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Einleitung "Hinsichtlich der Europapolitik Italiens scheint mir, dass es eine Kontinuität der pro-europäischen Richtung gibt, die in großem Maße von den parlamentarischen Kräften geteilt wird, und zwar in der vergangenen wie in der jetzigen Legislaturperiode. Nicht zufällig war die italienische Position beim Europäischen Rat in Laeken in sich schlüssig und lag auf derselben Linie, auf der sich der italienische Europäismus schon immer befunden hat. Um diese italienische Position kümmere ich mich übrigens persönlich und stehe diesbezüglich in ständigem Kontakt mit der Regierung (...)." Dieses Zitat stammt aus der Rede, die der Präsident der Italienischen Republik, Carlo Azeglio Ciampi, beim Zusammentreffen mit dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau im Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni im April 2002 hielt. Einen Monat später, anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen, erinnerte Ciampi an seinen "beruflichen und politischen Einsatz" - zuerst als Chef der italienischen Nationalbank, dann als Ministerpräsident und Finanzminister - für die Schaffung der Einheitswährung und des Europäischen Systems der Zentralbanken. Ciampi unterstrich die Notwendigkeit der Einführung des Euro und lobte diese als einen wichtigen Ausgangspunkt für eine Föderation der Nationalstaaten. In den letzten Jahren hat das italienische Staatsoberhaupt in seinen öffentlichen Reden nie die Gelegenheit versäumt, seinem Glauben an die Integration sowie an die Erweiterung der Europäischen Union und ihre Demokratisierungsfunktion für die Völker des alten Kontinents Ausdruck zu verleihen. Woher kommt die offenkundige Sorge Ciampis vor Zweifeln an der Integrationswilligkeit seines Landes? Warum kümmert er sich persönlich darum? Warum fühlt er das Bedürfnis des ständigen Kontakts mit der Regierung? Warum versichert er ausdrücklich die Kontinuität der proeuropäischen Richtung in der vergangenen wie in der jetzigen Legislaturperiode? Warum verteidigt er so grundsätzlich den Euro? Ciampis Einsatz legt die Vermutung nahe, dass sich die traditionelle proeuropäische Haltung der italienischen Regierungen und Regierungsmehrheiten gewandelt hat. Er lässt darauf schließen, dass der Europäismus der italienischen politischen Kräfte und sogar das europäische Zugehörigkeitsgefühl der Italiener schwächer geworden sind. Auf diese Mutmaßungen werde ich später zurückkommen. Zuerst erscheint es mir notwendig, eine kurze Skizze des Verhältnisses Italiens zu Europa im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zu zeichnen. Die problematischen neunziger Jahre Im Jahr 1979 ist Italien dem "Europäischen Währungssystem" (EWS) beigetreten. Dreizehn Jahre später, 1992, musste das Land wegen der massiven Staatsverschuldung, hoher Inflationsraten und der in den achtziger Jahren gescheiterten Fiskalpolitik der italienischen Regierungen wieder aus dem EWS ausscheiden. Nach harten Verhandlungen und noch härteren Bedingungen wurde Italien im November 1996 schließlich aber wieder in das EWS aufgenommen. Die Wiederaufnahme war allerdings noch keine Vorentscheidung für den Eintritt Italiens in die Europäische Währungsunion (EWU) am 1. Januar 1999. Es gab starke Einwände gegen Italiens Teilnahme an der EWU. Sie waren sicher nicht vollkommen unberechtigt: Italien galt als System, das keine Stabilitätskultur besaß, womit vor allem die Stabilität der Wirtschaft und der Währung gemeint war. Italien galt als Land der Inflation, der Ungleichgewichte und der Staatsdefizite. Die staatlichen Gesamtschulden und noch mehr die vom Maastrichter Vertrag vorgeschriebenen Kriterien für die zulässige Neuverschuldung waren Hindernisse, die Italien scheinbar nicht überwinden konnte. Italien befand sich in jener dramatischen Phase Anfang der neunziger Jahre in einer seiner schlimmsten Krisen - nicht nur wegen der katastrophalen Staatsfinanzen. Das Land durchlief zugleich eine letale Krise der etablierten Parteien, der unaufhaltsamen Gewalt der Kriminalität und eine Krise sozialer Spannungen. Es war die Zeit des Unterganges der ersten Republik. Hinzu kamen die Probleme des Arbeitsmarktes, des Sozialstaates und schließlich auch der Währung. In dieser Situation schienen die Verträge von Maastricht so etwas wie eine Totenglocke zu sein, denn die Konvergenzkriterien deuteten auf eine Beschleunigung der Gesamtkrise hin, wie einige Beobachter urteilten. Paradoxerweise war es die politische Krise, mit der Schwächung des Parlaments und dem Abtreten der alten Parteien, die es den so genannten "technischen" Regierungen (Guiliano Amato, Carlo Azeglio Ciampi und Lamberto Dini) erlaubte, scharfe und schmerzliche, aber zugleich mutige und letzten Endes zwingend erforderliche Maßnahmen zu realisieren. 1992 setzte eine langwierige Aktion ein, die unter anderem den Mechanismus der scala mobile abschaffte, eine Lohngleitklausel im Sinne des automatischen Inflationsausgleichs. "Stabilität" wurde plötzlich ein erreichbares Ziel. Nach dem Scheitern der ersten Regierung Silvio Berlusconi, die nur kurze Zeit amtierte (von Mai bis Dezember 1994), und der Übergangsregierung Lamberto Dini gelangte mit der Parlamentswahl von 1996 die Mitte-links-Koalition des Olivenbaums an die Macht. Diese wurde sich der schwierigen Lage Italiens, was den gewünschten Beitritt zur EWU betraf, im September 1997 vollends bewusst. Die Prüfung der EU für die Teilnahme der Länder an der EWU war für den Frühling 1998 vorgesehen. Die Zeit drängte also. Unter dem harten Kurs des Schatz- und Haushaltsministers Ciampi, der entschiedenen Führung Romano Prodis als Regierungschef und der unbeschränkten Unterstützung aller Partner der parlamentarischen Mehrheit wurden die notwendigen Maßnahmen ergriffen, die Italien letztlich den Beitritt zur EWU erlaubten. Die Haushaltspolitik sowie die partiellen, aber sich durchaus als wirksam erweisenden Deregulierungen und Privatisierungen öffneten dem Land den Weg in die Währungsunion. Der Preis dafür, nämlich Steuererhöhungen, eine "europäische Sondersteuer", das Einfrieren der Gehälter und Spareinschnitte im öffentlichen Haushalt, wurde von den Italienerinnen und Italienern - im Namen Europas - beinahe klaglos akzeptiert. Ein neuer Kurs unter der Mitte-rechts-Regierung? Am 1. Januar 2002 wurde die Einführung des Euro-Bargeldes auch in Italien offiziell gefeiert. Seit Mai 2001 ist nun allerdings eine neue Koalition in Rom an der Macht. Unter den vier Partnern, aus denen sich die derzeitige Mitte-rechts-Regierung zusammensetzt, ist nur die der Tradition der ehemaligen Christdemokraten treu gebliebene Unione Democratica Cristiana (UDC) ein sicherer Befürworter der europäischen Integration. Was die anderen drei Partner betrifft, gilt heute mehr denn je das, was ein italienischer Beobachter bereits über die erste Mitte-rechts-Regierung Berlusconi des Jahres 1994 schrieb: "Das (...) Auftreten einer neuen Führung, zusammengesetzt aus Forza Italia, Lega Nord und Alleanza Nazionale, die sich in ihrer Europa-Konzeption sicherlich unterscheiden, aber durch die Tatsache geeint sind, dass die politische Union und die Währungsunion für sie nie eine Priorität darstellte, kann also dazu beitragen, das traditionelle Paar rhetorische Zugehörigkeit und praktische Indifferenz, welche die Haltung einer großen Mehrheit von Italienern zur Europäischen Union charakterisierte, durch eine neue Kombination ideeller Indifferenz und praktischer Feindseligkeit zu ersetzen." Bei vielen der Hauptfiguren wie auch in der Masse des Parteivolkes der rechten Alleanza Nazionale dominieren in der Tat noch immer nationalistische und antieuropäische Gefühle, die schon Kennzeichen ihrer Herkunftspartei, des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) waren. Um dies vergessen zu lassen, betont Gianfranco Fini, Parteivorsitzender von Alleanza Nazionale und seit 2001 amtierender stellvertretender Ministerpräsident Italiens, immer wieder die europäische Grundüberzeugung seiner Partei und den eigenen Glauben an den Integrationsprozess. Dass Fini Mitglied im Europäischen Verfassungskonvent wurde, sollte nicht zuletzt auch als deutlicher Beweis hierfür dienen. Die Lega Nord hingegen polemisiert seit langem kontinuierlich und in äußerst scharfer Form gegen die europäische Integration. Nichtsdestoweniger hat sie sich Europas bedient, wenn es ihr politisch nützlich erschien. Als sie 1998 in der Opposition saß, rechnete die Lega Nord damit, dass die Regierung Prodi den Eintritt in die Eurozone verfehlen würde. Nach dem Kalkül der Lega Nord, die zu jener Zeit eine separatistische Position vertrat, hätte der Misserfolg der Regierung die Entfernung Italiens vom so genannten Kerneuropa zur Folge gehabt. Die Option der Teilung Italiens wäre damit in greifbare Nähe gerückt, denn der industrialisierte Norden wollte den Anschluss an den europäischen Zug unter keinen Umständen verpassen. Die Rechnung der Lega Nord ging nicht auf. Nach dem Entritt Italiens in die EWU ließ sie das Ziel des Separatismus rasch fallen und begann nach dem Bruch von 1994 einen Prozess der Wiederannäherung an Berlusconi, was die Rückkehr zur (von ihr gehassten) römischen Macht bedeutete. Trotz der wieder errungenen Regierungsfähigkeit hat die Lega Nord ihre antieuropäische Haltung kaum geändert. In seiner expressiven Sprache, reich an populistischen, bunten Ausdrücken, nennt der charismatische Anführer der Lega, Umberto Bossi, die Union nicht Eurolandia, wie man in Italien bisweilen umgangssprachlich sagt, sondern Forcolandia ("Galgenland") und bezeichnet die "Eurokraten" als "Eurobonzen". Nach Bossi ist die Europäische Union ein Haufen von "Freimaurern, Protestanten und Atheisten", der von der "Hochfinanz" beherrscht werde, wenn nicht sogar von den "Kommunisten". Dementsprechend laut bejubelte er das Scheitern des Verfassungsentwurfs beim EU-Gipfel im Dezember 2003: Die Gefahr des "faschistischen Superstaats", so Bossi, sei damit gebannt. Vor diesem Hintergrund ist der am 19.Juli 2004 vollzogene Wechsel Umberto Bossis von seinem Ministersessel in Rom ins Europäische Parlament nicht ohne Ironie, selbst wenn er krankheitsbedingt war. Die Lega greift die Ängste der kleinen und mittleren Unternehmer Norditaliens (insbesondere des Nordostens) auf, welche die internationale Konkurrenz und die Invasion neuer Arbeitskräfte fürchten, bzw. entzündet sie selbst oder heizt sie weiter an. Zudem macht sie sich für die Interessen der Bauern und Viehzüchter stark, welche unter dem Druck der Drohung von Sanktionen "der Brüsseler Bürokratie" stehen. Auch deshalb war die Lega entschieden gegen die EU-Erweiterung. In der Regierungsmannschaft sitzen bzw. saßen weitere bekannte Euroskeptiker. Mit der Lega Nord auf gutem Fuße stehend, hat der inzwischen wegen starker Differenzen in der Koalition von seinem Amt zurückgetretene Forza Italia-Finanzminister Giulio Tremonti immer wieder über die "Vorzüge des Euro" gespottet und diesen als Ursache des Anstiegs der Preise und der neuen finanziellen Not des italienischen Staates bezeichnet. Gegen den Euro und den Maastrichter Vertrag hatte aber schon 1994 der aktuelle Verteidigungsminister Antonio Martino Stellung bezogen, wie er auch bereits damals seine Sorge vor den Folgen der Erweiterung der Union öffentlich gemacht hat. Die italienische Mitte-rechts-Mehrheit war überdies von Beginn an gegen die Einführung eines europäischen Haftbefehls, wegen ihres Misstrauens gegenüber der Justiz. Die Mitte-rechts-Regierung hat sich zudem aus dem europäischen Projekt eines Militär-Airbus zurückgezogen. Der forcierte Rücktritt des parteilosen Außenministers Renato Ruggiero im Januar 2002, der den Ruf eines überzeugten Europäers und guten Europapolitikers genoss, löste Besorgnis bei allen europäischen Regierungen und auch in Brüssel aus. Berlusconi selbst übernahm dann während fast eines ganzen Jahres die Führung des Außenministeriums, ohne damit allerdings die Sorgen seiner Partner über den außen- und europapolitischen Kurs Italiens zerstreuen zu können. Als Minister und Regierungschef in Personalunion hat Berlusconi eine ständige, harte Auseinandersetzung mit der Europäischen Kommission geführt, besonders mit ihrem Präsidenten Romano Prodi. Bekanntlich aber war es nicht nur Prodi, der die römische Regierung kritisiert, gewarnt und mit Sanktionen (etwa wegen der Überschreitungen Italiens bei den Milchquoten oder der Gefahr des Verfehlens der Maastricht-Kriterien infolge der Haushaltspolitik) bedroht hat. Auch andere Kommissare, wie der Wettbewerbskommissar Mario Monti, sogar seinerzeit von Berlusconi selbst für das Amt nominiert, haben sich frontal gegen Berlusconi gewandt. Die Kommission hat im Frühling 2004 die römische Regierung wegen der durchaus möglichen Überschreitung des Drei-Prozent-Defizit-Kriteriums ermahnt und sie aufgrund der wieder wachsenden Staatsschulden und der ungenügenden, weil einmaligen Maßnahmen ("una tantum") zur Bekämpfung der finanziellen Notlage gerügt. Die von der Kommission vorgelegten Zahlen wurden von der italienischen Regierung nicht anerkannt und das Vorgehen der Kommission im Gegenteil sogar als antiitalienische Haltung hingestellt sowie, noch schlimmer, als eine Hilfe für Prodis Wahlkampf und damit als eine Verschwörung gegen Berlusconi. Prodi hat hierauf oft mit einem Achselzucken oder sogar mit Schimpfwörtern reagiert. Silvio Berlusconi nimmt gegenüber der europäischen Einigung insgesamt eine zweideutige und widersprüchliche Haltung ein. An einem Tag wiederholt er sein Bekenntnis zu Europa, am nächsten beklagt er die "bürokratischen" Zwänge der EU. Wie in den inneren Angelegenheiten Italiens scheint Berlusconi keinerlei Regeln akzeptieren zu können, auch diejenigen der EU nicht. Er selbst hat mehrmals gegen den Euro als Ursache der Preissteigerung geschimpft, hat die Autonomie der Europäischen Zentralbank kritisiert und das Parlament in Straßburg mehr als einmal missachtet. Berlusconis Führungsqualitäten als Ratspräsident während des "italienischen Semesters" (Juli bis Dezember 2003) wurden in Italien wie auch im Ausland als schwach beurteilt. Viele "Unfälle" haben Berlusconis Semester gekennzeichnet: Das reicht von der Auseinandersetzung mit dem SPD-Europaparlamentarier Martin Schulz bis zur Verteidigung Vladimir Putins wegen der Lage in Tschetschenien, von der Bezeichnung der Europaabgeordneten als "Touristen der Demokratie" bis zu wenig geistreichen Witzen bei den Gipfeln. Aus Image-Gründen hatte Berlusconi gehofft, die europäische Verfassung werde während seiner sechsmonatigen Amtszeit verabschiedet. Sein angeblicher "Plan" für ein erfolgreiches Abkommen in der letzten Runde der Regierungskonferenz im Dezember 2003 in Brüssel, der zur Lösung der bestehenden Konfliktpunkte führen sollte, ist nie aufgetaucht. Statt kollektive Diskussionen zu führen, betrieb er bilaterale Zusammentreffen, um seinen Freunden aus Polen und Spanien einen Gefallen zu tun. Das Scheitern der Regierungskonferenz zur Verabschiedung des Europäischen Verfassungsentwurfs geht sicher nicht allein auf das Konto der Präsidentschaft Berlusconis. Er war aber ein unzuverlässiger, unglaubwürdiger Vermittler, was der Sache sicher nicht dienlich war. Tatsache ist, dass Berlusconi und seine Mitarbeiter im Laufe des "italienischen Semesters" sehr wenig unternommen haben, um den letztlich negativen Ausgang der Regierungskonferenz zu verhindern. Es war nicht zufällig, dass die Debatte im Europaparlament zu der Frage des Scheiterns der Verfassung von Enttäuschung, Unverständnis und Hohn über das Versagen von Berlusconi als Ratspräsident geprägt war. Das hinderte Berlusconi allerdings nicht, sich am 18. Juni 2004, dem Tag des unter der irischen Ratspräsidentschaft erfolgreichen Schlussabkommens über den Text, den größten Verdienst daran selbst zuzuschreiben. Es gibt aber auch einige positive Aspekte der italienischen Präsidentschaft: das Bemühen im Herbst 2003 um eine Konvergenz aller Partner in der Frage der Beibehaltung des Kernes des Texts für das Verfassungsprojekt sowie den Beitrag zur Entwicklung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der "strukturierten Kooperation", für welche die Vermittlerrolle Italiens gute Ergebnisse hervorbrachte. Alles in allem jedoch ist Europa für Berlusconi ein Hindernis oder allenfalls brauchbar für deklamatorische und opportunistische Zwecke. Genau daher rühren die Sorgen des italienischen Staatspräsidenten Ciampi, von denen am Anfang die Rede war. Im letzten Jahr sind wegen der Europapolitik die Beziehungen des Staatsoberhaupts mit dem Ministerpräsident erkaltet. Eine direkte Folge der neuen Europapolitik Berlusconis war die Episode vom Februar 2004, als der italienische Regierungschef nicht zum Treffen von Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder in Berlin eingeladen wurde. Auf dem Berliner Gipfel sollten Vorbereitungen für die wichtige Sitzung des Ministerrats Ende März in Brüssel getroffen und die neue Gestaltung der europäischen institutionellen Architektur diskutiert werden. Zum ersten Mal im halben Jahrhundert der Geschichte der europäischen Integration blieb damit der Vertreter eines Mitbegründers und Motors der Europäischen Gemeinschaft von einer sehr wichtigen Sitzung ausgeschlossen. Welches Gewicht dabei das polititsche Verhalten Berlusconis im Einzelnen hatte, ist schwer zu beurteilen. Im Übrigen hat die Außenpolitik Italiens unter der Mitte-rechts-Regierung das atlantische Bündnis der EU vorgezogen. Die entschlossene Unterstützung der USA bei der Irak-Intervention ist nur die Spitze einer bewussten Wahl gewesen. Berlusconi preist immer wieder seine engen Beziehungen "mit seinem Freund George". Putin ist ebenfalls ein "lieber Freund". Berlusconis Vorschlag, Russland in die EU aufzunehmen, war ein Schlag mehr gegen den an sich schon schwierigen Prozess der europäischen Integration. Nach der Niederlage von Forza Italia bei der Europawahl vom 13. Juni 2004 ist es noch unwahrscheinlicher geworden, dass Berlusconi und seine Regierung ihre Haltung gegenüber Brüssel ändern werden. Denn Berlusconi muss die verlorene Gunst der Bevölkerung bzw. der Forza Italia-Wählerschaft irgendwie zurückgewinnen und dürfte versuchen, wieder (bzw. noch) stärker populistische Politik zu machen. Sich der vorhandenen Vorbehalte gegenüber Brüssel und der europäischen Integration zu bedienen bzw. Skepsis und Misstrauen zu schüren, um im eigenen Land politisch zu punkten, ist dabei ein beliebtes Mittel, auf das Berlusconi kaum verzichten wird. Der Europäismus der Italiener und die Europäisierung Italiens Wie weit entspricht diese Haltung der heutigen Regierungseliten aber auch einer Umorientierung der traditionell europafreundlichen Italiener, insbesondere nach den Erfahrungen mit dem Euro und der voranschreitenden Erweiterung der Union? Nach Jahrzehnten der Akzeptanz des europäischen Integrationsprozesses, ja sogar der Begeisterung für einige seiner Etappen - die Einführung des Euro eingeschlossen -, sieht es im Moment so aus, als seien die Italiener nun doch von einigen Ängsten erfasst worden. Die Meinungsumfragen der letzten Jahre lassen auf eine leichte Enttäuschung der italienischen Bevölkerung über die europäische Integration schließen. Die Wahlbeteiligung an der Europawahl 2004, obschon im europäischen Vergleich mit ihren 73,1 Prozent sehr hoch, viel höher als diejenige der Europawahl 1999 (70,8 Prozent), welche allerdings den Tiefpunkt in einem kontinuierlichen Abstieg während eines Zeitraums von 20 Jahren darstellte, ist nicht sehr aussagekräftig. Denn zusammen mit den Europawahlen gab es in Italien diesmal Lokalwahlen, die eine Mobilisierung der Wähler verursachten. Die Haltung der Italiener gegenüber dem Integrationsprozess ist die Geschichte eines Hin und Her. In den fünfziger Jahren zählten die Italiener zu den schwächsten Befürwortern der europäischen Perspektive, aber zehn Jahre später war die Stimmung schon ganz anders. Die wenigen Umfrageergebnisse aus jener Zeit zeigen uns das Wachsen der Akzeptanz des neues Europas. Im Jahr 1952, als der Prozess der Integration seinen Anfang nahm, fand er die Zustimmung von etwa 54 Prozent der italienischen Bevölkerung, 1957 von etwa 59 Prozent, 1962 von 67 Prozent und 1964 schließlich sogar von 78 Prozent. 1965 fiel der Prozentsatz auf 65 Prozent, möglicherweise wegen der Krise der europäischen Integration in den Jahren von Charles de Gaulle. Doch selbst wenn die Zahl der wenig überzeugten, unsicheren Italienerinnen und Italienern sehr hoch war, die Zahl der EG-Gegner war doch sehr niedrig. Sie blieb ständig unter 10 Prozent. Am stärksten sprachen sich die Wählerinnen und Wähler der Rechten für die europäische Integration aus, am wenigsten diejenigen der politischen Linken. Erst Ende der sechziger Jahre wurden auch sie zu Befürwortern der Integration. In den folgenden 30 Jahren wurde die Orientierung der Italiener zugunsten der Integration immer stärker, so stark, dass Italien in den Ländervergleichen oft vorne lag. In dem Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa sind sie jahrzehntelang an der Spitze gewesen, manchmal vor, manchmal nach den Luxemburgern, mit Werten von über 80 Prozent. Ein kleiner Rückgang ließ sich in den siebziger Jahren registrieren, als ein allgemeiner Pessimismus ganz Europa erfasste. Nach dem Vertrag von Maastricht, der Einführung des Euro und der Perspektive der Erweiterung hat ein wenig Euroskeptizismus inzwischen aber auch innerhalb der italienischen Bevölkerung Fuß gefasst. Das Eurobarometer registrierte dennoch auch in diesen Jahren weiterhin die gewohnt hohen Werte des Gefühls der Zugehörigkeit zur EU. Andere Quellen zeigen für diese Phase weniger positive Ergebnisse, wenn es um konkrete Probleme geht. So beurteilten im Jahr 1994 69 Prozent der Italienerinnen und Italiener die Zugehörigkeit zur Union zwar immer noch als positiv, aber sie platzierten sich damit nur an vierter Stelle bei einem europäischen Durchschnitt von 53 Prozent. An erster Stelle lagen sie aber noch immer bei der Frage nach mehr Befugnissen des Parlaments in Straßburg (mit einem Prozentsatz von 72 Prozent bei einem europäischen Durchschnitt von 64 Prozent). Nach Einführung des Euro-Bargeldes zeigen Umfrageergebnisse verschiedener Quellen, dass die Italiener sehr kritisch gegenüber dem Euro geworden sind, den sie für den Anstieg der Preise verantwortlich machen: 96 Prozent - gegenüber einem europäischen Durchschnitt von 89 Prozent - äußerten sich bei einer Umfrage der EU-Kommission Anfang 2004 negativ. Derselben Umfrage zufolge waren die Italiener hinsichtlich der Folgen des Euro für die Wirtschaft ihres Landes äußerst pessimistisch: Nur 47 Prozent sahen mehr Vorteile als Nachteile. Der EU-Durchschnitt lag bei 52 Prozent, und nur die Niederländer mit 43 Prozent und die Deutschen mit 42 Prozent waren pessimistischer als die Italiener. Andere neueste Umfragergebnisse zeigen ein Pendeln der Italiener zwischen Zufriedenheit und Ungewissheit, die Italiener sind hier in zwei fast gleich große Lager geteilt. Die EU-Erweiterung weckt noch weitaus schlimmere Befürchtungen. Im Mai 2004 beurteilten nur 36 Prozent der Italiener die Effekte der Erweiterung als positiv für die Wirtschaft (gegenüber 34 Prozent der Franzosen und 29 Prozent der Deutschen) und nur 22 Prozent als positiv für die Beschäftigung (nur 11 Prozent der Deutschen teilten im Übrigen diese Meinung). Im Allgemeinen aber meinten 40 Prozent der Befragten Italienerinnen und Italiener, dass die Erweiterung notwendig und vorteilhaft sei (dagegen meinten dies nur 25,3 Prozent der Deutschen und 22,9 Prozent der Franzosen). Trotz alledem haben die Italiener das Vertrauen in Europa nicht verloren. Dem Eurobarometer zufolge, das eine starke Kontinuität der italienischen Haltung registriert, war 2002 das Image Europas unter den Italienern am besten (67 Prozent), und im Gefühl der Zugehörigkeit lagen diese wieder weit vorn: auf Rang 2 mit 62 Prozent hinter den Luxemburgern mit 75 Prozent. So hat der im Laufe der Jahrzehnte gewachsene Europäismus der Italienerinnen und Italiener letztlich kaum unter den Sorgen und der Enttäuschung der neunziger Jahre gelitten. Die Italiener pflegen nicht nur "europäistische" Vorstellungen, sie wissen wohl auch, wie stark Italien tatsächlich an Europa gebunden ist. Der lange historische, wirtschaftliche und politische Prozess macht eine Kehrtwendung unmöglich. Dazu ist auch die Europäisierung Italiens längst zu weit fortgeschritten. Unter "Europäisierung" verstehe ich einerseits die Anpassung eines nationalen Systems in vielen seiner Komponenten an die Förderung der Integration sowie andererseits die Ausnutzung der angebotenen Chancen. Italien hat zu viele Schritte in die erste Richtung getan und zu viel von der zweiten profitiert, um seinen Weg zu ändern. Wie von mir geschildert wurde, ist Europa für Italien immer zugleich Anreiz und Zwang gewesen. Die Schwächen des politischen Systems des Landes (ideologische Konfrontation, Regierungsinstabilität, Unregierbarkeit), des antiquierten und ineffizienten Staatsapparats, der Großindustrie und der Agrarwirtschaft machten Italien zum "Kranken" Europas. Zugleich musste (und konnte) das Land viele Änderungen und Reformen in Kraft setzen, wenn es den europäischen Zug nicht verpassen wollte. Die Maastricht-Kriterien waren Mahnung und Ziel vieler politischen Entscheidungen. Insofern kann man sich in der Tat die Frage stellen: Italien... "von Europa gerettet?" Finanzsanierung, Steuermaßnahmen und Reformen in der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik erlaubten Italien, zu einem glaubhaften Partner in der europäischen Arena zu werden. Im Namen Europas hat Italien tief greifende Reformen erfahren. Die Europäisierung Italiens schreitet auch jenseits der Notsituation der neunziger Jahre fort. In vielen Bereichen hat eine Adaptation des Systems Italien an europäische Modelle, Regelungen und Vorschriften stattgefunden oder macht schnelle Fortschritte. Staatliche Institutionen sowie Politikfelder, politische Akteure sowie Interessengruppen sind von der europäischen Perspektive beeinflusst und bestimmt. Das reicht von der Anpassung der Gesetzgebung und der Neuordnung einiger Ministerien (wie z.B. des Außenministeriums) über die Rationalisierung des Gesundheitssystems bis hin zur Regulierung der Konkurrenz, vom Wachsen der Rolle und der Initiative der Regionen ganz zu schweigen. Zum Schluss sei noch an die bestehende ökonomische Verflechtung erinnert. So ist Italien der zweitwichtigste Handelspartner Frankreichs, der drittwichtigste Deutschlands und der zweitbedeutendste bei der Öffnung gegenüber den newcomers aus dem Osten. Man kann deshalb abschließend wohl mit einigem Recht Folgendes behaupten: Trotz einiger Phasen der Gleichgültigkeit gegenüber Europa in der Vergangenheit und trotz der politischen Position der heutigen Regierung Italiens bzw. der sie stützenden Mehrheit ist auszuschließen, dass Italien auf einen isolationistischen Kurs einschwenkt, nicht zuletzt deshalb, weil es dann zu einer Randgröße schrumpfen würde - und das will in Italien nun wirklich niemand. Welches Europa? Quale Europa? Eine Diskussion mit/Una discussione con Johannes Rau - Carlo Azeglio Ciampi. Deutsch-italienisches Journalistentreffen/Incontro dei giornalisti italiani e tedeschi, Villa Vigoni, Mitteilungen 2002, S. 63 - 64. Was den langen Weg Italiens in Europa betrifft, gibt es keinen Mangel an guten italienischen Darstellungen. Unter den neuesten möchte ich erwähnen: Mario Telò, L'Italia nel processo di integrazione europea, in: Storia dell'Italia repubblicana, Band 3: L'Italia nella crisi mondiale. L'ultimo ventennio, Turin 1996, S. 129 - 248; M. Neri Gualdesi, L'Italia e il processo di integrazione europea, und Antonio Versori, L'europeismo nella politica estera italiana, beide in: Luciano Tosi (Hrsg.), L'Italia e le organizzazioni internazionali. Diplomazia multilaterale del Novecento, Padova 1999, S. 341 - 416; Francesca Fauri, L'Italia e l'integrazione europea, Bologna 2001. Mario Telò, Italien und Europa, in: Luigi Vittorio Graf Ferraris/Günter Trautmann/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur "zweiten Republik"?, Frankfurt/M. 1995, S. 412. Dabei hat zweifellos die Stellung Prodis als möglicher zukünftiger Antagonist Berlusconis im politischen Wettbewerb Italiens eine wichtige Rolle gespielt. Dem Kommissionspräsidenten in Brüssel, designierter Herausforderer Berlusconis bei den nächsten Parlamentswahlen für das Amt des Ministerpräsidenten, hat Berlusconi stets vorgeworfen, sich in die inneren Angelegenheiten Italiens einzumischen. Das hat Prodi tatsächlich getan, insbesondere im letzten Wahlkampf für das Europarlament. Die verwendeten Daten stammen aus: Polichange, The Newsletter of the Centre for Study of Political Change, Siena, August 2001. Vgl. für eine eingehendere Analyse aus demselben Forschungszentrum Teresa Ammendola/Pierangelo Isernia, L'Europa vista dagli italiani, in: Maurizio Cotta/Pierangelo Isernia/Luca Verzichelli (Hrsg.), L'Europa in Italia (i.E.) Dank des Eurobarometers sind solche Langzeit-Ländervergleiche bekanntlich möglich. Sie sind zwar rein deskriptiv und bringen nur beschränkten Erkenntnisgewinn, bleiben aber trotzdem interessant. Vgl. Fondazione Nord-Est-Demos, April 2000. Dazu soll auch die Rolle einiger Politiker erwähnt werden, die sie in den letzten Jahren im europäischen Szenario gespielt haben. Drei von ihnen haben im Rampenlicht gestanden. Die Haltung Ciampis wurde in diesem Beitrag bereits mehrmals erwähnt. Giuliano Amato ist ein engagierter Vizepräsident des Europäischen Konvents gewesen. Das Urteil über Romano Prodi als Präsident der Kommission mag geteilt sein: Sein Bemühen für ein starkes und stabiles Europa aber kann nicht verneint werden. Prodis "Dokument über die Zukunft Europas" vom November 2003 bleibt ein unentbehrliches Manifest für sämtliche Parteien und Wähler des Mitte-links-Spektrums. Das Dokument ist deshalb besonders wichtig, weil die italienischen Mitte-links- und Linksparteien sich zwar als europäisch zu präsentieren pflegen, aber wenig glaubwürdig sind, wenn sie der Integration und ihren Problemen so wenig Aufmerksamkeit zuwenden wie bisher und von ihr keine tief gehende Vorstellung haben. Vgl. hierzu den Beitrag von Alexander Grasse in dieser Ausgabe. So der Titel eines guten Buches über diese Thematik von Maurizio Ferrera/Elisabetta Guelmini, Salvati dall'Europa?, Bologna 1999. Vgl. dazu Sergio Fabbrini (Hrsg.), L'europeizzazione dell'Italia, Roma/Bari 2003.
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Nicolas Sarkozy oder François Hollande? Am 6. Mai entscheiden die Franzosen darüber, wer ihr Land die kommenden fünf Jahre vom Élysée-Palast aus regieren wird. Die Entscheidung und ihre Auswirkungen werden auch in Deutschland zu spüren sein. Das verdeutlicht der bei der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb erschienene "Länderbericht Frankreich". In der täglichen Medienberichterstattung in Deutschland bleiben viele soziokulturelle, historische oder wirtschaftliche Aspekte unseres größten westlichen Nachbarlandes verborgen. Deshalb widmet sich die Publikation den historischen und geografischen Prägungen Frankreichs ebenso wie dem politischen System und den aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Durch seine kritische, problemorientierte und vergleichende Ausrichtung schafft der Band ein differenziertes Panorama des deutschen Partnerlandes. Herausgeber des Länderberichts sind Adolf Kimmel, Professor i.R. für Politikwissenschaft an der Universität Trier, und Henrik Uterwedde, Professor und stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (dfi) in Ludwigsburg. Bei der bpb sind bisher eine Reihe von Länderberichten erschienen, beispielsweise über die USA, Russland, Polen, die Niederlande, Australien, Kroatien und Finnland. Alle Länderberichte der bpb-Schriftenreihe bieten umfassende Informationen über Gesellschaft, Mentalität, Wirtschaft, Politik und Kultur: Die Autoren beschreiben die Länder in ihrem Facettenreichtum und in ihrer Vielfalt. Sie geben den Blick frei auf Land und Menschen – jenseits von Klischees. Produkt-Information Länderbericht Frankreich Herausgeber: Adolf Kimmel, Henrik Uterwedde Seiten: 400 Erscheinungsort: Bonn Bestellnummer: 1.264 Bereitstellungspauschale: 4,50 Euro Der Länderbericht Frankreich kann ab sofort auf Externer Link: www.bpb.de/132949 bestellt werden. Rezensionsexemplare können per E-Mail an E-Mail Link: [email protected] angefragt werden. Coverfotos zum Download unter www.bpb.de/presse Inhalt 1. Grundlagen Einführung Wirtschaftsräumliche Strukturen in Frankreich Grundzüge und Grundkategorien der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs 2. Politisches System Einführung Jenseits von links und rechts? Zur Transformation der französischen politischen Kultur Der Verfassungstext und die lebenden Verfassungen Zentralisierung und Dezentralisierung in Frankreich Das Parteiensystem der V. Republik Interessengruppen in Frankreich Freiheit der Medien. Anspruch und Wirklichkeit 3. Wirtschaft und Gesellschaft Einführung Zwischen Staat und Markt Frankreichs Wirtschaftsmodell im Wandel Die französische Wirtschaft in der Globalisierung Entstehung und Niedergang eines Sozialmodells Frankreichs Wohlfahrtsstaat im Umbruch Einwanderung und Integration. Das republikanische Modell auf dem Prüfstand Bildungssystem im Wandel Kultur und Gesellschaft 4. Frankreich im internationalen System Einführung Frankreich in der Welt. Weltpolitik zwischen Wirklichkeit und Anspruch Ziele und Instrumente der Außen- und Sicherheitspolitik. Preisgabe des gaullistischen Erbes? Frankreich in der Europäischen Union Die deutsch-französischen Beziehungen Pressekontakt Bundeszentrale für politische Bildung Daniel Kraft Adenauerallee 86 53113 Bonn Tel +49 (0)228 99515-200 Fax +49 (0)228 99515-293 E-Mail Link: [email protected] Externer Link: www.bpb.de/presse Interner Link: Pressemitteilung als pdf
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Trepanation (franz.), chirurg. Operation am Knochen, wobei ein Stück aus demselben ausgebohrt oder ausgesägt wird. Die T. wird am häufigsten am Schädel vorgenommen, und zwar 1) wo die Schädelknochen durch äußere Gewalt tiefer als etwa 6 mm eingedrückt oder die innere Lamelle des Schädelknochens abgesprengt ist und das Gehirn beeinträchtigt; 2) wo fremde Körper (Kugeln, Messerspitzen etc.) im Gehirn stecken oder auf dieses drücken und man Hoffnung hat, durch Entfernung derselben die drohenden Erscheinungen zu beseitigen; 3) wo zwischen den Schädelknochen und dem Gehirn oder in den obern Schichten des letztern größere Eiter- und Blutmassen liegen, vorausgesetzt natürlich, daß man die Diagnose in allen diesen Fällen überhaupt mit Sicherheit stellen kann. Das Instrument, mit dem man ein rundes Stück aus dem Knochen ausbohrt, nennt man Trepan (Trephine); sein gezahntes, einer Kreissäge von etwa 1½ cm Durchmesser entsprechendes Ende heißt die Trepankrone. Das ausgesägte Knochenstück wird mit einem hebelartigen Instrument (Tirefond) herausgehoben und sodann der Fall je nach seiner individuellen Beschaffenheit weiter behandelt. Schon im Altertum, namentlich in der Kriegschirurgie, sehr häufig vorgenommen, gehört die T. jetzt zu den selten zur Ausführung kommenden Operationen, da sie früher außer bei Verletzungen auch bei Geisteskranken ausgeführt wurde (Wilhelm v. Saliceto). Auch das Brustbein hat man trepaniert, namentlich um Eitermassen, welche sich hinter demselben entwickelt hatten, zu entfernen. Unter allen Umständen ist die T. eine lebensgefährliche Operation, weil sie zu einer schweren ältern Verletzung eine nicht minder schwere neue hinzufügt.
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Damit drückte er ihre Hände und wollte mit einem Behüt' Euch Gott! aus der Kammer. Aber die Alte hielt ihn zurück und sagte: Ins Kloster? Und ich soll dich nimmer wiedersehen? Ich muß alles wissen, Andree. Geh hinaus, Rosine; hol ihm auch ein Glas Wein, er ist ganz blaß und kalt wie der Tod. Heilige Mutter Gottes, was ist geschehen?
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Neue Provinzpräsidentin in Istanbul: Lieblingsfeindin der Regimemedien Canan Kaftancıoğ­lu solidarisiert sich mit sozialen Bewegungen – und ist die erste Frau aus der CHP, die Provinzvorsitzende in Istanbul wurde. Die Attacken gegen sie nahmen nach ihrer Wahl zu: Canan Kaftancıoğ­lu Foto: Samet Akten Ihre Wahl zur ersten weiblichen Provinzvorsitzenden von Istanbul aus den Reihen der Republikanischen Volkspartei CHP im Januar war eine Sensation. Nun wird die sozialdemokratische Politikerin Canan Kaftancıoğlu von regierungsnahen Medien in der Türkei beschuldigt, „Terrorpropaganda“ zu betreiben und „den Staat zu erniedrigen“. Der Grund dafür ist, dass Kaftancıoğlu sich immer wieder öffentlich mit sozialen Bewegungen solidarisiert. Das reichte dem türkischen Innenministerium offenbar nun als Grund, um Ermittlungen aufzunehmen. Dabei ist die Haltung der 1972 in Ordu an der Schwarzmeerküste Geborenen sattsam bekannt. Bereits als Medizinstudentin war Kaftancıoğlu in der Demokratiebewegung aktiv. Das prägt auch ihr privates Leben: Sie ist mit Ali Naki Kaftancıoğlu verheiratet, dem Sohn des Journalisten Ümit Kaftancıoğlu, der nach dem Militärputsch von 1980 vor seinem Haus ermordet wurde. Nach Studienabschluss 1995 arbeitete Canan Kaftancıoğlu im zentralanatolischen Sivas als Ärztin, 1997 begann sie an der medizinischen Fakultät in Istanbul eine Ausbildung als Gerichtsmedizinerin. Seit 2011 hatte sie verschiedene Aufgaben in der CHP inne. Nach der Niederschlagung der Proteste gegen die Bebauung des Geziparks im Zentrum Istanbuls im Jahr 2013 schloss sie sich der Bewegung Vereinigter Juni an. Zudem trat Canan Kaftancıoğlu seit Beginn ihrer Politkarriere dafür ein, dass sich die Türkei endlich auch den negativen Seiten ihrer Geschichte stellt. Sie war maßgeblich an der Gründung der „Plattform für das gesellschaftliche Gedächtnis“ beteiligt. Nachdem sie vor zwei Jahren die Armenienresolution des deutschen Bundestags unterstützt hatte, wurde sie als Vaterlandsverräterin verleumdet – und das nicht nur aus regierungsnahen Kreisen, sondern auch innerhalb ihrer eigenen Partei. „Anscheinend bin ich auf dem richtigen Weg“ Die Attacken gegen Kaftancıoğlu nahmen nach ihrer Wahl zur CHP-Provinzvorsitzenden von Istanbul zu. Sie wurde unter anderem als „Religionsfeindin“ bezeichnet, weil sie Regierungsanhängern vorgeworfen hatte, sie würden religiöse Gefühle in der Bevölkerung ausbeuten. Zu den aktuellen Anschuldigungen gegen sie sagt die Ärztin und Mutter einer Tochter: „Mein ganzes Leben lang habe ich mich für die Verteidigung der Menschenrechte eingesetzt und mich immer deutlich gegen Terror und Terrororganisationen ausgesprochen. Die Verleumdungen werde ich juristisch verfolgen lassen.“ Gegenüber der taz betont Canan Kaftancıoğlu zudem, sie bereue nichts von dem, was sie gesagt und geschrieben habe: „Anscheinend bin ich ja auf dem richtigen Weg, ansonsten wäre ich nicht solcher Kritik ausgesetzt.“ Offenbar ist die Politikerin nicht die Einzige in der Türkei, die das so sieht: Auf Twitter kursiert seit Sonntag der Hashtag #CananKaftan­cıoğ­luyalnızdeğildir, zu Deutsch: „Canan Kaftancıoğlu ist nicht allein“. Aus dem Türkischen Volkan Ağar und Ebru Taşdemir
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Gericht in Thailand urteilt: Zwei Jahre Haft für Ex-Premier Das thailändische Oberste Gericht hat den Ex-Regierungschef Thaksin wegen Amtsmißbrauchs verurteilt. Dieser sprach im Londoner Exil von einem politisch motivierten Verfahren. Einen fairen Prozess kann ich von Thailand nicht erwarten": Thailands Ex-Premier Thaksin Bild: dpa BANGKOK taz Die Entscheidung des Obersten Gerichtes in Bangkok fiel knapp aus: Mit fünf gegen vier Stimmen sahen es die Richter als erwiesen an, dass Ex-Premier Thaksin Shinawatra sein Amt dazu missbraucht hat, seiner Ehefrau ein staatliches Grundstück für einen Spottpreis zuzuschustern. Für dieses Vergehen verurteilten sie ihn zu zwei Jahren Haft, seine Frau Pojaman hingegen wurde frei gesprochen. Für besagtes Grundstück in einem Geschäftsbezirk in Bangkok hatte Thailands ehemalige "First Lady" vor fünf Jahren rund 772 Millionen Thai-Baht auf den Tisch geblättert - umgerechnet knapp 17 Millionen Euro. Kenner jedoch schätzten dessen Wert auf das Dreifache. Thaksin selbst erklärte am Dienstag telefonisch aus London, er habe mit diesem Urteil gerechnet. Das Verfahren sei politisch motiviert gewesen. "Einen fairen Prozess kann ich von Thailands Justiz ohnehin nicht erwarten", sagte Thaksin bereits im August nach seiner Flucht ins britische Exil. Gegen den 59jährigen, der am 19. September 2006 vom Militär gestürzt worden war, sind mittlerweile fünf Haftbefehle ausgestellt. Zwischenzeitlich war Thaksin zwar nach Thailand zurückgekehrt. Doch als seine Frau Ende Juli dieses Jahres wegen Steuerhinterziehung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, nutzte das Paar eine Reiseerlaubnis zu den Olympischen Spielen, um sich abzusetzen. In London beantragten die beiden politisches Asyl. Unterdessen erklärte die Generalstaatsanwaltschaft in Bangkok, sie wolle sich um die Auslieferung Thaksins bemühen. Das Urteil dürfte die Kluft zwischen den rivalisierenden Lagern betonieren. Während unter den Thaksin-Vertrauten Beklemmung herrscht, bejubelten deren Gegner, allen voran das außerparlamentarische Oppositionsbündnis "Volksallianz für Demokratie" (PAD), den Gerichtsentscheid mit Rufen wie "Wir haben gewonnen". Die PAD organisiert seit Monaten Massenproteste gegen die regierende "People's Power Party", die sie für eine Marionette Thaksins hält. Ohnehin ist der Gerichtsentscheid nur einer von etlichen Nackenschlägen für die Regierung. Erst kürzlich hatten führende Militärs, allen voran der einflußreiche Armeechef Anupong Paojinda, Premier Somchai Wongsawat im thailändischen Fernsehen zum Rücktritt aufgefordert. Somchai, ein Schwager Thaksins, solle Verantwortung übernehmen für die blutigen Ereignisse am siebten Oktober, in deren Folge zwei Menschen starben und fast 500, zum Teil schwer, verletzt wurden. Die von der PAD initiierten Proteste waren eskaliert, nachdem Polizisten ein mit einer explosiven Chemikalie versetztes Tränengas eingesetzt und bewaffnete Anti-Regierungs-Demonstranten zurück geschlagen hatten.
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Der "Hamlet" repräsentirt ein naturphilosophisches Drama, worin Bacon seine Lehre vom menschlichen Körper und dessen Lebensgeist, von Gesundheit und Krankheit, von Leben und Tod und noch vielem Anderen dargelegt haben soll. Hier hat die jüngste Bacon-Theorie sogleich zwei Zeilen entdeckt, die nach ihrer wörtlichen Aussage "zu den am meisten mit Naturwissenschaft durchtränkten gehören, die je ein Dichter geschrieben habe". [Fußnote: Ebendaselbst S. 47.]
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(Erste Stimme.) Sagt, woher stammt Liebeslust? Aus den Sinnen, aus der Brust? Ist euch ihr Lebenslauf bewußt? (Zweite Stimme.) In den Augen erst gehegt, Wird Liebeslust durch Schaun gepflegt; Stirbt das Kindchen, beigelegt In der Wiege, die es trägt, Läutet Totenglöckchen ihm; Ich beginne: Bim! bim! bim! (Chor.) Bim! bim! bim!
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Kampfsport in Neonazi-Strukturen: Fighter für den Umsturz Das Verbot des rechtsextremen Sportevents „Kampf der Nibelungen“ reicht nicht. Die Organisation dahinter sollte ebenfalls verboten werden. Zentrum rechtsextremer Aktivitäten: beim Festival Schild und Schwert in Ostritz Foto: imago/epd Die extreme Rechte in Deutschland hat in den vergangenen Jahren gezielt in den Ausbau eigener Strukturen im Kampfsport investiert: „Seinen eigenen Körper fit zu machen, sollte […] eine Selbstverständlichkeit darstellen. Kampfsport ist dafür geradezu prädestiniert, hier wird Körperbeherrschung, Disziplin und Konzentration vermittelt. Weiter wird durch Kampfsport die Wehrhaftigkeit gestärkt“, heißt es in Ausgabe 14 der extrem rechten Zeitschrift N.S. Heute. Das aus der Dortmunder Naziszene stammende Blatt hat sich 2017 aufgemacht, zum publizistischen Vordenkermagazin der militanten extremen Rechten in Deutschland und ihrer rassistischen Ideologie zu werden. Die Dortmunder Naziszene, die insbesondere vom Stadtteil Dorstfeld aus agiert, ist umtriebig. Sie setzte entscheidende Impulse für bundesweite politische Strategien. Nicht nur die N.S. Heute wird von dort erstellt. Auch die Idee, dem wiederholten Verbot von extrem rechten Kameradschaften durch die Gründung eigener, schwerer zu verbietender Parteien zu begegnen, wurde dort verfolgt. Im August 2012 verbot das Innenministerium von NRW mehrere Kameradschaften, unter ihnen der Nationale Widerstand Dortmund. „Alle ihre Aktionen sind darauf gerichtet, unsere demokratische Gesellschaftsordnung zu untergraben“, sagte der damalige Innenminister Ralf Jäger. Viele Mitglieder gingen seinerzeit in den Landesverband der jüngst gegründeten Partei Die Rechte, verlagerten ihre militanten Aktivitäten zum einen weiter in die Hooligangruppe Northside, zum anderen in die Strukturen rund um den 2013 entstehenden „Kampf der Nibelungen“ (KdN). Somit war das Kampfsportevent – das zuerst „Ring der Nibelungen“ hieß – von seinem ersten Tag an tief verwurzelt in den Strukturen militanter Neonazis in Deutschland. In wenigen Jahren entwickelte sich der KdN vom kleinen gefährlichen Geheimevent in NRW und Hessen zur neonazistischen Großveranstaltung. Im Jahr 2017 wurde das Label des KdN beim Patent- und Markenamt registriert. Im selben Jahr zog das Event erstmals über 500 Zuschauer an, ließ sich fortan ob des Wachstums nicht mehr geheim organisieren. „Disziplin ist alles“ Im Jahr 2018 ging man ins sächsische Ostritz, wo man auf das Gelände eines ehemaligen NPD-Funktionärs und die gut organisierten Strukturen der sächsischen Neonaziszene aus dem Raum Chemnitz zurückgreifen konnte. Drei Events wurden veranstaltet – zwei davon als Teil des Rechtsrock-Festivals „Schild und Schwert“. Zum Hauptevent des KdN kamen über 800 Zuschauer, europaweit reisten extrem rechte Kampfsportler aus dem neonazistischen Netzwerk an. Denis „Nikitin“ Kapustin und seine russische Nazibekleidungsmarke White Rex stießen offiziell zum Organisationsteam hinzu. Die Werbung wurde professionalisiert mit seiner Hilfe. Eine demokratische Gesellschaft und ihre Behörden können nicht tatenlos zuschauen Die T-Shirts mit den Schriftzügen wie „Disziplin ist alles“ wurden zum Kassenschlager der Szene und vielfach auf Nazikonzerten und Demonstrationen getragen. Die Szene wollte am gesellschaftlichen Fitnessboom mitverdienen. Das politische Profil der Protagonisten hatte sich indessen nicht verändert: Im Jahr 2018 besuchte der verurteilte Totschläger Sven K. aus Dortmund das Event, der ebenfalls aus Dortmund kommende Robin S. – Aktivist des rechtsterroristischen Netzwerks Combat 18 – organisierte die Einfahrt am Veranstaltungsgelände. Zudem machten die Organisatoren aus ihrer Ablehnung der freiheitlichen Demokratie nie ein Hehl, bezeichneten sie auf der Homepage als „faulendes politische System“. Ein Seminar im März 2019 wurde als „Straßenkampf“ beworben. Es ging um das Training politischer Gewalttaten. Auch das sächsische Oberverwaltungsgericht sah es in seinem Urteil zum Verbot des KdN im Oktober 2019 als erwiesen an, dass „eigene Verlautbarungen des Veranstalters auf eine Bereitschaft deuteten, das,abgewertete' System mittels der Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit aktiv und gewaltsam zu bekämpfen“. Somit konnte der KdN auch nicht mehr als jährlicher Honeypot für staatliche Recherchen zur rechtsextremen Kampfsportszene her­halten. Doch trotz des Veranstaltungsverbots ist Kampf der Nibelungen eine zentrale Organisation militanter Neonazis und ihrer rassistischen, rechtsterroristischen Netzwerke. Er steht in der Tradition extrem rechter Wehrsportübungen, dient zur Professionalisierung und Finanzierung neonazistischer Gewalt. Das Verbot des Events im Oktober 2019 war folgerichtig und sollte konsequent zu Ende geführt werden. Eine demokratische Gesellschaft sowie staatliche Behörden können nicht tatenlos zuschauen, wie sich nationalsozialistische Kampfsportler für den politischen Umsturz rüsten. Es ist Zeit für ein Verbot der gesamten Organisation.
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Vietnam schränkt Internetnutzung ein: Teilen verboten Das kommunistische Regime macht ernst: Ab September dürfen in sozialen Netzwerken und auf Blogs keine Fremdinhalte aus dem Netz mehr veröffentlicht werden. Bald eingeschränkt: Internetnutzerinnen in Vietnam. Bild: ap HANOI dpa | Vietnam verbietet ab September die Weiterverbreitung von Informationen aus dem Internet auf Sozialen Netzwerken. Auf Facebook brach am Donnerstag umgehend ein Sturm der Entrüstung los. „Wir brauchen Freiheit, um uns zu entwickeln!“ schrieb Hanh Phuc. „Die Regierung versteht diesen Trend nicht, dass die Gesellschaft offener wird“, meinte Huong Nguyen. Die vietnamesische Presse wurde am Mittwochabend über die neuen Vorschriften informiert. Das Strafmaß für Vergehen sei noch in Arbeit, hieß es. Vietnam ist ein Einparteienstaat. Kritik an der kommunistischen Partei ist verboten. Zahlreiche kritische Blogger sind angeklagt oder im Gefängnis. Die US-Botschaft hatte einen Entwurf des neuen Gesetzes im Juni 2012 wegen der möglichen Verletzung von Menschenrechten kritisiert. Das Dekret 72 über „Management, Bereitstellung und Verwendung von Internetdiensten und Inhalten online“ schreibt vor, dass Bürger auf Blogs und in Sozialen Netzwerken nur persönliche Information veröffentlichen. „Dort dürfen Informationen aus Presseorganen oder von Regierungswebseiten nicht zitiert oder zusammengefasst werden“, zitieren Lokalzeitungen den zuständigen Direktor im Informationsministerium Hoang Vinh Bao.
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Aus einem TL Kreuzkümmel, einem TL Koriander, und einem TL Kurkuma, dem halben TL Paprikagewürz, Pfeffer, einem EL gehacktem Pfefferminz, dem Saft der Zitronen, den zerdrückten Knoblauchzehen, der Hähnchenbrühe (es geht natürlich auch mit anderer) und Olivenöl eine Marinade rühren.Das gewürfelte Hähnchenfleisch in der Marinade versenken und etwa 12 Stunden in der Marinade lassen.Danach in einem Sieb abtropfen lassen. Je nachdem, ob das Fleisch gegrillt werden soll oder in der Pfanne braten soll, auf Spieße stecken (Grill) oder dies sein lassen (Pfanne). Fleisch salzen, grillen oder braten.Dünnes arabisches Fladenbrot (nicht mit dem dicken türkischen verwechseln) an einer Seite aufschneiden und dann vorsichtig einreißen. Das Fleisch mit den gehackten und gesalzenen Salatzutaten (auch Zitronenstückchen und rote Beete) dareingeben. Zusammenrollen und noch einmal kurz in die Pfanne oder auf den Grill geben. Im Falle des Grillens bietet es sich an, den Spieß einmal durch das Fladenbrot zu ziehen, so, dass das Fleisch im zusammengerollten Brot haften bleibt, dass Brot noch einmal öffnen und die Salatzutaten dazugebenJe nach Gusto noch mit scharfen Chiliflocken und/oder einer Joghurtsauce "würzen".Variieren lässt sich das Rezept mit eingelegten statt frischen Gurken, was im Libanon sehr beliebt zu sein scheint. Ansonsten kann man auch noch das Brot weglassen und das Fleisch mit dem Salat und Reis, Pommes Frites und anderem auf einem Teller anrichten.
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Einleitung China akzeptiert mittlerweile, dass die USA die einzige Supermacht der Welt sind, und es kann damit umgehen, aber die USA sind sich noch unschlüssig, wie sich Chinas Rolle entwickeln wird, so Lu Yiyi vom Royal Institute of International Affairs in London. Kurz vor einem Chinabesuch appellierte US-Präsident Bush im November 2005 im japanischen Kyoto an die Volksrepublik, sich politisch zu öffnen und sich dabei an Taiwan ein Beispiel zu nehmen. Zuvor hatte der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld Pekings Aufrüstung als Bedrohung nicht nur für Taiwan, sondern für das pazifische Asien und "viele Weltregionen" bezeichnet, während republikanische und demokratische Kongressabgeordnete angesichts eines dramatisch anwachsenden Defizits im Handel mit China nach Sanktionen riefen. Mit den Handels- und Demokratieproblemen, der Taiwanfrage und der chinesischen Sicherheitspolitik sind vier Themen angerissen, welche die Beziehungen zwischen den USA und ihrem "Partner für Diplomatie" seit dem Beginn der wirtschaftlichen Öffnung der Volksrepublik und seit Ende des Kalten Krieges zunehmend negativ geprägt haben. Auf amerikanischer Seite hatte das Verhältnis seit dem Amtsantritt von George W. Bush vier Phasen durchlaufen: halbherzige Konfrontation, halbherzige Kooperation, Vernachlässigung und drohender Orientierungsverlust. Für den letzteren sind einander widersprechende Chinabilder in den USA verantwortlich, für die wiederum Widersprüche des "Aufstiegs" der Volksrepublik reichlich Munition liefern. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Bush das Verhältnis als "strategischen Wettbewerb" charakterisiert und sich damit von der "strategischen Partnerschaft" distanziert, die sein Vorgänger, US-Präsident Bill Clinton, 1997 gemeinsam mit dem damaligen chinesischen Staats- und Parteichef Jiang Zemin ausgerufen hatte. Tatsächlich hätte Peking dieses Etikett eher von Bush verdient als von Clinton, denn erst nach dem 11.September 2001 initiierten beide Seiten im Kampf gegen den Terror und in den diplomatischen Bemühungen um eine Lösung des nordkoreanischen Atomproblems eine weitreichende Kooperation. Ebenfalls 2001 verpflichtete sich China mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) auf eine verifizierbare Fortsetzung ihrer Politik der wirtschaftlichen Öffnung und erfüllte damit ein amerikanisches Anliegen. Angesichts dieser Entwicklungen sprach Bushs damaliger Außenminister Colin Powell 2003 vom "besten Stand der Beziehungen seit 1972". Daneben hat sich Bush anders als Clinton nie ausdrücklich zu einer "Einbindung" (engagement) Chinas bekannt, den Druck auf Peking in strittigen Fragen erhöht und es konsequent abgelehnt, etwa die Militärbeziehungen der USA zu Taiwan bilateral zur Debatte zu stellen. Wenn beide Seiten ihre Beziehungen mittlerweile mit den Adjektiven "offen, konstruktiv und kooperativ" beschreiben, ist das auch Ausdruck ihrer anhaltenden Ungewissheit über die Motive des anderen. Aus chinesischer Sicht stand die Taiwanfrage spätestens im Zentrum dieser Beziehungen, seit US-Präsident Richard Nixon anlässlich seines Besuchs in Shanghai am 27. Februar 1972 offiziell zur Kenntnis genommen hatte, "dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße davon ausgehen, dass es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil Chinas ist". Sieben Jahre später hatte die Carter-Administration Peking als "einzig legitime Regierung Chinas" anerkannt und alle amtlichen Beziehungen zu Taiwan abgebrochen. Gleichzeitig legte man mit dem Taiwan Relations Act inneramerikanische Rechtsgrundlagen für die anhaltende Belieferung Taiwans mit "Defensivwaffen" und militärische Hilfen im Krisenfall, was seit 2001 auch die Möglichkeit atomarer Präventivschläge einschließt. Wie alle seine Vorgänger seit Dwight D. Eisenhower musste auch Bush Jr. erkennen, dass sich die USA wegen Taiwan ständig am Rande eines bewaffneten Konflikts mit der Volksrepublik bewegten. Anders als Eisenhower hatte Bush allerdings mit einem China zu tun, das nach Auffassung vieler Beobachter selbst auf dem Weg zur "Weltmacht" war, und dies zu einer Zeit, als Washingtons militärische Kräfte weitgehend im Irak gebunden waren. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer erfolgreichen internationalen Imagekampagne Pekings ist Vernachlässigung für die USA heute keine Option mehr. Weil man aber noch nicht weiß, was die Option ist, gelingt es inneramerikanischen Interessengruppen immer wieder, den auch unter Bush aufrechterhaltenen Grundkonsens über die Notwendigkeit eines positiven Verhältnisses ins Wanken zu bringen. Handel mit China Der amerikanische Chinahandel ist von 5Mrd. (1980) auf 231 Mrd. US-Dollar (2004) angewachsen. Die Volksrepublik ist heute der drittwichtigste Handelspartner der USA, und der Austausch mit China wächst schneller als mit jedem vergleichbaren Land. Gleichzeitig ist das amerikanische Handelsbilanzdefizit nach eigenen Angaben von 6Mrd. (1985) auf 161,9 Mrd. US-Dollar (2004) angewachsen und beläuft sich damit auf etwa ein Viertel des weltweiten Defizits der USA. Hatte Washington dieses Ungleichgewicht lange in Kauf genommen, weil man in Peking von den Exporterlösen amerikanische Staatsanleihen kaufte und so das Haushaltsdefizit der Administration finanzieren half, so klagen mittlerweile nicht nur amerikanische Unternehmer in den USA, sondern auch amerikanische Investoren in China über die Wirtschaftspolitik der Volksrepublik, während Sicherheitspolitiker die Motive der chinesischen Devisenpolitik hinterfragen bzw. darauf verweisen, dass China seine spektakulär wachsenden Einnahmen u.a. in die Modernisierung der Volksbefreiungsarmee (VBA) investiert. Dabei verwischt sich die früher gelegentlich zu beobachtende Rollenverteilung zwischen dem "Bad Cop"-Kongress und der "Good Cop"-Administration. Die Handelsprobleme der vergangenen Jahre beziehen sich auf Umfang und Zunahme des Defizits, Pekings Währungspolitik, die von vielen Kongressmitgliedern für den unausgewogenen Handel und den Verlust amerikanischer Arbeitsplätze verantwortlich gemacht wird, eine unzulängliche Implementierung des WTO-Abkommens durch die Volksrepublik und diffuse Ängste vor Chinas "Aufstieg" zur Weltwirtschaftsmacht. Versuche, diese Probleme bilateral zu lösen, haben bisher nur zu sektoralen und provisorischen Ergebnissen geführt. Während viele amerikanische Politiker und Wirtschaftsvertreter die chinesische Währung auch nach Einführung eines "managed float" im Juli 2005 für bis zu 40 Prozent unterbewertet halten, hat die Bush-Administration bisher darauf verzichtet, von einer "Manipulation" zu sprechen, und sich stattdessen in ihren bilateralen Kontakten für eine weitere Flexibilisierung eingesetzt. Demgegenüberbeharrt China auf einem graduellen Prozess, legte aber auch anlässlich des Bush-Besuchs keinen Zeitplan vor. Im Dezember 2004 veröffentlichte der Handelsbeauftragte der Administration einen dritten Bericht über Chinas Implementierung der WTO-Verpflichtungen. Darin wurden der Volksrepublik zwar "eindrucksvolle Bemühungen" bescheinigt, gleichzeitig betonte man aber, dass diese "in keiner Weise ausreichend und nicht immer zufriedenstellend" ausgefallen waren. Dabei wurden unsichtbare Handelshemmnisse auf Gebieten wie Landwirtschaft, Dienstleistungen und Direktvertrieb angeführt. Im Oktober 2005 machte Washington bei der WTO ein Verfahren wegen Produktpiraterie gegen Peking anhängig. Nimmt man sensationalistische Berichte über Chinas Energie-, Technologie- und Devisenpolitik sowie diplomatische Bodengewinne der Volksrepublik in "Amerikas (lateinamerikanischem) Hinterhof" hinzu, so ergibt sich eine Gemengelage aus ökonomischen und sicherheitspolitischen Erwägungen, bei der die Verfechter einer "Einbindung" Pekings in die Defensive geraten. Dabei deutet sich insofern ein Teufelskreis an, als die USA sowohl durch eine Auslagerung eigener Produktionssegmente nach China als auch durch ihre Beschränkung von Hochtechnologieexporten selbst zu der handelspolitischen Schieflage beitragen. Menschenrechte und Demokratie Bushs Kyoto-Appell für eine politische Öffnung Chinas war eine rhetorische Konzession an eine heimische "Menschenrechtsallianz" aus Nichtregierungsorganisationen und der religiösen Rechten, welche die unentschlossene Chinapolitik der Administration und die ideologischen Präferenzen des Präsidenten genutzt hat, um ihren Einfluss auszubauen. Peking hatte einer Demokratisierung in Erwartung steigenden Drucks kurz vor Bushs Besuch eine amtliche Absage erteilt, und Staats- und Parteichef Hu Jintao ließ sich diesbezüglich mit seinem Gast auf keine längere Debatte ein. Bush selbst hatte kurz vor seiner Reise den Dalai Lama empfangen und besuchte in Peking den Gottesdienst einer anerkannten protestantischen Gemeinde. Washington hatte das Menschenrechtsthema nach dem 11. September 2001 heruntergespielt und China für seine Mitwirkung an der internationalen Antiterror-Koalition mit der Kategorisierung einer islamistisch-separatistischen Gruppe in der Unruheprovinz Sinkiang als "terroristisch" belohnt. Allerdings verzeichnete das State Department seither Versuche der chinesischen Regierung, Antiterrorismus als Vorwand für eine verschärfte Unterdrückung ethnischer Minderheiten zu nutzen und bescheinigte Peking insgesamt eine mangelnde Beachtung der Menschenrechte. 2002 bzw. 2004 setzte China seinen bilateralen Menschenrechtsdialog mit den USA aus, weil diese in der Menschenrechtskommission der VN kritische Resolutionsentwürfe eingebracht hatten. 2003 und 2005 verzichtete Washington unter Hinweis auf "einige Verbesserungen" bzw. "bedeutsame Schritte" auf die Einbringung eines Entwurfs. 2005 erfüllte China die langjährige amerikanische Forderung nach Einladung des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen für Folter, reagierte aber nicht nur nicht auf eine von der Administration überreichte Liste politischer Gefangener, sondern ließ noch kurz vor Bushs Besuch weitere Dissidenten festnehmen. Gleichzeitig präsentierten Menschenrechtsorganisationen in den USA neue Belege für Zwangsabtreibungen in China. Hu Jintao erklärte sich während des Bush-Besuchs zu einem neuen Dialog über Menschenrechte und Demokratie bereit. In Washington geht unterdessen das Gespenst vom "Aufstieg" eines nichtdemokratischen China um. Diese Sorge schlug sich vor dem Kyoto-Appell des Präsidenten zweimal (im März 2005 durch Condoleezza Rice und im Oktober 2005 durch Donald Rumsfeld) in direkten Aufforderungen an die chinesische Führung nieder, eine politische Öffnung einzuleiten. Indem Bush seinen Appell außerhalb der Volksrepublik lancierte, signalisierte er eine gewisse Flexibilität, die allerdings an Fortschritte auf seiner sonstigen Agenda geknüpft war. Sicherheitspolitische Beziehungen Chinas Mitwirkung an Bushs internationaler Koalition gegen den Terrorismus hat zwar zu einer polizeilichen und nachrichtendienstlichen, nicht aber zu einer militärischen Zusammenarbeit mit den USA geführt. Die USA haben China seit dem 11. September 2001 mit einem faktischen Ring aus Allianzen und militärischen Partnerschaften umgeben, und wenn sich Peking seither von Zentralasien bis Lateinamerika um eine Stärkung seiner diplomatischen Präsenz bemüht hat, dann auch, um aus dieser Umzingelung auszubrechen. Gleichzeitig wurde Chinas anfängliche Hoffnung enttäuscht, Washington könne sein implizites Containment der Volksrepublik mittels geplanter Raketenabwehrsysteme oder intensivierter Militärbeziehungen zu Taiwan oder Japan im Interesse des gemeinsamen antiterroristischen Kampfs zurückfahren. Anders als Clinton ließ sich Bush in dieser Hinsicht auf keine Diskussion mit Peking ein. Ähnlich wie Clinton musste Bush aber erkennen, dass die Koreanische Halbinsel und die Taiwan-Straße nur mit chinesischer Hilfe zu stabilisieren waren. China drohte den USA für den Fall einer Dislozierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme mit einem weiteren Ausbau der eigenen Raketenwaffe und im Falle einer Einbeziehung oder Abdeckung Taiwans anscheinend sogar mit anhaltender eigener Raketenproliferation. Washington verhängte zwischen 2001 und 2004 dreizehnmal Sanktionen gegen chinesische Firmen und Organisationen, die ballistische Raketen, Lenkraketen oder Chemiewaffen an Pakistan, den Iran und andere Staaten geliefert hatten. Vor diesem Hintergrund veröffentlichte die Volksrepublik 2002 Richtlinien für den Export von Raketentechnologien und biologischen Komponenten und arbeitete mit der Bush-Administration in begrenztem Umfang bei der Verhinderung des Exports chemischer Komponenten nach Nordkorea zusammen. Ende 2002 nahm das Pentagon die verteidigungspolitischen Konsultationen mit der Volksbefreiungsarmee (VBA) wieder auf, die nach dem sogenannten "EP-3-Zwischenfall" vom 1. April 2001 abgebrochen worden waren, bei dem es über die Notlandung eines amerikanischen Aufklärungsflugzeuges auf der chinesischen Insel Hainan zu Spannungen gekommen war. Allerdings behielt sich Rumsfeld die Genehmigung hochrangiger Kontakte weiterhin vor. Im Oktober 2005 besuchte Rumsfeld selbst China. Republikanische Kritik an den von der Clinton-Administration 1997 initiierten Konsultationen hatte vor allem einer mangelnden Bereitschaft der VBA zu Transparenz und Gegenseitigkeit gegolten (Rumsfeld erhielt in China Gelegenheit zu einem Besuch im Hauptquartier der strategischen Raketenwaffe. Gleichzeitig blieb ihm der Zugang zum nationalen Kommando-Hauptquartier in der Nähe von Peking versagt). Der amerikanische Verteidigungsminister verlangte deshalb eine Offenlegung aller Militärausgaben der Volksrepublik; ein Ansinnen, das seine Gesprächspartner von sich wiesen. Darüber hinaus forderte Rumsfeld China auf, sich stärker für eine friedliche Welt zu engagieren - ein Motiv, das Präsident Bush im November selbst aufgreifen sollte. Schließlich äußerte sich die amerikanische Seite irritiert über Chinas Interesse an regionalen Organisationen, welche die USA ausschließen, Chinas Weigerung, amerikanische Beobachter zu Manövern mit Dritten zuzulassen und Pekings teils erfolgreiche Versuche, zentralasiatische Staaten zur Schließung von Stützpunkten zu bewegen, die Washington dort im Gefolge des 11. September 2001 eröffnet hatte. In keiner dieser Fragen kam es zu einer Annäherung der Standpunkte. Wenn die Volksrepublik es ablehnte, ihre regionalen Militärbeziehungen mit der Bush-Administration zu erörtern, dann nicht zuletzt, weil diese umgekehrt ebenso verfuhr. Ähnlich wie sein Mentor George Shultz 1982, engagiert sich auch Rumsfeld selbst für eine Stärkung der amerikanisch-japanischen Allianz und bezieht diese ausdrücklich auf eine "destabilisierende Aufrüstung" durch Dritte. In der weiteren Region haben die USA Militärbeziehungen zu Australien, Indien, Indonesien und Vietnam aus- bzw. aufgebaut. 2005 sprach Außenministerin Rice von einer "Gemeinschaft der Demokratien" mit einer Kerngruppe bestehend aus Tokyo, Canberra, Delhi und Washington. Derlei Gedankenspiele waren nicht zuletzt Reaktionen auf eine neue chinesische Regionaldiplomatie. Während die Bush-Administration am Golf abgelenkt war, hatte Peking Südkoreas Entspannungspolitik gegenüber Nordkorea unterstützt und mit der Gemeinschaft Südostasiatischer Staaten (ASEAN) ein Freihandelsabkommen geschlossen. 2004 engagierte sich China gemeinsam mit Südkorea und der ASEAN für die Gründung einer Ostasiatischen Gemeinschaft (EAC) unter Ausschluss der USA, und erst in letzter Minute gelang es dem amerikanischen Verbündeten Australien, seine Einbeziehung sicherzustellen und so eine drohende Isolierung Japans zu verhindern. Gewissermaßen auf halbem Weg zwischen EAC und "Gemeinschaft der Demokratien" verständigten sich Washington, Peking, Tokyo, Moskau, Pyöngyang und Seoul im Kontext der Sechsparteiengespräche um das nordkoreanische Atomproblem im September 2005 auf die langfristige Schaffung eines nordostasiatischen Sicherheitsforums, mit dessen Hilfe "China und Russland in eine regionale Sicherheitsordnung integriert werden (könnten), ohne (dabei) die Sicherheit Japans, Südkoreas und der USA zu opfern". Voraussetzungen für diese neue Verankerung der amerikanischen Militärpräsenz im Pazifik sind allerdings eine Lösung des Nordkoreaproblems und eine Stabilisierung des Status quo in der Taiwan-Straße. Die USA-Taiwan-Beziehungen Die amerikanisch-taiwanesischen Beziehungen haben sich unter Bush zu einer de facto-Allianz entwickelt, wobei nur noch gemeinsame Manöver fehlen. Die USA bleiben nicht nur Taiwans wichtigster Waffenlieferant; sie haben auch die bilateralen Militärbeziehungen ausgebaut und die Interoperabilität der beiden Streitkräfte verbessert. Dabei muss sich Washington gleichzeitig mit Chinas wachsendem wirtschaftlichen und militärischen Potenzial und einer demokratisch gewählten taiwanesischen Führung auseinander setzen, die sich angesichts dieses Potenzials zu einer Bekräftigung der separaten Existenz der Inselrepublik genötigt sieht. Die USA haben auf das Dilemma in den vergangenen Jahren auf viererlei Weise reagiert: Bekräftigung ihrer traditionellen "ein-China-Politik" (bei der Taiwans Rolle offen bleibt), Bekräftigung ihrer de facto-Sicherheitsgarantie nach Maßgabe des Taiwan Relations Act, Unterstützung taiwanesischer Bemühungen um Beobachterstatus in der Weltgesundheitsorganisation sowie Einwirken auf Taipei mit dem Ziel, Provokationen gegenüber Peking zu vermeiden. Letzteres führte dazu, dass Bush seinen taiwanesischen Kollegen Chen Shuibian 2003 öffentlich im Beisein des chinesischen Premierministers kritisierte, weil dieser Verfassungsänderungen mittels Volksabstimmungen angekündigt hatte. Colin Powell wies 2004 zusätzlich darauf hin, dass Taiwan kein souveräner Staat sei. Als die Volksrepublik im März 2005 ein "Anti-Sezessionsgesetz" verabschiedete, in dem sie eine Gewaltdrohung gegen Taiwan bekräftigte und rechtlich verbindlich machte, fiel die Reaktion der USA relativ zurückhaltend aus. Gleichzeitig wies das Pentagon darauf hin, dass sich "das Gleichgewicht der Kräfte in der Taiwan-Straße angesichts von Chinas anhaltendem Wirtschaftswachstum, zunehmenden diplomatischen Einflusses und Verbesserungen der militärischen Fähigkeiten der VBA verschiebt". Während die Volksrepublik weiterhin nicht erwarten kann, die USA in einem großangelegten Konflikt zu besiegen und auch nach Pentagon-Meinung weiter nicht über hinreichende Kapazitäten für eine Invasion der Insel verfügt, konzentriert sie ihre Aufrüstung auf technologische Nischen, in denen man der Siebten Flotte größtmöglichen Schaden zufügen will. Die letzte Beinahe-Konfrontation liegt zehn Jahre zurück und erbrachte Belege für die Fähigkeit der VBA, eine partielle Seeblockade über Taiwan zu verhängen. Seither hat Peking die Zahl seiner auf taiwanesische Ziele programmierten Kurzstreckenraketen von 50 auf über 700 erhöht. Sowohl die Raketenabwehrprogramme der Bush-Administration als auch ihre Pläne für eine Umstrukturierung vorwärts stationierter amerikanischer Streitkräfte haben eindeutige Taiwan-Bezüge. Den USA ist es bisher gelungen, eine Aufhebung des EU-Embargos auf Rüstungsexporte nach China zu verhindern und Japan zu einer Identifizierung der Taiwanfrage als "gemeinsames strategisches Anliegen" zu bewegen, aber weder in Asien noch in Europa könnten die USA im Falle einer Eskalation auf nennenswerten Rückhalt zählen. Sie haben deshalb Interesse signalisiert, auf einen Vorschlag der Clinton-Administration aus dem Jahr 1999 zurückzukommen, demzufolge sich Peking und Taipei in sogenannten "Interimsabkommen" auf einen Gewaltverzicht im chinesischen und auf einen Verzicht auf eine Formalisierung der Unabhängigkeit im taiwanesischen Fall verständigen sollten. Es bleibt abzuwarten, wie aktiv sich die amerikanische Diplomatie dieses Anliegen zu Eigen macht; man kann aber wohl davon ausgehen, dass weder China noch Taiwan größere Einwände gegen diese Art der Vermittlung hätten. Anteilseigner oder Mitbieter? Wie andere außenpolitische Strategien auch, endete Clintons "Einbindungs"-Politik mit seiner Administration. Republikanische Kreise (wie auch konservative politische Kreise in China) hatten diese für unverbindlich und unausgewogen befunden und liebäugelten 2001 vorübergehend mit einer Strategie der "Eindämmung" (containment), bevor sie auch diese angesichts der einhergehenden Risiken aufgaben. Seither haben Washington und Peking improvisiert, ihr Verhältnis zwar als "wichtigstes auf der Welt" bezeichnet, aber anstatt daraus gemeinsame Folgerungen zu ziehen, einander weiter wie zwei Boxer mit mangelnder Übersicht über den Ring umkreist. Dabei verlagerte sich der Wettbewerb zwischen Supermacht und Herausforderer zunehmend auf die Beziehungen beider zu Dritten. So hat etwa die weitgehende Kontrolle der Golfregion und der Seewege zum Golf durch die USA die chinesische Führung veranlasst, die Beziehungen zu afrikanischen, lateinamerikanischen und anderen Ölproduzenten auszubauen. In den USA (und vermutlich auch in China) nutzten innenpolitische Interessengruppen die Phase des amerikanischen Desinteresses zu einer verstärkten Einflussnahme auf die Politik. Um sich nicht weiter in die Ecke drängen zu lassen, skizzierte der stellvertretende Außenminister der Bush-Administration Robert Zoellick im September 2005 eine neue Chinastrategie. In Anknüpfung an den früheren Außenminister Colin Powell forderte Zoellick Peking auf, sich bei der Gestaltung des künftigen internationalen Systems als "Anteilseigner" (stakeholder) zu sehen. Dabei erwähnte er die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit bei der Lösung der nordkoreanischen und iranischen Atomprobleme, der Bekämpfung des Terrorismus, der humanitären Krise im Sudan, innerhalb der transpazifischen Dialograhmen Asian Regional Forum (ARF) und Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC) sowie bei der "friedlichen Lösung von Differenzen mit Taiwan" und der Aufarbeitung historischer Probleme mit Japan. Bei derselben Gelegenheit betonte auch er die Notwendigkeit einer politischen Öffnung der Volksrepublik. Zoellick knüpfte damit nicht nur an Powell an, sondern implizit auch an Empfehlungen der Rand-Corporation aus dem Jahr 1999, China so lange mit Hilfe einer congagement- (bzw. hedging-) Strategie daran zu hindern, in Ostasien nach Hegemonie zu streben "und die Regeln des internationalen Systems zu seinem Vorteil zu verändern", bis für die Kooperations- oder Konfrontationswilligkeit der Volksrepublik eindeutige Indizien vorlägen. Bush hat die "stakeholder"-Terminologie übernommen und will dabei anscheinend die Komplexe Syrien, Sudan, Iran und Birma zu Testfällen machen. Um die Kooperationsmöglichkeiten auszuloten, haben die USA und China 2005 einen halbjährlichen strategischen Dialog auf der Ebene stellvertretender Außenminister aufgenommen. Allerdings ist "congagement" weniger ein Mittelweg zwischen "Einbindung" und "Eindämmung" als eine Aufforderung zum Einreihen, wobei eine unausgesprochene containment-Drohung für den Fall des Scheiterns aufrechterhalten bleibt. Dieses "Einreihen" fällt China traditionell schwerer als anderen. Um aus chinesischer Sicht attraktiv zu sein, müsste die Aufforderung um materielle Anreize angereichert werden, wozu man im State Department grundsätzlich bereit ist. Das Problem ist, dass solche Anreize in der Vergangenheit häufig aus Technologietransfers bestanden, zu denen die Bush-Administration insgesamt nur in Maßen bereit ist. Insofern sich hier etwa im Bereich der Energiepolitik neue Bündnisse ankündigen, dürfte Washington auf einer strikten Gegenseitigkeit beharren. Dabei könnte sich Europa nach schlechten Erfahrungen auf den Gebieten der internationalen Umwelt- und Strafrechtspolitik sowie angesichts einer chinesisch-amerikanischen de facto-Kooperation bei der Reform bzw. Nichtreform der Vereinten Nationen selbst als globaler "stakeholder" ausgegrenzt fühlen. Weil allerdings die Motive Chinas und der USA in diesen Fragen selten deckungsgleich sind und einander häufig latent widersprechen, ist kaum damit zu rechnen, dass Zbigniew Brzenzinskis "östlicher Anker" demnächst eine heimliche Renaissance erlebt. Mit einer solchen Entwicklung ist auch deshalb nicht zu rechnen, weil die Chinapolitik der USA seit dem Ende des Kalten Krieges so weitgehend Teil des innenpolitischen Diskurses geworden ist, dass eine substanzielle "strategische Partnerschaft" weiterhin ausgeschlossen scheint. Dabei ist es wechselnden Administrationen zwar immer wieder gelungen, größere Ausschläge in den bilateralen Beziehungen aufzufangen, aber nur als Ergebnis schwieriger interner Kompromisse, und die Frequenz der Ausschläge hat zwischen dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 und dem "EP-3-Zwischenfall" 2001 ständig zugenommen. Momentan ist eine solche Entwicklung angesichts anhaltender amerikanischer Dominanz und der Bedeutung des amerikanischen Markts für Chinas Wirtschaftswachstum, anhaltender Probleme der USA am Golf und wachsender Widersprüche des chinesischen Entwicklungsweges eher unwahrscheinlich. Robert Zoellick hat darauf hingewiesen, dass Peking vor dem Hintergrund neuer Interdependenzen und heimischer Probleme seine Position gegenüber Washington, der weltweiten Demokratie und dem weltweiten Kapitalismus noch nicht abschließend festgelegt, aber seine Entwicklungsstrategie an die "Vernetzung mit der modernen Welt" geknüpft hat. Gleichzeitig sind sich State Department und Pentagon dahingehend einig, dass der Kampf der Kommunistischen Partei um den Machterhalt Risiken mit sich bringt und dass sich China insgesamt an einem "strategischen Scheideweg" befindet. Das Risiko besteht folglich eher in den jeweiligen internen Dynamiken als in den Schwierigkeiten beider Seiten, dem bilateralen Verhältnis einen tragfähigen Rahmen zu geben. Dabei bleibt ein nichtdemokratisches China schwerer berechenbar als die demokratischen USA. Sollte es in der Volksrepublik infolge eskalierender innerer Konflikte zu nationalistischen Ausbrüchen kommen, müsste Washington mangels multilateraler Alternativen wohl militärisch intervenieren. Das Dilemma besteht in dem Umstand, dass Nationalismus erfahrungsgemäß auch ein Ergebnis von Demokratisierung sein kann. Weil es aber seit dem Ende des Kalten Krieges ebenso erfahrungsgemäß früher oder später zu Demokratisierungsprozessen kommt, würde es hier einer multilateralen Einbettung bedürfen. Dafür wäre mangels Alternativen wiederum die transatlantische Wertegemeinschaft die einzige tragfähige Grundlage. Insofern bliebe diese und nicht das unruhige amerikanisch-chinesische Paar die "wichtigste Beziehung" auf der Welt. Vgl. Patrick Goodenough, Citing Taiwan as a Model, Bush Prods China on Democracy, in: CNS News vom 16. 11. 2005. Rumsfeld Questions China's Military Buildup, Washington (Usinfo), 4. 6. 2005. Dabei bezog sich Rumsfeld vornehmlich auf die Modernisierung der chinesischen Raketenwaffe. Bush Calls US, China, "Partners in Diplomacy", Washington (State Department), 9. 12. 2003. Vgl. Jianwei Wang, China Reconsidered: America's Changing Perceptions, in: E-Notes (Washington: Foreign Policy Research Institute), 16. 7. 2003. US-China Ties in Best Shape since 1972, Powell Says, in: Kyodo vom 9. 9. 2003. Bush Visit to China Reaffirms Constructive Ties: US Official, in: People's Daily Online vom 28. 2. 2002. Shanghai-Kommuniqué, Washington (State Department), 27. 2. 1972. Joint Communiqué on the Establishment of Diplomatic Relations between the United States of America and the People's Republic of China, 1. 1. 1979. Special Briefing on Nuclear Posture Review, Washington (Department of Defence), 9. 1. 2002. Vgl. Christopher Swann, The Clock Ticks in Washington as Friends Drift away, in: Financial Times vom 14. 4. 2005, S. 13. Vgl. William Mathews, Congress Worries that West Arms China, in: Defense News vom 18. 4. 2005, S. 1/6. Vgl. Caroline Daniel, Bush Sings from Different Song Sheet to China, in: Financial Times vom 21. 11. 2005, S. 3. Bush Adopts New Strategy on China, in: Oxford Analytica vom 18. 11. 2005. Vgl. David E. Sanger, China Yields Little to Bush in Beijing, in: International Herald Tribune vom 21. 11. 2005, S. 1/4. China: Uighur Prisoner Released, Critical Resolution Abandoned, in: Human Rights News vom 18. 3. 2005; Rice Discusses North Korea, Arms Sales, and Democracy, in: Taipei Times vom 22. 3. 2004, S. 1. Vgl. China Labels Stanford Researcher "International Spy" for Exposing Forced Abortion Policy, in: Lifesite vom 26. 8. 2005. Vgl. Shirley A. Kan, China and Proliferation of Weapons of Mass Destruction and Missiles: Policy Issues, Washington (Congressional Research Service), 9.12. 2004, S. 25. Vgl. Kurt Campbell/Richard Weitz, The Limits of US-China Military Cooperation: Lessons from 1995 - 1999,in: The Washington Quarterly, 29 (Winter 2005/6) 1, S. 183. Vgl. USA besorgt über Aufrüstung in China, in: Handelsblatt vom 19. 10. 2005, S. 9. Jay Solomon, US Takes China Policy in Two Directions, in: Wall Street Journal vom 17. 11. 2005, S. 2. Ellen Bork, Asia Awaits America's Vision for Cooperation, in: Financial Times vom 29. 7. 2005, S. 13. New Frontier for US-Japan Security Relations, Washington (Atlantic Council/Mansfield Centre/Research Institute for Peace and Security), February 2002, S. 4. State Department Briefing, Washington (Usinfo), 8.3. 2005. The Military Power of the People's Republic of China, Washington (Department of Defence), 2005, S. 6. Vgl. Edward Cody, US Forces Realign in Pacific to Counter China's New Might, in: Wall Street Journal vom 19. 9. 2005, S. 3. James Brooke, Japan's Ties to China: Strong Trade, Shaky Policies, in: New York Times vom 22. 2. 2005 (online). Wen: US-China Relations Most Important in World, in: Cable News Network vom 12. 12. 2003. Vgl. Danny Gittings, General Zhu Goes Ballistic, in: Wall Street Journal vom 18. 7. 2005, S. 9. Vgl. Robert B. Zoellick, Whither China: From Membership to Responsibility? Remarks to National Committee on US-China Relations, New York, 21. 9. 2005, www.state.gov/s/d/rem/53682.htm (16.3. 2006). Zalmay Khalizad et al., The United States and a Rising China, Santa Monica (Rand Corporation) 1999. So der Asiendirektor im Nationalen Sicherheitsrat, Michael Green. Bush in China for Talks on Security, Trade, Bird Flu, in: Agence France-Presse vom 19. 11. 2005. Vgl. Ian Bremmer, The Panda Hedgers, in: International Herald Tribune vom 5. 10. 2005, S. 6. Zbigniew Brzezinski, A Geostrategy for Eurasia, in: Foreign Affairs, 76 (September/October 1997) 5. R. Zoellick (Anm. 29).
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Auf die Dekolonisierung Britisch-Indiens folgten 1947 die Teilung des Landes, die von ethnischer Gewalt begleitet wurde, und die Gründung zweier Staaten, dem mehrheitlich hinduistischen Indien und dem mehrheitlich muslimischen Pakistan. In diesem Beitrag beleuchte ich die historischen, politischen und gesellschaftlichen Kräfte im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Kolonialherrschaft und gehe der Frage nach, warum die Religion im Kampf um die Befreiung ein so großes Spaltungspotenzial entwickelte. Das Zusammentreffen verschiedener Faktoren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schuf die Bedingungen für eine nationalistische Massenbewegung, die nicht ignoriert werden konnte. Der Indische Nationalkongress (Indian National Congress; INC) hatte im Laufe der Zeit den Druck auf die britische Kolonialregierung immer weiter erhöht. 1885 mit dem Ziel gegründet, den indischen Einfluss in der Politik auszubauen, hatte die Kongresspartei in der Zwischenkriegszeit ein Programm des gewaltlosen Protests, des Boykotts und des zivilen Ungehorsams entwickelt, um politische Reformen durchzusetzen. Ursprünglich wurde dieses Programm auch von der 1906 gegründeten All-indischen Muslimliga unterstützt, doch zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Briten bereit erklärten, bei einer Reihe von Konferenzen in London über politische Reformen zu sprechen, hatten sich zwischen dem INC unter der Führung von Jawaharlal Nehru (1889–1964) und der Muslimliga bereits tiefe politische Gräben aufgetan. Die Muslimliga hatte sich in den 1930er und 1940er Jahren nicht den Aktionen des INC angeschlossen, sondern weiterhin strategische Verbindungen zur Regierung gepflegt. Ihr Anführer Muhammad Ali Jinnah (1876–1948) hatte dank seiner Unterstützung der Briten im Ersten Weltkrieg großes Ansehen erworben und wurde von den Kolonialherren als einzige Stimme der Muslime akzeptiert, obwohl es durchaus auch Muslime gab, die sich von der Muslimliga nicht vertreten fühlten. In der vom INC geführten Massenbewegung schwang stets auch ein radikaler antikolonialer Nationalismus mit, der politische Gewalt als Mittel der Eskalation bei der Dekolonisierung einsetzte. Gewalttätige Aktionen wurden zwar schnell unterbunden, aber dennoch von nationalistischen Organisationen genutzt, um den Briten aufzuzeigen, welche Folgen eine Verweigerung politischer Reformen haben könnte. Daraus entwickelte sich ein Muster, bei dem konstitutionelle Reformen mit repressiver Notstandsgesetzgebung verbunden wurde. Durch die Ausweitung der Notstandsgesetze, die die bürgerlichen Freiheiten außer Kraft setzten, aber gleichzeitig eine stärkere Vertretung der indischen Bevölkerung in der Regierung ermöglichten, legte der spätkoloniale Staat den Grundstein für einen Staat mit weit reichenden Befugnissen. Dass sich derartige Maßnahmen in Indien bis heute gehalten haben, einschließlich der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gesetze gegen Aufwiegelung, ist Teil seines kolonialen Erbes und wird derzeit vom indischen Verfassungsgericht auf seine Rechtmäßigkeit überprüft. Natur des Kolonialstaats In diesem Zusammenhang ist zu beachten, wie die imperialen Ziele und die Kolonialpolitik des britischen Empire den Charakter des indischen Antikolonialismus prägten. Für das britische Weltreich war die Kolonialisierung Südasiens extrem lukrativ. Wirtschaftshistoriker haben das Ausmaß der Abhängigkeit gegenüber den Briten aufgezeigt, in das Indien aufgrund der politischen Ökonomie des Kolonialismus Mitte des 19. Jahrhunderts geriet. Diese Entwicklung wurde durch die Fortschritte in der Dampfschifffahrt Ende des 19. Jahrhunderts noch verstärkt, durch die der Export indischer Agrarprodukte – Baumwolle, Jute, Tee –, der für die Industrielle Revolution in England essenziell war, immer effizienter wurde. Umgekehrt wurde Indien zu einem wichtigen Absatzmarkt für britische Produkte. Diese finanziellen Motive wurden jedoch von einer liberalen imperialen Ideologie überlagert, die sich einer zivilisatorischen Mission verschrieben hatte, um Indien Prinzipien des Individualismus und des Fortschritts näher zu bringen, die dem Land nach Ansicht der Briten fehlten. Das verstörende Ausmaß der Gewalt, auf das die Briten zurückgriffen, um dieses vermeintlich liberale Projekt umzusetzen, zeugt vom Widerspruch, der dem britischen Imperialismus zugrunde lag. Bereits vor dem gewaltsamen Aufstand von 1857, in dessen Folge die britische Krone die Herrschaft über die Territorien der Britischen Ostindien-Kompanie übernahm, hatte es in Indien eine lange Geschichte des Widerstands gegeben. Der Aufstand erfolgte als Reaktion auf die Politik der Ostindien-Kompanie, einer Handelsgesellschaft, die zum Schutz und zur Erweiterung ihrer Interessen eine eigene Armee mit indischen Soldaten unterhielt. Im Mai 1857 lehnten sich einige indische Regimenter dieser Armee gegen die britischen Befehlshaber auf. Der sich daraus entwickelnde Aufstand war der größte in einer langen Reihe kleinerer Rebellionen gegen die Kompanie, die seit dem 17. Jahrhundert in Indien aktiv war. Die Brutalität der Aufständischen und das Ausmaß der "großen indischen Meuterei" überraschten viele Briten. Dass sich die indischen Sepoys gegen ihre britischen Kommandeure erhoben und von verschiedenen Teilen der Bevölkerung unterstützt wurden, war ein Schock für die Anhänger des Imperialismus, die davon ausgegangen waren, dass die britische Herrschaft in Indien unerschütterlich war. In der aktuellen Forschung wird das Ausmaß der direkt oder indirekt angewandten Gewalt betont, mit der im gesamten britischen Empire versucht wurde, die Kontrolle zu bewahren. Dieser Trend in der Geschichtswissenschaft löst die Interpretation ab, dass die Briten vor allem liberale Ziele gehabt hätten und das Leben der Kolonisierten durch die Gaben der Moderne in Form von Bildung, Wissenschaft und Vernunft zu verbessern suchten. Um die oft gewalttätigen Reaktionen auf den kolonialen Staat zu verstehen, sollte man sich daher mit der Gewalt beschäftigen, mit der die Briten ihre Dominanz in Südasien durchsetzten, von Institutionen wie dem Militär und der Polizei bis hin zur alltäglichen "weißen Gewalt" gegen die einheimische Bevölkerung, die für den Kolonialismus so typisch war. Wenn man dieses Geflecht von Gewalt und Macht in Südasien berücksichtigt, kann man die bei der Dekolonisierung von 1947 auftretende ethnische Gewalt besser verstehen. Aus Sicht der Briten war einer der wichtigsten Faktoren, die zum Aufstand von 1857 führten, der in der indischen Bevölkerung herrschende Eindruck, ihre religiösen Praktiken würden durch die interventionistische Politik der Ostindien-Kompanie und durch die von ihr eingeführten Technologien bedroht. Dazu kam, dass christliche Missionare unterstützt und die Inder im Vergleich zu anderen Untertanen im Empire diskriminiert wurden. Der Stellenwert, den man diesen Anliegen beimaß, zeigt sich in der von Königin Victoria 1858 erlassenen Proklamation, die für diejenigen, die den britischen Imperialismus in die Verantwortung nehmen wollten, eine der Magna Carta vergleichbare Bedeutung erlangte. Das Versprechen der Königin, sich nicht in religiöse Angelegenheiten einzumischen, für eine Gleichbehandlung der Inder als Untertanen im Empire zu sorgen und eine gleichberechtigte Beschäftigung im indischen öffentlichen Dienst zu garantieren, wurde zu einem entscheidenden Dreh- und Angelpunkt der britischen Kolonialregierung in Indien und ihrem leicht antikolonialen Kurs. Mit aus diesem Grund erhielt die Religion ab Ende des späten 19. Jahrhunderts eine größere politische Bedeutung: Sie bot einen Bereich, in dem ein koloniales Eingreifen nicht erlaubt war. Die Einmischung in religiöse Belange konnte von frühen Nationalisten zu Recht als Bruch imperialer Versprechen angeprangert werden: Politische Proteste nahmen ihren Anfang im religiösen Kontext, weil sie dort artikuliert werden konnten. Religion und Kolonialstaat Religiöse Konflikte waren in Südasien nicht neu, doch vor der Expansion des modernen Kolonialstaats waren sie meist lokal begrenzt und von kurzer Dauer: Die Gemeinschaften nutzten den öffentlichen Raum gemeinsam, daher war der Anreiz groß, Lösungen für ein Miteinander zu finden. Die Art und Weise, wie sich religiöse Identitäten unter dem Druck und den Interventionen des Kolonialstaats entwickelten, formten die Politik neu. Die Ausrichtung der Politik an religiösen Kategorien spiegelte zum Teil die Erfahrungen aus Europa wider, wo die Religion eine grundlegende Rolle in staatlichen Angelegenheiten gespielt hatte und man sie daher aus der Politik heraushalten wollte. Die Religionen in Südasien auf den privaten Bereich zu beschränken, war schwierig, weil sich die Sitten und Bräuche von Hindus und Muslimen um öffentliche Einrichtungen wie Tempel oder Moscheen drehten, um Feste und Gebete, und weil sie in kulturelle Ausdrucksformen wie Texte, Sprache und Ernährung eingebettet waren. Die Unterschiede im gemeinschaftlichen Leben von Hindus und Muslimen sollten sich abhängig von den Parametern vertiefen, mit denen die Kolonialherrschaft Aktivismus und Lobbyarbeit gegenüber dem Staat gesetzlich regelte. Von grundlegender Bedeutung war dabei die Vorstellung von der Rolle des Staates beim Umgang mit Minderheiten und ihrem Schutz. Die Kategorisierung der Religionen in Indien und das Verständnis ihrer Bedeutung wurde durch den Kolonialstaat im Rahmen von vermeintlich wissenschaftlichen Projekten wie ethnografischen Erhebungen und Volkszählungen neu gestaltet. Überwältigt von der Komplexität der indischen Religionen abstrahierten die Verantwortlichen die zahlreichen Sekten und Identitäten und machten den "Hinduismus" zu einer übergreifenden Kategorie, um eine Reihe unterschiedlicher religiöser Praktiken zu beschreiben. Im 19. Jahrhundert hätten sich nur wenige Menschen in Indien mit dieser Bezeichnung identifiziert, allerdings konnten sie genau sagen, ob sie Muslime waren oder nicht. Als monotheistische Religion war der Islam für den Kolonialstaat leichter einzuordnen, selbst wenn die Wahrnehmung gelegentlich von Ängsten vor wahhabitischen oder panislamistischen Verschwörungen verzerrt war. Bereits bei der ersten Volkszählung zeigte sich, dass ein erheblicher Anteil der Bevölkerung aus Muslimen bestand, und ab den 1880er Jahren suchte die britische Kolonialregierung in Indien nach Möglichkeiten, Schutzmechanismen für "religiöse Minderheiten" in die staatliche Struktur einzubauen. Einige Muslime hatten tatsächlich auch am Aufstand von 1857 teilgenommen und neigten nach Meinung des einflussreichen Kolonialbeamten W.W. Hunter ohnehin zum Fanatismus und fühlten sich "verpflichtet", gegen die Königin zu rebellieren. Diese Tendenzen wollte man aufmerksam beobachten, zudem bemühten sich die Akteure der Kolonialpolitik, liberale und modernisierende Kräfte im indischen Islam zu stärken, um die Loyalität gegenüber der Krone zu fördern. Und so wurden religiöse Identitäten durch den Kolonialstaat politisiert. Kritik an der Kolonialherrschaft In den 1860er Jahren schuf der Kolonialstaat ein umfassendes gesetzliches Rahmenwerk, das sein alleiniges Gewaltmonopol festigen und potenzielle gewalttätige Bedrohungen ausschalten sollte. Dazu gehörten Gesetze, die umherziehende Menschen kriminalisierten, ein Gesetz zur Kontrolle des Waffenbesitzes und der Murderous Outrages Act, der dem Staat in der sensiblen Region an der nordwestlichen Grenze weitreichende Befugnisse einräumte, um "fanatische" Gewalttaten zu ahnden und Urteile ohne eine Möglichkeit zur Revision sofort zu vollstrecken. Diese außerordentliche Macht wurde von Gesetzen gestützt, die nicht nur gewalttätige Proteste kriminalisierten, sondern bereits jede Form der Kritik am Staat. Paragraf 124A des indischen Strafgesetzbuchs verbot explizit die Äußerung von "Unzufriedenheit", womit indirekt zum Ausdruck gebracht wurde, dass die Kolonisierten ihren Kolonialherren Zuneigung schuldeten. Nach diesem Gesetz war die "Äußerung von Missbilligung" über die Regierungspolitik nur dann keine Straftat, wenn dahinter das Ziel stand, "ihre Änderung mit rechtmäßigen Mitteln zu erreichen, ohne Hass, Verachtung oder Unzufriedenheit zu wecken oder zu versuchen, sie zu wecken". Damit waren die Bedingungen festgelegt, unter denen die Regierung bereit war, Kritik entgegenzunehmen: in Form milden Tadels, der von überschwänglichen Loyalitätsbeteuerungen begleitet wurde. Um Gehör zu finden, mussten indische Nationalisten ihre Beschwerden also vorsichtig formulieren und das koloniale Projekt loben, bevor sie auf die Widersprüche des vermeintlich wohlwollenden imperialen Liberalismus hinwiesen. Damit wurde der Liberalismus zu einer wichtigen Ideologie für indische Nationalisten, die ihn als Argument für eine repräsentative Regierung und gegen rassistische Unterdrückung anführten. Für derartige Eingaben waren umfangreiche Formalitäten und unwiderlegbare Beweise erforderlich, was zu einem, wie der Historiker Christopher Bayly es formulierte, "statistischen Liberalismus" führte, der eine Bilanz des Empire erstellte. Frühe Kritikpunkte Ende des 19. Jahrhunderts betrafen die koloniale Ökonomie, vor allem die zahlreichen verheerenden Hungersnöte in den 1870er Jahren, bei denen Millionen Menschen starben. Auch die stets wachsenden Ausgaben des Kolonialstaates einschließlich der Kosten für die militärischen Abenteuer jenseits der indischen Grenzen und für die Gehälter der Kolonialbeamten, insbesondere des Vizekönigs, wurden genannt. Der indische Politiker Dadabhai Naoroji (1825–1917) brachte diese Kritik in seinem Buch mit dem passenden Titel "Poverty and unBritish Rule in India" zum Ausdruck, in dem er unter anderem argumentierte, die Einbindung von mehr Indern in den Regierungsprozess sei nicht nur kostengünstiger, sondern auch effektiver. Politik des organisierten Antikolonialismus 1885 kamen Angehörige der neuen indischen Elite in Bombay zusammen und gründeten den INC. Seine Mitglieder waren englisch erzogen worden, viele waren Anwälte und verstanden die Funktionsweise und Grundlagen des Kolonialstaates, waren aber auch frustriert von der Kolonialpolitik, die ohne Rücksprache mit den kolonisierten Eliten erfolgte. Ursprünglich vertrat der INC eine milde, säkulare Kritik am Imperialismus, war in seinen Anfangsjahren ideologisch jedoch nach allen Seiten offen. In den 1890er Jahren bildete sich ein deutlich radikalerer Flügel heraus, vertreten durch Aktivisten wie Bal Gangadhar Tilak (1856–1920). Der Gründer von zwei Zeitungen verfügte im Westen Indiens über erheblichen Einfluss und saß aufgrund seiner Kritik an der Kolonialregierung zweimal in Haft. Die gemäßigte Haltung seiner Mitstreiter im INC ließ ihn fast verzweifeln; immer wieder schrieb er Artikel, die trotz ihrer religiösen Allegorien von den Briten als Aufrufe zu politischen Gewalttaten verstanden wurden. Die Kongressbewegung spaltete sich 1907 aufgrund der Frage, ob es legitim sei, die Briten außerhalb des konstitutionellen Rahmens zu konfrontieren, etwa durch einen Boykott. Viele gemäßigte Nationalisten wie Gopal Krishna Gokhale (1866–1915) richteten ihre Energie in dieser Phase auf die soziale Arbeit, um eine stärkere Gemeinschaft aufzubauen, in der Unterschiede bezüglich Kaste, Religion und Klasse weniger gravierend waren. Etwa zur selben Zeit begann die Kolonialverwaltung, auf muslimische Eliten zuzugehen, die bei der Regierung aktiv auf den Schutz religiöser Minderheiten drängten. Die 1906 gegründete Muslimliga war eine der wichtigsten Organisationen, die diese Idee vertraten. Die Liga konnte eine proportionale Vertretung der Muslime in den neu gebildeten Imperial Councils von 1909 durchsetzen. Diese Räte waren ein verfassungsrechtliches Zugeständnis an die gemäßigten indischen Nationalisten, einschließlich derjenigen innerhalb des Kongresses, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert für eine stärkere Einbeziehung von Indern in die Regierungsarbeit stark machten. Mit einer explizit muslimischen Vertretung in der politischen Arena wurde nun der Anspruch des INC, trotz seiner Hindu-Mehrheit unter den Mitgliedern alle Inder zu vertreten, infrage gestellt. Bei der Verbreitung nationalistischer Ideen in Indien gab es erhebliche Hindernisse. Obwohl sich der Kolonialstaat die Bildung der Bevölkerung auf die Fahnen geschrieben hatte, waren viele Inder Analphabeten (laut Volkszählung von 1921 konnten etwa 7 Prozent der indischen Bevölkerung lesen, 1931 waren es etwa 9 Prozent). Als sich in den 1900er Jahren vom INC geführte Bewegungen organisierten, griffen sie bei der Vermittlung ihrer Ideen aus praktischen Gründen oft auf religiöse Motive zurück. Die religiöse Sprache eignete sich gut für die antikoloniale Agitation, weil häufig der Kampf gegen Ungerechtigkeit betont wurde und sie allgemein verständlich war. Lieder, Parolen, in Massen produzierte Plakate und literarische Texte stützten sich auf die Vorstellung von Indien als Gottheit – Bharat Mata –, die ihre Menschen anflehte, sie von den Ketten der kolonialen Herrschaft zu befreien. Die erste größere antikoloniale Agitationskampagne, die Swadeshi-Bewegung (1905–1908), forderte die indische Bevölkerung auf, britische Produkte zu boykottieren und indische Produkte mehr wertzuschätzen. Hindus fühlten sich angesprochen, doch für Muslime stand die Vorstellung von Indien als Göttin im Widerspruch zum Monotheismus des Islam. Selbst Mahatma Gandhi gab sich als Hindu-Asket. Obwohl er von der Gleichheit aller Religionen sprach, ist es fraglich, ob seine Botschaft von der ländlichen Bevölkerung als säkular verstanden wurde. Es war also eine Kombination aus Regierungspolitik und der Dialektik des Nationalismus, die Hindus und Muslime in der indischen Bevölkerung auf unterschiedliche politische Wege führte und sie zunehmend in Opposition zueinander brachte. Immer häufiger kam es auf kommunaler Ebene zu Gewalt zwischen Hindus und Muslimen, und als sich in den 1920er Jahren die sozialen Trennlinien weiter vertieften, erhielt diese Gewalt eine zunehmend politische Bedeutung. Internationalismus des Nationalismus Im frühen 20. Jahrhundert spielten auch globale Einflüsse eine Rolle dafür, dass sich ein nationalistisches Denken in Indien herausbildete. Vielen indischen Nationalisten dienten antikoloniale Bewegungen in Irland als Vorbild, von Annie Besant (1847–1933) und Bal Gangadhar Tilak, die sich von der Sprache der Home Rule (Selbstverwaltung) in den 1910er Jahren inspirieren ließen, bis hin zu Revolutionären, die Gewalt als Taktik in Form von Attentaten und Hungerstreiks im Gefängnis übernahmen. Die in Großbritannien oder in anderen Kolonien wie Kanada und Südafrika lebenden Inder, aber auch die indische Bevölkerung in Europa und den USA spielten ebenfalls eine wichtige Rolle und unterstützten antikoloniale Überlegungen und Aktivitäten aus der Ferne. Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich viele indische Studenten in London, Berlin und Paris radikalisiert und Literatur verbreitet, die in Indien verboten war. Bei Foren wie den regelmäßig in London stattfindenden Imperial Conferences wurde den britischen Vertretern immer wieder die rassistische Diskriminierung in den selbstverwalteten "White Dominions" vorgeworfen und die britische Idee eines imperialen Bürgerrechts, das Gleichheit für alle bedeuten sollte, infrage gestellt. Inder durften in den Dominions nicht wählen, waren von bestimmten Branchen ausgeschlossen, und durften ihre Familienmitglieder nicht nachholen, nicht einmal die Ehefrauen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, bei dem Ressourcen und Truppen aus Indien zum Einsatz kamen, konnte auf den Druck Londons hin kleinere Zugeständnisse in einigen, wenn auch nicht allen Dominions ausgehandelt werden, was zeigte, dass der britische Anspruch auf Gleichstellung auf tönernen Füßen stand. In den Jahren vor und auch während des Ersten Weltkrieges hatte es in Deutschland massive antibritische Propagandakampagnen gegeben; das Deutsche Reich fungierte als wichtiger Verbündeter der antikolonialen Aktivisten und bot finanzielle und logistische Unterstützung. Eine wichtige Rolle spielten in der Folge auch große politische Ideologien wie Kommunismus und Sozialismus, die den antikolonialen Aktivisten als Inspiration dienten. Die Kommunistische Internationale unterstützte Netzwerke und einzelne Aktivisten durch Organisationen wie die Liga gegen Imperialismus, die jedoch meist kurzlebig waren. Die indische Kolonialregierung versuchte, den Zugang zu kommunistischem Gedankengut zu beschränken, indem sie den Import von Literatur und die Einreise bekannter Kommunisten verbot. Zu diesen Maßnahmen gehörte zu Beginn der 1930er Jahre ein Verfahren gegen indische und ausländische Kommunisten wegen einer angeblichen Verschwörung. Das Verfahren scheiterte, und der Einfluss kommunistischen Denkens blieb in Indien weiterhin präsent. Andere Gruppen wurden von der panasiatischen Ideologie beeinflusst und träumten mit Blick auf Japan von einem "Neuen Asien" und der Solidarität unter People of Colour. Der Faschismus in Italien und der Nationalsozialismus in Deutschland lieferten ebenfalls Vorbilder für einzelne Nationalisten, allerdings verhinderten die nativistischen Impulse beider Ideologien die Versuche, Allianzen zu schmieden. Weg zur Unabhängigkeit Der Zweite Weltkrieg wälzte die politische Landschaft um. Die indischen Regierungen in den Provinzen, die nach den Reformen von 1935 gewählt worden waren und größtenteils aus Mitgliedern des Nationalkongresses bestanden, waren vor dem Kriegseintritt nicht nach ihrer Haltung gefragt worden. Aus Protest traten die Regierungen des INC zurück, während viele andere Parteien, darunter die Muslimliga und nach 1941 auch die Kommunistische Partei Indiens, die Kriegsanstrengungen unterstützten. Als der INC die Konfrontation mit den Briten suchte, vor allem durch Aktionen zivilen Ungehorsams und später durch die "Quit India"-Bewegung (1942) unter der Führung von Gandhi, kam es zur massenhaften Festnahme von Aktivisten. Im Gegensatz dazu pflegten die Mitglieder der Muslimliga ein weit weniger oppositionelles Verhältnis zum Kolonialstaat. Nach dem Fall Singapurs und Burmas wurde Indien zum zentralen Kriegsschauplatz, und auch wenn nur die Industriegebiete von Kalkutta bombardiert wurden, war die Anspannung in ganz Indien groß. Die britischen Maßnahmen zur Abwehr eines möglichen japanischen Einfalls im Nordosten Indiens, zu denen auch Zerstörungen nach dem Prinzip der verbrannten Erde und die Beschlagnahmung von Booten gehörten, verschärften die bereits bestehende Lebensmittelknappheit und trieben die Preise in die Höhe, wodurch es in Bengalen zu einer Hungersnot kam, bei der Millionen Menschen ums Leben kamen. Fotos von Sterbenden wurden in indischen und internationalen Zeitungen veröffentlicht und säten weitere Zweifel an der Legitimation des britischen Imperialismus. Der letzte Anstoß zur Dekolonisierung kam jedoch von Kräften außerhalb der antikolonialen Bewegung. Zu den wichtigsten Faktoren zählten die Zerstörungen in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg und der Aufstieg der USA zur neuen Weltmacht, die den Kolonialismus nicht unterstützte. Noch immer wird darüber debattiert, ob die Teilung Indiens und die Gründung Pakistans unvermeidbar waren oder Folge einer Reihe von Faktoren. 1940 verabschiedete die Muslimliga eine Resolution, in der sie sich für eine verfassungsgemäße Regelung nach dem Krieg einsetzte, bei der die mehrheitlich muslimischen Regionen unabhängige Bundesstaaten Pakistans werden sollten. Die Hungersnot hatte großen Einfluss auf das soziale Gefüge Bengalens, vor allem in Kalkutta, wohin die Armen vom Land auf der Suche nach Hilfe strömten und dann dort auf der Straße starben. Damit war der Boden bereitet für die dortigen katastrophalen Gewaltausbrüche im August 1946, die als Katalysator für verschiedene Prozesse auf dem Weg zur Teilung fungierten. Dazu gehörten auch die britische Überzeugung, an einem baldigen Abzug festzuhalten, der das Ausmaß der Gewalt sicher noch erhöhte, da keine Truppen bereitstanden, um einzugreifen, und eine gewisse Sympathie für die Argumente Muhammad Ali Jinnahs, dass die Muslime nur in einem unabhängigen Staat Pakistan sicher seien. Das Chaos beim Abzug, das dadurch entstandene Machtvakuum und die willkürlich festgelegten Grenzen sowie die tragische Gewalt, die die Machtübergabe an Indien und Pakistan im Jahr 1947 begleitete, legten den Grundstein für den anhaltenden Konflikt zwischen den beiden neuen Nationalstaaten. Eine Karte zu Britisch-Indien 1858-1947 ist unter Interner Link: Karten zu finden. Aus dem Englischen von Heike Schlatterer. Vgl. Ali Usman Qasmi/Megan Robb (Hrsg.), Muslims Against the Muslim League. Critiques of the Idea of Pakistan, Cambridge 2017. Vgl. Kama Maclean, A Revolutionary History of Interwar India: Violence, Image, Voice and Text, New York 2015. Vgl. Durba Ghosh, Gentlemanly Terrorist. Political Violence and the Colonial State in India, 1919–1947, Cambridge 2017, S. 18. Vgl. David Washbrook, Political Economy of Colonialism in India, in: Harald Fischer-Tiné/Maria Framke (Hrsg.), Routledge Handbook of the History of Colonialism in South Asia, London 2022, S. 23–35, hier S. 29. Vgl. Antoinette Burton, The Trouble With Empire: Challenges to Modern British Imperialism, New York 2015. Vgl. Caroline Elkins, Legacy of Violence: A History of the British Empire, London 2022. Vgl. Jonathan Saha, Everyday Violence in British India, in: History Compass 11/2011, S. 844–853. Vgl. Brian A Hatcher, Reordering Religion in Colonial South Asia, in: Fischer-Tiné/Framke (Anm. 4), S. 62–76. Vgl. Mark Condos, The Insecurity State. Punjab and the Making of Colonial Power in British India, Oxford 2017, S. 146. Vgl. ebd., S. 142. Vgl. Tanya Agathocleous, Criticism on Trial: Colonizing Affect in the Late-Victorian Empire, in: Victorian Studies 3/2018, S. 434–460. Christopher A. Bayly, Recovering Liberties. Indian Thought in the Age of Liberalism and Empire, Oxford 2012, S. 344. Ebd., S. 194ff. Vgl. Sukeshi Kamra, Law and Radical Rhetoric in British India, in: South Asia 3/2016, S. 546–559. Vgl. Census of India 1931, Bd. 1, Neu-Delhi 1933, S. 324. Vgl. Harald Fischer-Tiné, Indian Nationalism and "World Forces", in: Journal of Global History 3/2007, S. 325–344. Vgl. Kama Maclean, British India, White Australia. Overseas Indians, Intercolonial Relations and the Empire, Sydney 2020, S. 235. Vgl. Daniel Brückenhaus, Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anticolonialists in Europe, 1905–1945, New York 2017, Kap. 3. Vgl. Ali Raza, Revolutionary Pasts. Communist Internationalism in Colonial India, Cambridge 2020. Vgl. Joseph McQuade, The New Asia of Rash Behari Bose: India, Japan, and the Limits of the International, in: Journal of World History 4/2017, S. 641–667. Vgl. Maria Framke, Shopping Ideologies for Independent India?, in: Itinerario 1/2016, S. 55–81. Vgl. Janam Mukherjee, Hungry Bengal. War, Famine and the End of Empire, New York 2015. Vgl. Ian Talbot, The Rise of Communalism and the Partition, in: Fischer-Tiné/Framke (Anm. 4), S. 92–104.
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© 2021 SID Rasta Vechta bewirbt sich um BBL-Wildcard Dienstag, 11.05.2021, 13:55 Rasta Vechta bewirbt sich um BBL-Wildcard Rasta Vechta bewirbt sich um die von der Basketball Bundesliga (BBL) für die kommende Saison ausgeschriebene Wildcard. Das gab der Absteiger am Dienstag bekannt. Der Platz war freigeworden, weil aus der 2. Liga (ProA) wohl nur die MLP Academics Heidelberg aufsteigen werden. Die Bayer Giants Leverkusen haben trotz ihrer sportlichen Qualifikation keine Lizenz beantragt. "Dass nun noch ein Platz frei ist, ist ein großes Glück für alle, die auf eine Wildcard hoffen. Wir jedenfalls würden sehr gerne beweisen, dass wir BBL-tauglich sind", sagte Vechtas Klubchef Stefan Niemeyer: "Die letzte Saison war eine furchtbare für den gesamten Klub. Wir sind sicher, dass wir es besser können, und möchten das in 2021/22 zeigen." Die Gebühr für die Wildcard beträgt 700.000 Euro, kann jedoch auf zwei Raten in zwei Jahren gestreckt werden. Dabei ist die zweite Tranche über 350.000 Euro nur im Falle des Klassenerhalts zu zahlen. Sollte Heidelberg die Lizenz nicht erteilt werden, beginnt nach dem 30. Juni ein zweites Wildcard-Verfahren. Dieser Artikel wurde verfasst von SID Redaktion SID
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Lisette. Mit den wunderlichen Leuten, die nur überall den ebenen Weg gehen wollen! Hören Sie, was mir eingefallen ist. Das Dokument, oder wie der Quark heißt, ist das einzige, was Chrysandern zu dieser Heirat Lust macht, so daß er es schon an seinen Advokaten geschickt hat. Wie wenn man von diesem Advokaten einen Brief unterschieben könnte, in welchem--in welchem--
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'Julian', begann ich freundlich, 'ich beklage mich bei dir, dass du mir Mouton vorgezogen hast, ihn zu deinem Vertrauten machend, während du dich gegen mein Wohlwollen, das du kennst, in ein unbegreifliches Schweigen verschlossest. Fürchtest du dich, mir dein Unglück zu sagen, weil ich imstande bin, dasselbe klar zu begrenzen und richtig zu beurteilen, und du vorziehst, in hoffnungslosem Brüten dich zu verzehren? Das ist nicht mutig.'
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=Pastor Manders.= Das s i n d Sie; das m ü s s e n Sie sein. Und wie ist er zu Ihnen zurückgekehrt! Bedenken Sie das wohl, Frau Alving. Sie haben gegen Ihren Gatten ein Verbrechen begangen; -- das sehen Sie ein und errichten ihm deshalb jenes Denkmal da unten. Erkennen Sie jetzt aber auch, was Sie gegen Ihren Sohn verbrochen haben; vielleicht ist es noch Zeit, ihn von dem Wege der Verirrung zurück zu führen. Kehren Sie selbst um; und richten Sie in ihm auf, was vielleicht noch aufzurichten ist. Denn (mit erhobenem Zeigefinger) wahrlich, Frau Alving, Sie sind eine schuldbeladene Mutter! -- Dies Ihnen zu sagen, habe ich für meine Pflicht gehalten. (Langes Schweigen.)
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Ich habe die Lebensweise der Larven in den Bienenstöcken nicht verfolgen können und fand überhaupt nur einmal in einer faulbrütigen, fast bienenleeren Klotzbeute beim Herausschneiden der Wachswaben zwei sechs Linien lange Meloëlarven in zweiter Form, die aus den Zellen herausfielen. Ich bin nicht einmal im Stande mit Gewissheit anzugeben, ob es die Larven von Meloë proscarabaeus waren, weil die Larven, trotz aller angewandten Mühe sie zu erziehen, nach einigen Tagen schon starben, glaube es aber desshalb annehmen zu müssen, weil ich Ende Mai an den Bienen meiner Stöcke die Primitivlarve von Meloë proscarabaeus beobachtete und überhaupt in jener Gegend (es war im Gouvernement Moskau bei Podolsk) noch nie einen anderen Meloëkäfer antraf.
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Das Spielziel in einem Taktik-Shooter kann in der Regel nicht nur durch das Töten der Gegner erreicht werden, sondern auch durch Ablenkungstaktiken, Infiltration des Gegners oder Zusammenspiel im Team. Daher führen hier in der Regel verschiedene Wege zum Ziel des Spiels. Interner Link: Zurück zur Wissen interaktiv-Seite
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Ich bin schon an die dreißig Jahre im Dienst. Ich erfülle meine Pflicht mit Peinlichkeit, pflege stets nüchtern zu sein, und habe mir noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Als Bürger und Mensch halte ich mich nach eigener Erkenntnis für einen Mann, der sowohl seine Fehler, wie auch seine Tugenden besitzt. Die Vorgesetzten achten mich und selbst Seine Exzellenz sind mit mir zufrieden -- wenn sie mir bisher auch noch keinen Beweis ihrer Zufriedenheit gegeben haben, so weiß ich doch auch so, daß sie mit mir zufrieden sind. Meine Handschrift ist gefällig, nicht allzu groß, aber auch nicht allzu klein, läßt sich am besten mit Kursivschrift bezeichnen, jedenfalls aber befriedigt sie! Bei uns kann allerhöchstens Iwan Prokofjewitsch so gut schreiben wie ich, das heißt, auch der nur annähernd so gut. Mein Haar ist im Dienst allgemach grau geworden. Eine große Sünde wüßte ich nicht begangen zu haben. Natürlich, wer sündigt denn nicht im kleinen? Ein jeder sündigt, und sogar Sie sündigen, mein Kind! Doch ein großes Vergehen oder auch nur eine bewußte Unbotmäßigkeit habe ich nicht auf dem Gewissen -- etwa daß ich die öffentliche Ruhe gestört hätte oder so etwas -- nein, so etwas habe ich mir nicht vorzuwerfen, nie hat man mich bei so etwas betroffen. Sogar ein Kreuzchen habe ich erhalten -- doch was soll man davon reden! Das müßten Sie ja alles wissen, und auch er hätte es wissen müssen, denn wenn er sich schon einmal an das Beschreiben machte, dann hätte er sich eben vorher nach allem erkundigen sollen! Nein, das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, mein Kind! Nein, gerade von Ihnen nicht, Warinka!(8)
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Kontroverse um Olympiaboykott: Kakofonie in Paris Die französischen Spitzenpolitiker sind in der Boykottfrage der Spiele gespalten bis widersprüchlich. Auf den Straßen von Paris wird unverblümt ein Olympiaboykott gefordert. Die Politik verhält sich ambivalenter. Bild: dpa PARIS taz "Alle Optionen sind offen", sagt der Staatspräsident. Und signalisiert, dass er notfalls bereit ist, die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiel in Peking zu boykottieren. "Selbstverständlich", so versichert der Elysée-Palast, werde er das in Absprache mit den anderen EU-Staaten tun. Frankreich hat im August den Ratsvorsitz. "Seien wir nicht tibetischer als die Tibeter", mahnt dagegen Bernard Kouchner. Der Sozialdemokrat, der während des längsten Teils seiner Karriere weltweit das "Recht auf humanitäre Einmischung" verteidigt hat, predigt als Außenminister eine Realpolitik, die China "nicht kränken" soll. "Nicolas Sarkozy nimmt an der Eröffnungszeremonie teil, wenn Peking drei Bedingungen erfüllt", erklärt die Staatssekretärin für Menschenrechte am Samstag: "das Ende der Gewalt im Tibet, die Befreiung der politischen Gefangenen und ein Dialog mit dem Dalai Lama." Am Sonntag rudert Staatssekretärin Rama Yade zurück. Sie bestreitet, dass sie das Wort "Bedingungen" benutzt habe. Die Kakofonie zum Thema Olympiaboykott spaltet die politische Spitze in Paris. Zu der Verwirrung trägt bei, dass Sarkozy zwar im Wahlkampf die weltweite Verteidigung der Menschenrechte versprochen hat. Doch seither hat er das Thema - zumindest gegenüber China - hintan gestellt. Als Sarkozy 2007 nach Peking reiste, wurde er zwar von den Spitzen der französischen Atomindustrie, des Eisenbahnbaus und anderer Großunternehmen begleitet. Doch die Menschenrechtsstaatssekretärin Yade musste zu Hause bleiben. Uneinigkeit zu dem heiklen Thema Olympia spaltet auch die Opposition. Expräsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, die bei einer Chinareise im Wahlkampf die "Effizienz" der chinesischen Justiz gelobt hatte, verlangt jetzt: "Man muss damit drohen, nicht nur die Eröffnung, sondern die kompletten Spiele zu boykottieren." Andere PS-SprecherInnen hingegen halten den "politischen Boykott" für das Maximum des Möglichen. In der Bevölkerung insgesamt wächst die Anti-Olympia-Stimmung ständig. Am Wochenende erklärten 62 Prozent der FranzösInnen in einer Umfrage von CSA, sie möchten, dass ihr Staatspräsident die Eröffnungszeremonie in Peking boykottiert. DORA
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Vertreibung in Birma: Rohingya rufen Waffenruhe aus Aufständische unter den Rohingya in Birma bieten der Regierung eine Feuerpause an. Einen Monat lang soll nicht mehr geschossen werden. Verteilung von Hilfsgüten unter Rohingya in Bangladesch Foto: Reuters COX'S BAZAR AP | Aufständische der muslimischen Minderheit Rohingya in Birma haben eine Feuerpause im Konflikt mit der Regierung des Landes angekündigt. Die Waffenruhe solle einen Monat gelten, und die Regierung Birmas solle sich erkenntlich zeigen und Opfern ungeachtet ihres religiösen oder ethnischen Hintergrunds helfen, teilte die Gruppe am Sonntag via Twitter mit. Aus Kreisen der Regierung gab es zunächst keine Reaktion. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hatte am Samstag mitgeteilt, in den vergangenen zwei Wochen seien etwa 290.000 Rohingya ins Nachbarland Bangladesch geflohen. Die Grenze zum Bezirk Cox's Bazar überquerten täglich Tausende. Die Flucht aus Birma hatte begonnen, nachdem Rohingya-Aufständische Polizeiposten angegriffen hatten. Das Militär reagierte daraufhin mit „Räumungsoperationen“, um Kämpfer zu vertreiben, die sich in Dörfern des myanmarischen Staats Rakhine versteckten. Dort lebten einst eine Million Rohingya. Wie viele noch geblieben sind, ist nicht bekannt. Indien äußerte sich zutiefst besorgt über die Lage in Rakhine. Das Außenministerium in Neu Delhi forderte die Regierung in Birma zur Zurückhaltung auf. Die Gewalt müsse ein Ende haben, der Fokus müsse auf dem Wohlergehen der Zivilbevölkerung ebenso wie auf dem der Sicherheitskräfte liegen, hieß es in einer Erklärung vom Sonntag. Das Vorgehen des Militärs gegen die Rohingya hatte Empörung quer durch die muslimische Welt ausgelöst. Myanmar habe „Massaker“ an Muslimen verübt, sagte der Großimam der Al-Azhar-Universität, Scheich Ahmed al-Tajjib, am Samstag. Die Regierung in Birma dagegen hat die meisten der 400 in dem Konflikt getöteten Aufständischen als „Terroristen“ bezeichnet.
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Aufbau im Südsudan: "Wer spät kommt, isst die Knochen" Staatlichen Strukturen existieren im Südsudan nicht mehr. Der friedliche Umgang miteinanderer muss nach dem langen Krieg erst wieder erlernt werden. Abyel: in der Grenzstadt zwischen Sudan und Südsudan steht kaum noch ein Stein auf dem anderen. Bild: imago/Cityfiles MUNDRI taz | Mundri ist verschwunden: Die Autowracks am Rande der lehmigen Hauptstraße, die durch diese Stadt im Südsudan führt. Die angejahrten Betonhäuser rund um den Platz, die mit einer bräunlichen Schicht aus Staub und Feuchtigkeit bedeckt sind. Die Lehmhütten mit Strohdächern, die nicht immer ganz wasserdicht sind. Die Männer mit ihren einfachen Verkaufsständen aus Holz, in denen sie Rühreier und Fladenbrot backen. Die Frauen, die über Holzkohlefeuern Tee und stark gewürzten Kaffee brauen - nichts davon ist mehr zu sehen. Stattdessen nur eine graue Wand aus Wasser. Das Fest mit dem Tanz, an dem eben noch Hunderte teilgenommen haben, hat sich innerhalb weniger Minuten aufgelöst. Für Minuten sind nur noch Donnergrollen und Rauschen zu hören. Dann kommen doch wieder Trommelschläge dazu, leise erst, dann immer näher. Der Klang von traditionellen Hörnern und Gesang: Die Musiker kommen zurück. Tanzend, trommelnd, singend, trotz des Regens. Sie tragen ein buntes Sammelsurium von Kleidungsstücken: Lendenschurz und Bastrock, Bermudashorts und Turnhose und mancher einen Regenschirm. Einige haben ihre schwarzen Gesichter farbig angemalt; die Truppe wirkt beinahe, als wäre hier Karneval. Tatsächlich aber hat der Gewitterregen eine kulturelle Gala gesprengt. Die Organisation "Aktion Afrika Hilfe International" hat in Mundri Jugendgruppen von vier verschiedenen Ethnien zusammengebracht, "damit sie sich gegenseitig mit ihren unterschiedlichen Kulturen vertraut machen", wie Joan Teria erklärt. Sie ist für die Kulturprogramme zuständig, die vom Evangelischen Entwicklungsdienst finanziell unterstützt werden. Der 27-jährige Salah Bollen Kenyi gehört zu einer der Gruppen, die für das Fest nach Mundri kamen. "Durch den langen Krieg haben wir uns so an Konflikte gewöhnt, dass wir normale Verhaltensweisen fast verlernt haben", sagt er. Die Kultur könne helfen, den friedlichen Umgang wieder zu lernen. Seit 1955 haben die Südsudanesen in zwei Kriegen jahrzehntelang für ihre Unabhängigkeit vom Nordsudan gekämpft. Sozialistisches Wahlergebnis Allein der zweite Krieg, der im Januar 2005 zu Ende ging, dauerte länger als 20 Jahre. Teil des Friedensvertrags war die Einigung auf ein Referendum, in dem die Südsudanesen darüber abstimmen konnten, ob sie als teilautonome Region beim Norden bleiben oder unabhängig werden wollen. Das Referendum fand am 9. Januar statt, rund 99 Prozent der Südsudanesen stimmten für die Teilung. Wenn die Trennung am kommenden Samstag offiziell vollzogen und anerkannt wird, erfüllt sich auch für Salah Bollen Kenyi ein jahrzehntealter Traum. Einerseits. Andererseits ist er gar nicht mehr so sicher, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln und sein Traum wirklich wahr werden wird: denn das wäre ein freier Südsudan, in dem Menschen aus allen Ethnien die gleichen Chancen haben. Aber etwas anderes zeichnet sich ab. "In der Regierung sind vor allem Dinka vertreten. Und wenn wir uns um einen Job bewerben ist die erste Frage: ,Von welcher Ethnie bist du?'" Auch Martin Kokolo hat gegenüber dem entstehenden Staat inzwischen gemischte Gefühle. Der 26-Jährige war während des Krieges mit seinen Eltern nach Uganda geflohen und ist dort bis in die 4. Klasse der weiterführenden Schule gegangen. Jetzt gehört er ebenfalls zu einer Jugendgruppe, und er unterrichtet Mathe und Naturwissenschaften in einer Primarschule seiner Heimatstadt Yei. Von dem Verfassungsentwurf ist er enttäuscht. "So entsteht keine Demokratie, sondern eine Diktatur." Nach dem Entwurf, der allerdings noch debattiert werden wird, hat der Präsident sehr weitreichende Vollmachten. UnabhängigkeitAm 9. Juli ruft Südsudan seine Unabhängigkeit aus. Jahrzehntelang hatte dort die Guerilla SPLA (Sudanesische Volksbefreiungsarmee) gegen die sudanesische Regierung in Khartum gekämpft. Am 9. Januar 2005 schlossen beide Seiten unter US-Vermittlung Frieden, Südsudan wurde unter SPLA-Führung für sechs Jahre autonom und für den 9. Januar 2011 wurde ein Unabhängigkeitsreferendum angesetzt. Die Südsudanesen stimmten mit überwältigender Mehrheit für einen eigenen Staat.Mehr Infos:www.goss.org (Regierung)www.gurtong.org (Diskussionsplattform)www.southsudannewsagency.com (Nachrichtenagentur)www.jubapost.org (Zeitung)www.southsudannation.com (Opposition)www.sudantribune.com (Sudan-Nachrichten) Nicht weit von dem Festplatz in Mundri entfernt lebt Beridector Chartis. Der 32-Jährige dichtet gerade Löcher in der Wand seiner Unterkunft ab: Beim Regen ist das Wasser durch die Wände gelaufen. Seine Hütte hat Chartis aus Sperrholzplanken, Pappe und Plastik zusammengezimmert, als er 2008 aus Khartoum nach Mundri zurückkam. Menschen zweiter Klasse "Es geht uns nicht gut", sagt er, nachdem er zwei einfache Hocker geholt und sich hingesetzt hat. "Ich bin mit dem Land nicht zufrieden, das die Behörden uns zugewiesen haben." 16 Jahre lang hat er mit seiner Mutter, seinem Bruder und zehn weiteren Verwandten in Khartoum gewohnt. Einige aus der Familie hatten Arbeit, Chartis zum Beispiel war Gärtner in einer Baumschule des Landwirtschaftsministeriums. Gemeinsam verdienten sie genug zum Leben für alle. Aber wegen ihrer Hautfarbe fühlten sie sich als Menschen zweiter Klasse behandelt und wollten nach Hause. Als die Familie 2008 nach Mundri zurückkam, stellte sie allerdings fest, dass fast ihr ganzes Land von anderen Menschen besetzt ist. Die Familie musste sich aus Platzmangel trennen: fünf von ihnen blieben in Mundri, acht zogen nach Juba, Heimatlose in ihrer eigenen Heimat. Chartis ging zur Kreisverwaltung, um nachzufragen, wann seine Familie ihren Boden zurückbekommt. "Da haben sie mir gesagt, ich kriege das Land nur gegen Geld." Vergeblich versuchte er, das zu begreifen. "Sie haben mich von A nach B geschickt, ich habe kein Wort verstanden." Allerdings muss Chartis einräumen, dass er den Besitzanspruch der Familie nicht richtig belegen kann: Die entsprechenden Dokumente gingen während des Krieges verloren. "Aber in der Kreisverwaltung müsste es doch eine Kopie davon geben." Der zuständige Kreisvorsitzende von Mundri-West, Samson Arap Ephraim, ist zu einem Treffen am späten Samstagnachmittag bereit. In den kleinen Bars laufen schon Bier und Musik, auch Arap Ephraim ist einem Drink gegenüber nicht abgeneigt. Also schmeißt er eine Runde, für sich, seine Entourage und für alle, die sonst noch so da sind. Arap Ephraim hat während des Krieges in den Reihen der SPLA gekämpft und das zivile Amt vorübergehend übernommen, "weil es jetzt vor allem unsere Aufgabe ist, die Gesellschaft zu organisieren". Dass die Bevölkerung klagt, von dieser Organisation sei wenig zu spüren, ist ihm offenbar bekannt. "Die Regierung ist bis zum 9. Juli ja nur kommissarisch im Amt", sagt er. "Deshalb haben wir kein Geld." Was sie hätten, reiche nur für den Aufbau von Regierungsstrukturen. Tatsächlich ist es eine riesige Aufgabe, aus dem Nichts heraus staatliche Strukturen zu schaffen. Aber völlig mittellos ist die Regierung von Präsident Salva Kiir nicht. Laut dem Friedensvertrag von 2005 bekommt sie von Khartoum bis zum Tag der Unabhängigkeit die Hälfte aller Öleinnahmen. Für die Zeit ab dem 9. Juli muss der Anteil neu verhandelt werden. Wie viel genau sie derzeit erhält, behält die südsudanesische Regierung für sich. Offiziere stellen sich gegen Regierung Nach einer Hochrechnung der Neuen Zürcher Zeitung waren es im vergangenen Jahr fast zwei Milliarden Dollar. Wofür sie das Geld verwendet, macht sie ebenfalls nicht öffentlich. Nur so viel ist bekannt: Die Hälfte der Einnahmen fließt in den Sicherheitsapparat, überwiegend in die Gehälter von Militär und Polizei. Obwohl die Regierung durch diese hohen Ausgaben vermutlich die Loyalität der Bewaffneten erkaufen will, haben sich inzwischen etliche Offiziere der SPLA offen gegen die Regierung gestellt. Viele begründen ihre Rebellion mit der Korruption der jetzigen Elite. Der Kreisvorsitzende Arap Ephraim, der sich am Samstagnachmittag mit Fragen herumärgern muss, statt in Ruhe sein Bier zu trinken, wiegelt ab: keine Probleme in Mundri. Erst nach und nach gibt er zu, dass viele Menschen wütend sind über die Verteilung des Bodens durch die Regierung des Kreises. So wie Beridector Chartis. "Möglich, dass ihm der Boden vor dem Krieg gehört hat", sagt Arap Ephraim. "Aber er träumt noch von den alten Zeiten. Jetzt gibt es neue Regelungen und eine neue Regierung." Der verstorbene erste Präsident des Südens John Garang habe die Menschen schon früh davor gewarnt, dass nach dem Krieg nichts mehr sein werde wie vorher. "Wir dürfen diejenigen, die nicht mitgekämpft haben sondern ins Ausland geflohen sind, natürlich nicht komplett übergehen", sagt er. "Aber es ist ganz normal: Wer spät kommt, isst die Knochen. Sie sollten also die Knochen akzeptieren."
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In Ansehung der Schwäche der menschlichen Natur und der geringen Macht, welche das allgemeine moralische Gefühl über die mehrsten Herzen ausüben würde, hat die Vorsehung dergleichen hülfeleistende Triebe als Supplemente der Tugend in uns gelegt, die, indem sie einige auch ohne Grundsätze zu schönen Handlungen bewegen, zugleich andern, die durch diese letzteren regiert werden, einen größeren Stoß und einen stärkern Antrieb dazu geben können. Mitleiden und Gefälligkeit sind Gründe von schönen Handlungen, die vielleicht durch das Übergewicht eines gröberen Eigennutzes insgesamt würden erstickt werden, allein nicht unmittelbare Gründe der Tugend, wie wir gesehen haben, obgleich, da sie durch die Verwandtschaft mit ihr geadelt werden, sie auch ihren Namen erwerben. Ich kann sie daher _adoptierte Tugenden_ nennen, diejenige aber, die auf Grundsätzen beruht, die _echte Tugend_. Jene sind schön und reizend, diese allein ist erhaben und ehrwürdig. Man nennt ein Gemüt, in welchem die ersteren Empfindungen regieren, ein _gutes Herz_ und den Menschen von solcher Art _gutherzig_; dagegen man mit Recht dem Tugendhaften aus Grundsätzen ein _edles Herz_ beilegt, ihn selber aber einen _rechtschaffenen_ nennt. Diese adoptierten Tugenden haben gleichwohl mit den wahren Tugenden große Ähnlichkeit, indem sie das Gefühl einer unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen enthalten. Der Gutherzige wird ohne weitere Absicht aus unmittelbarer Gefälligkeit friedsam und höflich mit euch umgehen und aufrichtiges Beileid bei der Not eines andern empfinden.
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Als nun die Krabbe wieder ausgehen konnte, wurde Kriegsrat gehalten. Die Krabbe, die gutmütig war und mit dem Aufhören der Schmerzen auch keine Rachegedanken mehr hatte, wollte jedoch von einer so strengen Bestrafung, wie das Töten des Affen, das die andern vorschlugen, nichts wissen. Schließlich einigte man sich dahin, daß, wenn der Affe um Verzeihung bitte und verspreche nichts Böses mehr gegen die Krabbe zu unternehmen, ihm verziehen werden solle; wenn nicht, müsse es ihm ans Leben gehen.
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press-inform Volkswagen Händler im Silicon Valley Herbst 2015 Dienstag, 20.10.2015, 12:33 Der Abgas-Skandal hat in Deutschland bei gebrauchten TDI-Modellen des Golf oder Passat bislang kaum Spuren hinterlassen, zeigt eine Auswertung tausender Inserate. In den USA dagegen gilt bei VW-Dieseln derzeit ein Verkaufsstop. Der VW-Abgasskandal hat einen Monat nach dessen Bekanntwerden für die Massen-Modelle Golf und Passat offenbar noch keine spürbaren Auswirkungen auf den Gebrauchtwagenmarkt. Das ergibt sich aus einer Daten-Analyse, die die Gebrauchtwagen-Suchmaschine AutoUncle für FOCUS Online durchgeführt hat. Die Suchmaschine bewertet mehr als 1,5 Millionen Gebrauchtwagenanzeigen von 1000 verschiedenen Online-Portalen, darunter Mobile.de, Auto.de und AutoScout24.de. VW Golf und Passat 2.0 TDI betroffen Untersucht wurden exemplarisch der VW Golf VI 2.0 TDI und der Passat 2.0 TDI (siebte Generation bis 2014) - die Modelle sind von der Schummel-Software betroffen und spielen eine große Rolle auf dem Gebrauchtwagenmarkt und im Flottengeschäft. "Bei beiden Modellen stellen wir keine auffälligen Ab- oder Aufwärts-Trends in den Verkaufszahlen, Preisreduzierungen oder Durchschnittspreisen fest", sagt AutoUncle-Sprecherin Stella Hudy. AutoUncle Entwicklung der Gebrauchtwagenpreise für den Golf VI 2.0 TDI vor und nach dem Abgas-Skandal (Auszug) So bewegen sich die durchschnittlichen Gebrauchtwagen-Preise für einen Golf VI 2.0 TDI seit Anfang des Jahres gleichbleibend im Schnitt etwas oberhalb von 13.000 Euro. Beim VW Passat sind die Durschschnittspreise von rund 21.000 Euro auf etwas über 19.000 Euro zurückgegangen - der Trend unter die 20.000 Euro-Marke ist allerdings schon seit August zu beobachten und damit vor dem Bekanntwerden des Abgas-Skandals. Er dürfte durch den Modellwechsel des Passat zu erklären sein - die achte Generation rollt schließlich längst auf den Straßen . AutoUncle Entwicklung der Gebrauchtwagenpreise für den VW Passat 2.0 TDI (B7 / 2010 - 2014) vor und nach dem Abgas-Skandal (Auszug) Wie sich der VW-Skandal und  langfristig auf die Verkaufszahlen, Gebrauchtwagenpreise und Restwerte der Autos auswirkt, bleibt abzuwarten. Das wird auch stark davon abhängen, wie reibungslos der VW-Rückruf abläuft - und ob die Änderung der Software an den Fahrzeugen einen Mehrverbrauch oder andere Auswirkungen mit sich bringt. Wer einen von der Schummel-Software betroffenen Wagen verkauft, muss nach Ansicht von Rechtsexperten den Käufer übrigens darauf hinweisen . Was taugen E-Autos? Unser PDF-Ratgeber erklärt Ihnen, was Sie beim Kauf eines Elektro-Autos über Reichweite sowie Ladezeit wissen müssen. Zum PDF-Ratgeber USA: Verkaufsstopp für Diesel, aber keine Einbrüche In den USA, wo der Abgas-Skandal seinen Anfang nahm, sind Dieselmodelle derzeit eher schwer loszuwerden. Auf dem Hof eines Händlers in San Francisco parken einzelne Dieselmodelle mit grellen Discount-Preisschildern. Ein weißer VW Passat 2.0 TDI SE wird mit einem Rabatt von 7015 Dollar beworben. Doch auf dem Armaturenbrett liegt wie bei allen TDI-Modellen mit vier Zylindern ein unscheinbarer Zettel, auf dem ausgedruckt „do not sell / stop sale“ steht: Für die vom Abgas-Skandal betroffenen VW-Modelle gibt es in den USA einen Verkaufsstopp. press-inform Diesel-Fahrzeug bei einem VW-Händler im Silicon Valley im Herbst 2015: Für die Autos gibt es einen Verkaufsstopp "Wir warten hier auf den neuen Tiguan" "Natürlich ist die Diesel-Geschichte bei vielen Kunden ein Thema und wir werden darauf angesprochen“, sagt ein US-Verkäufer, „aber die Verkäufe gehen zumindest bei uns aktuell nicht zurück. Vielmehr freuen wir uns auf Modelle wie den neuen Tiguan, der hier erst als 2017er Modell auf den Markt kommt. Der Tiguan wird gerade von sehr vielen Asiaten gekauft, die keinen großen SUV wollen", so der Verkäufer. press-inform Volkswagen Händler im Silicon Valley Herbst 2015 - der Tiguan läuft unverändert gut Golf und Tiguan sind in Kalifornien nicht als Dieselmodelle auf dem Markt. Bei Passat oder Jetta sah das bis Mitte September durchaus anders aus. Einige Händler verkauften die VW-Limousinen mit einem Selbstzünderanteil von bis zu 30 Prozent. Video: Warum der Dieselmotor jetzt ein Problem hat Warum Sie Ihren Diesel jetzt lieber verkaufen sollten Warum Sie Ihren Diesel jetzt lieber verkaufen sollten Mit Material von Press-Inform
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Landwirtschaftliche Tätigkeit verläuft nach dem bottom-up-Prinzip, das in diesem Fall ein reaktives Prinzip ist. Die Reaktion auf gegebene Probleme führte langsam, aber stetig zu Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen. Erfahrung führte zu repetitiven Handlungsmustern. Effiziente Erfahrungen setzten sich durch, andere wurden verworfen. So formte sich allmählich ein Bestand an Wissen, der einem jeden, der in diese Überlebenspraktiken eingebunden war, zur Verfügung stand. Im Falle der Chipfabrik ist die Struktur nach dem top-down-Prinzip gestaltet: Von vornherein sind bestimmte und klar definierte Ziele und Gründe sowie das notwendige, seiner Natur nach nicht in Schriftlichkeit eingebundene Wissen Teil der Erfahrungsstruktur. Nur so ist die hohe Effizienz zu erreichen. Durch begleitende Maßnahmen werden die verfügbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten unablässig verbessert. Die Tätigkeit ist programmiert. Eine klare Vorstellung von den Zielen des Unternehmens--hohe Qualität, hohe Effizienz, ausgeprägte Anpassungsfähigkeit an neue Erfordernisse--ist in das gesamte Unternehmenssystem eingebaut.
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Olearius. Das erkennt der Pöbel nicht, der, so gierig er auf Neuigkeiten ist, das Neue höchst verabscheuet, das ihn aus seinem Gleise leiten will, und wenn er sich noch so sehr dadurch verbessert. Sie halten den Juristen so arg, als einen Verwirrer des Staats, einen Beutelschneider, und sind wie rasend, wenn einer dort sich niederzulassen gedenkt.
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Arbeitskampf Kollektive Maßnahmen (z.B. Aussperrung, wirtschaftlicher Boykott und Streiks) zur Störung des normalen Arbeitsablaufs durch Arbeitnehmer/-innen oder Arbeitgeber/-innen. Ziel ist die Durchsetzung von Forderungen in Bezug auf Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen. Beamte/-r Bezeichnet eine Person, die im öffentlichen Dienst (z.B. bei Bund, Land, Gemeinde) oder im Dienst einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Universität, Berufsgenossenschaftenetc.) steht und daher bestimmte Rechte und Pflichten hat. So ist man als Beamte/-r auf Lebenszeit unkündbar und erhält im Ruhestand eine Pension. Aufgrund des Treueverhältnisses zum Staat sind Beamte allerdings nicht streikberechtigt und zu Amtsverschwiegenheit verpflichtet. Generalstreik Bei einem Generalstreik legen große Teile der Bevölkerung eines Landes oder einer Region die Arbeit nieder, was weite Teile der Wirtschaft lähmen kann. Generalstreiks sind in Deutschland rechtswidrig, wenn sie politische Ziele verfolgen. In anderen europäischen Ländern wie Frankreich und Italien sind Generalstreiks dagegen legitim, beispielsweise protestierten 2010 große Teile der französischen Bevölkerung gegen die geplante Rentenreform der Regierung. Gewerkschaft Bezeichnet eine auf Dauer angelegte Vereinigung von und für Arbeitnehmer/-innen, die unabhängig von Staat und Parteien agiert und auf freiwilliger Mitgliedschaft basiert. Ihr Ziel ist die Repräsentation der Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Politik und Arbeitgebern/-innen sowie die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeitnehmerschaft. Friedenspflicht Verpflichtet die Tarifparteien (Arbeitgeber/-innen und Gewerkschaften) dazu, auf Arbeitskampfmaßnahmen (wie z.B. Streiks) zu verzichten. Die Parteien sind dazu verpflichtet, Streiks stets (absolute Friedenspflicht) oder in Bezug auf tariflich geregelte Punkte (relative Friedenspflicht) zu unterlassen. Politischer Streik Als politisch gilt ein Streik, wenn Arbeitnehmer/-innen die Arbeit niederlegen, um politische Organe zu Maßnahmen zu bewegen. Sie gelten nicht als rechtmäßiger Streik im Sinne des Arbeitsrechts. Streik Kollektive und planmäßige Arbeitsniederlegung durch eine größere Zahl von Arbeitnehmer/-innen mit dem Ziel, den Zweck des Arbeitskampfes, wie z.B. höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen etc., zu erreichen. Streikbrecher/-innen Arbeitnehmer/-innen, die während des Streiks in einem bestreikten Betrieb arbeiten und sich nicht an einem ausgerufenen Streik beteiligen. Streikgeld Eine von den Gewerkschaften an ihre Mitglieder gezahlte finanzielle Unterstützung während eines Streiks. Gewerkschaften finanzieren sich ausschließlich über Mitgliedsbeiträge (ca. ein Prozent des Bruttomonatseinkommens) oder Spenden und erhalten keine staatlichen Zuschüsse. Streikposten Durch Gewerkschaften oder streikende Angestellte beauftragte Personen, die vor den Toren von bestreikten Betrieben aufgestellt werden, um Arbeitswillige (Streikbrecher) dazu zu bringen, sich am Streik zu beteiligen. Tarifautonomie Tarifautonomie meint, dass Arbeitgeber/-innenverbände und Gewerkschaften frei von staatlichen Eingriffen Vereinbarungen über Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen aushandeln und wieder aufkündigen können. Als Verhandlungspartner schließen sie z.B. überbetriebliche Tarifverträge ab. Tarifvertrag Schriftliche Vereinbarung zwischen tariffähigen Parteien (Vertreter/-innen der Arbeitgeber/-innenseite, Gewerkschaften) mit der Rechte und Pflichten geregelt und arbeitsrechtliche Normen festgelegt werden. Darin wird z.B. festgelegt, wie hoch das Entgelt ist, wie viele Urlaubstage es gibt etc. Tarifverhandlung Zwischen Vertretern der Arbeitgeber/-innen und Arbeitnehmer/-innen stattfindende Gespräche mit dem Ziel, einen (Flächen-)Tarifvertrag umzusetzen.. Warnstreik Auf kurze Zeit befristeter Streik, zu dem die Gewerkschaften während Tarifverhandlungen aufrufen können, nachdem die Friedenspflicht abgelaufen ist, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Wilder Streik Ein Streik, der – häufig spontan – ohne die Unterstützung einer Gewerkschaft erfolgt und somit in Deutschland rechtswidrig ist. Allerdings können Gewerkschaften wilde Streiks auch nachträglich noch übernehmen und somit legitimieren. Kollektive Maßnahmen (z.B. Aussperrung, wirtschaftlicher Boykott und Streiks) zur Störung des normalen Arbeitsablaufs durch Arbeitnehmer/-innen oder Arbeitgeber/-innen. Ziel ist die Durchsetzung von Forderungen in Bezug auf Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen. Bezeichnet eine Person, die im öffentlichen Dienst (z.B. bei Bund, Land, Gemeinde) oder im Dienst einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Universität, Berufsgenossenschaftenetc.) steht und daher bestimmte Rechte und Pflichten hat. So ist man als Beamte/-r auf Lebenszeit unkündbar und erhält im Ruhestand eine Pension. Aufgrund des Treueverhältnisses zum Staat sind Beamte allerdings nicht streikberechtigt und zu Amtsverschwiegenheit verpflichtet. Bei einem Generalstreik legen große Teile der Bevölkerung eines Landes oder einer Region die Arbeit nieder, was weite Teile der Wirtschaft lähmen kann. Generalstreiks sind in Deutschland rechtswidrig, wenn sie politische Ziele verfolgen. In anderen europäischen Ländern wie Frankreich und Italien sind Generalstreiks dagegen legitim, beispielsweise protestierten 2010 große Teile der französischen Bevölkerung gegen die geplante Rentenreform der Regierung. Bezeichnet eine auf Dauer angelegte Vereinigung von und für Arbeitnehmer/-innen, die unabhängig von Staat und Parteien agiert und auf freiwilliger Mitgliedschaft basiert. Ihr Ziel ist die Repräsentation der Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Politik und Arbeitgebern/-innen sowie die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeitnehmerschaft. Verpflichtet die Tarifparteien (Arbeitgeber/-innen und Gewerkschaften) dazu, auf Arbeitskampfmaßnahmen (wie z.B. Streiks) zu verzichten. Die Parteien sind dazu verpflichtet, Streiks stets (absolute Friedenspflicht) oder in Bezug auf tariflich geregelte Punkte (relative Friedenspflicht) zu unterlassen. Als politisch gilt ein Streik, wenn Arbeitnehmer/-innen die Arbeit niederlegen, um politische Organe zu Maßnahmen zu bewegen. Sie gelten nicht als rechtmäßiger Streik im Sinne des Arbeitsrechts. Kollektive und planmäßige Arbeitsniederlegung durch eine größere Zahl von Arbeitnehmer/-innen mit dem Ziel, den Zweck des Arbeitskampfes, wie z.B. höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen etc., zu erreichen. Arbeitnehmer/-innen, die während des Streiks in einem bestreikten Betrieb arbeiten und sich nicht an einem ausgerufenen Streik beteiligen. Eine von den Gewerkschaften an ihre Mitglieder gezahlte finanzielle Unterstützung während eines Streiks. Gewerkschaften finanzieren sich ausschließlich über Mitgliedsbeiträge (ca. ein Prozent des Bruttomonatseinkommens) oder Spenden und erhalten keine staatlichen Zuschüsse. Durch Gewerkschaften oder streikende Angestellte beauftragte Personen, die vor den Toren von bestreikten Betrieben aufgestellt werden, um Arbeitswillige (Streikbrecher) dazu zu bringen, sich am Streik zu beteiligen. Tarifautonomie meint, dass Arbeitgeber/-innenverbände und Gewerkschaften frei von staatlichen Eingriffen Vereinbarungen über Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen aushandeln und wieder aufkündigen können. Als Verhandlungspartner schließen sie z.B. überbetriebliche Tarifverträge ab. Schriftliche Vereinbarung zwischen tariffähigen Parteien (Vertreter/-innen der Arbeitgeber/-innenseite, Gewerkschaften) mit der Rechte und Pflichten geregelt und arbeitsrechtliche Normen festgelegt werden. Darin wird z.B. festgelegt, wie hoch das Entgelt ist, wie viele Urlaubstage es gibt etc. Zwischen Vertretern der Arbeitgeber/-innen und Arbeitnehmer/-innen stattfindende Gespräche mit dem Ziel, einen (Flächen-)Tarifvertrag umzusetzen.. Auf kurze Zeit befristeter Streik, zu dem die Gewerkschaften während Tarifverhandlungen aufrufen können, nachdem die Friedenspflicht abgelaufen ist, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Ein Streik, der – häufig spontan – ohne die Unterstützung einer Gewerkschaft erfolgt und somit in Deutschland rechtswidrig ist. Allerdings können Gewerkschaften wilde Streiks auch nachträglich noch übernehmen und somit legitimieren.
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Rosinen 30 Minuten mit Rum in einer Schüssel einweichen.Eigelb, Zucker, Salz und Vanillinzucker in einer Schüssel mit dem Schneebesen schaumig rühren, bis die Masse hellgelb und cremig wird. Milch und nach und nach Mehl unterrühren, dann die Rosinen zugeben. Eiweiß sehr steif schlagen, vorsichtig unter den Teig heben.In einer Pfanne Butter erhitzen, Teig einfüllen und bei kleiner Hitze braten, bis die Unterseite leicht gebräunt ist und immer wieder wenden, bis alles leicht angebraten ist. Dabei gleich zerreißen. Auf Tellern anrichten und mit Puderzucker bestreuen.Als Beilage Zwetschgenröster oder Kompott.
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Nach China und Italien wurde Spanien schnell zu einem Hotspot der Corona-Krise. Zwischen dem 1. März und dem 24. Mai starben im Land fast 43.749 Menschen mehr als sonst innerhalb dieser drei Monate. Das entspricht einer Steigerung von 46 Prozent. Darunter befanden sich 27.934 offizielle Corona-Todesopfer und 15.815 Fälle, bei denen ein Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion vermutet wird. Besonders schockierend waren die Bilder von überlasteten Krankenhäusern, die nicht mehr in der Lage waren, alle medizinischen Notfälle aufzunehmen. Die Gesundheitsbehörde der Region Madrid sah sich gezwungen, zeitweise ein Alterslimit für die Aufnahme in Spitälern anzuordnen. Kranke Menschen, die älter als 75 Jahre alt waren, wurden nicht mehr aus Seniorenheimen ins Krankenhaus verlegt. Während am internationalen Frauentag am 8. März noch rund 120.000 Menschen in der Hauptstadt demonstrierten, wandelte sich das Bild innerhalb einer Woche radikal. Am 13. März schlossen sämtliche Schulen. Regulären Unterricht wird es erst wieder im September geben. Am 14. März rief der sozialistische Premier Pedro Sánchez den Alarmzustand aus und verhängte eine strenge Ausgangssperre. Auch Sport im Freien oder Spaziergänge blieben zwei Monate lang verboten. Kinder unter 14 Jahren durften die Wohnung gar nicht verlassen. Lockdown und Grenzschließungen treffen Spaniens stark vom Tourismus abhängige Wirtschaft besonders hart. Nach Schätzungen der OECD wird das spanische Bruttoinlandsprodukt durch die Corona-Krise um 11,1 Prozent sinken, im Falle einer zweiten Ansteckungswelle sogar um 14,4 Prozent. Um die bevorstehende soziale Not vieler Bürger zumindest zu lindern, beschloss die Regierungskoalition aus Sozialisten (PSOE) und Linkspartei Unidas Podemos (UP) im Mai die schnelle Einführung der ohnehin geplanten Grundsicherung. Nach einem kurzen Burgfrieden sind inzwischen sowohl die konservative Opposition aus Volkspartei (PP), Liberalen (Ciudadanos) und Rechtsextremen (Vox) als auch die teilweise separatistischen Regionalparteien in Katalonien und im Baskenland wieder dazu übergegangen, die Minderheitsregierung unter Druck zu setzen, was die künftige Verwaltung der Krise für sie nicht einfacher machen wird.
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Nato-Gipfel in Wales: Kein Streit dank Putin Die gescheiterte Afghanistan-Mission hätte Thema des Gipfels sein sollen. Wegen Russlands Aggression in der Ukraine wird es erneut vertagt. Hatte zuletzt mit der Äußerung „Neurussland“ für Aufregung gesorgt: Wladimir Putin. Bild: ap GENF taz | Am heutigen Donnerstag wird Russland Präsident Wladimir Putin beim Nato-Gipfel im walisischen Newport den Verdienstorden der westlichen Militärallianz erhalten – für besondere Verdienste um den Zusammenhalt und die Entschlossenheit. Dann wird Putins ukrainischer Amtskollege Petro Poroschenko eine Laudatio halten – im Rahmen eines festlichen Essens der Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsminister der 28 Nato-Mitgliedsstaaten. Diese Szene ist frei erfunden. Das ändert nichts daran, dass sich der Gipfel ohne die völkerrechtswidrige hybride Kriegführung russischer Truppen in der Ostukraine und die ebenfalls völkerrechtswidrige und mit militärischer Gewalt herbeigeführte Annexion der Krim durch Russland im März dieses Jahres mit dem ursprünglich geplanten Thema beschäftigen müsste: der gescheiterten Mission in Afghanistan. Deren längst überfällige selbstkritische Aufarbeitung kann nun ein weiteres Mal verschoben werden – möglicherweise auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Stattdessen wird der neue Kalte Krieg mit Moskau das Treffen beherrschen. Hier wäre einiges zu diskutieren: Inwieweit etwa hat die seit Mitte der 1990er Jahre betriebene Nato-Osterweiterung zum heutigen Verhalten der russischen Regierung beigetragen? Welchen Anteil an der Eskalation des Konflikts mit Moskau hat die Ukrainepolitik, die die zu 90 Prozent identischen Mitgliedsstaaten des Bündnisses und der EU in den letzten zehn Jahren betrieben haben? Sind die von den USA und der EU verhängten Sanktionen geeignet, Russland zu einer Verhaltensänderung zu bewegen? Und schließlich: Was müssten und könnten Nato-/EU-Staaten und Ukraine dazu beitragen, den Konflikt zu deeskalieren und Putin einen Ausstieg aus seiner Aggressionspolitik zu ermöglichen, der ihn das Gesicht wahren lässt? Absehbare Reaktionen Zu all dem wird in Wales nichts zu hören sein. Stattdessen werden die Nato-Politiker Einigkeit und Entschlossenheit demonstrieren – und angesichts der neuen Bedrohung vor allem militärische Maßnahmen verkünden. Maßnahmen, die in erster Linie zur Beruhigung Polens und der baltischen Staaten dienen. Für den dänischen Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, einen Kalten Krieger par excellence, der am 1. Oktober von dem weit bedächtigeren Norweger Jens Stoltenberg abgelöst wird, bietet der Gipfel eine letzte Gelegenheit zum säbelrasselnden Auftritt vor Kameras und Mikrofonen aus aller Welt. Letzte Woche gab Rasmussen in Interviews mit mehreren Zeitungen bereits Kostproben der zu erwartenden Gipfelrhetorik. Lieblingsbegriff: „Speerspitze“. Mit einer solchen von bis zu zusätzlichen 4.000 Soldaten will Rasmussen die 2004 gegründete schnelle Eingreiftruppe Nato Response Force (NRF) verstärken. Sie soll, unterstützt von Luft- und Seestreitkräften, „in kürzester Zeit einsatzbereit sein, um die Mitgliedsstaaten in Osteuropa „vor einer Aggression Russlands zu schützen“. Gebildet werden soll die neue Truppe durch rotierende Verbände der Nato-Staaten. Deren Botschafter im Brüsseler Hauptquartier der Allianz stimmten Rasmussens Vorschlag in einer letzte Woche beschlossenen Gipfel-Vorlage bereits im Grundsatz zu. Genaue Details – darunter die heiklen Fragen der Kosten und des Kommandos – sollen anschließend ausgehandelt werden. Ende der Beschränkungen Dasselbe gilt für den im Grundsatz von den Botschaftern abgesegneten Plan, Waffendepots in Osteuropa anzulegen. Zudem sollen Nato-Streitkräfte die Erlaubnis bekommen, Flughäfen und Häfen zu benutzen. In fünf neuen Stützpunkten sollen sich nach Angaben eines hohen Nato-Vertreters gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung jeweils 300 bis 600 Soldaten aufhalten. Diese sollen nicht ständig vor Ort sein, sondern rotieren. Angesichts des immer aggressiveren russischen Vorgehens in der Ukraine werden Polen, die baltischen Staaten sowie eventuell auch Kanada auf dem Gipfel möglicherweise erneut die ständige Stationierung von Truppen des westlichen Bündnisses auf ihren Territorien fordern – und eventuell auch die Kündigung der Nato-Russland-Gründungsakte. Das 1997 vereinbarte Papier legt der Nordatlantischen Allianz Beschränkungen bei Stationierungen auf dem Gebiet des ehemaligen Ostblocks auf. Bislang hatte eine Mehrheit der Mitglieder derartige Forderungen abgelehnt. Zur Finanzierung all dieser und anderer Vorhaben wird das Abschlusskommunique des Gipfels die Mitgliedsstaaten zu einer deutlichen Erhöhung ihrer Militärausgaben auffordern.
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© 2021 SID Borussia Dortmund erhält eine Geldstrafe Mittwoch, 15.09.2021, 11:05 Borussia Dortmund erhält eine Geldstrafe Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund ist vom DFB-Sportgericht nach zwei Fällen unsportlichen Verhaltens seiner Anhänger mit einer Geldstrafe von 4000 Euro belegt worden. Das Urteil ist rechtskräftig. In der 89. Minute des DFB-Pokalspiels beim SV Wehen Wiesbaden am 7. August lief ein Zuschauer mit Dortmund-Trikot auf das Spielfeld und wurde anschließend von einem Ordner aus dem Innenraum verwiesen. Das Spiel musste kurzzeitig unterbrochen werden. Zudem explodierte in der Nachspielzeit ein Böller im Block der BVB-Anhänger. Dieser Artikel wurde verfasst von SID Redaktion SID
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Sachsens Justizminister bei „Anne Will“: Alles klar im Justizvollzug Sebastian Gemkow verteidigt erneut das Vorgehen der Leipziger Beamten im Fall Jaber A. Der Terrorverdächtige hatte sich im Gewahrsam getötet. Justizminister Sebastian Gemkow am Sonntag bei „Anne Will“ Foto: imago/Jürgen Heinrich BERLIN dpa | Nach der Selbsttötung des mutmaßlichen IS-Terroristen Jaber A. ist den Beamten in dem Leipziger Gefängnis aus Sicht von Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) kein Vorwurf zu machen. „In diesem Fall, in dem die Psychologin gesagt hat, es liegt kein akuter Fall von Suizidgefahr vor, konnten die Bediensteten aufgrund dieser Prognose keine härteren Maßnahmen verhängen“, sagte Gemkow am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Anne Will“. So hätten die Beamten beispielsweise mit einer ständigen Überwachung willkürlich ihre Befugnisse überschritten. A. hatte sich am Mittwochabend zwei Tage nach seiner Festnahme erhängt – mit einem T-Shirt seiner Anstaltskleidung an einem Zellengitter. Zu jenem Zeitpunkt war lediglich eine halbstündige Überprüfung seiner Zelle angeordnet gewesen. Gemkow betonte, es gebe keine besonderen Häftlinge. „Jeder Gefangene wird individuell so behandelt, wie es notwendig ist.“ Zeige die Untersuchung, dass keine akute Suizidgefahr vorliege, dann dürfe keine Maßnahme angeordnet werden, die die Grundrechte eines Gefangenen verletze, argumentierte der Justizminister. „Das haben die Bediensteten richtig gemacht.“ Für ihn persönlich würden die gleichen Maßstäbe gelten. „Letzen Endes werde ich diese Grenzen nicht überschreiten, indem ich eine Maßnahme anordne, die unverhältnismäßig ist und die den Boden des Rechts verlässt“, so Gemkow. Auch der Leipziger Gefängnisdirektor Rolf Jacob wies den Vorwurf zurück, bei einem mutmaßlichen IS-Terroristen müsse man ständig von dessen Bereitschaft zur Selbsttötung ausgehen. „Es gab ein tragisches Ereignis. Man muss aus diesem Ereignis lernen, wie man es zukünftig besser machen kann. Einen Rückschluss auf Fehler, den weise ich zurück“, sagte Jacob im „Spiegel TV“-Interview.
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Migration policy in France: Colonial legacy and wall building Although France has a long history of immigration, the country is increasingly looking to curb the number of people crossing its borders. Actively negotiating with migrants’ home nations is its strategy. The „Jungle“ in Calais being forcefully evacuated Foto: reuters Compared to its European neighbours, France has a long tradition of being a land of inward migration. Eighteen million French citizens (almost one third of the population) are purported to have at least one grandparent who originates from another country. Since the 1980s and the early 1990s, a series of conservative, economic-liberal right-wing governments have embraced a 'zero immigration’ policy. In theory, the aim was to restrict any form of new immigration that would add to existing numbers. However, in practice this approach quickly turned out to be untenable as certain minimum legal safeguards – family reunification, the right of spouses married to French nationals to enter the country – needed to be guaranteed and national as well as international obligations upheld. Whilst left-wing parties and some sections of civil society protested against the official policy, claiming it went against political and social principles, many ruling governments also came under fire from members of the right: the right-wing Front National wasted no time criticising the country’s leaders for their broken promises and calling out their lack of consistency. When a new social democrat government was elected in June 1997, its key figures and experts tried to relieve some of the internal political pressure and to reach what they saw as a “sensible compromise“ with sections of the conservative camp. On 31 July 1997, university professor Patrick Weil presented an expert report, which was frequently cited at the time, to President Lionel Jospin’s government, putting forward a policy designed on a utilitarian basis, i.e. focusing on the benefits to society. Explicit demands Despite a considerably restrictive discourse on the issue of immigration, the next incoming president, Nicolas Sarkozy, retained the core of this utilitarian idea despite being a right-wing politician. The fundamental change that came about under his presidency was in France’s economic relations to its former colonies and to third countries: it was decided that these partnerships would now be explicitly and unashamedly linked to the willingness of these countries’ governments to assist in controlling migration. During this time a series of readmission agreements concerning unwanted migrants from a whole host of countries were negotiated. Between 2008 and 2009, these agreements were at the core of a new generation of bilateral deals concerning migration that comprised more comprehensive formal documents. Prior to this, France had signed a series of agreements that concerned only readmission for foreign nationals who were undesired or who had committed a criminal offence. These were mainly with other European states, such as the Benelux countries (16 May 1964), Croatia (27 January 1995) and Bulgaria (29 May 1996) as well as Switzerland and Liechtenstein (28 October 1998). Deals were also signed with Latin American countries, e.g. Argentina (1 February 1995), Brazil (28 May 1996) and Venezuela (25 January 1999). However, agreements up until this point still did not include countries on the African continent, nor did they factor in other principal countries of origin for migrants. From the mid-2000s, some new readmission agreements were issued, which affected those countries who had high numbers of citizens migrating to France (agreements were signed with the former Union of Serbia and Montenegro on 25 April 2006 and with Kosovo on 2 December 2009). The island of Mauritius became the first African country to sign an agreement with France, which it did on 15 November 2007. Bilateral agreements with African states During the same period, however, negotiations were taking place on a new generation of general migration agreements containing regulations on the “concerted management of migration flows“. These agreements were usually based on the premise that countries of origin – in exchange for visas for students and some qualified professionals – would commit to better regulate outward flows of their nationals and, crucially, to readmit citizens who had been removed from France. The latter obligation also applied to third-country nationals who had demonstrably entered France via the territory in question. Similar agreements were signed with certain African states: Senegal (23 September 2006), Gabon (5 July 2007), Republic of the Congo (25 October 2007), Benin (28 November 2007), Tunisia (28 April 2008), the Cape Verde islands (24 November 2008) as well as Burkina Faso (10 January 2009) and Cameroon (21 May 2009). Subsequent governments did not challenge these institutional frameworks but chose to keep existing bilateral agreements. The incumbent social democrat administration (as of the end of 2016) is trying to call as little attention to the issue of immigration as possible in an attempt to avoid domestic controversy and conflict. Instead, the aim has been to maintain some form of technocratic consensus between the parties of the centre right and centre left. On 7 March 2016, what was to be the final reform of France’s immigration law came into force. Despite being met with criticism from civil society groups and anti-racism NGOs, the legislation was barely mentioned in public debate. The reform introduced multiannual residence cards – ranging from the previously used (limited) 'one-year card’ and the (essentially unlimited) ‚ten-year card’ – for qualified professionals who fall under certain categories. This applies to researchers and scientists, for example, as well as artists and those employed in the cultural sector. However, the legislation now allows the state to withdraw a residency permit even if it is still valid. The state is also able to declare a permit invalid if the authorities judge that the prerequisites for the granting of the permit are no longer met. This had previously only been relevant when applying for an extension. Approval rate rising The failures of the French asylum system have often been highlighted in recent years, one of the most obvious examples being the substantial shortfalls of housing schemes for individuals awaiting the outcome of their asylum claim. This is in spite of the fact that the number of asylum seekers in the country is significantly lower than those applying for refugee status in Germany. In 2014, a total of 68,811 applications for asylum were submitted in France. The success rate for applications processed by the two main national bodies (the French Office for the Protection of Refugees and Stateless People, OFPRA, and the National Court of Asylum, CNDA) across the year stood at 28 percent; in 2014 it was 24.5 percent. In 2015, a total of 80,075 applications for asylum were submitted in France. In this year the percentage of applications accepted rose to 33.7 percent, but this increase is almost exclusively due to the growing numbers of asylum applications from Syrian nationals, who are, in most cases, granted asylum status automatically. Leading members of the French government have criticised Angela Merkel’s decision to open Europe’s borders to refugees in the summer of 2015. Perhaps the loudest and most notable critic has been former Prime Minister Manuel Valls, a member on the right wing of the Socialist Party (see interview in the Süddeutschen Zeitung from 25 November 2015). In 2015/16, France took on a leading role as the EU drew up plans for the ‘distribution’ of migrants, who had entered EU territory in Greece and Italy, across the union’s 28 member states. The task was to initially find places for 120,000 refugees within two years. This was then changed to 66,000 by the end of 2017. Due to strong opposition from a number of central eastern European states – Slovakia was strongly opposed to the plan, and the Polish government started a campaign against it – most parts of the agreement were blocked. In August 2016, a mere 2,845 migrants had been moved from Greece and resettled in another EU state. In the months that followed, the French government took a back seat when it came to political initiatives at EU level; at home, the issue all but vanished from the agenda. For a brief period in the autumn of 2016, the clearance of the so-called 'jungle’, an informal makeshift camp that had been built on the outskirts of Calais, became a major domestic issue. The Treaty of Le Touquet (signed in 2003) meant France had made a pledge to the United Kingdom to keep migrants on the French side of the Channel and to prevent immigrants crossing illegally to the British Isles. However, the camp, which had swelled to around 10,000 people, was rapidly becoming a highly contentious issue at home with various commentators often referring to it as an “eyesore“. Between 24 and 26 October 2016 the camp was cleared and destroyed, but some of the previous occupants managed to evade the authorities. Around 5,500 adults and 1,900 unaccompanied minors were taken by bus to one of 450 temporary accommodation sites in other parts of the country. Once there, they were only guaranteed refuge for three months. Furthermore, and contrary to what was originally promised, deportations to other EU countries (Italy in particular) immediately resumed under the Dublin III Regulation. Essentially, the aim was to simply move the perceived problem elsewhere. At the beginning of 2017, many of those affected who weren’t able to successfully claim asylum in France once again found themselves with nothing. In many cases, they also wound up back on the road. In addition, large parts of the port of Calais are now off limits to migrants, who might be looking to use the site as a transit point. As of 1 December 2016, a law currently used to enforce the state of emergency (which is set to be in place at least until 15 July 2017) was applied to declare the RN 216 access road a specific hazard zone for pedestrians. Trespassers (in de facto terms, migrants) can be punished with up to six months’ imprisonment. In addition to the barriers and fences already in place around the port of Calais, on 20 September 2016 work began on the construction of a four-metre-high and one-kilometre-long wall. This will be fitted with CCTV cameras and searchlights. The aim is to prevent trespassers setting foot on the road that leads to the port area, a spot where migrants have repeatedly attempted to smuggle themselves on board lorries and ferries. The bill for construction (€2.7 million) is being footed by the British government. Construction on the wall was officially completed on 12 December 2016.
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Die koreanische Halbinsel ist immer wieder eine Quelle von Spannungen und Instabilität – insbesondere Nordkoreas Atomwaffenprogramm und sein aggressives außen- und sicherheitspolitisches Verhalten stellen eine Bedrohung nicht nur für die regionale Sicherheit dar. China, als Nordkoreas engster Verbündeter und wichtigster Handelspartner, spielt in dieser Dynamik eine entscheidende Rolle. Doch sind Chinas Beziehungen zu Nordkorea komplex und vielschichtig. Geprägt von historischen, ideologischen und strategischen Faktoren sind den bilateralen Beziehungen auch Grenzen gesetzt, die sich nicht zuletzt aus einer bestimmten Priorisierung von Beijings Interessen im Hinblick auf Nordkorea ergeben. So spricht sich China zwar konsequent gegen die Entwicklung des nordkoreanischen Atomprogramms aus, schätzt jedoch die Vermeidung von Chaos und Instabilität als noch wichtiger ein. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Haltung Beijings, dass ein zu starker Druck auf Pjöngjang letztlich nicht nur Chinas Einfluss auf Nordkorea einschränken würde, sondern sich auch als destabilisierend erweisen könnte. Die internationale Gemeinschaft sollte sich daher nicht zu sehr darauf verlassen, dass das nordkoreanische Nuklearproblem durch chinesischen Druck gelöst werden kann – zumal der strategische Wert Nordkoreas für Beijing im Zuge des sich zuspitzenden Konflikts zwischen China und den USA sowie des russischen Krieges gegen die Ukraine wieder zugenommen hat. Historische Entwicklung Die Geschichte der Beziehungen zwischen China und der koreanischen Halbinsel umfasst den Aufstieg und Fall von Dynastien, Kaiserreichen und modernen Staaten. Der Beginn der modernen Beziehungen lässt sich auf die Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) 1948 und der Volksrepublik China (VRC) 1949 datieren. Unmittelbar nach der Gründung der VRC nahmen beide Länder am 6. Oktober 1949 diplomatische Beziehungen zueinander auf. Viele der Instrumente, die Kim Il Sung in Korea und Mao Zedong in China in den ersten Jahren ihrer Herrschaft einsetzten, bauten auf den Erfahrungen des jeweils anderen auf: Landreformen, der Aufbau eines Personenkults, zentrale Wirtschaftsplanung und die gemeinsame ideologische wie militärische Erfahrung des Kampfes gegen den "US-Imperialismus". Chinas Eingreifen in den Koreakrieg (1950–1953) bewahrte Kims Regime vor einer drohenden Niederlage und prägte fortan die "besonderen Beziehungen" beider Länder. Dennoch waren jene Beziehungen oft turbulent und wurden in den frühen Jahren etwa durch die gezielte Ausschaltung opponierender Faktionen wie etwa der China nahestehenden Yanan-Gruppe belastet. In diesem Prozess wurden nicht nur potenzielle politische Rivalen mit engen Beziehungen nach China sowie zur Sowjetunion ausgeschaltet, sondern auch deren kultureller Einfluss zurückgedrängt. Dies geschah etwa durch das Verbot chinesischer Schriftzeichen in nordkoreanischen Zeitungen oder ein Sprachbereinigungsprogramm, im Zuge dessen chinesische Lehnwörter durch originär koreanische Begriffe ersetzt werden sollten. Zusätzlich tilgte Nordkorea im Zuge des Aufbaus eines monolithischen Führungssystems den Beitrag Chinas im Koreakrieg aus der nordkoreanischen Geschichtsschreibung. Mit der Chuch’e-Ideologie wurde sukzessive eine Staatsideologie etabliert, die die politische, wirtschaftliche und militärische Eigenständigkeit Nordkoreas betonte und insbesondere Lakaientum (sadae) gegenüber Großmächten strikt zurückwies. Außenpolitisch manipulierte Kim Il Sung die zunehmende Spaltung zwischen der Sowjetunion und China sowohl als Vehikel für die Ausweitung der eigenen taktischen und strategischen Position als auch für die Sicherstellung von Hilfe. 1961 schloss Nordkorea zuerst mit der Sowjetunion den Vertrag über Freundschaft, Kooperation und gegenseitige Unterstützung ab und wenige Tage später mit China den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand. Beide Abkommen sahen explizit auch die wechselseitige militärische Unterstützung im Falle eines bewaffneten Angriffs vor. Dennoch wurden die sino-nordkoreanischen Beziehungen weiterhin von internen und externen Entwicklungen belastet, etwa von der plötzlichen Annäherung Beijings an Washington nach der Chinareise von US-Präsident Richard Nixon 1972, der Reform- und Öffnungspolitik der chinesischen Führung unter Deng Xiaoping ab Dezember 1978, Chinas faktischer Akzeptanz des Status quo einer geteilten Halbinsel durch die Annäherung an Seoul sowie der strikten Ablehnung einer militärisch erwirkten Wiedervereinigung der Halbinsel durch den Norden. Ferner kritisierte Beijing die geplante erbliche Machtübergabe von Kim Il Sung an Kim Jong Il als "Überbleibsel des Feudalismus". Nach dem Ende des Kalten Krieges gipfelten die Spannungen zwischen beiden Staaten in dem, was Nordkorea als den "größten Verrat Chinas" betrachtete: die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Südkorea 1992. Mit der Entscheidung, den Handel mit dem Norden von konzessionellen Vereinbarungen und Tauschgeschäften auf einen Marktansatz umzustellen, wurde schließlich "das letzte Band der 'brüderlichen' politischen Grundlage der chinesisch-nordkoreanischen Beziehungen durchschnitten", und die "strategischen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der 'besonderen Beziehung' zwischen China und Nordkorea" brachen zusammen. Während der chinesische Handel mit Südkorea rapide expandierte, nahm die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Nordkorea immer weiter ab. Wenngleich die historischen und ideologischen Bande, die China und Nordkorea einten, an relativer Bedeutung einbüßten, verschwanden sie doch nie vollständig. Der Verlust der sowjetischen Unterstützung und die kumulierten Auswirkungen der verfehlten Wirtschaftspolitik führten Mitte der 1990er Jahre in Nordkorea zu einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise und einer Hungersnot. Um einen ökonomischen und politischen Kollaps Nordkoreas zu verhindern, stimmte China großzügigeren Bedingungen für seine Nahrungsmittel- und Treibstoffexporte nach Nordkorea zu. Auch wenn der bilaterale Handel insgesamt eingebrochen war, wuchs die Abhängigkeit Nordkoreas von China damit sukzessive an. Hierzu trugen letztlich auch die sich verschlechternden diplomatischen Beziehungen Nordkoreas zu seinen weiteren Nachbarn bei. Nach Nordkoreas erstem Atomtest 2006 stimmte China für die UN-Sanktionen, die den Export von Luxusgütern und bestimmten Waffen nach Nordkorea untersagten und die Bereitstellung von Finanzmitteln einschränkten. Dennoch stieg der bilaterale chinesisch-nordkoreanische Warenhandel sprunghaft an. Trotz des Scheiterns diplomatischer Bemühungen zur Beilegung des Konflikts um Nordkoreas Nuklearprogramm und des zweiten nordkoreanischen Atomtests 2009 sowie der provokativen Militäraktionen Nordkoreas gegen Südkorea im darauffolgenden Jahr setzte sich China zu jener Zeit für eine Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Nordkorea ein. Diese Annäherung geschah vermutlich auch vor dem Hintergrund von Kim Jong Ils Schlaganfall im August 2008 und des damit verbundenen verkürzten Nachfolgeplans, um einen stabilen Machtwechsel zu gewährleisten. Der Besuch des damaligen chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao in Pjöngjang 2009 signalisierte diesen Politikwechsel. Kim Jong Il reiste 2010/11 insgesamt viermal nach China. In diesem Zeitraum wuchs auch der bilaterale chinesisch-nordkoreanische Warenhandel von 1,7 Milliarden US-Dollar 2006 auf 6 Milliarden US-Dollar im Jahr 2012. Chinas Anteil am nordkoreanischen Handel machte 2006 fast 40 Prozent, 2012 fast 70 Prozent des nordkoreanischen Außenhandels aus. Beziehungen unter Xi Jinping und Kim Jong Un Nachdem in den letzten Lebensjahren von Kim Jong Il ein verstärkter Kontakt und Austausch geherrscht hatte, kehrten die bilateralen Beziehungen nach dem Führungswechsel in beiden Ländern zu Beginn der 2010er Jahre wieder zu ihrem früheren Muster zurück: "kaltherziges Lächeln in der Öffentlichkeit und Äußerungen kaum verhohlener Verachtung hinter den Kulissen". Zusätzlich zu Nordkoreas immer provokanterem Verhalten im Zuge der Nuklearfrage wuchsen die Spannungen zwischen beiden Ländern auch aufgrund von Kims Vorgehen gegen potenzielle politische Herausforderer, die eng mit China verbunden waren. 2013 ließ Kim Jong Un seinen Onkel Jang Song Thaek hinrichten, der der chinesischen Führung nahestand. 2017 ordnete er die Ermordung seines Halbbruders Kim Jong Nam an, der angeblich unter chinesischem Schutz in Macau gelebt hatte. Diese Aktionen lösten in Chinas sicherheitspolitischer Community eine bis dato beispiellose Debatte über den Wert und Nutzen enger Beziehungen zu Nordkorea aus. Am 27. Februar 2013 veröffentlichte Deng Yuwen, ein einflussreicher chinesischer Journalist und ehemaliger stellvertretender Herausgeber der Zeitschrift der Zentralen Parteischule "Xuexi Shibao", einen Beitrag in der "Financial Times" mit dem Titel "China Should Abandon North Korea". Nicht wenige Beobachter sahen dies als Anzeichen für einen grundlegenden Kurswechsel der chinesischen Nordkoreapolitik, nach dem Beijing Nordkoreas Provokationen nicht länger dulden würde. Die Kluft zwischen der VRC und der DVRK vergrößerte sich weiter, als Nordkorea 2017 seinen sechsten und bisher stärksten Atomwaffen- und mehrere Raketentests durchführte, die zum Teil mit wichtigen diplomatischen Anlässen Chinas zusammenfielen. Als Reaktion stimmte Beijing der Durchsetzung einer Reihe von UN-Sanktionen zu, die etwa die Einfuhr nordkoreanischer Kohle und Textilien untersagten, Vermögenswerte nordkoreanischer Personen und Institutionen einfroren, die Ausfuhr von Erdöl und Erdgas nach Nordkorea stark einschränkten und die Rückführung nordkoreanischer Arbeitsmigranten vorsahen. Die Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte zwischen den USA und der DVRK ab 2018 führte zu einem neuerlichen Wandel der chinesischen Politik gegenüber Nordkorea. Diesem lag die Überlegung zugrunde, dass sowohl China als auch Nordkorea von der Wiederherstellung der bilateralen Beziehungen und der Koordinierung der Positionen vor dem geplanten Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Kim profitieren würden. Zwischen März 2018 und Juni 2019 kamen der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping, und Kim zu insgesamt fünf Gipfeltreffen zusammen. Damit demonstrierte Xi, dass China seinen Einfluss auf seinen Nachbarn nicht verloren hatte, dass es die Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel mitbestimmen konnte und wollte und dass eine Lösung der Nordkoreafrage letztlich nicht ohne China erzielt werden kann. Im Anschluss an das erste Treffen zwischen Trump und Kim traf Xi mit Kim zusammen, lobte die "positiven Ergebnisse" des Gipfels und bekräftigte Chinas Unterstützung für Nordkorea, "unabhängig davon, wie sich die internationale und regionale Lage entwickelt". China setzte seine Bemühungen um die Wiederherstellung der Beziehungen seit 2020 fort, nachdem Nordkoreas Außenhandel während der Covid-19-Pandemie fast vollständig zum Erliegen gekommen war. Bereits im Januar 2020 versetzte die nordkoreanische Führung das Land in einen strikten Lockdown, um eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu verhindern. Nach Angaben der südkoreanischen Zentralbank schrumpfte Nordkoreas Wirtschaft 2020 um 4,5 Prozent auf ein Bruttoinlandsprodukt von etwa 29,7 Milliarden US-Dollar. Im Gegensatz zur chinesischen Kritik vor allem 2017 lobte Xi in einer Botschaft an Kim Jong Un im Oktober 2020 die "bemerkenswerten Errungenschaften des Kim-Regimes beim Aufbau (…) des Sozialismus" und hob insbesondere Kim Jong Uns "starke Führung" hervor. Anfang 2021 berichteten chinesische Staatsmedien, dass Kim mit Xi Botschaften ausgetauscht habe, in denen die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen China und Nordkorea angesichts des neu wahrgenommenen Drucks seitens der USA betont wurde. In einer mehr als symbolischen Geste öffnete die DVRK Ende März 2023 erstmals seit Beginn der Pandemie die Grenze für eine einreisende Person: den neuen chinesischen Botschafter in Nordkorea, Wang Yajun. Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und China hat sich auch die strategische Lage in Nordostasien geändert und der strategische Wert Nordkoreas hat sich für Beijing – und Moskau – erneut erhöht. Dabei sind die heutigen Beziehungen weniger durch eine besondere ideologische Bindung gekennzeichnet als von dem geteilten Interesse, den US-amerikanischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Aus Chinas Sicht kann Nordkorea als force multiplicator dienen, um Amerikas Position im Pazifik herauszufordern. "Einfach ausgedrückt: Je mehr Länder bereit sind, die von den USA geführte Sicherheitsordnung im indopazifischen Raum herauszufordern oder zu erschweren, desto besser." Nukleare Diplomatie Als Nordkorea 1993 seinen Austritt aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ankündigte und die sogenannte Erste Nuklearkrise provozierte, die beinahe in einem Krieg eskalierte, reagierte China relativ zurückhaltend. Beijing unterstützte zwar die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel und widersetze sich dem angedrohten Austritt Nordkoreas aus dem Atomwaffensperrvertrag, sprach sich jedoch gegen die Verhängung von Sanktionen zur Lösung des Problems aus. Die Übernahme einer weitergehenden Rolle im diplomatischen Prozess zur Entschärfung der Nuklearkrise lehnte China hingegen ab – entgegen den Erwartungen der USA, die den Schlüssel zur Lösung der Nordkoreakrise in Beijing sahen. Entsprechend war Beijing auch kein Akteur in jenen Gesprächen, die 1994 zu dem zwischen den USA und Nordkorea vereinbarten Genfer Rahmenabkommen über das nordkoreanische Atomprogramm führten. Zwischen 1997 und 1999 nahm China neben den USA sowie Nord- und Südkorea jedoch an den Vier-Parteien-Gesprächen teil, die darauf zielten, die Beziehungen zwischen den USA und Nordkorea zu normalisieren und das Waffenstillstandsabkommen von 1953 durch einen Friedensvertrag zu ersetzen – ein Format, das letztlich ergebnislos blieb. Im Gegensatz zur Ersten Nuklearkrise griff Beijing in der im Oktober 2002 beginnenden Zweiten Nuklearkrise nun aktiv in die diplomatischen und politischen Bemühungen zu ihrer Beilegung ein. Nachdem die USA unter der Administration von Präsident George W. Bush bilaterale Verhandlungen mit Nordkorea strikt abgelehnt hatten und unter dem Eindruck der dramatischen Verschärfung der US-DVRK-Beziehungen, versuchte Beijing die weit auseinanderliegenden Positionen Washingtons und Pjöngjangs mittels "Pendeldiplomatie" zu überbrücken, um eine militärische Auseinandersetzung auf der koreanischen Halbinsel zu verhindern. Nach einer gescheiterten Verhandlungsrunde zwischen den drei Akteuren im April 2003 gelang es China mit einer Kombination aus Warnungen und Zusicherungen, Nordkorea im Juli 2003 zur Zustimmung zu einem mit den USA und Südkorea abgestimmten Vorschlag zu bewegen, die trilaterale Initiative durch die Einbeziehung Russlands, Japans und Südkoreas zu den sogenannten Sechs-Parteien-Gesprächen (Six-Party Talks, 6PT) auszuweiten. Als primäre Plattform für die Verhandlungen mit Nordkorea sollten die 6PT parallel zur Denuklearisierungsfrage auch weitere Themen wie die Normalisierung der US-DVRK-Beziehungen adressieren, wobei Beijing die Ansicht vertrat, dass Nordkorea im Gegenzug für seine Denuklearisierung Sicherheitsgarantien und wirtschaftliche Vorteile erhalten sollte. Trotz einiger Fortschritte kollabierte der multilaterale Prozess jedoch 2009, nicht zuletzt aufgrund nicht zu überbrückender Meinungsunterschiede zwischen den USA und Nordkorea, weiterer Provokationen durch Pjöngjang und dem nach wie vor ausgeprägten Misstrauen zwischen den beteiligten Akteuren. Als der Nuklearkonflikt ab 2017 erneut zu eskalieren drohte, unterstützte China einerseits zwar den bilateralen Verhandlungsansatz zwischen den USA und Nordkorea, war jedoch gleichermaßen darauf bedacht, die Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel mitzubestimmen, wie es nach den Gipfeltreffen zwischen Xi und Kim zum Ausdruck kam. Chinas strategische Interessen China war, ist und wird auch weiterhin entschlossen sein, die entscheidenden Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel im Sinne der eigenen Interessen mit zu beeinflussen. Chinesische Beamte fassen die grundlegende Nordkoreapolitik des Landes mit den drei Neins zusammen: kein Krieg, kein Chaos, keine Atomwaffen. Demnach ist die Vermeidung von Krieg und Instabilität an der chinesischen Grenze ganz deutlich die oberste Priorität für Beijing, gefolgt von der Aufrechterhaltung stabiler Beziehungen zu Nordkorea und schließlich der Denuklearisierung Nordkoreas sowie weiteren langfristigen Zielen wie dem Abbau der US-Truppenpräsenz in Südkorea. Kein Krieg und kein Chaos Für China ist das Ziel vorrangig, Instabilität in Nordkorea zu vermeiden. Zu den potenziellen Bedrohungen gehören neben militärischen Konflikten auch jene eines Kollapses des nordkoreanischen Regimes, Flüchtlingsströme, der Ausbruch von Krankheiten, Naturkatastrophen, der Zusammenbruch der nordkoreanischen Wirtschaft, Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen, die in unzuverlässige Hände fallen, und radioaktiver Niederschlag bei einem Atomschlag auf der Halbinsel oder bei nordkoreanischen Atomtests. Wie 2017 die negative Reaktion Chinas auf die Stationierung des Terminal High Altitude Area Defense Raketenabwehrsystems in Südkorea durch die USA zeigt, ist Beijing zudem äußerst sensibel mit Blick auf eine Nutzung südkoreanischen Territoriums, die Chinas Sicherheitsinteressen beeinträchtigt. Denuklearisierung Trotz der Priorisierung der Vermeidung von Instabilität und Chaos bleibt die Beseitigung des nordkoreanischen Atomprogramms für Beijing ein wichtiges außen- und sicherheitspolitisches Ziel. Obwohl sich China konsequent gegen die Entwicklung des nordkoreanischen Atomprogramms ausspricht, zeigt es grundlegendes Verständnis für die nordkoreanischen Sicherheitsinteressen. China teilt Nordkoreas Sicht, dass das Gefühl der Unsicherheit Pjöngjangs primär das Ergebnis einer feindlichen Politik der USA und der Republik Koreas seit dem Ende des Koreakrieges 1953 sei. Vor diesem Hintergrund meinen einige Beobachter, China wolle, dass Nordkorea seine Atomwaffen behält, um den USA Probleme zu bereiten. Doch diese Einschätzung berücksichtigt nicht das Ausmaß der Sicherheitsherausforderungen, die das nordkoreanische Nuklearprogramm letztlich für China darstellt. Beijing betrachtet ein nukleares Nordkorea als destabilisierend, weil es eine Begründung für US-Militäreinsätze und mögliche Interventionen in der Region liefert, regionale Akteure wie Japan und Südkorea dazu veranlasst, ihre Verteidigungskapazitäten zu stärken und den Ruf nach der Entwicklung eigener nuklearer Fähigkeiten in diesen Ländern aufkommen lässt – all dies ist den strategischen und sicherheitspolitischen Interessen Chinas abträglich. Beijing bevorzugt daher weiterhin ein schrittweises Vorgehen, einen zweigleisigen Prozess, um sowohl die Denuklearisierung voranzutreiben als auch ein Friedensregime auf der koreanischen Halbinsel zu realisieren. Stabile Beziehung zu Nordkorea China strebt eine Beziehung zu Nordkorea an, die es Beijing ermöglicht, die Stabilität an seiner Grenze zu wahren und die Entwicklungen auf der Halbinsel zu beeinflussen. China betrachtet eine solche Beziehung nicht als unvereinbar mit dem Ziel der Denuklearisierung. Dabei sind sozialistische Solidarität und historische Bindungen für Xi weitaus weniger wichtig als eine berechenbare Beziehung, die es Beijing ermöglicht, seinen Einfluss auf das Regime in Pjöngjang zu wahren. Obwohl der 1961 geschlossene Vertrag über gegenseitigen Beistand 2021 erneuert wurde, bleibt der Status dieses Vertrags unklar. Infolgedessen ist strittig, wie oder ob China Nordkorea in einer Krise tatsächlich militärisch unterstützen würde. China hat auch angedeutet, dass es bei der Reaktion auf Ereignisse in Nordkorea im Einklang mit seinen eigenen Interessen handeln werde. Die staatliche "Global Times" erklärte 2017 in einem Leitartikel, dass China Nordkorea nicht zu Hilfe kommen würde, wenn Pjöngjang Raketen auf amerikanisches Territorium abschießen und Vergeltungsmaßnahmen erleiden würde. Sollte es zu einem Konflikt auf der Halbinsel kommen, wird sich das chinesische Militär möglicherweise nicht zum Schutz des nordkoreanischen Regimes engagieren, sondern primär seine eigenen Interessen schützen und sicherstellen. Einfluss und Prestige China strebt eine Schlüsselrolle bei den Friedensverhandlungen mit Nordkorea an, weil es Einfluss auf die Entwicklung der Lage auf der Halbinsel nehmen will, sowohl in Hinblick auf seine unmittelbaren Sicherheitsinteressen als auch im Rahmen seines breiteren geopolitischen Wettbewerbs mit den USA. Indem China ein wichtiger Akteur in den internationalen Verhandlungen bleibt, kann es einen gewissen Einfluss auf den Prozess behalten. Gleichzeitig möchte China die Nordkoreafrage nutzen, um sein eigenes regionales und internationales Ansehen als Akteur der internationalen Politik zu verbessern, der zur Lösung der dringendsten globalen Probleme beitragen kann. Fazit Die VRC, so lässt sich regelmäßig vernehmen, besitze den Schlüssel zur Lösung der Nuklearfrage auf der koreanischen Halbinsel, da letztlich nur Beijing über den notwendigen politischen Einfluss und entsprechende wirtschaftliche Druckmittel verfüge, um die DVRK zur Aufgabe ihres Nuklearprogramms zu bewegen. Doch trotz historischer ideologischer Bande, einer vertraglichen Allianz und einer mitunter engen wirtschaftlichen Beziehung überdeckt die insbesondere von chinesischer Seite wiederholt bemühte Beschreibung einer "in Blut besiegelten" Beziehung, "so eng wie Lippen und Zähne", oft eine Realität asymmetrischer Abhängigkeit sowie gegenseitigen Misstrauens, Ressentiments und sogar Antipathie. Zweifelsohne besitzt China einen mit keinem anderen Land zu vergleichenden Zugang zu Nordkorea und angesichts der Abhängigkeit Pjöngjangs von chinesischer Wirtschaftshilfe und dem Handel mit China über beispiellose wirtschaftliche Druckmittel. Doch letztlich kann China diese wirtschaftlichen Druckmittel nicht oder nur sehr bedingt politisch einsetzen. Denn auch wenn Beijing das Ziel der Denuklearisierung Nordkoreas mit der internationalen Gemeinschaft teilt, so bleibt die Vermeidung von Chaos und Instabilität sowie die Sicherstellung von Beijings Einfluss auf Nordkorea oberste Priorität. Die Nutzung von Nordkoreas ausgeprägter wirtschaftlicher Abhängigkeit als politisches Druckmittel birgt für Beijing daher die Gefahr, exakt die befürchteten Instabilitäten selbst zu forcieren. China besitzt daher ein strategisches Interesse daran, den nordkoreanischen Staat intakt zu halten, während Pjöngjang auf Beijing als entscheidende Quelle wirtschaftlicher und diplomatischer Unterstützung angewiesen ist. Die Wahrnehmung, dass China den Druck auf Nordkorea erhöhen und politischen Einfluss auf Nordkorea ausüben könne, um Pjöngjang zur Aufgabe seines Nuklearprogramms zu bewegen, entbehrt vor diesem Hintergrund letztlich jeglicher realistischen Grundlage – insbesondere, da sich mit der zunehmenden Rivalität zwischen China und den USA der strategische Wert Nordkoreas jüngst wieder spürbar vergrößert hat. James Person, Chinese-North Korean Relations: Drawing the Right Historical Lessons, 19.10.2017, Externer Link: http://www.wilsoncenter.org/article/chinese-north-korean-relations-drawing-the-right-historical-lessons. Daniel Wertz, China-North Korea Relations, National Comitee on North Korea, Issue Brief, November 2019, Externer Link: http://www.ncnk.org/resources/briefing-papers/all-briefing-papers/china-north-korea-relations. Shen Zhihua/Yafeng Xia, A Misunderstood Friendship. Mao Zedong, Kim Il-Sung, and Sino-North Korean Relations, 1949–1976, New York 2018, S. 240. Don Oberdorfer/Robert Carlin, The Two Koreas. A Contemporary History, New York 2013, S. 463. Vgl. Wertz (Anm. 2); John Power, What Does the Kim Jong-Nam Assassination Mean for China?, 17.2.2017, Externer Link: https://thediplomat.com/2017/02/what-does-the-kim-jong-nam-assassination-mean-for-china. Vgl. United States Institute of Peace (USIP), China‘s Role in North Korea Nuclear and Peace Negotiations, USIP Senior Study Group, Final Report 2/2019, S. 8. Vgl. DengYuwen, China Should Abandon North Korea, 27.2.2013, Externer Link: http://www.ft.com/content/9e2f68b2-7c5c-11e2-99f0-00144feabdc0. Vgl. Ben Frohman/Emma Rafaelof/Alexis Dale-Huang, The China-North Korea Strategic Rift: Background and Implications for the United States, US-China Economic and Security Review Commission, Staff Research Report, 24.1.2022, Externer Link: http://www.uscc.gov/sites/default/files/2022-01/China-North_Korea_Strategic_Rift.pdf. Ministry of Foreign Affairs of the People’s Republic of China, Xi Jinping, Kim Jong Un Hold Talks in Beijing, 19.6.2018, Externer Link: http://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/gjhdq_665435/2675_665437/2767_663538/2769_663542/201806/t20180620_522839.html. Shannon Tiezzi, China Underscores Solidarity with North Korea on Party Anniversary, 14.10.2020, Externer Link: https://thediplomat.com/2020/10/china-underscores-solidarity-with-north-korea-on-party-anniversary. Vgl. Frohman/Rafaelof/Dale-Huang (Anm. 8), S. 13. Vgl. Yonhap News Agency, China’s New Envoy to N. Korea Starts Duty, 4.4.2023, Externer Link: https://en.yna.co.kr/view/AEN20230404010600325. China Has Limited Power, and Perhaps Little Desire, to Curb North Korea, 22.11.2022, Externer Link: http://www.tbsnews.net/worldbiz/china/china-has-limited-power-and-perhaps-little-desire-curb-north-korea-536798. Vgl. zur Rolle Chinas im Verlauf der zweiten Nuklearkrise auch Samuel S. Kim, China’s Conflict-Management Approach to the Nuclear Standoff on the Korean Peninsula, in: Asian Perspective 1/2006, S. 5–38. Vgl. Louis Nelson, China’s State Media: We Won’t Help North Korea if It Attacks, 8.11.2017, Externer Link: http://www.politico.com/story/2017/08/11/will-china-help-north-korea-241524. Vgl. Anny Boc, Does China’s "Alliance Treaty" with North Korea Still Matter?, 26.7.2019, Externer Link: https://thediplomat.com/2019/07/does-chinas-alliance-treaty-with-north-korea-still-matter; Yu-Hua Chen, China and North Korea: Still "Lips and Teeth", 21.7.2018, Externer Link: https://thediplomat.com/2018/07/china-and-north-korea-still-lips-and-teeth.
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Gwijde und Adolf, die mitten unter den Feinden standen, sahen einander hocherfreut an; sie hatten den goldenen Ritter erkannt. Nun hielten sie die Franzosen für verloren; denn auf die Kraft und Erfahrung dieses neuen Kriegers hatten sie das größte Vertrauen. Die Blicke, die sie sich einander zuwarfen, besagten: O, welch ein Glück, da ist der Löwe von Flandern!
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Zentrum für Wissenschaft und Weiterbildung Schloss Hofen (Lochau am Bodensee, Österreich) Donnerstag, 15. Februar 2007 16.00 bis 17:30 Anreise und Registrierung 17:30 Willkommen Gabriele Böheim, Schloss Hofen Begrüßung Petra Grüne (bpb) und Sigrid Steininger (BMBWK) Vorstellung des Programms und der Ziele des Workshops Vorstellungsrunde der Teilnehmenden 18:30 Input Übersetzungsprobleme und ihre Konsequenzen am Beispiel Politische Bildung und Citizenship Education –Ein Problemaufriss Prof. Dr. Wolfgang Sander, Universität Giessen Diskussion 20:00 Abendessen Freitag, 16. Februar 2007 09:00 Einleitung Bestandsaufnahme und Vorstellung des Arbeitspapiers 09:30 Diskussion Grundlagen eines Glossars zu "Citizenship Education" Verständigung auf eine allg. Struktur und Systematik Einteilung der Arbeitsgruppen 11:00 Kaffeepause 11:30 Diskussion der Begriffsauswahl 12:00 Konstituierung der Arbeitsgruppen 13:00 Mittagessen 14:00 bis 16:00 Gruppenarbeit 17:00 Abfahrt zur ehemaligen Synagoge Hohenems 18:00 bis 19:30 Projektpräsentation im Salomon-Sulzer-Saal Dr. Eva Grabherr, Projektstelle "okay. zusammen leben" Dr. Hanno Loewy, Jüdisches Museum Hohenems 19:30 Buffet 21:00 Rückfahrt nach Schloss Hofen Samstag, 17. Februar 2007 10:00 Gruppenarbeit 13:00 Mittagessen 14:30 bis 19:00 Gruppenarbeit 19:30 Abendessen Sonntag, 18. Februar 2007 09:00 Vorstellung der Diskussionsergebnisse 10:00 Lesepause und Austausch der schriftlichen Ergebnisse 11:00 Diskussion Zusammenführung der Ergebnisse Festlegung weiterer Schritte Zeitplan 12:30 Mittagessen anschließend Abreise
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[_Temple's Regierungssystem._] In dieser höchsten Bedrängniß nahm der König seine Zuflucht zu Sir William Temple. Von allen Staatsmännern jener Zeit hatte Temple sich den Ruf eines redlichen Mannes erhalten. Die Tripleallianz war sein Werk, er hatte sich geweigert, an der Politik der Cabale Theil zu nehmen, und so lange dieses Cabinet die Angelegenheiten des Staates leitete, war er in stiller Zurückgezogenheit geblieben. Auf den Ruf Danby's war er aus seiner Einsamkeit hervorgetreten, hatte den Frieden zwischen Holland und England vermittelt, und große Thätigkeit bei dem Zustandebringen der Vermählung der Prinzessin Maria mit ihrem Vetter, dem Prinzen von Oranien, entwickelt. So sah Jedermann in ihm den Schöpfer des wenigen Guten, das die Regierung seit der Restauration vollbracht, und von den vielen Verbrechen und Irrthümern der letzten achtzehn Jahre konnte ihm keines zur Last gelegt werden. Sein Privatleben, wenngleich nicht streng, war anständig, seine Manieren waren volksthümlich, und es war nicht möglich ihn durch Titel oder Geld zu bestechen. Etwas fehlte allerdings an dem Charakter dieses vortrefflichen Staatsmannes: seine Vaterlandsliebe besaß keinen hohen Wärmegrad. Seine persönliche Ruhe und Würde ging ihm über Alles, und er schrak mit kleinmüthiger Furcht vor jeder Verantwortlichkeit zurück. Seine Gewohnheiten waren nicht geeignet, ihn in den Parteikämpfen Englands eine Rolle spielen zu lassen. Er war fünfzig Jahre alt geworden, ohne jemals im Parlamente gesessen zu haben, und seine Geschäftserfahrungen hatte er fast ausschließlich fremden Höfen gesammelt. Man hielt ihn mit Grund für einen der ersten Diplomaten Europa's, aber die Talente und Fertigkeiten eines Diplomaten sind himmelweit verschieden von denjenigen, welche einen Staatsmann befähigen, in aufgeregter Zeit das Haus der Gemeinen zu leiten.
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Journalistinnen und Journalisten, die über den sogenannten NSU-Prozess berichten, stehen vor großen Herausforderungen, betrachtet man einerseits die Anforderungen an eine juristische Prozessberichterstattung, andererseits die bislang häufig stereotype Berichterstattung über das Thema Rechtsextremismus im Allgemeinen. Besonders auffällig sind die in vielen Medien zu Prozessauftakt verwendeten oberflächlichen bis diskriminierenden Wortschöpfungen wie "NSU-Show", "Zschäpe-Braut" oder erneut "Döner-Morde". Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht handelt es sich bei diesen Schlagworten um verbalisierte "Rahmungen" oder "Muster" komplexer Ereignisse (framing), die von den Journalisten in der Nachrichtenproduktion formuliert werden – in der Darstellung des Themas Rechtsextremismus sind diese jedoch kritisch zu hinterfragen. Wie wichtig eine solche Auseinandersetzung hinsichtlich des Themenkomplexes "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) ist, formuliert der Medienwissenschaftler Michael Haller provokativ: "Das Framing deckt sich mit dem Interesse an den Bedingungen, die den Rechtsterrorismus hervorgebracht haben." Nach Bekanntwerden des NSU-Trios ist Raum für journalistische Selbstreflexion notwendig. Denn es stehen Fragen im Raum: danach, wie diese Begrifflichkeiten Geltung erlangen, welche journalistischen Faktoren Einfluss auf die Berichterstattung haben und was Journalisten, die aus dem Gerichtssaal berichten, in der Themenproduktion zum NSU-Prozess beeinflusst. Rechtsextremismus und Justizberichterstattung Vor Bekanntwerden des NSU mangelte es in der medialen Berichterstattung vielfach an Kontinuität und Hintergründen über Strukturen rechtsextremistischer Organisationen sowie über die weite Verbreitung rechtsextremistischer Einstellungen. Doch auch danach wurde (und wird) das Thema Rechtsextremismus in vielen Medienhäusern eher als "Quotenkiller" angesehen, unterliegt es doch bestimmten Aufmerksamkeitsmechanismen: Rechtsextremismus wird als Thema für Redaktionen meist erst dann relevant, wenn von besonders gewalttätigen oder folgenreichen Taten berichtet werden kann, die viele Nachrichtenfaktoren wie "Negativität", "Schaden", "Konflikt" oder "Ereignishaftigkeit" in sich vereinen. Neben den Taten stehen vor allem die Täter im Fokus der bisherigen Berichterstattung. Dabei werden diese häufig dramatisierend, unreflektiert, emotionalisierend oder stereotypisierend als "verrohte, animalische" Gruppe im Kontrast zu "normalen" Menschen dargestellt. Neben diesen Herausforderungen bei der Thematik Rechtsextremismus haben sich die Journalisten den Besonderheiten der Justizberichterstattung zu stellen. Zentrale Aufgabe der Justizberichterstattung ist es, "aktuell, umfassend und möglichst auch regelmäßig über Vorgänge bei den Gerichten zu berichten, die von öffentlichem Interesse sind". Das erfordert die Bereitschaft, sich juristische Kenntnisse anzueignen und mit juristischen Sachverhalten auseinanderzusetzen. Der klassische Gerichtsreporter ist kostspielig, und nur finanzstarke Medienhäuser können sich ein entsprechendes Ressort leisten. Gerichtsverfahren bieten grundsätzlich Raum für unterhaltsame Formen der Berichterstattung, da jedem Prozess eine eigene Dramatik innewohnt. Diese ergibt sich zum einen daraus, dass viele Verfahren als "Kampf der Prozessparteien um ihr Recht" verstanden werden können – zum anderen daraus, dass die Beweisaufnahme in einem Strafverfahren einem Prozess der schrittweisen Aufdeckung von Wahrheit (mit überraschenden Wendungen) gleiche. Bei der Auswahl von Prozessen und Themen setzen Journalisten demnach eher auf "gefällige Themen" als auf schwierige und spröde Materien. Der Zwang zur Selektion und die Rücksichtnahme auf Bedürfnisse des Publikums sind Rahmenbedingungen, die die Arbeit von Gerichtsreporterinnen und -reportern prägen. Nicht ohne Grund wird daher vonseiten der Justiz neben der Konzentration der Medien auf sensationsreiche Aspekte, die die juristische Substanz in den Hintergrund treten lassen, regelmäßig auch die fehlende fachliche Qualifikation der Berichterstatter kritisiert. Sind dies die Gründe, warum der NSU-Prozess mit Begriffen wie "NSU-Show" oder "Nazi-Braut" verbunden wurde? Wie kommt es zu diesen oberflächlichen Sprachmustern eines so komplexen Prozesses, der doch als Anstoß für eine gesellschaftliche, juristische oder politische Aufarbeitung des NSU gesehen werden kann? Raum für Beobachtung Der Sitzungssaal A 101 des Münchner Strafjustizzentrums in der Nymphenburger Straße 16 ist ein kleiner, beengter Raum ohne direktes Tageslicht. Von der Zuschauerempore, die Platz für insgesamt 100 Journalisten und Besucher bietet, schaut der Beobachter hinab auf die Ebene der Verfahrensbeteiligten. Seit mehr als 200 Prozesstagen sitzt dort die Hauptangeklagte Beate Zschäpe unter anderem wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Um sie herum befinden sich viele weitere Prozessteilnehmer: der Vorsitzende Richter Manfred Götzl und sieben beisitzende Richter des 6. Strafsenats, drei Vertreter der Bundesanwaltschaft, vier Verteidiger der Hauptangeklagten, vier weitere Angeklagte mit ihren jeweils zwei Verteidigern, 77 Nebenkläger und 53 Nebenklagevertreter, Sachverständige, Justizbeamte und die geladenen Zeugen. Die Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Carsten S., André E. und Holger G. sind der Beihilfe zum Raub, Mord und der Unterstützung der terroristischen Vereinigung NSU beschuldigt. Die Anklageschrift umfasst knapp 500 Seiten, die entsprechenden Ermittlungsakten füllen 700 Ordner, von denen eine Auswahl sichtbar sortiert hinter dem Richter und dem Senat in zwei großen Regalen steht. Kurz vor Sitzungsbeginn sind neben Tastaturgeräuschen viele unterschiedliche Fragen aus den Gesprächen auf der Tribüne zu vernehmen: Wo genau sitzen die Angeklagten? Wird Beate Zschäpe heute reden? Welche Bedeutung hat der Zeuge, und wird er überhaupt aussagen? Die Justizbeamten auf der Zuschauertribüne sorgen für Sicherheit: Weder Zuschauer noch Journalisten dürfen zu nah an die Glasscheibe der Tribüne heran oder einen Blick auf die Materialien der Prozessbeteiligten werfen. Fragen oder unangemessenes Verhalten sind untersagt. Raum für Selbstreflexion Welche Einflüsse dominieren die Berichterstattung im NSU-Prozess aus Sicht der Journalisten, und worin sehen diese ihre Aufgabe? Gespräche mit den Berichterstattern liefern Einblicke in ihre Arbeitsweise und ihr Selbstverständnis. Die meisten Journalisten, die aus dem Gerichtssaal berichten, verstehen sich als sachliche Übersetzer und Aufklärer, wie Kai Mudra von der "Thüringer Allgemeinen" bestätigt: Er wolle seinen Leserinnen und Lesern erklären, "wie so ein Strafprozess funktioniert und wo möglicherweise die Grenzen eines Strafprozesses liegen". Die Gerichtsreporterin Karin Truscheit von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) sieht ihre Arbeit außerdem darin, "beim Prozess Dinge zu erklären, die nicht unbedingt zu unserer Lebenswirklichkeit gehören". Gerade nach der Kritik über die Berichterstattung vor Bekanntwerden des NSU findet laut ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt "eine Art Selbstreflexion statt. Denn nachdem wir selbst zehn Jahre falsch gelegen haben, ist unsere Aufgabe jetzt zu helfen, zu erklären und aufzuklären, was da vor Gericht in München passiert". Eine weitere Priorität vieler Journalisten liegt darin, eine "neutrale Berichterstattung zu gewährleisten" und sich mit der eigenen Meinung zurückzuhalten. Auch wenn einige Journalisten persönlich von den Informationen, Bildern und Geschehnissen im Gerichtssaal "erschüttert" sind, steht das "professionelle Arbeiten" im Vordergrund. Nur so könnten sie in der Berichterstattung den Opfern und den Angehörigen gerecht werden. Anhand zahlreicher weiterer Aussagen der Reporter kann bestätigt werden, dass die objektive Berichterstattung zwar ein wichtiger Anspruch ist, eine subjektive Beeinflussung aber nicht von der Hand gewiesen werden kann. Einen der stärksten Einflüsse auf die Journalisten übt die "Medienroutine" aus. Vor dem Hintergrund, dass der NSU-Prozess bereits seit mehr als zwei Jahren läuft, bestätigen einige Journalisten eine sinkende Nachfrage nach der Berichterstattung, dennoch betont Schmidt: "Verglichen mit anderen großen Terrorismusprozessen der letzten zwölf Jahre ist es außergewöhnlich viel, leuchtturmartig, wie sich die Medien mit diesem Prozess beschäftigen. Das hat natürlich mit der Dimension zu tun: Zehn Morde, die lange Zeit im Untergrund und die gesellschaftliche Betroffenheit, über das, was passiert ist." Truscheit bestätigt, dass es eine Tendenz gibt, vermehrt auf tägliche Meldungen oder Nachrichten zugunsten der leserorientierten Aufbereitung zu verzichten: "Wenn beispielsweise ein neues Beweisthema behandelt wird, wie zum Beispiel der Anschlag in der Kölner Keupstraße als eigenständiger Komplex, sammle ich eher zwei Prozesswochen und versuche es dann in einem größeren Überblicksartikel näher zu bringen. Das ist für die Leser nachvollziehbarer, als wenn wir nur Details aufgreifen, die ja angesichts der Fülle von behandelten Themen für Außenstehende mittlerweile sehr schwer einzuordnen sind." Einige Journalisten resümieren, dass inhaltlich bisher alle Anklagepunkte angesprochen wurden, sei es durch Sach- oder Zeugenbeweise, und daher die Themen für die Leser, Zuschauerinnen und Zuhörer weniger Neuigkeitswert haben. Daher seien laut Tanjev Schultz, Redakteur und Reporter der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), vor allen Dingen "die Nuancen vor Gericht interessant: Wie gestaltet sich das denn vor Gericht? Wie stellt sich der Zeuge dar? Was sind seine Worte? Das ist ja in dem Sinne ‚neu‘." Raum für "Skandälchen"? Durch die Fokussierung auf die Hauptangeklagte neigten viele Medien zu Prozessbeginn zu einer reduzierten, oberflächlichen Berichterstattung "bei der sich die Journalisten am Anfang mehr mit der Haarfarbe und der Bekleidung von Frau Zschäpe beschäftigt haben", so Alexander Hoffmann, ein Vertreter der Nebenkläger. "Da springt die Presse auf bestimmte Beobachtungen, die vielleicht Skandälchen versprechen." Eine mögliche Erklärung dafür liefert FAZ-Reporterin Truscheit, die erläutert, dass dieses Verhalten journalistischer Bestandteil jedes Gerichtsverfahrens sei: "Je nachdem wie die Angeklagten auftreten, hat das ja mit ihrem Selbstverständnis zu tun und charakterisiert die Personen, wie sie wahrgenommen werden möchten. Beschreibungen gehören hier einfach dazu." Tom Sundermann, freier Redakteur von "Zeit Online", erklärt den Fokus auf die Hauptangeklagte wie folgt: "Artikel, in denen Zschäpe im Mittelpunkt steht, verkaufen sich gut. Die Faszination des angeblich Bösen, konzentriert in der meist entspannt zurückgelehnten Angeklagten, wirkt. Auch ich schreibe gerne Zschäpe-Geschichten. Warum? Erstens, weil die Leser es goutieren. Zweitens, weil sie es ist, für die das Ermittlerversagen und die Hilfeleistungen mutmaßlicher Unterstützer letztlich relevant ist." ARD-Journalist Schmidt sieht einen weiteren wichtigen Grund: "Neben der kriminalistischen Beschäftigung sorgt beim Publikum vor Ort die schillernde Figur der Beate Zschäpe für viel Gesprächsstoff. Bei der man sich fragt, was hat die Frau an, warum schweigt diese Frau noch, wie verhält sich diese Frau? Das sind Faktoren, weswegen man sich immer noch mit dem NSU-Prozess beschäftigt." Die Schwierigkeit, die in diesem Personalisierungsmechanismus liegt, kommentiert der SZ-Journalist Hans Leyendecker so: "Weit größer ist jedoch die Gefahr, dass die Medien den Prozess selbst als große Show inszenieren. Und darüber die brisanten Skandale, die in den Untersuchungsausschüssen aufblitzen, durch die Fixierung auf Zschäpe komplett ignorieren." Nebenklagevertreter Hoffmann ergänzt: "Nur bei einem geringen Teil der Presse ist das tatsächliche Bemühen vorhanden, systematisch die verschiedenen Facetten des eigentlichen Skandals aufzuarbeiten." Die Medienwissenschaftlerin Tanja Thomas nennt einige Positivbeispiele wie den NSU-Prozess-Blog von der "Zeit" oder etwa die Berichterstattung in der SZ. Zudem erwähnt sie den Blog "NSU-Watch": "Es gibt auch Initiativen, die genauer hinsehen und Öffentlichkeit erzeugen können. Wenn man detaillierte Berichterstattung haben will, findet man diese auch." "Thüringer Allgemeine"-Redakteur Mudra verweist auf weitere Beispiele wie die bereits 2000 gegründete Initiative "Gesicht zeigen", "die genau die Gegenrichtung gegangen ist und auch auf solche Probleme aufmerksam gemacht hat". Die Kritik der stereotypen Berichterstattung, die besonders vor Bekanntwerden des NSU bezogen auf den Umgang mit den Angehörigen von Opfern laut wurde oder sich während des NSU-Prozesses in Charakterisierungen der Prozess-Akteure wiederfinden, kann SZ-Redakteur Schultz teilweise nachvollziehen: "Mit dem Ziel, dass man Stereotype sucht, wird man auch fündig in der Presse. Denn Journalismus funktioniert mit Kategorien, in denen gearbeitet wird, die dann mehr oder weniger differenziert sind. Das ist die Schwierigkeit, wenn man Zeugen beschreiben muss, die mit martialischen Tattoos und Springerstiefeln vor Gericht erscheinen." Holger Schmidt meint dazu: "Die Verwendung von Stereotypen durch uns Journalisten stimmt ganz sicher. Die Denkweise von allen Beteiligten ist kanalisiert, eben auch bei Journalisten, die vielleicht sogar auf einer kriminalistisch gerechtfertigten Erwartungshaltung aus der damaligen Zeit basiert und zu wissen glaubt, wohin der Hase läuft. Dennoch glaube ich, dass diese Stereotypenverwendung eher ein Fall für Kollegen ist, die nicht so häufig im Prozess sind, und diejenigen, die eher gesamtbetrachtend berichten, im Gegensatz zu unserer Berichterstattung vor Ort, die ja sehr chronistisch für den jeweiligen Tag angelegt ist und das Tagesgeschehen herausstreicht." Eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Stereotypen erklärt Kai Mudra: "Um Stereotype zu vermeiden, wird Recherche vorausgesetzt. Wenn Sie die Zeit und die Möglichkeiten für Recherche haben, werden sie auch keine Stereotypen verwenden, weil sich ein Journalist dann mit dem Thema beschäftigt hat und im Detail erklären kann, was er eigentlich meint. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist es aber relativ einfach, das fehlende Recherchewissen mit Stereotypen abzudecken. Das ist immer eine ganz schwierige Sache." Recherche als Luxus Recherchearbeit kostet die Medienhäuser Zeit und Geld. Den Eindruck abnehmender Investitionsbereitschaft für die Recherchetätigkeiten bestätigte auch ein weiterer befragter Journalist, während andere von einer großen (finanziellen) Unterstützung für Recherchereisen berichteten. Eine kontinuierliche Berichterstattung gilt bei einigen Befragten als Luxus für Journalisten und Medienorganisationen, der aber notwendig sei, weil durch die Unregelmäßigkeit in der Anwesenheit beziehungsweise der Ad-hoc-Berichterstattung sonst Probleme in der journalistischen Prozessdarstellung entstünden. Eines dieser Probleme nennt die Mediensoziologin Tanja Thomas, die sich bei ihren Recherchearbeiten und Gesprächen mit Journalisten auch mit der Frage der journalistischen Ausbildung beschäftigt hat: "Wir haben auch sehr junge Journalistinnen und Journalisten gesprochen, die uns geschildert haben, dass angesichts von Zeitdruck und finanziellen Restriktionen in den Redaktionen ganz viel Learning by Doing passiert. Es ist kaum möglich, über die Aufbereitung von Themen wie den NSU zu diskutieren oder sich mit erfahrenen Kollegen auszutauschen. Dann bleibt das eben auf der Strecke, und die Jüngeren sind auf individuelle Lern- und Auseinandersetzungsbereitschaft verwiesen." Ein weiteres Problem unterstreicht Kai Mudra: "Das Zeitungsgeschäft ist ein kommerzielles Geschäft, und im Gegensatz zu einigen Fernsehanstalten, die zusätzlich noch von Gebühren leben, müssen Zeitungen jeden Tag ihre Ausgaben verkaufen und sicherstellen, dass sie das am darauffolgenden Tag noch tun können. Dieser Kostendruck und die zunehmende Konkurrenz digitaler Medien kann dazu führen, dass sich auch die Arbeitsbedingungen verschlechtern, dass eben nicht mehr drei Tage Zeit zur umfassenden Recherche eines Beitrages bleiben, sondern dass manchmal in kürzester Zeit ein Text für die nächste Ausgabe geschrieben werden muss, der trotzdem lesbar ist und im Internet geklickt wird." Soziologin Thomas ergänzt, dass journalistische Arbeit aufgrund knapper Ressourcen immer schwieriger werde und Medienkritik grundsätzlich nicht allein in Appelle an das individuelle Handeln einzelner Journalisten münden dürfe. Sie müsse an anderen Ebenen ansetzen. Dazu gebe es beispielsweise Kontrollinstanzen wie den Deutschen Presserat, der Redaktionen Empfehlungen für einen fairen Journalismus liefert. SZ-Reporter Schultz erklärt es als Besonderheit, dass die journalistische Form "oft zu etwas führt, was mindestens wie eine Vorverurteilung aussieht oder auch als solche wahrgenommen wird". Auch wenn sehr viele Indizien für eine mögliche Schuld der Angeklagten sprächen, gelte es, diese Vermutung nicht als gesetzt zu formulieren. Institution Gericht Die Institution Gericht ist eine große Herausforderung für die berichtenden Journalisten, wie Nebenklageanwalt Hoffmann bestätigt: "Ich sehe nach wie vor sehr große Probleme in der Berichterstattung, die sich zum Teil nicht lösen lassen. Das liegt an der Komplexität des Prozesses; auch die Form, wie der Vorsitzende den Prozess führt, kann für die Presse problematisch sein. Der Vorsitzende muss eben seinen Prozess führen und seine Anklagepunkte abarbeiten und nicht in erster Linie die Interessen der Öffentlichkeit bedienen. Aber so wie das im Moment aufgebaut ist, ist es sehr schwierig, dem Prozess als Ganzes zu folgen, weil eben überwiegend zwischen Themen sehr viel gesprungen wird, weil die Liste mit den Zeugen nicht tatsächlich nach Themen aufgebaut war, weil es auch sehr schwierig ist, alle Zeugen zum richtigen Zeitpunkt zu laden. Für die Presse entsteht dadurch ein Riesenproblem, dass das insgesamt sehr unübersichtlich ist." Das bestätigt auch Karin Truscheit von der FAZ, die ihre Anwesenheit zum Beispiel von der Zeugenliste des Gerichtes abhängig macht: "In der Redaktion entscheidet man gemeinsam, ob man dieses oder jenes schon inhaltlich breit behandelt hat oder ob das ein ganz neuer Aspekt ist, den man noch mal herausarbeiten müsste." Für Mudra ist der NSU-Prozess als journalistische Quelle eine "Fundgrube", "weil Sie dort vieles erfahren wie zum Beispiel die Sicht der Angeklagten oder Zeugen und wie Ermittlungen gelaufen sind. Punkte, die Sie sonst überhaupt nicht erfahren würden – oder nur durch schwierige, intensive Recherche. An einige Personen, die als Zeugen aussagen, wäre im normalen Leben zudem nur schwer ranzukommen, selbst als Journalist. In einem Prozess aber müssen diese als Zeugen Angaben machen, die Sie Ihnen gegenüber sicherlich verweigern würden." Die unterschiedlichen Interessen von Prozessbeteiligten sind weitere große Einflussfaktoren für Journalisten: Dies birgt die Gefahr einer möglichen Instrumentalisierung, derer sich die Journalisten in der Themenaufbereitung stets bewusst sein sollten, und stellt sie weiterhin vor die Herausforderung, sich von den gesammelten Informationen zu distanzieren und sich ein eigenes Bild zu machen. Die Konsequenz daraus ist, dass Journalisten in ihrer Recherchearbeit öffentliche Institutionen wie (Strafermittlungs-)Behörden, Polizei oder Justiz wie jede andere Quelle behandeln und deren Aussagen nicht unhinterfragt übernehmen sollten, so wie es in der Berichterstattung über die Mordserie des NSU vor seinem Bekanntwerden allzu häufig geschehen ist. Truscheit schlussfolgert daraus: "Wir müssen die Energie aufbringen und alle Informationen gegenchecken. Denn das Plausible ist nicht immer unbedingt das Wahre." Tanjev Schultz spricht von erhöhter Sensibilität für die Angaben der Behörden und mahnt mehr Misstrauen beziehungsweise Vorsicht an: "Wir müssen uns auch immer die Fakten vergegenwärtigen und schauen, wo offene Fragen sind und wo nicht. Dabei ist es wichtig, in alle Richtungen zu schauen und nicht blind den Ermittlern zu folgen, aber auch nicht blind irgendjemand anderem." Schlussfolgerungen Die Reflexion der Journalisten und ihre sensibilisierten Einstellungen im Umgang mit den Angehörigen der Opfer zeigen, dass aus den teilweise diskriminierenden Sprachmustern der ersten NSU-Prozesswochen gelernt wurde. Wenngleich Leser mangelnde Selbstreflexion seitens der Journalisten weiterhin vermuten mögen, so ist die Kritik offenbar eher den Mechanismen der Medienproduktion geschuldet. Einerseits lässt der Mangel an Ressourcen kaum Spielraum für eine Aufarbeitung der Hintergründe. Andererseits schreiben Journalisten auch immer im Hinblick auf die Erwartungshaltung ihrer Leser. Insofern ist die "NSU-Show" auch ein gesellschaftliches Spektakel, für das die Leser Eintritt bezahlen. Es scheint, als lasse das Wechselspiel zwischen Medienproduktion und -konsum kaum Energie für eine tiefere gesellschaftliche, juristische oder politische Aufarbeitung des NSU. Für die meisten Journalisten, die aus dem Gerichtssaal berichten, ist ihre Tätigkeit auch eine moralische Verpflichtung – trotz der Langwierigkeit des Verfahrens und der gesellschaftlichen Scham ob ihrer "quotenkillenden" Berichterstattung. Es sei ein Verdienst des Prozesses, "dass inzwischen die Angehörigen der Opfer zu Wort kommen und auch deutlich machen können, wie sie selber unter der Art der Polizeiermittlungen, aber auch unter der Berichterstattung gelitten haben", betont Kai Mudra. "Grundsätzlich gibt es in unserer Branche so ein Einsehen, dass einiges schief gelaufen ist in der Berichterstattung. Grundsätzlich sollte das Bedürfnis der Medien, auch die eigene Rolle mit aufzuklären, da sein. Das betrifft aber letztlich auch die gesamte Gesellschaft", fasst Tanjev Schultz zusammen. Vgl. Nanett Bier, Media Reporting About Right-Wing Terror – A Content Comparison Between German and Norwegian Leading Newspapers, Forskningsrådet 2013. Vgl. Elke Grittmann/Tanja Thomas/Fabian Virchow, Das Unwort erklärt die Untat, OBS-Arbeitsheft 79/2015, Externer Link: http://www.otto-brenner-shop.de/publikationen/obs-arbeitshefte/shop/das-unwort-erklaert-die-untat-ah79.html (18.9.2015). Michael Haller, Rechtsterrorismus in den Medien, Berlin 2013, S. 21. Vgl. Hauke Hartmann, Rechtsextremismus und Medien – Informieren statt Moralisieren. Zur Notwendigkeit einer verbesserten Berichterstattung über Rechtsextremismus, in: Regiestelle E&C der Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin (Hrsg.), Ideologie und Strategien des Rechtsextremismus – Wie geht man als Journalist/in damit um? Dokumentation des Werkstattgesprächs am 8. Mai 2006 in Berlin, S. 14–25. Andrea Röpke zit. nach: Anne Haeming, Rechts im Blick, Interview mit Andrea Röpke, in: Medium Magazin, (2012) 3, S. 16–19, hier: S. 18 Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Johanna Habermeier, The Impact of Key Events on the Presentation of Reality, in: European Journal of Communication, (1995) 10, S. 371–390; Bertram Scheufele/Hans-Bernd Brosius, The Frame Remains the Same?, in: Rundfunk und Fernsehen, (1999) 47, S. 409–432; Britta Schellenberg, Die Rechtsextremismus-Debatte. Charakteristika, Konflikte und ihre Folgen, Wiesbaden 2014. Vgl. B. Schellenberg (Anm. 6), S. 257. Frauke Höbermann, Publizistischer Auftrag und journalistisches Selbstverständnis, in: Holger Weimann/Norbert Leppert/Frauke Höbermann, Gerichtsreporter. Praxis der Berichterstattung, Berlin 2005, S. 22. Vgl. Udo Branahl, Justizberichterstattung, Wiesbaden 2005, S. 109. Vgl. F. Höbermann (Anm. 8), S. 30. Vgl. Sabine Gerasch, Prozeßwirklichkeit und Gerichtsberichterstattung, München 1995, S. 27. Vgl. Christian von Coelln, Zur Medienöffentlichkeit der Dritten Gewalt. Rechtliche Aspekte des Zugangs der Medien zur Rechtsprechung im Verfassungsstaat des Grundgesetzes, Tübingen 2005, S. 203. Vgl. Strafverfahren gegen Beate Z. u.a. wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung u.a. (NSU), Pressemitteilung des Oberlandesgerichts München, 12.4.2013, Externer Link: http://www.justiz.bayern.de/gericht/olg/m/presse/archiv/2013/03918/index.php (18.9.2015). Vgl. Bundesanwaltschaft erhebt Anklage im "NSU"-Verfahren, Pressemitteilung des Generalbundesanwalts, 8.11.2012, Externer Link: http://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=460 (18.9.2015). Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Hintergrund aktuell: Vor dem NSU-Prozess, 15.4.2013, Externer Link: http://www.bpb.de/158006 (18.9.2015). Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen die wörtlichen Zitate aus Gesprächen mit der Autorin, die im April und Mai 2015 geführt wurden. Vgl. E. Grittmann/T. Thomas/F. Virchow (Anm. 2), S. 55–65. Tom Sundermann, Frau Zschäpe und ich, in: Journalist, (2015) 5, S. 24–27, hier: S. 25f. Zit. nach: Michael Kraske, Der Monsterprozess, in: Journalist, (2013) 5, S. 80–84, hier: S. 84. Vgl. E. Grittmann/T. Thomas/F. Virchow (Anm. 2), S. 10. Vgl. Astrid Hansen, Journalistische Charakterisierung der Akteure im "NSU"-Prozess, Frankfurt/M. 2015, S. 79ff. Vgl. E. Grittmann/T. Thomas/F. Virchow (Anm. 2), S. 10. Vgl. ebd. S. 57f.
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Wahl im Irak: Sadr-Anhänger feiern Sieg in Bagdad Der Geistliche Muqtada al-Sadr ist laut ersten Ergebnissen klarer Wahlsieger. Einst bekämpfte er US-Truppen, heute gibt er sich als Reformer. Der schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr zeigt seinen tinteverschmierten Finger nach Stimmabgabe Foto: Anmar Khalil/dpa BAGDAD dpa | Der schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr wird mit seiner Strömung im irakischen Parlament ersten Ergebnissen zufolge stärkste Kraft. Seine Anhänger feierten den Wahlsieg in der Nacht zu Dienstag auf den Straßen. Zahlreiche Menschen fuhren in Autokorsos mit Hupkonzerten durch die Hauptstadt Bagdad, viele von ihnen schwenkten Irak-Fahnen. Nach vorläufigen Ergebnissen der Wahlkommission erreichte al-Sadrs Strömung bei der Parlamentswahl am Sonntag die meisten Stimmen für das Abgeordnetenhaus. Al-Sadr beanspruchte den Sieg am Montagabend für sich. In einer Fernsehansprache warnte Al-Sadr andere Staaten, sich in die Regierungsbildung einzumischen. Zugleich sagte er der Korruption den Kampf an. Al-Sadrs Strömung war bereits bei der Parlamentswahl 2018 stärkste Kraft geworden. Deutliche Einbußen muss nach den vorläufigen Ergebnissen die damals zweitplatzierte Fatah-Koalition hinnehmen. Sie ist mit den schiitischen Milizen verbunden und wird vom Iran unterstützt. Fatah könnte mehr als die Hälfte ihrer Sitze verlieren. Al-Sadr braucht Partner Ministerpräsident Mustafa al-Kasimi hatte die Abstimmung nach Massenprotesten gegen die politische Führung des Landes um mehrere Monate vorgezogen. Die im Oktober 2019 ausgebrochenen Demonstrationen richteten sich unter anderem gegen die Korruption, die schwache Wirtschaftslage und die schlechte Infrastruktur. In dem Land sind Zellen der IS-Terrormiliz weiter aktiv. Die Extremisten hatten 2014 große Gebiete im Norden und Westen des Landes überrannt. Al-Sadrs Bewegung warb im Wahlkampf für Reformen. Sie ist jedoch Teil der politischen Elite, die viele Iraker für die Missstände im Land verantwortlich machen. Das Misstrauen in die Politik zeigte sich auch bei der Wahlbeteiligung, die bei der Abstimmung auf ein Rekordtief von rund 41 Prozent sank. Beobachter sahen darin ein deutliches Zeichen für den Frust vieler Iraker über die politischen Zustände. Anhänger der Protestbewegung hatten zum Boykott der Wahl aufgerufen. Sie erwarten innerhalb des bestehenden politischen Systems keine Änderung der Machtverhältnisse. Das heutige System war nach dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein 2003 errichtet worden. Al-Sadr, der selbst nicht kandidierte, hatte vor der Wahl Anspruch auf das Amt des Regierungschefs für ein Mitglied seiner Bewegung erhoben. Ob er das durchsetzen kann, ist unklar. Für eine Mehrheit im Parlament braucht er Bündnispartner. Auch die USA und der Iran haben Einfluss auf die Regierungsbildung. Regierungschef Al-Kasimi werden als Kompromisskandidat Chancen auf eine weitere Amtsperiode eingeräumt. Er genießt im Westen hohes Ansehen, trat bei der Wahl aber selbst nicht an und verfügt deswegen über keine Hausmacht. 250.000 Sicherheitskräfte im Einsatz Der 47 Jahre alte al-Sadr gilt als kontroverse Figur. Nach Saddam Husseins Sturz bekämpfte seine Mahdi-Armee die US-Truppen. Heute gibt er sich gemäßigter und tritt in einer Mischung aus Nationalist und Populist auf. Seine Anhänger leben vor allem in den ärmeren Vierteln Bagdads und anderer Städte. Der Wahlsieg ist auch auf Al-Sadrs Fähigkeit zurückzuführen, sie mobilisieren zu können. Die Abstimmung verlief insgesamt ruhig. Nach Angaben der Militärführung waren mehr als 250.000 Sicherheitskräfte im Einsatz, um Zwischenfälle zu verhindern. Insgesamt waren rund 25 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen. Auch wirtschaftlich ist das Land unter Druck. Der Irak hängt stark vom Öl ab und hat unter den niedrigen Ölpreisen während der Coronapandemie gelitten. Vor allem junge Iraker klagen über Arbeitslosigkeit und mangelnde Chancen auf ein besseres Leben.
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Präsidentenwahl in Kenia: Ein angekündigter Sieg Der Wahlsieg von Präsident Kenyatta scheint ausgemacht. Die kenianische Menschenrechtskommission und die Opposition zweifeln ihn an. Staatsmacht vs. Demonstrantin im Slum Kawangware, Nairobi Foto: ap NAIROBI taz | Den ganzen Freitag wurde Kenia auf die Folter gespannt. Mehrere Termine zur Verkündung des Endergebnisses der Präsidentenwahl vom 8. August kamen und gingen. Der Abgleich der veröffentlichten elektronischen Ergebnisse mit den Ergebnisprotokollen der 290 Wahlkreise verlief quälend langsam. Am späten Nachmittag, als die Wahlkommission nach eigenen Angaben nur noch zwei Wahlkreise durcharbeiten musste, verließ Oppositionsführer Raila Odinga ohne Statement das Konferenzzentrum Bomas of Kenya in Nairobi, wo sich Diplomaten aus aller Welt, Politiker aller Parteien und Wahlbeobachter, darunter mehrere afrikanische Expräsidenten, tummelten. Die Autokolonne von Präsident Uhuru Kenyatta war da bereits unterwegs – in die Zentrale seiner Jubilee-Partei. Der Präsident winkte siegesgewiss auf der Stadtautobahn in der Abenddämmerung aus dem Autodach. Seine Anhänger jubeln bei jeder Gelegenheit. Präsident Kenyattas Vorsprung in den von der Wahlkommission veröffentlichten Teilergebnissen hat sich beständig gehalten – zuletzt waren es 54,2 Prozent für Kenyatta gegenüber 44,9 Prozent für Odinga. Am Abend verzögerte sich das Ergebnis weiter. Die Opposition unter Raila Odinga hatte schon am Mittwoch behauptet, dass das Computersystem der Wahlkommission gehackt wurde und dass mit den Protokollen der Wahllokale geschummelt worden ist – eine erhebliche Anzahl davon sei gar nicht vorhanden. Krawalle in mehreren Vierteln Auch die kenianische Menschenrechtskommission (KHRC) hat Bedenken. „Es besteht kein Vertrauen in die Wahlkommission, dass sie genaue Ergebnisse produziert hat, wie es die Verfassung verlangt“, schreibt die Organisation in einer Erklärung und ruft zur Ruhe auf. Kenias Menschenrechtskommission„Es besteht kein Vertrauen in die Wahlkommission“ Am Abend fanden Treffen zwischen der Wahlkommission und Vertretern der Parteien statt, um die Reaktionen auf das Wahlergebnis eindämmen zu können. Die Angst vor massiver Gewalt durch enttäuschte Oppositionsanhänger hatte die Spannungen in den letzten Tagen gesteigert, vor allem als das Oppositionsbündnis Nasa (Nationale Super-Allianz) Odinga aufgrund eigener Parallelauszählungen zum Sieger erklärte. Zu Kra­wallen kam es in mehreren Armenvierteln von Nairobi, auch in der westlichen Stadt Kisumu, Odingas Hochburg. Es gab mehrere Tote bei Auseinan­dersetzungen mit der Polizei. Die nächsten fünf Jahre unter Präsident Uhuru Kenyatta werden wahrscheinlich eine Fortsetzung seiner ersten Amtszeit: riesige Infrastrukturprojekte, finanziert durch Schulden vor allem bei China, dass die meisten Projekte realisiert; ein Wachstum von jährlich rund 6 Prozent im, von dem der Mehrheit der Bevölkerung nur wenig zugutekommt; und eine weiter wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Die Frage ist, ob Kenyatta in seiner nächsten Amtszeit etwas tun wird gegen die ständig stärker um sich greifende Korruption. Darüber regen Kenianer sich immer mehr auf. Der kenianische Antikorruptionsexperte John Githongo sagt: „Es war noch nie so schlimm. Es ist wie Nigeria, aber ohne Öl.“ taz.am wochenendeNach einem Jahr kehrt die Ex-Austauschschülerin Paulina Unfried zurück nach Minnesota. In der taz.am wochenende vom 12./13. August lesen Sie, ob für die Leute dort mit ihrem Wunschpräsidenten Donald Trump nun alles great geworden ist. Außerdem: Eine Reportage aus Sizilien, wo Flüchtlinge ohne Asyl als Wanderarbeiter*innen schuften. Und eine Odyssee des Liebemachens: Wie schwierig im Alter von 60 Jahren doch das Dating geworden ist. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und nachdem diese Wahl die politische Polarisierung des Landes nicht verringert hat, stellt sich jetzt auch schon die Frage nach den nächsten Wahlen. Kenyatta und seine Jubilee-Partei konnten gewinnen, weil sie auf die Stimmen der größten Volksgruppe der Kikuyu zählen konnten, aus der Kenyatta stammt, sowie der Kalenjin, zu denen Vizepräsident William Ruto gehört. Als die beiden sich vor den Wahlen 2013 verbündeten, gab es eine Abmachung: Zweimal stimmen beide Gruppen für Kenyatta als Präsidenten – 2022 ist dann Ruto an der Reihe. Aber der ambitionierte Ruto ist unter den Kikuyu wenig beliebt. „Wir wollen keinen Ruto“, bekam er im Wahlkampf zu hören, wenn er in Kikuyu-Gebieten auftrat. Kann die Wahlal­lianz Kenyatta-Ruto halten? Davon hängt ab jetzt die politische Zukunft Kenias ab.
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Tief und senkrecht aus dem Meere heraus bauen die Polypen ihre Häuser von Stein, und erst, indem sie durch eigne oder durch unterirdische Kräfte gehoben, bis nahe an die Oberfläche des Meeres gelangen, bildet sich das Riff aus. Die Brandung reisst an der senkrechten Wand Korallentrümmer ab, die bei niedrigem Wasserstande über den Rand des sich an die Küste anlehnenden Walles von Korallen hinaufgeworfen werden; solche abgestorbene Trümmer vereinigen sich miteinander durch Sand, und allmählig erhöht sich so der Rand des Riffes selbst über die höchste Fluthlinie. Nun bezeichnet eine beständige Linie weisser schäumender Wellen, sogenannter "Brecher", den Rand des Aussenriffes, welches sich bald eng an die Küsten anschmiegt und mit völliger Treue die Umrisse des Landes wiederholt, bald auch auf untermeerischen Rücken fortlaufend weit in den Ocean vorspringende Riffzungen bildet. Solche austretende Riffe finden sich vorzüglich an den Küsten, welche dem offenen Meere zugewandt sind; denn hier hat die constante Wirkung der herrschenden Winde und Meeresströmungen gar häufig Stücke des Landes abgelöst und zerstört, deren untermeerische Grundfelsen dann den günstigen Boden zur Ausbildung der Korallenriffe boten. Anders bilden sich Riffe aus in stillen Buchten und in den engen Strassen zwischen den Inseln. Die bald constanten, bald sehr wechselnden Strömungen der Luft; die durch Ebbe und Fluth hervorgerufenen und die partiellen vom nordpacifischen Aequatorialstrom abgeleiteten Ströme, wie sie zu den Strassen von Surigao und S. Bernardino hereindringen; die wechselnde Höhe der Fluth und der Sturmfluthen; Gestalt und geognostische Beschaffenheit der Küsten; chemische Constitution des Meerwassers und mechanisch beigemengte Sandtheilchen;--alle diese sind in Verbindung mit der säcularen Hebung der Inseln eben so viele Einflüsse, denen der zarte Organismus der Korallen gehorchen muss [1] und denen das von diesen aufgeführte Gebäude, das Riff, seine Form verdankt. Ehe wir uns aber diese in einem Beispiele etwas näher ansehen, wollen wir die Thiere bei ihrem nie unterbrochenen Baue beobachten.
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ARD-Spielfilm „Lotte am Bauhaus“: Ab in die Weberei! Ein ARD-Spielfilm und eine Dokumentation erzählen das Bauhaus einmal aus der Sicht einer jungen Frau. Aber was heißt hier „einmal“?! Lotte (Alicia von Rittberg) arbeitet in der Werkstatt vom Bauhaus Weimar am kleinen Schiffbauspiel Foto: MDR/UFA Fiction Sie sind splitterfasernackt. Sie laufen, nein sie tollen durch den Wald und durch den Fluss. Sie werfen Farbpulver in die Luft. Sie haben Spaß. Eine der beiden Frauen, die das bunte Treiben beobachten, guckt pikiert. Die andere, ihre Schwester, ist schon drauf und dran, sich die Klamotten vom Leib zu reißen. Ja, diese Lotte, die bald darauf dem Filmtitel gemäß die „Lotte am Bauhaus“ (Buch: Jan Braren; Regie: Gregor Schnitzler) sein wird, ist schon ein Trotzkopf, ein Teufelsbraten, eine Urgewalt. Und die Nackten, das sind natürlich die Bauhäusler. Das 1933 verstorbene Bauhaus wäre in diesem Jahr hundert geworden. Deutschlandweit erinnern mehr als 500 Veranstaltungen an die Gründung 1919. Die ARD hat einen Programmauftrag, sie darf da nicht zurückstehen. Bauhaus – aber wie? Am beliebtesten ist derzeit der (Neu-)Zugang über die Rolle der Frau. Schon seit 2012 hat das Berliner Bauhaus-Archiv die Geschichte der Bauhaus-Künstlerinnen mit einer Ausstellungsreihe aufgearbeitet. Eine aktuelle Serie im Deutschlandradio Kultur heißt: „Frauen im Bauhaus“. Und neben einer Neuausgabe von Ulrike Müllers Sachbuch „Bauhausfrauen“ liegen in den Buchhandlungen: „Gläserne Zeit“ von Andreas Hillger; „Blaupause“ von Theresia Enzensberger; „Wenn Martha tanzt“ von Tom Saller; „Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus“ von Jana Revedin. Alle vier Autoren hatten die gleiche Idee, eine junge Frau am Bauhaus in die Mitte einer – mehr oder weniger – fiktionalen Romanhandlung zu betten. Soviel also zur Originalität des ARD-Spielfilms am heutigen Abend. Aber egal, wenn’s nur gut gemacht ist. Wäre! So durchlaufen wir (Zuschauer) also mit Lotte den Vorkurs bei Johannes Itten, das Triadische Ballett bei Oskar Schlemmer, die Harmonielehre bei Gertrud Grunow; sehen ihr beim Erfinden von Alma Siedhoff-Buschers „Bauhaus Bauspiel“ zu; begleiten ihr Coming of Age mit erstem Sex und erster Liebe – wobei die Liebeserklärungen von Bauhäuslern, das ist so eine der vielen kleineren Enttäuschungen dieses Films, auch nicht ausgefallener sind als bei Rosamunde Pilcher: „Weißt du, seitdem es dich gibt – da gibt es kein ‚Ich‘ und kein ‚Du‘ mehr, es gibt nur noch ein ‚Wir‘!“ Mutwillig unhistorisch Und währenddessen machen wir so große Augen wie die Hauptdarstellerin (Alicia von Rittberg) und tun wahnsinnig erstaunt, dass das Bauhaus in Gender-Fragen (ja, möglicherweise kannten Walter Gropius & Co. diesen Begriff noch nicht einmal) noch nicht auf dem Niveau von 2019 war. Da faselt ein Itten (Christoph Letkowski) in Priesterkutte etwas von „natürlicher Bestimmung“ und ein etwas steifer, technokratischer Gropius (Jörg Hartmann) erklärt der Lotte: „Als Frau sind Sie […] eine Ausnahme […] und es gibt ganz einfach männliche Mitbewerber, die […] die Nase vorn haben. Wir möchten Ihnen nahelegen, sich in der Weberei zu bewerben.“ Abschieben in die Weberei: So haben die das damals am Bauhaus mit allen Frauen versucht, erfahren wir aus der anschließenden Dokumentation (1 + 1 = „Themenabend im Ersten“). In der es dann Monika Stadler obliegt, Tochter der ersten Bauhaus-Meisterin Gunta Stölzl, die Sache mal angemessen lakonisch auf den Punkt zu bringen: „Wir sehen das alles als so hypermoderne Künstler. Aber in ihrer ganzen Auffassung eben auch über Frauen waren die nicht aufgeklärt. Es ist halt 100 Jahre her.“ Film und DokumentationLotte am Bauhaus, 13.2.2019, Das Erste, 20.15 UhrBauhausfrauen, 13.2.2019, Das Erste, 22.00 Uhr So einfach kann man das sagen. Man kann natürlich auch erst einmal eine durch und durch heutige Lotte mit ihren großen Augen staunend durch eine 105-minütige Versuchsanordnung von Szenen laufen lassen, die (fast) alle nur das eine sagen: Hey, ihr (mittel-)alten weißen Männer wollt also dieses sagenhaft moderne, seiner Zeit um Jahrzehnte voraus seiende Bauhaus sein! Ja, wo ist denn dann eure Frauenbeauftragte und eure Frauenquote? Der Blick über den Tellerrand, etwa nach Großbritannien und in die USA, wo die Suffragetten das Frauenwahlrecht eben erst – im Wortsinne – erkämpft hatten (das heißt: in Großbritannien sollte es noch bis 1928 dauern) muss bei einer derart mutwillig unhistorischen Betrachtung natürlich außen vor bleiben. Apropos: kämpfen. Beim ZDF zieht gerade eine altgediente TV-Journalistin gegen ihre Kollegen vor Gericht, weil sie überzeugt ist, für gleiche Arbeit nicht den gleichen Lohn zu bekommen. Anno 2019. Aber das ist eine andere Geschichte. Aber das ist eben auch der Hintergrund, vor dem die öffentlich-rechtlichen Fernsehmacher heute Abend so eilfertig und wohlfeil darum bemüht sind, sich als Feministen zu beweisen. Ausgerechnet am Beispiel des Bauhauses. Das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Das nur den Fehler hatte, 1919 noch nicht da gewesen zu sein, wo wir 2019 immer noch nicht sind.
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Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch. "Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll es tun und das Gewissen."
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Im Bewusstsein der meisten Amerikaner gehört der Mord an John F. Kennedy zu den drei schlimmsten Tragödien ihrer neuesten Geschichte, neben dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 und dem Angriff auf New York und Washington am 11. September 2001. Doch während die welthistorischen Folgen von Pearl Harbor und "9/11" offensichtlich sind, sind sie beim 22. November 1963 keineswegs so klar. Der japanische Überfall zog die USA in den Zweiten Weltkrieg hinein und besiegelte die Niederlage der Achsenmächte. Der Überfall al-Qaidas zog die USA in einen "Krieg gegen Terror", der noch andauert und dessen Folgen noch nicht abzusehen sind. Hat der Mord an JFK eine Bedeutung jenseits der persönlichen Tragödie und der wuchernden Verschwörungstheorien? Sarajevo 1914 – Dallas 1963 Dass ein politisches Attentat überhaupt welthistorische Auswirkungen haben könnte, wird von vielen Historikern grundsätzlich in Frage gestellt. Entscheidend seien ja nicht Personen, sondern objektiv wirkende Kräfte: Nationen und ihre Interessen etwa, Machtblöcke, Bündniskonstellationen und historische Trends. So weiß zwar jeder historisch interessierte Mensch, dass der Erste Weltkrieg seinen Ausgang nahm mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo am 28. Juni 1914. Aber relativ wenige Menschen wüssten auf Anhieb zu sagen, von wem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek getötet wurden und warum, und wieso dieses Attentat zu jener "Urkatastrophe" führen konnte, bei der 20 Millionen Menschen starben, drei Reiche untergingen und die Grundlagen gelegt wurden für die weiteren Katastrophen Europas im 20. Jahrhundert. Generationen von Historikern hat die Schuldfrage bewegt; die Schüsse von Sarajevo schienen wie der zufällige Auslöser jener Katastrophe, die auch ohne diesen Anlass früher oder später Europa verschlingen musste. Erst jetzt hat der Historiker Christopher Clark die Aufmerksamkeit wieder auf die Verschwörer, die Vorgeschichte und Umstände des Attentats gelenkt; seinen eigenen Blick hat, wie er selbst schreibt, die weltgeschichtliche Wirkung der Verschwörer von "9/11" geschärft. Dass der Mord an John F. Kennedy eine ähnliche Wirkung haben könnte wie das Attentat von Sarajevo, ja, sogar eine schlimmere, stand Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson freilich klar vor Augen. Der kurz nach dem Attentat festgenommene und zwei Tage später seinerseits ermordete Täter Lee Harvey Oswald war 1959 in die Sowjetunion ausgewandert und erst 1962 in die USA zurückgekehrt, wo er eine pro-kubanische politische Tätigkeit entfaltet hatte. War er während seiner Zeit in Moskau und Minsk vom sowjetischen Geheimdienst "umgedreht" worden? War er ein "Schläfer", der nur auf das Signal zum Losschlagen wartete? War die Ermordung Kennedys die Rache für die Demütigung des russischen Führers Nikita Chruschtschow bei der Raketenkrise um Kuba 1962? Oder hatten die Kubaner Oswald rekrutiert? War das Attentat von Dallas die Antwort auf die Landung CIA-geführter Exilkubaner in der Schweinebucht 1961, mit deren Hilfe Kennedy Kubas Máximo Líder Fidel Castro stürzen wollte? Oder war es eine Reaktion auf den seitdem von der CIA unter Führung Robert Kennedys betriebenen "schmutzigen Krieg" gegen Kuba, einschließlich Attentatsversuche gegen Castro? Wenn es auch nur einen starken Verdacht in diese Richtung gab, musste Johnson handeln. Stand die Sowjetunion hinter dem Mord, musste es zum Krieg kommen. Waren es die Kubaner, war eine Invasion der Insel zum regime change und zur Bestrafung der Schuldigen unausweichlich. Castros sowjetische Verbündete wiederum würden kaum untätig zusehen können, wie ihr karibischer Klient von den Yanquis abserviert wird, ohne innerhalb des kommunistischen Blocks einen totalen Gesichts- und Autoritätsverlust zu erleiden. Auch unter diesen Umständen also würde es höchstwahrscheinlich zum Krieg zwischen den Supermächten kommen. Und was der bedeutete, hatte Kennedy anlässlich der Berlin-Krise von 1961, die durch den Mauerbau beendet wurde, ausrechnen lassen: Der von den Militärs schon unter der Vorgängerregierung aufgestellte Plan "SIOP 62" sah vor, 3432 Atombomben gegen "militärische und städtisch-industrielle Ziele" in der Sowjetunion einzusetzen. Nach dieser Planung würden 54 Prozent der sowjetischen Bevölkerung innerhalb der ersten 72 Stunden getötet werden: 100 Millionen Menschen. Die Militärs rechneten mit sowjetischen Gegenschlägen, die zwischen fünf und zehn Millionen Amerikaner töten würden. In diese Berechnungen waren die unzähligen Verwundeten gar nicht erst eingegangen, von den Toten durch atomare Kampfhandlungen in Mittel- und Westeuropa, den Folgen der enormen Mengen freigesetzter Radioaktivität und des Zusammenbruchs von Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr ganz zu schweigen. Der "atomare Holocaust", wie er damals genannt wurde, hätte mit Sicherheit das Ende der europäischen Zivilisation, vielleicht sogar der Menschheit bedeutet. Mit anderen Worten: Hätte der Mord an John F. Kennedy eine dem Attentat an Franz Ferdinand vergleichbare welthistorische Bedeutung gehabt, wären wir heute vermutlich nicht da, um darüber zu spekulieren. John F. Kennedy als popkulturelle Ikone Stattdessen umweht John F. Kennedy fünfzig Jahre nach seinem Tod die fast schon unwirkliche Aura der jung verstorbenen Stars seiner Epoche: James Dean, Marilyn Monroe, Buddy Holly. Kennedy und seine Frau Jacqueline – "Jack und Jackie" – sind längst der Tagespolitik, ja auch der Historie entrückt und zu Stilikonen geworden. Dazu gehört, so zynisch es klingt, der frühe Tod. James Dean wird nie altern. Hätte Elvis Presley ein ähnlich früher Tod ereilt, wäre er nie zur Karikatur seiner selbst geworden. Jack Kennedy bleibt der strahlende Held, der an jenem sonnigen Herbsttag in Dallas aus dem Hinterhalt ermordet wurde. Er bleibt die Verkörperung der Frage: "Was wäre gewesen, wenn?" Die Aura des Unwirklichen wird dadurch verstärkt, dass die Umstände, die Kennedys Weltsicht und Politik formten, heute wie fernste Vergangenheit wirken. In gewisser Weise ist uns der Erste Weltkrieg gegenwärtiger als der Kalte Krieg, der in Kennedys Amtszeit mit dem Bau der Mauer in Berlin und der Raketenkrise um Kuba seine extremsten Zuspitzungen erreichte. Dass der Kalte Krieg glücklich mit einem Sieg des Westens endete, ohne dass ein Schuss gefeuert wurde, dass sich der Spuk des Kommunismus fast über Nacht in nichts auflöste, lässt die ganze Epoche im Nachhinein – zumindest im Westen – wie einen bösen Traum wirken. Jene Jahre der ständigen Angst und gelegentlichen Hysterie im Schatten atomarer Vernichtung erscheinen selbst den Menschen, die sie durchlebten, kaum noch wirklich. Wer heute eine Biografie Kennedys schreiben will, bemerkt, dass er Begriffe erst erklären muss, die noch vor 25 Jahren jedem Leser geläufig waren: Sowjetunion, KPdSU, Warschauer Pakt, Osten und Westen, atomarer Wettlauf, deutsche Teilung. Auch die Gesellschaften des Westens haben sich verändert. Zwischen Kennedy und uns liegt die soziale und kulturelle Revolution der 1960er Jahre. Das Apartheidsystem, das zu Kennedys Lebzeiten die Südstaaten der USA prägte, ist ebenso überwunden wie der europäische Kolonialismus. (Als Kennedy gewählt wurde, war etwa Algerien noch – als französisches Departement – Teil der EWG, der Vorläuferorganisation der Europäischen Union!) Europa ist multikulturell geworden; der Präsident der USA ist ein Afroamerikaner. Nicht einmal Martin Luther King hat es gewagt, davon zu träumen. JFK: Der "am meisten überschätzte" Präsident? Wie viel John F. Kennedy zum Erfolg und zur Reform der kapitalistischen Demokratie beigetragen hat, bleibt umstritten. Noch vor Ende des Kalten Krieges erklärten Historiker und Journalisten in einer Umfrage Kennedy zur "am meisten überschätzten Gestalt der amerikanischen Geschichte". Seine Präsidentschaft dauerte kaum mehr als tausend Tage. In den Medien tauchen immer wieder Enthüllungen über seine Affären auf. Die Freigabe seiner Krankenakten offenbart einen Mann, der die Öffentlichkeit über die Schwere seiner Leiden und über seine bedenkliche Medikamentenabhängigkeit getäuscht hat. Und doch gilt Kennedy den Bürgern der USA, wie regelmäßige Meinungsumfragen belegen, bis heute als einer ihrer großen Präsidenten, zusammen mit dem Gründer der Nation George Washington, dem Retter der Nation Abraham Lincoln und dem Reformer der Nation Franklin D. Roosevelt. Auch dafür mögen Zyniker eher die Umstände seines Todes als die Leistungen seines Lebens verantwortlich machen. Die Ermordung dieses attraktiven und lebenslustigen Mannes durch einen geltungssüchtigen Verlierer wirkte auf die Zeitgenossen wie ein Anschlag auf die Zukunft selbst, gerade weil Kennedy so viele der in ihn gesetzten Hoffnungen nicht – oder vielleicht noch nicht – erfüllt hatte. Vor dem 22. November 1963 liegt, so erscheint es im verklärenden Rückblick, eine goldene Zeit amerikanischer Unschuld, wie sie immer wieder in der Populärkultur beschworen wird. Danach kommen die Rassenunruhen und Studentenproteste, der Krieg in Vietnam und die Watergate-Affäre, die Ermordung der Hoffnungsträger Robert Kennedy und Martin Luther King, die Besetzung des Weißen Hauses durch Paranoiker der Macht wie Lyndon B. Johnson und Richard Nixon. Hartnäckige Verschwörungstheorien Dieses Gefühl verlorener Unschuld und betrogener Hoffnung, so unrealistisch sie auch sein mag, nährt bis heute Verschwörungstheorien. Die Meinungsumfragen, die Kennedys Status als großen Präsidenten bestätigen, zeigen auch, dass nur eine verschwindende Minderheit der amerikanischen Bürger an die offizielle Version der Ereignisse vom 22. November 1963 glaubt: nämlich dass der politische Wirrkopf Lee Harvey Oswald allein handelte, als er vom Fenster seines Arbeitsplatzes in einem Schulbuchauslieferungslager drei Schüsse auf den Präsidenten abgab, von denen einer den Schädel John F. Kennedys zerschmetterte. Dieses Misstrauen der Bürger – und nicht nur einer Minderheit, sondern einer breiten Mehrheit – in die eigene Regierung, dieses Hineinsickern verschwörungstheoretischen Denkens vom lunatic fringe in den Mainstream ist etwas Neues in der Geschichte der amerikanischen Demokratie. Diese Entfremdung geht über die notwendige Wachsamkeit gegenüber der Exekutive hinaus. Sie nimmt die Verwerfungen der späten 1960er Jahre vorweg, als ein großer Teil der Jugend dem Staat die Loyalität aufkündigte. Auf dem Höhepunkt der Jugendproteste erhielt mit den Morden an dem "Friedenskandidaten" Robert Kennedy und an dem Bürgerrechtler Martin Luther King die Vorstellung neue Nahrung, John F. Kennedy sei das erste Opfer einer reaktionären Schattenmacht im Bunde mit "denen da oben" gewesen – eine Vorstellung, die noch heute hier und da virulent ist. So schreibt etwa der Journalist Mathias Bröckers, der Anschlag auf JFK sei nichts weniger als ein Staatsstreich der Partei des Krieges und der Reaktion gegen den Repräsentanten des Friedens und des Fortschritts gewesen; er habe "zu einer imperialen Politik rein militärischer Machtausübung" geführt, "die das Gesicht der USA in der Welt bis heute prägt – und die den Mord an dem Präsidenten, der eine solche Zukunft verhindern wollte, noch immer relevant macht". Dass manche Geisterseher auch den Kennedy-Mord in Verbindung bringen mit jener Ur-Verschwörungstheorie, die durch das europäische Unterbewusstsein spukt, sei nur am Rande bemerkt. So sieht etwa Michael Piper Kennedy als Opfer einer zionistischen Großverschwörung, weil der US-Präsident die atomare Rüstung Israels habe verhindern wollen. Tatsächlich arbeitete die von Kennedys Nachfolger eingesetzte Untersuchungskommission unter Vorsitz des Verfassungsrichters Earl Warren, wie wir inzwischen wissen, von vornherein mit dem Auftrag Johnsons, die Alleintäterschaft Oswalds zu beweisen. Dass Johnson dabei nicht irgendwelche dunklen Mächte in den USA (oder gar, wie etwa Bröckers bis heute unterstellt, die von ihm selbst gedungenen Mörder) schützen, sondern vor allem im Interesse des Friedens Gerüchte über eine Beteiligung der UdSSR oder Kubas zum Schweigen bringen wollte, fällt bei der Betrachtung häufig unter den Tisch, zumal inzwischen aktenkundig ist, dass die Bundespolizei FBI und der Auslandsgeheimdienst CIA Informationen vorenthielten. Ebenso wird häufig die Tatsache ignoriert, dass es der Kommission mit beachtenswerter Akribie gelang, eine lückenlose Indizienkette herzustellen, die Oswald als Mörder identifiziert und Mittäter ausschließt. Drei weitere amtliche Untersuchungen mit dem gleichen Ergebnis und das 2007 erschienene, voluminöse Werk des früheren Staatsanwalts Vincent Bugliosi, in dem eine Verschwörungstheorie nach der anderen dekonstruiert wird, haben jenseits der Fachöffentlichkeit der Historiker und Kriminologen, die mit überwältigender Mehrheit den Schlussfolgerungen der Warren-Kommission folgen, wenig bewirkt. Das Vorurteil, Kennedy sei Opfer einer Verschwörung gewesen, die von der Regierung gedeckt wurde, scheint unerschütterlich. Schon deshalb muss man dem Doppelmord von Dallas – dem Mord am Präsidenten und dem Mord an seinem Mörder – eine historische Dimension zuerkennen. Neue Wertschätzung für Kennedy Jenseits des kulturellen Phänomens "Dallas" – man denke an die Dallas-Romane von Don DeLillo, James Ellroy, Stephen King und anderen, an Oliver Stones Film "JFK" oder an den Song "Sympathy for The Devil" von den Rolling Stones, in dem Satan höchstpersönlich "die Kennedys" ermordet hat – haben die Historiker seit der Jahrtausendwende mit einer Neubewertung der Präsidentschaft John F. Kennedys und seines Nachfolgers begonnen, in deren Folge beide besser dastehen und auch die Ereignisse von Dallas in einem anderen Licht erscheinen. Was Kennedy betrifft, so erfährt seine Zögerlichkeit und Vorsicht bei der Behandlung der Krisen um Berlin 1961 und Kuba 1962 seit dem Ende des Kalten Krieges eine neue Wertschätzung. Beginnen wir mit dem Bau der Mauer in Berlin: Man weiß heute nicht nur, dass die Kennedy-Administration relativ früh die Abriegelung der offenen deutsch-deutschen Grenze in Berlin als Möglichkeit zur Entspannung der Situation in der gefährlichsten Stadt der Welt und darüber hinaus zwischen den Blöcken erkannte. Ebenso ist inzwischen bekannt, dass Kennedy – spätestens beim Wiener Treffen mit seinem sowjetischen Gegenspieler Chruschtschow am 3. und 4. Juni 1961 in Wien – der Gegenseite entsprechende Signale sendete. So wurde Chruschtschow in eine Situation hineinmanövriert, in der zwar mit dem Bau der Mauer das System des Kommunismus kurzfristig stabilisiert wurde, jedoch um den Preis einer offensichtlichen politischen Bankrotterklärung und überdies des Verzichts auf den strategischen Plan, West-Berlin zu neutralisieren und zu annektieren, die Bundesrepublik aus dem westlichen Bündnis herauszubrechen und die Nato zu destabilisieren. Kennedys Beitrag zum Mauerbau und seine anschließende Politik der Deeskalation und der Beruhigung der aufgebrachten bundesrepublikanischen Führung wird in Deutschland verständlicherweise nicht gern als Leistung zitiert, gilt aber als wichtiger Beitrag zur Vermeidung eines Krieges der Supermächte in Europa. Was Kuba betrifft, wo Chruschtschow in einem Akt fast schon kriminellen Leichtsinns Atomraketen stationieren ließ, so kann man Kennedys Neigung zum Zögern kaum hoch genug einschätzen. Beim Lesen der Beratungsprotokolle der US-Stabschefs bekommt man angesichts der Planungen für "chirurgische Schläge" gegen die auf der Insel stationierten Atomraketen, gefolgt von einer massiven Invasion Kubas buchstäblich das kalte Grausen. Denn wir wissen inzwischen aus sowjetischen Quellen erstens, dass die Amerikaner nicht alle Raketenabschussbasen kannten, und zweitens, dass die örtlichen russischen Kommandeure befugt waren, nach eigenem Ermessen die ihnen nach einem Angriff verbliebenen Raketen abzufeuern. Hätte Kennedy auf seine Militärs gehört, statt insgeheim mit Hilfe seines Bruders Robert einen Kompromiss mit Chruschtschow auszuhandeln, bei dem die USA als Gegenleistung für einen Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba ihrerseits Raketen aus der Türkei abzogen, wäre es vermutlich zur nuklearen Selbstauslöschung der menschlichen Zivilisation gekommen. Die Welt gerettet zu haben, ist keine ganz geringe Leistung. Wäre Kennedy 1964 wiedergewählt worden? Was die Innenpolitik angeht, so wird John F. Kennedy heute oft in einem Atemzug mit Martin Luther King genannt. Schließlich fand während Kennedys Amtszeit der Marsch auf Washington statt, bei dem King seine berühmteste Rede hielt: "I have a dream …" Es stimmt zwar, dass Kennedy die Organisatoren des Marsches anschließend im Weißen Haus empfing; aber es stimmt auch, dass der Marsch in den Augen Kings notwendig war, weil die Regierung zu wenig in Sachen Bürgerrechte unternahm. Ganz sicher hat Kennedy zu Beginn seiner Amtszeit die wichtigste innenpolitische Herausforderung des Jahrzehnts – die Frage gleicher Rechte für die Afroamerikaner in den Südstaaten – nicht erkannt. Das aus durchsichtigen Gründen von Politikern gern zitierte Wort aus Kennedys Rede zum Amtsantritt, die Bürger sollten nicht fragen, was ihr Land für sie tun könne, sondern lieber fragen, was sie für das Land tun könnten, war angesichts der Wirklichkeit staatlich betriebener und gedeckter Diskriminierung und Einschüchterung für Amerikas schwarze Bürger ein Schlag ins Gesicht. Als sich Kennedy nach Rassenunruhen in Alabama, Mississippi und anderswo und angesichts der wachsenden moralischen und politischen Bedeutung Martin Luther Kings 1963 schließlich zu einer Fernsehansprache zugunsten der Bürgerrechte und zum Entwurf eines umfassenden Bürgerrechtsgesetzes durchrang, blieb es bei den schönen Phrasen seiner in der Tat bewegenden TV-Rede. Das Gesetz aber blieb dank der Sperrminorität der Südstaatler in seiner eigenen Partei im Kongress stecken, ohne Aussicht auf eine Verabschiedung in Kennedys erster Amtszeit. Ob ihm aber eine zweite Amtszeit vergönnt gewesen wäre, ist keineswegs sicher. Denn durch seinen Einsatz für die Bürgerrechte hatte Kennedy einen entscheidenden Teil seiner Wählerschaft verschreckt: nämlich die weißen Rassisten in den Südstaaten. Entgegen der oft unkritisch wiederholten Legende, Kennedys Vater Joseph habe dank seiner Beziehungen zur Mafia bei der Präsidentenwahl 1960 die entscheidenden Stimmen in und um Chicago und dadurch seinem Sohn das Weiße Haus kaufen können, kamen die für den Sieg ausschlaggebenden Stimmen nicht aus dem Mittleren Westen, sondern aus dem tiefen Süden, besonders aus Texas. Das war der Heimatstaat Lyndon B. Johnsons, und ohne dessen – von allen linken Demokraten mit Entsetzen aufgenommene – Nominierung als Vizepräsident hätte Joseph Kennedy mit allen seinen Millionen nichts ausrichten können. Johnson, den Kennedy zuweilen sarkastisch als "Lyndon ‚Erdrutsch‘ Johnson" bezeichnete, sicherte den Süden. Denn er hatte sich den Granden der Demokratischen Partei seit Jahrzehnten als einen Mann präsentiert, der für ihre Klienten in Washington arbeitete und der es dabei als Sprecher des Senats verstand, jede Gesetzesinitiative in Sachen Bürgerrechte so abzuändern, dass sie zahn- und wirkungslos blieb. So sah die Rechte ebenso wie die Linke Johnson als Garant für die Passivität der Regierung in Sachen Bürgerrechte. Zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte. Nach Kennedys Fernsehansprache und dem Marsch auf Washington bestand die ernste Gefahr, dass die seit dem Bürgerkrieg ungebrochene Herrschaft der Demokraten in den Südstaaten bei der Wahl 1964 verloren gehen könnte. Denn der Kandidat der Republikaner, Barry Goldwater, der Kennedys Bürgerrechtsgesetzgebung als "Angriff auf die Autonomie der Einzelstaaten" ablehnte, erntete große Zustimmung im Süden. Das ist übrigens der Grund, weshalb der Präsident im November 1963 zusammen mit Johnson nach Texas fuhr. Er wollte durch eine Demonstration seiner Popularität die demoralisierten Demokraten hinter dem "Ticket" Kennedy–Johnson einen. LBJ – Ein verkannter Präsident Tatsächlich hätte ein Sieg Goldwaters bei der Präsidentschaftswahl 1964 unabsehbare, möglicherweise welthistorische Folgen haben können. Der Senator aus Arizona befürwortete den Einsatz nuklearer Waffen in Vietnam und gegebenenfalls gegen China und hatte einmal scherzhaft gemeint, man sollte eine Atombombe "ins Herrenklo des Kremls schmeißen". Zwar klaffen Worte und Taten bei Politikern oft noch weiter auseinander als bei anderen Menschen. Auch Kennedy war 1960 als Falke gegen den angeblich zu weichen Richard Nixon angetreten und suchte schließlich den Ausgleich mit Chruschtschow. Der spätere Präsident Ronald Reagan, der 1964 zu Goldwaters Anhängern gehörte, neigte gelegentlich zu Scherzen über einen nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion und schloss dennoch mit Michail Gorbatschow einen umfassenden Abrüstungsvertrag. Im Weißen Haus machen Traumtänzer linker wie rechter Provenienz oft eine steile Lernkurve durch, werden Tauben zu Falken und umgekehrt. Aber dennoch erscheint es durchaus möglich, dass Goldwater zur Abwehr der kommunistischen Offensive in Vietnam nicht Johnsons Kurs einer langsamen, aber massiven Truppensteigerung in Südvietnam in Verbindung mit dem konventionellen Bombardement Nordvietnams verfolgt, sondern die nukleare Option gewählt hätte. Ob sich China und Russland unter diesen Bedingungen aus dem Konflikt herausgehalten hätten, ist fraglich. Goldwaters Wahlslogan lautete: "In your heart, you know he’s right." Es fällt schwer, dem Gegenslogan des Johnson-Lagers nicht zuzustimmen: "In your guts, you know he’s nuts." Bei der Wahl 1964 gewann Goldwater trotz der Sympathiewelle für Johnson als Vollstrecker des Kennedy-Erbes, die den Rest des Landes ergriff, tatsächlich fünf Staaten des tiefen Südens – aber nicht Texas – und läutete dabei eine Trendwende ein. Bis dahin hatten die Republikaner als Partei des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln keine Chance in den ehemaligen Staaten der Konföderation. Seit 1964 dominieren die Republikaner als Partei des Widerstands gegen die Bürgerrechtsgesetzgebung von Kennedy und Johnson den Süden – für die USA ein seismischer Schock von historischen Ausmaßen. Erst in unseren Tagen wird die Herrschaft der Republikaner im Süden durch den politischen Aufstieg der mehrheitlich mit den Demokraten sympathisierenden Hispanics wieder in Frage gestellt. Johnson gewann tatsächlich in einem Erdrutsch alle anderen Staaten und dadurch ein Mandat für sein Reformprogramm der Great Society, einer Fortsetzung des Rooseveltschen New Deal, für die Bürgerrechte und für die Fortsetzung der Kennedyschen Ausgleichspolitik mit der Sowjetunion – von "Entspannung" konnte man noch nicht sprechen. Dieser überwältigende Sieg hatte in der Tat historische Ausmaße. Und er ist ohne den 22. November 1963 nicht zu verstehen. Denn Johnson nutzte den Mord an seinem Vorgänger, um der Nation ins Gewissen zu reden: Amerika schulde es dem gefallenen Helden, seinen Traum einer gerechteren Nation zu erfüllen. War bis zum 22. November die Begeisterung, die Kennedys Wahl ausgelöst hatte, einer gewissen Resignation gewichen, so löste der Schock seines "Martyriums" – in solchen Wendungen sprach Johnson gern – den Reformstau im Kongress und die Apathie in der Bevölkerung. Es zeigte sich überdies, dass der aus kleinen Verhältnissen stammende "LBJ", der ein politisches Leben lang mit der Südstaaten-Parteimaschine kooperiert hatte, um Karriere zu machen, als Präsident seine Macht nutzte, um Visionen umzusetzen, die weit über das hinausgingen, was dem Patrizier John F. Kennedy vorgeschwebt hatte, und die der Meistertaktiker lange für sich behalten hatte. Wo Kennedy cool, pragmatisch und distanziert war, agierte Johnson mit dem Feuer des Überzeugungspolitikers. Wenn also die Partei des Krieges, der Militarisierung und der Reaktion Kennedy wirklich ermorden ließ, wie es die Verschwörungstheoretiker meinen, hat sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Ohne den 22. November 1963 wäre entweder Goldwater gewählt worden oder ein durch den Abfall der Südstaaten erheblich geschwächter Kennedy. Cui bono? Vietnam und kein Ende Ja, aber der Vietnamkrieg! Zu den Legenden um den Mord in Dallas gehört die Behauptung, Kennedy habe den Krieg in Vietnam abwickeln wollen, den Johnson stattdessen eskalierte, um ihn trotzdem – zusammen mit der Präsidentschaft – 1968 zu verlieren. Dies ist jedoch eine Legende, die Robert Kennedy nach seiner Saulus-Paulus-Bekehrung vom Falken zur Taube während seiner Präsidentschaftskampagne kultivierte, deren Fragwürdigkeit – um es vorsichtig auszudrücken – gerade ihm jedoch klar gewesen sein muss. Er selbst hatte 1962 noch gesagt, die Lösung des Krieges "liegt darin, dass wir ihn gewinnen. Das hat der Präsident denn auch vor. Wir werden ihn gewinnen, und wir werden hier (in Vietnam, Anm. A.P.) bleiben, bis wir ihn gewonnen haben." Südvietnam war für die Kennedy-Brüder nicht nur deshalb wichtig, weil es in ihren Augen für Asien die gleiche Rolle spielte wie West-Berlin für Europa, und weil sie an die sogenannte Domino-Theorie glaubten, der zufolge eine Niederlage Amerikas in Vietnam den Fall von Laos, Kambodscha, Malaysia und Indonesien und die Vorherrschaft Chinas in Asien nach sich ziehen würde, sondern auch, weil es dort als Folge der französischen Kolonialherrschaft und der Flüchtlingsströme aus dem kommunistischen Norden viele Katholiken gab, die die pro-westliche Oberschicht bildeten. Dass ausgerechnet der erste katholische Präsident der USA Millionen vietnamesischer Katholiken einer kommunistischen Diktatur ausliefern würde, war undenkbar, zumal sich der Kongressabgeordnete und Senator John F. Kennedy einen Namen als Kritiker der "Weicheier" in der Truman-Administration gemacht hatte, die angeblich "China verloren" und die dortigen Katholiken der Unterdrückung durch Mao Zedong ausgeliefert hätten. Vietnam war überdies, wie es Kennedys Generalstabschef Maxwell Taylor 1963 ausdrückte, "ein funktionierendes Laboratorium, in dem wir den subversiven Aufstand (…) in allen seinen Formen studieren können". Es gehört zur Tragödie Lyndon B. Johnsons, dass zum Erbe seines Vorgängers nicht nur das Versprechen einer gerechteren Gesellschaft in den USA gehörte, sondern die Behauptung, man habe der Offensive der Kommunisten in der Kuba-Krise Einhalt geboten und werde nun seinerseits daran gehen, den Einfluss Moskaus und Pekings zurückzudrängen. "To Turn the Tide" – der Gezeiten Lauf ändern – heißt eine Sammlung der außenpolitischen Reden und Aufsätze John F. Kennedys. Dieser Titel suggeriert bewusst, dass die USA gegenüber dem Kommunismus in die Offensive gehen würden. "Zukünftige Historiker mögen beim Rückblick auf 1962 dieses Jahr als den Zeitpunkt bezeichnen, da die Gezeiten der internationalen Politik endlich in Richtung der Welt der Vielfalt und der Freiheit zu fließen begannen", schrieb Kennedy im Vorwort zu seinen "Public Papers" 1962. (Interessanterweise erschien "To Turn the Tide" in Deutschland unter dem Titel "Dämme gegen die Flut", was die Kennedysche "Roll Back"-Rhetorik in ihr Gegenteil verkehrt, scheint doch das Wort "Dämme" vielmehr einer "Containment"-Strategie das Wort zu reden.) Es sollte auch nicht vergessen werden, dass Johnson die komplette außen- und sicherheitspolitische Mannschaft Kennedys übernahm, vor allem Außenminister Dean Rusk, Sicherheitsberater McGeorge Bundy und Verteidigungsminister Robert McNamara. Keiner aus dieser Riege sagte dem neuen Präsidenten, zur Strategie seines Vorgängers habe der Abzug aus Vietnam gehört. Niemand empfahl ihm eine solche Lösung. Gerade weil Johnson mit seiner Great Society und dem "Krieg gegen die Armut" zurückkehrte zur traditionellen linken Programmatik der Roosevelt-Demokraten, durfte er sich in der Außenpolitik gegenüber den skeptischen Zentristen des Kennedy-Lagers keine Blöße geben, nicht weich erscheinen. Weil er einen "Welfare State" wollte, musste LBJ auch den "Warfare State" in Kauf nehmen. Am Widerspruch dieser beiden Ziele zerbrach seine Präsidentschaft. Mit ihr starben die Hoffnungen auf eine Fortsetzung und Vollendung des New Deal. Im Herbst des Schicksalsjahres 1968 wurde Richard Nixon im Auftrag der schweigenden Mehrheit Amerikas gewählt, um der idealistischen Innen- und der expansionistischen Außenpolitik der Ära Kennedy-Johnson ein Ende zu machen. Was Nixon denn auch tat. War also "11/22" ein Tag, der die Welt veränderte? In gewisser Weise ja. Er hat das Bewusstsein der Amerikaner verändert und damit die revolutionären 1960er Jahre mit vorbereitet. Er hat die Reformpräsidentschaft Lyndon B. Johnsons ermöglicht und die Chancen Barry Goldwaters auf das Weiße Haus zerstört. Vielleicht hat Kennedy mit seinem Tod also zum dritten Mal in drei Jahren – nach der Berlin-Krise 1961 und der Kuba-Krise 1962 – die Welt vor einem Weltkrieg gerettet. Vgl. Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012, S. 12ff. Vgl. Alan Posener, John F. Kennedy. Biographie, Reinbek 2013, S. 124. Mathias Bröckers, JFK. Staatsstreich in Amerika, Frankfurt/M. 2013, S. 11f. Michael Collins Piper, Final Judgement. The Missing Link in the JFK Assassination Conspiracy, Washington, DC 2004. Vgl. Vincent Bugliosi, Reclaiming History. The Assassination of President John F. Kennedy, New York 2007. Vgl. Don DeLillo, Libra, New York 1988 (deutsch: Sieben Sekunden, Köln 1991, Neuauflage 2003 unter dem Titel Libra); James Ellroy, American Tabloid, New York 1995 (deutsch: Ein amerikanischer Thriller, Hamburg 1996); Stephen King, 11/22/63, New York 2011 (deutsch: Der Anschlag, München 2012). Der neueste Stand der Forschung zu den Krisen um Berlin und Kuba wird referiert in A. Posener (Anm. 2), S. 111–123 und S. 124–131. Zit. nach: ebd., S. 137. Zit. nach: ebd. Vgl. John F. Kennedy, To Turn the Tide, New York 1962. Vgl. ders., Dämme gegen die Flut, Düsseldorf 1962.
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So wie ein Vater über Kinder, Erbarmet Gott sich über Sünder, Die seinen Namen scheun. Dein Seufzen ist ihm nicht verborgen. So fern der Abend ist vom Morgen, Läßt er von dir die Sünde seyn.
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Stadt der Flüchtlinge in Uganda: Jede Familie bekommt einen Acker Uganda verfolgt eine liberale Flüchtlingspolitik. Aus dem Lager Nakivale ist eine Stadt geworden, in der sich Flüchtlinge ein neues Leben aufbauen. Schneidereien, Werkstätten, Apotheken: das Zentrum von Nakivale Foto: Simone Schlindwein NAKIVALI taz | Mit nichts als den Kleidern am Leib war Familienvater Pierre Karimumujango mit seiner Frau und den drei Kleinkindern aus seinem Dorf in Burundi geflüchtet. Zu Fuß und mit dem Bus hat sich der Bauer bis nach Uganda durchgeschlagen, um dort Schutz zu suchen. Jetzt steht er stolz vor seiner neuen, kleinen Hütte, harkt mit Liebe seinen Kassawa-Acker. Bald wird er zum ersten Mal ernten: „Wir haben Asyl bekommen und ein Stück Land und ich bin glücklich, dass wir in Uganda Frieden gefunden haben“, sagt der 39-Jährige. So wie der Burundier Karimumujango überqueren täglich bis zu hundert verzweifelte Menschen die Grenzen, um in Uganda Schutz zu suchen. Das kleine Land in Ostafrika zählt zu einem der Länder weltweit mit einer liberalen Flüchtlingspolitik. Über eine halbe Million Menschen suchen derzeit in Uganda Schutz, so viele wie noch nie in der Geschichte des ostafrikanischen Landes. Uganda gilt als stabile Insel im krisengeschüttelten Herzen Afrikas: Im Nachbarland Kongo herrscht seit über 20 Jahren Bürgerkrieg, im nördlich gelegenen Südsudan brach 2013 der Konflikt erneut aus. In Burundi terrorisiert die Staatsmacht die Bevölkerung, über 200.000 Menschen sind geflohen, meist nach Ruanda und Tansania. Doch die Lager dort sind überfüllt – jetzt ziehen auch die Burundier weiter nach Uganda, weil sie wissen, dass sie sich dort langfristig niederlassen können. Ugandas größtes Flüchtlingslager Nakivale, gelegen im unbesiedelten Westen des Landes zwischen grünen Hügeln, wo Karimumujango sein Haus gebaut hat, wirkt mittlerweile wie eine Kleinstadt mit über 100.000 Einwohnern. Flüchtlinge der verschiedenen Nationalitäten finden sich in „Stadtteilen“ zusammen und benennen diese nach ihren Heimatstädten: „Klein-Kigali“ oder „Klein-Mogadischu“ steht auf Hinweisschildern, die durch das Lager führen. Derzeit stampfen burundische Flüchtlinge wie Karimumujango auf einem weiteren Hügel „Klein-Bujumbura“ aus dem Boden: Aus Holz und Lehm bauen sie ihre eigenen Häuser mit Strohdächern. Jede Familie bekommt von Ugandas Regierung einen Acker zugewiesen, den sie bepflanzen darf. Bis dort etwas wächst, verteilt das UN-Welternährungsprogramm monatlich Lebensmittel. Gassen einer Kleinstadt Das Zentrum von Nakivale, wo die Lagerleitung ihre Büros hat und die Hilfsgüter und Lebensmittel verteilt werden, wirkt wie die Gassen einer Kleinstadt. Hier reihen sich Tischlereien, Schneidereien, Werkstätten, Apotheken und Läden aneinander, alle von Flüchtlingen betrieben. Viele bringen ihre Nähmaschinen, Werkbänke, Werkzeuge oder gar die Getreidemühle aus ihrer Heimat nach Nakivale. In einem Internetcafé sitzen Jugendliche von den Computern, auf dem zentralen Platz spielen junge Männer Fußball. Sport ist eine gute Beschäftigung, Traumata zu bewältigen und auch Konflikte unter den Flüchtlingen im Lager auszutragen. Gleich dahinter liegen die ruandischen und kongolesischen Viertel, die ältesten in Nakivale. Die Häuser und Grundstücke sind massiver gebaut, viele mit Wellblechdach. Zwischen den Grundstücken wachsen Hecken. Die meisten Ruander und Kongolesen leben schon seit über 20 Jahren hier, seit dem Völkermord in Ruanda 1994 und dem daraus resultierenden Krieg im Ostkongo. UgandaDas Land: Uganda mit rund 40 Millionen Einwohnern gehört zu den Ländern mit der am schnellsten wachsenden Bevölkerung weltweit. Von der Ära brutaler Gewaltherrschaft unter Diktator Idi Amin (1971 bis 1979) und dem darauf folgenden Bürgerkrieg hat es sich seit der Machtergreifung des Guerillaführers Yoweri Museveni 1986 weitgehend erholt. Museveni gilt aber inzwischen als zunehmend autokratisch. Er wird am heutigen Donnerstag unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen auf seine fünfte gewählte Amtszeit vereidigt. Die Opposition erkennt seine Wiederwahl nicht an.Die Region: Uganda liegt in einer instabilen Weltregion: Die Bürgerkriegsländer Südsudan und Demokratische Republik Kongo sind Nachbarn, auch die Krise in Burundi strahlt auf Uganda aus, ebenso der Dauerkonflikt in Somalia, wo Uganda mit Eingreiftruppen militärisch aktiv ist.Die Flüchtlinge: Nach letzten verfügbaren Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR waren am 1. April 525.968 Flüchtlinge und Asylsuchende in Uganda registriert. 42 Prozent kommen aus Südsudan, 38 Prozent aus Kongo, je 7 Prozent aus Burundi und Somalia. Monatlich kommen mehr als 12.000 hinzu, mit steigender Tendenz. Die ethnischen Konflikte sind auch in Nakivale nicht zu übersehen. Hier leben die Kongolesen und Ruander zumeist nach Ethnien getrennt: auf der einen Seite die Hutu und der anderen Straßenseite die Tutsi. Im Tutsi-Viertel weidet eine Rinderherde auf einer Wiese. Viele Tutsi sind samt ihren Kühen nach Uganda geflohen. Sie grasen jetzt auf den Weiden rund um das Lager. „Obwohl wir eine sehr offenherzige Politik verfolgen, ist unser Problem die Versorgung der Flüchtlinge, wenn sie in Massen kommen“, gibt Flüchtlingsminister Mussa Ecweru zu. Ugandas Regierung sei bei der Erstversorgung daher auf internationale Hilfe angewiesen. Diese würde jedoch immer weniger, da auch Europa mit vielen Flüchtlingen klarkommen muss. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von der größten Flüchtlingskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die liberale Flüchtlingspolitik Ugandas kommt nicht von ungefähr. Während der 1970er und 1980er Jahre, als die Diktatoren Idi Amin und Milton Obote mit Terror regierten, waren viele Ugander selbst Flüchtlinge in den Nachbarländern. Ugandas heutiger Präsident Yoweri Museveni hat im Exil in Tansania seiner Guerillabewegung gegründet, die 1986 letztlich das Land eroberte und bis heute die Regierung stellt. Versammelte Opposition Präsident Museveni weiß also um die politische Macht dieser Willkommenspolitik: In der Regel fliehen Oppositionelle zuerst aus ihren Heimatländern und suchen bei den Nachbarn Unterschlupf. Derzeit beherbergt Uganda sämtliche Oppositionelle aus Burundi, Südsudan, Ruanda oder gar aus Somalia und Äthiopien. Darunter sind auch einst bewaffnete Rebellen, die den Krieg in ihrer Heimat verloren haben und in Uganda eine Auszeit nehmen: zum Beispiel die kongolesischen Tutsi-Rebellen der M23 (Bewegung des 23. März), die sich im November 2013 von Kongos Armee und UN-Blauhelmen geschlagen mit all ihren Waffen über die Grenze zurückzogen. Mithilfe dieser „Flüchtlinge“ zieht Museveni die Fäden weit über die Landesgrenzen hinaus. Auch Ugandas Wirtschaft profitiert: Aus den Krisenländern retten sich auch die Unternehmer und die Mittelklasse. In Ugandas Hauptstadt Kampala sieht man große Geländewagen mit burundischen oder südsudanesischen Kennzeichen. Die meisten schlagen mit ihrem ganzen Ersparten auf, um sich ein neues Leben aufzubauen: Sie mieten ein Haus, eröffnen ein Geschäft oder Restaurant, betreiben Handel mit ihren Verwandten in der Heimat. Im besten Fall zahlen sie sogar Steuern und stellen ein paar Ugander ein. „Uganda hat eine sehr offenherzige Flüchtlingspolitik und profitiert langfristig auch wirtschaftlich davon“, sagt Charly Yaxlei vom UN-Flüchtlingshilfswerk in Uganda.
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Sie sah mich an, es war etwas Schmerzliches in ihren Augen. Ich nahm das Glas, in dem der Sekt perlte, hob es ihr entgegen und trank auf ihr Wohl. Auch sie nahm ihr Glas, wir stießen an. Ich sehe noch die holde Neigung ihres Kopfes, da wir anstießen. Auf ihren rosigen Wangen waren Spuren weißen Puders zu bemerken, der aus dem Haar herabgeglitten war.
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Felicie kniete vor dem Kruzifix, und sogar der Apotheker knickte ein wenig die Beine, während Canivet gleichgültig auf den Markt hinausstarrte. Bournisien hatte wieder zu beten begonnen, die Stirn gegen den Rand des Bettes geneigt, weit hinter sich die lange schwarze Soutane. An der andern Seite des Bettes kniete Karl und streckte beide Arme nach Emma aus. Er ergriff ihre Hände und drückte sie! Bei jedem Schlag ihres Pulses zuckte er zusammen, als stürze eine Ruine auf ihn.
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"Ha!" lachte der Bauer, "das ist eine leichte Probe. Man trug den Pfundstein mit Trommeln und Pfeifen an die Rems und sagte: 'Schwimmt's oben, hat der Herzog recht, sinkt's unter, hat der Bauer recht.' Der Stein sank unter, und jetzt zog der Arme Konrad Waffen an. Im Remstal und im Neckartal bis hinauf gegen Tübingen und hinüber an die Alb standen die Bauern auf und verlangten das alte Recht. Es wurde gelandtagt und gesprochen, aber es half doch nichts. Die Bauern gingen nicht auseinander."
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Nissan Bild 1/5 - Der Nissan Leaf ist weltweit sehr erfolgreich - in Deutschland aber nur mäßig Nissan Bild 2/5 - Der Nissan Leaf ist weltweit sehr erfolgreich - in Deutschland aber nur mäßig VW Bild 3/5 - Der E-Golf ist die Stromvariante von Deutschlands Bestseller Kia Bild 4/5 - Der Kia e-Niro kommt sehr weit Renault Bild 5/5 - Klein und günstig - der Renault Zoe ist ein praktisches E-Auto 5 Mittwoch, 30.01.2019, 17:02 So groß wie bei konventionellen Autos ist das E-Mobil-Angebot noch lange nicht. Trotzdem ist es schon jetzt durchaus bunt und vielfältig. Die Zahl der Elektroautos auf dem deutschen Markt wächst stetig. Unter den mehr als 30 aktuelle Modellen sind einige besonders interessant. Eine Auswahl. Zum dran Gewöhnen: VW E-Golf Neuartige Mobilität im Gewand des traditionellen Automobils – wer sich beim Umstieg auf das E-Auto möglichst wenig umstellen möchte, wählt Deutschlands Dauerbestseller in der E-Variante. Der Strom-Golf ist gewohnt durchdacht und gut gemacht, auch wenn leichte Schwächen wie die fehlende aktive Akkukühlung Vielfahrer nerven könnten. Allerdings ist der 100 kW/136 PS starke Kompakte ein Auslaufmodell, wird spätestens 2020 vom VW Neo abgelöst. Der ist zwar komplett neu konstruiert, dürfte vom Käufer aber in guter VW-Tradition ebenfalls recht wenig Umgewöhnung verlangen. Die Preise für den E-Golf starten bei 35.900 Euro, die Reichweite ist mit 231 Kilometern angegeben (WLTP). Der Bestseller: Renault Zoe Preiswert, schnell aufladbar, einfach in der Handhabung und auch noch durchaus ansehnlich – Renaults E-Kleinwagen Zoe ist nicht umsonst der beliebteste Stromer in Deutschland. Für die Stadt ist die schwächere Variante (68 kW/92 PS) mit kleiner Batterie (22 kWh) ideal, über Land lassen sich Überholvorgänge mit der stärkeren Ausführung (80 kW/108 PS) risikoloser und entspannter absolvieren. Beruhigend ist auch die größere Stromreserve (41 kWh), die für bis zu 316 Kilometer Fahrt ausreicht (WLTP). Die Preise starten bei 21.900 Euro zuzüglich Batteriemiete. Der Weltbestseller: Nissan Leaf Was der Renault Zoe für Europa, ist der Nissan Leaf in globalem Maßstab: ein Erfolgsmodell für die Elektromobilität. In Deutschland konnte sich der mit Fokus auf den US-Markt entwickelte Kompakte nie wirklich durchsetzen, was nicht zuletzt an der gewöhnungsbedürftigen Optik liegen dürfte. Technisch gibt es bis auf die hier ebenfalls fehlende Batteriekühlung wenig zu meckern. Das Topmodell leistet 160 kW/217 PS und bietet eine Reichweite von 385 Kilometern. Das ist alltags- und autobahntauglich. Mit einem Preis zwischen 32.000 Euro und 46.500 Euro dürfte es der Nissan aber gegen VW Neo und Tesla Model 3 schwer haben. Der Klassiker: Peugeot Ion/Citroen C-Zero Die beiden Franzosen sind eineiige Zwillinge des Mitsubishi EV, der 2010 unter dem Namen i-MiEV das Elektro-Zeitalter startete. Alt, aber nicht veraltet, sind Ion und C-Zero mit einer Reichweite von 100 Kilometern (WLTP) und einer Leistung von 49 kW/67 PS reine Kurzstreckenautos für die Stadt. Im Gegenzug ist jedoch der Preis mit 21.800 Euro durchaus attraktiv. Als der mittlerweile hierzulande nicht mehr erhältliche Mitsubishi nach Europa kam, mussten Käufer noch rund 35.000 Euro investieren. Aber auch Ion und C-Zero sind Auslaufmodelle: Für das kommende Jahr werden die ersten eigenen Elektroautos der beiden PSA-Marken erwartet. Die Modischen: Hyundai Kona Elektro/Kia E-Niro Zeitgenössischerer Karosserie-Style, gepaart mit zukunftsträchtiger Technik – die Mini-Crossover Hyundai Kona Elektro und sein weitläufig verwandter Konzernbruder Kia e-Niro tragen die Elektromobilität in die Mitte der automobilen Gesellschaft. Mit einer Reichweite zwischen gut 300 und fast 500 Kilometern (WLTP) je nach Akku- und Motorvariante, ansprechenden Fahrleistungen und hoher Schnelllade-Tauglichkeit (bis 100 kW Ladeleistung) zählt das Duo aktuell zu den ausgereiftesten Angeboten jenseits der Premiumhersteller. Die Preise starten bei knapp 35.000 Euro. Der Möchtegern-Revolutionär: Tesla Model 3 Der kalifornische Newcomer Tesla lässt die etablierten Autohersteller in Sachen E-Mobilität seit Jahren alt aussehen. Eroberte er mit Model S und Model X zunächst den Premiummarkt, soll das Model 3 auch Otto-Normalverbraucher ansprechen. Mit einem Startpreis von zunächst 58.000 Euro dürfte das allerdings nur eingeschränkt gelingen. Auch wenn eine Reichweite von 530 Kilometern (WLTP) und eine Leistung von 335 kW/456 PS ordentlich Gegenwert bieten. Ein wirklicher Revolutionär dürfte die Mittelklasselimousine aber erst mit den angekündigten Basisvarianten werden, die in Deutschland wohl knapp 40.000 Euro kosten werden. Der Avantgardist: BMW i3 Wenn man der deutschen Autoindustrie vorwerfen will, beim E-Auto lange gepennt zu haben, muss man BMW davon ausnehmen. Mit dem komplett um den neuen Antrieb herum gebauten Kleinwagen i3 waren die Münchner 2013 in vielfacher Hinsicht Avantgarde – etwa mit Extrem-Leichtbau und neuartigen Vertriebsmodellen. Auch wenn der Schwung der Pionierjahre bei BMW mittlerweile versandet scheint, wurde der i3 über die Jahre sorgfältig frisch gehalten. Mittlerweile bietet er eine reisetaugliche Reichweite von bis zu 359 Kilometern (NEFZ) und bis zu 135 kW/184 PS Leistung. Die Preise für die Top-Variante sind mit mindestens 41.150 Euro für einen Kleinwagen allerdings gesalzen. Selbst das schwächere Basismodell mit kleiner Batterie kostet immer noch 37.550 Euro. Das Spaßmobil: Citroen E-Méhari Zunächst eher für die Fahrt an der Cote d'Azur entlang gedacht, ist der Citroen e-Méhari mittlerweile auch für unsere Breiten geeignet. Seit Anfang 2018 nämlich gibt es den elektrischen Strand-Buggy nicht nur als Cabrio, sondern auch Wunsch auch mit festem Dach. Gleichzeitig wurden moderne Sicherheitssysteme und Komfort-Extras wie eine Zentralverriegelung an Bord eingeführt. Ein ernsthaftes Alltagsauto ist aus dem Plastik-Mobil dadurch natürlich nicht geworden. Ein charmanter Hingucker und ein unkomplizierter Begleiter für die Freizeit ist der Viersitzer aber allemal. Die Preise für das 50 kW/68 PS starke Strandauto starten bei 25.270 Euro plus Batteriemiete, die Reichweite ist mit 195 Kilometern angegeben (NEFZ). Der Tesla-Jäger: Audi E-Tron Mit einem großen Elektro-SUV will Audi im Frühjahr die Jagd auf Emporkömmling Tesla starten. Der E-Tron ist dabei weniger ein Visionär als vielmehr ein passgenau auf das Model X gemünzter Eroberer. Die Rahmendaten sind entsprechend ähnlich: Der Allrad-Stromer verfügt über bis zu 300 kW/409 PS Leistung, fährt circa 400 Kilometer weit (WLTP) und kostet eine Stange Geld. Während es für den Tesla kaum Extras in der Preisliste gibt, ist der Optionskatalog des Audi ellenlang, so dass die 80.000 Euro Einstiegspreis sich mit leichter Hand auf sechsstelliges Model-X-Niveau bringen lassen. Auch wenn der E-Tron nicht der ganz große Wurf ist, dürften das gute Markenimage und die hochwertige Verarbeitung nicht nur Tesla-Verächter ins Autohaus ziehen. Nissan Leaf 2 im Praxistest - Nissan-Stromer kommt weiter als der Elektro-Golf - aber der Akku hat ein Kühl-Problem FOCUS online Nissan Leaf 2 im Praxistest - Nissan-Stromer kommt weiter als der Elektro-Golf - aber der Akku hat ein Kühl-Problem SP-X
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Nato-Gipfel: Obama verschreckt Demonstranten Nur eine winzige Schar demonstriert in Baden-Baden gegen die Nato. Die Gründe: verschlossene Grenzen und Barack Obama. Nur 300 Demonstranten rufen "60 Jahre ist zu viel, nie wieder Nato ist das Ziel". Bild: dpa Vor dem barocken Bahnhof in Baden-Baden ertönt es aus einem Lautsprecherwagen der Polizei: "Wir sind im moralischen Recht, die Nato bei ihrer Kriegsplanung morgen zu blockieren." Irgendwie ist das witzig, wenn ein solcher Satz aus einem Polizeiwagen heraushallt. Zumindest können sich manche Zuhörer ein Grinsen nicht verkneifen. Der Redner heißt Monty Schädel und ist Anmelder der großen Anti-Nato-Demonstration zum Gipfelauftakt in Baden-Baden. Eigentlich spricht Schädel zu dem Häufchen Demonstranten. Doch der Haufen Journalisten ist mindestens genauso groß, der Haufen Polizisten sicher noch größer. Den Lautsprecherwagen der Demonstranten ließ die französische Polizei nicht über die Grenze. Also haben die deutschen Polizisten Erbarmen gezeigt und dem Demonstrationsleiter einen Wagen geliehen. Denn längst ist klar, dass die Aktion nichtig ist. Was gab es nicht für Befürchtungen vor dem Gipfel: 3.000 gewaltbereite Militante fürchtete der Innenminister von Baden-Württemberg, also marschierten 15.000 Polizisten zum Schutz auf. Nun rufen 300 DemonstrantInnen: "60 Jahre ist zu viel, nie wieder Nato ist das Ziel", weit ab von den verbarrikadierten Sicherheitszonen um die Tagungsorte der Innenstadt. Vorn ein schwarzes Blöckchen, vielleicht 20 Männer und Frauen. Ein Grund, warum nur so wenige gekommen sind, heißt Barack Obama. Niemand hat eine verhunzte US-Fahne mitgebracht, niemand eine Freiheitsstatue mit Strick um den Hals gebastelt, und Bush-Teufelsmasken wurden nicht durch Obama-Masken ersetzt. "Wenn man so ein Feindbild nicht hat, dann kommen viele nicht", sagt Günter Wimmer, ein 66-jähriger Münchner mit melodischem Akzent, weißem Bart und weißem Haar, der schon 1982 gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert hat. Er ist in Baden-Baden, weil er die Struktur der Nato für hochgefährlich hält, weil die Nato nie ein Verteidigungsbündnis gewesen sei. Aber Obama, sagt er, wolle wirklich etwas verändern, könne aber nicht, wie er wolle, wegen des Drucks aus Militär und Industrie. "Peace, yes we can!", hat sich Margherite Brisson auf die Rückseite ihres weißen Gewandes geschrieben, aus ihrem Kopfwickel schauen noch ein paar Gänseblümchen heraus. Obama, sagt sie, schickt nur deshalb mehr Truppen nach Afghanistan, weil er das aufgrund des internationalen Drucks muss, eigentlich wolle er doch anders. Andere sind weniger großzügig mit der Politik des neuen US-Präsidenten. Viele beschweren sich eben über jene Truppenaufstockung am Hindukusch, über US-Gefängnisse im Irak, über einen Obama, der seinen Bonus als charismatischer erster schwarzer Präsident überstrapaziert. Sie beschweren sich, dass sich die Machtstrukturen der Welt nicht ändern, dass Waffenexporte nicht gestoppt werden, dass es Atomwaffen gibt. "Alles ist besser als Bush", sagt ein Schüler. Obama aber ist hier kein Feindbild. Eher ein Freund, der nur den falschen Job hat. Dass so wenige Kritiker gekommen sind, liegt aber auch an der Polizei. Vom Anti-Nato-Camp aus Straßburg reist fast niemand an. In der Nacht zum Freitag waren in Straßburg 300 Nato-Gegner festgenommen worden, Agenturen berichteten von heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. "Viele befürchten, nicht mehr über die Grenze nach Frankreich zurückzukommen, wenn sie in Baden-Baden demonstrieren", sagt Monty Schädel. In der Bevölkerung gibt es kaum spontane Demonstrationsbesucher - nimmermüde predigte die Polizei zuvor, wie schwer die Krawalle werden könnten. Verdatterte Rentner auf geranienbestückten Balkonen blicken auf die kleine, friedliche Schar, die wegen absurder Auflagen der Polizei kaum mehr als Parolen rufen darf: Die Demonstranten durften sich nicht schminken. Das sei Vermummung - vermutlich fürchteten die Beamten die Rebell Clown Army, die gern Polizeimärsche imitiert und Blümchen auf Schutzschilde malt. Laut Auflagen war zudem alles verboten, was irgendwie zu laut sein könnte, Sambatrommeln etwa. Auch Wasserspitzpistolen waren untersagt sowie das Tragen von Kapuzenpullover. Ein Eilantrag der Veranstalter gegen die Auflagen beim Verwaltungsgericht Karlsruhe scheiterte. Das Gericht teile die Auffassung, "dass ohne die beanstandeten Auflagen Leib und Leben insbesondere der Gipfelteilnehmer sowie die Durchführung des Gipfels unmittelbar gefährdet würden", wie es in der Begründung hieß.
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Schröder auf Putins Party: Dreht ihm den Hahn ab Wenn man schon den Handlangern Putins die Konten in Europa sperrt, warum nicht auch dem deutschen Propagandisten – Altkanzler Schröder? Kanzler-Kuscheln sanktionieren! Bild: dpa Gerhard Schröder wird sich während seines Besuches in Sankt Petersburg, in noblem Ambiente, sicher nicht an Marina Salie erinnern, die Abgeordnete im Stadtparlament von Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg. Vor zweiundzwanzig Jahren deckte die überzeugte Demokratin die Korruption in der Stadtverwaltung auf. Sie dokumentierte, wie tief Wladimir Putin – als stellvertretender Bürgermeister zuständig für die Lizenzen für die Ausfuhr von Rohstoffen – in bis heute undurchsichtige Machenschaften verstrickt war. Ihr Fazit damals: „Ich weiß nicht, ob ich einen anderen so hochrangigen Politiker nennen kann, der das Gesetz so gering achtet.“ Als Putin im Jahr 2000 an die Macht kam, musste Salie um ihr Leben bangen, nachdem einige ihrer Freunde auf mysteriöse Weise ums Leben kamen. Sie flüchtete in ein kleines Dorf und starb am 21. März 2012 einsam im Alter von 77 Jahren. Wladimir Putin hingegen wurde zum mächtigsten russischen Politiker, mit mehr Macht ausgestattet als einst jeder KPdSU-Generalsekretär. Und jetzt feierte er zusammen mit Gerhard Schröder nachträglich dessen 70. Geburtstag, gesponsert von Gazprom, der politisch-wirtschaftlichen Waffe von Putin. Und Gerhard Schröder weiß sicher von der schmierigen Vergangenheit Putins. Das jedoch kümmert ihn nicht im Geringsten. Die einfachste Erklärung wäre, Gerhard Schröder mit seinen 70 Jahren altersbedingte Senilität zu bescheinigen. Doch Schröder ist ein politischer Triebtäter, dem inzwischen jegliche ethische politische Grundfesten verloren gegangen sind. Er möchte sich feiern lassen, und wer ihn feiert, ist ihm ziemlich gleichgültig, mag noch so viel Blut an seinen Händen kleben. Die Party-ProminenzAn der Geburtstagsfeier von Altkanzler Gerhard Schröder in St. Petersburg hat nach Angaben des Konzerns Nord Stream auch der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Philipp Mißfelder (CDU), teilgenommen.Weitere Gäste seien unter anderem Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD), der deutsche Botschafter in Moskau, Rüdiger Freiherr von Fritsch, sowie Manager der Nord-Stream-Anteilseigner Wintershall und Eon gewesen, sagte ein Sprecher der Ostsee-Pipeline-Betreibergesellschaft am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.Die Kosten der Feier, bei der Russlands Präsident Wladimir Putin am Montagabend Schröder nachträglich zum 70. Geburtstag gratuliert hatte, würden von Nord Stream übernommen.Schröders Büro in Berlin erklärte auf Anfrage lediglich, der Altkanzler habe als Vorsitzender des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG Termine in Sankt Petersburg wahrgenommen. Das Unternehmen betreibt die gleichnamige Ostsee-Pipeline und wird vom russischen Staatskonzern Gazprom dominiert. Möge er in der Versenkung verschwinden So weit, so deprimierend für einen deutschen Alt-Bundeskanzler, der sich immer noch Sozialdemokrat schimpft. Viel ärgerlicher ist die Omertà seiner Partei. Nicht nur, dass die gesamte Parteiführung ihm überschwänglich zum 70. Geburtstag gratulierte; bis heute distanziert sich kein führender Sozialdemokrat von diesem Propagandisten Putinscher imperialer Politik, und das Fatale ist, dass seine Saat aufzugehen scheint. Mühsam erklärt man in Berlin, Schröder habe keinen Vermittlungsauftrag, schließlich sei er kein Politiker. Der sozialdemokratische Fraktionschef Thomas Oppermann verteidigt ihn gar. Warum sagt man nicht einfach einmal, Gerhard Schröder möge endlich in der Versenkung verschwinden? Er schadet nur den politischen Interessen einer demokratischen Bürgergesellschaft. Oder noch besser, wenn man schon den führenden Handlangern Putins die Konten in Europa sperrt, warum nicht den führenden deutschen Propagandisten, die zumindest indirekt auf der Lohnliste (über Gazprom) des Kreml stehen? Das wäre ein symbolischer Akt, würde allen Gesetzen widersprechen. Aber moralisch den Alt-Bundeskanzler auf eine schwarze Liste zu setzen und das offensiv politisch und publizistisch umzusetzen – das wäre das eindeutige Signal einer demokratischen Bürgergesellschaft. Daran zu glauben, dass ein solches Signal kommen könnte, ist natürlich Utopie. Die Wirtschaftsinteressen (Gas und Öl) sind allemal wichtiger als ethische Grundsatzfragen. „Sch …drauf“ wird wahrscheinlich Gerhard Schröder dazu sagen.
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60 Jahre Charta der Vertriebenen: Ein unmoralischer Verzicht Die vor 60 Jahren erklärte Charta der Vertriebenen ist Dokument der Geschichtsklitterung. Der BdV braucht eine neue Erklärung, die wahrhaft auf Versöhnung setzt. Frauen beim "Tag der Heimat" des Bundes der Vertriebenen im Jahr 2001. Bild: dpa Dass die Charta der Heimatvertriebenen sechzig Jahre alt wird, ist für niemanden ein Grund zum Feiern oder zur respektvollen Anerkennung - auch nicht für die Bundesregierung. Eine genauere Analyse des Textes zeigt nämlich sofort, dass dort nichts anderes vollzogen wurde als eine massive Geschichtsklitterung, verbunden mit einem unmoralischen Verzicht. Sogar wenn man von der völkischen Schöpfungstheologie absieht, die den Text durchweht, und den Umstand übergeht, dass viele der Erstunterzeichner in der NSDAP oder der SS waren bzw. Männer, die sich lange vor 1933 in Ostmitteleuropa als Volkstumskämpfer betätigten, zeigt sich in der Sache, wie falsch die Grundaussage der Charta ist: Weder entspricht es der historischen Wahrheit, dass das Schicksal der Vertriebenen an Leid vom Schicksal keiner anderen Gruppe in den Jahren 1939 bis 1945 übertroffen wurde, noch ist einsichtig, wie man auf Rache und Vergeltung verzichten kann. Kein Recht auf Rache Verzichten - feierlich dazu - kann man nämlich nur auf etwas, was einem legitimerweise zusteht; dass es so etwas wie ein moralisches Recht auf Rache und Revanche gibt, haben noch nicht einmal die kühnsten Philosophen behauptet; bestenfalls ließe sich sagen, dass entsprechende Gelüste verständlich und entschuldbar sind. Verzichten kann man auf sie nicht, man kann sie sich allenfalls untersagen. Dass die Unterzeichner der Charta, die alten Volkstumskämpfer, 1950 einfach dort weitermachen wollten, wo sie 1918 begonnen haben, beweist übrigens der Ort der Verkündung der Charta: Stuttgart. Viel zu wenig bekannt ist, dass Stuttgart 1936 von Adolf Hitler zur "Stadt der Auslandsdeutschen" erklärt worden war. Darüber hinaus zeigt die Geschichte des Bundes der Vertriebenen (BdV) mitsamt seiner Vorsitzenden Erika Steinbach, dass alle Verdächtigungen, die gegen sie und ihren Verband im Schwange waren, zu Recht bestehen. Vor einigen Jahren war Steinbach durchaus ein Glücksfall für den in die Jahre gekommenen Verband - war es ihr doch gelungen, Agenda und Ideologie erfolgreich zu modernisieren. Indem es ihr gelang, ihrer Sache eine universalistische Form zu geben, das heißt darauf hinzuweisen, dass nach unseren heutigen menschenrechtlichen Intuitionen jede Vertreibung oder gewaltsame Aussiedlung Züge eines Genozids annehmen und auch im Genozid enden kann, konnte sie auch Intellektuelle wie Ralph Giordano, Daniel Cohn-Bendit oder Peter Glotz für ihre Projekte gewinnen. Indem sie sich als eine der Ersten dafür einsetzte, den jungtürkischen Genozid an den Armeniern als solchen zu benennen und auch öffentlich daran zu erinnern, hat sie sich Verdienste erworben. Steinbachs Ablehnung Gleichwohl: Durch ihre Ablehnung des Beitritts von Ländern wie Tschechien zur EU ob deren menschenrechtswidriger Vertreibungsdelikte und ihre mit dünnen völkerrechtlichen Argumenten begründete Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze hat sie sich in Ostmitteleuropa zur Persona non grata gemacht und dem verbal vorgetragenen Willen zur Versöhnung widersprochen. Schließlich ist Erika Steinbach, was die Frage der Besetzung des Stiftungsrats zu einer Erinnerungsstätte an die Vertreibung betrifft, an Guido Westerwelle gescheitert. Das hat weder sie noch der BdV verwunden. Die jüngsten Äußerungen der jetzt in den Stiftungsrat "Flucht, Vertreibung und Versöhnung" entsandten BdV-Mitglieder Hartmut Saenger und Arnold Tölg beweisen, dass der lange gepflogene universalistische Grundton nicht mehr durchgehalten wird. Indem Tölg und Saenger die alleinige Schuld des nationalsozialistischen Deutschland am Beginn des Zweiten Weltkriegs bestreiten und gegen die bedingungslose Entschädigung von Zwangsarbeitern sind, schalten diese BdV-Vertreter jetzt einen geschichtsrevisionistischen Rückwärtsgang ein. Nicht unbedingt bestürzend, wohl aber verräterisch ist, dass sich Erika Steinbach diese Meinungen ausdrücklich zu eigen macht. Den deutschen Vertriebenen aus den Ostgebieten und aus Tschechien ist in den letzten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkrieges mit schweigendem Einverständnis der westlichen Alliierten großes Unrecht widerfahren: Sie hatten einen erheblichen Blutzoll, zumal der Schwächsten, von Kindern, Frauen und Alten, zu entrichten; die Täter, tschechische und polnische Milizen sowie Truppen der Roten Armee, wurden für diese Verbrechen niemals zur Verantwortung gezogen. Die falschen Funktionäre Und sogar wenn, im Unterschied zu anderen vertriebenen und geflüchteten Gruppen, die Integration der Vertriebenen in den westdeutschen Staat am Ende eine Erfolgsgeschichte war, so ist doch zur Kenntnis zu nehmen, dass sie mindestens in den ersten Jahren keineswegs freudig empfangen und oft genug diskriminiert wurden. Gleichwohl haben sie insgesamt einen positiven Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik geleistet. Indes - leider haben sie sich bis heute von den falschen Funktionären vertreten lassen, von Funktionären, die, wie die Äußerungen der letzten Tage zeigen, nach wie vor nichts lernen wollen. Dem BdV ist heute nicht zu gratulieren. Vielmehr ist von ihm zu fordern, die Charta endlich außer Kraft zu setzen und eine neue, wahrhaft auf Versöhnung und ein vereintes Europa setzende Grundsatzerklärung zu beschließen.
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Neues Ukip-Gewinnerthema: Burka führt zu Vitaminmangel Britische Rechtspopulisten begründen ihre Forderung nach einem Burka-Verbot medizinisch: Verschleierten Frauen mangele es an Vitamin D. Frau, verschleiert, in der Sonne – für Rechtspopulisten nur schwer zu ertragen Foto: dpa Bei Wahlen in Großbritannien veröffentlicht jede Partei ein detailliertes „Manifest“, als Regierungsprogramm für den Fall eines Wahlsiegs. Kaum jemand liest es, aber es stehen immer irgendwo lustige Sachen drin. Das Manifest der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP), die nach dem Erfolg des Brexit schwer in der Krise steckt, sorgt da für besondere Aufmerksamkeit. Dass die Partei ein Burka- und Niqab-Verbot verlangt, ist zwar bekannt; dass sie die Frauenverhüllungen nicht nur als „Sicherheitsrisiko“, sondern auch als „entmenschlichende Symbole von Segregation und Unterdrückung“ geißelt, ist klar. Aber dann steht als letzter Satz der Wahlkampfforderung „Zeig dein Gesicht in der Öffentlichkeit“ folgendes: „Kleidung, die Identität verbirgt, Barrieren zu Kommunikation aufstellt, Arbeitsmöglichkeiten einschränkt, den Nachweis häuslicher Gewalt verbirgt und die Aufnahme von lebensnotwendigem Vitamin D durch Sonnenlicht verhindert, ist nicht befreiend.“ Das Burka-Verbot als Mittel gegen Vitaminmangel – darauf muss man erst mal kommen. Was für ein Blödsinn, war der Tenor der Medienkommentare. Lag es etwa daran, dass dieses Wahlmanifest zum Auftakt eines Hochsommerwochenendes präsentiert wurde? Bei 30 Grad und Dauersonne lassen die Briten gerne die Hüllen fallen. Zu einer bissigen TV-Satireshow geladen, zeigte sich Suzanne Evans, die leutselige Nummer Zwei von UKIP, am Sonntagabend in glänzender Form. Sie verwies auf eine Studie, wonach von 465 Frauen in den Krankenhäusern der saudischen Hauptstadt Riad alle 465 an Vitamin-D-Mangel litten – saudische Frauen dürfen ja nicht unverhüllt ins Licht. Der Moderator war verblüfft und sprachlos. Punktsieg für UKIP. Ihr Chef Paul Nuttall konnte diese Erkenntnis in seinem ausführlichen TV-Interview am Montag abend nur fröhlich bestätigen. Eigentlich, fügte er hinzu, gehe es aber um Integration: „Wenn man die vollen Vorteile der britischen Gesellschaft genießen will, muss man sein Gesicht zeigen.“ Im Sommer auch noch ein paar andere Körperteile, hätte er hinzufügen können, aber dann wechselte der Interviewer das Thema. Bei einer Umfrage vergangenes Jahr sprachen sich 57 Prozent der befragten Briten für ein Burka-Verbot aus, nur 25 Prozent dagegen. UKIP hat endlich ein neues Gewinnerthema gefunden.
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Haß. Wirklich? glückliches Salzburg, ein zweites Sachsen, wo die hübschen Mädchen wachsen. (Für sich.) Das ist ein Kapitalmädchen! Wenn ich nur der Haß nicht wär--das ist doch fatal! die könnte mich glücklich machen. Denn wenn sie mich alle Tage mit ihren schönen Augen nur hundertmal anblickt, so habe ich die Woche hindurch siebenhundert schöne Augenblicke. (Nachdenkend.) Das ist doch fatal, daß ich der Haß bin, jetzt wär ich viel lieber ein Salzburger. Adieu! schöne Salzburgerin. (Geht ab und wirft ihr im Abgehen Küsse zu.)
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Das Fleisch salzen und pfeffern, kurz in etwas Öl anbraten, aber nicht durch braten. Warm stellen.Die Champignons in der Pfanne anbraten, Zwiebel und Knoblauch dazu geben, etwas Farbe nehmen lassen und mit Brühe ablöschen. Etwas einreduzieren lassen. Ich gebe nie die gesamte Flüssigkeit auf einmal dazu, sondern immer nach und nach. Wer gerne scharf isst, gibt die Chili dazu. Zum Schluss dann die Kokosmilch dazu geben, das warm gestellte Fleisch wieder einlegen, nochmals etwas einköcheln lassen, mit Salz und Pfeffer abschmecken.Dazu reicht man Basmatireis und Gemüse nach Wahl.
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Freundlich, aber mit großer Entschiedenheit erklärte Reicher, daß sein Entschluß unwiderruflich feststehe; er könne nicht genau auseinandersetzen, warum seine Abreise so dringend nötig sei, denn es wäre kein Thema, das er auf einem Feste erörtern möchte. Die Freude und das Vergnügen dürfe dadurch in keiner Weise gestört werden. Alle schauten einander erstaunt an, wagten aber nicht weiter zu fragen; das Klügste, das fühlte jeder heraus, war, den Gegenstand fallen zu lassen. So taten denn alle ihr Bestes, die Störung vergessen zu machen, und bald ließ die Stimmung, was Fröhlichkeit und Ausgelassenheit betraf, nichts zu wünschen übrig.
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Most research on migrant women's employment is concentrated on just two areas of employment: domestic work (cleaning and care) and the sex industry. Thus academics inadvertently emphasise migrant women who work in the lesser skilled sectors of the labour market. Employment in the domestic work sector rose sharply in the 1990s, especially in Southern Europe but also in countries of the global North. It has also risen in sex work, where it is estimated that 80% of trafficked women are employed. The 1990s saw an increase in sex trafficking, especially from Eastern and South Eastern Europe, which has to a great extent replaced flows from Latin America and Asia. This is related to the globalization of the sex trade, which has become a lucrative business, fuelled by the growing demand in destination countries for foreign and exotic prostitutes. Thus it is estimated that between 200,000 and 500,000 women are working illegally, and sometimes involuntarily, as sex workers within the European Union alone. Theoretical discussions of female migration have revolved strongly around these sectors of the labour market, particularly domestic employment. For instance, Saskia Sassen suggests that demand for labour in the marginalised, flexible and devalued sectors of production and services in global cities is often being met by migrants, especially migrant women. In particular, the rising labour market participation of women in the global North, alongside an increase in the ageing population, has resulted in substantial labour shortages in unpaid informal care that women had often provided, intensifying demand for paid care-givers. She suggests that women from the global South, faced with a poor economic situation in their home country, migrate to fill this demand in wealthier countries. This recognition of the significant presence of poorly paid migrant women workers in the privileged centres of global power provides an antidote to the emphasis in much of the migration literature on prestigious (largely male) financial and scientific experts and managers who are seen as the drivers of globalisation. Sassen insists that migrant women too form part of the globalisation process, albeit in a less celebrated role. The process through which this migration of women is arranged, and the effects of such migration, are both clearly elaborated by Arlie Hochschild. She points out that when women move from the South to the North to care for a child or an elderly person in a wealthier country they leave behind families who themselves need care. She suggests that the emigration of woman thus results in her own family needing to bring in someone from a poorer area to look after her children and parents. Sometimes another member of her family, such as a sister, may be remunerated to do the caring. This creates a chain of migration, which is commonly called the global care chain. This is defined "as a series of personal links between people across the globe based on the paid or unpaid work of caring." Global care chains represent how the interdependencies between different places are created through migration at a household level. Both Sassen and Hochschild have contributed much to theorising the migration of women. However, they lay women's inputs to the new global economy firmly within certain commodified or paid forms of household work, such as in the cleaning and caring industries. This refrain is echoed in the literature on global labour where much of the writing on gendered migrations allocates women lowly occupations "as exotic, subservient or victimised, or relegated to playing supporting roles" and as homemakers. They provide necessary physical and emotional labour in homes in the global North. While the dominance of workers in the two key service sectors of domestic and sex work means that this focus is undoubtedly justified, we have to be careful to make sure that it does not obscure other forms of work, including skilled occupations, that migrant women engage in or other contributions they make to receiving economies. While, in this analysis, women are seen as contributing to lesser skilled sectors of the labour market, in countries where family migration is the dominant mode of migration female migration is largely seen as a social issue, not an economic one. Women, who dominate family migration streams, are therefore not necessarily analysed in terms of their labour market participation, but may rather be seen as recipients of welfare. Moreover, even when female family migrants´ labour market participation is considered, they are rarely seen as having skills needed to contribute meaningfully to the knowledge economy. The economic benefits of migration are often only analysed in the context of occupations in knowledge-based industries such as finance and science and technology, in which men usually dominate. But as we argue below, the dichotomy of skilled male and unskilled female migration needs to be reconsidered. See Anderson (2000). See Agustin (2007). See Hochschild (2000: 131). See Pratt and Yeoh (2003). See Hochschild (2000). See Anderson (2000); Ehrenreich and Hochschild (2003); Parreñas (2001). See Dumont et al. (2007).
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Benin hat die Wahl: Pferd in Grün? Baum in Gelb? Westafrikas einstige Musterdemokratie geht originelle Wege: Bei der Parlamentswahl am Sonntag sind nur Regierungsparteien zugelassen. Benins Präsident Patrice Talon war im Oktober 2018 zu Gast im Bundeskanzleramt Foto: dpa COTONOU taz | So häufig wie in den vergangenen Wochen kommt es in Benins Wirtschaftsmetropole Cotonou selten zu Demonstrationen. In der vergangenen Woche riefen sogar die ehemaligen Präsidenten Boni Yayi und Nicéphore Soglo auf den großen Markt Dantokpa mitten in der Stadt. Denn am Sonntag wird passieren, was viele als „eine noch nie dagewesene Situation“ für Benin bezeichnen. Bei den Parlamentswahlen am Sonntag treten nur zwei Parteien an, und beide gehören zum Regierungslager von Präsident Patrice Talon. Der Unternehmer ist seit 2016 an der Macht und kündigte damals den Bruch mit dem alten System an. So werden vermehrt Steuern eingetrieben. Auch neue – etwa für Autos – wurden eingeführt. In Benin heißt es oft, dass er sich Ruanda zum Vorbild genommen habe und Effizienz schätze. Eric Houndété, erster Vizepräsident der Nationalversammlung, schlägt als Treffpunkt das Haus des Expräsidenten Yayi vor. Dessen Partei steht nicht auf den Stimmzetteln, obwohl seine FCBE (Force Cauris pour un Bénin Émergen) noch vor fünf Jahren 33 der 83 Sitze geholt hatte. Zwischen zwei Krisentreffen sagt Houndété entrüstet: „Das ist keine Wahl, sondern die Nominierung von Abgeordneten einer Einheitspartei, die in zwei Teile geteilt ist.“ Die Demonstrationen seien nur konsequent. „Die Beniner sind ein friedliches Volk. Wird aber jemand gedrängt und steht mit dem Rücken zur Wand, kann man für nichts garantieren“, kündigt der Oppositionspolitiker nebulös an. An den Straßenrändern von Cotonou sind die Plakate beider zur Wahl antretenden Formationen zu sehen: der Bloc Républicain in einem matten Grün mit weißem Pferd, die Union Progressiste in Gelb mit einem Baum. Seit dem vergangenen Wochenende fahren immer häufiger Lastwagen beider Gruppierungen durch die Stadt und werfen Flyer auf die Straßen, damit doch noch einige der gut 5 Millionen Wahlberechtigten sich begeistern lassen und ihre Stimme abgeben. „Die Verfassung war Vorbild für andere“ Denn für viele ist der Wahlkampf längst gelaufen. Über Inhalte spricht niemand, obwohl rund jeder zweite der rund 11 Millionen Beniner in absoluter Armut lebt, trotz Wirtschaftswachstums. In Ballungsgebieten wie Cotonou und Abomey-Calavi wird Wohnraum teurer. Die Mittelschicht, die an Wochenenden die neu gebauten Eisdielen bevölkert, bleibt klein. Eric Houndété, Oppositioneller„Das ist keine Wahl, sondern die Nominierung von Abgeordneten einer Einheitspartei, die in zwei Teile geteilt ist“ Im Wahlkampf dreht sich alles um den Ausschluss der Opposition. „Der Ausschluss der Opposition wurde organisiert, überdacht und gut ausgeführt“, kritisiert Djidénou Steve Kpoton, Jurist und politischer Beobachter. Es könne die Region negativ beeinflussen. Benin, der kleine westafrikanische Nachbar Nigerias, galt seit dem Ende des Sozialismus ab 1990, als es Vorreiter beim Übergang zum Mehrparteiensystem war, als „Musterdemokratie“. „Die Verfassung war Vorbild für andere“, so Kpoton. Die Entscheidung, nur zwei von sieben Parteien zuzulassen, traf die Nationale Autonome Wahlkommission (Cena). Sie kam zur Einschätzung, dass die Unterlagen der anderen fünf fehlerhaft waren, Belege fehlten und Steuern nicht gezahlt worden waren. Öffentlich zugänglich sind die entsprechenden Dokumente aber nicht. „Die Cena wird in der Öffentlichkeit als parteiisch wahrgenommen“, sagt Mathias Hounkpe, Analyst der Open Society Initiative for West Africa (Osiwa) mit Sitz in Dakar. Vorausgegangen war 2018 eine vom Parlament beschlossene Parteienreform, um der Zersplitterung der Parteienlandschaft ein Ende zu setzen.
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Nachdem sie darüber einig waren, wendete sich das Gespräch auf den Geist. Wilhelm konnte sich nicht entschließen, die Rolle des lebenden Königs dem Pedanten zu überlassen, damit der Polterer den Geist spielen könne, und meinte vielmehr, daß man noch einige Zeit warten sollte, indem sich doch noch einige Schauspieler gemeldet hätten und sich unter ihnen der rechte Mann finden könnte.
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Hitlers Schrift "Mein Kampf", die er in zwei Teilen, 1924 in der Landsberger Festungshaft und 1926 auf dem Obersalzberg, verfasste, ist seit jeher ein Reizthema. Die Schrift erschien im Eher-Verlag, dem Hausverlag der NSDAP. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges übertrug die amerikanische Besatzungsmacht das Vermögen sowie die Urheberrechte an den Publikationen des Verlages dem Freistaat Bayern beziehungsweise dem Bayerischen Ministerium der Finanzen. Mit dem Hinweis auf diese Rechtslage hat der Freistaat Bayern eine Wiederveröffentlichung von "Mein Kampf" in Deutschland bis heute unterbunden. Dies war solange kein Problem, wie das Urheberrecht fortgalt, nämlich bis 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Im Falle Hitlers läuft diese Frist Ende 2015 ab. Vom 1. Januar 2016 an ist "Mein Kampf" gemeinfrei. Dass die Materie eine hochpolitische, auch außenpolitisch relevante Dimension besitzt, ist unstrittig und keineswegs eine neue Erkenntnis. Klar ersichtlich wird sie zum Beispiel schon im Umgang mit Hitlers "Zweitem Buch", in dem der spätere Diktator sein langfristiges Ziel der bewaffneten Eroberung von "Lebensraum" im Osten ausführlich begründet. Dieses von Hitler 1928 verfasste, damals unveröffentlichte Manuskript wurde 1958 von dem Historiker Gerhard Weinberg in den USA wiederentdeckt. Mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Freistaats Bayern publizierte das Institut für Zeitgeschichte die Schrift, und zwar "wesentlich von dem Gedanken geleitet, durch eine wissenschaftliche kritische Edition einem öffentlichen Mißbrauch vorzubeugen". Als nun die Frage entstand, ob eine englische Lizenz- und damit deutscherseits autorisierte Ausgabe der Schrift opportun sei, äußerte das Auswärtige Amt Bedenken: Jeder Eindruck einer deutschen "amtlichen Mitwirkung" an der Publikation in den USA sei zu vermeiden, denn es bestehe die Gefahr, "daß bei einem Teil der amerikanischen Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Verbreitung des Hitlerschen Manuskripts geschehe unter amtlicher deutscher Förderung, was zu Mißdeutungen Anlaß bieten könnte". Hitlers "Zweites Buch" erschien daher in den USA zunächst nur als unautorisierte Ausgabe. 1995 gab der Freistaat Bayern erneut die Zustimmung zu einer ausführlich kommentierten deutschen Neuveröffentlichung im Rahmen der vom Institut für Zeitgeschichte besorgten großen Edition von Hitlers "Reden, Schriften, Anordnungen 1925–1933". Allerdings wurde dieses Mal der Titel ("Hitlers Zweites Buch") als politisch problematisch betrachtet und durfte dementsprechend nicht verwendet werden. Wie ein Vorgriff auf die aktuelle Diskussion um "Mein Kampf" wirkt diese Episode, allerdings mit dem Unterschied, dass das Instrument des Urheberrechts künftig nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich umso nachdrücklicher die Frage nach Sinn und Zweck, Ergebnissen und Problemen einer kritischen Edition von "Mein Kampf". Das Institut für Zeitgeschichte bereitet eine solche Edition seit Längerem vor, wird sie im Januar 2016 publizieren und der Öffentlichkeit vorstellen. Im Folgenden wird es erstens um die sachliche Notwendigkeit einer solchen Edition gehen, zweitens um ihren Zuschnitt und ihre wesentlichen Zielsetzungen. Ein dritter Gedankengang gilt einigen spezifischen Problemen im Kontext der öffentlichen Debatte um dieses Projekt. Sachliche Notwendigkeit Die sachliche Notwendigkeit einer kritisch und umfassend kommentierten Neuausgabe von Hitlers "Mein Kampf" ergibt sich in erster Linie aus dem Quellenwert der Schrift. Auf den ersten Blick widerspricht diese Feststellung dem weitverbreiteten Urteil, das Buch sei langweilig, verquast, wirr, schlecht geschrieben, ja geradezu verrückt. Schon zeitgenössische Kritiker wie Andreas Andernach, der 1932 ein Buch über "Hitler ohne Maske" verfasste, gingen verhältnismäßig wenig auf die Inhalte des Buches ein. Stattdessen labten sie sich an der Polemik gegen den "in tötender Langeweile, mit endlosen Wiederholungen" zu lesenden "Heilsarmee-Sermon". Gleichsam stilbildend geworden ist das Urteil Otto Straßers aus dem Jahr 1940, Hitlers politischem Gegner auf der extremen Rechten: "Alles zusammen war im Stil eines Schülers der sechsten Volksschulklasse geschrieben – ein grässliches Chaos von Gemeinplätzen, Schülerreminiszenzen, subjektiven Urteilen, persönlicher Gehässigkeit." Und nimmt man beide Argumente zusammen – einerseits ein langweiliges, inhaltlich verquastes Buch, andererseits kaum jemand, der es sich antun würde, dieses Buch zu lesen –, dann kann man sich fragen, ob die ganze Aufregung um das Thema nicht leicht übertrieben ist. Aber eine solche Auffassung würde in geradezu fahrlässiger Weise fortsetzen, was der Historiker Karl Dietrich Bracher schon vor Jahren in den vielzitierten Satz kleidete, die Geschichte Hitlers sei die Geschichte seiner notorischen Unterschätzung. Jedenfalls entspräche eine blasierte Haltung, die die Auseinandersetzung mit Hitlers Sentenzen als intellektuelle Zumutung und gleichsam unter der Würde des eigenen Bildungsniveaus liegend empfände, dem gleichen fatalen Fehler, den schon die zeitgenössischen Eliten der Weimarer Republik begingen: Sie nahmen Hitler zunächst nicht ernst, suchten sich sodann seiner propagandistischen Erfolge zu bedienen, um am Ende von ihm selbst benutzt, desavouiert und abserviert zu werden. Tatsächlich muss "Mein Kampf" in dem Maß ernst genommen werden, in dem das Buch den wichtigsten Zugang zu Hitlers Denken und seiner Biografie eröffnet. An unzähligen Stellen offenbart Hitler seine menschenverachtende Ideologie und auf ihrer Basis eine in erschreckender Form pervertierte, geradezu verbrecherische Rationalität, die freilich zu einem wesentlichen Bedingungsfaktor des NS-Regimes wurde. Hiermit muss man sich auseinandersetzen, und das gilt auch dann, wenn die Botschaft in sprachlich limitierter und in der Gedankenführung längst nicht immer geradliniger Weise präsentiert wird. Im Folgenden seien drei Beispiele genannt. Hitler beginnt sein ideologisches Schlüsselkapitel über "Volk und Rasse" mit der skurrilen Wendung: "Es liegen die ‚Eier des Kolumbus‘ zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben seltener zu finden." Im Prinzip bräuchte so ein Satz gar nicht ins Lächerliche gezogen zu werden; bestätigt er nicht vielmehr das allseits bekannte Urteil: schlecht geschrieben, verquast? Liest man indes weiter, so verändert sich das Bild. Nach einigen weiteren, stilistisch indiskutablen Sentenzen – "Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin usw." – erfährt man sehr bald, was Hitler antreibt. Da ist die Rede von der "Natur", einem in ihr wirksamen "ehernen Grundgesetz", einer natürlichen "Abgeschlossenheit der Arten". Und Hitler spricht auch davon, dass die Natur den Verstoß gegen ihr "ehernes Gesetz" sanktioniert und zwar durch den Raub der "Widerstandsfähigkeit gegen Krankheit oder feindliche Angriffe". Hitler schöpft also auf seine Weise aus dem wissenschaftlichen, vor allem aber aus dem populär- und pseudowissenschaftlichen Kenntnisschatz seiner Zeit. Und er tut etwas, was die Sozialdarwinisten aller Couleur tun: Er überträgt Naturgesetze und solche, die er dafür hält, auf den Menschen, die Menschheitsgeschichte und die menschliche Gesellschaft. Schon an dem zitierten Ausschnitt kann man erkennen, wohin das führt. Das mit den "Eiern des Kolumbus" begonnene Kapitel führt von der Hausmaus und ihrer Abschließung gegen die Feldmaus bis zum Gegensatz der "Rassen" und hier von "Ariern" und Juden und ihrem "ewigen", durch ein "ehernes Naturgesetz" determinierten Kampf in der Geschichte. Und wer gegen dieses Naturgesetz verstoße, werde seine Widerstandsfähigkeit gegen feindliche Angriffe oder gegen eigene Krankheiten verlieren. Das Nürnberger "Blutschutzgesetz" von 1935 und der hierin statuierte Straftatbestand der "Rassenschande" stehen dann am Ende dieser Argumentationskette. Das heißt aber: Die "Eier des Kolumbus" offenbaren ein entscheidendes Merkmal des nationalsozialistischen Ideologiekerns. Nach 1933 werden Hitlers Vorstellungen über die Natur und ihre ehernen Grundgesetze zum staatlichen Programm mit allen seinen brutalen Folgen. Ein weiteres Beispiel betrifft Hitlers Forderung, "daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird". Indem Hitler in der Umsetzung dieser Forderung "die humanste Tat der Menschheit" sieht, die "Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen" wird, knüpft er an die international geführte eugenische Diskussion an. Hitler stellt sich hier eindeutig auf die Seite derer, die eine Zwangssterilisierung von körperlich und geistig Behinderten befürworteten. Nach 1933 wurden die entsprechenden Maßnahmen im "Dritten Reich" mit den bekannten Folgen umgesetzt. Vergleichbare Kontinuitäten, in denen Hitlers "Mein Kampf" nur eine Stimme unter vielen repräsentierte, die aber im NS-Regime in eine menschenverachtende und mörderische Praxis mündeten, lassen sich am Beispiel der Euthanasie und der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" nachweisen. Ein drittes und letztes Beispiel ergibt sich aus Hitlers vernichtender Kritik an der Außenpolitik des Kaiserreiches, die er unter das Leitmotiv der "Germanisierung" stellte. Insbesondere wandte er sich gegen die lang gehegte Vorstellung, man könne nichtdeutsche Bevölkerungsteile durch eine aktive Sprachpolitik für das deutsche Volkstum gewinnen. Gerade in der Zurückweisung solcher kultureller "Germanisierungs"-Bestrebungen, wie sie aus dem Kaiserreich bekannt waren, offenbart sich Hitlers rassenideologisches Denken. Der Versuch einer kulturellen "Germanisierung" bilde "den Beginn einer Bastardierung und damit in unserem Fall nicht eine Germanisierung, sondern eine Vernichtung germanischen Elementes". Man müsse sich klar darüber werden, "daß Germanisation nur an Boden vorgenommen werden kann und niemals an Menschen". Diese Vorstellung über die "Germanisierung" des Bodens war ein integraler Bestandteil der sozialdarwinistischen Idee des "Lebensraums", den die Deutschen mit Waffengewalt im Osten zu erobern das Recht hätten. Hitler hat an dieser Vorstellung konsequent bis in den Zweiten Weltkrieg hinein festgehalten. Am 3. Februar 1933, kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler, deklamierte er, die "Ausweitung des Lebensraumes des deutschen Volkes wird auch mit bewaffneter Hand erreicht werden – Das Ziel würde wahrscheinlich der Osten sein. Doch eine Germanisierung der Bevölkerung des annektierten bezw. eroberten Landes ist nicht möglich. Man kann nur Boden germanisieren." Auch künftig blieb das Ziel der "Germanisierung" durch die weitgehende Vertreibung oder Vernichtung der einheimischen Bevölkerung ein ebenso konsistentes wie konstantes Motiv in den überlieferten Hitler-Äußerungen. In einer Unterredung mit der Reichswehrspitze vom 5. November 1937 – bekannt durch die "Hoßbach-Niederschrift" – definierte Hitler die deutsche Zukunft als "ausschließlich durch die Lösung der Raumnot bedingt". Dabei handle es sich "nicht um die Gewinnung von Menschen, sondern von landwirtschaftlich nutzbarem Raum". Am Beginn des Zweiten Weltkrieges forderte Hitler, jenseits der bisherigen deutschen Grenze sei ein "breiter Gürtel" bislang polnischen Territoriums "der Germanisierung und Kolonisierung" zuzuführen. Und in seiner bekannten Ansprache an die Oberbefehlshaber vom 23. November 1939 legte Hitler seine Ziele in einer Deutlichkeit dar, die wie ein fernes Echo auf "Mein Kampf" klingt: "Die steigende Volkszahl erforderte grösseren Lebensraum. Mein Ziel war, ein vernünftiges Verhältnis zwischen Volkszahl und Volksraum herbeizuführen. (…) Es ist ein ewiges Problem, die Zahl der Deutschen in Verhältnis zu bringen zum Boden. Sicherung des notwendigen Raumes. Keine geklügelte Gescheitheit hilft hier, Lösung nur mit dem Schwert. Ein Volk, das die Kraft nicht aufbringt zum Kampf, muss abtreten." Diese Beispiele zeigen, dass Hitlers "Mein Kampf" eine zentrale historische Quelle ist, die man keineswegs für irrelevant erklären sollte. Das gilt ganz besonders für den Zusammenhang zwischen ideologischem Denken, der Ausübung von Macht und der späteren Praxis des Zweiten Weltkrieges. Nirgendwo im NS-Regime ist Hitlers persönliche Rolle, seine Handschrift als Diktator, deutlicher zu erkennen als im Willen zum Krieg, den er Deutschland und Europa aufzwang. In einer Mischung aus ideologischem Wahn, pervertiert-verbrecherischer Rationalität und brutaler Skrupellosigkeit entwickelte er ein "Programm" und hielt daran bis zu seinem Ende fest. Die wichtigste Quelle für die Entstehung dieser Kriegsbesessenheit ist "Mein Kampf". Hitler nahm dabei das vor 1914 in Mitteleuropa bereits virulente völkische Denken auf, adaptierte es in spezifischer Weise und verarbeitete es zu einer neuen gedanklichen Synthese. Rassenideologische Prämissen wie die Überlegenheit der "arischen Rasse", das Recht des Stärkeren und die sozialdarwinistische Vorstellung, das Bewegungsgesetz der Weltgeschichte sei der unaufhörliche Kampf und Krieg zwischen den Völkern und "Rassen", bildeten das Axiom für Hitlers Überzeugung, dass der Krieg um die Erweiterung von "Lebensraum" in Osteuropa nicht nur ein notwendiges, sondern auch jenseits aller Rechtstraditionen legitimes Ziel sei. Zuschnitt und Zielsetzungen Einen "kritischen" Anspruch erhebt die Edition von "Mein Kampf" in erster Linie durch ihren Kommentar, der in diesem Zusammenhang einen mehrfachen Zweck erfüllt. So legt die Edition, wo immer möglich, die Quellen des Hitlerschen Denkens offen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Fülle anonymer Broschüren- und Pamphletliteratur, sondern auch um namentlich bekannte Autoren aus dem völkisch-nationalistischen Spektrum. Nicht selten lassen sich direkte Anleihen im Text von "Mein Kampf" nachweisen. Allerdings leistet der Kommentar noch etwas anderes, zumindest ebenso Wichtiges: Er macht nämlich transparent, welche Topoi Hitler aufnimmt, die schon lange vor ihm und ohne ihn im völkischen Milieu existierten und gleichsam Allgemeingut geworden waren. Ob dies die behauptete "Verweichlichung und Verweibung" der Gesellschaft im Kaiserreich war, die Tiraden gegen "Rassenmischung" und "Rassenschande", der brutale Antisemitismus oder vieles andere mehr: Hitler sog geradezu alle ihm erreichbaren völkisch-rassistischen Denkfiguren auf, um sie seinem Gedankengebäude dienstbar zu machen. Indem sie dieses verwandte Gedankengut dokumentiert und zugleich zentrale ideologische Begriffe und ihre Tradition erläutert, kann die Kommentierung regelmäßig zeigen, wie tief der durch Hitler inspirierte Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft und Kultur wurzelte. Der Nationalsozialismus war eine parasitäre Bewegung und kam keineswegs von außen über die deutsche Geschichte. Ganz im Gegenteil: Vielmehr integrierte er wesentliche Elemente der deutschen politischen Kultur, spitzte sie zu und radikalisierte sie für seine Zwecke. "Mein Kampf" ist hierfür das vielleicht wichtigste Dokument. Hitlers Schrift ist durchzogen von glatten Lügen, häufiger aber von Halbwahrheiten, von Feindkonstruktionen und ungeschminkter Hasspropaganda, aber auch von subtilen Anspielungen. Zu den Aufgaben eines kritischen Kommentars gehört es daher, nicht nur sachliche Falschaussagen und Fehler zu berichtigen, sondern auch zusätzliche Informationen zu liefern, Anspielungen aufzulösen und einseitige Darstellungen zu korrigieren. Schließlich berücksichtigt die Edition des Instituts für Zeitgeschichte auch die Folgen des Hitlerschen Denkens, wenn sie immer wieder darauf hinweist, welche 1924/26 nur abstrakt gedachten und formulierten Ideologeme nach 1933 realisiert wurden. Der Zusammenhang von menschenverachtender Ideologie und verbrecherischer Tat wird damit unterstrichen. Hinzu kommt ein Weiteres: Neben der Ausbreitung ideologischer Denkmuster ist "Mein Kampf" in seinem ersten Teil auch die umfassendste biografische Information, die wir über Hitler besitzen. Allerdings ist es eine horrend stilisierte Autobiografie, die alles andere als eine getreue, "objektive" Darstellung seiner Vita ist. Einmal mehr wird hierbei die Notwendigkeit des Kommentars deutlich: Denn angenommen, es gäbe keinerlei andere Information über Hitlers Biografie als "Mein Kampf" – dann wäre der heutige Leser der Darstellung in diesem Buch gewissermaßen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er müsste gleichsam glauben, was darin steht, ohne über eine kritische Kontrolle zu verfügen. Hitler verkörperte den sozialen Bankrott in seiner Biografie. Die Lebensleistung seines Vaters – eines sozialen Aufsteigers – hatte ihm ordentliche Startchancen gesichert. Er nutzte sie nicht und lernte infolgedessen das Wien der Vorkriegszeit von unten kennen. 1909 versiegten Hitlers Barmittel allmählich; zur persönlichen Notlage kamen Teuerung und Wohnungsnot. Entgegen der Darstellung in "Mein Kampf" ging Hitler keiner ausreichend regelmäßigen Tätigkeit nach, um sich zumindest notdürftig über Wasser zu halten. Armenfürsorge und Armenküche, Wärmehallen und Obdachlosenasyl waren die Konsequenz – ein Ambiente, das mit der kleinbürgerlichen Geborgenheit des Elternhauses schmerzhaft kontrastierte. Dies war nicht das glitzernde Wien der Avantgarde, sondern das "Wien der Einwanderer, der Zukurzgekommenen, der Männerheimbewohner". Hitler hat diese Deklassierungserfahrung so verarbeitet, wie es die meisten tun würden. Er hat sie vor sich selbst und vor anderen stilisiert – sie verpuppt in einem Kokon aus Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Wien 1909 – das sei für ihn eine "unendlich bittere Zeit" gewesen, so schreibt er im Januar 1914 an den Magistrat der Stadt Linz. "Ich war ein junger unerfahrener Mensch ohne jede Geldhilfe und auch zu stolz, eine solche auch nur von irgend jemand anzunehmen geschweige denn zu erbitten. (…) Zwei Jahre lang hatte ich keine andere Freundin als Sorge und Not, keinen anderen Begleiter als ewigen unstillbaren Hunger. Ich habe das schöne Wort Jugend nie kennen gelernt." Vier der sechs Argumente in diesem Bericht sind nachweislich falsch. Hitler hatte Geldhilfe erhalten, von der Familie und durch seine Waisenrente; er war durchaus nicht zu stolz gewesen, solche Hilfe anzunehmen; und bei seiner Tante hat er auch darum gebeten. Schließlich hatte Hitler eine materiell sorgenfreie Jugend. Sie bot ihm Müßiggang und Chancen. Ersteren hat er ausgelebt, letztere nicht genutzt. Was Hitler 1914 in einer rein persönlichen Angelegenheit dem Linzer Magistrat mitteilt, schreibt er zehn Jahre später auch in "Mein Kampf": Wien sei für ihn "die traurigste Zeit meines Lebens" gewesen und habe "fünf Jahre Elend und Jammer für ihn bereitgehalten". "Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir mein Brot verdienen mußte; mein wahrhaft kärglich Brot, das doch nie langte, um auch nur den gewöhnlichen Hunger zu stillen. Er war damals mein getreuer Wächter, der mich als einziger fast nie verließ." Faktisch verfügte Hitler aus der Waisenrente, der mütterlichen Hinterlassenschaft sowie Zinserträgen aus dem später auszuzahlenden väterlichen Erbe über Mittel, die es ihm ermöglichten, sein Dasein ohne die Aufnahme einer regelmäßigen Arbeit zu fristen. Er war sich denn auch der Selbststilisierung seiner Biografie bewusst und suchte daher stets die Anonymität, aus der er kam, zu bewahren und zu pflegen. Als sein Halbneffe, William Patrick Hitler, 1930 aus dem gemeinsamen Namen Kapital zu schlagen suchte, soll Hitler einen Wutanfall erlitten und gesagt haben: "Die Leute dürfen nicht wissen, wer ich bin. Sie dürfen nicht wissen woher ich komme und aus welcher Familie ich stamme." Und soweit es ihm möglich war, ließ Hitler systematisch die Spuren seiner ersten drei Lebensjahrzehnte verwischen. Man sieht also: Die kritische Beschäftigung mit "Mein Kampf" ist unentbehrlich, um die Stilisierung zu entlarven, die Hitler vornimmt, aber auch um zu erkennen, wo die Antriebskräfte seiner Biografie lagen, die am Ende die Welt bewegten. Naiv ist dagegen die immer wieder geäußerte Auffassung, der politisch aufgeklärte Leser brauche keinen wissenschaftlichen Kommentar, da er sich entweder ganz autonom das richtige Bild machen könne oder sich der Text ohnehin selbst richte. Ohne Kommentar bleibt der Leser dem, was Hitler in "Mein Kampf" schreibt, gewissermaßen ausgeliefert. Um sich kritisch mit dem Text auseinanderzusetzen, braucht er eine Fülle von Zusatzinformationen, die ihm nur der selbst auf die Materie spezialisierte Wissenschaftler geben kann. Tatsächlich gibt es wohl kein anderes historisches Dokument von ähnlicher Bedeutung wie "Mein Kampf", von dem behauptet würde, eine historisch-kritische Erschließung sei überflüssig. Zur öffentlichen Debatte Der Grund dafür liegt darin, dass sich in der Diskussion über "Mein Kampf" wissenschaftliche, politische und moralische Argumente überlagern, was nicht immer die Klarheit der Anschauung fördert. Damit sind wir bei den politisch-kulturellen Problemen, die das Projekt einer kritischen Edition von "Mein Kampf" wohl unvermeidlich im öffentlichen Raum touchiert und die eine intensive Langzeitdiskussion erzeugen. Betont sei allerdings, dass die regelmäßig wiederkehrenden Wellen der öffentlichen Debatte bemerkenswert sachlich vonstattengingen. In Presse und Rundfunk gab es eine Vielzahl von differenzierten, aufklärenden und vernünftig argumentierenden Beiträgen. Die bekannten Methoden, um sich in der Ökonomie öffentlicher Aufmerksamkeit durchzusetzen – Zuspitzung, Polarisierung, Emotionalisierung, Skandalisierung – wurden ganz überwiegend vermieden. Allerdings verweist die Diskussion auch auf einige problematische Trends im hiesigen öffentlichen Umgang mit Hitler. Denn nicht selten ist dieser geprägt von zwei gegensätzlichen Extremen, die beide die kritisch-rationale Auseinandersetzung eher behindern als fördern. Das eine Extrem entspringt den fortbestehenden Ängsten, im Umgang mit Hitlers Hinterlassenschaft moralisch falsch zu handeln oder politische Fehler zu machen. Zwar erfordert das Thema dauerhaft ein Maximum an geschichtspolitischem Fingerspitzengefühl. Aber die Diskussion um ein "Verbot" von "Mein Kampf" zeigt, dass entsprechende Ängste neue und ungute Tendenzen zur Tabuisierung hervorbringen können. Wie dargelegt, ist das Buch eine zentrale Quelle zur Geschichte des Nationalsozialismus. Die kritische Beschäftigung mit ihm in irgendeiner Weise verhindern zu wollen, wäre eine kurzsichtige "Deckel-drauf"-Politik. Sie leistete der (Re-)Mystifizierung Hitlers gefährlichen Vorschub und könnte den Eindruck suggerieren, Hitler übe auch postmortal eine Art dämonischer Macht aus. Der historischen Einordnung, Kontextualisierung, auch Erklärung seiner Wirkung würde dies die Spitze abschneiden. Tabuisierung würde daher das Gegenteil einer mündigen Auseinandersetzung bewirken. Das andere Extrem liegt in der exzessiven Präsenz Hitlers (und auch seiner Schrift "Mein Kampf") in populären Unterhaltungs- und Satireformaten. Sie verstärken sich durch die banale Erkenntnis des "Hitler sells" regelmäßig selbst. Ihre Eignung und Wirkung erscheinen aber problematisch. Tatsächlich gab es ja im Nationalsozialismus und im Verhalten Hitlers häufig eine geradezu realsatirisch anmutende Skurrilität und entsprechend lächerliche Entgleisungen. Das oben zitierte Wort von den "Eiern des Kolumbus" gehört dazu. Aber solche Skurrilität verband sich in unlöslicher Weise mit Gewalt, Terror und dem Postulat der Vernichtung. Zwar ist es leicht, die Skurrilität von der Gewalt zu trennen und sie zum Gegenstand der Satire zu machen. Hitlers Schnurrbart und Schäferhund, seine Phonetik und Physiognomie eignen sich denkbar gut fürs Amüsement. Aber wenn Kabarettisten, Autoren und Filmemacher große Medienwirksamkeit erzielen, verstärkt dies die Gefahr der Verharmlosung durch Banalisierung. Allzu rasch drohen Satire und vordergründig spaßhafter Umgang mit Hitler eine intellektuell anstrengendere Beschäftigung mit dem Gegenstand zu ersetzen. Natürlich wäre die Behauptung vermessen, es könne in Deutschland nur den einen, den "richtigen" öffentlichen Umgang mit Hitler geben. Aber ein gewisses Maß an aufklärerischem Ernst darf und muss man erwarten. Andernfalls würde Hitler einmal mehr unterschätzt. Um jeden Anschein einer gleichsam postmortalen kulturellen Herrschaft Hitlers zu vermeiden, müssen daher seine Demagogie entziffert, seine Erfolge erklärt und die hinter ihnen stehenden gesellschaftlich-kulturellen Antriebskräfte studiert werden. Dies bleibt für die Deutschen eine Daueraufgabe: in der Wissenschaft, in den Medien und auch in der Politik. Dies ist die Voraussetzung für einen mündigen Umgang mit Hitlers fatalem Erbe und zugleich das stärkste politisch-moralische Argument für die Veröffentlichung einer kritischen Edition. Dieses Argument hält auch dort stand, wo es sich naturgemäß am schwersten tut: gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Die Gefühle der Opfer spielen eine bedeutsame Rolle. Und einem Holocaust-Überlebenden lässt sich möglicherweise kaum plausibel machen, warum in Deutschland "Mein Kampf" – wenngleich kritisch kommentiert – neu gedruckt werden soll. Zwar gibt es auch unter dieser Gruppe der besonders Betroffenen unterschiedliche und konträre Positionen. Aber eine möglicherweise unüberwindbare Empörung über Pläne, "Mein Kampf" in einer wie auch immer gearteten Form neu zu bearbeiten, ist nachvollziehbar und zu respektieren. Gleichwohl gilt es angesichts der rechtlichen Lage, die allein auf dem auslaufenden Urheberrecht beruht, die Umstände zu erläutern und am Ende noch einmal die Gründe darzulegen, die für Transparenz und Offenheit sprechen. Eine irgendwie geartete Dichotomie zwischen Opferempathie einerseits und gleichsam "kalter" Wissenschaftlichkeit andererseits gibt es ohnehin nicht. Historisch-kritische Aufklärung kann niemals unethisch sein. Ein solcher, mitunter im öffentlichen Raum gehörter Vorwurf gegen den wissenschaftlichen Umgang mit "Mein Kampf" fördert die Irrationalität der Debatte. Wissenschaftliche Aufklärung der NS-Geschichte und ihrer Verbrechen ist immer auch Dienst an den Opfern und dient auf ihre Weise der Aufrechterhaltung der Würde der Opfer. Dies gilt auch für die Arbeit an "Mein Kampf". Dies muss umso mehr hervorgehoben werden, als das Werk, wie bereits hundertfach gesagt wurde, im Ausland, im Internet und in Antiquariaten frei verfügbar ist und in der Zukunft frei verfügbar bleiben wird. Unter keinen Umständen ist die Verbreitung des Textes zu verhindern. Und gerade weil Hitlers Hetzschrift – Urheberrecht hin, Urheberrecht her – längst in der Welt ist und auch künftig gleichsam unkontrolliert vagabundieren kann, ist die Erstellung einer ernsthaften Edition mit einem dezidiert kritischen Standpunkt das Gebot der Stunde. Sie wird so eingerichtet sein, dass ihr Leser keine Seite Hitler-Text wird lesen können, ohne zugleich die kritische Einordnung der Editoren zur Kenntnis nehmen zu müssen. Das Fazit lässt sich als Plädoyer für das Lesen fassen. Die Empfehlung zur kritischen Lektüre drängt sich gerade angesichts der nicht endenden und sich wechselseitig in allen denkbaren Formaten verstärkenden medialen Präsenz Hitlers und des Nationalsozialismus auf. Diesem Kreislauf des Neuen und Immergleichen kann der Interessierte nur entkommen, wenn er ad fontes geht. Dass "Mein Kampf" einen eminenten Quellenwert für die Geschichte des Unheils besitzt, ist, wie deutlich geworden sein dürfte, unbestreitbar. Und dafür, dass die verbrecherische Geschichte des nationalsozialistischen Unheils besser verständlich wird, intellektuell und kognitiv erschlossen werden kann, legt die akribische wissenschaftliche Aufbereitung die Basis. Umfänglich zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte: Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers "Mein Kampf" 1922–1945, München 2006, sowie künftig die Einleitung zu: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Christian Hartmann/Thomas Vordermayer/Othmar Plöckinger/Roman Töppel, München 2016 (i.E.). Im Folgenden wird "Mein Kampf" nach der originalen Paginierung der Erstausgabe zitiert, die in dieser Edition wiedergegeben wird. Martin Broszat an das Auswärtige Amt, 9.11.1961, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1962, Bd. I (1. Januar bis 31. März 1962), hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Horst Möller/Klaus Hildebrand/Gregor Schöllgen, München 2010, Dok. 76, S. 399, Anm. 2. Das Buch erschien unter dem Titel: Gerhard L. Weinberg (Hrsg.), Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, Stuttgart 1961. Ministerialdirektor von Haeften an das Bayerische Staatsministerium der Finanzen, 15.2.1962, in: Akten (Anm. 2), Dok. 76, S. 400. Es erschien unter dem Titel: Außenpolitische Standortbestimmung nach der Reichstagswahl Juni–Juli 1928, eingeleitet von Gerhard L. Weinberg, hrsg. und kommentiert von Gerhard L. Weinberg/Christian Hartmann/Klaus A. Lankheit, München 1995. Andreas Andernach, Hitler ohne Maske, München 1932, S. 23–26, hier: S. 23. Otto Straßer, Hitler und ich, Buenos Aires 1940, S. 59. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, [S. 300]. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., [S. 270]. Nachfolgendes Zitat ebd. Siehe den "Klassiker" Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Vgl. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, Kap. 4, Anm. 48. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, Bd. 2, [S. 19]. Herv. i.O. Zit. nach: Andreas Wirsching, "Man kann nur Boden germanisieren". Eine neue Quelle zu Hitlers Reden vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 49 (2001), S. 517–550, hier: S. 547. IMT. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947–1949, Bd. XXV, S. 406. Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, hrsg. u. kommentiert von Jürgen Matthäus/Frank Bajohr, Frankfurt/M. 2015, S. 291 (29.9.1939). IMT (Anm. 15), Bd. XXVI, S. 329. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, [S. 297]. Ebd., [S. 263]. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996, S. 7. Hitler an den Magistrat der Stadt Linz, 21.1.1914, in: Eberhard Jäckel/Axel Kuhn (Hrsg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, Nr. 20, S. 55. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, [S. 19]. Vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889–1945, München 2009, S. 37. Zit. nach: B. Hamann (Anm. 20), S. 76.
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In anderen Fällen erscheint das nämliche Vorhalten witzig und naiv komisch je nach der Art der Deutung. Es widerspricht unseren gewöhnlichen Anschauungen von Klugheit und Würde, wenn _Sokrates_ bei Aufführung der Wolken sich dem Gelächter der Zuschauer geflissentlich preisgiebt. Aber was bedeutet einem _Sokrates_ das Lachen der unverständigen Menge. Seine Erhabenheit über dergleichen rechtfertigt sein Verhalten. Es verrät sich darin zugleich eben diese Erhabenheit. Für diese Betrachtungsweise fällt _Sokrates_ unter den Begriff des naiv Komischen. Angenommen aber _Sokrates_ wollte durch sein Verhalten zu _verstehen_ geben, wie wenig ihm die Meinung der Menge bedeute, und er wollte dies nicht bloss, sondern es gelang ihm auch durch die besondere Weise seines Verhaltens in überzeugender Weise diesen Gedanken hervorzurufen. Dann war sein Verhalten witzig--für diejenigen nämlich, die ihn wirklich verstanden und zugleich den Widerspruch empfanden zwischen dieser Art, seine Meinung zu sagen, und gemeiner Logik.
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»Ei, das wäre ja kein Verdienst und kein Opfer für mich arme Sünderin!« antwortete die Pilgerin; »die andern, die reisen heutzutage mehr zur Lust und aus Vorwitz und verrichten allenfalls am Gnadenort ein nützliches Gebet. Ich aber wandere auf meinen alten Füßen zur allerseligsten Maria Mutter Gottes, und da bin ich nicht nur vor ihrem heiligen Altare bei ihr, sondern auf dem ganzen langen Wege begleitet sie mich auf jedem Schritt und Tritt und hält mich aufrecht, wenn ich sinken will, wie eine gute Tochter ihre alte schwache Mutter! Eben jetzt hat sie mir durch Eure weiße Hand diesen stärkenden Trunk gereicht! Wenn Ihr wüßtet, wie süß und lieb sie ist, wie schön, wie glänzend! Und welche Macht besitzt sie, welche Klugheit! Für alles weiß sie Rat und alles kann sie!«
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Essay zu Flüchtlingen in Polen: Die unbarmherzigen Vier Polen will keine Flüchtlinge. Die Hartherzigkeit des katholischen Landes hat auch mit der Homogenität der Bevölkerung nach 1945 zu tun. Nicht sehr weitsichtig: Im Juli 2015 protestierten in Warschau Nationalisten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Foto: dpa Die Rede des Kommissionspräsidenten zur Flüchtlingswelle empörte die polnische Rechte: „Junckers Erpressung“, titelte die nationalkatholische Zeitung Nasz Dziennik auf der ersten Seite. Im Blatt kritisierte Exdiplomat Witold Waszczykowski Junckers Hinweis, dass etwa 20 Millionen Menschen polnischer Abstammung im Ausland lebten. Dieser Vergleich sei unangebracht, weil Juncker „der deutschen Zivilisation angehört“, die jahrhundertelang das ihre dazu beigetragen habe, dass Polen emigrieren mussten. Sie hätten hart gearbeitet und ihre Ankunftsländer nicht nach ihrem Gusto umkrempeln wollen, während die Muslime Assimilation ablehnten und „Klein-Syrien“ oder „Klein-Libyen“ errichten wollen, „wie es in Frankreich der Fall“ sei. Waszczykowski, der außenpolitischer Experte der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ist, will sogar in Fernsehberichten gesehen haben, wie Flüchtlinge Verpflegungspakete ablehnten, weil sie vom Roten Kreuz verteilt wurden. Die Debatte um den Ansturm der Flüchtlinge in die EU erwischt Polen aus mehreren Gründen auf dem falschen Fuß. Zum einen sind am 25. Oktober Parlamentswahlen. Die nationalkonservative Opposition befindet sich nach den gewonnenen Präsidentenwahlen vom Mai im Aufwind und verweigert jegliche Zusammenarbeit mit der liberalkonservativen Regierung. Schlechtes Timing Die Flüchtlinge sind mittlerweile zum Hauptthema des Wahlkampfes geworden. Beata Szydło, die Spitzenkandidatin von „Recht und Gerechtigkeit“, greift die Argumentation des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán auf und sagt: „Dies ist ein deutsches Problem.“ In konservativen Kreisen beklagt man, dass Berlin nach eigenem Gutdünken Dinge entscheide, die andere beträfen. Derzeit ist die Verunsicherung der Polen oft mit der Angst vor Islamisten verbunden. Viele fürchten, dass die Flüchtlingswelle auch eine Einschleusung von Terroristen erleichtert Das Timing der EU ist für die seit acht Jahren regierende „Bürgerplattform“ fatal. Wenige Tage vor den Wahlen wird der EU-Gipfel Aufnahmequoten bekannt geben. Fallen sie für Polen höher aus als erwartet, hat die schwächelnde Regierung ein Problem. Zum anderen ist Polen infolge des genozidalen Weltkriegs seit 1945 ein ethnisch gezwungenermaßen mehr oder weniger homogenes Land, in dem man sich erst in den 80er Jahren seiner angestammten nationalen Minderheiten wieder bewusst wurde: der jüdischen, ukrainischen, deutschen, weißrussischen und winzigen tatarischen. taz. am WochenendeIntelligent sein heißt lernen zu können. Das können auch Maschinen. Sie erkennen Emotionen in menschlichen Gesichtern und lernen zu sprechen. Muss uns das Angst machen? Lesen Sie ein Dossier über neuronale Netze und künstliche Intelligenz in der taz.am wochenende vom 12./13. September. Außerdem: Ludwig Minelli leistet in der Schweiz Sterbehilfe. Er findet, der Suizid sollte kein Tabu mehr sein. Im Interview spricht er über seine Arbeit, die vielen Suizide, die misslingen und die Kosten, die daraus folgen. Und: eine Reportage aus dem österreichischen Großraming, einem Dorf, das seine Angst vor Flüchtlingen verloren hat. Und das, obwohl die manchmal ohne Warnweste Fahrrad fahren. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Die Ankunft von 40.000 Tschetschenen in den nuller Jahren war die erste Begegnung mit muslimischen Asylberechtigten, aber angesichts der gewaltigen Herausforderungen der „Transformation“, also der Umstellung fast aller Bereiche der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit im Lande, wurde sie schnell als marginal empfunden, zumal viele der Einwanderer tatsächlich weiterzogen in Länder mit viel besseren Konditionen. Nationale Egozentrik Derzeit ist die Verunsicherung der Polen oft mit der Angst vor Islamisten verbunden. Viele fürchten, dass die Flüchtlingswelle auch eine Einschleusung von Terroristen erleichtert. Auch Jarosław Gowin, bis vor Kurzem Justizminister in der Regierung Tusk, inzwischen aber in die Nähe der Kaczyński-Partei gerückt, warnt vor Attentätern, die sich „in Parks mit polnischen Säuglingen in die Luft sprengen werden“. Diese nationale Egozentrik ist keineswegs „polnisch“ – man findet sie in der Rhetorik Le Pens in Frankreich, Wilders in den Niederlanden, in der Pegida-Bewegung. Es stimmt aber, dass sie in den früheren „Bruderländern“, inklusive der DDR, stärker zum Vorschein kommt als im Westen und der Altbundesrepublik, wo man die individuelle „Aufarbeitung“ der Vergangenheit betonte und es eingeübte Formen zivilgesellschaftlicher „Einmischung“ gab. Polen hatte zwar die riesige Solidarność-Bewegung, in der auch liberale, weltoffene und gegenüber nationalem Autismus kritische Tendenzen stark vertreten waren. 25 Jahre danach ist die Gewerkschaft aber zu einer streitbaren Fußtruppe der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ zusammengeschrumpft. Unter einer neuen Führung, die personell nichts mit den heroischen 80er Jahren gemein hat, hält sie ihre Hausmacht in den reformbedrohten Kohlegruben und unter den Verlieren der Transformation, die mit der Globalisierung und Öffnung des Landes nicht zurechtkommen. Und dennoch: Die Umfragen zur Aufnahme von Flüchtlingen fallen je nach Fragestellung anders aus. Laut der Zeitung Rzeczpospolita lehnen 61 Prozent der Befragten eine Einquartierung von Flüchtlingen in ihrem Haus ab. Laut der Gazeta Wyborcza bejahen immerhin 53 Prozent ihre Aufnahme im Land. 44.000 Menschen gaben im Netz an, dem Aufruf radikaler Rechter zu einem Protestmarsch am Sonnabend in Warschau folgen zu wollen. Das Rathaus legte aber wegen Volksverhetzung sein Veto ein. Nicht so sein wie Ungarn Die katholischen Würdenträger sind gespalten. Während Erzbischof Henryk Hoser vor einer Islamisierung Europas warnte, rief Erzbischof Stanisław Gądecki jede katholische Gemeinde in Polen zur Aufnahme von mindestens einer Flüchtlingsfamilie auf. Journalisten errechneten, dass mit einer solchen „Willkommenskultur“ bis zu 40.000 Menschen betreut werden könnten. „Lassen wir uns nicht zu den ‚unbarmherzigen Vier’ rechnen“, schreibt in der Gazeta Wyborcza Janina Ochojska und meint die Visegrád-Gruppe: Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen. Ochojska leitet seit den 80er Jahren die Polnische Humanitäre Aktion und wurde 1994 zum europäischen „Menschen des Jahres“ gewählt. „Als ich mir die Fotos lächelnder Flüchtlinge ansah, die mit Plakaten begrüßt wurden, auf denen ‘Willkommen in München’ stand, dachte ich, dass wir uns an den Deutschen ein Beispiel nehmen sollten, was eine offene Gesellschaft ausmacht, die mit Taten beweist, dass humanitäre Werte in ihrem Leben präsent sind. Doch ich hoffe, dass wir Polen uns als eine solidarische und offene Nation erweisen werden, dass in uns Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Sensibilität für fremdes Leid sind.“ Der Migrationsexperte Maciej Duszczyk beklagt, dass es wegen der gängigen Meinung, Polen sei für Flüchtlinge nicht attraktiv und überhaupt eher ein Auswanderungsland, immer noch keine Ansätze für eine Migrationspolitik gibt. Dies sei aber EU-weit so, es gebe nur ein Ad-hoc-Krisenmanagement. „Das Problem in Calais versuchen britische und französische Minister zu lösen, indem sie Geld von der EU fordern. Das ist nicht gut.“ Humane Werte durchsetzen „Europa braucht gemeinsame Politiken, auch eine Migrationspolitik, doch jetzt müssen wir unser eigenes Gewissen prüfen“, schreiben Kazimierz Bem, evangelischer Pastor, und Jarosław Makowski, Philosoph und Abgeordneter im schlesischen Landtag, in der Gazeta Wyborcza. Polen müsse sich darauf besinnen, dass es jahrhundertelang ein multiethnisches Land war. „Wenn unsere Vorfahren sich an den Stuss der radikalen Rechten gehalten hätten, die von einem ,weißen Polen für die Polen‘ krakeelten, gäbe es unter uns keine Fukiers, Norblins, Marconis, Scheiblers, Chopins, Kronenbergs, Lorentz’, Szuchs, Achmatowicz’, Anders’ und viele andere Familien, die sich um Polen verdient gemacht haben.“ Es gehe nicht um blauäugige Willkommenskultur, sondern um die Durchsetzung der christlichen und humanen Werte einer liberalen Demokratie, die allerdings auch die Flüchtlinge respektieren müssten. Ihren Aufruf überschrieben sie sinnigerweise mit „Die armen Polen schauen auf die Flüchtlinge“ – eine Anspielung auf den bitter-ironischen Titel eines berühmten Essays von Jan Błoński: „Die armen Polen schauen aufs Ghetto“. Er löste eine Debatte aus über die Gleichgültigkeit vieler Menschen angesichts des Holocausts. Nicht die beiden Sachverhalte sind analog, sondern die Heuchelei derjenigen, die sagten, sie glaubten an einen barmherzigen Gott, aber die gleichzeitig bedürftigen Flüchtlingen die Hilfe verweigerten.
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10 Jahre UN-Resolution für Frauen in Kriegen: Friedensstifterinnen dringend gesucht Zehn Jahre nach ihrer Verabschiedung entpuppt sich die Resolution 1325, mit der Frauen in Kriegskonflikten stärker als Vermittlerinnen eingesetzt werden sollen, als Fehlschlag. Gebet für einen neuen Anfang: Frauen in einem Zentrum für traumatisierte Frauen Liberias Hauptstadt Monrovia kurz nach Ende des Bürgerkrieges 2003. Bild: ap Das Mädchen war allein zu Hause, in einem Dorf in der Provinz Lofa im Norden Liberias, als der Pfarrer es ins Pfarrhaus lockte und vergewaltigte. Der Mann drohte das Mädchen umzubringen, wenn es davon erzählt. Die Familie des Kindes machte die Vergewaltigung trotzdem öffentlich, der Pfarrer wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Dass Vergewaltiger in Liberia hart verurteilt werden, ist neu. Während des Bürgerkriegs zwischen 1989 und 2003 wurden dort zehntausende Frauen sexuell missbraucht. Nach Ende des Kriegs haben engagierte Liberianerinnen dafür gesorgt, dass Vergewaltigung ein Strafdelikt wird. Später gründeten sie "Think" (Touching Humanity in Need of Kindness), eine Nichtregierungsorganisation, die Mädchen und Frauen unterstützt, die während des Kriegs vergewaltigt wurden. Die Geschichte des liberianischen Mädchens hat der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) jetzt in seinem aktuellen Bericht öffentlich gemacht. Um sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen ahnden zu können, hat der UN-Sicherheitsrat am 31. Oktober 2000 die Resolution 1325 einstimmig verabschiedet. Darin werden alle Parteien bewaffneter Konflikte aufgefordert, Frauen und Mädchen vor sexueller Gewalt zu schützen und Frauen verstärkt in Friedensverhandlungen einzubeziehen. Was ist seither passiert? Die Bilanz der vergangenen zehn Jahre fällt negativ aus. Nach Angaben von Unifem, dem Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen, waren Frauen bei allen wesentlichen Friedensverhandlungen kaum beteiligt, ihr Anteil lag weltweit unter 8 Prozent. In Ländern wie Indonesien, Somalia und der Elfenbeinküste saß keine einzige Frau mit am Verhandlungstisch. 16 Prozent von insgesamt 589 Friedensabkommen bezogen sich nach Angaben der University of Ulster explizit auf Frauen. Und nur 22 von 193 UN-Mitgliedstaaten haben einen Nationalen Aktionsplan aufgelegt, damit die Resolution umgesetzt werden kann. Deutschland gehört nicht dazu. Stephen Lewis, kanadischer Anwalt für Frauenrechte und von 2001 bis 2006 UN-Sonderbotschafter für HIV und Aids in Afrika, fällt ein vernichtendes Urteil. 1325 sei ein "kläglicher Fehlschlag", sagt er, und das "klassische Beispiel einer UN-Resolution, die niemals in die Tat umgesetzt werde". Weder die Vereinten Nationen noch der UN-Sicherheitsrat seien bereit zu agieren, wenn Frauen die Opfer sind. Warum ist es überhaupt wichtig, dass Frauen mitverhandeln, wenn Konflikte gelöst werden sollen? Weil sie das "friedlichere" Geschlecht sind? Nein, sagt die UNFPA-Exekutivdirektorin Thoraya Ahmed Obaid. Je mehr Akteure und Betroffene in Verhandlungen einbezogen würden, desto geringer sei die Gefahr, dass eine Gesellschaft auch nach dem Abzug von Friedenstruppen wieder in Chaos und Terror versinke. Aber der Anteil von Frauen, die bei den bewaffneten UN-Kräften als Friedensmanagerinnen agieren sollen, ist seit 2000 nur langsam gestiegen. 2008 gab es 1.794 Frauen in UN-Uniform, das sind 2,7 Prozent. 7 Prozent der UN-Polizeikräfte sind weiblich und 30 Prozent des zivilen Personals. Was können die Frauen erreichen? In Osttimor beispielsweise, das lange um seine Unabhängigkeit von Indonesien gekämpft hat, gibt es jetzt ein "Polizeihandbuch". Das erklärt Polizistinnen und Polizisten detailliert, was "geschlechtsspezifische Gewalttaten" sind. Vergewaltigungen von und Gewalt gegen Frauen gehören in dem südostasiatischen Inselstaat nämlich zum Alltag. Zwangssterilisationen und -abtreibungen waren unter den Besatzern eine Art Geburtenkontrolle. Im Mai 2010 verabschiedete das Parlament in Osttimor schließlich ein Gesetz gegen häusliche Gewalt.
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173. Tag Kongo-Kriegsverbrecherprozess: Musoni spricht Zum ersten Mal seit Prozessbeginn äußert sich einer der beiden Angeklagten. FDLR-Vizepräsident Straton Musoni geht sachte auf Distanz zur eigenen Truppe Straton Musoni: Hier beim Prozessauftakt, 4. Mai 2011. Bild: AP STUTTGART taz | Der Angeklagte strahlt übers ganze Gesicht. „Guten Morgen!“ ruft Straton Musoni in die Zuschauerbänke, als er am Morgen des 5. August wie immer in Handschellen in Saal 6 des Oberlandesgerichts Stuttgart geführt wird. Sonst verlieren sich meist nur drei oder vier Dauerbeobachter des seit 2011 laufenden Kriegsverbrecherprozesses gegen die politische Führung der im Kongo kämpfenden ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) im Gerichtssaal. Jetzt sind immerhin 15 gekommen, um einem historischen Ereignis beizuwohnen: Zum ersten Mal überhaupt ergreift einer der Angeklagten das Wort zu seiner Verteidigung. Bisher haben FDLR-Präsident Ignace Murwanashyaka und der 1. FDLR-Vizepräsident Straton Musoni eisern geschwiegen, außer wenn Murwanashyaka selbst Zeugen befragte. Jetzt hat Musoni entschlossen, Rede und Antwort zu stehen. Auf Deutsch verliest der 1961 geborene Ruander, der seit 1986 in Deutschland lebt, eine ausführliche Erklärung über seinen Lebenslauf, seine politische Laufbahn, seine Organisation und seine Sicht der Anklage gegen ihn. Musoni und Murwanashyaka sind angeklagt, als „militärische Befehlshaber“ grausame Kriegsverbrechen der FDLR an kongolesischen Zivilisten in den Jahren 2008 bis 2009 nicht verhindert zu haben. „Ich bestreite alle Vorwürfe“, sagt Musoni. „Ich erkenne mich in der Anklage nicht wieder. So bin ich nicht.“ Berufliche Karriere in Baden-Württemberg Der 51jährige schildert seinen Werdegang: Religiöse Erziehung, kleines Priesterseminar, Arbeit als Postbeamter in Ruanda, ab 1986 Studium in Deutschland. Die geplante Rückkehr nach Ruanda im April 1994 verhinderte der damals begonnen Völkermord an Ruandas Tutsi durch Hutu-Milizen und die damalige ruandische Armee. „Immerhin durfte ich problemlos mein Ticket zurückgeben“, erinnert sich Musoni. Der Ruander wurde Computerfachmann in Baden-Württemberg und arbeitete unter anderem im dortigen Justizministerium. Zuvor vor Gericht erhobene Vorwürfe, er habe von dort aus mit der FDLR im Kongo telefoniert, weist Musoni jetzt zurück, obwohl er genau dies einst selbst am Telefon behauptet hatte: „Ich wollte angeben und den aktiven Draufgänger spielen, der sogar aus einem deutschen Ministerium aus anruft“, sagt er. „In Wahrheit war ich beschämt, dass ich nicht genug tat.“ Immer den Flüchtlingen verpflichtet So stellt sich Musoni heute dar: Gewissenhaft, selbstlos, nur seinem Amt verpflichtet sowie der Hilfe für die ruandischen Hutu-Flüchtlinge im Kongo, zu denen auch zahlreiche seiner Angehörigen und Freunden zählten. Seine Oma sei in den Fluchtlingslager im Kongo an Cholera gestorben, sagt Musoni. Dem Gericht will er eine Liste mit 900 Namen von Bekannten übergeben, die als Flüchtlinge im Kongo getötet wurden. Die Massaker an ruandischen Hutu-Flüchtlingen im Kongo 1996 hätten ihn davon überzeugt, dass die Flüchtlinge eine eigene Armee brauchen, um sich zu verteidigen, sagt Musoni. Ihm sei es immer nur um das Wohl der Flüchtlinge und eine politische Lösung gegangen. Krieg sei keine Lösung. 1994 war Musoni Mitgründer der Hutu-Exilorganisation „Akagera-Rhein“, ab 1995 war er Deutschlandvertreter der in den Hutu-Flüchtlingslagern im Kongo gegründeten Partei RDR (Sammlung für Demokratie und Rückkehr nach Ruanda) und schließlich Mitgründer der FDLR. Warum die FDLR gegründet wurde Die FDLR entstand am 1. Mai 2000 auf einem Kongress im kongolesischen Lubumbashi, „mit Unterstützung der kongolesischen Regierung“. Damals war der Kongo noch geteilt: Im Westen, einschließlich der Hauptstadt Kinshasa, herrschte die Regierung Kabila, unterstützt unter anderem von den flüchtigen Tätern des ruandischen Völkermordes in der nach Kongo geflohenen einstigen ruandischen Hutu-Armee. Gemeinsam kämpften sie gegen im Ostkongo herrschende Rebellen, die von Ruandas neuer Tutsi-Regierung militärisch unterstützt wurden. Ein Friedensprozess, wie er seit den Lusaka-Friedensgesprächen von 1999 in Planung war, hätte aber bedeutet, dass Kongos Regierung die ruandischen Hutu-Soldatennach Hause schickt - im Gegenzug dafür, dass Ruanda aus Ostkongo abzieht. So brauchten die Hutu-Truppen, von Musoni „Spezialkräfte“ genannt, eine politische Vertretung, um ihre Interessen in Verhandlungen zu wahren. Die FDLR entstand also auf Initiative der ruandischen Exilmilitärs im Kongo und wird bis heute von diesen dominiert, stellt Musoni klar. Womit er gleichzeitig andeuten will, dass der Einfluss von Politikern in der Organisation eher gering ist. Die Frage, ob die Hutu-Exilarmee nicht auch durch den Völkermord an Ruandas Tutsi Blut an den Händen hat, blendet er aus. Zu Beginn spricht er nicht einmal von Völkermord, sondern von „Eskalation“ und einer „prekären Situation“. Später erklärt er den Gedanken hinter der FDLR-Gründung so: „Es ging nicht um eine Fassade, um die Beteiligung der Armee am Völkermord zu verschleiern. Sondern darum, Personen zu finden, die durch ihr Erfahrung, Reisemöglichkeit und Kommunikationsmittel in der Lage wären, politische Verhandlungen zu führen“. Zu diesen Personen gehörte offensichtlich Musoni: Er, Murwanashyaka und ein Exilruander aus Belgien waren die einzigen ruandischen Exilanten aus Europa, die zur FDLR-Gründung in den Kongo reisten, bestätigt er auf Nachfrage. Die Anreise erfolgte über Sambia. Musoni sagt auf Nachfrage auch aus, dass er in den Jahren danach die FDLR-Exilstrukturen in Europa aufbaute, bevor er ab 2004 1. Vizepräsident wurde. Er reiste 2001 erneut über Brazzaville in den Kongo. Er organisierte sogar, bestätigt er auf Nachfrage, einen Container voller Hilfsgüter für die FDLR: Computer, Kleidung, sogar zwei Fahrräder und ein Auto. Leider wurde der Container bei Ankunft im Kongo von einem Regierungsmitglied gestohlen, sagt er. Mein Name ist Musoni, ich weiß von nichts Für jemanden, der so früh eine so zentrale Rolle spielte, gibt Musoni sich aber in der Folgezeit als erstaunlich unwissend und machtlos. Er habe „kein Befehls-, keine Entscheidungs- oder Mitspracherecht“ gehabt, sagt Musoni. Verbrechen, wie sie die Anklage der Miliz vorwirft, habe er nie gehört und hätte es auch nicht für möglich gehalten. Von Verbrechen der FDLR habe er zwar gelesen, zum Beispiel in der taz, aber „ich kann mich nicht erinnern, jemanden getroffen zu haben, der mir von Verbrechen der FDLR berichtete... die Schlussfolgerung (der Anklage), ich hätte alles wissen müssen, ist nicht richtig.“ Der militärische FDLR-Flügel FOCA (Forces Combattantes Abacunguzi) sei „souverän“ gewesen, erklärt Musoni unter ausführlicher Hinzuziehung relevanter Teile der FDLR-Statuten. Er als Zivilist habe dn Militärs nichts zu sagen gehabt. Den Präsidenten, also seinen Mitangeklagten Murwanashyaka, habe er nur in zivilen Angelegenheiten vertreten: „politische Mobilisierung, Diplomatie, Finanzen, Verwaltung“. Die Vertretung des Präsidenten in militärischen Angelegenheiten obliege dem 2. Vizepräsidenten. Womit Musoni, ohne es offen zu sagen, auch bestätigt, dass Präsident Murwanashyaka eine militärische Fuktion hatte. Durch solche Aussagen und dadurch, dass er überhaupt aussagt, distanziert sich Musoni von seinem mitangeklagten Präsidenten, den er als „Freund“ bezeichnet und als „interessiert und engagiert“. Die beiden, getrennt nur durch einen Justizbeamten, würdigen sich an diesem Tag kaum eines Blickes. Verbrechen verbieten Nichts geahnt und nichts zu sagen gehabt zu haben hinderte Musoni aber nicht daran, im Januar 2009, kurz bevor Kongos und Ruandas Armee erstmals gemeinsam gegen die FDLR kämpften, vorzuschlagen, bei einem bevorstehenden Führungstreffen das „Verbot jeder Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung auf die Tagesordnung zu setzen“, wie er selbst aussagt. „Mein Vorschlag war nicht Ausdruck etwaigen Misstrauens, dass es eventuell Menschenrechtsverletzungen geben könnte“, meint er aber. „Sondern ich wollte jegliche Kritik an FOCA im Keim ersticken.“ Der Vorschlag sei übrigens einstimmig angenommen worden. Nur fanden die meisten der Verbrechen, die die deutsche Anklage der Miliz vorwirft, danach statt. Was genau hätten die in Deutschland lebenden politischen Führer tun können, um das zu verhindern? Diese zentrale Frage dieses Prozesses bleibt weiterhin ungeklärt. "Ich distanziere mich von solchen Verbrechen" Auf die Grundidee der FDLR lässt Musoni nach wie vor nichts kommen, wenngleich er wiederholt, dass er nicht mehr in der Organisation aktiv sei und zum Zeitpunkt seiner Verhaftung am 17. November 2009 sowieso kurz vor Ende seiner Amtszeit stand, die er auch nicht verlängert hätte. Er lobt die „Spezialkräfte“, die die FDLR gründeten, für „ihr Organisationstalent, ihre Disziplin, ihre Prinzipien, ihren Glauben an Gott“. Den Vorwurf der Anklage, die FDLR wolle Ruandas Regierung stürzen und ein Hutu-dominiertes Regime errichten, kommentiert er: „Mit gleicher Berechtigung könnte man sagen, Ziel der Grünen sei es, die CDU/FDP zu stürzen, um das Land ins Mittelalter zurückzuversetzen.“ Sich selbst vergleicht Musoni als 1. FDLR-Vizepräsident mit dem deutschen Vizekanzler Philipp Rösler, der ja auch nichts zu sagen habe. „Ob der FDLR insgesamt Vorwürfe gemacht werden können, kann ich nicht beurteilen“, sagt Musoni schließlich abschließend. „Wenn ich diese Gelegenheit bekomme, möchte ich davon profitieren, allen Opfern des Krieges im Ostkongo mein Mitleid und Mitgefühl auszusprechen. Ich hoffe, dass dies bald ein Ende findet und die wahren Täter bald zur Rechenschaft gezogen werden. Ich distanziere mich von solchen Verbrechen und verurteile diese. Ich habe dies bisher getan und werde dies in Zukunft weiter tun.“ Führungsrolle der Militärs - entlastend oder nicht? Nach seiner Erklärung lässt sich Musoni vom Strafsenat befragen - Fragen der Bundesanwaltschaft wird er allerdings nicht beantworten, kündigt seine Verteidigerin Andrea Groß-Bölting an. Der Vorsitzende Richter Jürgen Hettich stellt als erstes die naheliegende Frage: Warum haben Sie das alles nicht gleich zu Prozessbeginn gesagt? Weil mir nicht klar war, was mir eigentlich vorgeworfen würde, sagt Musoni. Nach einer Pause fügt er hinzu: Weil meine Verteidigung es mir geraten hat. Im Laufe der Nachfragen ergeben sich interessante neue Einblicke ins Innenleben der FDLR. Die von Musoni betonte „Souveränität“ des militärischen Flügels FOCA habe bedeutet, dass die Militärs letztendlich den Kurs der gesamten Organisation diktieren konnten: In allen FDLR-Entscheidungsgremien seien 50 Prozent der Posten mit Militärs besetzt; bei Konsens unter den Militärs war damit die Linie auch der zivilen Politik festgeschrieben. Den Militärs haben auch Murwanashyaka und Musoni ihre Ämter zu verdanken, sagt er. Nach einem internen Machtkampf samt Putschversuch, den Musoni auf 2004 datiert, sei Murwanashyaka nur dank des Gewichts der Militärführung an der Macht geblieben und Musoni sei auf seinen Vorschlag hin 1. Vizepräsident geworden, in Nachfolge seines zu den Putschisten gehörenden Vorgängers. Man kann daraus, sofern man das alles genauso glaubt wie es Musoni sagt, den Schluss ziehen, dass die beiden zivilen Führer gar nicht in der Lage waren, den Militärs ihrer Organisation Anweisungen zu geben. Ob das eher entlastend oder eher belastend zu werten ist - darauf wird es jetzt ankommen. Musoni rechnet sich offensichtlich aus, dass zumindest er sich damit entlastet. Vorwürfe „im Internet“ gegengeprüft Richter Hettich will nun genauer wissen, worin eigentlich Musonis Arbeit ams 1. Vizepräsident bestand. „In welcher Weise haben Sie sich erkundigt, ob Vorwürfe gegen die FDLR stimmen oder nicht?“ fragt er. „Im Internet“, antwortet Musoni, zur allgemeinen Verblüffung. „Gegoogelt.“ „Über öffentlich zugängliche Seiten?“ fragt der Richter nach. „Google ist öffentlich“, erklärt Musoni, als habe er die Frage nicht verstanden. „Öffentliche Seiten wie taz, Monuc, Human Rights Watch“, führt er aus. „Aber nicht innerhalb Ihrer Organisation?“ fragt der Richter. „Doch“, sagt Musoni und kommt dann aber nur auf Gespräche zu sprechen, wo es um das Ausformulieren von Presseerklärungen geht. Es wird noch eine Weile dauern, bevor dieser Angeklagte und dieser Senat wirklich zusammenfinden. Die Befragung wird am Freitag fortgesetzt. Dann geht das Gericht in die Sommerferien.
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Machen wir uns zuvörderst einmal die seelische Stellung des Menschen zum Weltganzen ganz klar. Das Wunderbarste und Verblüffendste an dem Verhältnis einer schöpferischen Natur zum Menschen ist die Tatsache: daß sich das fortentwickelnde Leben Organe (Nervensubstanz, Gehirn, Seele) geschaffen hat, die fähig sind, dieses Leben zu begreifen, die durch Entwicklungen seelischer Kraft dazu geführt haben, _daß die entwickelte Materie sich selbst begreift_. Nehmen wir einmal an, um ein Bild zu gebrauchen: Die Sonne wäre der Quell aller Dinge, so bestünde das Wunder darin, daß die Sonne sich das Menschenauge zu einem Spiegel ihrer eigenen Schönheit und aller ihrer Eigenschaften erschaffen habe. So schuf die gesamte Natur den Menschengeist, um sich in ihm ihrer selbst und ihrer Gesetze allmählich ganz bewußt zu werden. Es könnte fraglich sein, ob dieses Wunder nicht _nur_ auf der Erde und keinem anderen Gestirn geschehen ist, so daß die kleine Erde doch der geistige Mittelpunkt des Universums sein könnte, sein _einziger_ Spiegel. Denn unstreitig ist der Mensch fähig, sich von der Gesamtnatur, von den letzten Dingen eine Vorstellung zu machen, in sich ein Bild der Welt aus seinen Gedanken zu erzeugen. Wenn man nun bedenkt, daß jeder unserer Gedanken in seiner Entstehung genau so materiell sein muß wie eine vorbeifliegende Bleikugel, daß er sekundäre Wirkungen haben kann, welche die größesten materiellen Katastrophen (Explosionen, Felssprengungen usw.) hervorrufen, so erhellt erst recht der kolossale Schritt, welchen die Natur in der Hinzufügung der seelischen Kraft zur Entwicklung gemacht hat. Wenn wir nun nicht zugeben wollen, daß eben diese Kraft der sich selbst bewußte Geist des Schöpfers ist, womit alle Forschung aufhören würde, so ist man gezwungen aus einem anderen, weniger übernatürlichen Prinzip heraus das Auftreten der menschlichen Fähigkeiten in der Kette der Entwicklungen wenigstens hypothetisch zu erklären.
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Nur erst als sich Hedwig, unter den zärtlichen Bemühungen ihres Gatten wieder soweit erholte sprechen zu können, erfuhren sie, daß drei Männer: der Gefangene, ein früherer Reisegefährte Pelz, und ihr heute fortgeschickter Barkeeper, die Räuber gewesen seien. Hopfgarten, der sich indessen mit dem alten Mann beschäftigt hatte, fand in diesem Augenblick die Wunde an seinem Kopfe, und konnte nun keinen Augenblick mehr zweifeln, daß er _todt_ sei.
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_Aus italienischen Chroniken_. Im Jahre 1833 erstand Stendhal zwölf -- nach Oppeln-Bronikowski, Einleitung zu Chroniken 1908, dreizehn -- handgeschriebene Foliobände mit zeitgenössischen Berichten aus dem Italien des Seicento, vornehmlich des römischen. Was er damit für Absichten hatte und wie er durch ihre Verwendung der Originator des Renaissancismus wurde, geht aus Briefen an den Freund R. Colomb und den Verleger Calman Levy und aus Tagebuchaufzeichnungen hervor: sie sollten ihm das stoffliche Material zu einer Reihe von Erzählungen liefern, denen er den gemeinsamen Titel "_Les Bois de Premol_" geben wollte und die sechs Bände umfassen sollten. "Ich habe alles nichts als Historische beiseite gelassen und nur das gesucht, was das menschliche Herz schildert" und unterm 27. April 1882 an Colomb aus Palermo: "was geht uns heute ein Interdikt gegen Venedig an oder die Geschichte der zahllosen Verträge zwischen Rom und Neapel? Aber es interessiert uns, wie man sich in jener Zeit an einem Nebenbuhler rächte oder eine Frau eroberte. Ich las das Manuskript dieser alten Berichte wie einen Roman."
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Die komplette Rede finden Sie hier als Externer Link: Audiodatei. Dear Mr Bartmann, Ladies and Gentlemen, when in October 1989 I was taking part in founding a Social Democratic Party in the German Democratic Republic, our greatest task was to find a big enough and hidden room without the Stasi – the Ministry of State Security of the late GDR – knowing where exactly we were going to meet. To cut a long story short, I was very successful by preventing the well-known grey Ladas – Russian cars which were faster and more “elegant” than GDR-made Trabbis – to follow us to our meeting in Schwante near Berlin. The night before we had not slept at home, so that the Stasi spies were not able to simply follow us in the morning. - And nowadays? The idea that in the digital age we simply cannot be traced is at least naïve. When in June 2013 the news broke that an employee of the National Security Agency, the NSA, has turned whistleblower, and being on the run with some terabyte of secret information about the world’s most sophisticated intelligence service, half of the world certainly held its breath. The other half quite likely could not avoid a malicious smile. In Germany these revelations instantaneously evoked comparisons with its own not so distant past. The corpse of the infamous secret service of the GDR is still exhaling its bad odor. In parts of the German debate, the NSA is sometimes regarded as a Stasi of the twenty-first century, a digital revenant of the analogous cold war, the logical consequence of digitization, Facebook, Google, the new world order and US hegemony. But can such comparisons be made? Apart from the technical differences and the digital revolution that is taking place around us: Can you really compare the (presumably) “democratic NSA” with the “dictatorial Stasi”? The comparison leads us to more general aspects: Are there any strong reasons for surveillance in modern societies? What are possible consequences of surveillance for our democratic culture? How can a modern society respond to security threats if not by expanding the activities of intelligence services? When does hypertrophy of intelligence services start to be problematic? Ladies and Gentlemen, before I start I would like to thank the Goethe Institute for inviting me to this exciting event and having the opportunity to share my thoughts with you. The Federal Agency for Civic Education is a federal public authority providing citizenship education and information on political issues for all people in Germany. The work done by my institution centers on promoting awareness for democracy and participation in politics. Every year we focus our work on special issues in order to highlight some cutting-edge developments within politics and society. This year one of our main topics is surveillance. So I really appreciate the opportunity to present some facets of the relationship between surveillance and digitization - and how they are discussed within my agency and within German society. Why a comparison is fruitful Let me start with a simple statement: On closer look the NSA is neither new, nor does it really resemble the Stasi. But in taking a comparative examination, it may be possible to engage in the different modes of surveillance of the two intelligence services. Moreover, both the Stasi and the NSA are good examples for hypertrophic institutions. Hypertrophy denotes, and let me quote from a medical dictionary: “an enlargement or overgrowth of an organ” or an “excessive growth”. Translated into our terminology, that means: an inappropriate enlargement of institutions. Hence the examples of the Stasi and the NSA are excellent, in order to show and discuss why it is that these kind of clandestine agencies tend to grow beyond any rationality. And maybe it is this particular feature that makes both agencies apt for a comparison and a general discussion about the work and function of secret intelligence services in our world today. The general question I would like to pursue throughout this talk is what we can today learn from the experience with the Stasi in order to avoid a similar culture of absolute and permanent surveillance, distrust and threat. Surveillance as characteristic for disciplinary society To start on safe ground: Intelligence agencies and their personnel are here to stay. Quite strangely their very own existence together with their modus operandi is the main reason for this. The gathering of information (in secret) is a form of exercising power. It is very rewarding to dwell on this subject for a short while. Michel Foucault in „Discipline and Punish” (Überwachen und Strafen) described how the practices of supervision and their functions in modern societies have developed and changed. Social inclusion, exclusion and vertical hierarchies are all being used to form and discipline individuals. Foucault does not regard these forms of exercising power solely as means of suppression, but also as productive instruments to control societies. It is by these mechanisms that individuals are constituted who then compose a society. By creating intermediating instances such as companies, trade unions, families or the youth welfare offices, the norms of societies together with social control between institutions and individuals are fixed, organized and networked. Foucault is using the metaphor of a panopticon to describe modern societies. It is the image of a perfect prison: There is a tower in the middle, from where the jailors can look into the cells, which are set in a circle around the tower. The prisoners are under permanent control of the guards. They are observed all the time, but cannot see the guards. The effect is that the inmates change their behavior and adapt it to the rules, which are predefined by the observing and punishing guards. The panopticon is the perfect image for modern disciplinary society. In some sense security services are disciplinary instruments in their own right, helping to enforce social norms, especially regarding public safety. And quite clearly secret services come in many forms and disguises. They are responsible for a whole array of very different tasks: from code breaking to information gathering behind enemy lines or within befriended governments, from recruiting traitors to actively killing identified targets, from protecting home countries to winning a war somewhere else. Depending on your perspective, role and side taken, your preferences and judgments will be different. Hollywood has for many years played a vital role in shaping the image of secret services, most notably of those from America itself, but also of others. James Bond before all others has become the icon of the gentleman spy, saving the freedom of the West and fighting the evils of its communist and war mongering antipodes in the East. Such films have contributed also to the justification of the existence and working methods of secret services in the name of the defense of freedom and democracy. But there are other depictions and narratives, too. Francis Ford Coppola’s „The Conversation“ from 1974 displayed the surveillance technologies and methods of the day. Other films of that era such as „3 Days of the Condor“, the „Parallax View“ or indeed „All the President's Men“ about the Watergate scandal, were following this critical route and questioned the role of secret intelligence services. Since 9/11, intelligence services have become yet again a topic of the entertainment sector. The intelligence series „Spooks“ in Britain and „Homeland“ in the USA are quite ambivalent in how they portray the work and inner thinking of such agencies. What becomes clear however, is that spies, secrecy and the ability to covert action don’t come without costs: deceit and distorted truth are two of the main faculties needed within this business. These have become two of the structural aspects on which the work of intelligence agencies are being built. A third aspect is knowledge and the gathering of information. Knowledge is the currency Knowledge is the currency which circulates in the work of any intelligence service. One needs to know more than the other side; more than ones’ own citizens; in fact more about the citizens than these know about themselves. Knowledge is generated from information and used to formulate decisions, future actions and policies, for or against enemies, friends or citizens. The NSA and the Stasi alike have made it their core business to collect information, to process and to act upon it. Both have become emblematic in their representation of what a secret service is all about in terms of information gathering to the end of a questionable image of national security and its consequences. The Stasi does not exist anymore and is subject to historical analysis. The NSA is part of the daily news, much to their own dislike, I would assume, since the revelations of their ex-employee Edward Snowden. Both are not only very good examples of different modes of information gathering in two different technological and ideological eras, but they also share certain features that explain why intelligence services tend to grow beyond control and eventually pose a threat to the very countries they were created to protect. A real hypertrophy. In the following I would like to discuss the differences of the services, then highlight some of its particular features and will then proceed to show which of these features induced their hypertrophy and to what consequences. Stasi We know a lot about the NSA since Snowden, so I will begin with the infamous Stasi, as an example of a secret service in a non-democratic, socialist state in the cold war era in the second half of the twentieth century. Despite its historic character, the Stasi is by no means history as its legacy affects German society to this day and is likely to do so for years to come. The Stasi existed between 1950 and 1990, when the State of East Germany, the GDR, was united with the Federal Republic of Germany – West-Germany – to become Germany as it exists today. Its birth is owed to the cold war that began very soon after Nazi Germany was defeated and Germany divided into four zones of occupation. Some motives for its formation can be found in complaints about increasing acts of sabotage and theft in state owned industries, on farms and within the traffic sector in the Soviet controlled eastern zone. The bureau for the protection of the national economy wanted more influence in counteracting these threats and attacks on the young state. That bureau was subsequently transformed into the Ministry of State Security – the STASI. Another very strong motive was fear – simple fear because there were still so many Nazis around in both parts of the divided Germany, and the build-up of a “new society” was embattled. The head of the bureau for the protection of the national economy argued that it was time to react against “criminal elements” and spies which were sent and ordered by the West, particularly the Americans, to sabotage against the GDR, hence against socialism as a whole. This man a few years later became the minister for state security and synonymous with surveillance, oppression, and the system of the unofficial informers or stool pigeons in East-Germany: Erich Mielke, heading the Stasi from 1957 until its end in 1989/1990. According to its self-narration the Stasi had its roots as a classical intelligence service against foreign enemies. But from the first day of its existence it was created as a political secret service, following the strategy of political cleansing and brutal oppression that was introduced by the Soviets and part of what was to become known as Stalinism. Although the origins of the Stasi system were by no means innovative, it was very different from the Geheime Staatspolizei (Gestapo) of the Nazis, which was in regard to the overall population much smaller. The Nazis could rely on mass loyalty until the end – the Socialist Unity Party was never supported by a majority of GDR citizens. Thus the design and place of the Stasi within the nomenclature and the architecture of the “real socialist” German state implies its own hypertrophy and almost omnipotent character. In its first phase the Stasi established what can be called the rule of terror – either openly, by show trials or open suppression, or by means of bureaucracy. In its last phase Mielke’s men and women were experts in “decomposing” (“zersetzen”) individuals by secretly destroying people’s lives, for example by organizing traffic accidents, ending careers by lies and slander, directing school success or failure of students. In this sense the Stasi was very present in the daily routine of many people, and it played a central role in the suppressive strategies of the ruling party. From the outset the gathering of intelligence against „enemies“, „fascists“ or „unreliable elements“ within the party itself could rely on a substantial number of personnel. In 1953 already 10.000 full-time employees were working for the Stasi, three years later it were 16.000. This was not unusual and indeed comparable to other communist regimes under Soviet control. The Stasi developed into a bureaucracy of its own. But it was never a state-within-a-state: Officially the Stasi called itself “Schild und Schwert der Partei”, shield and sword of the Party, the Socialist Unity Party. The party was its principal, its client, the Stasi its willing instrument. The GDR was a state based on a culture of suspicion and disguise. The Stasi did everything to foster this culture and use it for its own means to sustain and expand its power. To this end it widely used so called “Inoffizielle Mitarbeiter”, unofficial employees – not working professionally for the Stasi, but as informers. Between 1950 and 1952 they recruited approximately 30.000 persons that spied upon friends, families or colleagues. The staff doubled every ten years, and in 1982 roughly 81.500 persons were working for the Stasi. At the end of the East-German state the Stasi had about 91.000 staff – one for every 180 citizens. As to the „unofficials“ their number was even higher. From 20 to 30.000 in the 1950 they grew to 100.000 in 1968 on to about 173.000 individuals in 1989, when the state came to an end. These persons worked in varying capacities for the Stasi – on the whole stabilizing the power of the SED and its leading role within the state. I believe it is fair to say that the continuous growth of the service is based on this culture of suspicion, which was emblematic for all socialist states during the Cold War – in fact a culture, which is characteristic for authoritarian regimes around the world. Everyone is a potential enemy, especially the own citizens – or rather subjects. And once started, such an attitude commences a vicious circle of mistrust, suspicion, control, surveillance, repression, which can go as far as outright violence. The culture of suspicion was the driving force behind the hypertrophy of the Stasi: If you fear everyone, everyone can be a suspect. No one can be trusted, not even your father or your best friend. And to keep on top of the game, to control a whole society, which in the Cold War was opposed by the enemy at its gates, meant to invest in intelligence, to generate knowledge through as many information sources as one could get hold of. In an authoritarian regime this seemed to be easier than in a democratic society. In its own words the Stasi used the means of war during peace to be prepared and fight the enemy wherever emerging. To be fair, the Cold War of course had its impact on both sides of the divide. To think that paranoia was a specifically communist condition would tell only half of the story. West German intelligence services with the help of their American and British cousins had spied upon its own citizens, too - in a democratic state that was suspicious of all things “left”. Sometimes a member of the tiny communist party in West Germany was in danger of losing his job as a postman – but he was not in danger to lose his mind because the secret service destroyed his life. But let me come back to the Stasi and its powers. These did not only involve the powers of total surveillance and information gathering through the large network of official and unofficial employees. It also had the power to fabricate such information in the first place. Which in turn means that its constant growth could be easily justified by its success to respond to the thus perceived threats, regardless of facts, actual evidence or need. Like so many other bureaucracies, the Stasi grew – however unproportional – out of its own needs and necessities for its own good and that of their leaders. This means that hypertrophy is originating in suspicion and the ability to fabricate this suspicion and even “proof”. Unlike so many other secret services the Stasi in all its facets was a total institution, covering, rather penetrating nearly every aspect of society in East-Germany, serving the SED to the very end. The Academy-award winning film “The Life of Others” shows the Stasi’s all-encompassing – and partly absurd – character in an illustrative manner. NSA It seems to be a foolish attempt to instantly turn to our second subject matter: the NSA. Since the Snowden revelations this American secret service has gained an unprecedented prominence, and not in the best sense. As an omnipotent spying agency disregarding civil rights of citizens around the globe, it is much talked about since June 2013. But what is actually different about the NSA, compared to the Stasi? Are we currently witnessing the erosion of all civil rights, our privacy, our freedom and eventually our democracies? And if so: What can we learn from the Stasi experience today? What looks like a straightforward answer, is indeed more complicated than it seems. The NSA was founded in 1952 by order of President Harry Truman, because the USA had been caught off guard by the incidents leading to the Korean War. It had been built on previously existing, but discontinued services established to break codes and ciphers. So like the Stasi the NSA owed its birth to the cold war. Decoding enemy communication, and that was the sole purpose of the NSA when being founded, is a very old business. Encrypting and decrypting information was for a long time the main mode of operation. Today it is the largest of the US intelligence services with a staff of roughly 40.000 people, working in its headquarters in Fort Meade, Maryland. Two thirds of these are military personnel, the rest is civilian. This is just half the people officially employed by the Stasi in 1982. Its main focus was on what is called Signals Intelligence (SIGINT) of enemies from abroad. They listened to all communications around the globe. They were able to decode and encrypt all sorts of information and were at the forefront of developing new coding methods, new software and the most advanced computer technology needed to listen into the world. But the world was not enough. It had to be the USA as well. Spying on US citizens by US agencies is nothing new. The FBI did engage in what today is remembered as the McCarthy era. The agency spied on US citizens in their search for communist subversion. The Oscar-nominated film “Selma” tells a story about this dark chapter of US history. And also today secret agencies have robust powers do so as part of their work in counter intelligence: nothing the NSA has a mandate to do. But also they were part of a scandal in the 1970s, revealed by the so-called Church committee, named after Senator Frank Church. It was part of the investigation stemming from the Watergate affair. That Senate investigation found the NSA and other intelligence agencies engaged in a massive domestic spying program, targeting anti-war protesters, civil rights activists, and political opponents. At the time Senator Church remarked, and I quote: „That capability at any time could be turned around on the American people, and no American would have any privacy left, such is the capability to monitor everything: telephone conversations, telegrams, it doesn't matter. There would be no place to hide.“ The NSA most certainly lost its innocence then. But it did remain in the back of the intelligence discussion, which for years to come was more focused on the CIA and its often dirty wars in Latin America and elsewhere. For the NSA this may have been a mishap only, not questioning the general policy of their code of conduct. But what the quote also shows is that forty years ago there already was an awareness for the consequences of spying on citizens and the values of a free society. To understand the role of the NSA today, we need to fast forward to 2001, namely the terrorist attacks on the World Trade Center and the Pentagon. One could think of this being the initial reason for the hyper growth of the NSA and its new politics, which has been described by Glenn Greenwald as the „collect-it-all“-mission. But it did not need such a liminal experience of intelligence failure to rephrase and reconfigure its mission. It just needed the explosion of the Internet and data traffic around the globe. The NSA has shifted its attention, or rather expanded its attention towards domestic surveillance. The almost unlimited possibilities in terms of technology and knowledge that the NSA has acquired was now employed to find the enemies within. Since 9/11, which was also an intelligence disaster, all information at all times has become relevant. The Patriot Act which was signed in 2001 gave the agencies and the US state almost limitless powers to do whatever they thought was right to do to protect America in the future. This was neither good for America, nor for many other countries and some individuals around the world. As one result the internet started to evolve as the new battle ground of intelligence and indeed the warfare of the twenty-first century. Governments were starting to talk about cyberwars. From what we know today, the NSA was at the very forefront of this new spectacle. Its budget and personnel grew accordingly. National security, if not the security of the Western world, was at stake. And America used the NSA for its war on terror and on its ennemies. If we trust the many analyses and reports on the NSA that came after the Snowden revelations it seems fair to say that SIGINT is no longer the main task of the NSA, but global digital cyberwar. And indeed the NSA, and its partners in the so called five eyes network – an intelligence alliance comprising Australia, Canada, New Zealand, the United Kingdom, and the US – have developed into an omnipotent secret service. The ability of this network to gather information across the globe is unprecedented. And most frighteningly it seems that the nominal masters of the NSA, those who should be controlling the service, have lost its grip – and are not too unhappy about it. NSA’s expansion It is not only that the NSA has expanded its reach in the digital age, it also has found new partners in the internet industry. The willingness of some of the big Californian internet enterprises, such as Facebook, Google or Microsoft, is very telling. National security no longer knows any limits. The world is characterized by the use of digital device and services in such a way that social scientists speak of the new culture of the digital. As many studies have shown, the mere size of the invasion lies beyond what the ordinary citizen can oversee, let alone comprehend. The NSA and other agencies engaged in similar operations attach their surveillance, at least in those regions of the world where it matters, to the digital forms of our lives. Our consumer behavior and patterns are their highways of information. Surveillance and control become part of our consumption, our way of life, while simultaneously claiming that all these measures exist for our own safety. We can still vote, say in public what we need to say, express ourselves and criticize the NSA or other agencies and their respective governments for their outrageous conduct. But we need to ask questions about the framework of such democracies. And in the context of my few remarks, it seems inevitable to ask whether the NSA is on its way to become the new, the digital Stasi, and thus indeed a threat to the ways we live and want to continue to live, that is, as free citizens in democracies. Quality of “hyper growth” From what has been said it becomes clear that secret intelligence services have an inherent quality of “hyper growth”, often beyond reason. Once established the very justification of their existence is often skewed when the supposed enemy from outside or from within ceases to exist or pose a threat. New ones will be identified, constructed or simply created. Intelligence services always know more about the world than their controlling governments. They use this knowledge and all the information they can lay their hands on for their self-perpetuation. The NSA and the Stasi are neither an exception to this rule, nor are they the only or first services where this could be shown. It is safe to say that the hypertrophy of secret intelligence services is one of their inherent qualities. As they are engaged in the fight against an enemy – wherever it is localized or from wherever it is attacking – the very question they have to answer is: Can you ever know enough? And the answer quite logically is: Never! Information flood Hence, building security onto this presumption means that there is no natural limit to their activities and targets. Everyone may be a terrorist or enemy, so everyone is a suspect. Secret services exist on a culture of suspicion. It is their operating rationale. During its last years and months the Stasi was flooded by information which it could not digest at all any longer. Remember, it was still the analogous age. Respectively, the wide-spread fear was vanishing. These are the remnants of the Stasi’s work – a terrible and somehow ridiculous array of assets: 39 million index cards, 111 Kilometers of document files, 1,75 million photographs, 2800 films and videos and 28.400 audiotapes. And there still are about 5.500 sacks with so far unsighted and torn paper snips. If you would try to assess the abilities and maybe the success of the Stasi you have to take also into account the huge expenses regarding personnel and money. The monstrous collections of information in the end could not stop, not even slow down the collapse of the state. For the NSA, on the contrary, the digestion of information is not a problem; you can always edit an algorithm or write a suitable computer program. But the step from all the collected information to an effective shelter from terror seems to be very wide: The killers from Paris or Copenhagen were well-known to the authorities, some were even supervised, but the terrorist acts could not have been prevented. The immediate and inescapable question is: Does it really matter how much information is collected, or is quality and efficiency of the services much more relevant? Having said this, it seems irrelevant what political system they exist in – democracy, authoritarian regime or dictatorship. The rationale of secret services is not dependent on these – but their justification is. Freedom vs. oppression This means that the NSA and its cousin agencies claim to be defending the freedom of the American citizen, by all means necessary, which also means to treat the very citizen as a suspect in general. But the Stasi, like so many other similar agencies in other countries throughout history up until the present, was an instrument of mass oppression. Gathering intelligence was but one means to control society, to guarantee the rule of a rather small class of individuals or a certain party. The Stasi was an instrument to gain total control over society and its individuals. Indeed the NSA does not intent to take our freedom away; the NSA is based on and depends on the notion of freedom, as its existence is justified through the defense of our democratic freedoms. While the Stasi made its presence felt in so many spheres of life, the NSA operates in the dark. Its success depends on remaining anonymous and invisible. The German philosopher and theologian Bernhard Taureck speaks of a surveillance democracy, in which we keep our freedom and liberties, at the cost of perceiving the NSA as the transcendent god, a religion, the omnipotent protector, all-knowing, but also there for us all. This is a sham, of course, and the more we expose it, the more we are able to liberate ourselves. According to Foucault’s notion, the subjects start to automatically control, censor, and discipline themselves in the face of their internalized surveillance. Democratic control The differences between NSA and Stasi cannot be found in their conduct – they can be found in the options of the society to deal with such audacious and obscene behavior, for example in the form of a Senate investigation. Democracies are able to do this, and citizens should be eager to stand up for these rights and democratic means. The internet is the backbone of today’s world, the digital a way of life for many. What in the 1990s was regarded as an instrument of emancipation, freedom and possibilities has been rendered into an instrument of control, of terror, threat and counter-insurgency. The NSA is leading this battle in a democratic society. And here lies one big difference to the Stasi and its activities. Although the NSA operates in secrecy and in doing so breaches existing laws of the USA as well as those of many other states, our societies enable us to reveal such activities, expose them to the public, scandalize them and if necessary take them to court – without getting punished. Although this does not hold true for Snowden and his fellow whistle-blowers, the final verdict on them is still out. We as citizens together with the elected politicians are not only able to reveal such activities, but in fact can challenge such practices and put them under democratic control through committees. As we elect our leaders, these must in return answer to us and justify their actions. They must be accountable for what they do. Whether this always happens remains open to debate. But the fact that President Barack Obama just recently has announced measures to limit the surveillance powers of the NSA – especially concerning the deletion of materials deemed irrelevant – may be seen as a result of these democratic structures. They simply do not exist in authoritarian states to this extent – or are met with contempt and negligence. For whatever such controls are worth in practice, they are important and key to the control of hypertrophic secret services. Democratic internet Technology has become democratized in the process and may be used against the techno-elite, as the British political scientist Richard Barbrook suggests. The structure of the internet has not lost its appeal and the democratic potential for politics from below. Although today‘s open societies are as vulnerable to spying as to acts of terror, to monitoring of activities because they are digital, the digital is also a chance to counter the politics of the secret, the rationale of suspicion and the hypertrophy of the agencies. The key to this does not lie in ever more intelligence, but in building more trust among citizens, between citizens and the states and between states as well. The democratic rights and every attempt to have such controls enforced through political and legal action, is an important building stone to create trust. Transparency in general may generate such trust and hence better relationships between the state and its citizens. Heroic composure Perhaps we also need some of whatHerfried Münkler, professor at Humboldt University in Berlin calls „heroic composure“ (heroische Gelassenheit). In an interview a couple of years ago Münkler put it as follows: „The terrorist attacks are out to create fear. Nervous insecurity shall question our way of life and weaken our society. Because of that we have to bring ourselves to more than just peevish indifference: We have to fasten our moral belts and show that we won’t change our everyday life and our values. That means to carry on taking the subway, even if we are aware of the possible danger. With this heroic composure we guarantee that our society keeps on working. By denying panic we are forming a line of resistance which will stop the terrorist attacks.“ Free societies are not only under threat by terror, but can also fail because of an exaggerated, „hypertrophic“ need for security. To give in to this need for security, writes Münkler, means in the long run to give up freedom, tolerance and openness – and thereby play into the hands of the terrorists. The result would be a society which is heavily armed on the outside in order that nothing happens to the “soft, frail people in the inside“. This society would be totally dependent on guarantees for its security by the state. In Münkler’s opinion, our civil society would die of this “hypertrophic” need for security. Which seems as if Foucault’s theses of self-discipline would have become true on state level. To stop all this we have to praise and develop all the instruments which democratic societies have on offer. Does this sound like Utopia? Maybe. But transparency and efficient democratic control may be the only way to avoid yet another Stasi, and to curb the mystic powers of secret intelligence services. And the fact that you can use the internet to fight the dark sides of the internet is exciting. In a way, this may refer to a new “dialectic of enlightenment”. Please excuse me for this naivety, but maybe we were also naive when we started to imagine a GDR without SED and Stasi in the spring of the historical year 1989. Democratic empowerment is the word, if we don't want that the invisibility, technological expertise, and lack of oversight of the intelligence services threaten our freedom – and if we want to avoid the potential abuse of all our data being collected. Thank you for your attention! - Es gilt das gesprochene Wort -
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Ein Nachdenken über das Jüdische Museum Berlin anlässlich 1.700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland katapultiert schlagartig in Gegenwart und Zukunft. Es gibt wohl kein zweites "Objekt", das die brennenden aktuellen Debatten um Interner Link: innerjüdische Aushandlungsprozesse, aber auch um jüdisch-deutsche Fragen so sichtbar macht wie dieses Museum. Provenienz Das Jüdische Museum Berlin von Jo Frank Das heutige Interner Link: Jüdische Museum Berlin ist nicht das erste Jüdische Museum der Hauptstadt: Im Januar 1933 - nur wenige Tage vor dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur - wurde das erste Jüdische Museum in Berlin eröffnet. Auf dem heutigen Gelände der Interner Link: Neuen Synagoge und des Centrum Judaicum in Berlin Mitte wurden Ausstellungen historischer Zeugnisse neben Werken jüdischer Künstlerinnen und Künstler der Moderne ausgestellt. Dieses erste Museum wurde im Zuge der Interner Link: Novemberpogrome 1938 gewaltsam geschlossen und sein Inventar von der Interner Link: Gestapo beschlagnahmt. Erst 1971, im Jahr der Feierlichkeiten zum 300-jährigen Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, wurde beschlossen, das stadtgeschichtliche Berlin-Museum im amerikanischen Sektor der Stadt zu einem Jüdischen Museum umzugestalten. Hierfür sollte der barocke Altbau des Kollegienhauses durch einen Neubau ergänzt werden. 18 Jahre nach diesem Beschluss und kurz vor der Implosion der Sowjetunion gewann Daniel Libeskind den Wettbewerb für die Erweiterung des Gebäudes in der Lindenstraße in Kreuzberg. 1992, ein Jahr nach dem Beginn der Interner Link: jüdisch-postsowjetischen Migration, wurde der Grundstein für den Neubau gelegt, zwei Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 das Gebäude der Bevölkerung übergeben. Seit 2012 ergänzt die W. Michael Blumenthal Akademie als Reflexions- und Entwicklungsort das Museum, und voraussichtlich 2021 wird ANOHA, die "Kinderwelt" des JMB eröffnet werden. Historischer Essay Die Besucher des Museums erleben, wie das außergewöhnliche Design des Museums die Komplexität jüdischen Lebens in Deutschland reflektiert. von Jo Frank Frustration und Freude Jede*r Besucher*in erlebt das JMB anders. Aber allen Besucher*innen wird beim Gang durch das Museum immer wieder eines bewusst: diesem Gebäude kann man sich nicht entziehen. Das kann eine große Freude sein - wenn man körperlich begreift, wie kompromisslos und unnachgiebig das Gebäude ist, wie radikal der Bau die Komplexität jüdischen Lebens in Deutschland abbildet. Es kann aber auch frustrierend sein. Das Erlebnis des Scheiterns, die Unmöglichkeit, einfache Schritte zu gehen, das Laufen gegen Wände, das Verpassen von Eingängen. Die Emotionen, die der Bau in seinen Besucher*innen weckt - Begeisterung, Verunsicherung, Ärger - spiegeln sich heute auch in den Affekten, die einige für die Arbeit des JMBs empfinden und in leidenschaftlichen Debatten in die Öffentlichkeit tragen. Gerade in den letzten Jahren ist das Museum zum "Objekt" geworden, an dem sich emblematisch zeigen lässt, wie Komplexitätsverweigerung zu Erlebnissen des Scheiterns und der Verärgerung führen muss. Pluralität und Begehrlichkeit Die heutige Jüdische Gemeinschaft zeichnet sich vor allem durch eines aus: Pluralität. Religiös, kulturell, national, sprachlich, politisch - die Gemeinschaft ist so vielfältig wie nie nach der Interner Link: Shoah. Geprägt ist sie von jungen, vornehmlich postmigrantischen Jüd*innen, die innerhalb der Community und darüber hinaus Gesellschaft mitgestalten, die vielfältigste jüdische Positionen in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. In den Wissenschaften, den Künsten, der Politik werden jüdische Stimmen selbstbewusster und fordernder. Dies ist auch u. a. der Arbeit von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und Institutionen zu verdanken, die unter der Prämisse arbeiten, dass jüdische Identität(en), dynamisch sind. Aus dieser Annahme folgt die Freiheit, sich auch von Zuschreibungen des Jüdisch-Seins befreien zu können und innerjüdischen Pluralismus als Selbstverständlichkeit zu begrüßen. Das bedeutet aber auch, dass stetig neue Bedürfnisse und Wünsche formuliert werden. Und eine Adressatin dieser vielfältigen Wünsche ist das Jüdische Museum Berlin. "alle" und "alle" Im Zentrum der Debatten der letzten Jahre steht die Frage: Wem gehört das JMB? Und, wichtiger noch: für wen ist das JMB? Die Frage, wem das Jüdische Museum gehört, ist schnell beantwortet: Das Museum ist eine Stiftung öffentlichen Rechts in der Verantwortung des Bundes. Somit kann auch die zweite Frage zügig beantwortet werden: für alle. Und dieses "alle" ist die größtmögliche Herausforderung. Dieses "alle" muss nämlich in der alltäglichen Arbeit des JMB berücksichtigt werden —ein Ding der Unmöglichkeit. Erst recht, wenn die Definition zur Disposition steht und der Kern der Frage eine andere ist: die nach dem Verhältnis Deutschlands zu Jüd*innen in Deutschland und vice versa. Die Vielfalt der Jüdischen Gemeinschaft und die Pluralität der Bedürfnisse sind neu. Sie sind aus historischen Gegebenheiten und einer über 20-jährigen Vernachlässigung der inneren Pluralität der Gemeinschaft erwachsen. Diese Vielfalt führt zwangsläufig auch zu Konflikten: In einem Land, in der Jüd*innen Minderheit sind, ist ein wichtiger Wunsch der nach Teilhabe - und wo, wenn nicht am Jüdischen Museum sollte diese realisiert werden? Wenn das JMB jüdische Geschichte und Geschichten, jüdische Positionen vermitteln soll, dann - so die Logik radikaler Vielfalt - dann doch bitte alle Geschichten, alle Positionen. Gerade zur Entstehungszeit dieses Beitrags gewinnt dieses Begehren eine besondere Dynamik: In einem Land, in dem jüdisches Leben und die Errungenschaften der letzten 25 Jahre wegen zunehmender antisemitischer Gewalt infrage gestellt werden, soll das JMB Antworten bieten, wo die deutsche Gesellschaft keine zu haben scheint. Die 2020 eröffnete neue Dauerausstellung hat den Mut, die heutige Vielfalt der Gemeinschaft nicht nur zu zeigen, sondern sie auch zu verteidigen - gerade gegen jene, die über das "Alle" meinen bestimmen zu können oder zu müssen. Dabei macht sie mehr als ein Zeigen und Vermitteln jüdischer Geschichte(n): Sie fokussiert jüdisches Leben in der Gegenwart in seiner Vielfalt und im Angesicht vielfältigster Herausforderungen. Machloket - Streit und Erkenntnis Museumsarbeit ist immer politisch, und sie ist es insbesondere bei einem Jüdischen Museum in der Hauptstadt Deutschlands. Das Jüdische Museum hat sich seiner Aufgabe, Ort von und für Aushandlungsprozesse zu sein, in seinen Wechselausstellungen, besonders aber in seiner Akademie gestellt. So wurde es zu einer Akteurin innerhalb dieser Prozesse und zwangsläufig auch zur Zielscheibe teils aggressiver Kritik - besonders jener, die Komplexität nicht so sehr schätzen. Und so unterkomplex die Beleuchtung von Konflikten, so unterkomplex die Konsequenzen: Anschuldigungen, Unterstellungen, Diffamierungen, Entlassungen. Zum Machloket, zum an Erkenntnis ausgerichteten Streit, gehört der Konflikt als heuristisches Prinzip dazu. Diese Streitkultur muss allerdings erkämpft werden. Gerade im jüdisch-muslimischen Dialog, auf den sich die Kritiker*innen besonders eingeschossen haben, haben Museum und Akademie ein zentrales Thema aufgegriffen: das Zusammenleben von Minderheiten in Deutschland. Sie haben die Pluralität der deutschen Gesellschaft thematisiert und den dringend benötigten Ort für Dialog und Disput geboten. Damit haben sie Pionierarbeit geleistet. Die Reflexion darüber, wie sich jüdische Identität unter den Bedingungen aktueller Diskurse um Minderheiten in Deutschland und Europa gestalten lässt, kann nur im Austausch mit Anderen gelingen - und in Zusammenarbeit mit der Mehrheitsgesellschaft wie anderen Minderheiten; ein "entweder oder" kann es hier nicht geben. Zusammenarbeit muss aber nicht gleich Allianz bedeuten. Die Stärke zeitlich begrenzter politischer Bündnisse zur Erreichung gemeinsamer Ziele oder gemeinsamer Positionierungen zu Themen wie Interner Link: Migration, Interner Link: Religionsfreiheit, Interner Link: Antisemitismus, Interner Link: strukturellem Rassismus - diese Stärke kann sich nur in intensiver Zusammenarbeit entwickeln. Um gesellschaftliche Veränderung zu erreichen, ist die Arbeit an Bündnissen und Beziehungen unerlässlich. Hierfür ist das Jüdische Museum Berlin eine wichtige Akteurin. Und es soll ein wichtiger Ort bleiben - ein Ort des lebendigen Diskurses, der vielen Perspektiven und des Machloket—gemeinsam mit "allen" und für "alle". Persönliche Geschichte Von Berlin nach Schanghai in die Vereinigten Staaten und zurück, war W. Michael Blumenthals Weg voller Herausforderungen und Erfolge. von William H. Weitzer Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Architekturikone des Libeskind-Baus, befindet sich in der ehemaligen Blumenmarktgroßhalle die W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums. Die Akademie hat sich als vorrangige Aufgabe die Förderung des Dialogs und des Austauschs zwischen der jüdischen Gemeinde in Deutschland und der zusehends vielfältiger und multikultureller werdenden Mehrheitsgesellschaft gesetzt. Wie aber kommt es, dass dieser wichtige Teil des Museumskomplexes diesen Namen trägt? W. Michael Blumenthal wurde 1926 in Oranienburg geboren; er entstammte einer seit Generationen im Bankwesen tätigen jüdischen Familie, der es gelungen war, die sich um die Jahrhundertwende für Jüdinnen und Juden eröffnenden Chancen zu nutzen. Ab dem ersten Weltkrieg bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein waren die Umstände für alle in Deutschland schwierig, nicht nur für die jüdische Bevölkerung. Als Kind erlebte Blumenthal den Zusammenbruch der familieneigenen Bank, der dazu führte, dass seine Familie nach Berlin zog. In seinen Erinnerungen “From Exile to Washington” (Aus dem Exil nach Washington) erzählt Blumenthal von den Veränderungen in Berlin und in Deutschland, die zur Interner Link: Machtergreifung der Nationalsozialisten, zum zweiten Weltkrieg und zum Holocaust führten. Als W. Michael Blumenthal 13 Jahre alt war, verließ seine Familie Deutschland und lebte während des Weltkrieges in Shanghai, wohin schätzungsweise 17.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland und Österreich geflüchtet waren. 1947 emigrierte er in die Vereinigten Staaten und begann nach seinem Studium in Berkeley und Princeton eine höchst erfolgreiche Karriere in der Wirtschaft und in der Politik, in deren Verlauf er unter anderem in der Regierung von Jimmy Carter als Secretary of the Treasury (Finanzminister) diente. Insgesamt schien es, als hätte W. Michael Blumenthal Deutschland auf immer verlassen. Als jedoch sein Vater im Alter von 100 Jahren starb, so berichtet es der Sohn, "vererbte er mir nicht viel an weltlichen Gütern, aber auf eines war er besonders stolz: einen Stammbaum, in dem die Familie Blumenthal in Brandenburg bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt wurden. [...] Zunächst maß ich dem wenig Bedeutung zu, doch sollte dieses schlichte Dokument, das die Ursprünge meiner Familie nachzeichnet, innerhalb kürzester Zeit die folgenden Jahre meines Lebens verändern – bald darauf befasste ich mich sehr viel intensiver wieder mit deutschen Angelegenheiten, als ich mir je hätte träumen lassen." Die Wieder-Befassung Blumenthals bestand darin, dass er als Gründungsdirektor des neuen Jüdischen Museums in Berlin berufen wurde, dessen Aufgabe und Mission er zu gestalten hatte. "Ich schlug als Ansatz vor, ein deutsches historisches Museum zu errichten, in dem die 2.000-jährige Geschichte der deutschsprachigen Juden von ihren Anfängen in der Römerzeit bis zur Gegenwart dargestellt würde." Unter seiner Leitung wurde das Museum im Jahr 2001 eröffnet; 2016 wurde ihm zu Ehren die Akademie des Museums in "W. Michael Blumenthal Akademie" umbenannt. Aus Berlin nach Shanghai in die Vereinigten Staaten und dann wieder zurück nach Berlin – die Lebensreise von W. Michael Blumenthal ist eine Geschichte der Herausforderungen und des Erfolgs. Das Jüdische Museum zu gründen und mit Leben zu erfüllen ist ganz sicherlich eine der großen Leistungen seines Leben – eine, die als Teil des familiären Vermächtnisses zu verstehen ist, das sich in dem ihm hinterlassenen Stammbaum seines Vaters symbolisch niederschlägt. Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.
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"Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich, Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei's; er solle sich richten! Verstanden, Sebastian?"
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Hacken in Tschechien: Sagen, was Merkel hören will Rechtsextreme haben Mails von Regierungschef Bohuslav Sobotka angezapft. Seine Konversationen mit Beratern lassen tief blicken. Laxer Umgang mit Mails: Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Foto: ap PRAG taz | Peinlich, wenn interne Absprachen an die Öffentlichkeit gelangen. „Anfang März werde ich in Berlin sein und kann mit dem EU-Berater der Kanzlerin absprechen, ob es etwas gibt, das sie hören möchte“, schrieb der tschechische Staatssekretär für EU-Angelegenheiten Tomás Prouza an seinen Chef, Ministerpräsident Bohuslav Sobotka, drei Monate vor dessen Berlin-Besuch im Mai 2015. Dummerweise pflegte Bohuslav Sobotka einen offensichtlich viel zu laxen Umgang mit seinem E-Mail-Verkehr. Der Regierungschef kommunizierte mit seinen Beratern gerne über einen, im Internet für jedermann leicht zugänglichen, E-Mail-Account. Zur Sicherung reichte ihm ein einfaches, immerhin 20-stelliges, Password. Mehr nicht. Was bleibt? Schaden und Spott. Und Erpressbarkeit. Neonazis der Gruppierung White Power Media, eine Gruppe rechtsextremer Hacker, haben das private Mail-Konto des Premiers geknackt. Und veröffentlichen nun, in sorgsam abgewogener Dosierung, E-Mail-Konversationen zwischen Sobotka und seinen Beratern. Der vorauseilende Gehorsam gegenüber Merkel ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Viel mehr Sorgen bereitet Sobotka all das, was die Nazi-Hacker nicht veröffentlicht haben. Der Server, über den White Media operiert, befindet sich in den USA. Bislang ist es den Tschechen nicht gelungen, an Informationen über die Hacker zu kommen. Moralisch vertretbar oder nicht? Obwohl man in Tschechien jetzt heiß darüber diskutiert, ob es moralisch vertretbar sei, Mails aus einem privaten E-Mail-Account zu veröffentlichen, sind die Inhalte der Mails an die Öffentlichkeit gelangt. Allen voran dank der Tageszeitung Lidové noviny, die zum Imperium von Andrej Babis gehört, der nebenbei auch Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident des Landes ist. Genug Zündstoff bieten die Mails allemal. Sobotkas Berater Ota Novotnÿ bezeichnete die sozialdemokratische Basis in Tschechien als „sozial frustriert, xenophob, nationalistisch und konservativ“. Ein anderer Berater, Rudolf Jindrák, ehemaliger tschechischer Botschafter in Deutschland, beschwerte sich, in Berlin stecke man die Tschechen in einen Sack mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán. Besondere Aufmerksamkeit der Neonazis galt der Migrationspolitik der Regierung, die von Sobotka und seinen Beratern ebenfalls eifrig über den tschechischen Freemail-Server diskutiert wurde. Die gehackten Mails erwecken den Anschein, die tschechische Regierung plane die Bevölkerung, die zu zwei Dritteln gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen und die EU-Quote ist, massiv zu bearbeiten. Sollte Sobotka gegen die Hacker vorgehen, würden sie alle seine Konversationen veröffentlichen, ließen die Nazi-Hacker den Regierungschef wissen. Der hüllt sich momentan lieber in Schweigen und hat die Angelegenheit der Polizei, Abteilung Organisierte Kriminalität, übergeben. Nicht zum ersten Mal Ob das etwas bringt, ist fraglich. Immerhin war es Sobotka, der lieber über ungesicherte Mails Interna besprach, anstelle all die Möglichkeit zu nutzen, die ihm sein Regierungsamt bietet. Dabei ist es nicht zum ersten Mal, dass White Media die Mails von Politikern, Aktivisten oder Journalisten hackt und danach veröffentlicht. Schon früher haben sich Politiker, wie zum Beispiel der ehemalige tschechische Außenminister Jan Kavan, in den USA bemüht, den Server der Nazi-Hacker auszuschalten oder wenigstens zu entlarven. Bislang erfolglos. Die Schadensbegrenzung besteht momentan vor allem darin, die Weiterverbreitung der gehackten Mails als unmoralisch zu verurteilen, die ansonsten offen auf dem Server der Neonazis für jedermann einsehbar sind.
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Möglich ist dabei, daß sie durch die Verstärkung der sechs Papalangis auf ihrer Insel noch mehr in ihrem kriegerischen Entschluß bestärkt wurden. Von einem Wallfischfänger, der vor einigen Monaten bei ihnen angelegt, hatte Toanonga zugleich mit einigem Handwerkszeug auch mehrere Musketen und Munition dazu eingehandelt, und allerdings konnten ihm da die Weißen, die mit solchen Waffen ordentlich umzugehen wußten, eine wichtige Hülfe leisten. Als jenes Schiff anlegte, wußte der alte schlaue Häuptling, außer dem Schotten, alle seine Gefangenen fern davon zu halten. Er ließ auch gar kein Boot ans Ufer, sondern trieb den Tauschhandel, nur von Mac Kringo begleitet, durch seine Canoes.
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30: Hans. U. B. IV n. 7, Hans. Gesch. Qu. VI Einleitung S. XLIII Anm. Die Woll-, Häute- und Warenausfuhr der Deutschen und der anderen Fremden aus Lynn, Newcastle, Kingston upon Hull, Boston am Ende des 13. und am Anfang des 14. Jahrhunderts zeigen die Tabellen bei Kunze, Hans. Gesch. Qu. VI n. 367-369, 372-374.
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»Was zum Teufel hast du denn nur, Douglas,« sagte Jonas kopfschüttelnd, als er das geheimnißvolle Wesen des Kommenden sah. »Du willst doch nicht etwa auskneifen, mein Bursche? -- das gib auf, denn du weißt nicht, wie dick der Capitain mit dem alten Häuptling ist, und wie er überhaupt nur auf eine anständige Entschuldigung wartete, noch länger hier liegen zu bleiben; der holte dich wieder und wenn er die ganze Jahreszeit darum versäumen sollte.«
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Justizskandal im Wahlkampf: Laschets autokratische Züge Um seinen SPD-Konkurrenten Scholz zu beschädigen, missbraucht der Unionskandidat das Ansehen des Rechtsstaats. So jemand sollte nicht Kanzler werden. Den Eid schon jetzt gebrochen: Unionskandidat Laschet (hier im Triell mit Konkurrent Scholz) Foto: Christoph Gateau/dpa Dieser Justizskandal ist beispiellos: Mitten im Wahlkampf veranstaltet die Staatsanwaltschaft in Osnabrück eine „Razzia“ im Justiz- und im Finanzministerium und erzeugt dabei vorsätzlich den Eindruck, „die Leitung“ würde Geldwäsche tolerieren. Damit war vor allem Olaf Scholz gemeint, Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat. Schon das ist ungeheuerlich. Noch erschreckender ist, dass CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet diesen Justizskandal im Triell genutzt hat, um seinen Konkurrenten Olaf Scholz zu desavouieren. Mehrmals betonte Laschet, dass das Finanzministerium „durchsucht“ worden wäre, um den Eindruck zu erwecken: Unter der Leitung von Olaf Scholz spielen sich kriminelle Machenschaften ab. Wahrscheinlich war es keine koordinierte Verschwörung, die von der Staatsanwaltschaft Osnabrück über die CDU-Justizministerin in Niedersachsen bis zum Wahlkampfteam von Laschet gereicht hätte. Stattdessen hat jede Ebene auf eigene Art versagt. Das Resultat ist dennoch desaströs: Die Union nutzt die Macht und das Ansehen des Rechtsstaats aus, um dem Hauptkonkurrenten zu schaden und ihren Kandidaten ins Amt zu hieven. Dieses Vorgehen kennt man nur von Autokraten. Die Konservativen wissen genau, dass das eigentliche Thema so kompliziert ist, dass viele BürgerInnen den Überblick verlieren. Daher eine kurze Zusammenfassung: 2018 wollte ein Bankkunde mehr als 1 Million Euro nach Afrika überweisen, aber seine niedersächsische Bank hatte den Verdacht, dass damit Waffen- und Drogenhandel sowie Terrorismus finanziert werden sollten. Eid schon jetzt gebrochen Also meldete sie den Vorfall an die Finance Intelligence Unit (FIU), die zum Zoll gehört, in Köln ansässig ist und Geldwäsche kontrollieren soll. Dort versandete die Meldung dann, und die Bank konnte die Überweisung nicht aufhalten. Seit 2020 ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die FIU, weil sie Strafvereitelung im Amt vermutet. Das Finanzministerium hatte damit nichts zu tun, denn die FIU agiert unabhängig. Allerdings nutzt die Behörde Computerprogramme, um die Anzeigen zu bewältigen: Derzeit gehen jährlich 150.000 Verdachtsfälle ein – die FIU hat aber nur etwa 500 Mitarbeiter. Die Staatsanwälte wollten daher klären, ob die Computerprogramme dazu führen, dass eklatante Verdachtsfälle durchrutschen. Hier kommt das Finanzministerium ins Spiel, weil es für die IT-Struktur der FIU zuständig ist. So weit, so gut. Doch nun wird es merkwürdig. Justiz- und Finanzministerium waren nämlich bereit zu kooperieren, man bat nur um ein förmliches Ersuchen. Doch die Staatsanwälte schickten keinen Brief, sondern erschienen zu einer polizeilichen Durchsuchung. Diese „Razzia“ war so überflüssig wie ungewöhnlich. Noch verdächtiger ist die Presseerklärung. Wie gesagt: Es ging um mögliche Schwächen der Computerprogramme. Schuldige wurden nicht gesucht. Doch die Staatsanwälte ließen missverständlich verlauten, sie wollten ermitteln, „ob und gegebenenfalls inwieweit die Leitung sowie Verantwortliche der Ministerien … in Entscheidungen der FIU eingebunden waren“. Subtext war: Scholz ist schuld, dass in Afrika Drogengeld ankommt. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass diese Formulierungsfehler ein Versehen waren. Alles spricht für Vorsatz – zumal sich die Staatsanwaltschaft nicht entschuldigt hat. Die BürgerInnen müssen sich darauf verlassen können, dass Staatsanwälte sauber und neutral ermitteln. Dieses oberste Rechtsprinzip wurde in Osna­brück erkennbar verletzt. Im Triell hätte Laschet daher unbedingt darauf verzichten müssen, die „Razzia“ für seinen Wahlkampf zu nutzen. Es geschah das Gegenteil. Jeder Kanzler schwört einen Eid, in dem es heißt, „Ich schwöre, dass ich … das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes … verteidigen … werde.“ Diesen Eid hat Laschet schon jetzt gebrochen. Eigentlich darf er nicht mehr Kanzler werden.
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Indessen hatte ich durch meine Kenntnisse und Handwerkstätigkeit in der Familie ziemlichen Einfluß gewonnen. Wie mein Vater als Bötticher für den Keller gesorgt hatte, so sorgte ich nun für Dach und Fach und verbesserte manchen schadhaften Teil der alten Gebäude. Besonders wußte ich einige verfallene Scheuern und Remisen für den häuslichen Gebrauch wieder nutzbar zu machen; und kaum war dieses geschehen, als ich meine geliebte Kapelle zu räumen und zu reinigen anfing. In wenigen Tagen war sie in Ordnung, fast wie Ihr sie sehet; wobei ich mich bemühte, die fehlenden oder beschädigten Teile des Täfelwerks dem Ganzen gleich wiederherzustellen. Auch solltet Ihr diese Flügeltüren des Eingangs wohl für alt genug halten; sie sind aber von meiner Arbeit. Ich habe mehrere Jahre zugebracht, sie in ruhigen Stunden zu schnitzen, nachdem ich sie vorher aus starken eichenen Bohlen im ganzen tüchtig zusammengefügt hatte. Was bis zu dieser Zeit von Gemälden nicht beschädigt oder verloschen war, hat sich auch noch erhalten, und ich half dem Glasmeister bei einem neuen Bau, mit der Bedingung, daß er bunte Fenster herstellte.
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Das war vielleicht auch so eine schlechte Gewohnheit von ihm, daß er zufrieden, ja glücklich war, sobald es ihm vergönnt wurde, körperlich zu arbeiten. Strengte er denn wirklich seinen Geist, die bessere Menschenhälfte, so ungern an? War er zum Holzhauer oder zum Kutscher geboren? Hätte er in Urwäldern oder auf Meerschiffen als Matrose leben sollen? Schade, daß es in der Nähe von Bärenswil keine Blockhäuser zu bauen gab.
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In diesem Augenblick vollzog sich in Jan Breydels Zügen eine seltsame Wandlung. Als wäre er jählings aller Kraft beraubt, ließ er das Beil schlaff an seiner Seite niedersinken. Er bewunderte die Größe des Mannes, dessen Ratschläge er nicht hatte annehmen wollen. Doch nur einen Augenblick; denn alsbald sah er, in welcher Gefahr der Freund schwebte. Er warf den Fleischer, der schon sein Beil über De Conincks Haupte schwang, zu Boden und schrie:
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Repression im Iran: Der Staatsfeind ist ein Künstler Eineinhalb Jahre nach der "grünen Revolution" will das Regime vor allem mit Repression die Kontrolle zurückgewinnen. Die Attacken gelten verstärkt den Kulturschaffenden. Für alte Hollywood-Filme darf plakatiert werden, aber einheimische Kulturerzeugnisse werden von der Zensur zunehmends aus dem öffentlichen Raum verbannt. Bild: ap Eine sogenannte "Denkfabrik für sanfte Sicherheit" im Iran hat eine überraschende Entdeckung gemacht: Nicht die Protestdemonstrationen im eigenen Land oder ausländische Wirtschaftssanktionen und Kriegsdrohungen seien die eigentliche Gefahr für die Existenz der Islamischen Republik. Es ist die Kultur, es sind die Künstler, Schriftsteller, Filmemacher, Journalisten, die wie eine Schar von Viren, unauffällig und unkontrollierbar, sich mit immer größerem Tempo verbreiten und das ganze Land mit westlicher Dekadenz verseuchen. Ausländische Mächte seien in Zusammenarbeit mit einheimischen Lakaien am Werk, um still und heimlich den Gottesstaat zu unterhöhlen und eine "sanfte Revolution" herbeizuführen. Nun hat die vermutlich im Auftrag des Ministeriums für islamische Führung arbeitende "Denkfabrik" in einer 63-seitigen Broschüre mit dem Titel "Das bunte Geflüster" das Ergebnis ihrer Recherchen zum internen Gebrauch der Regierung und der Sicherheitsdienste vorgelegt. Konkret wird der iranische Buchmarkt unter die Lupe genommen. "Die Ereignisse nach den Präsidentschaftswahlen (Juni 2009) und die Geständnisse der Angeklagten haben eindeutig gezeigt, dass die Islamische Republik seit ihrer Gründung und insbesondere im vergangenen Jahrzehnt mit einer neuartigen Form feindlicher Angriffe konfrontiert worden ist", heißt es in der Einleitung. Schlagworte wie "sanfter Umsturz" und "samtene Revolution" hätten in die politische Literatur Einzug gefunden. Nahezu täglich tauchten neue Varianten einer von langer Hand geplanten Strategie des Umsturzes auf. Selbstkritisch gestehen die Autoren, die Bedeutung dieser Umsturzstrategie nicht hoch genug eingeschätzt und es versäumt zu haben, systematisch dagegen vorzugehen. Man habe sich zu sehr auf politische Aktivitäten konzentriert und kaum wahrgenommen, was sich auf dem Gebiet des Theaters, der Musik, des Films und der Literatur abgespielt habe. Am deutlichsten lasse sich die Entwicklung auf dem Buchmarkt beobachten. Als Beispiel erwähnt die Broschüre ein Buch mit dem Titel: "Zivilgesellschaft, ziviler Kampf" von Gene Sharp und Robert Helvey, ins Persische übersetzt von Mehdi Kalantarzadeh. Das Buch, das in allen Buchhandlungen verkauft und auf Ausstellungen offiziell präsentiert worden sei, sei ein unüberhörbares Warnsignal gewesen. Dennoch habe es nicht vermocht, "die Verantwortlichen aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken". Was die nun aufgewachten Denkfabrikanten für Pläne gegen Kulturschaffende schmieden, lässt nichts Gutes erahnen. Zwar ist die seit Jahrzehnten gepflegte Feindschaft der Gottesmänner gegen kritische Künstler, Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle hinlänglich bekannt. Schon im ersten Jahr nach Gründung der Islamischen Republik erließ Revolutionsführer Ajatollah Chomeini wutentbrannt den Aufruf gegen kritische Journalisten: "Brecht ihre Federn!" Hunderte Zeitungen und Zeitschriften wurden verboten, Verlage und Buchhandlungen in Brand gesteckt, Dutzende Kulturschaffende zu langjährigen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt. Der populäre Dichter Said Soltanpur, der das politische Straßentheater in den Iran eingeführt hat, wurde während seiner eigenen Hochzeitsfeier verhaftet und wenige Tage danach hingerichtet. Fortan sollte eine im Rahmen des Ministeriums für islamische Führung eingerichtete Zensurbehörde für die "Islamisierung der Kultur" sorgen. Schreie des Schweigens Ende der neunziger Jahre wurden mit der Regierungsübernahme durch Reformer unter Präsident Mohammed Chatami die Zensurmaßnahmen merklich gelockert. Das genügte schon für einen neuen kulturellen Aufschwung. Kunst und Literatur erlebten eine neue Blüte. Der iranische Film erlangte internationales Ansehen. Dem wollten die Radikalen Einhalt gebieten. Mordanschläge auf Intellektuelle und Schriftsteller, als "Kettenmorde" bekannt, sollten Kritiker das Fürchten lehren. Das Ehepaar Foruhar wurde im eigenen Haus überfallen und bestialisch ermordet. Die Schriftsteller Mohammed Mochtari und Mohammed Jafar Puyandeh sowie der Journalist Ebrahim Zalzadeh wurden entführt und getötet. Irgendwo außerhalb der Stadt fand man ihre Leichen. Mit der Machtübernahme der Radikalen mit Mahmud Ahmadinedschad an der Spitze 2005 wurde der Kampf gegen das kritische, freie Denken wieder verschärft aufgenommen. Revolutionsführer Ali Chamenei beklagte den Einzug des westlichen Gedankenguts, des säkularen und liberalen Denkens an den Universitäten und forderte eine konsequente Islamisierung der Lehrpläne und Lehrbücher, insbesondere für die Geisteswissenschaften. Es folgte eine gründliche Säuberung der Studenten. Hunderte Professoren wurden in den Ruhestand geschickt, darunter der Rechtswissenschaftler Mohammed Reza Bigdel, der Politikwissenschaftler Abdollah Ramesansadeh, der Soziologe Esfandiar Solghadr. Zudem wurde beschlossen, Universitäten und Schulen unter die Kontrolle der Geistlichkeit zu stellen. Tausende Geistliche sollten die Islamisierung des Lehrbetriebs rasch vorantreiben. Eine neue Phase der Repressionen begann im Zuge der Unruhen von 2009. Die fantasievollen Slogans, Plakate, Lieder und Spots bei den Protesten, die millionenfach durch das Internet weltweit verbreitet wurden, schreckten die Staatsführung auf. "Hört, wie laut die Schreie des Schweigens sind", heißt es in einem Lied. Wie war es möglich, dass es den Gottesmännern in den drei Jahrzehnten Islamischer Republik nicht gelungen war, ihre Vorstellung von Kultur und Moral dem Volk und insbesondere der Jugend aufzuzwingen? Trotz aller Maßnahmen hatte sich fast unbemerkt von ihnen eine Lebenshaltung durchgesetzt, die ihnen gänzlich fremd war. Was sollten die radikalen Islamisten mit Rap und Pop-Musik anfangen? Es musste rasch gehandelt werden. Massenfestnahmen und drakonische Strafmaßnahmen sollten dem Treiben ein Ende setzen. Zwanzig Jahre Berufsverbot Der international preisgekrönte Filmemacher Jafar Panahi zum Beispiel wurde zu sechs Jahren Haft und zwanzig Jahren Berufsverbot verurteilt, weil er einen Film über die Unruhen von 2009 geplant hatte. Sein Kollege Mohammed Rasoulow erhielt dieselbe Strafe. Die Journalistin Schiwa Nasar-Ahrari und der Journalist Emadeddin Baghi wurden ebenfalls mit jeweils sechs Jahren Gefängnis bestraft. Viele andere erhielten ähnliche Urteile. Künstler und Autoren, die nicht bereit sind, sich dem Diktat der Staatsführung zu unterwerfen, sollen entweder fortan schweigen oder das Land verlassen. Tatsächlich sind in den letzten Jahren mehrere tausend Journalisten und Kulturschaffende ins Exil gegangen. Der bekannte Journalist Akbar Gandji, die Filmemacher Mohsen Makhmalbaf und Abbas Kiarostami, der Islamforscher und Philosoph Abdolkarim Sorousch oder der kritische Geistliche Mohsen Kadiwar leben inzwischen im Exil. Auf dem Buchmarkt findet man immer weniger kritische Schriften. Hunderte, gar tausende Manuskripte liegen seit Monaten, manche sogar seit Jahren in der Zensurbehörde. Zahlreiche Verlage sind inzwischen ruiniert, Buchhandlungen mussten schließen. Es gibt kaum noch kritische Autoren, die durch Schreiben ihren Unterhalt verdienen können. All dies scheint aber den Denkfabrikanten nicht genug. Sie nennen exemplarisch sieben Verlage, darunter Tscheschmeh, Achtaran und Roschangaran mit jeweils mehreren Autoren, die angeblich an dem Plan einer samtenen Revolution aktiv beteiligt sein sollen. Es handelt sich um bekannte, regierungsunabhängige Verlage, die dank bisheriger Vorsichtsmaßnahmen, Selbstzensur und Kompromissbereitschaft noch existieren können. Zu den Autoren, die namentlich genannt werden, zählen Mahmud Doulatabadi, Ali Darwischian und Simin Behbahani, die zu den populärsten des Landes gehören. Die Verfasser der Broschüre haben einzelne Bücher aus jedem der sieben Verlage recherchiert, wie zum Beispiel das Buch "Das Weltende liegt nah" von Ahmad Sadri. Der Verfasser sei ein Atheist, heißt es in der Broschüre, weil er von einer Welt schwärme, in der alle Menschen, "unabhängig von ihrem Glauben und ihren Neigungen, durch Dialog und gegenseitigen Kompromiss die Probleme demokratisch lösen und ohne Ausgrenzungen und Hegemoniebestrebungen sich gemeinsam für ein fortschrittliches, modernes und demokratisches Iran einsetzen." Sadri sei auch eindeutig gegen den Revolutionsführer, behauptet die Broschüre, denn er kritisiere die "ideologiebehaftete Politik und Planung" und werfe der Staatsführung vor, "nicht kompromissbereit" zu sein. "Sie wollen nicht akzeptieren, dass sie ihre Ideale und Vorstellungen reduzieren und mit der Realität in Einklang bringen müssen", wird Sadri zitiert. Dem Schriftsteller Ehsam Noruzi werden umstürzlerische Absichten unterstellt, weil er schreibt: "In dieser Stadt musst du als Erstes lernen, deine Träume zu vergessen. Denn was du im wachen Zustand siehst, ist die Wirklichkeit deiner Albträume. Wenn du etwas anderes suchst, musst du dich unter die Erde begeben, zu den Gräbern." Dem Verlag Tscheschmeh, der unter anderem die Werke einiger populärer Autoren wie die von Mahmud Dolatabadi verlegt, der auch in Deutschland bekannt ist, wird in der Broschüre vorgeworfen, in einer dem Verlag gehörenden Buchhandlung Sitzungen mit Autoren abgehalten zu haben, auf denen über Zensur, freie Meinungsäußerung und Probleme des Verlagswesens gesprochen worden sei. Außerdem sei der Verleger im Vorstand des Vereins der Verleger und Buchhändler und pflege Kontakt zum iranischen Schriftstellerverband! Auch dem Frauenverlag von Schahla Lahidji wird Mitwirkung bei der Vorbereitung einer samtenen Revolution unterstellt, weil er feministisches Gedankengut verbreite und sich hauptsächlich den Rechten der Frauen widme! Die Broschüre "Das bunte Geflüster" ist eine Aufforderung an die Justiz, zu handeln, ehe es zu spät ist. Für die Autoren und die Verleger bedeutet sie eine ernste Gefahr, die sie nur abwenden können, wenn sie fortan schweigen, ihren Beruf aufgeben oder dem Land den Rücken kehren.
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Sportarten bei Olympia: Eng wirds für die Schmuddelkinder Das IOC kegelt Boxen, Gewichtheben und Modernen Fünfkampf aus dem Olympischen Programm. Ein Paradigmenwechsel ist das nicht. War nix, wird nix mehr. Gewichtheben steht vor dem olympischen Aus Foto: imago/Sven Simon Mit den Schmuddelkindern soll man ja nicht spielen. Oder mit den „Problemkindern“, um es im Duktus des IOC zu sagen. Und so ist es nicht besonders überraschend, dass für die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles, wie am Donnerstagabend berichtet wurde, die Disziplinen Boxen, Gewichtheben und der Moderne Fünfkampf vor dem Aus stehen sollen. Die drei Verbände also mit dem Korruptionssumpf, dem Doping und den Bildern von geprügelten Pferden. Hingegen seien die „Trendsportarten“ Skateboard, Surfen und Sportklettern so gut wie sicher im Programm, ihre Bestätigung nur noch Formsache. Natürlich haben Doping, Korruption und geprügelte Pferde das Olympische Komitee nie an erster Stelle gestört. Sonst wären die Doping-Kernsportarten Leichtathletik und Radsport ja nicht ständig im Programm. Und beim Thema Stimmenkauf, Autokratie und Korruption fällt es im Sportverbandswesen schwer, überhaupt einen Verband zu finden, auf den nichts davon zutrifft. Massive Missbrauchsskandale wie im Turnen haben die Sportart auch nicht von der olympischen Bühne vertrieben. Es geht bei der Entscheidung also vor allem um Verkäuflichkeit. Und Bilder: Erst, wer Skandalbilder (Annika Schleu) oder hinreichend Skandalreportagen (der Boxverband Aiba) verursacht und gleichzeitig als Sportart nicht gut verkäuflich ist, wird Schmuddelkind. Lieblingskindern geht es nicht an den Kragen. Auch übrigens vonseiten der Öffentlichkeit nicht sehr. Einen möglichen Abschied von Boxen, Gewichtheben und dem seltsamen Fünfkampf muss man dennoch nicht übermäßig betrauern. Konsequenzen für die Zustände in den besagten Verbänden sind längst überfällig; Tradition ist kein Wert an sich. Und eine Sportart wie Boxen, die bei einem Teil der Sport­le­r:in­nen starke Hirnschäden hinterlässt, könnte durchaus viel grundlegender hinterfragt werden. Wenn Olympia wirklich eine inklusive Bewegung sein will, muss sie im Gegenteil Subkulturen viel früher berücksichtigen. Die Mühlen der Zähmung durch das IOC mahlen da arg langsam: „Trendsportart“ ist Skateboard nun eher mindestens seit den Achtzigern, Surfen eher schon seit den Sechzigern. Bis eSports ins Olympische Programm findet, wird es also gewiss noch 30 Jahre dauern. Einen Paradigmenwechsel bedeuten die vermeintlich soften Disziplinen allerdings nicht, sie funktionieren schon lange ähnlich. Nicht erst durchs IOC, wie die Szenen manchmal gern suggerieren; Turniere gibt es auch beim Skaten seit frühesten Tagen. Wenngleich man sich beim Surfen oder Sportklettern schon anstrengen musste, um irgendetwas Messbares und Zählbares zu finden – da findet zusammen, was mittlerweile zusammen gehört. Im Sommer in Tokio standen keine wilden Kids aus dem Park vor den Kameras, sondern 14-Jährige wie Lilly Stoephasius, die trainieren, seit sie fünf Jahre alt sind. Ganz im Geiste des IOC. Aber gute Bilder produzierten diese unbelasteten Gesichter dennoch.
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dpa Kämpfe zwischen Hamas und Fatah im Gazastreifen (Archivbild vom 13.7.2007). Freitag, 15.11.2013, 16:44 Die im Gazastreifen herrschende Hamas-Organisation will am Sonntag ihre offizielle Antwort zu dem geplanten innerpalästinensischen Versöhnungsabkommen vorlegen. Eine Hamas-Delegation werde in Kairo die Antwort übergeben, erklärte Hamas-Sprecher Fausi Barhum in einer Stellungnahme. Aus Ägypten verlautete am Samstag, die geplante Unterzeichnung sei bis auf weiteres auf Eis gelegt worden. Am Freitag hatte die Hamas erklärt, sie habe dem Versöhnungsplan zugestimmt. Nach langen Diskussionen werde das Dokument „mit einigen kleinen Anmerkungen“ an diesem Samstag den Ägyptern übergeben. In der Vergangenheit hatten sich Anzeichen für eine Aussöhnung der tief zerstrittenen Palästinensergruppen allerdings immer wieder in Schall und Rauch aufgelöst.Die Hamas hatte zuvor um drei zusätzliche Tage Bedenkzeit gebeten, damit sich die Hamas-Führer im Gazastreifen, im Westjordanland und im syrischen Exil absprechen könnten. Eine von Ägypten als Vermittler gesetzte Frist war am Donnerstag abgelaufen. Bislang hat als erste von 13 Palästinenserorganisationen nur die gemäßigte Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas das Abkommen unterzeichnet. Mit der Aussöhnung sollen die Weichen für Präsidenten- und Parlamentswahlen am 28. Juni 2010 gestellt werden. Abbas hat der Hamas damit gedroht, dass er – wie vom palästinensischen Grundgesetz vorgesehen – bereits am 25. Januar wählen lassen will, falls die Hamas das Abkommen nicht unterzeichnet. Während die Fatah das Westjordanland kontrolliert, herrscht die radikal-islamische Hamas seit einem blutigen Putsch vom Juni 2007 im Gazastreifen. Beide Regierungen erkennen sich gegenseitig nicht an. dpa
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Udo Pastörs wegen Volksverhetzung verurteilt: "Judenrepublik" und "Samenkanonen" Udo Pastörs, Fraktionsvorsitzender der NPD im Schweriner Landtag, ist zu 6000 Euro Geldstrafe und 10 Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Pastörs hatte gegen Juden und Migranten gehetzt. Udo Pastörs im Interview. Er wurde heute wegen Volksverhetzung verurteilt. Bild: apn SAARBRÜCKEN taz | Unter starken Sicherheitsvorkehrungen betrat Udo Pastörs den Gerichtssaal, der NPDler war mit dem Flugzeug nach Saarbrücken angereist. Am Donnerstagmorgen hat vor dem Amtsgericht Saarbrücken das Verfahren gegen den NPD-Fraktionsvorsitzenden aus Mecklenburg-Vorpommern begonnen. Zuvor hatte der mecklenburg-vorpommersche Landtag Pastörs' Immunität aufgehoben. Am späten Nachmittag fiel das Urteil. Das Amtsgericht Saarbrücken verurteilte den NPD-Fraktionsvorsitzenden aus Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung, sowie einer Geldstrafe von 6.000 Euro. Das Gericht blieb mit dem verhängten Strafmaß knapp unter der Forderung von Staatsanwalt Bernd Reimers, der eine Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung und eine Geldstrafe von 6.000 Euro gefordert hatte. Reimers hatte zuvor ausgeführt, dass Pastörs am Aschermittwoch 2009 bei einer NPD-Veranstaltung in Saarbrücken-Schafbrücke in einer Rede "Menschen jüdischen Glaubens bzw. türkischer Herkunft böswillig verächtlich gemacht und zum Hass gegen diese aufgestachelt zu haben". Im Saal 3 des Saarbrücker Amtsgerichts hatte Pastörs sich noch auf die Meinungsfreiheit berufen wollen. Die Vorsitzende Richterin Susanne Biehl begründete den Urteilsspruch aber damit, dass Pastörs in seiner Rede nationalsozialistisches Wortgut benutzt habe. "Meinungsfreiheit ist nicht schrankenlos", betonte Biehl. Wenn die Menschenwürde verletzt werde, seien der Meinungsfreiheit Grenzen gesetzt. Von Schuldbewusstsein war bei Pastörs, der seit 2006 im Schweriner Landtag sitzt, nichts zu merken. Er verwies nicht nur auf die Meinungsfreiheit, sondern führte auch an, dass an diesem Tag doch deftige Worte sonst in Reden gängig wären. Bürgerlich und bieder auf den Straßen von Lübtheen Im Alltag, auf den Straßen in Lübtheen, wo der 57-Jährige lebt, tritt er meist bürgerlich und bieder auf. Will sich als "moderater Nationalist" gerieren, der sich "um seine Wähler" kümmere. In einer geschlossenen Veranstaltung, unter den Seinigen, lässt Pastörs die Biedermann-Maske gern mal fallen – und das führte zu der Anklage, wegen der er sich jetzt in Saarbrücken vor Gericht verantworten muss. An jenem 25. Februar schien Pastörs verdrängt zu haben, dass Fernsehkameras liefen. Pastörs: "... türkische Männer mit ihren Samenkanonen" Er wetterte an jenem Aschermittwoch gegen die "Judenrepublik" und "türkische Männer mit ihren Samenkanonen". Vor laufenden Kameras meinte er auch, dass gegen Ausländer "mit Wort und wenn nötig auch mit der Hand" vorgegangen werden müsste. Nachdem NDR und taz am 5. März vergangenen Jahres bei der NPD und den Behörden nachgefragt hatten, schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein. Der ehemalige Präsident des niedersächsischen Landesamts für Verfassungsschutz, Günther Heiß, meinte damals zu der 60-Minuten-Rede, sie sei reine "menschenverachtende, gewalttätige und bösartige Propaganda". Die Staatsanwaltschaft betont, das die Rede noch von weiteren antisemitischen und ausländerfeindlichen Äußerungen und auch historischen Verdrehungen und Geschmacklosigkeiten geprägt gewesen. Jene Aussagen hätten allerdings "keine strafrechtliche Relevanz". Jetzt also zehn Monate auf Bewährung, sowie eine Geldstrafe von 6.000 Euro für Pastörs. Nach der Urteilsverkündung kündigte Pastörs Anwalt Clemens sogleich Revision an. Er denke, ganz wie sein Mandant, dass die Redeinhalte in "vollen Umgang vom Recht auf Meinungsfreiheit" gedeckt seien.
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Herein trat Fräulein Frieda, der "Hinkepott", aufgetakelt in Seidengrimmer, mit ausgeleierter Hüfte verschoben haxend. Ihr folgte Fräulein Dada in einem Schneiderkleid à la feldgraue Uniform, nach neuestem Schick. Der Unterkiefer hing ihr sehr lang, ein verfettetes Dreieck. Mit den Händen stützte sie sich, im Vorbeigehen, langsam und sehr elegant auf die Tische. Das feldgraue Schneiderkleid machte Furore. Aller Augen sahen nach ihr. Auch diese beiden Damen begaben sich möglichst nach vorne, um in der besten Gesellschaft zu sein und ein wenig zu profitieren vom Rampenlicht.
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Li saß oft auf der Bank und warf Steinchen ins Wasser. Und jedesmal, wenn Li ein Steinchen warf, gurgelte es, und ein goldener Fisch mit kreisrundem Mäulchen und Edelsteinen auf dem Rücken tauchte auf und fragte: Was befiehlst du?
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Streit über Haushalt im US-Kongress: Ohne Einigung droht ein „Shutdown“ Bis Mitternacht hat der Senat Zeit, den Haushalt zu verabschieden. Ohne Zustimmung müsste die Verwaltung ihre Mitarbeiter nach Hause schicken. Der republikanische Mehrheitsführer im US-Senat, Mitch McConnell, macht Stimmung für das Haushaltsgesetz Foto: dpa WASHINGTON ap/dpa | In den USA haben die Kongressabgeordneten nur noch wenige Stunden Zeit, um einen sogenannten Shutdown abzuwenden. Der Stillstand der Regierungsbehörden kann durch ein Votum im Senat bis zur Frist Freitagmitternacht aufgehalten werden. In der Nacht zum Freitag sah es für eine entsprechende Abstimmung in der zweiten Kongresskammer aber düster aus. Zur Debatte steht ein Haushaltsentwurf, der die Finanzen kurzfristig bis Mitte Februar regeln soll. Die Demokraten sind dagegen. Am Donnerstagabend hatten zunächst die Abgeordneten des Repräsentantenhauses mehrheitlich für die Maßnahme gestimmt, die den Geschäftsbetrieb der US-Behörden in den kommenden vier Wochen finanzieren soll. Das Votum lag bei 230 zu 197 Stimmen. Die Abstimmung im Senat wurde für Freitag erwartet. Die Republikaner kontrollieren die zweite Kongresskammer mit 51 zu 49 Stimmen, brauchen aber 60 Stimmen, um Verzögerungstaktiken im Zuge der Abstimmung durch die Demokraten zu beenden. Die Demokraten sind unzufrieden mit dem vorgeschlagenen Ausgabengesetz, weil darin keine Einwanderungs- und Grenzschutzfragen geklärt werden. Der Top-Demokrat im Senat, Charles Schumer, sagte, seine Partei werde lediglich einen Haushaltsentwurf akzeptieren, der den fortlaufenden Betrieb der US-Behörden für die kommenden Tage abdecke. Das räume Zeit ein, um eine Lösung im Einwanderungsstreit zu finden. US-Präsident Donald Trump warf er vor, ein zu sprunghafter Verhandlungspartner zu sein. Der demokratischen Partei ist es besonders wichtig, Hunderttausende Migranten im Studentenalter vor einer drohenden Abschiebung zu schützen. Das Programm, das den sogenannten Dreamern den Aufenthalt in den USA erlaubt, läuft im März aus. Die Republikaner haben sich in Teilen bereit erklärt, einen Abschiebeschutz zu unterstützen. Dafür wollen sie aber mehr Ausgaben für den Grenzschutz durchsetzen. Der Vorsitzende im Repräsentantenhaus, Paul Ryan von den Republikanern, forderte die Demokraten im Senat auf, das Haushaltsgesetz durchzuwinken. Er deutete an, im Gegenzug könne es einen Deal in Einwanderungsfragen geben. Mit Blick auf einen möglichen Shutdown sagte er: „Es ist riskant. Es ist rücksichtslos. Und es ist falsch.“ Der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, warnte seine Kollegen in einer E-Mail vor einem „Nein“ bei dem Votum. In seiner Botschaft schrieb er, gegen die Maßnahme zu stimmen, spiele den Demokraten in die Hände. Trump will feiern Ein „Shutdown“ wäre vor allem für die Republikaner sehr unangenehm, will Trump doch am Samstag (20. Januar) einen ungetrübten ersten Jahrestag seiner Amtseinführung begehen. Er will am Freitagnachmittag nach Mar-a-Lago in Florida abreisen, womöglich werden diese Pläne aber geändert. Im Falle eines „Shutdown“ käme der öffentliche Dienst in den USA in weiten Teilen zum Erliegen. Demokraten und Republikaner geben sich für ein solches Szenario bereits seit Tagen gegenseitig die Schuld. Ämter und Behörden blieben geschlossen, aber auch bundeseigene Museen oder andere Freizeiteinrichtungen. Am deutlichsten würden die Folgen nach dem Wochenende von Montag an bemerkt. Staatsbedienstete würden dann zwar zu Hunderttausenden in den Zwangsurlaub geschickt, es kommt aber nicht zu einem kompletten Stillstand der Regierung. Die wichtigen Behörden arbeiten weiter, das schreibt ein Gesetz so vor. Zivile Mitarbeiter müssten zu Hause bleiben Zu den als essenziell erachteten Bereichen zählen etwa die Bundespolizei FBI, der Geheimdienst NSA oder die Transportsicherheitsbehörde TSA. Auch die rund 1,3 Millionen uniformierten Mitglieder der Streitkräfte sind weiterhin im Dienst. Die zivilen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums müssen dagegen zum großen Teil Zuhause bleiben. Ausnahmen wären zum Beispiel Ärzte. Ein Sprecher des Justizministeriums sagte zu CNN, dass auch das Team des FBI- und Russlandsonderermittlers Robert Mueller seine Arbeit trotz eines „Shutdowns“ fortsetzen werde. Social- und Krankenversicherungen (Social Security, Medicare und Medicaid) würden weiterhin ausgezahlt, auch die Post würde weiter arbeiten. In früheren Fällen wurden Staatsbedienstete, die während des „Shutdowns“ Zuhause bleiben mussten, nachträglich entschädigt.
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Rechtspopulismus auf „Compact“-Konferenz: Die Verfechter deutscher Interessen Auf einer Konferenz des Magazins „Compact“ trafen sich Putin-Fans, Rassisten und Verschwörungstheoretiker. Als „Ehrengast“ dabei: Egon Bahr. Jürgen Elsässer, Archivfoto. Auf der aktuellen Konferenz war die Presse ausgeschlossen. Bild: dpa Zur „wichtigsten Konferenz des Jahres“, so die Eigenwerbung, lud das rechtspopulistische Monatsmagazin Compact am Samstag in ein Berliner Hotel ein. Rund 700 Menschen kamen und zahlten offiziell von 69 bis zu 350 Euro für ein neunstündiges Programm mit zehn Referaten zum Thema „Frieden mit Russland – Für ein souveränes Europa“. Compact-Verleger Kai Homilius legte zur Eröffnung sein ganz eigenes Verständnis von Souveränität dar: Die Presse sei ausgeschlossen, um die „Privatsphäre der Teilnehmer zu schützen“. Journalisten, die sich „eingeschlichen haben“, müssten mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Das Publikum quittierte dies mit tosendem Beifall. Der Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer, ein ehemaliger Linksradikaler, der zum rechten Rand gewechselt ist, legte nach. Seine Zielgruppe sei „das Volk“, sagte Elsässer, wozu er offenbar vor allem Gegner von EU, schulischer Sexualaufklärung und Zuwanderung von Muslimen, aber auch Anhänger diverser Verschwörungstheorien zählt. Bei der Wahl seiner Bündnispartner ist der Publizist nicht zimperlich: Er sucht den Schulterschluss mit reaktionär-klerikalen „Familienschützern“, mit rassistischen Parteien in mehreren Ländern Europas und nicht zuletzt mit militanten rechten Gruppen wie den „Hooligans gegen Salafismus“ (HoGeSa). Zum Umfeld seiner vor vier Jahren gegründeten Zeitschrift gehören aber auch anerkannte konservative Wissenschaftler und Expolitiker, sofern sie in sein ideologisches Korsett passen: Elsässer plädiert für eine „eurasischen Brücke“ der Nationen, von Peking über Moskau und Berlin nach Paris und als Gegengewicht zur „Herrschaft des US-Finanzkapitals“, wie er bei der Konferenz in Berlin darlegte. Ein „Völkerrecht auf Sezession“ Der frühere CDU-Politiker und jetzige Parteivize der AfD, der Publizist Alexander Gauland, hatte seine Teilnahme ursprünglich davon abhängig gemacht, ob sich Elsässer von den „Hooligans gegen Salafismus“ distanziere. Diese Distanzierung gab es zwar nicht, aber Gauland kam trotzdem und begründete seinen Schwenk mit dem angeblichen „Diskussionsverbot“ über die deutsche Russlandpolitik, dem er sich sich nicht beugen wolle. Dabei sei er weder „ein Putin-Versteher noch ein USA-Hasser, sondern ein Verfechter deutscher Interessen“, sagte Gauland. Ein bewährter Compact-Mitstreiter, der Staatsrechtler Karl-Albrecht Schachtschneider, der unter anderem durch seine Prozesse gegen den „Rettungsschirm“ für die Eurokrisenländer bekannt wurde, vertrat auf der Tagung die These, es gebe ein „Völkerrecht auf Sezession“, das von den Separatisten auf der Krim und in der Ostukraine in Anspruch genommen werden könne. Andere vom Koveranstalter, dem russischen Kulturinstitut in Paris, gestellte Referenten beschworen die historische deutsch-russische Freundschaft und die Verteidigung russischer „Traditionen“ gegen „westlichen Liberalismus“. Ein Vertreter der rechten Schweizer Volkspartei (SVP) zeichnete sein Land als Opfer einer US-Aggression, hätten die amerikanischen Banken die Schweiz doch gezwungen, gegen Steuerhinterzieher vorzugehen. Ein trauriges Highlight der Veranstaltung war auch die Vorstellung des „Ehrengastes“. Der 92-jährige Egon Bahr, SPD-Urgestein und Architekt der Entspannungspolitik der 70er Jahre, hielt zwar kein offizielles Referat, gab aber in einer Art Grußwort einige Anekdoten aus den Verhandlungen im Vorfeld der deutschen Vereinigung zum Besten und erhielt dafür stehende Ovationen. Schwer verständlich, warum sich einer der profiliertesten und verdienstvollsten Außenpolitiker der deutschen Nachkriegsgeschichte für dieses unwürdige Spektakel hergab. Später wurde bekannt, dass ein Reporterteam der Bild von Ordnern aus der Hotellobby geworfen wurde. Das Boulevardblatt will sogar junge NPD-Funktionäre wie Frank Franz und Sebastian Schmidtke im Publikum ausgemacht haben.
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Noch eine andere Feier mag dieser Zeit angehören, eine ernste und in ihrer Art ergreifende. Aus Indien war einer jener Büßer auf dem Felde von Taxila auf Alexanders Einladung, dessen Macht und dessen Liebe zur Weisheit er bewunderte, trotz seines Meisters Unwillen und seiner Mitbürger Spott dem makedonischen Heere gefolgt; sein milder Ernst, seine Weisheit und Frömmigkeit hatten ihm die Hochachtung des Königs erworben, und viele edle Makedonen, namentlich der Lagide Ptolemaios und Lysimachos der Leibwächter, verkehrten gern mit ihm; sie nannten ihn Kalanos, nach dem Wort, mit dem er sie zu begrüßen pflegte; sein einheimischer Name soll Sphines gewesen sein. Er war hochbetagt; im persischen Lande fühlte er sich zum erstenmal in seinem Leben krank. Er sagte zum Könige, er wolle nicht dahinsiechen, es sei schöner, zu enden, bevor sein körperliches Leiden ihn zwinge, seine bisherige Lebensregel zu verlassen. Vergebens waren des Königs Einwendungen; bei ihm daheim gelte nichts unwürdiger, als wenn die Ruhe des Geistes durch Krankheit gestört werde, es fordere die Regel seines Glaubens, daß er den Scheiterhaufen besteige. Der König sah wohl, daß er nachgeben müsse; er befahl dem Leibwächter Ptolemaios, ihm den Scheiterhaufen zu errichten und alles Weitere feierlichst zu ordnen. Als der bestimmte Tag gekommen war, zog das Heer früh morgens im festlichen Zuge hinaus, vorauf die Reiterei und das Fußvolk in vollem Waffenglanze, und die Kriegselefanten in ihrem Aufzuge, dann Scharen Weihrauchtragender, dann andere, die goldene und silberne Schalen trugen und königliche Gewänder, um sie mit dem Weihrauch in die Flammen zu werfen; dann Kalanos selbst; ihm war, da er schon nicht mehr zu gehen vermochte, ein nysäisches Roß gebracht worden, er konnte es nicht mehr besteigen; in einer Sänfte ward er hinausgetragen. Als der Zug an dem Fuß des Scheiterhaufens angelangt war, stieg Kalanos aus seiner Sänfte, nahm mit einem Händedruck von jedem der Makedonen, die um ihn waren, Abschied, bat sie, zu seinem Gedächtnis den heutigen Tag in freudiger Feier mit ihrem Könige zuzubringen, bald werde er ihn in Babylon wiedersehen; er schenkte das nysäische Roß dem Lysimachos und die Schalen und Gewänder den Umstehenden. Dann begann der fromme Inder seine Todenweihe; er besprengte sich wie ein Opfertier, er schnitt eine Locke von seinem Haupte und weihte sie der Gottheit, er kränzte sich nach heimatlicher Weise und stieg, indem er indische Hymnen sang, den Scheiterhaufen hinan; dann sah er noch einmal auf das Heer hinab, wandte sein Angesicht zur Sonne und sank auf die Knie, um anzubeten. Dies war das Zeichen; es ward Feuer in den Scheiterhaufen geworfen, die Heertrompeten schmetterten, das Heer rief den Schlachtruf dazu, und die Elefanten erhoben ihre fremdartige Stimme, als ob sie den sterbenden Büßer ihrer Heimat ehren wollten. Anbetend lag er auf dem Scheiterhaufen und regte sich nicht, bis die Flammen über ihn zusammenschlugen und ihn den Blicken entzogen.
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Für die Gnocchi die Kartoffel waschen und in der Schale sehr weich kochen. Zum Ausdämpfen 15 Min. in den vorgewärmten Backofen bei 50°C legen.Pfifferlinge mit einem Pinsel von Sand und Schmutz befreien. Große Pilze vierteln.Kartoffeln mit der Schale durch eine Kartoffelpresse in eine genügend große Schüssel drücken. In die Mitte eine Mulde drücken dahinein das Mehl, den Grieß und das Eigelb mit dem Salz geben. Mit den Händen rasch einen griffigen Teig kneten. Wenn der Teig noch sehr klebt, etwas Mehl unterarbeiten.Auf einer bemehlten Arbeitsfläche den Teig noch einmal gut durchkneten und dann in 3 gleichgroße Teile schneiden. Aus jedem Teil erst eine Rolle arbeiten, diese noch einmal teilen und dann Stränge von 2 cm im Durchmesse formen. Mit einem Messer Gnocchi von ca. 1 cm abschneiden und diese auf ein bemehltes Brett geben.In einem großen Topf Salzwasser zum Kochen bringen.Speck und Zwiebel in Würfel schneiden.In einer vorgeheizten Pfanne das Olivenöl erhitzen. Speckwürfel anbraten, dann die Zwiebel dazu geben und mit braten. Wenn die Zwiebeln etwas Farbe genommen haben, die Pilze dazu geben und solange braten, bis sie anfangen zu quietschen. Mit Gemüsebrühe ablöschen und 3 Min. einkochen lassen. Die Crème fraîche dazu geben und cremig einkochen lassen. Salbeiblättchen in Streifen schneiden.Gnocchi in das kochende Salzwasser geben und 3-4 Min. kochen lassen. Wenn sie an die Oberfläche steigen, mit einer Schaumkelle abschöpfen und in eine vorgewärmte Schüssel mit etwas Butter geben, damit sie nicht aneinander kleben.Salbei unter die Pilze mischen und auf die Gnocchi verteilen. Mit Parmesan bestreut servieren.
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Regentin. Schwerer, als du denkst. Wer zu herrschen gewohnt ist, wer's hergebracht hat, daß jeden Tag das Schicksal von Tausenden in seiner Hand liegt, steigt vom Throne wie ins Grab. Aber besser so, als einem Gespenste gleich unter den Lebenden bleiben und mit hohlem Ansehn einen Platz behaupten wollen, den ihm ein anderer abgeerbt hat und nun besitzt und genießt.
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Gender und Pop: Die Welt klingt queer Es gab noch mehr als Conchita Wurst: Die wichtigsten Acts des vergangenen Jahres sind weiblich sozialisiert – meist mit transnationalen Biografien. Bildausschnitt aus dem Video „Misxgyny Drxp Dead“ von planningtorock. Bild: Promo BERLIN taz | Klar, 2014 war das Jahr der Conchita Wurst, aber es gab auch noch: Neneh Cherry, Inga Copeland, FKA Twigs, Maria Minerva, Fatima Al Qadiri und Planningtorock. Was haben diese Figuren gemeinsam? Sie belegen Spitzenplätze in den Jahres-Polls 2014, auch in der taz. Sie haben dasselbe biologische Geschlecht. Und sie verkörpern, bei allen Unterschieden, ein zeitgemäßes Pop-Autorinnen-Modell. Das innen bei Autorinnen ist übrigens kein generisches Femininum, das von der Genderpolizei diktiert wurde, nein, es handelt sich durchweg um Frauen. Ihr Leben und Arbeiten ist von drei Parametern geprägt: Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit. Parameter, die das Dasein der umherschweifenden Kulturproduzentin im 21. Jahrhundert bestimmen, die DNA des globalisierten Subjekts. Standardbiografien sind von gestern. Wie die Lebensläufe heute aussehen? Thaliah Barnett kommt 1988 in Gloucestershire zur Welt, englisch-spanische Mutter, Vater Jamaikaner, sie nennt sich Twigs (Zweige), später FKA Twigs, das FKA steht für formerly known as. Ihr gefeiertes Debütalbum produziert sie mit dem biologischen Mann, der sich Arca nennt. Als Alejandro Ghersi in Caracas geboren, studiert Arca in New York Musik und lebt in London. „Arca hat die queerste Platte der letzten Monate gemacht, ohne dass es auf der Platte einen Hinweis darauf gäbe“, sagte der schwule Sänger Owen Pallett kürzlich in der taz. Queere Musik geht auch ohne Worte. Janine Rostron alias Planningtorock kommt im englischen Bolton zur Welt. 2002 geht sie nach Berlin, wo Deutsch nur eine Sprache ist unter vielen. 2013 ändert Planningtorock ihren Taufnamen von Janine zu Jam, das ist geschlechtsneutral. Planningtorock performt mit Lichtinstallationen und Masken. Maskiert wird auch die Stimme, mit Autotune, bis sie übergeschlechtlich klingt. „Playing around with gender“ nennt er/sie/es das. Interdisziplinär und humorvoll „All Love’s Legal“ ist der sprechende Titel des Planningtorock-Albums, die Songs heißen: „Misogyny Drop Dead“, „Patriarchy Over & Out“ und, der Hit: „Let’s Talk About Gender Baby“. Ja, Plannigtorock platziert das G-Wort tatsächlich direkt neben dem B-Wort. Baby? Hatte das nicht die linke Sprachpolizei verboten? Das würden wohl zumindest die behaupten, die gegen den angeblichen Genderwahn Sturm laufen. Alina Astrova, in Russland geboren, wächst in Estland auf und landet als Inga Copeland beim Londoner Hyperdub-Label. 2014 veröffentlicht sie im Eigenvertrieb das vielgelobte Album „Because I’m worth it“, inzwischen heißt sie nur noch Copeland, ohne Inga. Maria Minerva erblickt 1988 in Tallinn als Maria Juur das Licht der Welt, sie studiert Kunstgeschichte an der Estonian Academy Of Arts, macht ein Praktikum beim Musikmagazin The Wire in London und lebt nach den Stationen Lissabon und New York in Los Angeles. „Asiatisch“ ist der Titel des Debüts von Fatima Al Qadiri, Album des Jahres nicht nur bei Spex. Al Qadiri wird im Senegal geboren, wächst in Kuwait auf und lebt heute als interdisziplinäre Künstlerin in Brooklyn. Sie ist Teil des Kollektivs Future Brown, von dem wir sehr bald noch sehr viel hören werden, auch weil sie ihren futuristischen R&B mit lustigen Konzepten aufladen: Als Exercise in Capitalist Surrealism möchten Future Brown ihr aktuelles Video „Vernáculo“ verstanden wissen, eine Travestie auf die Werbeästhetik von Schönheits- und Körperpflegeprodukten. Neneh Cherry feiert im Jahr ihres 50. Geburtstags ein großes Comeback und ist so was wie die Mutter der hier verhandelten Musikerinnen. In Stockholm als Tochter einer schwedischen Malerin geboren, Vater Musiker aus Sierra Leone, Stiefvater Jazz-Legende Don Cherry, als Teenager in der Bristoler Punk-Szene aktiv, der Rest ist Geschichte. Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit Zurück zum Ausgangspunkt: Wechselvolle Biografien. Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit. Dass weltreisende Künstlerinnen polyglott sein sollten, versteht sich von selbst. Komplizierter wird es bei der Atemporalität. Mit Ausnahme von Neneh Cherry sind die genannten (biologischen) Frauen Kinder des digitalen Zeitalters, ihr Zugriff auf die Archive ist ein atemporaler; sie verfügen selbstverständlich jederzeit über musikalische Quellen aus: jeder Zeit. Nicht nur musikalische. „Cabaret Cixous“ ist der Titel des Debütalbums von Maria Minerva. Cixous steht für die französische Autorin Hélène Cixous. „Weiblichkeit in der Schrift“ und andere Bücher der poststrukturalistisch orientierten Feministin erscheinen in den späten Siebzigern. Das Cabaret im Albumtitel steht für Cabaret Voltaire. Die Electro-Industrial-Band aus Sheffield benannte sich 1973 ihrerseits nach dem Züricher Cabaret Voltaire. Reichlich Fährten für das Debüt einer 23-Jährigen Maria Minerva beruft sich auf Quellen, die ein Jahrzehnt vor ihrer Geburt auf dem Höhepunkt ihrer Strahlkraft waren – in einem Westen, der von ihrer Heimat Estland durch einen Eisernen Vorhang getrennt war. Auf der Zeitachse ist das ungefähr so, als hätten die Beatles 1966 die Namen von, sagen wir, der Bluessängerin Bessie Smith, dem Jazzer Benny Goodman und der Psychoanalytikerin Melanie Klein gedroppt. Fluktuierende Tonträger Atemporalität bezeichnet das Herausfallen aus dem linearen Zeitkontinuum und dem Fortschrittsparadigma der Popmusik im Zeitalter ihrer digitalen Verfügbarkeit. Digitalisierung hebt auch die geografische Weltordnung des Pop aus den Angeln. Die Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie sortieren sich neu; wenn Tonträger binnen Sekunden um den Globus migrieren, müssen ihre Produzentinnen nicht mitmigrieren. So kommt es, dass so unterschiedliche Künstlerinnen wie Maria Minerva, (Inga) Copeland und Fatima Al Qadiri – Björk wäre als weitere Pionierin dieser Entwicklung zu nennen – aus dem Außen der Pop-Weltordnung kommend (Estland, Russland, Senegal/Kuwait, Island) plötzlich innerhalb dieser Weltordnung tonangebende Positionen einnehmen, dass sie also ihren Standortnachteil in einen Vorteil konvertieren. Und warum bloß Frauen? Welche Rolle spielt das Geschlecht? Vermutlich würden sich die genannten Personen gegen diese Art der freundlichen Vereinnahmung als Female Class of 2014 verwahren: zu biografistisch, zu biologistisch, zu essenzialistisch. Vielleicht ist es ja Zufall, dass die aufregendste Musik dieser Zeit häufig von solchen hybriden Figuren kommt, deren Leben geprägt ist von Umdeutungen, Umbenennungen, Umzügen, Abweichungen, von Mehrdeutigkeiten, auch in Geschlechterfragen. Von einer künstlerischen Queerness gewissermaßen, die sich speist aus der grundlegenden Distanz und Skepsis gegenüber den gottgegebenen Dogmen der heterosexuellen Ordnung. Kein Zufall ist allerdings der aggressive Normalismus, mit dem sich derzeit die Pegidas & Hogesas & Martenfleischposchtusseks dieser Welt gegen Queer Folks und ihren funky Genderwahn in Stellung bringen. Der massive maskulinistische Backlash gegen die drohende „Dämmermännerung“ (Barbara Kirchner) beweist: Es geht um die Wurst. Danke Conchita!
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Sie hatten zugleich den Plan gemacht, dem armen Herz nichts von ihrer Verbindung mit Plettenberg merken zu lassen, sondern ihn in seinem lieben Irrtum fortträumen zu lassen, bis Zeit und Entfernung ihn von selbst in den Stand setzten, einen solchen Todesstreich auszuhalten. Denn jetzt war nichts anders als sein unvermeidlicher Untergang abzusehen, sobald er ihn erführe. Unterdessen sollte Plettenberg aus Amerika zurückkommen, und in Abwesenheit unsers Ritters die Hochzeit vollziehen, den er denn so lange von Europa entfernt halten konnte, als es ihm gelegen war.
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Die Baronin war aufgestanden und hielt ihm zögernd die Hand hin. »Lieber Doktor,« sagte sie, »alles, was Sie nur eben sagten, war der Ausdruck einer Stimmung, die nach den vorausgegangenen Eindrücken erklärlich ist, die aber vorübergehen wird. Ihre zahlreichen Freunde werden darauf hinzuwirken suchen, und ich bin überzeugt, schon morgen werden Sie irdischer, menschlicher empfinden. Ich wäre nicht imstande Ihnen Lebewohl zu sagen, wenn ich nicht fest darauf rechnete.«
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Nur ein Böses hat er mir getan, daß er mich zu seinem Onkel ins Haus führte, als der brave Alte von Capua nach Neapel zog und die Sirena kaufte. Kam er nicht vor allem, um sich an Ninos Glück zu freuen, das sein Werk war? Warum mußte er kommen und Euch mitbringen, Lucia! Seit der Stunde schon verlor ich Nino, der Himmel weiß, nicht durch seine Schuld. Aber wer konnte ihm darum gram werden, außer mir und Euch, daß er die Ehre seines Wohltäters bewachte?
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Tod eines Staatsanwaltes in Argentinien: Kein Suizid, sondern Mord 2015 wurde Staatsanwalt Alberto Nisman erschossen aufgefunden. Jetzt geht die Justiz erstmals davon aus, dass er ermordet wurde. Demo für Gerechtigkeit im Fall Nisman am 2. Todestag des Richters, im Januar 2017 Foto: reuters BUENOS AIRES taz | Fast drei Jahre nach dem Tod des Staatsanwalts Alberto Nisman geht die argentinische Justiz erstmals von Mord aus. In einem am Dienstag veröffentlichten Urteil stellte der ermittelnde Bundesrichter Julián Ercolini fest: „Der Tod des Staatsanwalts Nisman ist nicht auf Suizid zurückzuführen.“ Der 51-Jährige Nisman war am 18. Januar 2015 erschossen in seiner Wohnung aufgefunden worden. Zugleich erhob Bundesrichter Ercolini Anklage gegen den früheren Nisman-Mitarbeiter Diego Lagomarsino wegen Beihilfe zum Mord. Lagomarsino hatte stets offen erklärt, dem Staatsanwalt auf dessen eigene Bitte die Pistole Bersa Kaliber 22 übergeben zu haben, aus der die tödliche Kugel stammt. Nach Auffassung von Bundesrichter Ercolini leistete Lagomarsino damit „eine notwendige Mithilfe für die Tat, die sich zwischen 20 Uhr am Samstag des 17. Januar 2015 und 10 Uhr am Sonntag des 18. Januar 2015 ereignete“. Neben Lagomarsino klagte er auch vier Leibwächter an, die in dieser Zeit unerlaubt ihre Posten verließen und so einen freien Zugang zu Nismans Wohnung ermöglichten. Der oder die eigentlichen Täter sind unbekannt. Alberto Nisman war als Sonderstaatsanwalt seit 2004 für die Aufklärung des Bombenanschlags auf das Gebäude des jüdischen Hilfswerkes AMIA am 18. Juli 1994 zuständig. Dabei waren 85 Menschen getötet und 300 verletzt worden. Für den Anschlag macht die argentinische Justiz den Iran verantwortlich. Bis heute wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Anklage gegen Präsidentin Kirchner war angekündigt Drei Tage vor seinem Tod erklärte Nisman in einem Fernsehinterview, er werde beweisen, dass die damalige Präsidentin Cristina Kirchner die Aufklärung des Terroranschlags vertuschen wollte und dass er bereits eine Anklageschrift verfasst habe. Zugleich kündigte er an, am darauffolgenden Montag seine Anschuldigungen vor dem Kongress zu erläutern. Dazu kam er nicht. Am Sonntagabend wurde er mit einer Kugel im Kopf im Badezimmer seiner Wohnung tot aufgefunden. Kaum war die Todesnachricht bekannt, schrieb Cristina Kirchner auf ihrer Facebook-Seite von einem mutmaßlichen Suizid des Staatsanwalts, ruderte jedoch wenig später zurück und sprach nun von einem Komplott eines Teils des Geheimdienstes, der ihr schaden wollte. „Erst haben sie ihn lebend benützt, und dann brauchten sie ihn tot“, schrieb sie. Eine Pistole Bersa 22, ein toter Staatsanwalt und sehr viele Motive Die ermittelnde Staatsanwältin Viviana Fein ging dennoch weiter der Selbstmordthese nach. Was folgte, war eine an Ungereimtheiten, Verstößen und dilettantischem Vorgehen kaum zu überbietende Ermittlung, die vor allem den Verdacht nährte, dass nicht aufgeklärt, sondern vertuscht werde sollte. Mit seinem über 600-seitigen Urteil geht Richter Ercolini jetzt zurück auf Anfang. Was sich genau in der Wohnung von Alberto Nisman abspielte, ist jedoch nach wie vor nicht bekannt. Drei Spezialistenteams hatten versucht, die Vorgänge im zehnten Stock des Wohnturms Le Parc im Stadtviertel Puerto Madero zu rekonstruieren. Vertuschung der iranischen Verantwortung? Drei detaillierte Untersuchungsberichte liegen vor, der letzte datiert auf September. Absolut gesicherte Erkenntnisse über das Geschehen bietet keiner der drei, jedoch schließt der letzte mit dem Fazit: „Die Mitglieder dieser interdisziplinären Kommission der nationalen Gendarmerie befinden sich in der Lage anzunehmen, dass es sich bei dem gewaltsamen Tod dessen, der im Leben Natalio Alberto Nisman war, um einen Mord handelte.“ Anfang November übersandte Staatsanwalt Eduardo Taiano einen 1.087-seitigen Antrag auf Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens an Richter Ercolini. Darin sprach Taiano erstmals von einem „homicidio“, also von Mord oder Totschlag. Bis dahin hatte Nismans Tod als „Tod mit ungeklärter Ursache“ gegolten. Staatspräsident Mauricio Macri kam ebenfalls zu dem Schluss: „Nisman wurde umgebracht, und wir müssen wissen, wer das getan hat,“ sagte er Anfang November während einer Auslandsreise in New York. Aufgrund von Nismans Anklageschrift wurde Anfang Dezember ein Prozess wegen Hochverrats gegen die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner, ihren damaligen Außenminister Héctor Timerman sowie einige weitere Personen eröffnet. Kern der Anklage ist ein 2013 von der argentinischen und der iranischen Regierung unterzeichnetes Memorandum. Darin wurde vereinbart, die Ermittlungen zu dem AMIA-Anschlag einer internationalen Wahrheitskommission zu übergeben. Diese Kommission sollte die von der argentinischen Justiz beschuldigten und mit internationalem Haftbefehl gesuchten iranischen Staatsbürger im Iran befragen. Im Gegenzug sollten die bei Interpol angezeigten Haftbefehle aufgehoben werden. Die juristische Bewertung des Vorgangs ist in Argentinien umstritten. Der zuerst mit der Anklage betraute Bundesrichter Daniel Rafecas lehnte die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens ab: Das Memorandum sei eine politisch-diplomatische Angelegenheit gewesen – und noch dazu nie in Kraft getreten, weshalb auch keine Straftat vorliege. Anders dagegen die Beurteilung des jetzt ermittelnden Bundesrichters Caudio Bonadio. Schon die Verhandlungen über das Memorandum rechtfertigten eine Anklage wegen Hochverrats, so Bonadio.
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Populismus-Debatte bei Bundespräsident: Bürger, macht euch auf ins System! Frank-Walter Steinmeier sucht mit Intellektuellen nach Auswegen aus der Krise der Demokratie. Die Klage über den „bösen Populismus“ bleibt aus. Nachmittagsthema in Bellevue: die Demokratieferne Foto: dpa Bei den Kommunalwahlen in Thüringen konnten die Parteien kaum genug KandidatInnen auftreiben. Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist das ein Indiz für die Krise der Demokratie. Handfestes Anzeichen sei der Aufstieg der populistischen Parteien, die „massiv Stimmung machen gegen ein angebliches Machtkartell der Eliten in Politik, Medien und Wirtschaft und beanspruchen, alleinige Vertreter des ,wahren Volkswillens' zu sein“. So weit der Problemaufriss. Für die nähere Skizzierung waren am Dienstag drei Intellektuelle ins Schloss Bellevue geladen: der deutsche Rechtsphilosoph Christoph Möllers und zwei PopulismusexpertInnen. Erfreulicherweise blieb die Gratis-Moralübung „Wir klagen alle zusammen über den bösen Populismus“ aus. Für Möllers, eloquent und jung, ist der Aufstieg der Demokratieverächter nur möglich, weil die liberale Mitte sich nicht zur entschlossenen Verteidigung des Systems aufraffen mag. Statt sich in Kommunalparlamenten mit Details herumzuschlagen, spendet das weltoffene Bürgertum lieber an Greenpeace. Zu wenig, findet Möllers, der das als Selbstkritik meint. Wenn alle nur Forderungen an die Demokratie stellen, aber niemand mehr im Maschinenraum Dienst tut, geht das nicht gut aus. „Die Zivilgesellschaft“, so Möllers zugespitzt, „ist der Einstieg des Bürgertums in die Antipolitik.“ Die Parole laute daher nicht, Kitas zu gründen, erst recht nicht: Bürger auf die Barrikaden. Sondern: Bürger in die Ortsvereine der Parteien! Das ist ein anspruchsvolles, langwieriges, unbequemes Programm, das ohne jedes Weltverbesserungspathos durchgehalten werden will. Steinmeier gefiel diese Idee ausnehmend gut. Doch mehr als der Appell an die Bürgerpflicht, notleidenden Parteien und Institutionen unter die Arme zu greifen, ist das letztlich auch nicht. Verständnis fürs gemeinsame Stirnrunzeln Die Sozialwissenschaftlerin Donatella della Porta sieht die Demokratiekrise weniger dramatisch. Kein Wunder: Man ist da in Italien seit Jahrzehnten einiges gewöhnt. Steinmeier betrachtet die „Fünf-Sterne-Bewegung“, die womöglich regieren wird, mit typisch deutschem Stirnrunzeln – della Porta als hoffnungsvollen Versuch, die Demokratie wieder zu beatmen. Leider verstellte sie ihre frischen Analysen mit viel sozialwissenschaftlichem Ungefähr. Der Belgier David Van Reybrouck hält den Aufstieg der Populisten für das Echo von Ungleichheit. Die Akademiker haben die Parlamente gekapert, der Populismus ist der Ausweg jener, die keine Bildungsaufsteiger sind – das hat Reybrouck hellsichtig schon vor zehn Jahren in einem schmalen Band dargelegt. Wer von Populismus redet, darf von Herrschaft der Eliten nicht schweigen. Weniger überzeugend ist indes Reybroucks Lösung – so viele Losverfahren wie möglich, die er als Vitaminspritzen für kränkelnde Demokratien empfiehlt. Denn nur Losverfahren garantieren einen zufälligen, egalitären Zugang zu den Institutionen. Da konnte man das gemeinsame Stirn­runzeln von Möllers und Steinmeier schon besser ­verstehen.
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Dann--als er nach einigen Minuten wieder hinschaute, überzeugt, dem eigentümlich festen und ruhigen Blicke nicht mehr zu begegnen, sah er die Dame unverändert wie vorher zurückgelehnt in ihrem Stuhle sitzen und ihre Augen unverwandt auf seinem Gesichte ruhen. Diesmal begegneten sich ihre Blicke: der Felders unruhig, herausfordernd- fragend, der der Fremden unverändert ruhig, überlegen, fast gleichgültig, als sei es selbstverständlich, daß sie ihn in dieser Weise mustere; und ohne die geringste Veränderung, wie ihr Blick, blieb auch der Ausdruck ihrer Züge.
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