschland, die mit dem „Schwarmverhalten“ bildlich beschrieben werden, führen in den betroffenen wachsenden Städten jedoch zu dem großen Problem, dass das Bevölkerungswachstum zu einer starken Verknappung der verfügbaren Wohnungen auf dem Wohnungsmarkt führt und damit zu einem starken Preisanstieg. Dadurch haben insbesondere einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen Schwierigkeiten bezahlbare Wohnungen zu finden.
Bezahlbarer Wohnraum und Naturschutz – Politik im Konflikt
Empirische Ergebnisse legen vielmehr nahe, dass Wirkungszusammenhänge zwischen Demographie und Ökonomie hinsichtlich des allgemeinen ökonomischen Entwicklungsstandes, hinsichtlich des Verdichtungs- bzw. Verstädterungsgrades und hinsichtlich der Produktivitätsentwicklungen differenziert werden müssen. Negative wirtschaftliche Folgen aufgrund von Bevölkerungsrückgang seien nicht zwangsläufig.
Quelle: Bartl/Rademacher 2011, BBSR-Analysen 12/15
Die Bedeutung des Themas „bezahlbarer Wohnraum“ schien durch den Wohnungsbauboom der 1990er Jahre und die nachlassende Nachfragedynamik an Bedeutung verloren zu haben, denn seit 2005 wurden von den verschiedenen politischen Akteur_innen einige Maßnahmen beschlossen, die den Neubau von Wohnraum massiv verteuerten. Beispielsweise wurde die Grunderwerbssteuer von in 2006 bundesweit einheitlichen 3,5 Prozent in einigen Bundesländern auf bis zu 6,5 Prozent erhöht. Es wurden schärfere Auflagen (z.B. für den Brand-/Lärmschutz oder energetische Auflagen) beschlossen und auch die Kosten für neue Wohngebiete (z.B. Errichtung sozialer Infrastruktur) wurden auf die Bauherren übertragen.
Zudem führte die Verknappung des Baulandes dazu, dass vorzugsweise teure Objekte realisiert wurden. Von 1995 bis 2004 unterlag die Baukostenentwicklung fast keiner Veränderung, da die hohe Wettbewerbsintensität zu stabilen Baukosten führte. Doch während all die Maßnahmen beschlossen wurden, kehrte sich die Marktsituation komplett um.
Durch den Druck auf dem Wohnungsmarkt und Preissteigerungen in attraktiven Lagen ergab sich die Problematik, dass einkommensschwache Haushalte verdrängt wurden, werden oder gar nicht erst in diesen Lagen Wohnungen finden. Diese Thematik wird unter anderem im Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen bearbeitet. In diesem Gremium sitzen Vertreter_innen des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Verbände. Sie tauschen sich aus und entwickeln Handlungsempfehlungen. Hierbei werden zwei Bereiche als besonders wichtig erachtet: So müssen einerseits die Baukosten betrachtet und andererseits Strategien zur Senkung der Miete gefunden werden. Da die Höhe der Mieten jedoch nicht allein aus den Kosten resultiert, sondern sich vor allem auch durch die Knappheit auf dem Wohnungsmarkt berechnet, müssen parallel andere Maßnahmen ergriffen werden, damit die potenziellen Kostensenkungen auch an die Verbraucher_innen weitergereicht werden.
Insbesondere die Kommunen sehen sich zudem wegen der Flüchtlingsunterbringung aktuell und perspektivisch großen Herausforderungen gegenüber. Erwerbslose Personengruppen, beispielsweise Geflüchtete, die noch keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben, können in den Großstädten kaum die üblichen Mieten des freien Wohnungsmarktes zahlen. Somit steht dem sowieso schon schwindenden Angebot an Wohnraum mit Berechtigungsschein für vordringlich Wohnungssuchende eine noch größere Nachfrage gegenüber.
Die bisher beschlossenen Maßnahmen (z.B. Mietpreisbremse, Kappungsverordnungen) wirken der Entwicklung des Preisanstiegs jedoch nur eingeschränkt entgegen. Da die Miete sich aus der regionalen Knappheit errechnet, muss nach Ansicht von Baba genau hier angesetzt und ein stärkerer Anbieterwettbewerb herbeigeführt werden. Hierfür ist die Baulandpolitik eines der Kerninstrumente. Das heißt: Die Knappheit kann durch das Zurverfügungstellen von mehr Fläche(n) reduziert werden und so Kostensenkungen mit sich bringen. Doch auch Quoten für geförderten Wohnungsbau führen allein nicht zum benötigten Mengeneffekt. Daher ist es wichtig, auch Bauland zu aktivieren, das bisher brach liegt und bei dem die Eigentümer kein Interesse an einer Entwicklung haben. Eine Möglichkeit dafür wäre die Umwandlung der Grundsteuer in eine Bodenwertsteuer. Sie würde dazu führen, dass hochwertige Grundstücke (bspw. in innenstädtischer Lage) eine hohe Steuerlast entwickeln und somit entweder verkauft oder entwickelt werden.
Als ein weiterer Ansatz wird die intensivere Einbeziehung der städtischen Wohnungsunternehmen genannt, beispielsweise durch die Bestandsvergrößerung oder die Vergabe von Bauland an diese.
Allerdings entstehen hierdurch auch Konflikte mit Naturschutzzielen. So verfügt beispielsweise Hamburg als Stadtstaat nur über begrenzte Flächenressourcen, der Siedlungsdruck auf die Freiflächen steigt und stellt somit auch den Hamburger Naturschutz vor große Herausforderungen. In wachsenden Städten ist besonders die Neuversiegelung von Flächen ein großes Problem. Mit dem steigenden Bedarf an Wohnraum und der damit nötigen Bautätigkeit geht einher, dass immer mehr Flächen in der Stadt dem Wohnungsbau gewidmet werden. Bewegungen, die für den Erhalt von beispielsweise Grünflächen eintreten, haben das Ziel, den qualitativen Wert von Quartieren zu erhalten. Doch dies kann wiederum zum unerwünschten Nebeneffekt der Wert- und damit Kostensteigerung der bebaubaren Flächen führen. So wird jede staatliche Tätigkeit zum Bau neuer Wohnungen teurer und es steht die Frage im Raum, wie kostengünstig qualitativ hochwertiger Stadtraum realisiert und erhalten werden kann.
Auch das sogenannte 30-ha-Ziel, also ab 2020 maximal 30 ha Freiflächen pro Tag zu bebauen, ist insofern als eine besondere Herausforderung zu sehen. Gerade bei der innerstädtischen Nachverdichtung ist also beispielsweise über höhere Bauten, die somit die Fläche entlasten, nachzudenken oder über das „Recycling“ von Bürobauten.
Fazit
In Deutschland ist bereits seit einigen Jahren ein gleichzeitiges Nebeneinander von schrumpfenden, stagnierenden und wachsenden Städten und Gemeinden zu beobachten. Diese Parallelität unterschiedlicher bzw. gegensätzlicher Dynamiken wird auch in absehbarer Zeit das Muster der Bevölkerungsentwicklung auf kommunaler Ebene prägen. Bevölkerungswachstum findet fast nur noch auf Grund der Zuwanderung statt. Dabei spielt auch die Umverteilung der Bevölkerung innerhalb Deutschlands eine wesentliche Rolle. Geburtenüberschüsse existieren kaum noch, Sterbeüberschüsse sind dagegen häufig so groß, dass sie durch Wanderungsgewinne kaum noch oder gar nicht mehr ausgeglichen werden können.
Insgesamt wird Deutschland nach den offiziellen Bevölkerungsvorausberechnungen in absehbarer Zukunft deutlich Bevölkerung verlieren. Ein Wachstum von Städten ist daher häufig mit Bevölkerungsverlusten in anderen Städten und Gemeinden verbunden.
Sowohl eine Bevölkerungsabnahme als auch ein Bevölkerungswachstum bergen potenziell Chancen und Herausforderungen für die Stadtentwicklung. Wichtig ist dabei für eine ökologisch und sozial nachhaltige Zukunftsgestaltung eine weitsichtige und vorausschauende Stadtentwicklungspolitik und -planung, die sowohl globale als auch nationale, regionale und lokale Entwicklungen und Interessen in den Blick nimmt.
Quellen / Literatur
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Bundesregierung (2002): Nachhaltigkeitsstrategie „Perspektiven für Deutschland“. Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung. Online unter Externer Link: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/Nachhaltigkeit-wiederhergestellt/perspektiven-fuer-deutschland-langfassung.pdf (17.07.2016).
Häußermann, Hartmut; Läpple, Dieter; Siebel, Walter (2008): Stadtpolitik. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Plate, Elke; Polinna, Cordelia; Tonndorf; Thorsten (2014): Aufwertung. Verdrängung. Soziale Mischung sichern. In: Informationen zur Raumentwicklung 2014 (4), S. 291–304.
Pohlan, Jörg; Wixforth, Jürgen (2005): Schrumpfung, Stagnation und Wachstum: Auswirkungen auf städtische Finanzlagen in Deutschland. In: Gestring, Norbert et al. (Hrsg.): Jahrbuch StadtRegion 2004/05. Schwerpunkt: Schrumpfende Städte. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 19–48.
Quantum (2015): Triumph der Städte – Schwarmverhalten und Migration als Motoren der Reurbanisierung. Online unter Externer Link: http://www.quantum.ag/fileadmin/user_upload/QU-FOCUS_NO16_MAIL.pdf (18.09.2016).
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vgl. Herfert, Osterhage 2012
vgl. Häußermann, Läpple, Siebel 2008
vgl. Quantum 2015
vgl. Statistisches Bundesamt 2016a: 25
vgl. Statistisches Bundesamt 2016b: 10
vgl. ebd.: 58
vgl. ebd.: 10
vgl. Statistisches Bundesamt 2015: 15f
vgl. BBSR 2015; siehe dazu auch das interaktive Kartenangebot des BBSR unter Externer Link: https://gis.uba.de/mapapps/resources/apps/bbsr/index.html?lang=en
vgl. ebd.: 5f
vgl. ebd.: 11
vgl. ebd.: 4
vgl. Pohlan, Wixforth 2005
vgl. Quantum 2015: 16
vgl. Quantum 2015: 13; Baba 2015: 5f
vgl. Baba 2015: 5
vgl. Bucher, Schlömer 2012: 70f
vgl. Siedentop 2008: 204
vgl. BBSR 2015: 3f
Steurer 2010: 424
Steurer 2010
Steurer 2010: 426
ebd.
BBSR 2015: 4
vgl. Baba 2015: 12f
vgl. ebd.: 10ff, 14f
Nach den §§ 556d bis 556g BGB darf bei der Neuvermietung einer Wohnung die Miete die ortsübliche Vergleichsmiete um maximal 10 Prozent übersteigen.
Landesregierungen können Gemeinden benennen, in denen nach § 558 (3) BGB die Mietkosten in bestehenden Verhältnissen innerhalb von drei Jahren 15% der ortsüblichen Vergleichsmiete nicht übersteigen dürfen.
Baba 2015
vgl. ebd.: 11f, 14f
vgl. Plate, Polinna, Tonndorf 2014: 298f
vgl. Bundesregierung 2002: 287ff
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1 | Interner Link: Erinnerungskulturen konstruieren spezifische Erzählungen von der Vergangenheit und formen zugleich sich verändernde Zugänge zur Vergangenheit. Immer wieder wird dabei auch "die Frage nach der Auswahl und Deutung identitätsbildender historischer Ereignisse und nach der Dynamik von Erinnern und Vergessen im Wandel der Geschichte" aufgeworfen. Das Ergebnis dieser Prozesse schlägt sich im kulturellen Gedächtnis nieder. Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann beschreibt es als "kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt". Dieses gemeinschaftsbildende Wissen besteht nicht nur aus (selektivem) Faktenwissen, sondern auch aus einer Art "Interner Link: Gefühlswissen". Die affektive Dimension der Erinnerung und des Gedenkens ist überaus bedeutsam für die Erfahrung von Gemeinschaft und muss als zentraler Bestandteil eines Staatsbürgersentimentalismus und seiner kulturspezifischen Codes verstanden werden.
Gedenktage im nationalen Kalender der USA
Nationen vergegenwärtigen ihre Geschichte über eine räumliche (Interner Link: Orte des Erinnerns) und eine zeitliche Schiene (Interner Link: Jahrestage). Während erstere von Namensgebungen im Raum (Städte, Straßen, Plätze) und von speziellen Gedenkstätten getragen wird, strukturiert letztere den zivilreligiösen Kalender der Nation, der uns mit festlichen Ritualen des Erinnerns durch das Jahr begleitet. In den USA beinhaltet der zivilreligiöse Kalender des nationalen Erinnerns traditionell den Unabhängigkeitstag (Fourth of July) und den Familienfeiertag Thanksgiving, aber auch Gedenktage, die den US-amerikanischen Kriegen und ihren Opfern (Memorial Day) sowie dem nationalen Führungspersonal gewidmet sind (der Presidents‘ Day wird zu Ehren von George Washington und Abraham Lincoln begangen). Diese Feiertage werden meist staatstragend mit rituellem Programm zelebriert. Die Auswahlkriterien für eine identitätsstiftende Erinnerungspolitik werden im Zuge einer breiten zivilgesellschaftlichen Diskussion zunehmend Gegenstand von Debatten – die Kulturhistorikerin Erika Doss spricht gar von einer Memorial Mania. Die Verbindlichkeit des gemeinsamen Erinnerns und der Konsens darüber, was gedenkenswert und erinnerungswürdig ist, stehen dabei mitunter grundsätzlich zur Disposition. Der Unabhängigkeitstag (Independence Day) hat sich als ein beständiger Anlass der Erinnerung an die Interner Link: vielfältig mythisierte Staatsgründung und dabei als ideologisch durchaus elastisch erwiesen – auch, weil er ein emanzipatorisches Streben beschreibt, das immer wieder von unterschiedlichen Individuen und Gruppen beansprucht wurde. So dient der symbolträchtige Feiertag nicht nur der Selbstvergewisserung der US-Bevölkerung als Bürgerinnen und Bürger einer souveränen Nation, sondern in der Populärkultur auch als Referenz für Unabhängigkeits- und Befreiungsnarrative anderer Art: gegen die existenzielle Bedrohung der Welt durch Aliens im Film "Independence Day" (1996), als Erinnerung an einen grausamen Krieg in Vietnam in der Autobiografie des Veteranen Ron Kovic mit dem Titel "Born on the Fourth of July" (1976, verfilmt von Oliver Stone 1989), als weibliche Ermächtigung gegen häusliche Gewalt im Country-Song "Independence Day" (1994) von Martina McBride, als Abschiedslied an den Vater im Kontext einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung im gleichnamigen Song von Bruce Springsteen (1978), aber auch als Überwindung der Midlifecrisis in Richard Fords preisgekröntem Roman "Independence Day" (1995).
Afroamerikanische Perspektiven im Erinnerungsdiskurs
In all diesen Filmen und Texten von überwiegend weißen US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern ist der Unabhängigkeitstag nicht nur eine Chiffre für die nationale Geschichte, sondern auch für das damit verknüpfte individuelle Schicksal. Dabei war der Nationalfeiertag bereits früh auch Anlass zu heftiger Kritik. Der Abolitionist und Schriftsteller Frederick Douglass (1817-1895) fragte in einer seiner bedeutendsten Reden, die er am 5. Juli 1852 hielt: "Was bedeutet der 4. Juli für Sklaven?" ("What to the Slave is the Fourth of July?") – und er gab sich und seinem Publikum sogleich die Antwort darauf: In einem Land, in dem Interner Link: Sklaverei rechtmäßig existiert, ist der Unabhängigkeitstag ein Tag der Schande für die gesamte Nation.
Obwohl Frederick Douglass und andere bereits im 19. Jahrhundert die grundlegenden Defizite und Paradoxien des US-amerikanischen Freiheits-, Demokratie- und Glücksversprechens (pursuit of happiness heißt es in der Interner Link: Unabhängigkeitserklärung) anprangerten, dauerte es mehr als 100 Jahre, bis ein afroamerikanischer Aktivist zum ersten (und bisher einzigen) Mal Namensgeber für einen nationalen Feiertag wurde, der inzwischen zum festen Repertoire des Erinnerungsdiskurses gehört: Interner Link: Martin Luther King, Jr. (1929-1968). 1986 wurde der Martin Luther King, Jr. Day zum Gedenken an den ermordeten Bürgerrechtler als ein Feier- und Gedenktag an jedem dritten Montag im Januar (nahe zum Geburtstag des Erinnerten am 17. Januar) eingerichtet. Nur widerwillig etablierte der damalige Präsident Interner Link: Ronald Reagan diesen Tag im US-amerikanischen Festtagskalender. Damit wurde die Interner Link: Bürgerrechtsbewegung in den nationalen Kanon der Erinnerungsdiskurse überführt.
Ergänzungen zur Nationalgeschichte oder Revision?
Noch 2002 beschrieb der Historiker Matthew Dennis diesen Feiertag als "work in progress", weil er noch nicht von festen Traditionen geprägt sei. Bis heute hat sich dies jedoch geändert und der MLK Day verfügt mittlerweile über eine etablierte symbolische Bedeutung. Zusätzlich wurde 2011 das von Matthew Purnell gestaltete Martin-Luther-King-Nationaldenkmal als Teil der Erinnerungslandschaft in einer Parkanlage am Rande der National Mall in Washington, D.C. eingeweiht. Der chinesische Bildhauer Lei Yixin hat dafür die Skulptur "Stein der Hoffnung" gestaltet – eine Anspielung auf die "Interner Link: I have a Dream"-Rede des Bürgerrechtlers ("Out of the Mountain of Despair, a Stone of Hope"). Das Hollywood-Geschichtsdrama "Externer Link: Selma" (2014) und der Dokumentarfilm "MLK/FBI" (2020) sind zwei von zahlreichen Produktionen, die im Zuge der Erinnerungsarbeit die Geschichte des Theologen, Aktivisten und Friedensnobelpreisträgers – und insbesondere auch sein schwieriges Verhältnis zu den staatlichen Institutionen der USA – neu erzählen. Eine zunehmend vielstimmige Erinnerungskultur ordnet die kanonischen weißen und männlichen Helden der nationalen Geschichte in ein pluralistischeres Geschichtsverständnis ein. Einerseits führt dies zur Ergänzung bestehender Ensembles, wie es beispielsweise am zentralen Gedenkort der USA, an der National Mall in Washington, D.C. zu beobachten ist, wo über die Jahrzehnte immer wieder neue Erinnerungsorte und Museen hinzugefügt wurden: 1982 etwa das Vietnam Veterans Memorial, das von Maya Lin, einer asiatisch-amerikanischen Künstlerin, damals noch Studentin an der Yale University, entworfen wurde; 2004 das National Museum of the American Indian; 2016 das National Museum of African American History and Culture. Die Ergänzungen hatten immer wieder auch eine Reakzentuierung des gesamten Areals zur Folge. Andererseits führt eine Neuauslegung historischer Ereignisse und Entwicklungen im Zeichen pluralistischer Erinnerungskulturen aber auch dazu, dass manche der bestehenden Feiertage und etablierten Erinnerungsorte höchst problematisch erscheinen. Hier geht es um mehr als ein additives Korrekturverfahren, das Vergessenes oder Verdrängtes hinzufügt, sondern um eine grundlegende Revision des Bedeutungskanons nationaler Geschichte, wie er über bestehende Feiertage und Denkmäler vermittelt wird.
Erinnerungspolitik im Kontext der Kolonisierung
An keiner Figur wird dies so deutlich wie an Christoph Kolumbus. Im Jahr 2020 ging es zahlreichen Statuen des vormals gefeierten "Entdeckers" buchstäblich an den Kragen. Kolumbus war seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA als Nationalheld verehrt worden – mit Statuen und Plätzen überall im Land und seit 1909 auch mit einem nationalen Feiertag: Der Columbus Day wird seitdem am zweiten Montag im Oktober zelebriert – in zeitlicher Nähe zum verbürgten Datum seiner Landung in der "Neuen Welt" am 12. Oktober 1492. In den letzten Dekaden wurde die Ehrung dieser historischen Figur zunehmend kontrovers. Heutzutage sieht ein Teil der Gesellschaft Kolumbus weniger als heldenhaften Entdecker denn als rücksichtslosen Kolonisator – und einige seiner Statuen wurden 2020 spektakulär entfernt, so zum Beispiel vor dem Rathaus in Columbus, Ohio und am Coit Tower in San Francisco. Die Kolumbus-Statue im Hafen von Boston wurde von Protestierenden geköpft und viele weitere wurden bemalt, besprüht oder beschädigt.
Die Stadt Berkeley beispielsweise begeht den Columbus Day bereits seit 1992 als Indigenous Peoples' Day. Sie gedenkt somit nicht des Seefahrers aus Italien, der unter spanischer Flagge den Seeweg nach Indien erkundete und dabei in der Karibik landete, sondern der indigenen Völker der amerikanischen Kontinente, die in der Interner Link: Folge der europäischen Kolonisierung Unterdrückung, Vertreibung und Tod erleiden mussten und deren Nachfahren mit den Konsequenzen heute noch leben. Vorschläge, den Columbus Day generell umzubenennen, sind bisher nicht erfolgreich gewesen. Allen voran Interner Link: Donald Trump hatte während seiner Präsidentschaft das "Heldentum" des Kolumbus wieder uneingeschränkt gelobt und propagiert, sehr zum Gefallen der italienisch-stämmigen Bevölkerung. Der offizielle Native American Day wird, am oder in zeitlicher Nähe zum Columbus Day, nur in einzelnen (und zunehmend mehr) Bundesstaaten begangen, darunter Kalifornien, South Dakota (hier bereits seit 1989), Tennessee und Wisconsin.
Kontroversen um Konföderierten-Denkmäler
In einer Tradition mit Kolumbus und seinem kolonialistischen und rassistischen Erbe sehen zivilgesellschaftliche Protestbewegungen, darunter Black Lives Matter, auch die gesamte politische und militärische Führungselite der Konföderierten Staaten von Amerika, den sogenannten Südstaaten. Die Konföderierten hatten mit ihrer politischen Interner Link: Abspaltung von der Union (den Vereinigten Staaten) und im darauffolgenden Bürgerkrieg (1861-1865) für den Fortbestand der Sklaverei gekämpft. Heute zählen die Symbole der Konföderierten (unter anderem die Confederate flag) zu den Insignien der politischen Rechten und Ultrarechten in den USA. Daher wird vielfach der Abbau der Statuen von Jefferson Davis, dem ersten und einzigen Präsidenten der Konföderation, und Robert E. Lee, dem Oberbefehlshaber des Konföderierten Militärs, gefordert. Um eine Statue des Letzteren gab es bei Interner Link: Demonstrationen in Charlottesville, Virginia im August 2017 gewaltsame Auseinandersetzungen. Eine Koalition rechtsextremer Gruppen hatte zu der Veranstaltung unter dem Slogan "Unite the Right!" aufgerufen – bei der anschließenden Eskalation starb eine Gegendemonstrantin. Kritikerinnen und Kritiker des Südstaatenkults sehen in der Bewahrung der Monumente eine Verharmlosung von Rassismus und Menschenverachtung. Mit Blick auf die Statuen und Denkmäler für die Konföderierten und ihre Kriegshelden formuliert die Schriftstellerin Siri Hustvedt in ihrem Essay "Tear them down" ("Reißt sie nieder") eindeutige Forderungen und zieht explizit einen Vergleich zu Deutschland. Was, so Hustvedt, würde ein US-amerikanischer Tourist denken, wenn er beim Bummeln durch deutsche Städte an jeder Ecke Statuen von Hitler, Goebbels und Göring, Hakenkreuzen an Häusern und Nazi-Fahnen an offiziellen Gebäuden und Sportstadien begegnen würde? In Deutschland, so Hustvedt weiter, sei mit gutem Grund eine solche Zurschaustellung illegal. Der diesem Denkexperiment unterliegende Vergleich ist freilich gewagt und soll provozieren.
Die US-amerikanische Erinnerungskultur steht bald wieder vor der Herausforderung, "affektive Dissonanzen" und andere Widersprüche zu bearbeiten, wenn es um die Feiern zum 250. Jahrestag der Unabhängigkeit geht: Die Planungen für den 4. Juli 2026 haben bereits begonnen. Auch hier geht es wieder um Fragen der Zugehörigkeit und Inklusion, die bereits die Herausgeber des Bandes "Whose American Revolution Was It?" beschäftigt hat: Wessen Unabhängigkeit soll hier gefeiert werden? Wer sind die Idole dieses Ereignisses? Wie kann ein Programm aussehen, das rückblickend dem Ereignis der Staatsgründung multiperspektivisch allen Bevölkerungsgruppen, Staatsbürgerinnen und -bürgern gleichermaßen gerecht wird? Ob dies gelingen kann und wird, bleibt abzuwarten.
Assmann, Aleida. Die Wiedererfindung der Nation: Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen. München: C.H. Beck, 2020, S. 14-15.
Assmann, Jan. "Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität." In: Kultur und Gedächtnis, hrsg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 9-19.
Frevert, Ute et al. Gefühlswissen: Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 2011.
Paul, Heike. Amerikanischer Staatsbürgersentimentalismus: Zur Lage der politischen Kultur der USA. Göttingen: Wallstein Verlag, 2021.
Bushman, Claudia L. America Discovers Columbus: How an Italian Explorer Became an American Hero. Hanover, NH: UP of New England, 1992.
Hustvedt, Siri. "Tear Them Down: Old Statues, Bad Science, and Ideas that just won’t Die." In: Common Grounds? American Democracy after Trump, hrsg. von Cedric Essi, Heike Paul und Boris Vormann. Sonderausgabe Amerikastudien/American Studies 66, Bd. 1, 2021, S. 37-45.
Ladino, Jennifer K. Memorials Matter: Emotion, Environment and Public Memory at American Historical Sites. Reno: U of Nevada P, 2019.
Young, Alfred F. und Gregory H. Nobles. Whose American Revolution Was It?: Historians Interpret the Founding. New York: New York UP, 2011.
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1 | Durchsuchungen in Region Löcknitz: Waffenähnliche Gegenstände entdeckt
Für Ermittlungen gegen das „Nationale Bündnis Löcknitz“ wurden rund 40 Immobilien durchsucht. Ermittler*innen vermuten Verstöße gegen das Waffenrecht.
Am 1. Oktober fanden bereits Durchsuchungen bei zwei Beschuldigten statt Foto: Bernd Wüstneck/picture alliance/dpa
LÖCKNITZ/ROSTOCK dpa/afp | Bei Durchsuchungen gegen eine rechte Gruppierung in der Region Löcknitz und der benachbarten Uckermark am Dienstag sind einige „waffenähnliche Gegenstände“ beschlagnahmt worden. „Wir prüfen nun, ob diese unter das Waffenrecht fallen“, sagte ein Sprecher der Rostocker Staatsanwaltschaft am Mittwoch. Details zu den Funden wollte er nicht mitteilen.
Rund 300 Beamt*innen hatten am Vortag wegen möglicher Verstöße gegen das Waffengesetz etwa 40 Immobilien durchsucht, darunter Häuser, Wohnungen und Garagen. Das Verfahren richte sich gegen Mitglieder des „Nationalen Bündnis Löcknitz“, die im Verfassungsschutzbericht des Landes erwähnt wird und die „verfassungsfremde Ansichten“ vertrete, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Rostock am Dienstag. Zu den Verdächtigen gehörten weder Polizisten noch Bundeswehrangehörige.
Die Ermittlungen resultieren nach Angaben der Staatsanwaltschaft aus Durchsuchungen bei zwei Beschuldigten am 1. Oktober. Gegen sie besteht der Verdacht der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Dabei handelt es um einen 44-Jährigen und einen 52 Jahre alten Verdächtigen. Der Ältere soll früher länger für die rechtsextreme NPD in Kommunalparlamenten agiert und sich nun der Reichsbürgerszene zugewandt haben. Die Auswertung der Durchsuchungen von Anfang Oktober dauere noch an.
160 Polizist*innen durchsuchten damals mehrere Grundstücke im Landkreis Vorpommern-Greifswald nach Waffen, Munition, Dokumenten und elektronischen Medien. Anhaltspunkte dafür, dass eine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung bestand, lagen den Angaben zufolge weder Anfang Oktober noch aktuell vor. | 234,868 |
0 | Screenshot FOCUS Online
Mittwoch, 30.07.2014, 10:18
Gemütliche Diashow
Der moderne Reisende hat es leicht. Er kann seine Lieben via Facebook und Twitter über seine Schritte und jede Mahlzeit auf dem Laufenden halten – und tut es meist auch gerne. Vor 30 Jahren musste der Globetrotter seinen Ausflug nach Italien und das Abenteuer in Asien noch auf Dias festhalten.
Zuhause angekommen hieß es dann Projektor aufbauen, Diareiter rein und die gelbstichigen Aufnahmen dem Freundes- und Familienkreis in großer Runde präsentieren. Heute hat der gemütliche Diaabend mit Häppchen, Projektor und Leinwand ausgedient – zugunsten von Power-Point-Präsentationen, sozialen Netzwerken und E-Mail mit Bildanhang.
Disketten
FOL
Satte 80 bis 3520 KB Speicherplatz, ein handliches Format von 8 Zoll und ein angenehmes Brummen bei Inbetriebnahme: Die Diskette hatte einiges zu bieten. IBM entwickelt die erste „Floppy“ und brachte sie 1969 auf den Markt. Das dazugehörige Gerät, das System/370 konnte die Diskette jedoch nur lesen, nicht aber beschreiben.
Im Laufe der Zeit etablierte sich die Diskette allerdings als gängigstes Speichermedium für Software, ihre Größe schrumpfte von 8 auf 3,5 Zoll. Nach dem Erscheinen der CD geriet die Diskette aufgrund ihres begrenzten Speichers von höchstens 3,4 MB immer mehr ins Hintertreffen. Heute haben USB, CD, DVD und Cloudspeicherlösungen das Medium fast vollständig abgelöst.
Schreibmaschine
Museum für Kommunikation
Reise Schreibmaschine Voss „Privat", 50er Jahre
Drucker und Tastatur in einem: Was ganz modern klingt, ist in Wahrheit retro. Die Schreibmaschine hat ihre Glanzzeit schon lange hinter sich. Bereits 1714 meldete der Engländer Henry Hill den ersten Schreibapparat als Patent an. Ihren Durchbruch feierte die Maschine trotzdem erst rund 250 Jahre später.
In den 1980er-Jahren begeisterte die Schreibmaschine dank ihres schnellen Schreibtempos die Industrie – und begründete den Beruf der Sekretärin. Heute ist das Klackern der Tasten ein Sound aus der Vergangenheit. Mit der Erfindung des Computers verschwand die Schreibmaschine nach und nach aus den Büros und Arbeitszimmern. Anfang 2003 wurde sie schließlich final aus dem Verbraucherindex gestrichen.
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1 | SPD nach ihrer Klausurtagung: Stumme Sozis auf dem Podest
Die SPD taumelt von einer Krise in die nächste. Nach ihrer Klausurtagung zitieren sie aber nur den Koalitionsvertrag und warten sonst ab.
Immerhin geschlossen: die SPD Foto: dpa
BERLIN taz | Die SPD ist nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen in keiner guten Situation. Bei anderen Parteien würde in solch dramatischer Lage erbitterter Streit ausbrechen und hektisch nach Auswegen gesucht, es würden Intrigen gesponnen und Pläne geschmiedet.
Bei der SPD geht am Montag nach dem Treffen der Parteispitze alles seinen Gang. Die Pressekonferenz beginnt, wie fast immer, zu spät. Es ist alles ist beim Alten. Anders ist, dass nicht nur SPD-Chefin Andrea Nahles die Glastreppen ins Atrium des Willy-Brandt-Hauses herunter kommt. Alle MinisterInnen, die Parteispitze und MinisterpräsidentInnen sind dabei und stehen als stumme Nachricht auf dem Podest. Knapp 20 Leute, von Malu Dreyer bis Heiko Maas. In der Mitte Nahles.
Dieses Bild ist wohl die Botschaft: Niemand will Andrea Nahles stürzen. Die SPD-Spitze ist geschlossen.
Es ist aber auch die einzige Botschaft. Denn ansonsten verkündet Nahles mit betont fröhlichem, fast aufgeräumtem Tonfall, was die SPD nicht tun wird. Sie wird den Parteitag nicht vorziehen und dort nicht beraten, ob sie etwas grundsätzlich anders machen muss. Die SPD-Spitze hat, laut Nahles, bei ihrer zweitägigen Klausur auch „nicht über einen Austritt aus der Große Koalition debattiert.“ Das ist erstaunlich. Wozu sind solche Treffen denn da, wenn die auf der Hand liegenden zentralen politischen Fragen gar nicht erörtert werden?
Erst mal ne Grundsatzdebatte
Nahles betonte, dass die SPD sich einig sei und lobte das SPD-Debattencamp, das am nächsten Wochenende in Berlin stattfinden wird, als „eine sehr schöne Veranstaltung“. Konkrete Beschlüsse wurden nicht gefasst. Man habe „eine Grundsatzdebatte geführt“.
Die Parteichefin hatte nach dem Hessen-Desaster einen Fahrplan vorgelegt, der im Kern nur wieder vorsah, was auf Drängen der SPD im Koalitionsvertrag fixiert worden war. Letzten Montag hatte es Kritik an Nahles gegeben. Es könne, angesichts des Abstiegs zur vierstärksten Partei nicht reichen, einfach den Koalitionsvertrag noch mal abzuschreiben. Nun gibt es zahlreiche Änderungswünsche. Nahles soll am 14. Dezember den überarbeiteten Fahrplan nochmals vorlegen. Will sagen: Die SPD lässt sich Zeit. Offenbar glaubt sie davon genug zu haben.
„Wir werden uns zusammen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen“, sagt ein wichtiger SPD-Mann nach der Pressekonferenz. Es klingt nach verzweifelter Hoffnung. | 234,870 |
0 | IMAGO / ActionPictures
Vorstandsvorsitzender des FC Bayern: Oliver Kahn
Samstag, 22.04.2023, 19:10
Nach der desaströsen 1:3-Niederlage beim FSV Mainz 05 liegen die Nerven beim FC Bayern komplett blank. Oliver Kahn nimmt die Mannschaft in die Pflicht und fordert von den Spielern, "sich den Hintern aufzureißen".
Pokal! Raus? Champions League ? Raus! Bundesliga? Titel massiv in Gefahr! Der FC Bayern schlittert immer tiefer in die größte Krise seit Jahren und liefert bei der 1:3-Klatsche im Auswärtsspiel gegen den FSV Mainz 05 erneut eine völlig enttäuschende Leistung ab.
Vorstandsboss Oliver Kahn zeigt sich vom Auftritt seiner Mannschaft desillusioniert. "Ich weiß nicht: Wer war hier jetzt nochmal die Mannschaft, die deutscher Meister werden wollte? Die hatte zwar auch Rote Trikots, aber das war ganz bestimmt nicht unsere Mannschaft", meinte der einstige Weltklasse-Keeper in den Katakomben des Stadions. Die erste Halbzeit sei "noch einigermaßen okay" gewesen, meinte Kahn. Nach dem Seitenwechsel agierte das Team von Trainer Thomas Tuchel aber einmal mehr vogelwild und kassierte innerhalb von 14 Minuten drei Treffer.
Bayern-Boss Oliver Kahn: "Es muss sich jeder Spieler hinterfragen!"
Kahn wurde deshalb deutlich: "Es muss sich jeder einzelne Spieler hinterfragen: Was will ich erreichen, wenn ich auf dem Platz bin? Welche Bereitschaft bringe ich mit? Welchen Einsatz bringe ich mit? Alles, was den Fußball ausmacht, hat unserer Mannschaft in der zweiten Halbzeit gefehlt." Eine klare Ansage an die Mannschaft!
Um endlich Konstanz in die alles andere als rekordmeisterlichen Leistungen zu bekommen, haben die Verantwortlichen in der Rückrunde schon zahlreiche Maßnahmen ergriffen. Doch egal ob Einzelgespräche, Systemwechsel oder letztendlich sogar der Trainerwechsel – wirklich gefruchtet hat nichts davon. Kahn dazu: "Zum Schluss sind es elf Mann, die da auf dem Platz stehen und sich für die Ziele dieses Klubs den Hintern aufreißen müssen. Darum geht es und um nichts anderes!"
Eine Diskussion um Tuchel, der bereits seine dritte Niederlage im siebten Spiel als Chefcoach einstecken musste, will er jedoch nicht zulassen. " Thomas Tuchel ist der letzte, über den wir jetzt reden müssen. Er tut zusammen mit dem Trainerteam alles, um die Jungs auch psychologisch wieder voran zu bringen", stellte Kahn klar.
Dieser Artikel wurde verfasst von AZ
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Abendzeitung | 234,871 |
1 | Kaum Widerstand gegen Sparkurs: Großbritanniens Arme saufen ab
Anders als die Franzosen wehren sich die Briten bislang kaum gegen den brutalen Sparkurs ihrer Regierung. Dabei räumt diese ein, dass die ärmsten 10 Prozent am meisten verlieren.
Eher niedlich: Proteste gegen den Sparkurs in Großbritannien. Bild: dpa
"Wir sitzen alle in einem Boot, und jeder muss seinen Beitrag leisten", sagte der britische Schatzkanzler George Osborne am Dienstag bei der Vorstellung seines brutalen Sparpakets im Londoner Unterhaus. Das Boot gleicht allerdings der "Titanic": Während die Reichen auf dem Oberdeck in der ersten Klasse mit dem Schrecken davonkommen, saufen die Armen im Unterdeck der dritten Klasse ab.
Osborne hat in seiner Rede 24-mal das Wort "fair" erwähnt. Seine Sparkur ist alles andere als fair. Er plündert 7 Milliarden Pfund aus dem Sozialhilfetopf, nachdem er ihn in seinem Haushaltsplan im Frühsommer bereits um 11 Milliarden gekürzt hat. Das Budget für den sozialen Wohnungsbau wird in den nächsten vier Jahren auf weniger als die Hälfte eingedampft. Selbst nach seinen eigenen Berechnungen verlieren die ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung am meisten.
Doch die Briten wahren die Contenance und schauen verdutzt nach Frankreich, wo weit weniger drastische Einschnitte Massenproteste ausgelöst haben. Die britischen Proteste waren eher niedlich, Osborne und seine Kollegen in der Koalitionsregierung aus Tories und liberalen Demokraten dürften sich ins Fäustchen lachen. 500 Menschen zogen vor die Downing Street, den Amtssitz von Osborne und Premierminister David Cameron. 3.000 Demonstranten marschierten durch die Londoner Innenstadt. Manche trugen Osborne-Masken, andere Plakate mit seinem Foto und dem Wort "Wichser". Vince Cable, der liberaldemokratische Wirtschaftsminister, wurde auf Plakaten entweder als Nazi oder als Teufel beschimpft. Zwölf Menschen brachen ins Wirtschaftsministerium ein. Neun verließen das Gebäude freiwillig, die restlichen drei wurden verhaftet. Das wars bisher.
Osborne nutzt die Krise und das Haushaltsdefizit für den Rückzug des Staates und die Demontage des Wohlfahrtssystems - ein Prozess, den Margaret Thatcher vor dreißig Jahren begonnen hat. Er hat seinen Coup gut vorbereitet und die Bevölkerung dafür weichgeklopft: Seit Monaten wurden Geschichten lanciert, in denen Sozialhilfeempfänger als faule Parasiten erschienen, die auf Kosten der Gemeinschaft ein sorgenfreies Leben im Luxus führen. Die Mehrheit stimmte dieser Einschätzung zu. Osborne hat den öffentlichen Dienst zum Feind Nummer eins erklärt, obwohl dessen Einkommen weit hinter denen im privaten Sektor hinterherhinkt. Die Mehrheit der Bevölkerung stimmte abermals zu.
Zwei Drittel der Briten halten die drastischen Kürzungen für notwendig. Sie sind von den Sparmaßnahmen ja auch weniger betroffen. Osbornes Kalkül ist zynisch: Aufgrund des ungerechten britischen Wahlsystems zieht der Gewinner eines Wahlkreises ins Unterhaus ein, während die Stimmen der Verlierer unter den Tisch fallen. Also konzentriert sich der Schatzkanzler auf die Tory-Kernwähler, die relativ ungeschoren davonkommen. Um die Arbeitslosen und Arbeiter, die ohnehin Labour wählen, schert er sich nicht. Und in fünf Jahren, wenn die nächsten Wahlen anstehen, ist der Haushalt vielleicht so weit konsolidiert, dass rechtzeitig ein paar Wahlkampfgeschenke in Form von Steuersenkungen verteilt werden können.
Es könnte sein, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Wenn das ganze Ausmaß der Kürzungen im nächsten Jahr sichtbar wird, wenn die Zwangsräumungen beginnen, weil die Menschen Mieten oder Hypotheken nicht mehr zahlen können, wenn die Wartezeiten in den Krankenhäusern immer länger werden, weil keine Betten frei sind, wenn Büchereien und Freizeiteinrichtungen schließen müssen, weil die Gemeinden kein Geld mehr haben, greifen die Briten vielleicht nicht mehr gelassen nach ihrem Lieblingsgetränk, einem warmen Bier, sondern gehen doch noch auf die Straße. | 234,872 |
1 | Haushalt in Großbritannien: Das Füllhorn bleibt voll
Die konservative Regierung verlängert Coronahilfen und will Investitionen fördern. Firmen, die nicht investieren, zahlen drauf.
Großbritanniens Finanzminister Rishi Sunak mit der „Budget Box“ am Mittwoch in London Foto: John Sibley/reuters
LONDON taz | Großbritanniens Finanzminister Rishi Sunak hat die Briten auf höhere Steuern zur Überwindung der ökonomischen Folgen der Coronapandemie eingestellt. Im inzwischen ikonischen weißen Hemd mit diesmal grauer Krawatte stellte er am Mittwoch nachmittag vor dem Unterhaus seinen neuen Haushaltsplan 2021 vor. „Fair und wahrhaft“ solle er sein, diese Worte wiederholte er immer wieder.
Erst einmal gibt es neue Coronahilfen. Das Kurzarbeiterprogramm für Coronabedingte Arbeitsplatzverluste wird bis Ende September verlängert, ebenso die wegen der Pandemie geltende Erhöhung des Mindestsatzes der individuellen Sozialleistungen um 20 Pfund (23 Euro) pro Woche. Für Einzelhandel und Tourismus, wegen der Pandemie lädiert, stehen zusätzliche 5,78 Milliarden Pfund bereit. Auch an Theater und andere Kultureinrichtungen sowie den Sport gingen weitere Hilfsgelder. Gleichzeitig wurde die Unterstützung für Selbständige ausgeweitet.
Bis Juli verzichtet die Regierung auf die Grunderwerbsteuer für die ersten 500.000 Pfund einer Immobilie und für Personen, die sich beim Kauf eines Eigenheims nur fünf Prozent Anzahlung leisten könnten, gibt es für den Rest ein staatliches Garantieprogramm.
Mit „einer der größten und großzügistgen Reaktionen irgendeines Landes auf die Pandemie,“ wie es Sunak selbstlobend nannte, sollten coronabedingte Schocks gemildert werden und ein zu hohes Anwachsen der Arbeitslosigkeit vermieden werden.
Das bedeutet aber auch einen weiter wachsenden Schuldenberg. Sunak zufolge wird sich die Staatsverschuldung auf 96,8 Prozent des britischen BIP erhöhen und sich bei diesem Level stabilisieren. Sunak, seit etwa einem Jahr im Amt, hat inzwischen nach eigenen Angaben über 407 Milliarden Pfund neue Schulden gemacht, die britischen Gesamtschulden bewegen sich insgesamt in Richtung von umgerechnet 2,66 Trillionen Euro.
Doch all dies, so Sunak, habe bereits jetzt dafür gesorgt, dass die Wirtschaftslage besser sei als die Prognosen des Rechnungsprüfungsamtes OBR. Statt bei 11,9 Prozent wie prognostiziert liegt die Arbeitslosenquote bei nur 6,5 Prozent.
Unternehmenssteuern steigen
Um sich all dies leisten zu können, müssten die Brit*innen nun mit Maßnahmen rechnen, die die Finanzen der Regierung langfristig wieder in Ordnung bringen, bekannte Sunak – am besten noch vor den nächsten Wahlen 2024. Die Einkommenssteuern und Sozialversicherungsbeträge von Arbeitnehmern bleiben gleich, aber die Unternehmenssteuer steigt für Unternehmen mit einem Gewinn von über 250.000 Pfund bis zum Jahr 2023 von 19 auf 25 Prozent. Für Unternehmen mit einem Gewinn zwischen 250.000 und 50.000 Pfund steigt die Steuer stufenweise, bei unter 50.000 Pfund bleibt sie gleich. Unternehmenssteuererhöhungen waren für die Konservativen im Wahlkampf 2019 gegen Labour noch Gift gewesen. Aber auch mit dieser Erhöhung hätte Großbritannien immer noch die niedrigste Unternehmenssteuer der G7.
Für verlustmachende Unternehmen gibt es einen Steuererlass von bis zu drei Jahren, und Unternehmen, die investieren, können vorübergehend ihre Investitionen zu bis zu 130 Prozent abschreiben. Dies soll einen Anreiz bieten, Profite zu investieren. Es soll zudem eine neue nationale Infrastrukturbank im nordenglischen Leeds gegründet werden.
Weniger stattlich sehen Sunaks Investitionen in die grüne erneuerbare Wirtschaft aus. Es soll eine grüne Bank geben und einen grünen Investmentfonds und neue Offshore-Windenergieparks – aber gefördert mit Geldern in Millionenhöhe, nicht Milliarden. Spezielle Einreisevisas sollen die besten Köpfe ins Land locken. Wirtschaftlich will Sunak obendrauf acht neue Freihäfen schaffen lassen.
Extraberäge gehen außerdem an schottische, nordirische und walisische Projekte, mit explizitem Verweis auf den Zusammenhalt der des Vereinigten Königreichs. Vielleicht gab es deswegen auch noch als britisches I-Tüpfelchen 22 Millionen Pfund für landesweite Feiern zum 70. Jubiläum der Krönung von Queen Elizabeth 2022.
Kritik von Labour
Trotz der großen Zahlen war Labour-Oppositionsführer Keir Starmer nicht begeistert. Der Parteichef übernahm die Antwort seiner Partei persönlich, statt sie seiner Schattenfinanzministerin Anneliese Dodd zu überlassen, und begründete das damit, dass Sunak die eigentlichen Entscheidungen für die Regierung Johnsons treffe.
Fehler der Regierung im vergangenen Jahr hätten überhaupt erst das Land in die schwerste Krise unter den global wichtigsten Wirtschaften geführt, so Starmer. Sunaks Haushalt beweise, dass dessen Regierung das nicht verstehe. Letztlich fehlten auch Maßnahmen, um das Land sozial auszugleichen, wie es die Konservativen bei den Wahlen 2019 versprochen hatten – während die verarbeitende Industrie, der Finanzsektor und die Fischerei immer noch auf einen Brexit warteten, der auch für sie funktioniere. | 234,873 |
0 | Nach Asjas Tod vermochte ich mein Leben auf der Landstraße nicht zu
ertragen, mir war, als schleppte ich auf Schritt und Tritt eine Last mit
mir herum, die zu schwer drückte. Dabei empfand ich weder Trauer noch
Schmerz, sondern nur Verlassenheit und die Tage flossen mir in einem
Gleichmut herum, der mich ängstigte. Ich kann nicht wahrhaft traurig
werden, dachte ich. Dann wieder fürchtete ich, der Verlust dieses
Menschen habe etwas für alle Zeit in mir zerstört, meine Ruhlosigkeit
war furchtbar und verfolgte mich bis in den Schlaf, der nicht mehr tief
und dunkel war, wie einst, sondern voll nebelhaften Lichts und ohne
Versunkenheit. In ihm erlitt ich zuweilen eine gegenstandslose
Traurigkeit von solcher Inbrunst, daß ich durch mein Schluchzen geweckt
wurde und zornig im Erwachen eine Gestalt zu erhaschen trachtete, die
ich nicht gesehen hatte. Ich besann mich mühsam und war bekümmert, diese
Traurigkeit verloren zu haben, die mir in meiner Traumerinnerung wie ein
unirdischer Reichtum vorkam. | 234,874 |
1 | Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg 1985.
Brandstädter, Mathias: Nationale Idyllik im Windschatten. Anmerkungen zu Bernward Vesper. In: Kultur & Gespenster 2 (2006), S. 26-32.
Ensslin, Gudrun / Vesper, Bernward: Notstandsgesetze von Deiner Hand, Briefe 1968/1969. Herausgegeben von Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier. Mit einer Nachbemerkung von Felix Ensslin. Frankfurt am Main 2009.
Fischer, Nikolaus: Das Kino des Andres Veiel. Politische Filme im Balanceakt zwischen Dokument und Fiktion. Berlin 2009.
Glawion, Swen: Aufbruch in die Vergangenheit. Bernward Vespers 'Die Reise' (1977/79). In: Stephan, Inge / Tacke, Alexandra (Hg.): NachBilder der RAF. Köln / Weimar / Wien 2008, S. 24-38.
Groß, Martin: Die Darstellung des RAF-Terrorismus im Spielfilm. Von "Deutschland im Herbst" bis "Baader". Saarbrücken 2008.
Hissnauer, Christian: Nach der Gewalt. Linker Mythos RAF – Linker Mythos BRD. Terrorismus im deutschen Film. In: Testcard. Beiträge zur Pop-Geschichte 12/2003, S. 40-45.
Hoffmann, Martin (Hg.): Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Berlin 1997.
Jung, Mareike: Mythos RAF. Die Inszenierung einer deutschen Terror-Vergangenheit im Film. Saarbrücken 2008.
Kapellen, Michael: Doppelt leben. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre. Tübingen 2005.
Keppler, Maja: Zur Terrorismusdarstellung im Neuen Deutschen Film. Erfahrung und Trauerarbeit. Hamburg 2003.
Koenen, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln 2003.
Kraus, Petra u.a. (Hg.): Deutschland im Herbst – Terrorismus im Film. München 1997.
Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. 2 Bde. Hamburg 2007.
Kraushaar, Wolfgang / Wieland, Karin / Reemtsma, Jan Philipp: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF. Hamburg 2005.
Langguth, Gerd: Mythos 68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke. Ursachen und Folgen der Studentenbewegung. München 2001.
Langguth, Gerd: Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968. Köln 1983.
Lubich, Frederick Albert: Bernward Vespers 'Die Reise'. Von der Hitler-Jugend zur RAF. Identitätssuche unter dem Fluch des Faschismus. In: German Studies Review 10/1987, S. 69-94.
Peters, Butz: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF. Frankfurt am Main 2001.
Pflieger, Klaus: Die Rote Armee Fraktion – RAF. Baden-Baden 2006.
Stern, Klaus / Herrmann, Jörg: Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes. München 2007.
Tolmein, Oliver: Vom deutschen Herbst zum 11. September. Die RAF, der Terrorismus und der Staat. Hamburg 2002.
Veiel, Andres: Black Box BRD. Alfred Herrhausen, die deutsche Bank, die RAF und Wolfgang Grams. München 2003.
Vesper, Bernward: Die Reise. Romanessay. Reinbek bei Hamburg. Frankfurt am Main 1977.
Voss, Henner: Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper. Hamburg 2005.
Wenzel, Elke: Gedächtnisraum Film. Die Arbeit an der deutschen Geschichte in Filmen seit den sechziger Jahren. Suttgart / Weimar 2000. | 234,875 |
1 | Bundespräsident Horst Köhler:
"Klimaschutz bedeutet nicht notwendigerweise Verzicht. Im Gegenteil: Wir werden in Zukunft auf viel mehr Wohlstand verzichten müssen, wenn wir nicht in Klimaschutz investieren. Und ist es wirklich Verzicht, wenn ich energiesparende Elektrogeräte oder ein sparsames Auto kaufe, mein Haus stärker dämme oder Stand-by-Schaltungen vermeide? Am Ende werde ich doch durch niedrigere Energiekosten belohnt. Ich bin überzeugt: Klimaschutz ist ohne Einbußen an Lebensqualität machbar."
Aus: DB mobil, Heft 05/2007, S. 74. | 234,876 |
0 | Debütalbum von US-Talent Kelela: Der Zukunft zugewandt
Schmuddeliger Grime und schmusiger R&B: US-Pop-Hoffnung Kelela legt mit „Take Me Apart“ ein vielschichtiges Debütalbum vor.
Ab und an mal Durchatmen: Kelela Foto: Campbell Addy
Eine Trennung mitzumachen ist die eine Sache. Die widersprüchlichen Emotionen in Wort und Sound zu erfassen und dem Gegenüber dabei respektvoll, aber mit der nötigen Klarheit zu begegnen, die andere, die weitaus tückischere. Kelela kann das. „There’s a place you hold I left behind, I’m finished / Since you took your time, you should know why I’m quitting“, singt die 34-Jährige in „Frontline“, dem Auftaktsong ihres Debütalbums „Take Me Apart“ über einen bedrohlich-verheißungsvollen Synthie-Soundteppich.
Damit knüpft Kelela thematisch an ihre 2015 erschiene EP „Hallucinogen“ an, auf der sie furchtlos und verletzlich zugleich eine gescheiterte Beziehung verarbeitete. Mit „Take Me Apart“ erweitert sie das Spektrum, hält nicht nur Rückschau, sondern gewährt Einblicke ins Gefühlschaos: „I’m so tired, but it’s not enough right now. Boy, you always manage to change my mind.“ („Enough“).
Kelela Mizanekristos wuchs in Gaithersburg, Maryland, in der Nähe von Washington, D. C., auf, ihre Eltern waren aus Äthiopien in die USA geflüchtet. Als Kind nahm ihr Vater sie mit in Jazzclubs, in ihrem Zimmer sang sie zum Radio, entwickelte die Songs weiter. In den Gottesdiensten der äthiopischen Gemeinde, die sie mit ihrer Mutter besuchte, lernte sie traditionelle Gesangstechniken kennen, die ihren lichten und präzisen Gesangsstil geprägt haben.
Die Fähigkeit, genau hinzuhören, schulte sie in ihrer Zeit als „Jazz-Gattin“, als sie oft zu Konzerten ihres Stehbass spielenden Freundes ging. Später sang sie Jazz-Standards in Cafés, kam mit Synthiepop und Punk in Berührung. Der D.I.Y.-Gedanke von Punk und die Lust, Regeln zu unterwandern, gefielen ihr. Kelelas Intermezzo als Sängerin einer Prog-Metal-Band fühlte sich dagegen unpassend an, sie ließ es bald wieder sein.
Entspannte Weltläufigkeit
KelelaKelela: "Take me Apart" (Warp/Rough Trade)live: 7.12. "Berghain" Berlin, 12.12. "Uebel&Gefährlich" Hamburg
Und doch haben all die Einflüsse, seien sie noch so disparat, Eingang auf „Take Me Apart“ gefunden. Unterschiedlichste Genres und Stile schwingen in jedem Track mit. Das verleiht ihrem R&B-Sound eine entspannte Weltläufigkeit. Schlüssigerweise arbeitet Kelela bevorzugt mit britischen Produzenten, die schmusigem R&B schmuddeligen Ostlondoner Grime unterjubeln. Die Veröffentlichung des Debütalbums beim englischen Label Warp Records passt da gut ins Bild.
Die unvorhersehbaren Drehungen in ihren Arrangements gefielen auch dem Manager von Solange Knowles, der 2012 ein Konzert von Kelela sah. Solange nahm sie mit auf Tour, 2013 stellte Kelela ihr Mixtape „Cut 4 Me“ ins Netz, zwei ihrer Songs tauchten auf der von Solange zusammengestellten Kompilation „Saint Heron“ auf.
Anfang dieses Jahres ging sie dann mit The XX auf Tour. Zusammen mit Romy Madley Croft von The XX schrieb sie „Frontline“, einen waschechten 90er-Jahre-R&B-Song, der nichts Böses will und dessen akzentuiert laszive Chorarrangements Erinnerungen wachküssen an Destiny’s Child und Clips, in denen diese in bauchfreien Tops und pludrigen Video-wegbring-Hosen synchron dem Sonnenuntergang entgegenmoven.
Synthie-Stafetten
Mit dem Schub des größenwahnsinnigen 90er R&B alter Schule im Rücken, gelangen Kelelas Songs auf geradem Weg in die Zukunft. Im Titeltrack „Take Me Apart“ sitzt sie in einem Raumschiff und verlässt, angetrieben von schnarrenden Synthie-Stafetten, die Erde in Richtung blühender Mondlandschaften. Im darauf folgenden Track „Enough“ erkundet sie die karge Kraterlandschaft, wie eine Wünschelrute klickern die Sounds durch den eiskalten Raum, Kelelas Gesang kommt aus allen Richtungen, schwillt an und ab, es gibt kein Entkommen, wir taumeln in anderen Sphären.
In „LMK“ werden sie verlassen, zu Bollersounds steigen wir langsam, mit Triangeln in Händen, die enge Treppe in einen Partykeller hinab, in dem Kondenswasser von der Decke tropft. Aber die lichte Downtempo-Nummer „Blue Light“ befördert die verschwitzte Partycrowd im Morgengrauen via Hydrauliksounds und Vocoder auf dem Backgroundgesang wohlbehalten wieder nach draußen.
Kelela dosiert gesangsverzerrende Effekte wohlüberlegt: Im fast etwas arg poppigen „Onanaon“ ist sie hin und her gerissen, versucht Strukturen in einer Beziehung zu verstehen: „You don’t know why you always react / I don’t know why I always fight back“, und illustriert das mit ratlosem Autotune-verzerrtem Gestotter. In „Turn to Dust“ untermalen fordernde Streicherarrangements mit dezent-bedrohlichem Bassgewummer das Gefühl der Auflösung, aber auch die Gewissheit, dass es weitergeht in Richtung Zukunft. Mit „Take Me Apart“ ist Kelela ein 2-in-1-Album geglückt: Liebesleidende fühlen sich beim Decke-übern-Kopf-ziehen umhegt und Feierlustige bleiben auf der Tanzfläche bis zum Sonnenaufgang. | 234,877 |
1 | Streit um "Stuttgart 21": Der Griff nach dem letzten Strohhalm
Nur die Gegner des Tiefbahnhofs wollen den Kompromiss von Schlichter Heiner Geißler überhaupt prüfen. Inzwischen vergibt die Bahn weitere millionenschwere Bauaufträge.
Wackerer Protest: S 21-Gegner im Stuttgarter Bahnhof. Bild: dpa
STUTTGART taz | Die Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 wollen nach dem Kompromissvorschlag von Heiner Geißler eine zweigleisige Strategie fahren. "Wir werden diesen Kompromissvorschlag tatsächlich prüfen und werden auch Gespräche mit der Landesregierung führen", sagte Brigitte Dahlbender, die Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, der taz. Gleichzeitig kündigte die baden-württembergische BUND-Landesvorsitzende neue Proteste an.
"Das Aktionsbündnis ist in der Lage, sich energisch für den Kopfbahnhof einzusetzen und sich gleichzeitig einen Kompromissvorschlag einmal anzusehen", meinte Dahlbender. "Das schwächt uns doch nicht." Eine optimistische Sichtweise.
Unter der Überschrift "Frieden in Stuttgart" hatte S-21-Schlichter Geißler am Freitag bei der Präsentation des Stresstests im Stuttgarter Rathaus überraschend einen Kompromissvorschlag auf den Tisch gelegt. Darin schlägt der Christdemokrat eine Kombilösung aus einem teils oberirdischen und teils unterirdischen Bahnhof vor - ein Konzept, das bereits in den neunziger Jahren diskutiert worden war. Er habe nicht den Raum verlassen wollen, ohne den Versuch, doch noch eine Verständigung in dem "verbitterten" Streit anzubieten, begründete der 81-Jährige seinen Vorstoß.
Wenig Aussicht, das Milliardenprojekt noch zu stoppen
Tatsächlich sind jedoch die S-21-Gegner und der grüne Landesverkehrsminister Winfried Hermann die Einzigen, die signalisieren, sich mit dem Kompromissvorschlag überhaupt ernsthaft auseinandersetzen zu wollen. Die Tiefbahnhofsgegner geraten immer weiter in die Defensive. Die Möglichkeiten, das Milliardenprojekt noch zu stoppen, sind rapide geschwunden. Da greift man auch nach dem kleinsten Strohhalm.
Sie nehme "den Vorschlag von Heiner Geißler ernst und wird ihn in verkehrlicher, finanzieller und planungsrechtlicher Hinsicht auf seine Tragfähigkeit überprüfen", teilte die grün-rote Landesregierung Baden-Württembergs am Wochenende schriftlich mit. Und weiter: "Die Landesregierung will mit der Deutschen Bahn über das weitere Vorgehen sprechen."
Die Gegenseite hat solche Höflichkeiten nicht nötig. Auf Seiten der S-21-Befürworter findet sich niemand, der dem Schlichtervorschlag etwas Positives abgewinnen will. Als "uralt" bezeichnete ihn Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) kühl. Mit der Vergabe weiterer millionenschwerer Bauaufträge gab die Deutsche Bahn am Wochenende ihre eindeutige Antwort auf den Schlichtervorschlag.
Der Bahn spielt in die Hände
Bereits am Freitagabend hatte Bahnvorstand Volker Kefer Stellung bezogen: "Wir werden natürlich mit dem Projekt weitermachen." Die Bahn verfüge über die nötigen Planfeststellungsbeschlüsse. Einen erneuten Bau- und Vergabestopp lehnte er ab.
Etwas anderes hätte er aus Sicht der Bahn auch gar nicht tun müssen. Ihr spielt derzeit alles in die Hände. Der Stresstest ist trotz aller noch offenen Fragen und Kritikpunkte in den meisten Köpfen als "bestanden" abgehakt. Und auch für die Volksabstimmung dürfte bereits jetzt feststehen: Mit ihr lässt sich das milliardenschwere Projekt nicht mehr stoppen. Allein aufgrund der hohen gesetzlichen Hürden tendieren die Erfolgsaussichten gegen null. Das Einzige, was den S-21-Gegnern derzeit noch bleibt, ist die Hoffnung, dass sich ihre Zweifel an den offiziellen Kostenrechnungen bewahrheiten. Auch deswegen versuchen sie, auf Zeit zu spielen. Entsprechend war ihr sofortiger Reflex auf Geißlers Vorschlag, umgehend wie vergeblich einen Bau- und Vergabestopp zu fordern.
In der Bevölkerung schwindet allerdings die strikte Ablehnung von S 21. Mit ihrem Signal, sie könnten von ihren Grundsatzpositionen abrücken, dürften die Gegner diesen Stimmungsumschwung wohl noch weiter verstärken. | 234,878 |
1 | I.
Joachim Gauck vor dem Berliner Reichstagsgebäude. Foto aus Gaucks Erinnerungen "Winter im Sommer – Frühling im Herbst". (© Siedler Verlag)
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Eine Autobiographie als Bewerbungsschrift für das höchste Staatsamt, konzentriert in einem Bild – auch als begeisterter Leser darf man zu diesem Urteil kommen, wenn man einen Blick auf das letzte Foto in Joachim Gaucks Erinnerungen wirft. Am 23. Mai 2009, so heißt es im Text, steht der Autobiograph im Berliner Regierungsviertel vor einer munter im Wind geblähten Bundesflagge und lässt sich von seiner ob der staatstragenden Symbolik recht unwirschen Begleiterin fotografieren. Dem Bild ist, bei aller sympathischen Gelassenheit, mit der Gauck dem Betrachter entgegenschaut, eine gewisse Künstlichkeit eigen; denn nur die schwarzrotgoldene Fahne ist mächtig aufgebauscht, während im Hintergrund zwei andere Fahnen müde im Windstillen hängen. Nach einem Lebensweg von 70 Jahren mit Erschütterungen und Erhebungen markiert das Bild ein zufriedenes Angekommensein im Jetzt, aber es lässt noch Spielraum für die Zukunft.
Dass Joachim Gauck nur ein gutes Jahr später von einer heftigen Woge bürgerschaftlicher Begeisterung vor die Tore des Berliner Schlosses Bellevue getragen wurde, markiert den Verdruss an einer politischen Klasse, die nicht einmal der Rücktritt des Bundespräsidenten zu erschüttern vermochte. Aber der Rostocker Pfarrer, Bürgerrechtler und erste Namensgeber einer sonst unaussprechlichen nationalen Geschichtsinstitution (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) wurde nicht zufällig zur Projektionsfläche der Hoffnungen auf politisch-rhetorische Ursprünglichkeit und freiheitlichen Bürgersinn. Vorausgegangen war Gaucks Nominierung als Präsidentschaftskandidat der rot-grünen Opposition eine Bewerbungstour ganz besonderer Art. Sie hatte den späteren Kandidaten fast durch die ganze Republik geführt, freilich mit einer nur hintergründig politischen Wirkungsabsicht. Vordergründig ging es um die Vorstellung eben dieses zu den Jubiläen von 2009 auf den Markt gekommenen Erinnerungsbuchs mit dem schönen, aber nicht auf den kommenden Bestseller hindeutenden, weil komplizierten Titel: "Winter im Sommer – Frühling im Herbst".
Buchcover (© Siedler Verlag)
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Die Lesereise wurde zu einem weit über das Buch hinaus weisenden geschichtspolitischen Ereignis der Nation, waren doch Gaucks Lesungen, die kurzfristig zu einer Art Präsidentschaftswahlkampf mutierten, Impulse für die innere Einheit. Ebenso wenig wie er sich als "linker, liberaler Konservativer" (S. 326) politisch festlegen mochte und so eine parteipolitische Karriere ausschloss, ist Gauck nämlich auf der Ost-West-Linie festzumachen. Jeglicher Ostalgie abhold, mit ostdeutschen Wunschträumen und westdeutscher Verdrossenheit gleichermaßen ins Gericht gehend, akzentuiert er markant die West-Optionen seiner ostdeutschen Biographie, etwa in den Passagen über seine Erfahrungen vor dem Mauerbau mit einer jugendlichen Stippvisite in Paris. Vor allem aber zeigt dies das emotionale Kernstück des Buchs: die familiäre Verlustgeschichte, in der drei von vier Kindern des Ehepaars Gauck vor 1989 in die Bundesrepublik gingen. Die Frage von "Gehen oder Bleiben" ist schon zuvor, seit der Verschleppung von Gaucks Vater durch sowjetische Dienststellen und seiner Rückkehr aus dem Gulag 1955, virulent. Aber der Vater fühlt sich "innerlich frei", sodass ihm die "politische Unfreiheit in der DDR nicht das Wichtigste war" (56). Gauck übernimmt diese Dialektik von Freiheit in der Unfreiheit, wenn auch nicht explizit. Er relativiert sie sogar, wenn er sich selbstkritisch fragt, ob er bei allem Stolz, vom System nicht mehr "zu kränken oder zu demütigen" zu sein, sich vielleicht doch nur "längst mit dem kleinen Glück" in der Nische abgefunden habe (76). Die Spannung wächst mit dem sukzessiven Exodus der beiden Söhne und einer Tochter. Neuerlich verharrt er in der Verweigerung von Trauer um die weggehenden Kinder: "Ich [...] wollte die Trauer der Bleibenden nicht teilen [...], weltschlau und gefühlsgelähmt" (95). Gauck hat in den Lesungen wiederholt berichtet, wie traumatisch gerade diese Erinnerung an seine Verhärtung war; das Buch sei an diesem Trauma fast gescheitert, wenn die Zusammenarbeit mit Helga Hirsch nicht darüber hinweg geholfen hätte. Das gelungene Buch ist auch ein Beleg, dass man im Gespräch über die eigene Vergangenheit die sich sträubende Erinnerung bewältigen kann. Damit ist der Nexus dieser Lebensgeschichte entfaltet: Der Preis der inneren Freiheit in der äußeren Unfreiheit ist hoch, aber er zahlt sich aus. Dass die mehrfach ausgeschlagene West-Option überdies dem altwestdeutschen Leser jede Illusion nimmt, dem Ostdeutschen irgendetwas voraus zu haben, bestätigt nur Gaucks bekanntes Aperçu, man habe im Osten vom Paradies geträumt und sei in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Endlich einmal eine ostdeutsche Autobiographie, in der die Gleichwertigkeit der Lebenswelten von Ost und West jenseits der politischen Systeme nicht verkrampft postuliert, sondern mit der gebotenen Selbstverständlichkeit gelebt wird. Diese Anstrengung der historischen Selbst-Besinnung begründet und beglaubigt die das Werk durchziehende Linie von den Erfahrungen der Freiheit und Freiheitssehnsucht in der winterkalten Diktatur der Fünfzigerjahre, im nonchalant erinnerten Alltag der DDR, im frühlingshaften Aufbruch von 1989/90 und im vereinten Deutschland, mit der sich Gauck in diesem Buch als "reisender Demokratielehrer" (327) exponiert. Die programmatische Explikation des autobiographischen Projekts bietet das vorletzte Kapitel "Freiheit, die ich meine". Hier wird das eigene Er-Leben mit den Erfahrungen der Epoche so integriert, dass die mannigfachen Unzulänglichkeiten der Demokratie und ihrer so wenig glanzvollen Werktagsfreiheit hell erstrahlen im Licht einer heilen, unabweisbar schönen, glänzenden Freiheit, wie die Freiheit nur ihm und Seinesgleichen mit einer "osteuropäischen Verlustgeschichte" eben leuchten kann (341). Wieder stehen sich die Menschen in Ost und West mit der sie quälenden anthropologischen Urangst vor der Freiheit, die Gauck mit Erich Fromm diagnostiziert, viel näher als sie denken. Mit einem idyllischen Schlussbild transformiert Gauck diese Botschaft von der Theorie zurück in die beglaubigende Erinnerung: Ein Knabe, man mag an den zehnjährigen Joachim denken, skandiert auf dem Heimweg die neueste Schandbotschaft, die ihm in der Schule der ganz jungen DDR eingetrichtert worden war, in jenen Jahren des Kalten Kriegs, und er drischt mit den verächtlichen Worten "Das Bon-ner Grund-ge-setz. Das Bon-ner Grund-ge-setz" sowie einem kräftigen Holzknüppel auf das Maigras ein, um alle Bonner Kapitalisten mächtig einzuschüchtern. Und ist es nicht wahr, so ist es schön erfunden. Der Demokratielehrer bleibt natürlich die erinnernde Nutzanwendung nicht schuldig: "Schneller als erwartet" würde der Knabe, der weder das Grundgesetz kannte noch wusste, dass er es 50 Jahre später als Urkunde der Freiheit erkennt, "auf Abstand gebracht worden" sein, noch "ehe er den Abstand gesucht hatte" (344). Der Literaturwissenschaftler Dennis Tate hat angesichts des nationalen Respekts vor seiner großen Autobiographie dem Romancier Günter de Bruyn, mit einem Körnchen britischer Ironie den Ehrentitel einer "gesamtdeutsche[n] Konsensfigur" der Literatur nach 1990 verliehen. Mindestens mit gleichem Recht, aber durchaus ohne Ironie verdient Joachim Gauck mit seinen Erinnerungen den Ehrentitel der großen Integrationsgestalt der deutschen politischen Kultur. Denn Gauck synthetisiert, damit Goethes geradezu kanonische Gattungsdefinition der Autobiographie erfüllend, Ich und Welt, ja er erhebt das Ich zum Lehrer seiner Zeit. Wenn Goethe dem (Auto-)Biographen die Aufgabe zugewiesen hatte, "den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen", wo ihm das Ganze seiner Epoche "widerstrebt" und wo es ihn "begünstigt" hätte und wie "er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet" habe, so ist ein Programm entfaltet, dem sich im 21. Jahrhundert scheinbar nur noch in ironischer und möglichst dekonstruierender Absicht genähert werden kann. Und doch muss man sich erkühnen zu überlegen, ob Gauck mit traumwandlerischer Sicherheit es nicht genau unternimmt, ein solches Wagnis anzugehen und einzulösen. Die Frage, wie die subjektive Kohärenz zwischen dem politischen Freiheitspostulat des Buchs, den Freiheitserfahrungen seines Protagonisten und der außerliterarischen Referenz des Demokratielehrers Gauck zu bewerten ist, ist für eine poststrukturalistisch geschulte Autobiographieforschung gewiss ebenso eine Provokation wie die (eigene Überlegungen kritisch überdenkende) Annahme einer kohärenten Ich-Expression im Goetheschen Sinne. Oder bündig formuliert: "Die Leitkategorie der harmonischen Einheit der Person, die über das autobiographische Verhalten hergestellt wird, ist längst der historischen und wissenschaftlichen Entwicklung und der Kritik zum Opfer gefallen." Der "Fall Gauck" markiert also die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Das gilt vice versa auch für den öffentlichen Umgang mit der gewaltigen Zahl von "Erinnerungen an die DDR", die seit 1990 die Buchhandlungen und Bibliotheken, oft auch nur Verlagslisten und Bibliotheksverzeichnisse füllen. Denn bei aller Hingabe des geisteswissenschaftlichen Mainstreams der letzten 20 Jahre an den Topos des Erinnerns, gespeist durch empirische Befunde der Hirnforschung und beflügelt durch kulturwissenschaftliche Theorien des kollektiven, kulturellen oder kommunikativen Erinnerns von Assmann bis Welzer: Die wissenschaftliche Wahrnehmung der tatsächlich zu Hunderten vorliegenden Erinnerungstexte zu dem verloren gegangenen Objekt DDR bleibt in den meisten Fällen in einer merkwürdigen Schwebe zwischen Interesselosigkeit und Kopfschütteln ob so viel Rechthaberei und mangelnder Reflexionsfähigkeit. Beim Publikum hingegen kann es offenbar kaum Autobiographien genug geben. Eine zweite, kürzere Fallstudie mag den Sonder-Fall Gauck stärker verdeutlichen helfen. II.
Christian Führer (© Ullstein Buchverlag)
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Wenige Monate vor Joachim Gauck hatte Christian Führer, ebenfalls passend zum 20. Jubiläum der Friedlichen Revolution, seine Erinnerungen vorgelegt, und auch er variiert Goethe, allerdings mit einem geflügelten Wort aus der "Campagne in Frankreich". Der Titel "Und wir sind dabei gewesen" verkündet stolz die Teilhabe an einem welthistorischen Ereignis; sie wird im Untertitel zum Besitzanspruch an den Ereignissen vom Herbst 1989. Es geht um die "Revolution, die aus der Kirche kam." Während Gaucks Buch erst im Oktober 2009 auf den Markt drängt, als etliche Erinnerungstage schon absolviert sind, trägt Führers Buch im Impressum noch das Jahr 2008, aber das Vorwort ist auf Epiphanias 2009 datiert (S. 10), die üblichen Vorab-Rezensionen finden sich entsprechend ab März 2009. Sein Buch begleitet das Erinnerungsjahr 2009 von Anfang an, das spätestens mit der Gedenk-Markierung der Kommunalwahl-Fälschungen vom Mai 1989 als Initialbeschleuniger des demokratischen Aufbruchs in der DDR einsetzt. Anders als Joachim Gauck ist Christian Führer ab September 1989 ein international wahrgenommener Protagonist der Friedlichen Revolution. Und eigentlich hat er die spannendere Geschichte zu erzählen, denn schließlich entschied sich in Leipzig und nicht in Rostock Welthistorisches. Es war Pfarrer Führer, der wenigstens für einige Monate so berühmt war, dass sich Günter Grass bei niemand anderem als bei ihm einquartierte, als er 1990 einige Tage in Leipzig wohnte. Während aber Gaucks Weg von Rostock und der Kirche in immer wichtigere Funktionen und Rollen führt, um im präsidialen Gestus vor der Nationalflagge sein Ziel zu finden, bleibt Führer über die Jahre 1989/90 hinweg ganz Leipzig und seiner Nikolaikirche verpflichtet. Sein autobiographisches Telos ist chiffriert in der Nikolaikirche und im 9. Oktober 1989. Diesem Datum gilt das erste Wort im Vorwort des Buchs und auch der bewegend sympathische Prolog, in dem sich der Leipziger Nikolaipfarrer seiner feierlichen Verabschiedung im Jahre 2008 erinnert, kommt nicht ohne den Gedächtnisrekurs auf diesen Tag aus: Er habe die Kirche betreten und gesehen, "dass sie voll besetzt war. Sofort kam mir die Erinnerung an den [...] 9. Oktober 1989." (13) Bei aller Erinnerungsfreude fehlt dem Buch aber der existentielle Bruch einer Ich-Entfaltung ebenso wie eine kritische Spannungslinie. Nicht das Heraustreten aus der Kirche, hinein in die sich ermächtigende Bürgerbewegung und den Prozess von der Revolution zur Vereinigung trägt Führers Erinnerung, sondern die sichere Grundierung einer fröhlichen Gottesnähe. Insofern ist vieles, was bei Gauck zweifelhaft und fragwürdig ist, bei dem Leipziger selbstverständlich und beinahe mit Leichtigkeit klar und entschieden. Wo Gauck sich selbst im Prozess der Revolution fortlaufend transformiert und den Wandel in sich selbst – bis hin zur Trennung von seiner Frau, die bemerkenswert karg erinnert wird – aushandelt, lebt Führer in den Prinzipien, die ihn 1989 getragen haben, ruhig weiter. Dazu gehört auch eine sympathische Portion Sturheit, etwa wenn der britischen Königin, die 1992 die Stätten der Friedlichen Revolution mit ihrem Besuch ehrt, ein Extraplatz verwehrt wird: "An Sitzplätzen fehlt es uns in der Nikolaikirche nun wirklich nicht [...] In der Kirche Jesu Christi gibt es keine Menschen erster oder zweiter Klasse" (129). Führers Geschichte nach 1989 füllt viele Seiten des Buchs, sein Engagement für die im Irak entführten Leipziger Ingenieure, sein Einsatz für soziale Gerechtigkeit, gegen Neonazis und für Arbeitslose. Aber immer ist die historische Instanz von 1989 die Richtschnur, genauer: wird das eigene ethische Handeln aus denselben theologischen Gründen hergeleitet wie das Handeln von 1989. Mit den Friedensgebeten, die er bis zu seiner Emeritierung 2008 weiterführt, findet sich auch eine Kontinuität in der Form. Gewiss, nur 1989 hebt Führer heraus, gibt seinem Buch die Verve, die es sogar in die Bestsellerlisten führt. Aber nie wird dieses Insistieren peinlich. Sogar die heikle Passage, in der sich Führer intensiv und stolz mit Frank Beyers Verfilmung von Erich Loests Roman "Nikolaikirche" beschäftigt – also die Reprise der eigenen Person – verliert sofort alles Schamhafte, weil Führer sich nie als Akteur, sondern stets als Werkzeug Gottes sah. Insofern ist für ihn 1989/90 viel weniger Zäsur als Bestätigung und gelungener Ausdruck eines theologischen Prinzips: der offenen Gottesnähe, in der alle gleich sind. III.
Mit sechs Wochenplatzierungen, darunter einem Rang 16 (20. Juli 2009), in der Sachbuch-Bestsellerliste zählt Christian Führers Buch zu den erfolgreichsten autobiographischen Werken ostdeutscher Autoren im doppelten Jubiläumsjahr 2009/10. Das Buch hält eine gelungene Schwebe zwischen Autobiographie und Memoiren, wobei Führer ganz sicher der Selbstreflexion fähig ist. Die Kindheits- und Jugendgeschichte ist durchaus einer Autobiographie angemessen. Aber die vielen Fotos zu Begegnungen mit Prominenten nach 1990, ein Personenregister (das bei Gauck fehlt!) sowie die Freude an Anekdoten und Erlebnissen mit bekannten Personen lässt auch die Nähe zum Genre der Memoiren erkennen.
Lothar de Maizière (© Herder Verlag)
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Ganz anders jedoch, um einen dritte wichtige Akteurserinnerung von 1989/90 wenigstens zu nennen, ist die klassische Variante der – auf die zweijährige politische Aktivität beschränkten – Memoiren, die Lothar de Maizière erst zum 20. Jubiläum der Vereinigung im Herbst 2010 vorlegte. Versprach der extrovertierte Titel – "Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen" – eine Abrechnung mit der SED-Diktatur, so zeigt der Untertitel – "Meine Geschichte der deutschen Einheit" – die tatsächliche Richtung an: Es geht darum, in der Konkurrenz der Erinnerungen die eigene Position zu markieren, nicht zuletzt, wie im Detail gezeigt werden könnte, gegen Helmut Kohls Erinnerungsduktus an das Jahr 1990. Nicht ohne Erfolg (2 Wochenplätze in der Bestsellerliste), lässt de Maizières Buch neuerlich die Wucht von Gaucks Erfolg erkennen, der sich vom Erscheinen (Oktober 2009) bis ins Frühjahr 2011 in den "Buchcharts" hielt, 2010 einen beachtlichen Platz 18 der Jahresbestseller erreichte, und am 12. Juli 2010 mit Rang 5 seine beste Wochennotierung errang. Wie Bucherfolg und öffentliche Rolle zusammenhängen, lässt sich an der Bestsellerliste ablesen: Bis ins Frühjahr 2010 nur dreimal auf einem Wochenplatz unter 20, verschwand der Titel in der 20. bis 23. Woche von 2010 aus der bis Platz 50 zählenden Liste, um dann ab Anfang Juni parallel zur Präsidentschaftskandidatur nach vorn zu kommen: Platz 35 (24/2010), Platz 10 (25 und 26/2010), Platz 8 (27/2010), Platz 5 (28 und 29/2010). Nur ein einziger Text ostdeutscher autobiographischer Provenienz hat in der seit 2001/02 zählenden Statistik ("Buchreport") einen noch markanteren Erfolg gehabt: Jana Hensels Ostalgiebuch einer geraubten Kindheitsidylle. Ironisch genug, denn schließlich darf Gaucks Buch in der Geschichte der ostdeutschen Autobiographik nach 1990 auch als Aufhebung der Ostalgie und als eine intergenerationelle Antwort auf Hensel gelesen werden. Gaucks, aber auch Führers und de Maizières Bücher vollziehen damit im Bereich des autobiographischen Erinnerns die neue Position der Ernsthaftigkeit nach, wie sie in anderen Bereichen – im Film durch "Das Leben der Anderen", in der Geschichtspolitik durch die Kontroverse zwischen Alltagsgeschichte und Diktaturpostulat, im Bildungssektor infolge der "Schroeder-Studie" – seit einiger Zeit unverkennbar ist. Doch vor der erinnerungskulturellen Signifikanz der Autobiographik bleibe der Fokus noch für einen Moment bei der Perspektive des Erfolgs beim Publikum. Wenn seit langem ein internationaler "Autobiographie-Boom" und eine ausgesprochene "Erinnerungskonjunktur" konstatiert werden, so provoziert dies eine kritische Rückfrage angesichts einer die Literaturwissenschaftler wohl erschütternden gattungstypologischen Inkonsequenz des Publikums. Liest dies nicht sehr viel lieber Memoiren oder Memoirenhaftes als Autobiographien der Art, die als die "zunehmende Fiktionalisierung der Gattung" beschrieben wird? Denn naturgemäß verdankt sich der massenhafte Erfolg des Erinnerungsgenres nicht der skeptischen Differenzierung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit bzw. ihrer Konstruktion und einer sorgfältig ausgeloteten Subjektivitäts- und Identitätsarbeit, sondern niedereren Instinkten wie Neugier, Schadenfreude oder Starkult. Jedenfalls lassen die wirklich erfolgreichen Titel dies vermuten. Gemeint sind autobiographisch grundierte Bücher von Dieter Bohlen (2002 Jahresbestseller Nr. 1), Hape Kerkeling (2006 und 2007 Jahresbestseller Nr. 1, 2008 Nr. 2) oder, in kleinerer Münze, von Stefan Effenberg (2002), Boris Becker (2002), Oliver Kahn (2008), Bushido (2008), vielen anderen Show- und Mediengrößen, Politikern des In- und Auslands (zum Beispiel Hillary und Bill Clinton, 2003 und 2004; Helmut und Loki Schmidt, 2008 und 2009; Helmut Kohl, 2004, 2005; Gerhard Schröder, 2006; Barack Obama, 2009) und medial gemachten Stars (Margot Käßmann, 2009). Dass Jana Hensel und Joachim Gauck in diese Dimensionen hineinragen, ist für die ostdeutsche Autobiographik exzeptionell. Gewiss, Verkaufserfolge gab es auch zuvor – und zwar in einer beachtlichen Breite, aber ohne Jahresbestseller zu generieren. Immerhin kletterte Claudia Ruschs "Anti-Zonenkinder" "Meine freie deutsche Jugend" (2003) auf einen Wochenplatz 11 (25.8.2003) und hielt sich danach noch 30 Wochen in der Spitzengruppe der besten 50. Die erfolgreichen Bücher von aus Ostdeutschland stammenden Schauspielern wie beispielsweise Angelica Domröse ("Ich fang mich selber ein", 2003, ca. 20 Platzierungen, Spitze: Platz 8 am 19.5.2003), Manfred Krug ("Mein schönes Leben", 2003; am 22.9.2003 auf Platz 13, ca. 20 Platzierungen bis März 2004), Winfried Glatzeder ("Paul und ich", 2008, Platz 15 am 17.3.2008, 11 Platzierungen) oder Jan Josef Liefers ("Soundtrack meiner Kindheit", 2009, Platz 12 am 21.12.2009, 21 Platzierungen) markieren erneut das Genre der populären Künstlermemoiren. Allerdings ziehen sie doch immer auch die politische Positionierung als darstellende Kulturschaffende in der DDR mit in Betracht; und wenn ein Ost-Superstar wie Frank Schöbel ein 700-seitiges Erinnerungsbuch mit ausführlichem Rekurs auf seine Stasi-Akte vorlegt, so markiert schon der Umfang, dass nicht notwendig leichte Kost geboten wird. Vielmehr erinnert Schöbels ungewöhnliches Buch, auch wenn er seine Fans erreicht hat, an die große Masse der – zumeist ungelesenen – Lebensgeschichten der "ganz normalen Menschen", die das eigentliche erinnerungskulturelle Phänomen darstellen. Blickt man auf die Ebene der politischen Akteure wie der Opfer politischer Aktivitäten in der DDR, so verwundert es vielleicht weniger, dass die aus einem Konvolut von Selbstzeugnissen und Dokumenten 'zusammen gezimmerten' Memoiren der Lotte Ulbricht mit dem irreführenden Titel "Mein Leben" (2003) auf Platz 7 der Bestsellerliste (7.4.2003, weitere 10 Platzierungen) vorstoßen konnte oder Markus Wolf geschickt einen Titel an den anderen reihte, als dass auch Texte, die Widerstand und Resistenz bezeugen, in diese Kategorien reichen. Neben Eva-Maria Neumanns Buch über ihre Erfahrungen im Frauenzuchthaus Hoheneck ("Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit", 2007, Rang 26 am 28.5.2007), ist der ausgesprochene Longseller von Erika Riemann gemeint ("Die Schleife an Stalins Bart. Ein Mädchenstreich, acht Jahre Haft und die Zeit danach", 2002, im November 2003 auf den Wochenplätzen 4 und 5, bis 2004 in der 50er-Liste, auch als Taschenbuch erfolgreich). Mit diesen Autorinnen ist endlich die Ebene der "ganz normalen Menschen" erreicht; doch tritt in diesen Büchern der "Alltag" der Diktatur dem Leser in spannungsgeladener Drastik und ganz und gar nicht "normal" entgegen. Die Literaturgeschichte der DDR-Zuchthäuser, der Erlebnisberichte über Fluchtversuche, Haft, Stasi-Verhör, Willkür und Gewalt, die kleine Opposition und den alltäglichen Widerstand ist noch nicht geschrieben. Einige Klassiker der Zeit bis 1990. stehen hier neben einer Fülle wenig bekannter, gleichwohl eindrucksvoller, oft eigenwilliger, im therapeutischen Erinnerungsakt sich der eigenen Existenz neu bemächtigender Texte. Und was für diese mit spezifisch kritischer Perspektive geschriebene Erinnerungen gilt, darf auch für die mehr oder weniger DDR-affirmativen sowie die eher neutralen der – vorsichtig geschätzt. – weit über 500 selbstständig veröffentlichten Erinnerungstexte zur DDR seit 1990 gelten. Zwischen Marktgängigkeit und Selbsttherapie dürfte mehrheitlich das Letztere den Ausschlag gegeben haben. Und auch für die Höhenkammlinie trifft diese Spannung zu: Sei es die literarische Autobiographie, die am ehesten noch die Aufmerksamkeit der Forschung findet und ab 1991 mit den Titeln von Günter de Bruyn, Heiner Müller, Hermann Kant, Günter Kunert und einem knappen Dutzend weiterer Spitzenautor(inn)en die Gattung der DDR-Erinnerung prägten. Wer wollte es Schriftstellern verargen, dass sie ihre Identitätsmühen zu Markte tragen? Sei es der andere Pol der ostdeutschen Autobiographie-Szene, also die Memoirenwerke (und Interviewbücher) der früheren SED-Größen, zuvörderst fast das halbe Politbüro von 1989 mit Hermann Axen, Werner Eberlein, Kurt Hager, Heinz Kessler, Egon Krenz, Günter Mittag, Hans Modrow, Alfred Neumann, Günther Schabowski, Gerhard Schürer. Natürlich ist das Ausmaß an vorgeschobener bis quälerischer Selbstbefragung einerseits und mehr oder weniger geschickter bis peinlicher Selbstvermarktung andererseits bei den Trägern des Systems nicht nur graduell zu unterscheiden. Die erinnerungskulturelle Provokation liegt aber eben nicht in der Spitze, sondern in der Breite, in der Mächtigkeit des Erinnerungsverlangens auch auf der Ebene der "Normalen", deren Leben indes fast durchweg gar nicht so "normal" war, wenn man genau hinschaut. IV.
Es liegt nahe zu überlegen, ob die Erinnerungsflut nach 1990 eine Antwort auf das Erinnerungstabu nach 1945 ist. Tritt an die Stelle des kommunikativen Beschweigens einer ungeheuerlichen Vergangenheit das rauschhafte Zerreden einer tragikomischen Erfahrung? Oder darf man der Friedlichen Revolution gar so viel Kraft zutrauen, dass sie Deutsche in Ost und West wirklich ermächtigt hätte, sich ihre Geschichten zu erzählen, um sich besser zu verstehen, wie es Richard von Weizsäcker und Christa Wolf hofften? Bei Joachim Gauck mag dies Modell vielleicht aufgehen. Aber trifft es die Masse der Erinnerungstexte? Christiane Lahusen hat jüngst zur Strukturierung dieses Erinnerungsbergs ein dreigestuftes Modell vorgeschlagen, wonach sich zu Anfang der 1990er-Jahre mit "Erinnerungstexten vor allem die Opfer aus der Zeit der SED-Herrschaft zu Wort" gemeldet hätten, die bei einer informationsbegierigen, um Rehabilitierung und Entschädigung bemühten, zumal westdeutschen Öffentlichkeit "wahrgenommen" worden seien. Dieses Interesse sei "bereits nach wenigen Jahren deutlich" zurückgegangen, sodass "die ab Mitte der 90er Jahre en masse erschienenen" Lebenserinnerungen ehemaliger DDR-Funktionäre "im Westen kaum noch wahrgenommen" worden seien, zumal sie in einem ostdeutschen Verlagssegment erschienen und vor allem auf "interne Kommunikation" zielten. Dagegen erschienen die "Erinnerungstexte vieler Künstler, Dichter und Schauspieler [...] zumindest anfangs und teilweise auch heute noch in großen Publikumsverlagen des Westens". Diese Typologie zielt darauf, drei Kategorien – Chronologie, Verlagsstruktur und Autoren- und Texttypus – miteinander zu verflechten, was notwendig zu Komplexitätsreduktionen, auch zu Verzeichnungen führen muss. Der fast synchrone Auftakt mit so unterschiedlichen Texten wie denen von Günther de Bruyn, Manfred Gerlach, Walter Janka, Gustav Just, Hermann Kant, Krenz, Mittag, Vera Oelschlegel oder Schabowski, aber auch "Unbekannten" wie Helmut Eschwege, Jürgen Haase, Reinhardt Hahn oder Horst Wiener erschwert jedes chronologische Argument. Schwieriger beinahe noch zu bewerten ist die These der Rezeptionskurve von Opfern und Tätern: also ob ein sinkendes Interesse an Opfer-Texten das angeblich fehlende für die Funktionärsmemoiren bedingt? Wäre nicht eher die Prämisse des dominanten Interesses an den "Tätern" zu diskutieren, wenn man an die Etappen des deutsch-deutschen Literaturstreits denkt? Andererseits sind ab Mitte der 1990er-Jahre wertvolle autobiographische Dokumente in den verdienstvollen, in ihrer öffentlichen Wahrnehmung aber leider eher begrenzten Schriftenreihen der verschiedenen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen eher für die Forschung "aufbewahrt" als in die lebendige Erinnerungskultur integriert worden. Was nun die Entwicklung eines ostdeutschen Verlagssegments betrifft, so zielt Christiane Lahusen namentlich für die Funktionäre der mittleren Schiene auf die "Rote Reihe" der "edition ost", die mit Erich Honeckers "Moabiter Notizen" ihren ersten großen Buchmarkt-Erfolg hatte, durchaus auch im Westen. Seit 2001 arbeitet die Edition unter dem Dach der Eulenspiegel Verlagsgruppe, die für die medienbekannten Persönlichkeiten die Formate "Das Neue Berlin" oder "Neues Leben" bereithält sowie – eine Etage darunter – das Label "Verlag am Park". Während die Eulenspiegel-Autoren inzwischen keineswegs ihre Erfolge im Verborgenen feiern, geht es im Schkeuditzer GNN-Verlag etliche Stufen unerbittlicher und DDR-affirmativer zu. Hier muss man am Leipziger Messestand gewärtig sein, einfach weggeschickt zu werden, wenn man nach einem Verlagsprogramm zu fragen wagt. Das Spektrum ist also breiter geworden. Neben verinselten Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaften, die nach außen abgeschottet sind und sich nach innen bestärken, neben den offiziell geförderten LStU-Dokumentenreihen und den roten Paperbacks der ehemaligen Vizeminister und Hauptabteilungsleiter, die sich gegenseitig nicht wahrnehmen, steht der namenlose Berg privater Erinnerungen, die im Selbstverlag, als Books on Demand bzw. in entsprechenden Zuschussverlagen hergestellt werden. Der Boom autobiographischer Literatur ist ein Subphänomen einer universellen Verschiebung des erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Koordinatensystems in den letzten 30 Jahren, der weit über das Fallbeispiel DDR hinausreicht, aber hier besonders gut greifbar ist. Diese Verschiebung ist mit einer massiven Depotenzialisierung der Geschichtswissenschaft in ihrer Orientierungs- und Leitfunktion verbunden, die längst von sensiblen Repräsentanten des Fachs wahrgenommen worden ist. Darüber vermag weder die geschichtspolitische Indienstnahme von Historikern in Enquete-Kommissionen und für Gedenkstättenkonzeptionen hinwegtäuschen noch das seit 1990 wild aufblühende Feld der zeithistorischen DDR-Forschung. Das Ergebnis ist eine fundamentale Re-Individualisierung und De-Professionalisierung von Vergangenheit. Ebenso wie auf dem Buchmarkt das Geschichtsbuch und die fachwissenschaftliche Publikation mit den Memoiren und Autobiographien der Akteure um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen, beherrscht die Konkurrenz zwischen Historikern und Zeitzeugen längst die Szene der öffentlichen Aushandlung von Geschichte. Die Prägekraft von Geschichtsbildern in den audiovisuellen Medien, im Fernsehen und im Kino zuerst, in sublimierter Form im Museum oder im Denkmal, tut ein Übriges. Wenn gleichwohl mit der These von der "Erinnerung als Integration" eine versöhnliche Einschätzung dieses Phänomens vorgeschlagen und mit Gaucks Buch in einer gleichsam idealtypischen Lektüre als einlösbar und sogar demokratieförderlich postuliert werden soll, so geschieht dies in der Erwartung, dass es den meisten Menschen ernst ist mit der eigenen Erinnerung. Sie ist ihnen zu wichtig, als dass man die Geschichte allein den Fachleuten überlassen würde, weil diese Geschichte noch im lebendigen kollektiven Austausch ist, weil sie noch immer zu "heiß" ist für die Abkühlung der Historisierung. Insofern ist Erinnerung als Integration zu verstehen: als Pochen auf Anerkennung, als Versuch, wenigstens in der eigenen Geschichte zuhause zu sein in dieser zerklüfteten Gesellschaft. Dies mag im Einzelfall eine Provokation sein, vielleicht sogar eine Ungeheuerlichkeit. Die Frage bleibt, ob Schweigen die bessere Alternative wäre.
Joachim Gauck vor dem Berliner Reichstagsgebäude. Foto aus Gaucks Erinnerungen "Winter im Sommer – Frühling im Herbst". (© Siedler Verlag)
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Buchcover (© Siedler Verlag)
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Christian Führer (© Ullstein Buchverlag)
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Lothar de Maizière (© Herder Verlag)
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Am Institut für Deutschlandforschung der Ruhr-Universität Bochum wird zzt. unter Koordination des Verfassers eine Bibliographie der ostdeutschen Autobiographik seit 1990 erarbeitet, die möglichst vollständig alle einschlägigen Erinnerungstexte sammelt. Vgl. ab Juni 2011 die vorläufige Arbeitsbibliographie unter http://www.rub.de/deutschlandforschung. Der Verfasser dankt der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die das Projekt fördert, und ist für weitergehende bibliographische Hinweise dankbar.
Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009, S. 343–346, Foto 345.
Günter de Bruyn, Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Frankfurt a. M. 1992; Ders., Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, Frankfurt a. M. 1996; vgl. auch Ders., Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1995.
Vgl. Dennis Tate, Shifting Perspectives. East German Autobiographical Narratives before and after the End of the GDR, Rochester 2007, S. 159, 188.
So Goethe im Vorwort zu: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Bd. 1 (1811), zit.: Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 162.
Vgl. Silke Flegel/Frank Hoffmann, Erinnerungen an die DDR. Zur Bedeutung autobiographischer Kontinuitätssuche nach dem Umbruch in Deutschland, in: Claus Erhart/Nathalie Schnitzer (Hg.), Rupture et continuité au pays u tournant. Umbruch und Kontinuität im gewendeten Land, Aix-en-Provence 2010, S. 17–33, mit der Schlussthese (33), dass im "Zeitalter der Ich-Klitterungen" und existentiellen Umbrüche die "kohärente Entfaltung des eigenen Ichs im Sinne des Goetheschen Lebenskonzepts" allenfalls noch bitter-ironisch oder starrsinnig möglich sei.
Heinz-Peter Preußer/Helmut Schmitz, Autobiografik zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, S. 7–20, hier 9.
Heinz-Peter Preußer/Helmut Schmitz, Autobiografik zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, S. 7–20, hier 9, zitieren entsprechend zustimmend eine US-amerikanische Forscherin, die die Differenzierung von Autobiographie und Memoiren nicht mehr, wie bislang üblich, an der Bedeutung von innerer Entwicklung vs. äußerer Funktion der Person (vgl. Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 29f; Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2005, S. 55f) festmacht, sondern daran, ob das Subjekt der "Selbstreflexion fähig" sei.
Christian Führer, Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin 2008.
Der Vergleich der Schilderung dieser Episode bei Christian Führer, Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin 2008, S. 260f, und Günter Grass, Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990, Göttingen 2009, S. 51–58, lohnt sich, weil sie die liebenswürdige Einheitlichkeit des Gottesmanns Führer schlagartig verdeutlicht.
Die folgenden Daten lt. Bestsellerarchiv (Hardcover/Sachbuch) des Branchendienstes Buchreport: http://www.buchreport.de/bestseller/suche_im_bestsellerarchiv.htm [3.5.2011].
Lothar de Maizière, Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit, Freiburg/Br. u.a. 2010.
Vgl. http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=312312 [3.5.2011].
Jana Hensel, Zonenkinder, Reinbek 2002; 2002 u. 2003 jew. Platz 13 der Jahresbestsellerliste, 28.1.2003 mit Rang 3 bester Wochenplatz.
Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder, Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern, Stamsried 2008.
Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2005, S. 1; Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 9; jüngst sprechen Heinz-Peter Preußer/Helmut Schmitz, Autobiografik zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, S. 7–20, hier 7, von einer "nahezu beispiellosen Beliebtheit" des Genres.
Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 20.
Die Identitätsproblematik erarbeitet am Beispiel literarischer Autobiographien Valeska Steinig, Abschied von der DDR. Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der politischen Alternative, Frankfurt a. M. 2007.
Frank Schöbel, Frank und frei. Die Autobiographie, Berlin 1998.
Heinz-Peter Preußer/Helmut Schmitz, Autobiografik zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, S. 7–20, hier 7.
Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West, München 1967, Ellen Thiemann, Stell dich mit den Schergen gut. Erinnerungen an die DDR, Köln 1984. Von beiden Titeln liegen mehrere, z. T. erweiterte Neuausgaben vor.
Mit bewusster Subjektivität nenne ich Dietrich Koch, Das Verhör. Zerstörung und Widerstand, Dresden 2000; Anke Jauch, Die Stasi packt zu. Freiheitsberaubung 1980, Frankfurt a. M. 2007; Siegfried Jahnke, Geschichten aus der GULAG-Welt, Düsseldorf o. J. (2010); Karl Wilhelm Fricke u.a., Der lange Arm der Stasi. Folter, Psychoterror, DDR-Nostalgie, Aachen 2009.
Die Schätzung basiert auf der o. a. bibliographischen Erfassung (vgl. Anm. 1).
Vgl. Jeannete van Laak/Annette Leo, Erinnerungen der Macht. Erinnerungen an die Macht. SED-Funktionäre im autobiographischen Rückblick, in: DA 41 (2008) 6, S. 1060–1067. Christian Jung, Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mitgliedern der SED nach 1989, Heidelberg 2007, bietet noch weit reicheres Material, allerdings die Grenzen der Gattungen (Gerichtsrede, tagesaktuelle Pressegespräche) weit ausdehnend.
Insofern warnt Ute Hirsekorn mit Recht davor, die Funktion dieser Texte lediglich in ihrem "Rechtfertigungs- und Überlebensinteresse" zu sehen, vgl. Dies., Kontinuitäten und Brüche in den Lebensbeschreibungen von Angehörigen der Parteielite der DDR nach der Wende, in: Heinz-Peter Preußer/Helmut Schmitz (Hg.), Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, S. 149–160, hier 150.
Christiane Lahusen, Den Sozialismus erzählen. Autobiografische Interpretationen von Diskontinuitäten, in: Preusser/Schmitz (Anm. 7), S. 139–148, hier 140.
Martin Sabrow, Erinnerung als Pathosformel der Gegenwart, in: Ders. (Hg.), Der Streit um die Erinnerung, Leipzig 2008, S. 9–24; Carsten Heinze, Autobiographie und zeitgeschichtliche Erfahrung. Über autobiographisches Schreiben und Erinnern in sozialkommunikativen Kontexten, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 93–128.
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1 | In Russland wird zurzeit eine leidenschaftliche Kontroverse über das Verhältnis des Landes zum Westen wie auch zu seiner eigenen Vergangenheit geführt. Die Parallelen zum alten Streit zwischen Westlern und Slawophilen sind unverkennbar. Nach dem Scheitern der bolschewistischen Utopie suchen viele russische Intellektuelle Anregungen, ja das Heil im Vergangenen. So kann die Analyse der alten Vorstellungen über den geschichtlichen "Sonderweg" Russlands vielleicht einiges zur Klärung der heutigen Problematik beitragen.
Der Streit um die nationale Identität wird in Russland seit Generationen und in der Regel emotionaler als in den anderen europäischen Ländern geführt. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Russland zu Beginn des 18. Jahrhunderts als erstes nichtabendländisches und souveränes Land den Weg der Westernisierung, der Anlehnung an westliche Strukturen und Denkmodelle, beschritten hatte. Die Selbstgenügsamkeit und die Selbstzufriedenheit der altrussischen Gesellschaft gingen damals jäh zu Ende. Für die überwältigende Mehrheit der Russen und Russinnen brach ihre Welt zusammen. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, eine Art Abbild des Himmelreichs auf Erden (russ. gosudarstvo pravdy), sondern ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst zivilisiert werden musste.
Westernisierung unter Peter dem Großen (1672-1725) als Zäsur
Keine andere Revolution in der Geschichte des Landes, nicht einmal die bolschewistische, erschütterte wohl die bestehende Wertehierarchie so stark wie die Petrinische. Die russischen Herrscher maßen nun das Reich im Wesentlichen mit den abendländischen Kriterien der Effizienz. Das Land begab sich auf eine Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen. Von einem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein konnte angesichts dieser Sachverhalte keine Rede mehr sein. Im 18. Jahrhundert wurden russische Herrscher, vor allem Peter der Große und Katharina II., zu Lieblingen der westlichen Aufklärer. Ihr Unternehmen – ein aus der Sicht des Westens halb-barbarisches Land der europäischen Kultur anzupassen – wurde allgemein bewundert.
Russland nach dem Sieg über Napoleon – Untypisch für Welteroberer
Erst nach dem Sieg des Zarenreiches über Napoleon sollte sich diese Stimmung schlagartig ändern. Während der napoleonischen Kriege noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Russland kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleons angesehen. In der westlichen Öffentlichkeit galt es jetzt beinahe als Axiom, dass Russland, ähnlich wie Napoleon, die Errichtung einer Universalmonarchie anstrebe. Die Tatsache, dass die russischen Truppen sowohl das besetzte Frankreich als auch das befreite Deutschland 1818 vertragsgemäß räumten – ein recht untypisches Vorgehen für einen potentiellen Welteroberer – trug zur Dämpfung der Polemik gegen die Welteroberungspläne Russlands kaum bei. Russische Hegemonialbestrebungen wurden nicht selten als gefährlicher denn diejenigen des napoleonischen Frankreich angesehen, weil Russland als eine nichteuropäische Macht galt. Es stellte nach Ansicht vieler Westeuropäer nicht nur eine militärische und politische, sondern auch kulturelle Herausforderung dar. Es gefährde die okzidentale Art als solche, wurde wiederholt betont.
Pjotr Tschaadajews "Philosophischer Brief" von 1836
Aber nicht nur im Westen, sondern auch in den Augen mancher Vertreter der russischen Bildungsschicht galt das Zarenreich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts als Gefahr für die europäische Zivilisation. Sie identifizierten sich mit den damals im Westen herrschenden anti-russischen Ressentiments. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür stellt der 1836 erschienene "Philosophische Brief" des russischen Denkers Pjotr Tschaadajews (1794-1856) dar, der einen völlig neuen Abschnitt in der russischen Ideengeschichte einleitete. Die eigentliche geistige und kulturelle Entwicklung fand für Tschaadajew in den letzten tausend Jahren lediglich im Westen statt. Russland habe sich an diesem großartigen geschichtlichen Schauspiel nicht als Akteur, sondern lediglich als passiver Zuschauer beteiligt:
"Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt."
Generationenlang bemühten sich sowohl die europäisierte russische Oberschicht als auch die Herrscher des Landes um den Ruf Russlands als einer europäischen Macht. Nun wurde aber dieser Anspruch sowohl vom Westen als auch von den radikalen russischen Kritikern der russischen Eigenart, den "Westlern", massiv in Frage gestellt. Tschaadajew lässt sich als einer ihrer ersten Vertreter bezeichnen. Sein Frontalangriff auf die russische Eigenart trug zweifellos dazu bei, dass viele russische Denker begannen, sich auf die eigenen Traditionen neu zu besinnen. Emotionsgeladene, nicht selten ungerechte Kritik an diesen Traditionen hatte eine genauso emotionale, oft unkritische Apologie zur Folge. Typisch hierfür waren die Gedankengänge der slawophilen Gegenpartei, die sich im Zuge der Polemik um die Thesen Tschaadajews und seiner Gesinnungsgenossen entwickelte.
Die slawophile Rückbesinnung auf das vorpetrinische Russland
Im Gegensatz zu Tschaadajew betrachteten die Slawophilen die Besonderheit der russischen Entwicklung, die sie von der des Westens unterschied, keineswegs als eine Abweichung vom Gesunden und Normalen. Im Gegenteil, diese Eigenart sei ein kostbares Gut, das den eigentlichen Wert der russischen Geschichte ausmache. Und in der Tat übersah Tschaadajew, ähnlich wie andere Westler, die Originalität der vorpetrinischen Kultur, weil er der Orthodoxie, die den Mittelpunkt dieser Kultur bildete, keine besondere Bedeutung beimaß.
Die petrinischen Reformen, die die abendländischen Prinzipien auf Russland übertrugen, wurden von den Slawophilen als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Russland verwirklicht worden sei.
Slawophiles Harmonieideal als Bestandteil der politischen Doktrin Moskaus
Diese Verklärung des alten Russland wurde von den russischen Westlern leidenschaftlich bekämpft. Mit wissenschaftlicher Akribie wiesen sie nach, wie sehr sich die damalige russische Wirklichkeit von dem von den Slawophilen entworfenen Bild unterschied. Und in der Tat hält die Verklärung der altrussischen Gesellschaft durch die Slawophilen einer historischen Prüfung nicht stand. Soziale Spannungen und zahlreiche Bauernaufstände im vorpetrinischen Russland weisen darauf hin, dass die altrussische Gesellschaft keineswegs ein Harmonieideal verkörpert hatte. Trotzdem enthielten die Thesen der Slawophilen einen Wahrheitskern. Zwar wich die altrussische Wirklichkeit erheblich von dem slawophilen Harmonieideal ab, dennoch bildete dieses Ideal einen wichtigen Bestandteil der politischen Doktrin des Moskauer Russland. Dies konnte auch für die soziale und politische Wirklichkeit nicht ohne Folgen bleiben.
Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die Westler den Konflikt mit den Slawophilen endgültig zu ihren Gunsten entschieden zu haben. Der Dichter Aleksander Blok (1880-1921) schrieb 1908 von einem
"barbarischen Streit zwischen Westlern und Slawophilen – einem ausschließlich russischen Streit, der für den Europäer unverständlich und uninteressant ist".
Als Blok diese Worte schrieb, mutete diese Kontroverse, die seit den 1830er-Jahren den roten Faden der russischen Ideengeschichte dargestellt hatte, in der Tat antiquiert an. Russland erlebte damals einen Modernisierungsschub, der seine Strukturen immer stärker an diejenigen des Westens anglich. Das autokratische System verwandelte sich nach der Revolution von 1905 in eine, wenn auch beschränkte, konstitutionelle Monarchie. Einen ähnlichen "Modernisierungsprozess" erlebte auch die intellektuelle Elite des Landes. Sie wurde damals in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der "Fin de Siècle"-Stimmung (1890-1914) erfasst; die russische Avantgarde stellte damals einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen.
Die Revolution von 1917 – ein innerwestlicher Streit auf russischem Boden
Die Revolution von 1917 und der durch sie ausgelöste Bürgerkrieg führten zunächst nicht zu einer Wiederbelebung der alten Kontroverse zwischen Kritikern und Apologeten des Westens. Die Fronten verliefen damals ganz anders. Weder die "Roten" noch die "Weißen" ließen sich in der Regel als Gegner der westlichen Kultur als solcher bezeichnen. Beide Bürgerkriegsparteien wurden von westlichen Ideen inspiriert – vom Marxismus im einen und vom Nationalismus im anderen Fall. Dies war im Grunde ein innerwestlicher Streit auf russischem Boden.
Erst die 1921 im russischen Exil entstandene Eurasierbewegung sollte mit ihrer schrillen Kampfansage an die westliche Kultur in ihrer Gesamtheit neue Akzente im innerrussischen Disput setzen. Die Eurasier waren ähnlich wie zahlreiche westliche Autoren der Meinung, dass Russland nur versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört habe. In Wirklichkeit habe es in Europa nichts zu suchen. Es müsse sich dem Osten zuwenden und das Fenster nach Europa, das Peter der Große geöffnet hatte, schließen. Ihr erster Sammelband trug den programmatischen Titel "Der Auszug nach Osten".
Die Kampfansage an den Westen
Diejenigen Beobachter, die die Eurasier als Fortsetzer der slawophilen und panslawistischen Strömungen betrachten, unterschätzen die Radikalität der eurasischen Kampfansage an den Westen. Ihren angeblichen slawophilen Vorgängern warfen die Gründer der Bewegung – der Sprachwissenschaftler Nikolaj Trubezkoj (1890-1938) und der Geograph Pjotr Sawizkij (1895-1968) – vor, diese hätten die Tatsache, dass Russland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liege, vernachlässigt.
Die Worte des slawophilen Denkers Aleksej Chomjakows (1804-1860) oder Fjodor Dostoewskijs (1821-1881) über die anbetungswürdigen Schätze der westlichen Kultur, über die "heiligen Steine" des Westens, wären bei den Eurasiern undenkbar gewesen. So bleibt die Suche nach den direkten Vorläufern der Eurasier in der russischen Ideengeschichte ergebnislos. Ihre Ideen entsprachen durchaus dem revolutionären Charakter der Periode, in der sie agierten. Dazu zählte z.B. ihre These, dass Russland und die von Europäern unterworfenen Kolonialvölker eine Solidargemeinschaft bildeten. Die Zukunft Russlands liege nicht in seiner Wiederherstellung als europäische Großmacht, sondern darin, dass es zum Führer einer weltweiten Auflehnung gegen Europa werden könne, so Trubezkoj in seiner 1920 erschienenen Schrift "Europa und die Menschheit".
Hier sind verblüffende Parallelen zur Argumentation der Bolschewiki sichtbar, die ebenfalls Russland zum Zentrum der Auflehnung gegen die europäische Hegemonie machen wollten. Indes bestand zwischen den beiden Programmen ein grundlegender Unterschied. Im Gegensatz zu den Eurasiern glaubten die Bolschewiki keineswegs an den Eigenwert der nichteuropäischen Kulturen. Ähnlich wie die Mehrheit der von den Eurasiern so scharf kritisierten Westeuropäer glaubten auch die Bolschewiki daran, dass die westliche Kultur einen universalen Charakter habe.
Scharfe Kritik russischer Intellektueller an den Eurasiern
Die Kampfansage der Eurasier an den Westen rief in der russischen Öffentlichkeit höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Von vielen Vertretern der intellektuellen Elite des Landes, die den Streit zwischen Westlern und Slawophilen für längst überwunden hielten, wurden die Eurasier mit äußerster Schärfe kritisiert. Das Europäische und das Asiatische seien zwei Bestandteile des Wesens Russlands, schrieb 1924 der Philosoph Fjodor Stepun (1884-1965): Auf keine dieser Komponenten könne Russland verzichten, vor keiner könne es fliehen.
Nikolaj Berdjajew (1874-1948) wandte sich seinerseits scharf gegen das manichäische Weltbild der Eurasier. Es sei wenig wahrscheinlich, dass irgendeine Kultur, z.B. die westliche, ein ausschließlicher Träger des Bösen sein könne, wie die Eurasier dies meinten, so Berdjajew. Das Christentum lasse eine solche geographische Einteilung von Gut und Böse nicht zu.
Teile der russischen Emigration sympathisieren mit der eurasischen Idee
Dennoch rief der radikale Antiokzidentalismus der Eurasier in der russischen Emigration nicht nur negative Reaktionen hervor. Ihre Kampfansage an die abendländische Kultur verkündeten die Eurasier unmittelbar nach der vernichtenden Niederlage der Gegner der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg. Diese Niederlage führten viele Emigranten auf die mangelnde Unterstützung und inkonsequente Haltung der Westmächte zurück. Dazu kamen noch die drückende Not des Emigrantendaseins und Anpassungsschwierigkeiten in der fremden, nicht immer wohlgesonnenen Umgebung. All das trug zur Verstärkung antiwestlicher Ressentiments im antibolschewistischen Emigrantenlager bei.
Die Eurasier träumten davon, die kommunistische Partei zu beerben. Die Lage in der Sowjetunion sei zwar besorgniserregend, aber nicht aussichtslos, schrieb Nikolaj Trubezkoj ausgerechnet im Jahre 1937, also in dem Jahr, in dem der stalinistische Terror in der Sowjetunion seinen Höhepunkt erreichte: "Den Ausweg stellt die Ablösung des Marxismus durch eine andere herrschende Idee dar" und es bestand für Trubezkoj kein Zweifel daran, dass diese andere Idee nur die "eurasische" sein könne.
Ein Jahr später starb Trubezkoj, und sein Tod symbolisierte das Ende des "klassischen" Eurasiertums. Es verließ, wie es damals schien, endgültig die politische Bühne. Trotz ihres ausgesprochenen Sendungsbewusstseins vermochten also die Eurasier keine wirksame Alternative zur kommunistischen Ideologie zu entwickeln.
Renaissance unter Alexander Dugin und der Ėlementy-Gruppe
Die Lehre der Eurasier schien ein skurriles und endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils zu sein. Indes herrschen in der Welt der Ideen eigentümliche Gesetze, die immer wieder Überraschungen bereithalten. Die Ende der 1930er Jahre scheinbar endgültig in der Versenkung verschwundenen eurasischen Ideen sollten fünfzig Jahre später eine völlig unerwartete Renaissance erleben. Bereits in der Endphase der Gorbatschew‘schen Perestroika, als die Erosion der kommunistischen Ideologie immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter der imperialen russischen Idee auf die Suche nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker und Religionsgemeinschaften des Sowjetreiches, und entdeckten dabei den eurasischen Gedanken. Mit besonderer Vehemenz tat dies die von Alexander Dugin, gegründete Zeitschrift "Ėlementy" (1992-1998), die sich in ihrem Untertitel sogar als "eurasische Umschau" bezeichnete.
Das ideologische Credo der Ėlementy-Gruppe wies durchaus Übereinstimmungen mit dem Programm der Eurasier auf. Bei beiden Gruppierungen handelt es sich um leidenschaftliche Verfechter des kulturellen Partikularismus und um radikale Gegner universaler Ideen. Die Eurasier hielten den Universalismus für eine Erfindung der Westeuropäer - der "romanisch-germanischen" Völker -, die ihren eigenen Wertvorstellungen und zivilisatorischen Normen einen allgemeingültigen, alle Völker der Welt verpflichtenden Charakter verleihen wollten.
Neuer Feind: westliche bzw. "atlantische" Verfechter des "Mondialismus"
Während die Eurasier den Westen insgesamt, genauer gesagt die "romanisch-germanischen" Völker, als den Feind der gesamten nicht-abendländischen Menschheit betrachteten, reduziert sich das Feindbild der "Ėlementy" nur auf die angelsächsischen Seemächte, auf die sog. "Thalassokratien", deren Interessen denen der Kontinentalmächte angeblich diametral widersprächen. Die Thalassokratien seien für die Abschaffung von Grenzen, für eine Vereinheitlichung von Kulturen, für eine "Melting Pot Gesellschaft". All dies werde von den westlichen bzw. "atlantischen" Verfechtern des "Mondialismus" als Fortschritt apostrophiert.
Die Kontinentalmächte hingegen seien traditionalistisch gesinnt, im Boden verankert. Die kulturelle Eigenart einzelner Völker stelle für sie ein kostbares Gut dar und keineswegs einen störenden Faktor, der dem sogenannten Fortschritt im Wege stehe. Diesen Gegensatz hielten die "Ėlementy" für unüberbrückbar. Die Zeitschrift empfahl allen Gegnern der "Mondialisten" bzw. der angelsächsischen Seemächte, ihre internen Rivalitäten zu beenden und sich auf die Errichtung einer großen kontinentalen Allianz zu konzentrieren – nur auf diese Weise könnten sie im bevorstehenden Endkampf Siegeschancen haben. Diese Allianz sollte alle früheren, aktuellen und potentiellen Gegner der angelsächsischen Demokratien umfassen – Deutschland und Japan, Russland und China, Indien und die islamischen Staaten und schließlich auch das von den Vereinigten Staaten "unterjochte" Westeuropa.
Nicht "Auszug nach Osten!" sondern "Rechtsradikale aus Ost &West vereinigt euch!"
Diese Strategie ist derjenigen der "klassischen" Eurasier geradezu entgegengesetzt. Für die Eurasier lag die Zukunft Russlands nur im Osten, nur im Osten suchten sie nach Verbündeten, die sich an einer gemeinsamen Auflehnung gegen die kulturelle Hegemonie des Westens beteiligen sollten. Bei den "Ėlementy" hingegen spielte die östliche Komponente eher eine untergeordnete Rolle. Ihre wichtigsten Bundes- und Gesinnungsgenossen befanden sich nicht im Osten, sondern im Westen. Dies waren in erster Linie westliche Rechtsextremisten. Vertreter der französischen, der belgischen, der deutschen und der italienischen Rechten meldeten sich in der Zeitschrift unaufhörlich zu Wort, und einige gehörten sogar zu ihren offiziellen Mitherausgebern. So handelten die "Ėlementy" eher nach dem Motto "Rechtsradikale aller Länder – aus Ost und West – vereinigt euch!", statt nach der eurasischen Devise: "Auszug nach Osten!".
Wladimir Putins russozentrische Interpretation
Auch Wladimir Putin kokettiert seit Jahren mit dem eurasischen Gedanken, den er als eine Alternative zur europäischen Idee zu popularisieren sucht. Die "Eurasische Union", die er vor kurzem mit einigen anderen postsowjetischen Republiken gründete, wurde von ihm als Gegenmodell zur Europäischen Union konzipiert. In Wirklichkeit unterscheidet sich aber das Putinsche ideologische Konstrukt grundlegend von den Ideen der "klassischen" Eurasier. Das von Putin angestrebte imperiale Gebilde soll nicht auf einer multikulturellen Synthese, wie sie den Eurasiern vorschwebte, sondern in erster Linie auf russischem Nationalismus basieren.
Mit den eurasischen Ideen hat diese russozentrische Sicht nur wenig Ähnlichkeit, denn bereits 1927 hob Nikolaj Trubezkoj hervor: Die Zeit der Alleinherrschaft der Russen im russischen Reich sei endgültig vorbei. Putins Russozentrismus führt auch zu einer Entfremdung zwischen Moskau und den islamischen Staaten der ehemaligen UdSSR, was ebenfalls keineswegs im Sinne der "klassischen" Eurasier wäre. Das Ausmaß dieser Entfremdung spiegelte sich während der Abstimmung in der UNO-Vollversammlung zur Krim-Frage am 27. 3. 2014 wider. Kein einziger dieser Staaten hatte sich mit Moskau solidarisiert.
Dessen ungeachtet bleibt Russland, trotz der antiwestlichen Tiraden seiner heutigen Machthaber, weiterhin eine "europäische Macht", wie Katharina II. 1767 das von ihr regierte Land definierte. Das "Fenster nach Europa", das Peter der Große zu Beginn des 18. Jahrhunderts geöffnet hatte, veränderte den Charakter Russlands so stark, dass es für die Kritiker der petrinischen Reform nicht mehr möglich war, das Rad der Geschichte auf Dauer zurückzudrehen. Man kann davon ausgehen, dass auch die heutige Infragestellung der "europäischen Wahl" Russlands nicht von Dauer sein wird. Früher oder später wird das Land den zu Beginn dieses Jahrhunderts unterbrochenen Prozess seiner "Rückkehr nach Europa" sicherlich wieder aufnehmen.
Vgl. dazu D. Tschižewskij u.D. Groh, Europa und Rußland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russi-schen Selbstverständnisses, Darmstadt 1959; J.H.Gleason, The Genesis of Russophobia in Great Britain. A Stu-dy of the Interaction of Policy and Opinion, Harvard University Press 1950; R.T.McNally, The Origins of Rus-sophobia in France: 1812-1830, in: The American Slavic and Fast European Review 1958, S.173-189; M.Cadot. La Russie dans la vie intellectuelle française (1839-1856), Paris 1967; O. J. Hammen, Free Europe versus Russia, 1830-1853, in: The American Slavic and East European Review, 1952, S.27-41; L. Müller, Das Rußlandbild der deutschen politischen Flugschriften, Reisewerke, Nachschlagewerke und einiger führender Zeit-schriften und Zeitungen während der Jahre 1832-1853, Diss. München 1953; D. Groh, Rußland und das Selbst-verständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied l961.
P.Čaadaev, Filosofičeskie pis'ma adresovannye dame. Pis'mo pervoe, abgedruckt in: Russkoe obščestvo 30-ch godov XIX v. Ljudi i idei. Memuary sovremennikov, Red. I.A.Fedosov. Moskau 1989, S.120-134 (deutsche Übersetzung in: Tschižewskij u.Groh, Europa S.84).
Siehe u.a. N.Berdjaev, Russkaja ideja. Osnovnye problemy russkoj mysli XIX veka i načala XX veka, Paris 1971; V.Zen'kovskij, Russkie mysliteli i Evropa. Kritika evropejskoj kul'tury u russkich myslitelej, 2.Aufl., Paris 1955; N.V.Riasanovsky, Russia and the West in the Teachings of the Slavophiles. A Study of Romantic Ideolo-gy, Harvard University Press 1952; ders., Nicholas I and official Nationality in Russia 1825-1855, Berkeley 1959; ders., A Parting of Ways. Government and the educated Public in Russia in 1801-1855, Oxford 1976; P.K. Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism, 3 Bände (Bd.l A.S.Xomjakov, Bd.2 I.V.Kireevskij, Bd. 3 K.S.Aksakov), 'S-Gravenhage-Princeton/N.J., The Hague, Paris 1961-1982; A. Walicki, The Slavophile Controversy: History of a Conservative Utopia in Nineteenth-Century Russian Thought, Oxford 1969.
Siehe u.a. B.Čičerin, Vospominanija. Moskva sorokovych godov, Moskau 1929, S.20ff, 225-238.
A. Blok, Sobranie sočinenij, Band 5, Moskau-Leningrad 1962, S.332.
Ischod k vostoku. Predčuvstvija i sveršenija. Utverždenie evrazijcev. Sofia 1921.
N. Trubeckoj, Evropa i čelovečestvo, in: ders.: Istorija. Kul´tura. Jazyk, Moskau 1995, S.55-104.
F. Stepun, Evraziskij vremennik. Knig tret´ja, in: Sovremennye zapiski, 21, 1924, S.405f.
N. Berdjaev, Evrazijcy, in: Put´, 1, 1925, S.134-139.
Trubeckoj, Istorija. Kul´tura. Jazyk, S. 446.
Rossija i prostranstvo, in: Ėlementy., 4, 1993, S.31-35.
N. Trubeckoj, Obščeevrazijskij nacionalizm, in: Evrazijskaja chronika 9, 1927, S.24-30.
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0 | Dies schliesst nicht aus, dass dennoch ein Gefühl an bestimmten einzelnen
Empfindungsinhalten oder Komplexen von solchen in gewissem Sinne "haften"
könne und als an ihnen haftend sich uns darstelle. Wir müssen nur wissen,
was wir damit meinen und einzig meinen können. In dem gesamten
psychischen Leben eines Momentes sind nicht alle Elemente psychisch
gleichwertig. Sondern die einen treten beherrschend hervor, die anderen
treten zurück. Und es treten in aufeinanderfolgenden Momenten bald diese
bald jene Elemente hervor oder zurück. Damit ändert sich auch das Gefühl.
Es gewinnt jetzt diesen, jetzt jenen Charakter. Es wandelt sich etwa,
indem ein bestimmter psychischer Inhalt, eine bestimmte Empfindung oder
Vorstellung, hervortritt, ein Gefühl, das Lustcharakter besass, in ein
unlustgefärbtes, und diese Färbung wird immer deutlicher, jemehr jener
bestimmte Inhalt hervortritt. Dann kann ich sagen, es hafte diese
Unlustfärbung meines Gefühles, oder auch: es hafte ein Gefühl der Unlust
an diesem Inhalte. Das einheitliche oder einfache Gesamtgefühl bleibt
dann doch durch den psychischen Gesamtzustand bedingt. Nur ist zugleich
eben dieser psychische Gesamtzustand vorzugsweise durch jenen bestimmten,
in ihm hervorstrebenden _Inhalt_ bedingt. | 234,881 |
0 | »Reden wir nicht weiter davon,« sagte Jeremias, indem er die Cigarre
in die Tasche schob und mit dem Fuße den neben ihm liegenden Haufen
Blättertabak etwas lockerte -- »Sie können wahrscheinlich den Tabaksgeruch
nicht vertragen. Soll ich dem Köhler das Geld gleich mit hinauf nehmen?
denn er wollte sofort Antwort haben, weil jetzt gerade Gelegenheit ist,
den Tabak nach Rio Grande zu schicken.« | 234,882 |
1 | Flüchtlingsverteilung in der EU: Solidarität sieht anders aus
Die Dublin-Verordnung ist ungerecht und funktioniert nicht mehr. In Sofia beraten die Innenminister über ein neues System für die EU.
Ein ungerechtes System: laut Dublin müssen die EU-Ankunftsländer die Asylverfahren durchführen Foto: dpa
BRÜSSEL taz | Für Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn ist der Fall klar: Die Europäische Union braucht ein neues System zur Umverteilung von Flüchtlingen. In Krisenzeiten könne nicht die ganze Last auf den Südländern liegen, sagte Asselborn bei einem Ratstreffen in Sofia. „Wenn wir das nicht hinkriegen, werden wir darin ersticken“, warnte er.
Bisher war auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière dieser Meinung. Deutschland hat sich sogar besonders für ein neues Quotensystem starkgemacht – schließlich trägt es seit 2015 die größte Last in Europa. Doch nun signalisierte de Maizière einen Kurswechsel. Berlin sei bereit, den Umverteilungsstreit zu vertagen, so der CDU-Politiker in der bulgarischen Hauptstadt.
Beim letzten EU-Gipfel im Dezember hätte dieser Streit fast zum Eklat geführt. Denn nicht nur Polen und Ungarn stellten sich gegen die Quote. Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk nannte das bisherige System der Umverteilung „ineffizient“ und „spalterisch“. Danach schwenkte auch die neue Regierung in Österreich auf ein Nein.
Der Gegenwind zeigt Wirkung: „In der Substanz brauchen wir […] selbstverständlich eine faire Verteilung“, sagte de Maizière (CDU) am Donnerstag in Sofia. Um Fortschritte bei der geplanten Reform des Asyl- und Flüchtlingssystems zu erzielen, sei es aber wohl sinnvoll, sich erst einmal auf andere Themen zu konzentrieren.
De Maizière fordert gleiche Aufnahmebedingungen
Als Beispiele nannte de Maizière europäische Regelungen für den Umgang mit Asylsuchenden und gemeinsame Aufnahmebedingungen. Doch dies sind nur kleine Bausteine der geplanten großen Reform der Asylpolitik, die bis Juni über die Bühne gehen soll. Dreh- und Angelpunkt war bisher immer eine neue, gerechtere Umverteilung.
Davon ist die EU auch heute noch weit entfernt. So sitzen in Griechenland immer noch Tausende Flüchtlinge auf den Inseln fest, weil sowohl die Anerkennungsverfahren als auch die Umverteilung stocken. Auch Italien fühlt sich mit den Bootsflüchtlingen aus Libyen alleingelassen.
Statt über neue Formen der Solidarität nachzudenken, wollen sich die Europäer jedoch zunächst stärker abschotten. „Je geringer die Zahl von illegalen Migranten ist, die nach Europa kommen, umso weniger relevant ist das Problem der Verteilung von Schutzbedürftigen, und umso leichter erreicht man sicherlich eine Einigung zur Verteilung“, erklärte de Maizière seinen überraschenden Schwenk.
Wie ein anderes Modell als die umstrittenen Quoten aussehen kann, ist offen
Doch was passiert, wenn bis Juni immer noch keine Lösung gefunden wird? Könnte Deutschland dann ganz auf die umstrittenen Quoten verzichten? „Das entscheiden wir am Ende der Verhandlungen“, sagte de Maizière. Offenbar möchte er weiter Druck auf Österreich und die Osteuropäer ausüben. Doch wie ein anderes Modell aussehen könnte, ist bislang offen. Das informelle Treffen in der bulgarischen Hauptstadt endet am Freitag.
EuGH-Urteil könnte Dublin außer Kraft setzen
Wie verfahren die Lage ist, macht ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) deutlich. Illegal in ein EU-Land eingereiste Asylbewerber dürfen demnach nicht ohne Weiteres in den EU-Staat zurückgeschickt werden, in dem sie erstmals Asyl beantragt haben. Es müsse wieder ein mehrstufiges Verfahren durchlaufen werden, urteilten die Luxemburger Richter am Donnerstag.
Im konkreten Fall hatte ein Syrer in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Dabei wurde festgestellt, dass er zuvor bereits in Italien internationalen Schutz beantragt hatte. Deutschland bat Italien daraufhin um seine Wiederaufnahme. Als die italienischen Behörden nicht Nein sagten, lehnte Deutschland den Asylantrag des Syrers ab und schickte ihn wieder nach Italien. Er kehrte kurz darauf illegal nach Deutschland zurück.
Nach dem EuGH-Urteil hat der Syrer nun gute Chancen, in Deutschland zu bleiben. Und die Bundesregierung hat ein weiteres Problem mit der – nur auf dem Papier – gemeinsamen Asylpolitik. Bisher gilt die Regel, dass jenes Land für einen Asylantrag zuständig ist, in dem ein Flüchtling in die EU eingereist ist. In der Praxis sind dies meist Italien oder Griechenland. Dieses so genannte Dublin-System war jedoch 2015 zusammengebrochen. | 234,883 |
1 | Chinas „Sicherheitsgesetz“ für Hongkong: Für die Welt ein Weckruf
Peking setzt sich über einen völkerrechtlichen Vertrag hinweg und hebelt die Autonomie Hongkongs aus. Das darf international nicht folgenlos bleiben.
Trotz heftiger Proteste, es ist schlimmer denn je: Sonnenuntergang in Hongkong am 29. Juni Foto: Tyrone Siu/reuters
Was für eine bittere Ironie: Hongkongs Demokratiebewegung hat 2003 und 2019 mit Massenprotesten erst ein sogenanntes Sicherheitsgesetz und dann das umstrittene Auslieferungsgesetz verhindert. Die ursprünglich von Peking in Aussicht gestellten demokratischen Wahlen hatten zwar bisher nicht erkämpft werden können.
Aber der Druck der Demokratiebewegung in der autonomen Metropole nahm trotz widriger Umstände stetig zu und führte im November 2019 bei den Distriktwahlen zu einem Erdrutschsieg. Doch jetzt schafft die Regierung in Peking mit der hastigen Verabschiedung eines obskuren Sicherheitsgesetzes einfach Fakten, die viel repressiver sind als alle bisher verhinderten Gesetze und zugleich noch Hongkongs Autonomie umgehen.
Dabei waren bis Dienstag spätabends chinesischer Zeit die Details des verabschiedeten Gesetzes noch nicht bekannt. Am lokalen Parlament vorbei wurde der Stadt ein Gesetz übergestülpt, das Chinas Regierung auch künftig nach Gutdünken die Aushebelung der Hongkong bis 2047 zugesagten Autonomie erlaubt und pekingkritische Gruppen direkt bedroht.
Beunruhigend ist dabei nicht nur der obskure Inhalt des Gesetzes, sondern auch die intransparente Art seiner Verabschiedung. Es wurde nicht einmal mehr versucht, den Anschein eines demokratischen Verfahrens zu erwecken. Vielmehr war dies die Machtdemonstration einer Diktatur mit dem Ziel der Einschüchterung ihrer Kritiker.
Hongkongs Demokratiebewegung beklagt seit Jahren eine Aufweichung der auf 50 Jahre angelegten Autonomie der Stadt, die Peking 1984 der damaligen Kolonialmacht Großbritannien vertraglich zugesichert hatte. Jetzt setzt sich Peking nicht nur über Hongkongs Institutionen hinweg, sondern auch über einen völkerrechtlichen Vertrag, indem es die Zukunft der Stadt zur alleinigen Angelegenheit Chinas erklärt. Peking zeigt sich damit als unzuverlässiger Vertragspartner, was international nicht folgenlos bleiben darf.
In Hongkong selbst soll das neue Gesetz schon ab dem 1. Juli gelten, dem 23. Jahrestag der Rückgabe der Stadt von Großbritannien an China. Erstmals wurden Proteste an diesem Tag verboten, nach dem neuen Gesetz drohen Strafen. Und bei den für September angesetzten Wahlen für Hongkongs Legislativrat kann Peking unliebsame Kandidaten jetzt ausschalten. Das Sicherheitsgesetz zeigt, Pekings Zusagen kann nicht getraut werden. Für Hongkong ist das ein Albtraum, für den Rest der Welt ein Weckruf. | 234,884 |
1 | Kommentar AfD und alternatives Milieu: In der Schweiz ist Weidel grün-links
Alice Weidel hat eine aus Syrien geflüchtete Putzfrau, so der aktuelle Skandal. Tatsächlich hat sie noch viel mehr Kontakt zur alternativen Szene.
Mut zu Deutschland, aber nicht zur Schweizer Heimat mit integrierten MigrantInnen? Foto: dpa
Wer den Mund spitzt, muss auch flöten können: So heißt das in norddeutschem Idiom, wenn jemand nach oben will und dort Durchhaltevermögen beweisen muss. Alice Weidel, die Spitzenkandidatin der AfD, hätte wenigstens ahnen können, dass auch ihr Privates ermittelt werden kann, ehe sie den prominenten Posten bekleidete, den ja eigentlich Frauke Petry für sich beansprucht. Jedenfalls wusste das Publikum, also wir, schon vor Erscheinen der aktuellen Ausgabe der Zeit, dass sie überwiegend in der Schweiz zu Hause ist und dort mit ihrer Frau eine Familie hat.
Das Zeitungsstück, das die Person Weidels skandalisiert, kreist um die – vonseiten Weidels nicht dementierte – Tatsache, dass die Politikerin und ihre Frau am Wohnort Biel, Schweiz, eine Asylbewerberin als Putzfrau („Freundin“) beschäftig-(t)en. Aber ausgerechnet das soll ein Anlass sein, Alice Weidel politisch zu erledigen?
Grund zur Aufregung ist nicht, dass Weidel Personen bezahlt, die sie, so lernten wir, kategoriell politisch ablehnt, Personen ohne deutschen (oder schweizerischen) Pass, Flüchtlinge und Migranten. Letzteres wussten wir – und das ist ein Grund, sie und ihre Partei nicht zu wählen. Irritieren sollte uns vielmehr, dass Weidel und ihre Frau zur, im weitesten Sinne, grünalternativlibertären Szene von Biel zählen. In dieser – wie in unserer – Szene gibt es große Verstörung ob der Denkweisen Weidels.
Wir als solide Die-Welt-soll-besser-werden-Menschen müssen nun lernen: Die Kultur, die die AfD politisch zu beleben sucht, eine rassistische, vor allem aber elitäre, ist auch unter Grünalternativen zu Hause – und diese Weltanschauung, ja, die Klassenlage als mittelschichtsorientierte, antiproletarische Ökos deutet auf eine gewisse Affinität zu Exklusionswünschen (gegen den migrantischen Pöbel, ironisch gesagt) hin.
Wenn sich also Alice Weidel rassistisch äußert und so kenntlich wird als eine Frau, die Einwanderer mit – aus ihrer Sicht – falscher Hautfarbe und misslicher Religion verabscheut, muss das keine Überraschung sein, nur weil sie lesbisch verheiratete Mutter ist und auf ein geschmackvolles Leben setzt. Insofern ist die Personalie ihrer Putzhilfe kein Widerspruch. Ein oft verhohlener Elitismus ist ja in grünalternativen Kreisen durchaus üblich: Hier anschlussfähig zu sein, muss nicht Alice Weidel zum Grübeln bringen – sondern jenes Milieu, in dem sie gern lebt. | 234,885 |
1 | +++ Nachrichten im Ukrainekrieg +++: Biden besucht Kyjiw
US-Präsident Biden besucht auf dem Weg nach Warschau Selenski in Kyjiw. Die EU-Außenminister planen das zehnte Sanktionspaket gegen den Aggressor.
US-Präsident Biden besucht mit Selenski die Michaelskathedrale in Kyjiw Foto: Gleb Garanich/reuters
Nawalny: Erholung Russlands nur durch Ende der Diktatur Putins
Russland hat nach Ansicht des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny einen Tiefpunkt erreicht, von dem es sich nur lösen könne, wenn die Diktatur von Präsident Wladimir Putin beendet werde. „Zehntausende unschuldiger Ukrainer wurden ermordet, und Millionen weitere Menschen haben Schmerz und Leid erfahren“, teilt er über den Twitter-Account eines Freundes angesichts der Invasion der Ukraine mit. Nawalny fordert eine internationale Untersuchung von Kriegsverbrechen.(rtr)
Chinas Spitzendiplomat zu Gesprächen in Budapest
China will nach eigenen Angaben zusammen mit Ungarn an einer Friedenslösung für den Ukraine-Krieg arbeiten. Das sagt Chinas Spitzendiplomat Wang Yi bei einem Besuch in Budapest. Das EU-Land vertritt in dem Konflikt anders als die anderen 26 EU-Staaten eine Russland-freundlichere Politik, hat allerdings alle Sanktionspakete gegen Moskau mitgetragen. (rtr)
Biden in der Ukraine
Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.Externen Inhalt erlaubenAs we approach the anniversary of Russia’s brutal invasion of Ukraine, I'm in Kyiv today to meet with President Zelenskyy and reaffirm our unwavering commitment to Ukraine’s democracy, sovereignty, and territorial integrity.— President Biden (@POTUS) February 20, 2023
US-Präsident Joe Biden trifft sich in Kyjiw mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Zuletzt kamen die beiden Staatschefs am 21. Dezember 2022 in Washington zusammen. Der US-Präsident reist danach weiter nach Warschau, um mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda zu beraten. Es soll auch bei diesem Gespräch um den Jahrestag des Beginns der großangelegten Invasion vor einem Jahr gehen.
Auf seinem Programm steht am Dienstag unter anderem ein Gespräch mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda. Zudem will er eine Rede halten. Biden will am Mittwoch nach Angaben des Weißen Hauses auch die Staats- und Regierungschefs mehrerer mittel- und osteuropäischen Nato-Mitglieder treffen.
Bei seinem Besuch in Kiew hat US-Präsident Joe Biden zusätzliche Waffenlieferungen an die Ukraine zugesagt. Biden sicherte dem Land im Krieg gegen Russland die „unerschüttliche“ Unterstützung der USA zu, wie das Weiße Haus am Montag in einer Erklärung mitteilte. Biden sagte demnach, er werde die Lieferung weiterer Waffen ankündigen, darunter Artilleriemunition, Panzerabwehr-Systeme und Überwachungsradare zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung gegen Luftangriffe.
Die USA sind der wichtigste Unterstützer der Ukraine im Krieg gegen Russland. Washington hat dem angegriffenen Land seit Kriegsbeginn bereits Waffen und andere Rüstungsgüter im Wert von rund 30 Milliarden Dollar (knapp 28 Milliarden Euro) zugesagt. (taz/afp)
Japan kündigt weitere Finanzhilfe für Ukraine an
Japan will die von Russland angegriffene Ukraine mit weiteren 5,5 Milliarden Dollar (4,7 Milliarden Euro) unterstützen. Das kündigte der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida am Montag an. Zudem plant Kishida für Freitag, den ersten Jahrestag des Beginns des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, ein Online-Treffen mit den Partnern der Gruppe der G7 westlicher Wirtschaftsmächte. Hierzu wolle er auch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit einladen, sagte Kishida laut japanischen Medien bei einem Treffen seiner regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) in Tokio.
Zur G7 gehören Deutschland, die USA, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada und Japan. Japan hat in diesem Jahr die G7-Präsidentschaft und richtet im Mai unter dem Vorsitz von Kishida in dessen Heimatstadt Hiroshima das G7-Gipfeltreffen aus. Japan hat im Einklang mit dem Westen Sanktionen gegen Russland verhängt und unterstützt die Ukraine, liefert allerdings keine Waffen an das Land.(dpa)
Klingbeil auch für mehr Geld für die Bundeswehr
SPD-Chef Lars Klingbeil unterstützt die Forderung von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nach mehr Geld für die Bundeswehr. Er verwies dabei auf das Nato-Ziel, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung einzusetzen: „Jetzt wird das umgesetzt“, stellte er klar.
Pistorius hatte deutlich gemacht, dass die Bundeswehr ungeachtet des im vergangenen Jahr beschlossenen 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens mehr Geld benötigt, unter anderem, um akute Lücken bei Munition und Ausrüstung zu schließen. Dabei spielen auch die Unterstützungslieferungen an die Ukraine aus Bundeswehrbeständen eine wichtige Rolle. Zudem verwies Pistorius auf zu erwartende Mehrkosten im Personalbereich in Verbindung mit der aktuellen Tarifrunde.
„Wir gehen jetzt in die Haushaltsverhandlung für die nächsten Jahre“, sagte dazu Klingbeil „Da hat Boris Pistorius klargemacht, dass er sich eben wünscht, dass noch mehr Geld für Verteidigung zur Verfügung steht.“ Der SPD-Chef erinnerte daran, dass sich auch der Bundestag zur Einhaltung des 2-Prozent-Ziels bekannt habe.Die Eckpunkte für den Haushalt 2024 und der Finanzplan für die folgenden Jahre sollen im März vom Kabinett beschlossen werden. (afp)
Asselborn warnt China vor Waffenlieferungen an Russland
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat vor einer Zuspitzung des Ukrainekriegs durch chinesische Waffenlieferungen an Russland gewarnt. „Das wäre eine Wende – und nicht zum Guten“, sagte Asselborn am Montag im Deutschlandfunk. Falls China tatsächlich Waffen an Russland liefere, müsse dies Konsequenzen für den Umgang mit der Volksrepublik haben. „Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt“, sagte Asselborn. „Aber auch verkappte Waffenlieferungen hätten Konsequenzen.“
Zuvor hatten sich die USA besorgt über mögliche Lieferungen gezeigt. Außenminister Antony Blinken berichtete am Sonntag im Fernsehsender CBS von Informationen, wonach China „in Erwägung zieht, tödliche Unterstützung“ an Russland zu liefern. Auf Nachfrage, was er damit meine, antwortete Blinken: „Waffen, in erster Linie Waffen.“ (dpa)
Russische Angriffe in Charkiw abgewehrt
Die Ukraine weist russische Angaben über eine Eroberung des Dorfes Hrianykiwka in der nordöstlichen Region Charkiw zurück. Die ukrainischen Streitkräfte hätten russische Angriffe in der Umgebung des Dorfes zurückgeschlagen, teilt der Generalstab mit. Die russischen Truppen würde das Gebiet aber weiterhin mit Artillerie beschießen. Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte am Samstag erklärt, russische Streitkräfte hätten das Dorf erobert. (rtr)
Russland klagt 680 Ukrainer wegen Kriegsverbrechen an
Russland leitet einem Bericht zufolge Ermittlungen gegen Hunderte ukrainische Regierungsvertreter und Soldaten wegen Kriegsverbrechen ein. „Derzeit laufen Strafverfolgungsverfahren gegen 680 Personen“, zitiert die staatliche Nachrichtenagentur Tass Alexander Bastrykin, Leiter des russischen Ermittlungskomitees.
„Zu den Beschuldigten zählen 118 Personen aus dem Kreis der Kommandeure und der Führung der ukrainischen Streitkräfte sowie des Verteidigungsministeriums.“ Es gehe um den Einsatz von Waffen gegen die Zivilbevölkerung. 138 der betroffenen Personen seien in Abwesenheit angeklagt worden. Reuters konnte die Angaben des Ausschusses nicht sofort unabhängig überprüfen. Die ukrainischen Behörden waren zunächst nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. (rtr)
Pistorius besucht ukrainische Soldaten in Munster
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) besucht am Montag ukrainische Soldaten, die in Deutschland am Kampfpanzer Leopard 2 und am Schützenpanzer Marder ausgebildet werden. Er wird dazu auf dem Truppenübungsplatz Munster in Niedersachsen erwartet.
Deutschland hatte der Ukraine im Januar erstmals die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern zugesagt. Bis März soll die Bundeswehr Kiew 14 moderne Leopard-2-Kampfpanzer zur Verfügung stellen. Aus Industriebeständen sollen zudem 40 Marder-Schützenpanzer kommen. (afp)
EU-Außenminister treffen Kuleba in Brüssel
Die Außenminister der Europäischen Union beraten am Montag ab 9.30 Uhr in Brüssel über weitere Unterstützung für die Ukraine. Der ukrainische Chefdiplomat Dmytro Kuleba wird persönlich zu dem Treffen erwartet. Die EU bereitet zum Jahrestag des russischen Angriffs am Freitag ein zehntes Sanktionspaket gegen Russland vor. Kuleba dürfte laut Diplomaten zudem weitere Militärhilfe für Kyjiw und Fortschritte im Beitrittsprozess fordern.
Auch gegen den Iran könnten die Außenminister weitere Sanktionen wegen der Gewalt gegen Demonstranten auf den Weg bringen. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz hatten die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien am Wochenende zudem vor einer „nuklearen Eskalation“ durch das Atomprogramm des Iran gewarnt. (afp)
Selenski erlässt neue Sanktionen gegen Russland
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat neue Sanktionen gegen den Finanzsektor Russlands erlassen, um die Kriegswirtschaft des Aggressors zu schwächen. Belegt mit Strafmaßnahmen sind demnach nicht nur Vertreter des Bankenwesens in Russland, sondern auch die Moskauer Börse. „Heute gibt es einen neuen Sanktionsschritt unseres Staates gegen all jene, die die russische Aggression speisen“, sagte Selenski in seiner am Sonntag in Kiew verbreiteten allabendlichen Videoansprache. Die Sanktionen seien Grundlage für Verbündete im Westen, ebenfalls solche Strafmaßnahmen zu erlassen.
Selenski erinnerte daran, dass mit Blick auf den Jahrestag des Beginns des russischen Angriffskrieges nun bereits das zehnte Sanktionspaket in Arbeit sei. „Wir arbeiten mit unseren Partnern daran, es zu verstärken“, sagte der Staatschef. Darüber hinaus wollen an diesem Montag die Außenminister der Europäischen Union in Brüssel beraten. Selenski forderte, dass sich jeder verantwortungsbewusste Staat den „Sanktionen gegen den Terror“ anschließen solle.
Der Präsident berichtete zudem, dass er sich von Generälen über die Lage an der Front habe informieren lassen. Details nannte er nicht. „Die Situation ist sehr schwierig“, sagte er mit Blick auf die Kämpfe im Osten der Ukraine. Je mehr Verluste Russland in Bachmut, Wuhledar und anderen Orten im Donbass erleide, desto schneller könne die Ukraine den Krieg mit einem Sieg beenden. (dpa)
USA bleibt bei Nein zu Kampfjets für die Ukraine
Die USA bleiben ungeachtet des Drängens der Ukraine beim Nein zur Lieferung von Kampfjets. „Der Schwerpunkt muss darauf liegen, was die in den nächsten Monaten gebrauchen können, und zwar effektiv in den nächsten paar Monaten und nicht in den nächsten paar Jahren gebrauchen können“, sagt US-Außenminister Antony Blinken dem Sender ABC. Die Ausbildung auf Kampfjets westlicher Bauart gilt als langwierig und anspruchsvoll. (rtr) | 234,886 |
0 | Die Farbenpracht dieser Schöpfungen ist aufs höchste gesteigert,
namentlich ist das leuchtende Rot nun eine stets wieder dominierende
Note. Die Worte Kellers: „Schauen wir der Iris Bogen, wenn der hellste
Himmel blaut“, passen auf keine Epoche Böcklins so gut wie auf die
Zürcher Zeit. Der Meister liebte die Farben des Zürcher Sees und der
neue Wohnort war sicher von Einfluß auf sein Kolorit. Es sind auch die
Motive einiger gefeierter Bilder in der Umgebung seines Wohnsitzes
festgestellt worden. Um alles zu erreichen, was im Bilde zu sagen ist,
versucht er es jetzt auch mit mehrteiligen Gemälden, wo der Gegensatz
des einen Bildes die Wirkung des andern steigern sollte; so entstanden
die „Mariensage“, der „Hl. Antonius, den Fischen predigend“ (Taf. 92),
die „Venus Genitrix“ (Taf. 94), die zwar erst später signiert, aber
schon 1892 fast vollendet gewesen ist. | 234,887 |
0 | Wir waren auf dem Gipfel jener Stiegen,
Wo sich des Berges zweiter Abschnitt zeigt,
Des Bergs, der läutert, die hinaufgestiegen.
Hier, wo man auf den zweiten Vorsprung steigt,
Der, gleich dem ersten, rings die Höh umwindet,
Nur daß ein Bogen noch sich schneller beugt,
Hier ist kein Bild, und jedes Zeichen schwindet,
Daher man glatt den Weg und das Gestad
Von des Gesteins schwarzgelber Farbe findet.
"Dafern wir harrten, bis der Führer naht,"
So sprach Virgil darauf, "hier säumig stehend,
So wählten wir zu spät wohl unsern Pfad."
Dann macht er, festen Blicks zur Sonne sehend,
Für die Bewegung seinen rechten Fuß
Zum Mittelpunkt, sich mit dem linken drehend.
"O süßes Licht, du flößest den Entschluß
Zum neuen Weg mir ein, du führ uns weiter,"
Begann er, "wie ein treuer Führer muß.
Du wärmst die Welt, du machst sie hell und heiter;
Nie wandle man, wenn sich dein Glanz verhehlt,
Drängt nicht die Not, und er sei unser Leiter."
Soviel man hier auf eine Miglie zählt,
So weit schon gingen wir auf jenen Pfaden
In wenig Zeit, vom regen Trieb beseelt.
Ein Geisterzug flog längs den Felsgestaden,
Gehört, doch nicht gesehn, herbei und schien
Zum Tisch der Lieb uns freundlich einzuladen.
Der erste Geist rief im Vorüberfliehn:
Sie haben keinen Wein! Die Worte klangen
Dann nochmals hinter uns im Weiterziehn.
Und eh sie, sich entfernend, ganz verklangen,
Da rief: Ich bin Orest!--ein zweiter Geist,
Und war im schnellen Flug vorbeigegangen.
"O", sprach ich, "Vater, sage, was dies heißt?"
Da klang die dritte Stimm in meine Frage
Und rief: Liebt den, der Böses euch erweist.
Und er: "Du findest hier des Neides Plage!
Gegeißelt wird er hier, doch Liebe schwingt
Der strengen Geißel Schnur zu jedem Schlage.
Doch wisse, daß der Zügel anders klingt.
Du wirst ihn hören, eh im Weitergehen
Dein Fuß zum Passe der Verzeihung dringt.
Versuch es jetzo, scharf dorthin zu spähen,
Und vor uns wirst du Leute, langgereiht,
An dieser Wand des Felsens sitzen sehen.
Da öffnet ich sogleich die Augen weit
Und sah die Schatten an der Felsenhalle,
An Farbe dem Gesteine gleich ihr Kleid.
Und näher hört ich sie mit lautem Schalle
"Bitte für uns, Maria!" brünstig schrein,
"Michael und Petrus und ihr Heilgen alle!"
Möcht einer noch so hart und grausam sein,
Vor Mitleid wäre doch sein Herz entglommen,
Hält er, wie ich, gesehn der Armen Pein.
Denn als ich nun so nahe hingekommen,
Daß ich Gebärd und Angesicht erkannt,
Da ward mein Herz durchs Auge schwer beklommen.
Ihr Anzug war ein schlechtes Bußgewand;
Sie lehnten sich an sich und ihren Rücken
Sie allesamt an jene Felsenwand;
Den Blinden gleich, die Not und Hunger drücken,
Und die an Ablaßtagen bettelnd stehn,
Und, Kopf an Kopf gedrängt, sich kläglich bücken,
Indem sie, um das Mitleid zu erhöhn,
Nicht minder mit den jämmerlichen Mienen,
Als mit den lauten Jammerworten flehn.
Und, gleich den armen Blinden, war auch ihnen
Den bangen Schatten, welchen ich genaht,
Der Glanz des Himmelslichts umsonst erschienen.
Gebohrt war durch die Augenlider Draht,
Ihr Auge, wie des Sperbers, ganz vernähen;
Der, wild, nicht nach des Jägers Willen tat.
Mir aber schien es unrecht, daß ich sehend,
Doch ungesehn dort ging, drum wandt ich mich
Zum weisen Rat, nach seiner Meinung spähend.
Er, der sogleich erriet, weswegen ich
Noch stumm, auf ihn die Blicke fragend lenkte,
Sprach: "Rede jetzt, doch kurz und sinnig sprich."
An jener Seite, wo der Fels sich senkte,
Ging mir Virgil, wo leicht zu fallen war,
Weil kein Geländer dort den Rand verschränkte;
Zur andern Seite saß die fromme Schar,
Und durch die grause Naht gepreßte Zähren,
Die ihre Wangen netzten, nahm ich wahr.
"Ihr, sicher, euch im Lichte zu verklären,"
Begann ich nun, "das einzig euer Traum,
Das einzig euer Wunsch ist und Begehren,
Die Gnade lös euch des Gewissens Schaum
Und mache drin auf reinem lauterm Grunde
Der Seele klaren Fluß zum Strömen Raum.
Doch bitt ich euch, gebt mir gefällig Kunde:
Ist eine Seel aus Latium hier?--Ich bin
Für sie vielleicht dann hier zur guten Stunde."
"O Bruder, jede Seel ist Bürgerin
Von einer wahren Stadt--doch willst du fragen,
Ob ein in Welschland lebt als Pilgerin."
So schiens, von mir noch etwas fern, zu sagen,
Daher ich, weil ich fast das Wort verlor,
Sogleich beschloß, mich weiter vor zu wagen.
Und eine wartete, so kam mirs vor,
Auf Antwort, und, ums deutlicher zu zeigen,
Hob sie, dem Blinden gleich, das Kinn empor.
"Du," sprach ich, "die sich beugt, um aufzusteigen,
Warst dus, die Antwort gab, so magst du mir
Jetzt deinen Ort und Namen nicht verschweigen."
"Ich war von Siena, und mit diesen hier",
So sprach sie, "läutr ich mich vom Lasterleben,
Und weinend flehn um Gottes Gnade wir.
Sapia hieß ich, ob ich gleich ergeben
Der Torheit war, denn mir schien andrer Leid
Weit größre Lust, als eignes Glück zu geben.
Doch zweifelst du an meinem tollen Neid,
So höre nur!--Die Jugend war verflossen,
Und abwärts ging der Bogen meiner Zeit,
Als nah bei Colle meine Landsgenossen
Den kampfbereiten starken Feind erreicht;
Da bat ich Gott um das, was er beschlossen.
Drauf wird ihr Heer geschlagen und entweicht,
Und ich, erblickend, wie der Feind es jage,
Fühl eine Lust, der keine weiter gleicht,
So daß ich kühn den Blick gen Himmel schlage
Und rufe: Gott, nicht fürcht ich mehr dich jetzt!
Der Amsel gleich am ersten warmen Tage.
Nach Gottes Frieden sehnt ich mich zuletzt
Am Rand des Lebens, aber meine Schulden,
Durch Reue wären sie nicht ausgewetzt,
Wenn Pettinagno meiner nicht in Hulden
Gedacht in seinem heiligen Gebet;
Noch müßt ich vor dem Tore harrend dulden.
Doch wer bist du, der offnen Auges geht,
So scheints, um unsern Zustand zu erkunden,
Und dessen Atem noch beim Sprechen weht?"--
"Mit Draht wird einst mein Auge hier durchwunden,"
So sprach ich, "doch ich hoffe kurze Frist,
Weil mans nur selten scheel vor Neid gefunden.
Mehr als das Leid, ob des du traurig bist,
Hat Sorge mir die untre Qual bereitet.
Schon fühl ich, wie die Bürde drückend ist."
Und sie: "Wer also hat dich hergeleitet,
Daß du, um rückzukehren, hier erscheinst?"
"Er, der dort schweigend steht, hat mich begleitet.
Ich leb, erwählter Geist, und wenn ich einst
Jenseits als Sterblicher für dich bewegen
Die Füße soll, so fordre, was du meinst."
"So Neues sagtest du," sprach sie dagegen,
"Daß es dir sicher Gottes Huld bewährt.
Verwende drum dein Flehn zu meinem Segen.
Ich bitte dich, bei allem, was dir wert,
Wirst du dich je im Tuscierland befinden,
So sei zum Bessern dort mein Ruf gekehrt.
Beim eiteln Volk wirst du die Meinen finden,
Das Talamon verlockt zum Hoffnungswahn;
Und wie bei Dianas Quelle wird er schwinden,
Doch setzen mehr die Admirale dran." | 234,888 |
1 | Schlägerei im türkischen Parlament: Immunität soll ausgehebelt werden
Der Verfassungsausschuss segnet die Aufhebung der Immunität ab. Davon sind auch 50 der 59 Abgeordneten der kurdisch-linken Partei HDP betroffen.
Der HDP-Politiker Selahattin Demirtas während des Wahlkampfes: Ihn und seine Parteikollegen will Erdogan ausschalten Foto: dpa
ISTANBUL taz | Es waren Szenen, wie man sie in keinem Parlament der Welt sehen möchte. Zum dritten Mal seit Donnerstag vergangener Woche flogen im Verfassungsausschuss des türkischen Parlaments in der Nacht von Montag auf Dienstag die Fäuste. Am Ende winkten die Vertreter von drei der vier im Parlament vertretenen Parteien eine Gesetzesvorlage durch, mit der die Immunität aller Parlamentarier, gegen die derzeit ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, aufgehoben werden soll.
Das sind eine ganze Menge. Es gibt insgesamt 600 Ermittlungsverfahren, die 136 Parlamentarier betreffen. Allerdings richten sich allein 354 Ermittlungsverfahren gegen 50 Abgeordnete der kurdisch-linken HDP. Nur neun Parlamentarier der HDP sind nicht betroffen.
Während es bei den Abgeordneten der anderen Partei um Beleidigungsklagen oder einen Korruptionsverdacht geht, richten sich die Verfahren gegen HDP-Abgeordnete gegen die vermutete Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“. Gemeint ist, dass die HDP der parlamentarische Arm der kurdischen PKK-Guerilla sei.
Seit Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2015 die Wiederaufnahme des Krieges befahl, herrscht im mehrheitlich kurdischen Südosten wieder Krieg. Die HDP, die sich für eine Friedenslösung zwischen der PKK und dem Staat einsetzt, wird in diesem Krieg zerrieben. Sie ruft zwar beide Seiten dazu auf, die Waffen niederzulegen, beklagt aber auch das Leid der kurdischen Bevölkerung und äußert Verständnis, dass kurdische Jugendliche sich gegen die Repression des Staates wehren. Für die Regierung steht sie damit auf Seiten der „Terroristen“.
Die Kurden bezeichnen das Gesetz als einen Putsch
Dafür wird sie seit Monaten im Parlament angegriffen, seit Kurzem auch von prügelnden AKP-Abgeordneten. Die HDP vermutet, dass es bei der Aufhebung der Immunität für beschuldigte Parlamentarier in Wahrheit darum geht, 50 ihrer 59 Abgeordneten aus dem Parlament auszuschließen und ins Gefängnis zu stecken.
Die meisten der anderen Verfahren, vermutet ein Mitglied des HDP-Vorstands, werden eingestellt oder mit Geldstrafen abgegolten werden. „Das ist Kosmetik, um zu verschleiern, dass es in Wahrheit allein darum geht, die HDP aus dem Parlament zu verdrängen.“
Voraussichtlich am Donnerstag soll im Plenum des Parlaments abgestimmt werden. Die Gesetzesvorlage braucht eine Zweidrittelmehrheit. Beobachter rechnen damit, dass die Mehrheit der AKP-Abgeordneten und der ultrarechten MHP-Abgeordneten zustimmen werden.
In der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP-Opposition ist das Gesetz umstritten. Trotzdem wird es wohl die nötige Mehrheit bekommen. Die HDP wird geschlossen dagegen stimmen. Sie bezeichnet das Gesetz als Putsch gegen das Parlament. | 234,889 |
0 | Spielfilm „Was geschah mit Bus 670?“: Tröstlich schön
Im Bandengebiet von Nord-Mexiko verschwinden viele Menschen spurlos. Fernanda Valadez hat daraus einen eindrücklichen Film gemacht.
Der Film, eine Art Roadmovie, erzählt von der Suche einer Frau nach ihrem Sohn Foto: MFA+
Wie ästhetisch kann oder darf eine Geschichte sein, die von Gewalt, Tod und Verzweiflung handelt? Und andersherum gefragt: Wie bringt man uns dazu, Gewalt, Tod und Verzweiflung im Kino auszuhalten, ohne sie zu sehr zu ästhetisieren und damit zu verharmlosen?
Die mexikanische Regisseurin Fernanda Valadez hat sich für ihren ersten Langfilm, der bereits auf zahlreichen Festivals ausgezeichnet wurde, keine leichte Aufgabe gestellt. „Was geschah mit Bus 670?“ erzählt das Schicksal von Menschen aus der grenznahen „Todeszone“ in Nord-Mexiko, wo im Kontext des Drogenkriegs seit vielen Jahren Menschen spurlos verschwinden: getötet, verschleppt, mitunter auch von Banden zwangsrekrutiert werden.
In ruhigen Bildern begleitet der Film, eine Art Roadmovie, die Suche einer Frau nach ihrem Sohn. Magdalena (Mercedes Hernández), eine alleinstehende, einfache Straßenverkäuferin, hat kein Lebenszeichen mehr von dem halbwüchsigen Jesús, seit er zusammen mit einem Freund nach Norden aufgebrochen war. Die beiden Teenager wollten es irgendwie über die Grenze in die USA schaffen. Doch der Bus, in dem sie saßen, ist überfallen worden; Monate später werden die Leichen der Insassen in einem Massengrab entdeckt. Von Jesús allerdings findet sich nur eine Reisetasche, und Magdalena klammert sich an die Hoffnung, dass ihr Sohn noch lebt.
Allein unterwegs im gefährlichen Bandengebiet, versucht sie Augenzeugen zu finden, um zu erfahren, was wirklich beim Überfall auf den Bus geschah. Doch es ist nicht einfach, den Spuren zu folgen, denn die Menschen haben Angst, zu viel zu sagen. Während Magdalenas Weg nach Norden führt, ist zur selben Zeit ein Junge in umgekehrter Richtung unterwegs. Miguel (David Illescas), der es bereits in die USA geschafft hatte, ist von dort wieder ausgewiesen worden. Auf dem langen Weg zurück nach Hause, den er größtenteils zu Fuß bewältigen muss, ohne Geld, trifft er auf Magdalena und nimmt sie mit zur Hütte seiner Mutter. Doch als sie dort ankommen, ist das Haus verlassen.
Keine Lösung für die Probleme der Menschen
Was mit Miguels Mutter passiert ist, werden wir nicht erfahren, denn in diesem Film gibt es auf die meisten Fragen keine Antworten und für die existenziellen Probleme der Menschen keine Lösung. Schon gar nicht vonseiten des Staates, der Forensiker und Bürokraten mit Formularen in die Krisenregion schickt, um den massenhaften gewaltsamen Tod zu verwalten, aber die Lebenden nicht vor der grassierenden Gesetzlosigkeit zu schützen weiß.
Der Film„Was geschah mit Bus 670?“ Regie: Fernanda Valadez. Mit Mercedes Hernández, David Illescas u. a. Mexiko/Spanien 2020, 99 Min.
Doch wie man an Magdalena sieht, halten Menschen mitunter sehr viel aus. Mercedes Hernández spielt diese erstaunliche Frau großartig zurückgenommen, ohne viel äußere Regung und dabei ungemein intensiv. Sie hat mit Sicherheit schon viel gesehen, ist auf der Hut und ohnehin auf alles gefasst. Sie weiß, dass es kaum noch Hoffnung gibt, genau deshalb hat sie nichts zu verlieren. Das lässt sich auch als Stärke begreifen.
Dann findet mitten in dieser eigentlich zutiefst trostlosen Geschichte auch noch das kleine Wunder statt, dass zwei Menschen, Magdalena und Miguel, eine spontane Schicksalsgemeinschaft bilden: eine Wahlfamilie. Immerhin für eine Weile sind beide nicht mehr allein, sondern haben jemanden, auf den sie sich verlassen können.
Fernanda Valadez und Kamerafrau Claudia Becerril Bulos filmen Magdalenas und Miguels Geschichte in einem ausgesprochen sachlichen Duktus. Wie die Kamera die ProtagonistInnen begleitet, ist von fast dokumentarischer Strenge. (Daneben integriert Valadez auch viele quasidokumentarische Elemente. Mit welchen Methoden etwa die Toten identifiziert werden, wird detailliert dargestellt.) Sie lässt den Figuren viel Raum, bleibt auf Augenhöhe, aber in dezenter Entfernung.
Manchmal ist nur sehr wenig zu sehen
Der Film ist zu großen Teilen aus festen Einstellungen komponiert, die sehr lang sein können. Manchmal ist nichts oder nur sehr wenig zu sehen, und dieses wenige beginnt vielleicht irgendwann zu flimmern. Es sind Momente der Meditation, der visuellen Verankerung im Hier und Jetzt: Niemand kann wissen, was danach kommt, aber gerade jetzt steht die Kamera, stellvertretend für die Perspektive der Charaktere, still und betrachtet die Welt.
Nur in wenigen Szenen kommt das Bild spürbar in Bewegung; vor allem in den paar Momenten, da der Film die Gewalt tatsächlich zeigt, vor der sich alle fürchten. Und obwohl kaum etwas von dieser Gewalt zu sehen ist, sind es Szenen, die ins Rückenmark gehen. Eine Ästhetisierung von Mord und Totschlag findet nicht statt; die schockartige, alles umwälzende Wirkung auf die Überlebenden wird dagegen umso deutlicher spürbar. Magdalena aber trägt das Schicksal, eine Überlebende zu sein, mit großer menschlicher Würde. Wie sie das tut, ist mehr als nur tröstlich. Es ist schlicht: schön. | 234,890 |
1 | Politisch gelenkt und ohne Wettbewerb des freien Marktes – die Situation in der DDR
Der Zusammenbruch der DDR hat zunächst auch zu einem Zusammenbruch der kulturellen Infrastruktur geführt. Im Gefolge des Systemumbruchs fand einerseits eine Re-Dezentralisierung der kulturellen Zuständigkeiten statt, unter anderem durch die Verlagerung dieser Aufgaben in die kommunale Selbstverwaltung. Andererseits sind mit der Auflösung der großen Kombinate auch vormals betriebliche Kulturangebote weggebrochen. Die kurzfristigen Folgen für den Kulturbetrieb in Ostdeutschland waren teilweise katastrophal: Zahlreiche Kultur- und Medieneinrichtungen mussten geschlossen werden, wodurch viele bildende Künstler, Schriftsteller und andere Kulturschaffende ihre Arbeitsmöglichkeiten verloren. Der plötzliche Wegfall der staatlichen und betrieblichen materiellen Unterstützung führte zu einer merklichen Verschlechterung der kulturellen Produktionsbedingungen. Zudem verloren ehemalige DDR-Künstler den Schutz der vormals den Absatz nicht marktlich regulierenden Mechanismen (Preisbindung, Subventionen, feste Aufträge etc.) und sahen sich fortan einer – schlagartig gesteigerten – Konkurrenzsituation ausgesetzt.
Die Ziele und Bestrebungen der offiziellen DDR-Kulturpolitik standen den Herausforderungen, welche die neuen Freiräume in Kunst und Kultur sowie der freie Markt für kulturelle Aktivitäten und Impulsen nach dem Systemumbruch öffnete, geradezu diametral entgegen. Die DDR-typischen Anleitungen sollten insbesondere auch Zwecken gesellschaftlicher ideeller Lenkung dienen: durch Kontrolle eines weitgehend gleichgeschalteten Vereinswesens; durch erzieherische Einwirkung auf breite Bevölkerungsschichten (Beispiele hierfür waren Pionierparks, Pionierhäuser oder Kulturräume in großen Betrieben); durch staatlich organisierte Jugendklubs, die unkontrollierten Gruppenbildungen entgegenwirken sollten .
Offizielle "Kulturarbeit" fand in der DDR nur organisationsbezogen statt. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) war die für die Kulturarbeit in der DDR wichtigste Massenorganisation. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) widmete sich vor allem kulturpolitischen Fragen der Jugendkultur. Im Unterschied zum Kulturbund, der sich zu einer Künstlerorganisation entwickelte, nahm der FDGB aus zentralistischer Warte eher kulturpädagogische Aufgaben wahr.
Nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik 1949 wurden alle Volkskunstgruppen faktisch verstaatlicht und auf die bereits vorhandenen Massenorganisationen aufgeteilt. Eine Zentralstelle sollte geschaffen werden, welche die künstlerische Anleitung für alle (!) Volkskunstgruppen übernehmen sollte . So entstand 1952 zunächst das "Zentralhaus für Laienkunst" in Leipzig, später das "Zentralhaus für Volkskunst" und schließlich 1962 das "Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR Leipzig". Am 24. April 1959 fand die programmatisch wegweisend angelegte Bitterfelder Konferenz statt. Sie sollte den Weg zu einer neuen und einzigartigen "sozialistischen Nationalkultur" ebnen. Ziel war die Mobilisierung von Kulturschaffenden in der Arbeiterklasse, aus ihr sollten die zukünftigen Künstler hervorgehen. Als Leitvorstellung wurde der "schreibende, musizierende, zeichnende, theaterspielende und tanzende Arbeiter" ausgerufen (ebd., S. 17).
Unangepasste Kulturschaffende wurden von der SED konsequent über die gesamte Lebenszeit der DDR abgekapselt, dies geschah vor allem durch die staatliche Zensur in Form von Auftritts- und Veröffentlichungsverboten oder gar dem Ausschluss aus den jeweiligen Künstlerverbänden, deren Mitgliedschaft für die Arbeit der Künstlerinnen und Künstler existentiell war.
Die ganz zu Beginn (damals noch in der sowjetischen Besatzungszone) in Teilen noch geforderte Freiheit der Kultur wurde nur kurze Zeit später mit dem Beginn der Formalismus-Debatte durch die sowjetische Besatzung grundlegend revidiert und von der in der DDR neu entstandenen Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten endgültig bestätigt . Letztlich wurden alle Kulturgüter (Oper, Theater, Film, Malerei, Architektur, Musik und Literatur), welche sich nicht am sozialistischen Realismus orientierten, als bloßer Formalismus abgetan und entwertet. Die betraf auch einen Großteil der schon in der Nazidiktatur als "entartet" bezeichneten Kunst . Die Regierung formulierte ihre zukünftigen kulturellen Vorstellungen wie folgt:
Zitat
"… Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler müssen die gesellschaftliche Realität widerspiegeln, […] dem Volke verständlich sein und seine friedliche Aufbaumoral festigen."
Zitat aus Gesetzblatt der DDR, Nr. 28, Berlin, 23. März 1950, S. 186, in Schittly (FN 2), S. 42.
Der andauernden Beengtheit der von oben verordneten Staats- und Parteikultur wollten sich im Laufe der Jahre keineswegs alle DDR-Künstler widerstandslos anpassen. Ereignisse wie beispielsweise die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 nach seinem "Kölner Konzert" und die sich anschließende Verurteilung Stefan Heyms und dessen Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, welche einen Höhepunkt der künstlerischen Unterdrückung in der DDR markiert, führten zu einer Abwanderung von vielen Kulturschaffenden, die sich der vorgegebenen politischen Richtung des Ministeriums für Kultur in der DDR nicht unterwerfen wollten. In der Folge siedelten Künstler wie Manfred Krug, Eva-Maria Hagen (mit Tochter Nina Hagen), Jurek Becker, Bettina Wegener, Katharina Thalbach, Jürgen Fuchs, Sarah Kirsch sowie Armin Mueller-Stahl in die Bundesrepublik über oder wurden von der Staatsmacht indirekt – beispielsweise durch den Entzug der Arbeits- und Existenzgrundlage – zur Ausreise gezwungen. Da sich Kultur seit jeher im Wesentlichen über das Medium Sprache vermittelt, verwundert es nicht, dass das Band der gemeinsamen Sprache beide Teile Deutschlands auch zu Zeiten der staatlichen Trennung weiterhin verbunden hat. Ebenso ist das gemeinsame historische künstlerische und kulturelle Erbe, von der Musik des mitteldeutschen Barock und der Dichtung der Weimarer Klassik über das Bauhaus bis zur neorealistischen Malerei Inhalt der einen deutschen "Kulturnation", die auch Jahrzehnte der deutschen Teilung nahezu unbeschadet überdauert hat. Auch zur jüngeren kritischen kulturellen Aufarbeitung der Lebenswelten in der DDR tragen ostdeutsche Künstler maßgeblich mit bei. Beispiele hierfür sind in den letzten Jahren entstandene Theaterstücke und Filme (u.a. "Bornholmer Straße", "Sonnenallee", "Good bye Lenin", "Das Leben der Anderen"), Serien (u.a. "Weißensee") und zahlreiche Bücher (u.a. Jana Hensels "Zonenkinder", Thomas Brussigs "Helden wie Wir", Uwe Tellkamps "Der Turm", Lutz Seilers "Kruso" und Eugen Ruges "In Zeiten des abnehmenden Lichts").
Kein zahlenmäßiges Ost-West-Gefälle bei Kultureinrichtungen – die Situation nach der Wiedervereinigung
Nach der Wiedervereinigung kamen auch die Kultureinrichtungen der DDR auf den Prüfstand. Die Frage war: Welche kulturellen Errungenschaften waren es wert, trotz ihrer Herkunft aus einer politisierten Staatskultur erhalten zu werden? Die spätere rückblickende Frage lautet: Welche Spuren des Kulturlebens der DDR sind in der heutigen kulturellen Infrastruktur Ostdeutschlands noch erkennbar? Da es hier vor allem darum geht, die Entwicklung der kulturellen Institutionen vergleichend darzustellen, werden diese Fragen nicht nach inhaltlichen Kriterien, also dem "kulturellen Wert", beantwortet, sondern anhand zahlenmäßiger und räumlicher Indikatoren behandelt. Mit Hilfe der verfügbaren Zahlen zu Museen, Theatern und öffentlichen Bibliotheken in Ost- und Westdeutschland wird untersucht, ob sich die DDR-Vergangenheit bis heute auf die räumliche Erreichbarkeit und Verteilung von kulturellen Einrichtungen nachteilig ausgewirkt hat.
Bei einem Betrachtungszeitraum von etwa 10 Jahren zeigt sich zunächst deutschlandweit ein allgemeiner Zuwachs an Museen seit 2008: die Zahl stieg von 6.190 auf 6.771 bis 2017. Diese Tendenz ist für west- wie ostdeutsche Bundesländer ähnlich, fällt im Westen Deutschlands aber stärker aus (plus 562 im Westen, plus 19 im Osten). Nimmt man allerdings das Verhältnis von Einwohnern zu Museen in den Blick, fällt die Museumsdichte im Osten des Landes etwas günstiger aus. Hier kommen ca. neun Museen auf 100.000 Einwohner; im Westen sind es etwa acht. Mit diesem Zahlenvergleich können natürlich keine Aussagen über die tatsächliche Qualität der Einrichtungen getroffen werden, denn solche Aussagen über die Werte einer Kulturlandschaft unterliegen immer subjektiven Wertungen. Deutlich wird aber, dass Ostdeutschland an den zeitgenössischen Trend der Aufwertung und Ausweitung musealer Stätten Anschluss gefunden und diesen auch bewahrt hat (vgl. Abbildung 1). Die Anzahl der Theaterstätten (vgl. Abbildung 2) zeigt im Vergleich einen eher stagnierenden bzw. konstanten Verlauf im Osten wie im Westen. Nach 2009 ist im Westen ein leichter Verlust und im Osten ein entsprechender Gewinn zu verzeichnen, danach kommt es nur zu unbedeutenden Schwankungen. Die Dichte der Theaterunternehmen liegt in den neuen Bundesländern allerdings durchgängig auf einem deutlich höheren Niveau als in der alten Bundesrepublik. Hier kommen auf ein Theater etwa 400.000 Einwohner, im Westen sind es etwa 670.000. Diese Differenz bleibt seit 1990 mehr oder weniger konstant. Die Anzahl der öffentlichen Bibliotheken (vgl. Abbildung 3) hat in den letzten 10 Jahren nur in Ostdeutschland leicht zugenommen und liegt 2018 bei 1.083. Das sind gut 50 mehr als noch vor 10 Jahren. Im Westen ging die Zahl von 6.264 auf 6.151 zurück, folglich wurden hier etwas über 100 Bibliotheken geschlossen. Betrachtet man die Anzahl der Bibliotheken relativ zur Einwohneranzahl, zeigt sich, dass sich die Entwicklung in Ost-und Westdeutschland weitestgehend angeglichen hat. Die Erreichbarkeit von Bibliotheken – also die Bibliotheksdichte – liegt zwar auch 2018 in Ostdeutschland nach wie vor unter dem Niveau von Westdeutschland, sie hat sich in den letzten 10 Jahren aber weiter angeglichen (6,7 Bibl./100.000 Einwohner im Westen und 9,21 Bibl./100.000 Einwohner im Osten;). Infrastrukturell hinkt Ostdeutschland, was die Ausstattung mit Kultureinrichtungen betrifft, dem Westen der Republik also keineswegs hinterher. Die neuen Bundesländer liegen größtenteils mit den alten Bundesländern auf einem ähnlichen institutionellen Ausstattungsniveau. Sie stehen sowohl bei der Erreichbarkeit von Theatern als auch bei Museen besser da. Für den Bereich kultureller Einrichtungen kann zumindest quantitativ nicht von einer der DDR geschuldeten Strukturlücke ausgegangen werden. Eine solche kulturelle Lücke liegt, insofern man überhaupt davon sprechen kann, eher auf der Seite der westlichen Bundesländer.
vgl. Horst Groschopp (1993): Kulturelle Jugendarbeit in der DDR. Herkommen, Struktur und Verständnis. In: Woher – Wohin? Kinder- und Jugendkulturarbeit in Ostdeutschland. Hrsg. von der Bundesvereinigung
Ebd. S.16
Schittly, Dagmar (2002): Zwischen Regie und Regime: Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA-Produktionen. Christoph Links Verlag. Berlin. S. 22ff.
Staadt, Jochen (Hrsg.) (2011): "Die Eroberung der Kultur beginnt!" – Die staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten der DDR (1951-1953) und die Kulturpolitik der SED. Peter Lang Verlag. Frankfurt/M..
DER SPIEGEL (24.10.1951): Sowjetzone: Unser rotes Blut siedet.
Ebd. S.1.
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1 | 50 Jahre marokkanische Gastarbeiter: Das verschlafene Jubiläum
Vor 50 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter aus Marokko nach Deutschland. Der Jahrestag findet in der Öffentlichkeit kaum Beachtung.
Gastarbeiter bei ihrer Ankunft in Deutschland 1965. Bild: afp
BERLIN taz | Als Mokhtar Azouagh vor fünfzig Jahren seiner Familie eröffnete, er wolle zum Arbeiten nach Deutschland gehen, erklärten ihn viele für besoffen oder krank. Drei Monate wartete er auf seinen Vertrag, bevor er sich in einem Omnibus auf den Weg nach Aachen machte.
Am 21. Mai 1963 hatte Marokko mit Deutschland ein Anwerbeabkommen unterschrieben, und Mokhtar Azouagh gehörte zu den ersten Marokkanern, die vor 50 Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Als kürzlich das Jubiläum in Berlin mit einem Festakt gefeiert wurde, stand auch er mit auf der Bühne.
Drei Viertel aller Auswanderer aus Marokko leben heute in Europa. Sie stellen damit, nach der türkischen Bevölkerung, die zweitgrößte Migrantengruppe auf dem Kontinent. Die meisten von ihnen haben sich in Frankreich, Spanien, Belgien und den Niederlanden niedergelassen.
In Deutschland leben dagegen nur 160.000 Menschen, die marokkanischer Herkunft sind – die türkische Gemeinde, zum Vergleich, ist mit fast 2 Millionen Menschen deutlich größer. In den Medien und in der Öffentlichkeit sind Deutschmarokkaner entsprechend wenig präsent.
Anwerbestopp 1973
Die Anfänge der Migration aus Marokko liegen in den 1950ern, als für den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg während der Wirtschaftswunderjahre viele Arbeitskräfte aus südeuropäischen und nordafrikanischen Staaten angeworben wurden – zuerst aus Italien, dann aus Spanien und Griechenland, später aus der Türkei, Marokko und, in den späten 60er Jahren, aus Jugoslawien. Bis zum Anwerbestopp 1973 – bedingt durch die Ölkrise und die darauf folgende Rezession – kamen 22.400 Marokkaner nach Deutschland.
Doch nach 1973 zogen dann oftmals die Familien der Gastarbeiter nach. Die meisten Deutschmarokkaner leben heute in Nordrhein-Westfalen und Hessen. Dort fanden in den letzten Monaten auch die größten Veranstaltungen zu dem Jubiläum statt, das im Rest der Republik kaum bemerkt wurde. Den Abschluss macht heute in Düsseldorf eine Rückschau, bei der noch einmal Bilanz aus drei Projektmonaten „50 Jahre marokkanische Migration in Deutschland“ gezogen werden soll.
Zineb Daoudi gehörte 1972 zu den ersten 50 jungen Frauen, die im Rahmen des deutsch-marokkanischen Anwerbeabkommens nach Deutschland kamen. In Nordrhein-Westfalen arbeitete sie sechs Jahre in einer Schokoladenfabrik, parallel dazu besuchte sie die Abendschule. „Man unterschätzt die marokkanische Gesellschaft, wenn man denkt, dass eine alleinstehende Frau damals nicht von zu Hause fortgehen konnte“, sagt sie.
Schließlich wartete in Deutschland ein fester Job auf sie. „Als ich nach Deutschland kam, habe ich gelernt, was es bedeutet, in einem Industrieland zu sein – im positiven wie im negativen Sinn“, erinnert sich Daoudi, die heute bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) arbeitet.
Altersarmut ist ein Problem
Kürzlich ergab eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, dass 40 Prozent aller ausländischen Senioren in Deutschland an Altersarmut leiden – dreimal so häufig wie deutsche Rentner. Grundsicherung im Alter mussten ausländische Senioren sogar etwa sechsmal so oft in Anspruch nehmen wie die Deutschen. Der Grund dafür sind die niedrigen Einkommen, die viele ehemalige Gastarbeiter einst bekommen haben.
Auch wenn Marokkaner in der Studie nicht eigens ausgewiesen wurden, dürften sie davon besonders betroffen sein. Anders als etwa viele türkische Gastarbeiter, von denen 31 Prozent eine berufliche Qualifikation vorzuweisen hatten, brachten sie oft kein spezifisches Fachwissen mit.
Die meisten von ihnen kamen aus den Bergbaugebieten im Norden Marokkos und wurden in Deutschland im Steinkohleabbau eingesetzt. Andere kamen als un- oder angelernte Arbeiter in der Metall verarbeitenden Industrie, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft unter. | 234,892 |
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Screenshot aus dem Arbeitsmaterial mit den Interviewfetzen (© Team "Forschendes Lernen" Uni Münster)
Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler haben verschiedene Möglichkeiten, um Daten zu erheben. Dazu gehören standardisierte Fragebögen, Umfragen per Telefon oder Internet sowie qualitative Interviews. Qualitative Interviews, sind häufig Fragen im Gesprächsformat, um die persönlichen Ansichten der Befragten zu erfahren. Die folgenden Aussagen, könnten aus einem solchen qualitativen Interview stammen.
Ja… es gibt doch irgendwie mehrere Stimmen oder so, ne? Sind die alle am gleichen Tag?
Die Sonne schien, da hatte ich einfach mehr Bock draußen zu sein.
Die Politikerinnen und Politiker, die sind doch eh alle korrupt!
Oh, das ist mir ehrlich gesagt voll peinlich. Ich hab‘ vercheckt, Briefwahl zu beantragen.
Ich bin überfordert, meine Eltern gehen nicht wählen und ich weiß gar nicht was da im Wahllokal passiert.
Die da oben wissen schon, was sie tun.
Ob ich wählen gehe oder nicht, ist doch egal, es ändert sich eh nichts.
Ja, die werden sich wundern! Bisher hab ich die immer gewählt, aber doof gucken werden die. Sollen se‘ doch mal sehen, was sie ohne meine Stimme machen!
Und dann gebe ich denen meine Stimme und zum Schluss heißt es, ich wollte den ganzen Krawummel? Nee nee, nicht mit mir!
Doch, Wählen ist schon wichtig!
Keine Lust… Politik interessiert mich einfach nicht!
Ich möchte nichts ändern, gefällt mir gut, wie es ist!
Eigentlich wäre ich gern zur Wahl gegangen, aber ist ja auch blöd, wenn ich nicht weiß, wie das läuft.
Naja, ich hatte die neue Adresse noch nicht, um mir die Wahlunterlagen zuschicken zu lassen, und bin dann drüber weggekommen.
Weitere Beispiele mit Aussagen zur Wahl, die ihr für eine Zuordnung nutzen könnt, findet ihr beim "Externer Link: Wahlbingo für Nichtwählende" hier auf den Seiten der bpb.
Aufgaben:
Kannst du dir vorstellen, welche der obrigen Aussagen zu den verschiedenen Personen aus der Datentabelle (Interner Link: M 03.03) gehören? Lies dir die Interviewfetzen durch und vergleiche sie mit den erarbeiteten Personenprofilen.
Markiere die Gesprächsfetzen, die du einer der Personen aus der Datentabelle zuordnen kannst, mit der entsprechenden Personen-ID.
Dieses Material steht auch als formatierte Interner Link: Druckvorlage zur Verfügung.
Screenshot aus dem Arbeitsmaterial mit den Interviewfetzen (© Team "Forschendes Lernen" Uni Münster)
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1 | CDU-Vizechefin über den Erfolg der AfD: „Eine Unmut-Aufsauger-Partei“
Die AfD sei nicht „aus dem Fleisch der CDU“, sagt Julia Klöckner, Vizechefin der CDU. Sie schüre Angst und biete keine Lösungen an.
Konservativ sind wir selbst: Noch stört sich die erfolgreiche CDU nicht an ihrer Konkurrenz von rechts. Bild: reuters
taz: Frau Klöckner, am Sonntag gab es gute Ergebnisse für die CDU in Thüringen und Brandenburg. Aber auch für die AfD. Wir groß war da noch die Freude im CDU-Bundesvorstand?
Julia Klöckner: Erst mal überwiegt natürlich die Freude, dass die Zustimmung zu den Christdemokraten so groß ist. Wir können uns gut vorstellen, dass das Ergebnis für die SPD sehr hart ist. Mittlerweile sind ja SPD und AfD in Thüringen fast gleichauf.
Ohne die AfD hätte die CDU aber noch besser abgeschnitten.
Es hat sich klar gezeigt, dass die These nicht stimmt, die AfD sei aus dem Fleisch der CDU. Die CDU hat sogar in beiden Ländern Stimmen gewonnen. Die AfD ist eine Unmuts-Aufsauger-Partei, die aus allen Parteien Wähler zieht. Sie schürt die Angst vor Wohlstandsverlust, bietet aber keine Lösungen an.
Dennoch muss sich auch die CDU fragen, warum die AfD salonfähig wird. 10, 12 Prozent sind keine Kleinigkeit.
Da hilft ein Blick in die Geschichte. Auch in Baden-Württemberg saßen mal die Republikaner im Landtag. Damals hat man gesagt, die bleiben jetzt. Und das stimmte ja nun gar nicht. Auch bei den Piraten hat man das gesagt. Kurzum, jetzt kommt für die AfD der Realitätscheck. Wer sagt, der Euro sei schlecht für uns, muss den Arbeitnehmern und Unternehmern erklären, was dann mit den Arbeitsplätzen im Exportland Deutschland passiert.
Der Berliner Kreis hat sich gemeldet: Die Strategie der Union, die AfD zu ignorieren, sei fehlgeschlagen. Man müsse auf die konservativen Wähler der AfD zugehen. Was sagen Sie dazu?
Ich sehe nach wie vor keine Berührungspunkte mit der AfD, Koalitionen schon gar nicht. Die AfD spielt mit den Ängsten der Wähler. Wir müssen das natürlich ernst nehmen. Aber die Frage ist doch, ob man reflexhaft reagiert. Unsere Antwort darauf muss solides Arbeiten, das Ansprechen und Ermutigen der Menschen sein. Ressentiments muss man ernst nehmen, darf Sie aber nicht noch schüren. Politik muss ohnehin immer wieder erklärt werden.
im Interview:Julia Klöcknerist stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU. Seit 2010 gehört sie dem Parteipräsidium an. Die 41-Jährige ist Vorsitzende der CDU-Rheinland-Pfalz und Fraktionschefin im Mainzer Landtag. Julia Klöckner ist gelernte Journalistin und arbeitete früher als Religionslehrerin an einer Grundschule.
Die CDU hat sich mit Themen wie Gleichstellung oder Homoehe in die gesellschaftliche Mitte begeben und ist dafür gewählt worden. Wer bedient in Ihrer Partei noch den konservativen Flügel?
Konservativ sein hat nichts mit Einzelthemen zu tun. Konservativ sein ist eine Haltung. Ob man verlässlich ist, nachhaltig denkt und so auch vor allem handelt.
Intern schiebt die CDU gerade einen Reformprozess an. Muss es da jetzt nicht wegen der AfD eine inhaltliche Debatte geben?
Noch mal, die CDU hat bei den Wahlen zugelegt, auch wenn das in das ein oder andere vorgefertigte Bild nicht passen mag. Und es braucht nicht eine Partei wie die AfD, um Debatten anzustoßen. Die CDU debattiert fortlaufend über ihre Positionen. Ganz aktuell: Wir haben jetzt drei neue Kommissionen eingerichtet.
Alle schauen jetzt nach Thüringen, wo Christine Lieberknecht „einen klaren Regierungsauftrag“ hat. So klar ist der aber doch nicht, schaut man sich die Sitzverteilung an. Wie kann Lieberknecht die SPD überzeugen, noch mal mit ihr zu regieren?
Die SPD sollte diese Frage vom Ende her bedenken. Will sie, dass 25 Jahre nach dem Fall der Mauer die geistigen Erben der SED wieder das Sagen haben? Dann würde sich die SPD als Volkspartei überflüssig machen. Oder will sie in einer großen Koalition für Stabilität sorgen?
Aber in Thüringen hat die SPD in der großen Koalition eindeutig Schaden genommen.
Ich glaube, dass der SPD-Bundesvorsitzende recht hat: Interne Querelen bringen nie Stimmen. Und wer sich nicht klar positioniert und alles offen lässt, wird nicht ernst genommen. Der Wähler goutiert einfach nicht, wenn die SPD mit der Linkspartei flirtet. | 234,894 |
0 | Eine Stellung nahmen die Heerhaufen zu Fuße gewissermaßen nicht, sondern
eine Lage. Dies heißt: sobald man sich im Bereich des feindlichen
Geschosses fand, oder es bei der Uebung voraussetzte, streckten sich die
Reihen auf den Boden hin, nachdem man in größter Eil mit den Spaten einen
Erdaufwurf von einigen Schuhen gefertigt hatte, der nun, den ohnehin durch
ihr Liegen auf dem Gesichte, nur wenig Zielraum darbietenden Soldaten, viel
Bedeckung gab. Ueber den Erdwurf legten sie ihre Röhre und gaben wirksame
Feuer. | 234,895 |
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Im Ersten Weltkrieg kommen vermehrt Soldaten und Arbeitskräfte aus den Kolonien in die europäischen Mutterländer. Trotz staatlicher Hindernisse und gesellschaftlicher Diskriminierung lassen sich viele dort dauerhaft nieder. Indischer Bonbon-Verkäufer in London 1930. (© Imago / United Archives International)
Aktivisten, Arbeiter, Künstler: frühe Migrationen nach Europa
Seit die Europäer Kolonien erworben hatten, waren diese ein Auswanderungsziel von Menschen gewesen, die in Übersee ihr Glück suchten, als Abenteurer, Arbeiter, Siedler, Händler oder Plantagenbesitzer; manche freilich auch in Diensten der Kolonialverwaltung oder einer Missionsgesellschaft. Vor allem die Amerikas waren und blieben bis weit ins 20. Jahrhundert das Hauptziel europäischer Auswanderung. Nach deren Unabhängigkeit zogen insbesondere die Kapkolonie (im heutigen Südafrika), Algerien, Kenia, Mosambik und Angola sowie Deutsch-Südwestafrika europäische Siedler an, wenngleich Siedlerkolonien eher den Sonder- als den Normalfall des europäischen Kolonialismus darstellten. In umgekehrter Richtung waren zunächst nur vereinzelte Wanderungsbewegungen zu beobachten. Im 19. Jahrhundert nahmen sie, wie der Historiker Jochen Oltmer festgestellt hat, vielfach die Form von "Bildungsmigration" an, denn die meisten der nach Europa kommenden Asiaten und Afrikaner wollten sich an den – vor allem französischen und britischen – Universitäten für den Verwaltungsdienst und andere höhere Positionen in ihren Heimatländern qualifizieren. Unter ihnen war beispielsweise der junge Inder Mahatma Gandhi, der von 1888 bis 1891 in London Jura studierte. Hinzu kamen seit der Wende zum 20. Jahrhundert Seeleute, die für die Handelsmarinen arbeiteten und sich, wenn sie nicht auf den Weltmeeren unterwegs waren, in den europäischen Hafenstädten niederließen. Liverpool und Cardiff, Hamburg und Rotterdam boten schon vor dem Ersten Weltkrieg ein lebendiges multikulturelles Bild.
Rassendiskriminierung statt staatsbürgerlicher Gleichheit
Der Erste Weltkrieg dynamisierte die interkontinentale Migration. Erstmals wurden Soldaten aus den Kolonien auf europäischen Kriegsschauplätzen eingesetzt. Auch Arbeitskräfte wurden von dort rekrutiert, von denen viele nach Kriegsende in Europa blieben. Dadurch gewann die Frage nach rechtlicher Anerkennung, Zugehörigkeit und staatsbürgerlicher Gleichstellung erheblich an Bedeutung.
Im britischen Empire wurde zunächst jede Person, die dort geboren wurde, als "British subject" und damit in einem besonderen Treue- und Schutzverhältnis gegenüber der Krone stehend angesehen. Dies symbolisierte die Einheit des Empire. Gleiche politische Rechte waren damit allerdings nicht verbunden, der Status des britischen citizen mit politischen Rechten war abhängig davon, im Vereinigten Königreich geboren zu sein oder in den Dominions der Weißen Bevölkerungsgruppe anzugehören. Die mit dem Subject-Status verbundene Freizügigkeit, also das Recht, sich im gesamten Empire frei zu bewegen und auch niederzulassen, grenzten nicht nur die Dominions bereits vor dem Ersten Weltkrieg entlang rassistischer Kriterien ein, die vor allem gegen Inder gerichtet waren. In Anbetracht eines angespannten Arbeitsmarktes in den frühen 1920er-Jahren verschärfte auch die Regierung im Vereinigten Königreich die Gesetzeslage, um weitere Zuwanderung zu erschweren. Einige dieser Gesetze wie die "Special Restriction (Coloured Alien Seamen) Order" von 1925 waren ganz offen rassistisch und deuteten bereits an, dass "race" die entscheidende Trennlinie innerhalb der britischen Einwanderungsgesellschaft würde.
Auch im Falle Frankreichs höhlten rassistische Unterscheidungen den eigentlich universalistischen Anspruch der französischen Staatsbürgerschaft aus. So wurde in den französischen Kolonien zwischen "citoyens", also Vollbürgern, und "sujets indigènes" ohne politische Rechte unterschieden. Neben "rassischem Anderssein" erzeugten auch religiöse Differenzen Spannungen zwischen den Gesellschaften der Metropole und Zuwandernden aus den Kolonien. Gerade die französische Gesellschaft zeigte sich zunehmend sensibel gegenüber einer wachsenden muslimischen Präsenz in ihrer Mitte. Die Eröffnung der Großen Moschee in Paris, die 1926 in Anwesenheit des Staatspräsidenten stattfand, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass muslimische Migrantinnen und Migranten in der französischen Gesellschaft bereits in den 1920er-Jahren weitgehend an den Rand gedrängt und mit Einrichtungen wie etwa einem eigenen Krankenhaus in Paris separiert wurden. Ein rechtliches Gefälle zwischen den Europäern und den Kolonisierten blieb in der Zwischenkriegszeit bestehen. Es war dabei unerheblich, ob es sich um Migrantinnen und Migranten handelte, die sich in den europäischen Metropolen niederließen, oder um Menschen in den europäischen Kolonien in Afrika und Asien.
Bemerkenswerte Karrierewege
Bei allen bestehenden Asymmetrien zwischen den europäischen Gesellschaften und ihren Zuwandernden gelang es in der Zwischenkriegszeit einer kleinen Gruppe von Menschen aus den Kolonien dennoch, die Aufmerksamkeit des europäischen Publikums auf sich zu ziehen. Denn die großen westeuropäischen Städte waren in den 1920er-Jahren Zentren einer echten Unterhaltungsindustrie, in der auch Menschen gerade aus Afrika ihren Platz fanden. Zwar speiste sich das Interesse auch in diesem Fall oft vornehmlich aus der Vorstellung von Schwarzen als den exotisch Anderen. Aber einigen Schwarzen Künstlern gelang es, auf dieser Basis eine beachtliche Karriere zu machen. Ein Beispiel dafür bietet der aus Kamerun stammende Schauspieler Ludwig M’bebe Mpessa, der unter seinem amerikanisierten Künstlernamen Louis Brody bis in die NS-Zeit hinein in einer Vielzahl von deutschen Spielfilmen mitwirkte.
QuellentextVon Kamerun nach Babelsberg: Die Geschichte des Schauspielers Louis Brody
Ludwig M’bebe Mpessa, der sich später Louis Brody nannte, wurde am 15. Februar 1892 in Duala/Kamerun geboren. Wie er nach Deutschland kam, ist unbekannt. Mit 23 Jahren bekam er seine erste Rolle […]. Immer wieder trat er in Abenteuerfilmen als bedrohlich-exotischer "schwarzer Mann" auf. […]
Die Nazi-Zeit bedeutete für Louis Brody keinen Bruch in seiner Karriere. Für das neue Genre der Kolonialfilme brauchten die Nazis schwarze Schauspieler. […] Am bekanntesten wurde […] [Louis Brody] in der Rolle des bösen Häuptlings im NS-Kolonialfilm Ohm Krüger von 1941. Brody gehörte zu den wenigen schwarzen Darstellern, denen auch Sprechrollen zugestanden wurden – die meisten schwarzen Filmkomparsen hatten lediglich dekorativ im Hintergrund herumzustehen, während im Vordergrund die weißen "Herrenmenschen" ihre Heldentaten vollbrachten. Die Rollen, die Brody zu spielen hatte, zeigten ihn allerdings stets in untergeordneter Position, mal als Diener oder Barmann, manchmal auch als Ringer. […] Seine vielseitige Begabung und seine großen Sprachkenntnisse sicherten ihm bis zum Kriegsende seinen Lebensunterhalt – und retteten ihm möglicherweise das Leben. 1938 heiratete er die schwarze Danzigerin Erika Diek, deren Vater ebenfalls aus Kamerun stammte. Sie erzählt über das Leben damals in einem Interview:
"Meinem Mann wurde die deutsche Staatsangehörigkeit damals auch aberkannt. Da Kamerun noch französische Kolonie war, wandte er sich an das französische Konsulat und erhielt ohne weiteres die französische Staatsangehörigkeit. Somit wurde ich durch die Heirat französische Staatsbürgerin. Wir mussten uns jede Woche bei der Polizei melden. In Berlin hatten wir viel auszustehen. Als ich schwanger war, bekam ich zu hören: ‚Unser Führer legt keinen Wert auf solche Kinder.‘ Als unsere Tochter vier Jahre alt war, meldete ich sie im Kindergarten an, ich arbeitete den Tag über. Nach einer Woche durfte ich sie nicht mehr hinbringen, da den anderen Kinder nicht zugemutet werden konnte, mit einem ‚Negerkind‘ zu spielen. […]"
Den Zusammenbruch der NS-Herrschaft erlebte Brody in Berlin […]. Nach dem Krieg setzte er seine Schauspielerkarriere bei der Deutsche Film AG (DEFA) fort. Außerdem trat er als Sänger und Schlagzeuger der McAllen Band […] auf. Noch 1950 ging er mit dieser Formation auf Tournee. Am 11. Februar 1951 starb Louis Brody in Berlin und wurde auf dem Friedhof Berlin-Hohenschönhausen beerdigt. Sein Grab existiert heute nicht mehr.
© Deutsches Historisches Museum Externer Link: https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/namibia/stadtspaziergang/muenzenbergkonzern.htm
Der unumstrittene Star der Schwarzen Kulturszene dieser Zeit war allerdings Josephine Baker. Mit ihrer Revue Nègre schlug sie besonders das Pariser Publikum in ihren Bann, doch auch anderswo jubelten die Weißen Zuschauer der Tänzerin zu. Indem sie koloniale Stereotype aufgriff und künstlerisch umsetzte – etwa in ihrem berühmten "Bananentanz" –, wendete sie den Rassismus der Weißen subversiv gegen diese. Der – in den Augen des Weißen Publikums – Primitivismus und die unverstellte Sexualität, die in den Schwarzen Aufführungen zum Ausdruck kamen, verband sich mit der Jazz-Musik und den Einflüssen der afroamerikanischen Harlem Renaissance, einer Bewegung afroamerikanischer Künstler und Schriftsteller der 1920er-Jahre, zu einer wirkmächtigen Gegenkultur. Auch sie trug, zusammen mit dem wachsenden politischen Aktivismus Schwarzer Menschen, dazu bei, die Selbstverständlichkeiten europäischer Kolonialherrschaft zu hinterfragen. "Repatriierte" und (Dekolonisations-) Migration nach 1945
Die Wanderungsbewegungen in das Europa der Zwischenkriegszeit nehmen sich freilich gering aus im Vergleich zur massenhaften Migration nach 1945. Sie veränderte einige der westeuropäischen Gesellschaften von Grund auf.
Nach wissenschaftlichen Schätzungen kamen zwischen 1950 und 1980 zwischen fünf und acht Millionen Menschen in Folge von Dekolonisationsprozessen nach Europa. Dies bettet sich ein in ein dramatisches globales Wanderungsgeschehen, war doch fast die gesamte Welt nach dem Zweiten Weltkrieg in Bewegung geraten. Millionen von Menschen verließen ihre Heimat, weil sie flüchten mussten oder vertrieben wurden:
wie beispielsweise jene Deutschen, die sich östlich von Oder und Neiße angesiedelt hatten. Ganz aktuell beginnt die Geschichtswissenschaft über die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten auch unter dem Vorzeichen postkolonialer Migration zu diskutieren; wie Millionen von Hindus sowie Muslimen und Muslimas, die im Zuge der indischen Unabhängigkeit zwischen Indien und dem neuen Staat Pakistan umsiedeln mussten; oder wie aus Europa stammende Siedler, Verwaltungsbeamte, Lehrkräfte, Militärs oder Missionare, die nach der Dekolonisation Länder in Afrika oder Asien verlassen mussten oder wollten. Nicht vergessen werden dürfen auch die zahlreichen kolonialen Hilfstruppen und Personen, die vor Ort die jeweilige Kolonialmacht unterstützt hatten und sich dort nun massiven Anfeindungen ausgesetzt sahen. Und schließlich wanderte eine große Zahl von Menschen aus den vormaligen Kolonien nach Europa, um dort Arbeit zu finden oder weil Familienangehörige bereits in Europa lebten.
Die Heterogenität postkolonialer Migration
Wie heterogen die Gruppen der postkolonialen Zuwanderung waren, zeigte sich am Beispiel der Niederlande. Dorthin wanderten zwischen 1945 und 1963 rund 300.000 Menschen aus dem unabhängig werdenden Indonesien, darunter auch 12.000 Südmolukker (Ambonesen) als Angehörige der kolonialen Hilfstruppen.
In Großbritannien begann die postkoloniale Zuwanderung Ende der 1940er-Jahre, als vor allem Menschen aus der Karibik eintrafen. Zum Symbol wurde die Ankunft des Schiffes Empire Windrush, das 1948 eigentlich Soldaten von Jamaika nach Großbritannien befördern sollte, bei seiner Ankunft indes auch knapp 500 Jamaikaner an Bord hatte. Sie beriefen sich auf den British Nationality Act von 1948, auf dessen Basis alle Bürger des Commonwealth auch Bürger Großbritanniens waren. Ab Mitte der 1950er-Jahre gewann dann die Einwanderung vom indischen Subkontinent an Gewicht. 1966/67 wurde die Millionengrenze der zeitgenössisch und offiziell als "farbig" ("coloured") beschriebenen Zuwanderung nach Großbritannien überschritten.
Zur selben Zeit erlebte auch Frankreich einen steigenden Zuzug aus seinen Kolonien. Hatte das Land schon seit den 1920er-, verstärkt seit den 1950er-Jahren Arbeitskräfte aus Nordafrika aufgenommen, so kamen nun weitere Zuwanderer im Kontext des Krieges um Algerien und dessen anschließende Unabhängigkeit. In den frühen 1960er-Jahren wanderten allein rund eine Million Algerienfranzosen aus dem nordafrikanischen Land nach Frankreich ein. Fast zwei Drittel von ihnen siedelten sich zu Beginn in Marseille an, was die Stadt rasch an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit brachte.
Zusätzlich kamen noch rund 91.000 Harkis, die als ehemalige koloniale Hilfstruppen während des Algerienkrieges nunmehr in ihrer Heimat Vergeltungsakte gewärtigen mussten und in ihrer Existenz bedroht waren. Allein in den acht Wochen nach Abschluss der Abkommen von Evian im März 1962, die den Algerienkrieg beendeten und die Unabhängigkeit Algeriens besiegelten, waren 10.000 von ihnen ermordet worden oder auf andere Weise verschwunden. Die wachsende Zuwanderung stellte den französischen Staat vor Probleme, die für die unterschiedlichen Gruppen der Neuankömmlinge unterschiedlich gelöst wurden.
Eine ähnlich gedrängte und intensive Form der Zuwanderung erlebte von den westeuropäischen Ländern ansonsten nur Portugal. Dorthin gelangten 1973/74 rund eine halbe Million Menschen aus Angola, Mosambik und den übrigen nunmehr selbstständigen portugiesischen Kolonien. Diese sogenannten "retornados" machten dem Historiker Jochen Oltmer zufolge Mitte der 1970er-Jahre gut sechs Prozent der portugiesischen Bevölkerung aus. Deutlich geringer blieb der Anteil von Kongolesen in Belgien, einer Gruppe, die von der belgischen Politik wie von der sozialwissenschaftlichen Forschung lange Zeit weitgehend ignoriert wurde. Schätzungsweise 60.000 Menschen aus dem Kongo leben heute in Belgien.
Begrenzung postkolonialer Zuwanderung
Was die Zahlen hier nicht wiedergeben können, sind die bisweilen dramatischen Umstände, unter denen die Menschen aus den unabhängig werdenden Kolonien nach Europa gelangten. Gerade diejenigen, die in den vormaligen Siedlerkolonien gelebt hatten, erlebten häufig Traumatisches. Da die koloniale Herrschaft dort am längsten und nachdrücklichsten verteidigt wurde, erfolgte die Auswanderung bzw. Flucht am Ende häufig überstürzt. Und in den europäischen Aufnahmegesellschaften waren allzu oft nicht hinreichend Vorkehrungen getroffen worden, um die große Zahl der postkolonialen Ankömmlinge zügig aufnehmen zu können. Soziale Probleme waren die Folge, die sich insbesondere in unzulänglichen Wohnbedingungen und Bildungsangeboten niederschlugen.
Doch auch in politischer Hinsicht zeitigte die postkoloniale Zuwanderung nachhaltige Effekte. Denn aus der Auseinandersetzung mit ihr erwuchsen neue Regeln, die darüber entschieden, wer als zugehörig und wer als "fremd" galt, wer staatsbürgerliche Rechte beanspruchen durfte oder allenfalls das Gastrecht in Anspruch nehmen konnte. Hier lohnt ein Blick auf Großbritannien: Ganz unverstellt tritt der Rassismus der britischen Regierung und weiter Teile des Parlaments vor Augen, wenn man die zeitgenössischen Debatten über den 1962 verabschiedeten Commonwealth Immigrants Act verfolgt. Auf seiner Grundlage wurde die Zuwanderung aus den Kolonien bewusst beschränkt und erschwert. Was pro forma für alle postkolonialen Zuwanderer galt, traf de facto besonders diejenigen aus Indien, Pakistan und der Karibik. Weitere Gesetze in den Folgejahren verschärften die Bedingungen für Zuwanderung und für die Inanspruchnahme der britischen Staatsbürgerschaft weiter. Mit dem British Nationality Act zog die Regierung Thatcher 1981 schließlich einen Schlussstrich unter eine jahrhundertalte Praxis und begründete eine eigene, spezifisch britische (und nicht mehr Commonwealth-)Staatsangehörigkeit.
Auch Frankreich verengte die Zuzugsmöglichkeiten seiner vormaligen kolonialen "Untertanen". Hatte die IV. Republik nach 1946 noch die Fiktion einer zusammenhängenden Union Française mit Freizügigkeit – auch nach Frankreich – aufrechterhalten, so wurde 1973 Menschen aus Afrika die Sicherheit des Zuzugsrechts gesetzlich aufgekündigt. In den Niederlanden wiederum wurden zwar die Weißen Zuwanderer aus Indonesien rechtlich gleichgestellt, doch die Molukker blieben bis in die 1980er-Jahre staatenlos und erhielten erst spät die Chance, die niederländische Staatsangehörigkeit überhaupt zu beantragen.
Soziale Konflikte: die Grenzen der Integration
Ob und wie die Neuankömmlinge in den europäischen Gesellschaften Fuß fassen und sich ein neues Leben aufbauen konnten, hing zuallererst davon ab, wann sie dorthin gelangten. Was zunächst banal erscheinen mag, erweist sich bei näherer Betrachtung tatsächlich als einer der wesentlichen Faktoren im Prozess der sozialen Integration. Am leichtesten taten sich jene, die in den 1950er-Jahren zuwanderten. Denn bis dahin hatten die europäischen Gesellschaften die akuten ökonomischen und sozialen Nachkriegskrisen überwunden, das wirtschaftliche Wachstum nahm zu und mit ihm stieg die Beschäftigtenquote. Arbeitskräfte waren bald stark nachgefragt – so sehr, dass die westeuropäischen Unternehmen Arbeitskräfte in Süd-, dann auch in Südosteuropa gezielt anwarben.
Wer in den Zeiten des Nachkriegsbooms aus einer Kolonie nach Westeuropa zuwanderte, hatte demnach gute Chancen, rasch in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Allerdings teilten die postkolonial Zugewanderten auf dem Arbeitsmarkt häufig das Schicksal der Arbeitskräfte aus Süd- und Südosteuropa, indem für sie allzu oft nur die körperlich schweren, schmutzigen und gefährlichen Arbeiten blieben, welche die Weißen Arbeiter angesichts besserer Angebote nicht mehr übernehmen wollten. Und sowohl postkoloniale wie süd(ost)-europäische Arbeitskräfte waren in besonderem Maße betroffen, als sich die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt ab den frühen 1970er-Jahren verschlechterten und die Konkurrenz um schwindende Jobs zunahm.
Die "Farbigen" in der britischen Gesellschaft
In Großbritannien erwies sich die Hautfarbe als entscheidender Faktor, der über die Integrationschancen entschied. Den zugewanderten, als "Farbige" ("coloured") Bezeichneten blieb zunächst nichts anderes übrig, als sich in den heruntergekommenen innerstädtischen Vierteln anzusiedeln, aus denen die Weiße Bevölkerung sobald als möglich weggezogen war. Dort trafen sie nicht nur auf schlechte Wohnbedingungen, sondern auch auf schlechte Bildungschancen, schlechte Sozialdienste und eine schlechte medizinische Versorgung.
Dennoch konnten sich viele Zugewanderte vor allem aus Südasien im Laufe der 1960er-Jahre, als Familien den zunächst allein eingewanderten Männern nachzogen, bescheidene selbstständige Existenzen aufbauen. Aus dem britischen Alltag sind die indisch- oder pakistanischstämmigen Familien, die Zeitungsgeschäfte, Imbissrestaurants, Reinigungen oder Kleiderläden betreiben, seither nicht mehr wegzudenken. Ganz nach dem Wunsch liberaler Kreise in der Weißen britischen Gesellschaft assimilierten sich oft vor allem die aus Indien Zugewanderten und passten ihr familiäres wie soziales Leben an das der Durchschnittsbriten an. Freilich eigneten sie sich auch deren Rechte an, und so ist es kaum überraschend, dass sich die abhängig Beschäftigten aus Südasien bald auch gewerkschaftlich organisierten. 1964/65 fanden erste Arbeitskämpfe mit indischer und pakistanischer Beteiligung statt.
Bemerkenswert ist, dass die aus den Kolonien zugewanderten Menschen häufig erst in Europa ein spezifisches ethnisches Selbstbewusstsein ausprägten. Besonders deutlich wird dies an den Zuwanderern aus der Karibik, die sich in ihren Heimatländern etwa als Einwohner von Jamaika oder Trinidad, in der neuen britischen Umgebung aber bald als "Afro-Caribbeans" verstanden.
Integrationsprobleme in Frankreich
In Frankreich verlief die soziale Trennlinie ebenfalls entlang rassistischer Zuschreibungen, in die sich koloniale Repräsentationen, also hierarchische Verhältnisse aus der Kolonialzeit, mischten. Wer etwa aus Algerien nach Frankreich kam, traf auf höchst unterschiedliche Chancen. Eine Sonderstellung hatten die "Repatriierten" aus Algerien, die auch als "pieds-noirs" bezeichnet wurden. Zu diesen zählten nicht nur Weiße Siedler oder Angehörige der Kolonialverwaltung, sondern auch jene Français musulmans d’Algérie, die Funktionen in der Kolonialverwaltung innegehabt hatten. Ethnische oder religiöse Differenzen traten in den Hintergrund, sie wurden wie die Weißen behandelt. Die Weißen unter ihnen stammten im Übrigen keineswegs alle aus Frankreich. Manche waren ursprünglich in Italien, Spanien oder auf Malta beheimatet gewesen und hatten sich anschließend im kolonialen Algerien niedergelassen.
Nun, in Frankreich, suchten sich die Repatriierten vor allem im Süden des Landes eine neue Heimat aufzubauen. Dabei unterstützte sie der französische Staat, der bis 1965 rund 114.000 Sozialwohnungen für diese Zuwanderungsgruppe errichtete. Dennoch blieben zunächst Tausende auf Behelfsunterkünfte angewiesen, die auf die Schnelle in Ferienanlagen, Hotels oder Herbergen aller Art eingerichtet worden waren. Um die Repatriierten zu integrieren, gewährte der Staat ihnen günstige Kredite, half bei der Arbeitsvermittlung, und in der Tat gelang es vielen von ihnen, sich eine gute Existenz zu sichern. Ihre Massenpolitisierung, die sich die politische Rechte erhofft hatte, blieb aus.
Andere Probleme der Integration sah der französische Staat bei den vornehmlich muslimischen Arbeitsmigranten, die schon in den 1950er-Jahren nach Frankreich gekommen waren und dort wesentlich zum wirtschaftlichen Wiederaufbau und Aufschwung des Landes beigetragen hatten. Laut der US-amerikanischen Historikerin Amelia Lyons waren diese Migranten willkommen, weil ihre Arbeitskraft gebraucht wurde. Sie belegte zudem, dass auch der Nachzug von deren Frauen und Familien unterstützt wurde, weil die französischen Behörden überzeugt waren, dies diene der Integration der arbeitenden Männer in die französische Gesellschaft. Flankiert wurde dies durch eine Reihe sozialer Maßnahmen, darunter der Einsatz von Sozialarbeitern und Managern von Wohnanlagen, die die Assimilierung der neu Zugezogenen erleichtern sollten. Lyons argumentiert, Unterstützung, Disziplinierung und soziale Kontrolle seien in diesem Fall Hand in Hand gegangen, worin sie auch eine Übertragung kolonialer Herrschaftstechniken nach Frankreich selbst sieht.
Andere Historikerinnen und Historiker haben darauf verwiesen, dass aus Algerien stammende Arbeitskräfte von der französischen Regierung in dem Moment als Problem wahrgenommen wurden, als die FLN begann, unter den algerischen Arbeitern zu agitieren und sie für den Unabhängigkeitskampf zu mobilisieren. Daher sei ihre wachsende Kontrolle nicht nur durch soziale und kulturelle Differenz, sondern auch durch politische Sorgen auf französischer Seite motiviert gewesen.
In völlig anderer Situation befanden sich die algerischen Muslime, die als koloniale Hilfstruppen die französische Herrschaft unterstützt hatten. Die sogenannten Harkis waren nach der Unabhängigkeit Algeriens vielfach brutalen Vergeltungsmaßnahmen seitens ihrer Landsleute ausgesetzt gewesen. Sie sind die Verlierer der französischen Dekolonisation. Viele von ihnen verließen ihr Heimatland 1962 vollkommen überstürzt, ohne dass ihnen von der französischen Regierung Hilfe zugesichert worden war. Im Gegenteil, Paris wollte ihren Zuzug möglichst verhindern. Gleichwohl fanden rund 91.000 Harkis einschließlich ihrer Familien Zuflucht in Frankreich. Sie wurden zunächst in Lagern untergebracht, wo oft schlechte hygienische und soziale Bedingungen herrschten, darunter das Lager Rivesaltes in den Pyrenäen, das auch schon zur Unterbringung von Juden sowie Sinti und Roma während der deutschen Besatzung im Krieg gedient hatte.
Manche Harkis mussten mangels Alternativen für 10 bis 15 Jahre in diesen Lagern ausharren. Andere zogen in die Städte, um Arbeit zu finden. Dort wohnten sie, gemeinsam mit anderen Zugewanderten aus dem Maghreb, vielfach unter erbärmlichen Bedingungen in Wellblechhütten und anderen Behelfsunterkünften in den sogenannten Bidonvilles – Slum-ähnlichen Ansiedlungen an den städtischen Randzonen. Ihre Integration gelang nur unter großen Schwierigkeiten, zumal sich die Ausgrenzung über Generationen weiter vererbte. Im Hinblick auf Ungleichheiten blieben in ihrem Leben die kolonial bestimmten Statuszuweisungen erhalten, in gewissem Sinne konnten sie den imperialen Raum nie verlassen.
Große Unterschiede: die Niederlande und Portugal im Vergleich
Ähnliche Probleme der Integration zeigten sich im Fall der Molukker in den Niederlanden. Auch sie verbrachten lange Jahre in Behelfslagern, darunter auch das ehemalige Konzentrationslager Westerbork, das unter neuem Namen bis Anfang der 1970er-Jahre genutzt wurde. Während die überwiegend eurasischen "Indische Nederlanders" aus Indonesien als kulturell gleich angesehen wurden und ihre Integration in die niederländische Gesellschaft gelang, blieben die Molukker ausgegrenzt; nennenswerte staatliche Integrationsbemühungen wurden nicht unternommen. Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt waren schlecht, und es blieb ungeklärt, ob und wie sie als ehemalige Angehörige der niederländischen Kolonialtruppen weiter versorgt würden. Frustration und schließlich Gewaltbereitschaft machte sich gerade unter den Jüngeren breit.
Vor diesem Hintergrund mutet es überraschend an, wie gut es Portugal gelang, die vergleichsweise hohe Zahl von retornados zu integrieren. Freilich waren – und dies ist eine Besonderheit in der europäischen Migrationsgeschichte – die meisten von ihnen erst in den 1950er- und 1960er-Jahren überhaupt in die Kolonien ausgewandert, hatten ihre Verbindungen in die Heimat aufrechterhalten und kehrten nun, ein bis zwei Jahrzehnte nach ihrer Migration, dorthin zurück. Den häufig gut ausgebildeten jungen Männern, die das Gros der Migranten stellten, boten sich nach dem politischen Umbruch in Portugal Chancen in der Verwaltung, zumal sie sich auch nicht in einer Region ballten, sondern sich über das gesamte Land verteilten. Familiäre Verbindungen und, wie in Frankreich, umfangreiche staatliche Hilfsprogramme, erleichterten zusätzlich ihre Integration. Politische Krisen und Gewalt
Die postkoloniale Zuwanderung, ja die Dekolonisierung selbst zog eine Welle der Gewalt auch in Europa nach sich, die dem friedlichen Selbstbild der europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg entgegensteht. Ganz neu war das Phänomen nach 1945 nicht.
Denn rassistisch motivierte Gewalt trat bereits offen zutage, als im Ersten Weltkrieg erstmals Soldaten und Arbeiter aus den Kolonien nach Europa kamen. In Frankreich, wo vergleichsweise die meisten Hilfskräfte aus den Kolonien eingesetzt wurden, kam es seit 1917 immer wieder zu rassistischen Übergriffen. Zum einen galten die Arbeiter aus Indochina und Afrika als billige "Schmutzkonkurrenz" und zum anderen gingen Teile der Weißen Gesellschaft davon aus, dass der Einsatz der Kolonialarbeiter in der Kriegsindustrie französische Arbeiter für den Fronteinsatz freistellen würde – in einem Krieg, dessen die meisten Französinnen und Franzosen längst überdrüssig geworden waren. Die Kolonisierten wurden als Sündenböcke für das Versagen der politischen wie militärischen Führung angegriffen, und es ist eben kein Zufall, dass sich die Attacken auf sie 1917 häuften. Denn im gleichen Jahr gaben Streiks und Meutereien in der Armee der um sich greifenden Kriegsmüdigkeit der Franzosen Ausdruck.
Zur Zielscheibe rassistischer Angriffe wurden Arbeiter und Soldaten aus den Kolonien auch nach dem Krieg. In den britischen Hafenstädten, wo besonders viele von ihnen als Seeleute oder Hafenarbeiter tätig waren, kam es zu ersten "Rassenunruhen" (race riots), ein Begriff, der seit 1945 zum Grundvokabular der britischen Gesellschaftsgeschichte gehört.
Unverhohlenem Rassismus begegneten schließlich auch die Schwarzen Besatzungssoldaten, die nach 1919 in französischen Diensten im Rheinland über die Demilitarisierung wachten. Ihnen wurde von deutscher Seite nicht nur eine ausgeprägte (insbesondere sexuell motivierte) Neigung zu Gewalt unterstellt, sondern sie wurden ein ums andere Mal auch selbst Opfer gewalttätiger Übergriffe.
In besonderer Weise stellte sich die Gewaltfrage jedoch nach 1945. Nicht nur verliefen viele der Dekolonisierungskonflikte außerordentlich gewaltsam, sondern der Kampf um die Dekolonisation wurde auch in die Metropolen selbst getragen. Vor allem aber machten postkoloniale Migrantinnen und Migranten auch in den europäischen Gesellschaften Gewalterfahrungen.
Alltägliche (Staats-)Gewalt in Großbritannien und Frankreich
Physische Gewalt gehörte überall in Europa zu den Alltagserfahrungen postkolonialer Migranten, doch in Großbritannien kam sie besonders zum Tragen. Ein erster Höhepunkt war erreicht, als 1958 Weiße Jugendliche im Londoner Stadtteil Notting Hill einen aus der Karibik stammenden Mann angriffen, den sie in Begleitung einer Weißen, aus Schweden stammenden Frau antrafen. Eine ganze Woche lang streiften männliche Weiße Jugendliche ("Teddy Boys") durch das Viertel und griffen immer wieder Farbige Menschen an, die ihrerseits mit Gewalt zurückschlugen. Die britische Öffentlichkeit nahm diese Zusammenstöße als "(Notting Hill) race riots" wahr. Die afrokaribische Community wiederum, die Polizeirazzien in ihren Restaurants und Läden durchaus gewohnt war, sah sich durch die Vorkommnisse ein weiteres Mal herausgefordert. Sie reagierte darauf, indem sie sich öffentlich sichtbar zu machen und ihren kulturellen Eigensinn zu formulieren und zu behaupten suchte. Der Notting Hill Carnival, heute ein touristisches Großereignis in der britischen Hauptstadt, hat hier seinen Ursprung.
Neben alltäglicher rassistisch motivierter Gewalt aus den Weißen Gesellschaften selbst heraus sahen sich migrantische Gemeinschaften auch immer wieder der Polizeigewalt ausgesetzt. So hatten die französischen Sicherheitsbehörden während des Algerienkrieges die in Frankreich ansässige algerische Bevölkerungsgruppe besonders in den Blick genommen. Sie wollten damit terroristische Gewaltakte verhindern, die von der FLN in großer Zahl verübt wurden, wandten dabei aber oft harte Methoden an, auch Folterungen bei Verhören sind bezeugt. Nach mehreren Mordanschlägen, die auch Polizisten gegolten hatten, war die Polizei in starkem Maße alarmiert.
Als am 17. Oktober 1961 algerische Migranten in Paris gegen eine Ausgangssperre und andere, als Schikane empfundene Polizeimaßnahmen protestierten und ihre Unterstützung für die FLN und deren Unabhängigkeitskrieg kundtaten, eskalierte die Situation. Dem Polizeieinsatz gegen die Demonstranten fielen offiziellen Berichten zufolge drei Algerier zum Opfer, während die britischen Historiker Jim House und Neil MacMaster in ihrer sorgsam abwägenden Untersuchung zum Schluss kommen, dass die Polizei mehr als 120 Demonstrierende tötete. Sie setzte brutal ihre Schlagstöcke ein, Zeitzeugen sahen Leichen in der Seine treiben, doch zu einer offiziellen Untersuchung kam es nicht. Erst 1998, als der damals verantwortliche Polizeipräfekt Maurice Papon wegen seiner Aktivitäten für das Vichy-Regime im Zweiten Weltkrieg als Angeklagter vor Gericht stand, wurden auch die Ereignisse vom Oktober 1961 öffentlich breiter thematisiert.
Maurice Papon ist in gewissem Sinne eine exemplarische Gestalt für den Kreislauf der Gewalt, der zwischen den westeuropäischen Gesellschaften und ihren Kolonien bestand. Als junger Mann war er während des Zweiten Weltkriegs für das Vichy-Regime tätig, die französische Regierung, die eng mit der deutschen Besatzungsmacht kooperierte. Von 1956 bis 1958, also während des Algerienkrieges, verfolgte er als Präfekt der algerischen Provinz Constantine einen harten Kurs, bis er nach Paris versetzt wurde.
Übertragungen der Gewalt von Indochina über Algerien nach Frankreich lassen sich im französischen Fall mehrfach belegen, im britischen Fall führten prominente Karrieren von der Aufstandsbekämpfung in Malaya über die Niederschlagung des "Mau-Mau-Aufstands" in Kenia bis zum Einsatz gegen die Gewalt der Irisch-Republikanischen Armee (Irish Republican Army, IRA) in Nordirland.
Europa als Austragungsort des antikolonialen Befreiungskampfes
Es würde allerdings bei weitem zu kurz greifen, allein auf die von Europäern verübte Gewalt zu blicken. Drei Beispiele mögen genügen, um zu ermessen, wie der antikoloniale Befreiungskampf von den Kolonisierten auch nach Europa getragen wurde. Auch hier bietet Frankreich das markanteste Beispiel. Die algerische Befreiungsfront FLN führte ihren Kampf gegen die verhassten französischen Kolonialherren ab 1958 auch auf französischem Boden. Besonders in Paris, Lyon und Lille kam es mehrfach zu Anschlägen, allein zwischen Ende August und Anfang Oktober 1961 wurden in Paris elf französische Polizisten ermordet und eine Reihe weiterer verletzt.
Ein weiterer Schauplatz postkolonialer Gewalt waren die Niederlande. Hier politisierte und radikalisierte sich insbesondere die zweite Generation jener Molukker, die in den 1950er-Jahren nach Europa gekommen waren. Nachdem die niederländische Regierung dem 1950 ausgerufenen und 1955 von indonesischen Truppen eroberten autonomen Staat Ambon keine Unterstützung gewährte und sie selbst in den Niederlanden marginalisiert waren, griffen junge Molukker in den 1970er-Jahren zu politischer Gewalt. Schon 1970 wurde die Dienstwohnung des indonesischen Botschafters in den Niederlanden von Tätern aus ihren Kreisen überfallen, wobei es zu Toten und Verletzten kam. 1975 schließlich machten sie durch eine spektakuläre Zugentführung in der Provinz Drente und die Besetzung des indonesischen Konsulats in Amsterdam auf sich aufmerksam, zwei Jahre später nahmen sie in einer Grundschule Geiseln und entführten abermals einen Zug. Durch diese erneute Herausforderung sah sich die niederländische Regierung veranlasst, von ihrem bis dahin eher vermittelnden Kurs abzurücken und Härte zu zeigen. "Innere Sicherheit" etablierte sich in Reaktion darauf in den Niederlanden unumkehrbar als zentrales Politikfeld.
Schließlich ist im Kontext postkolonialer Gewalt auf ein Phänomen hinzuweisen, das in der europäischen Öffentlichkeit nur selten in diesem Zusammenhang gesehen wird: Auch die Gewaltaktionen der IRA, die seit den 1920er-Jahren immer wieder aufflackerten und sich nach 1969 und dann vor allem nach den "troubles" von 1972 vollends intensivierten, deutet die neuere historische Forschung zunehmend als postkoloniale Gewalt. Denn der IRA ging es zunächst um die Unabhängigkeit Irlands, dann um die Vereinigung der Republik Irland mit dem weiterhin zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland. Und die nordirische wie die britischen Regierungen hielten gewaltvoll dagegen und brachten auch die britische Armee zum Einsatz. Allein nach 1971 kostete dieser Konflikt 3500 Menschen das Leben, mehr als die Hälfte davon waren Zivilisten.
Nicht ausgeblendet werden darf in diesen Zusammenhängen, dass sich Teile der Weißen Jugend Europas in den 1960er- und 1970er-Jahren von den gewaltvollen kolonialen Unabhängigkeitskämpfen angesprochen fühlten und sich die radikalen Positionen kolonialer Gruppen aneigneten. Die Schriften Mao Zedongs, vor allem aber Frantz Fanons übten hier einen markanten Einfluss aus.
Der aus Martinique stammende, dann in Algerien aktive Psychiater und Philosoph Frantz Fanon verfasste mit den "Verdammten dieser Erde" (Les damnés de la terre) 1961 eine Schrift, die, in 15 Sprachen übersetzt, bald zu einem zentralen Text für die oppositionellen Jugendbewegungen im Westeuropa der 1960er-Jahre wurde. In ihr argumentierte er, dass das koloniale Subjekt sich nur durch Gewalt seiner selbst bewusst werden und sich befreien könne. Damit mobilisierte er nicht nur politisch, sondern gab auch den postcolonial studies späterer Jahre erste Impulse. Nicht von ungefähr beriefen sich linke Terrorgruppen in Westeuropa auf die Schriften Fanons, wenn sie ihre Taten als antikolonialen Befreiungskampf in den Metropolen selbst deuteten oder sich im Sinne Maos auf der "äußersten Linie der Befreiungskämpfe" wähnten.
QuellentextFrantz Fanon – eine Ikone des Antikolonialismus
Das Buch schlug ein wie eine Bombe: Im Dezember 1961 erschien auf Französisch im linken Pariser Verlag Maspéro "Die Verdammten dieser Erde". Der Text, halb sozialpsychologische Analyse des Kolonialismus, halb politische Kampfschrift, avancierte zu einem zentralen Erweckungstext der antikolonialen Linken in vielen Teilen der Welt. In den zehn Jahren nach seinem Erscheinen erlebte das Buch acht Auflagen in Frankreich, vier in den Vereinigten Staaten und drei in Großbritannien. In Deutschland erschien es zunächst 1966 im Suhrkamp Verlag, drei Jahre darauf in der seinerzeit weitverbreiteten und von einem progressiven Geist umwehten Reihe "rororo aktuell".
Der Autor, Frantz Fanon, war, wie einer seiner Biographen schrieb, ein Mann "mit vielen Identitäten, vielen Talenten und vielen Betätigungen". 1925 auf der von Frankreich kolonial beherrschten Karibikinsel Martinique geboren, studierte er in Frankreich und ging zu Beginn der fünfziger Jahre nach Algerien, wo er einige Jahre als Chefarzt in einer psychiatrischen Klinik arbeitete. Nach dem Ausbruch des algerischen Unabhängigkeitskrieges schloss er sich dem Front de Libération Nationale (FLN) an, für den er zeitweilig als Gesandter unterwegs war. Die Unabhängigkeit Algeriens erlebte er freilich nicht mehr. Nur drei Tage nach der Publikation von "Die Verdammten" starb er in einem Krankenhaus in Washington an Leukämie.
Fanon stellte in seiner Schrift Gewalt als letztlich einziges wirksames antikoloniales Gegenmittel hin. Den Gedanken der Menschenwürde, wie er im Westen vertreten wurde, empfand er hingegen als heuchlerisch, weshalb er sich ausdrücklich von ihm distanzierte. "Von jenem idealen Menschen", schrieb Fanon, "hat der Kolonisierte niemals gehört. Was er auf seinem Boden gesehen hat, ist, dass man ihn ungestraft festnehmen, schlagen, aushungern kann." Der Glaube an Rechts- und Menschenrechtsversprechen war für ihn lediglich ein faules Arrangement mit den kolonialen Unterdrückern. Fanons Sicht von Gewalt als Gegeninstrument zur Kraft des Kolonialismus hat seinerzeit eine Reihe von anderen afrikanischen Intellektuellen angesteckt, galt aber auch als Inspiration für den europäischen Terrorismus. So berief sich die Rote Armee Fraktion auf Fanon, um Gewalt als legitimes Mittel gegen den "neuen Faschismus" in der Bundesrepublik zu propagieren.
In den achtziger Jahren versank Fanons Werk nicht nur hierzulande mehr oder weniger in der Nichtbeachtung. […]. Kaum bemerkt wurde in Deutschland, dass Fanon jedoch gleichzeitig zu einer Galionsfigur der postkolonialen Studien wurde. Den Ton setzte einer ihrer maßgeblichen Theoretiker, Homi Bhabha, der hervorhob, dass Fanon die schmerzhafte Erinnerung an die Geschichte von Rasse und Rassismus, Kolonialismus und kolonialer Identität mit größerer Tiefe und Poesie als jeder andere Schriftsteller vor Augen geführt habe. […]
Im Mittelpunkt der postkolonialen Wiedergeburt Fanons stand zunächst sein 1952 publizierter Erstling "Schwarze Haut, weiße Masken", in dem er eine Körper und Sprache einbeziehende Phänomenologie des Rassismus entfaltete. Das Buch stellte eine […] Mischung aus Psychoanalyse, Existenzphilosophie, Literatur und autobiografischen Reflexionen mit dem Ziel dar, die durch den Rassismus hervorgerufenen Phänomene der Entfremdung schwarzer Menschen zu fassen. […]
[…] Fanons Beschreibung der psychologischen Effekte alltagsrassistischer Erfahrung, die ihren unmittelbaren Bezugspunkt im Alltag der französischen Karibik-Kolonien, vor allem aber in den Lebensumständen schwarzer Migranten im Frankreich der Nachkriegszeit hat, [ist] von vielen Fanonologen […] aus diesem Kontext herausgelöst und […] sehr allgemein als Referenz für die Zeitlosigkeit des Alltagsrassismus genutzt worden. Seit einiger Zeit feiern die "Verdammten dieser Erde" ebenfalls ihre Renaissance, ebenso werden weitere Schriften wie "Für die afrikanische Revolution" oder "Aspekte der algerischen Revolution" neu entdeckt und gelesen. […]
Wie erklärt sich die breite Rezeption? "Wenn wir Fanon etwas verdanken", schreibt Achille Mbembe in seiner "Kritik der schwarzen Vernunft", "dann ist es der Gedanke, wonach in jeder menschlichen Person etwas Unbezähmbares, nicht zu Bändigendes steckt, das Herrschaft nicht zu eliminieren, einzudämmen oder vollständig zu unterdrücken vermag." Fanons Werk sei für alle Unterdrückten bis heute eine "Waffe aus Feuerstein". Überdies habe Fanon die Unerlässlichkeit einer radikalen gesellschaftlichen Erneuerung unterstrichen. Immer mehr Menschen gerade im "globalen Süden" brächten die Notwendigkeit zur Sprache, sich vom Pessimismus und Nihilismus Europas abzuwenden. Fanons Biographin Alice Cherki, die in einer algerischen Klinik als seine Assistentin arbeitete, hebt wie viele andere die Aktualität Fanons in unserer von Kriegen, Gewalt und Rassismus geprägten Ära neoliberaler Globalisierung hervor. Denn er habe gegen plakative ethnische und rassistische Zuschreibungen ebenso argumentiert wie eindringlich vor den über mehrere Generationen reichenden psychologischen Folgen von Kriegstraumata, Folter und anderen Formen entmenschlichender Gewalt gewarnt.
Fanons […] Studien sind bis heute stimulierend, weil sie jede kulturalistische und identitäre Interpretation des Politischen ablehnen, Wichtiges zur Verknüpfung von Krieg und sozialem Wandel zu sagen haben und den Kompromiss zwischen "kolonisierten Eliten" und der "Bourgeoisie in den Metropolen" als zentrales, bis heute präsentes Kennzeichen der Dekolonisation herausstellen. Überdies nahm Fanon in mancher Hinsicht die vielbeschworene "Provinzialisierung Europas" vorweg.
Ihm entgingen jedoch die Ambivalenzen der kolonialen Ordnung, die Versuche und Möglichkeiten der Kolonisierten, sich mit den Einmischungen der Kolonialherren auseinanderzusetzen, sie gar für sich zu nutzen. Er reduzierte den Kolonialismus auf einen binären Antagonismus [eine Auseinandersetzung zweier Gegner], machte aus ihm eine manichäische Welt [also eine Welt, die von ihren Betrachtern ohne Schattierungen ideologisch unterteilt wird in Anhänger des Guten oder des Bösen]. Fanons Werk bietet wenig für die Analyse des Kolonialismus und ist erst recht kein Passepartout zum Verständnis gegenwärtiger globaler Problemlagen. Die Kritik an unkritischen Huldigungen sollte freilich nicht davon abhalten, die von Fanon aufgeworfenen Fragen weiter zu diskutieren. Dazu sind sie zu wichtig.
Andreas Eckert, "Die Verdammten wachen wieder auf", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2017
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Im Ersten Weltkrieg kommen vermehrt Soldaten und Arbeitskräfte aus den Kolonien in die europäischen Mutterländer. Trotz staatlicher Hindernisse und gesellschaftlicher Diskriminierung lassen sich viele dort dauerhaft nieder. Indischer Bonbon-Verkäufer in London 1930. (© Imago / United Archives International)
Ludwig M’bebe Mpessa, der sich später Louis Brody nannte, wurde am 15. Februar 1892 in Duala/Kamerun geboren. Wie er nach Deutschland kam, ist unbekannt. Mit 23 Jahren bekam er seine erste Rolle […]. Immer wieder trat er in Abenteuerfilmen als bedrohlich-exotischer "schwarzer Mann" auf. […]
Die Nazi-Zeit bedeutete für Louis Brody keinen Bruch in seiner Karriere. Für das neue Genre der Kolonialfilme brauchten die Nazis schwarze Schauspieler. […] Am bekanntesten wurde […] [Louis Brody] in der Rolle des bösen Häuptlings im NS-Kolonialfilm Ohm Krüger von 1941. Brody gehörte zu den wenigen schwarzen Darstellern, denen auch Sprechrollen zugestanden wurden – die meisten schwarzen Filmkomparsen hatten lediglich dekorativ im Hintergrund herumzustehen, während im Vordergrund die weißen "Herrenmenschen" ihre Heldentaten vollbrachten. Die Rollen, die Brody zu spielen hatte, zeigten ihn allerdings stets in untergeordneter Position, mal als Diener oder Barmann, manchmal auch als Ringer. […] Seine vielseitige Begabung und seine großen Sprachkenntnisse sicherten ihm bis zum Kriegsende seinen Lebensunterhalt – und retteten ihm möglicherweise das Leben. 1938 heiratete er die schwarze Danzigerin Erika Diek, deren Vater ebenfalls aus Kamerun stammte. Sie erzählt über das Leben damals in einem Interview:
"Meinem Mann wurde die deutsche Staatsangehörigkeit damals auch aberkannt. Da Kamerun noch französische Kolonie war, wandte er sich an das französische Konsulat und erhielt ohne weiteres die französische Staatsangehörigkeit. Somit wurde ich durch die Heirat französische Staatsbürgerin. Wir mussten uns jede Woche bei der Polizei melden. In Berlin hatten wir viel auszustehen. Als ich schwanger war, bekam ich zu hören: ‚Unser Führer legt keinen Wert auf solche Kinder.‘ Als unsere Tochter vier Jahre alt war, meldete ich sie im Kindergarten an, ich arbeitete den Tag über. Nach einer Woche durfte ich sie nicht mehr hinbringen, da den anderen Kinder nicht zugemutet werden konnte, mit einem ‚Negerkind‘ zu spielen. […]"
Den Zusammenbruch der NS-Herrschaft erlebte Brody in Berlin […]. Nach dem Krieg setzte er seine Schauspielerkarriere bei der Deutsche Film AG (DEFA) fort. Außerdem trat er als Sänger und Schlagzeuger der McAllen Band […] auf. Noch 1950 ging er mit dieser Formation auf Tournee. Am 11. Februar 1951 starb Louis Brody in Berlin und wurde auf dem Friedhof Berlin-Hohenschönhausen beerdigt. Sein Grab existiert heute nicht mehr.
© Deutsches Historisches Museum Externer Link: https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/namibia/stadtspaziergang/muenzenbergkonzern.htm
Das Buch schlug ein wie eine Bombe: Im Dezember 1961 erschien auf Französisch im linken Pariser Verlag Maspéro "Die Verdammten dieser Erde". Der Text, halb sozialpsychologische Analyse des Kolonialismus, halb politische Kampfschrift, avancierte zu einem zentralen Erweckungstext der antikolonialen Linken in vielen Teilen der Welt. In den zehn Jahren nach seinem Erscheinen erlebte das Buch acht Auflagen in Frankreich, vier in den Vereinigten Staaten und drei in Großbritannien. In Deutschland erschien es zunächst 1966 im Suhrkamp Verlag, drei Jahre darauf in der seinerzeit weitverbreiteten und von einem progressiven Geist umwehten Reihe "rororo aktuell".
Der Autor, Frantz Fanon, war, wie einer seiner Biographen schrieb, ein Mann "mit vielen Identitäten, vielen Talenten und vielen Betätigungen". 1925 auf der von Frankreich kolonial beherrschten Karibikinsel Martinique geboren, studierte er in Frankreich und ging zu Beginn der fünfziger Jahre nach Algerien, wo er einige Jahre als Chefarzt in einer psychiatrischen Klinik arbeitete. Nach dem Ausbruch des algerischen Unabhängigkeitskrieges schloss er sich dem Front de Libération Nationale (FLN) an, für den er zeitweilig als Gesandter unterwegs war. Die Unabhängigkeit Algeriens erlebte er freilich nicht mehr. Nur drei Tage nach der Publikation von "Die Verdammten" starb er in einem Krankenhaus in Washington an Leukämie.
Fanon stellte in seiner Schrift Gewalt als letztlich einziges wirksames antikoloniales Gegenmittel hin. Den Gedanken der Menschenwürde, wie er im Westen vertreten wurde, empfand er hingegen als heuchlerisch, weshalb er sich ausdrücklich von ihm distanzierte. "Von jenem idealen Menschen", schrieb Fanon, "hat der Kolonisierte niemals gehört. Was er auf seinem Boden gesehen hat, ist, dass man ihn ungestraft festnehmen, schlagen, aushungern kann." Der Glaube an Rechts- und Menschenrechtsversprechen war für ihn lediglich ein faules Arrangement mit den kolonialen Unterdrückern. Fanons Sicht von Gewalt als Gegeninstrument zur Kraft des Kolonialismus hat seinerzeit eine Reihe von anderen afrikanischen Intellektuellen angesteckt, galt aber auch als Inspiration für den europäischen Terrorismus. So berief sich die Rote Armee Fraktion auf Fanon, um Gewalt als legitimes Mittel gegen den "neuen Faschismus" in der Bundesrepublik zu propagieren.
In den achtziger Jahren versank Fanons Werk nicht nur hierzulande mehr oder weniger in der Nichtbeachtung. […]. Kaum bemerkt wurde in Deutschland, dass Fanon jedoch gleichzeitig zu einer Galionsfigur der postkolonialen Studien wurde. Den Ton setzte einer ihrer maßgeblichen Theoretiker, Homi Bhabha, der hervorhob, dass Fanon die schmerzhafte Erinnerung an die Geschichte von Rasse und Rassismus, Kolonialismus und kolonialer Identität mit größerer Tiefe und Poesie als jeder andere Schriftsteller vor Augen geführt habe. […]
Im Mittelpunkt der postkolonialen Wiedergeburt Fanons stand zunächst sein 1952 publizierter Erstling "Schwarze Haut, weiße Masken", in dem er eine Körper und Sprache einbeziehende Phänomenologie des Rassismus entfaltete. Das Buch stellte eine […] Mischung aus Psychoanalyse, Existenzphilosophie, Literatur und autobiografischen Reflexionen mit dem Ziel dar, die durch den Rassismus hervorgerufenen Phänomene der Entfremdung schwarzer Menschen zu fassen. […]
[…] Fanons Beschreibung der psychologischen Effekte alltagsrassistischer Erfahrung, die ihren unmittelbaren Bezugspunkt im Alltag der französischen Karibik-Kolonien, vor allem aber in den Lebensumständen schwarzer Migranten im Frankreich der Nachkriegszeit hat, [ist] von vielen Fanonologen […] aus diesem Kontext herausgelöst und […] sehr allgemein als Referenz für die Zeitlosigkeit des Alltagsrassismus genutzt worden. Seit einiger Zeit feiern die "Verdammten dieser Erde" ebenfalls ihre Renaissance, ebenso werden weitere Schriften wie "Für die afrikanische Revolution" oder "Aspekte der algerischen Revolution" neu entdeckt und gelesen. […]
Wie erklärt sich die breite Rezeption? "Wenn wir Fanon etwas verdanken", schreibt Achille Mbembe in seiner "Kritik der schwarzen Vernunft", "dann ist es der Gedanke, wonach in jeder menschlichen Person etwas Unbezähmbares, nicht zu Bändigendes steckt, das Herrschaft nicht zu eliminieren, einzudämmen oder vollständig zu unterdrücken vermag." Fanons Werk sei für alle Unterdrückten bis heute eine "Waffe aus Feuerstein". Überdies habe Fanon die Unerlässlichkeit einer radikalen gesellschaftlichen Erneuerung unterstrichen. Immer mehr Menschen gerade im "globalen Süden" brächten die Notwendigkeit zur Sprache, sich vom Pessimismus und Nihilismus Europas abzuwenden. Fanons Biographin Alice Cherki, die in einer algerischen Klinik als seine Assistentin arbeitete, hebt wie viele andere die Aktualität Fanons in unserer von Kriegen, Gewalt und Rassismus geprägten Ära neoliberaler Globalisierung hervor. Denn er habe gegen plakative ethnische und rassistische Zuschreibungen ebenso argumentiert wie eindringlich vor den über mehrere Generationen reichenden psychologischen Folgen von Kriegstraumata, Folter und anderen Formen entmenschlichender Gewalt gewarnt.
Fanons […] Studien sind bis heute stimulierend, weil sie jede kulturalistische und identitäre Interpretation des Politischen ablehnen, Wichtiges zur Verknüpfung von Krieg und sozialem Wandel zu sagen haben und den Kompromiss zwischen "kolonisierten Eliten" und der "Bourgeoisie in den Metropolen" als zentrales, bis heute präsentes Kennzeichen der Dekolonisation herausstellen. Überdies nahm Fanon in mancher Hinsicht die vielbeschworene "Provinzialisierung Europas" vorweg.
Ihm entgingen jedoch die Ambivalenzen der kolonialen Ordnung, die Versuche und Möglichkeiten der Kolonisierten, sich mit den Einmischungen der Kolonialherren auseinanderzusetzen, sie gar für sich zu nutzen. Er reduzierte den Kolonialismus auf einen binären Antagonismus [eine Auseinandersetzung zweier Gegner], machte aus ihm eine manichäische Welt [also eine Welt, die von ihren Betrachtern ohne Schattierungen ideologisch unterteilt wird in Anhänger des Guten oder des Bösen]. Fanons Werk bietet wenig für die Analyse des Kolonialismus und ist erst recht kein Passepartout zum Verständnis gegenwärtiger globaler Problemlagen. Die Kritik an unkritischen Huldigungen sollte freilich nicht davon abhalten, die von Fanon aufgeworfenen Fragen weiter zu diskutieren. Dazu sind sie zu wichtig.
Andreas Eckert, "Die Verdammten wachen wieder auf", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. September 2017
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1 | Zehn Jahre Hartz IV: Leben im Suppenküchen-Staat
Die Armut unter den Erwerbslosen ist seit der Einführung von Hartz IV gestiegen, kritisiert die Linke. Sie will das Konzept durch eine Mindestsicherung ersetzen.
Die Hartz-IV-Reformen haben die Armutsquote erhöht, kritisiert die Linke und fordert einen „sozialpolitischen Neustart“. Bild: dpa
BERLIN afp/dpa | Zehn Jahre nach Einführung der Hartz-IV-Reformen drängt die Linke auf einen „soziapolitischen Neustart“ in Deutschland. „Hartz IV ist eben nicht der Jobmotor, sondern ein Motor für die soziale Spaltung in diesem Land“, sagte Linken-Chefin Katja Kipping am Freitag vor Journalisten in Berlin.
Auf der einen Seite sei eine „Hartz-IV-Welt“ entstanden, ein „Fürsorge-Almosen-und-Suppenküchen-Staat“, in dem Menschen in eine geduckte Bittstellerhaltung gezwungen würden. Auf der anderen Seite hätten sich Siedlungen für Reiche und Superreiche herausgebildet, die sich von privaten Sicherheitsdiensten bewachen ließen.
Die von Rot-Grün eingeführten Reformen hätten nicht zu einer schnelleren Vermittlung von Erwerbslosen geführt, sondern lediglich zu einer Ausweitung des Niedriglohnbereichs. Die Zahl der Beschäftigten im Niedriglohnsektor ist Kipping zufolge durch die Hartz-IV-Reformen um 1,3 Millionen gestiegen. Der Anteil der Niedriglöhner an allen Beschäftigten ist nach Parteiangaben von 20,6 Prozent im Jahr 2000 auf 23,1 Prozent in 2010 angewachsen.
Nach Kippings Worten hat die Einführung der Hartz-IV-Reformen die Armutsquote unter Erwerbslosen drastisch erhöht: Sei 2003 noch die Hälfte aller Erwerbslosen als arm einzustufen gewesen, seien es 2008 bereits 75 Prozent gewesen. Außerdem habe Hartz IV eher zu mehr Bürokratie geführt, anstatt deren Abbau zu fördern.
Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge, der 2005 aus Protest gegen die Hartz-IV-Reform aus der SPD ausgetreten war, gefährden die Hartz-IV-Reformen auch den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Es entstehe eine Parallelgesellschaft mit Sozialkaufhäusern, Lebensmitteltafeln und „Hartz-IV-Kneipen“. Die soziale Spaltung führe auch zu einer politischen Spaltung, weil die Hartz-IV-Empfänger immer weniger zur Wahl gingen. „Wir entwickeln uns bei den Hartz-IV-Betroffenen zu einer Ohne-Mich-Demokratie“, fügte Butterwegge hinzu.
Am 1. Januar 2005 war die damalige, einkommensabhängige Arbeitslosenhilfe abgeschafft und mit der Sozialhilfe zusammengelegt worden. Der Regelsatz für Hartz IV ist zum Jahreswechsel von 391 Euro auf 399 Euro angestiegen. Die Linke will Hartz IV durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen, „weil unter 1.050 Euro pro Monat Armut droht“, so Kipping.
Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass die Zahl der sogenannten Aufstocker, die aufgrund ihres niedrigen Arbeitseinkommens zusätzlich auf Hartz IV angewiesen sind, mit der Einführung des Mindestlohns zu Jahresbeginn um 60.000 sinken wird. Kipping sieht das kritisch: „Der Mindestlohn sollte ein Sicherheitsnetz sein, aber dieses Netz hat zu viele große Löcher.“ | 234,898 |
1 | Mittwoch, 13.11.2013, 11:53
Nach der Ankündigung von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Deutschland werde sich an einer Afghanistan-Friedenstruppe beteiligen, hält sich die Regierung mit konkreten Zusagen vorerst zurück.Das Sicherheitskabinett legte am vergangenen Freitag zunächst Kriterien fest. Zuerst müsse es einen „klaren Auftrag“ der Vereinten Nationen und ein „robustes Mandat“ geben: Eine Situation wie im Bosnien-Krieg, als UN-Blauhelme serbischen Angriffen hilflos zusehen mussten, dürfe sich nicht wiederholen, hieß es in Regierungskreisen. Zwar soll die auf dem Petersberg vereinbarte Übergangsregierung bereits am 22. Dezember ihr Amt antreten, aber die Bundeswehr müsse nicht von Anfang an dabei sein.Der Beitrag am Anti-Terror-Einsatz, fordern Generäle, dürfe die Truppe nicht überfordern – „aber wir werden schon zeigen müssen, dass wir nicht Luxemburg sind“. | 234,899 |
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